Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft: Grundlagen und Dogmatik des Tatbegriffs, des Strafklageverbrauchs und der Wiederaufnahme im Strafverfahrensrecht [1 ed.] 9783428544646, 9783428144648

Warum müssen Strafverfahren ein Ende finden – und dies teilweise selbst dann, wenn ihre Ergebnisse Wahrheit und Gerechti

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Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft: Grundlagen und Dogmatik des Tatbegriffs, des Strafklageverbrauchs und der Wiederaufnahme im Strafverfahrensrecht [1 ed.]
 9783428544646, 9783428144648

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Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 257

Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft Grundlagen und Dogmatik des Tatbegriffs, des Strafklageverbrauchs und der Wiederaufnahme im Strafverfahrensrecht

Von

Luís Greco

Duncker & Humblot · Berlin

LUÍS GRECO

Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft

Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (†) em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg

Herausgegeben von Dr. Dres. h. c. Friedrich-Christian Schroeder em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Regensburg

und Dr. Andreas Hoyer ord. Prof. der Rechte an der Universität Kiel

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 257

Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft Grundlagen und Dogmatik des Tatbegriffs, des Strafklageverbrauchs und der Wiederaufnahme im Strafverfahrensrecht

Von

Luís Greco

Duncker & Humblot · Berlin

In die Reihe aufgenommen als Habilitationsschrift.

Die Juristische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München hat diese Arbeit im Wintersemester 2013/2014 als Habilitationsschrift angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: BGZ Druckzentrum GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 978-3-428-14464-8 (Print) ISBN 978-3-428-54464-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-84464-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Bernd Schünemann

Vorwort Die vorliegende Monografie ist von der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München im Wintersemester 2013/2014 als Habilitationsschrift angenommen worden. Betreut wurde die Habilitation von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Bernd Schünemann; weitere Mitglieder des Mentorats waren Prof. Dr. Ulrich Schroth und Prof. Dr. Helmut Satzger. Es entspricht bewährter Übung, sich beim Zweitgutachter für die zügige Erstellung des Votums zu bedanken. Diese abgenutzte Formel könnte Herrn Prof. Ulrich Schroth nur teilweise gerecht werden. Denn er hat das Gutachten nicht bloß zügig, sondern über die Weihnachtsfeiertage verfasst; ohne diesen Einsatz hätte sich der Abschluss des Habilitationsverfahrens um mindestens ein Semester verschoben. Bei Herrn Prof. Satzger bedanke ich mich für die stetige Gesprächsbereitschaft. Herrn Prof. Dr. Dres. h.c. Friedrich-Christian Schroeder und Prof. Dr. Andreas Hoyer danke ich für die Aufnahme des ungekürzten Buchs in die angesehene Reihe „Strafrechtliche Abhandlungen“. Ich freue mich, meine beiden großen deutschen Monografien im Hause Duncker & Humblot publiziert zu haben, und möchte auch dem Verlag meine Dankbarkeit ausdrücken. Drei weitere Professoren dürfen hier nicht unerwähnt bleiben. Mein Doktorvater Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Claus Roxin hat nicht nur meinen Entschluss, mich in Deutschland zu habilitieren, gemeinschaftlich mit Prof. Schünemann hervorgerufen, sondern ihn auch durch lange und nahezu monatliche Gespräche gestärkt. Bei ihm hatte mein Weg auf deutschem Boden seinen Anfang. Die Großzügigkeit, auch für einen jungen Studenten aus dem Ausland Zeit zu finden, die Bescheidenheit, ihm glaubhaft zu zeigen, dass seine Arbeit einem am Herzen liegt, sind prägende Beispiele, die ich immer präsent zu halten vorhabe. Prof. Dr. Jürgen Wolter hat mir nicht nur die Tür zu Goltdammer’s Archiv geöffnet, sondern mich immer fürsorglich beraten. Die Idee, nicht nur über die materielle Rechtskraft zu schreiben, sondern auch eine „Strafprozesstheorie“ anzubieten, verfestigte sich erst nach einem Gespräch, das ich mit ihm führen durfte; sogar die Überschrift des vorliegenden Buchs geht auf ihn zurück. Prof. Dr. Petra Wittig half mir mit dem großzügigen Angebot einer Mitarbeiterstelle, die an sich einkommenslose Zeit zwischen der Emeritierung meines Betreuers und dem Abschluss dieses Buches zu überbrücken. Die umfangreiche Berücksichtigung ausländischer Literatur wäre nicht möglich gewesen ohne die Hilfe zweier erstklassiger Bibliotheken, derer ich mich

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Vorwort

ausgiebig bedient habe. Gemeint sind die Bibliothek des Freiburger Max-PlanckInstituts für ausländisches und internationales Strafrecht und die Bibliothek für ausländisches und internationales Strafrecht der Juristischen Fakultät der GeorgAugust-Universität Göttingen. Ich bedanke mich bei beiden Bibliotheken, insbesondere bei Herrn Dr. Pablo Galain Palermo und Frau Elisabeth Martin (MPI) sowie bei Herrn Prof. Dr. Kai Ambos. Ich möchte mich auch für wertvolle, anregende Diskussionen bedanken bei: meinen langjährigen Kollegen Dr. Peter Kasiske und Benjamin Roger; den Münchener Doktoranden Augusto Assis, Alaor Leite, Alberto Nanzer und Adriano Teixeira; bei den Professoren Doktoren Gabriel Pérez Barberá und Fernando Gama; bei den Doktoren Stephan Ast, Jan Schuhr, Liane Wörner und Till Zimmermann für einen unvergesslichen Diskussionsabend auf der Züricher Strafrechtslehrertagung; bei PD Dr. Tobias Reinbacher; bei Marie Koch und Dr. Eva v. Wietersheim. Anna Richter hat mir bei der sprachlichen Überarbeitung des umfangreichen Buchs geholfen. Meiner Mutter und meinem Vater, die ich 2001 in Brasilien verlassen habe, schulde ich Dank dafür, dass sie trotz räumlicher Distanz in meinem Leben ohne jegliche Unterbrechung anwesend sind. Ohne die Gewissheit, über einen sicheren Hafen zu verfügen, wäre für mich der Weg weder materiell noch emotionell möglich gewesen. Last but not least komme ich auf meinen Habilitationsvater zu sprechen. Prof. Schünemann schulde ich mehr, als ich je werde niederschreiben können. Die Offenheit, mir als 24-jährigem, ausländischem Promotionsstudenten eine deutsche Habilitation überhaupt in Aussicht zu stellen, als Denkmöglichkeit erst aufzuzeigen; die Bereitschaft, die Habilitation durch die Gewährung einer vollen Assistentenstelle auch materiell zu unterstützen; die liebevolle Fürsorge, mit der meine tausend Seiten in wenigen Wochen nicht bloß gelesen, sondern auch sprachlich verbessert wurden, um mir eine erfolgreiche Habilitation noch in dem Semester, in dem sie ihren Abschluss fand, zu ermöglichen – für all dies bin ich Ihnen dankbar. Professor Schünemann, ich bin stolz, Sie meinen Lehrer und glücklich, Sie einen Freund nennen zu dürfen. Manchmal stellt sich derjenige, der ein Buch schreibt, bewusst oder unbewusst einen Leser vor. Professor Schünemann, dieses Buch habe ich für Sie geschrieben; Ihnen möchte ich es deshalb auch widmen. München, den 21. September 2014

Luís Greco

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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A. Gegenstand der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

B. Terminologische Präzisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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C. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

1. Teil Strafprozesstheorie

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1. Kapitel Vorüberlegungen zur Methode einer universellen (Strafprozess-)rechtswissenschaft A. Das Projekt einer universellen Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grund und Entscheidung, Recht und Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die partikularistische Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die anti-rationalistische Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die kulturrelativistische Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die staatstheoretische Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die demokratische Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die prozessstrukturelle Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41 41 41 55 55 59 61 66 68 69 85

B. Alternative Konzepte einer universellen (Strafprozess-)Rechtswissenschaft . . . . 86 I. Universelle Rechtswissenschaft als formelle Rahmenwissenschaft? . . . . . . 86 II. Universelle Rechtswissenschaft als Erforschung sachlogischer Strukturen? 88 III. Universelle Rechtswissenschaft als universelles Problemdenken? . . . . . . . . 93 IV. Universelle Rechtswissenschaft als Rechtsvergleichung? . . . . . . . . . . . . . . . 94 V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 C. Die eigene konkrete Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 D. Zusammenfassung: Universelle Rechtswissenschaft als Wissenschaft der Unterscheidung von Recht und Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116

10

Inhaltsverzeichnis 2. Kapitel Strafprozesstheoretische Grundlegung

117

A. Einleitende Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 B. Der Begriff der Strafverfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einleitende Worte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Strafverfolgung als Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Strafverfahren als latente soziale Bedrohung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Strafverfahren als individuelle Verdächtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Der Inhalt der Verdächtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Das Übel der Verdächtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Fazit: Das Übel des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Die Rechtfertigung der Strafverfolgung als Rechtfertigung einer allgemein bedrohlichen Institution und einer qualifizierten Verdächtigung . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einleitendes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Drei Beispiele für die Verkennung der Fundamentalfrage . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der begriffskonstruktivistische Ansatz: Prozess als Rechtsverhältnis und als Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Die Lehre vom Strafklagerecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Systemtheorie: Legitimation durch Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Prozessualer Machiavellismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Erste Rechtfertigungsstufe: Strafverfahren im Interesse der Gesellschaft (Lehren vom Zweck des Strafverfahrens) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Straftheorien (I), insbesondere: Generalprävention als Zweck des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Materielle Wahrheit als Zweck des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtsfrieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Externe Kritik an Rechtfertigungsversuchen auf der ersten Stufe . . . . . 6. Erste Zwischenbilanz am Ende der ersten Rechtfertigungsstufe . . . . . . IV. Zweite Rechtfertigungsstufe: Strafverfahren im Interesse des Betroffenen 1. Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Straftheorien (II): Das Strafverfahren im Dienste der Resozialisierung 3. Das Strafverfahren als Mittel zum Schutz des Betroffenen . . . . . . . . . . 4. Externe Kritik der Rechtfertigungsversuche auf der zweiten Stufe . . . . 5. Zweite Zwischenbilanz am Ende der zweiten Rechtfertigungsstufe . . . V. Rechtfertigungsversuche zwischen den beiden ersten Stufen . . . . . . . . . . . . 1. Das Ausgleichsmodell: Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Versöhnungsmodell: Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

119 119 119 120 122 129 130 133 133 133 135 135 148 151 155 157 157 159 168 187 191 197 197 197 198 203 209 213 216 217 230

Inhaltsverzeichnis VI. Dritte Rechtfertigungsstufe: Strafverfahren als Ausdruck des Respekts vor dem Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Strafverfahren als Verwirklichung von Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . a) Drei Verständnisse von Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Strafverfahren als Verwirklichung der Vergeltung – zugleich Straftheorien (III) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Strafverfahren als Verwirklichung des materiellen Strafrechts . . . . d) Strafverfahren als Verwirklichung von Verfahrensgerechtigkeit . . . aa) Empirische Verfahrensgerechtigkeit: Procedural Justice . . . . . bb) Strafverfahren als fairer, sportlicher Wettkampf . . . . . . . . . . . . cc) „Rechtliche“ Verfahrensgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Fazit zur Gerechtigkeit im Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Konsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Legitimationswirkung des Verdachts? Zugleich: der Verdächtige als Störer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Neuere Ansätze auf der dritten Rechtfertigungsstufe . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Neuauflagen des Prozessrechtsverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die neuere Lehre von der Prozessrechtssubjektivität . . . . . . . . . . . . c) Teilhabe am Verfahren als Legitimitätsvoraussetzung der Strafe . . 6. Eigene Begründung auf der dritten Rechtfertigungsstufe . . . . . . . . . . . a) Dritte Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Beling’sche Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erster Versuch der Überwindung der Beling’schen Herausforderung: der Aufopferungsgedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Eigener Weg: Rehabilitierung bzw. Verdachtstilgung als Ausgleich für die Verdächtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Der Schuldige in der Strafprozesstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Weitere Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Gesamtfazit zur strafprozesstheoretischen Grundlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zusatzbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Komplexität der Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zu den unterschiedlichen Rechtfertigungsstufen und dem Verhältnis zwischen ihnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Warum gerade (die) drei Rechtfertigungsstufen? . . . . . . . . . . . . . . . b) Verhältnis der Rechtfertigungsstufen; das Problem des Dezisionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Weitere Rechtfertigungsstufen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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234 234 236 236 238 239 243 244 245 251 259 260 261 282 291 291 297 299 301 301 303 306 310 315 317 318 318 320 320 321 322 323 324

12

Inhaltsverzeichnis 2. Teil Materielle Rechtskraft

328

1. Kapitel Die Begründung der materiellen Rechtskraft

328

A. Einleitende Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 I. Begriff der materiellen Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 II. Das Problem des materiellrechtlich unrichtigen Sachurteils . . . . . . . . . . . . . 332 B. Begriffskonstruktivistische Rechtskrafttheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 C. Normative Rechtskrafttheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ansehen des Staates und der Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Triumph der Rechtssicherheit über die Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Gebot des Rechtsfriedens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Rechtskraft als Wahrheit oder als Fiktion der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Schutz des Angeklagten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Rechtskraft als Sanktionierung der Strafverfolgungsbehörden . . . . . . . . . . . VII. Rechtskraft als Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Rechtskraft als individuelles Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

338 338 344 350 351 354 358 360 369

D. Der eigene Ansatz: Schuldtilgung, Rehabilitierung und Verfahrensgerechtigkeit („dreisäulige“ Rechtskraftlehre) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 E. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Abschließende Bemerkungen zur Begründung der Rechtskraft im Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Überleitung zu den nächsten Kapiteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

374 374 375 377

2. Kapitel Der Begriff der strafprozessualen Tat

378

A. Einleitende Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 B. Theoretische Grundlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die strafprozessuale Tat als Gegenstand des Strafverfahrens; Prozessgegenstand und Prozessstoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Tatbegriff und Tatstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Tatbegriff und Anklageprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erste Annäherung: Die Unbestimmtheit des Verfahrensgegenstands als Komponente der Allmacht des Inquirenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

379 379 382 383 383

Inhaltsverzeichnis

IV.

2. Zur Begründung des Anklageprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die traditionelle Auffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vertiefung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gehalt des Anklageprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gebotene begriffliche Klarstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anklageprinzip, akkusatorisches und inquisitorisches Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anklageprinzip und Anklageform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Anklageprinzip und Tatbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unwesentliche Gesichtspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die alte Lehre von der sog. dreifachen Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verteidigungsrecht bzw. rechtliches Gehör . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Beschuldigtenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Prozessökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Rechtskraftlehre, Gerechtigkeit bzw. Gerechtigkeit und Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Wiederaufnahmevorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Vermeidung einander widersprechender Entscheidungen . . . . . . . . . . . 8. Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Europarecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

C. Die Diskussion um den Tatbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einleitendes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Methodische Vorüberlegung. Universelle vs. lokale Perspektive . . . . . . . . . III. Unproblematisches: der Verdächtigte als Komponente der prozessualen Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die (überwiegend) faktisch orientierte Theorie der deutschen herrschenden Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Weitere faktisch orientierte Stellungnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Identität der Handlungssubstanz (Oehler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Laienorientierter Intuitionismus (Achenbach) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gesamtschau (Neuhaus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zeit- und Ortsgleichheit (Schlehofer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Same transaction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zwischenfazit zu der faktisch orientierten Bestimmung des Tatbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Normative Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Materiellrechtlicher Tatbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Identität der Normverletzung (Binding) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der sog. Blockburger-Test . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 385 385 388 392 398 398 401 403 407 408 409 410 412 415 416 417 418 421 425 426 427 427 428 430 431 438 438 439 440 442 443 444 444 445 451 453

14

Inhaltsverzeichnis 4. Richtung des Tätigkeitsakts bzw. „Zielrichtung des Handelns“ . . . . . . . 5. Sozialer Sinngehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Übereinstimmung des rechtlichen Unwertgehalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Identität der beeinträchtigten Rechtsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Identität des Unrechtskerns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Kognitionsorientierte Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Konkrete Möglichkeit der Sachverhaltsfeststellung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Untersuchungsrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Vermittelnde (normativ-faktische) Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

455 456 457 457 460 461 461 464 465

D. Der eigene Lösungsweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ausgangsprämissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Grundregel: Prozessgegenstand und Strafklageverbrauch als Funktionen des Verhältnisses von Anklage, richterlichen Klageänderungsmöglichkeiten und Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Vier Beispiele für das Verkennen dieser Zusammenhänge . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der dynamisch-inkongruente Tatbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Fragestellung an die Geschworenen; die Kontroverse über das idem factum oder idem crimen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Strukturblinde Wortlautexegese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die italienische Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die amerikanische Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. „Autonome“ (verfassungsrechtliche oder europarechtliche) Tatbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verfassungsrechtlicher Tatbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Europarechtliche Tatbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Gibt es äußerste Grenzen für die prozessuale Tat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Die äußersten Grenzen (I): unterste Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die unterste normative Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die unterste faktische Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Die äußersten Grenzen (II): oberste Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die oberste normative Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die oberste faktische Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verhältnis der zwei Kriterien zueinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Missachtung der äußersten Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

468 468 468

470 477 477 486 493 493 497 502 502 503 510 510 513 514 516 520 520 533 538 539 543

E. Positivrechtliche Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 I. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 II. Der positivrechtliche Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545

Inhaltsverzeichnis III. Fallgruppenspezifische Konkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abwandlungen desselben Strafgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Qualifikationen, Privilegierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Versuch und Vollendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vorbereitungshandlung und Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Beteiligungsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Vorsatz und Fahrlässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Begehungs- und Unterlassungsdelikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Abwandlungen bei unterschiedlichen Strafgesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . a) Körperverletzung, Tötung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Raub, Diebstahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vergewaltigung, Körperverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Diebstahl, Betrug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Normative „Kupierungen“ des Prozessgegenstands . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Prozessuale Aburteilungsschranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Fehlende Gerichtsbarkeit, fehlende sachliche Zuständigkeit . . bb) Strafbefehl, Verfolgung als Ordnungswidrigkeit . . . . . . . . . . . . cc) Fehlender Strafantrag beim Zusammentreffen von Offizialdelikt und Antragsdelikt bzw. bei mehreren Antragsberechtigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Erhebung der Privatklage trotz Zusammentreffens mit einem Offizialdelikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) „Kupierte“ Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Weitere Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Materiell-rechtliche Aburteilungsschranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Nachträglicher Eintritt einer strafschärfenden Tatfolge . . . . . . bb) Nachträgliche Vornahme eines „gleichartigen“ Verhaltens . . . cc) Spezialitätsgrundsatz und Auslieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Weitere Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Handlungseinheit, Idealkonkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Realkonkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Fortgesetzte Handlung bzw. wiederholte Strafgesetzverletzungen (Serienstraftaten) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Dauerdelikte bzw. Organisationsdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Alternativität, insbesondere Anschlussdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Einheit, Mehrheit und Verschiedenheit von Opfern . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Straftatenverschiebung, Straftatenvermehrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Zusammenfassung der einzelnen Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15 551 551 552 553 553 554 554 555 556 556 557 557 558 559 560 560 561 561 564

568 569 571 571 572 572 576 580 581 581 585 591 598 611 620 622 622

16

Inhaltsverzeichnis

F. Fazit zum Tatbegriff im Strafverfahrensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625 I. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625 II. Abschließende Bemerkungen zum Begriff der Tat im Strafverfahren . . . . . 628

3. Kapitel Die erste Strafe

634

A. Einleitende Worte zu dem vorliegenden und dem nächsten Kapitel . . . . . . . . . . . 634 B. Zum Begriff der Schuldtilgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 636 C. Der Begriff der Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zur sog. „Strafähnlichkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die vorherigen Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Das besonders Rechtfertigungsbedürftige an der Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Strafe als besonders schwere Reaktion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Strafe als besondere Reaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zur Systematik der Strafen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

640 640 640 642 647 647 648 659

D. Die einzelnen Strafen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Strafen im ontologischen Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Todesstrafe, Leibesstrafe, bürgerlicher Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Freiheitsstrafe; Untersuchungshaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Strafen im abgeleiteten Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Geldstrafe, Vermögensstrafe, Geldbuße (und Erzwingungshaft), Verwarnungsgeld, Prozessuale Kostenentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Strafaussetzung zur Bewährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Strafen im künstlichen oder konventionellen Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Juristische Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schuldtilgung durch poena naturalis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Sonstige Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Disziplinarrechtliche und weitere „ordnungsrechtliche“, „verwaltungsrechtliche“ bzw. „außerstrafrechtliche“ Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfall, Einziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schuldspruch und sonstige die Ehre betreffenden Sanktionen . . . . . . . . 4. Maßregeln der Besserung und Sicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Schuldspruchunabhängige Auflagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Nicht staatliche Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Beugemittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zusammenfassung der einzelnen Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

662 662 663 663 665 665 670 671 671 672 673 673 687 689 691 693 697 697 699

E. Zusammenfassung zur ersten Strafe (Schuldtilgung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 700

Inhaltsverzeichnis

17

4. Kapitel Die erste Verfolgung

702

A. Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 702 B. Das herrschende Konzept in seinen Grundzügen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 704 I. Beschreibung des herrschenden Konzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 704 II.

Struktur des herrschenden, „klassischen“ Konzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707 III. Verkomplizierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707 IV. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 710 C. Rechtfertigung und Kritik des „klassischen“ Konzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 710 I. Begriffskonstruktivistisches Modell: Konsumption des Strafklagerechts als eines Rechts auf gerichtliche Sachentscheidung in einer Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 711 II. Normative Begründungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 712 1. Das situative Erfordernis: Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 712 2. Das objektive Erfordernis: Sachentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 715 3. Das subjektive Erfordernis: Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 721 III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 728 D. Neuere Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 729 I. Das anfechtbarkeitsorientierte Modell von Roxin und Schlüchter . . . . . . . . 729 II.

Gantzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 731 III. P. Herzog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 734 IV. Radtke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 736 V.

Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 740

E. Eigenes Modell: Rechtskraft als Verdachtstilgung bzw. Rehabilitierung . . . . . . . 740 I. Hinleitung zum Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 740 II.

Rechtskraft als Verdachtstilgung bzw. Rehabilitierung: das Kriterium der Verdächtigungstiefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 741 III. Bestimmung der Verdächtigungstiefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 742 1. Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 742 2. Volle Verdächtigungstiefe, volle Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 743 a) Urteilsverkündung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 744 b) Versetzung in den Anklagestand bzw. Eröffnung des Hauptverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 744 c) Beginn der öffentlichen Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 745 d) Beginn der Beweisaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 746 e) Zweifel und Präzisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 752 aa) Strafverfahren ohne Beweisaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 752

18

Inhaltsverzeichnis bb) Strafverfahrenssysteme mit Entscheidungen auf Grundlage von Akten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Erduldung von prozessualen Zwangsmaßnahmen? . . . . . . . . . . dd) Strafklageverbrauch vor Verfahrensende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Begriffsjurisprudenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mittlere Verdächtigungstiefe: beschränkte Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . a) Das herrschende Konzept: das Vorverfahren als Internum . . . . . . . . b) Gehalt: Beschränktes und Vollkommenes in der beschränkten Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergänzung: der Tatbegriff vor Anklageerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Erweiterung des Modells: Verfahrensgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Spielräume des Gesetzgebers nach oben und nach unten . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Fazit: Die zwei Schnittstellen der Verdächtigungstiefe; volle und beschränkte (genauer: rebus sic stantibus) Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

F. Die einzelnen Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Terminologische Festlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die weitere Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Richterliche Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachurteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Freispruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Sachurteil im Sicherungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Nichteröffnungsbeschluss (§ 204 StPO) und vergleichbare Entscheidungen (§ 174, § 383 Abs. 1 S. 1 StPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gerichtliche Opportunitätseinstellungen wegen Geringfügigkeit (§ 153 Abs. 2 StPO; auch § 383 Abs. 2 StPO, § 31a Abs. 2 BtMG, § 47 Abs. 1 Nr. 1 JGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Einstellungsurteil wegen Prozesshindernissen (§ 260 Abs. 3 StPO) . . . 5. Einstellungsbeschluss wegen Prozesshindernissen (§ 206a StPO) . . . . 6. Weitere Einstellungsbeschlüsse (§§ 205, 206b StGB) . . . . . . . . . . . . . . . 7. Einstellungsentscheidung mit Auflagen (§ 153a Abs. 2 StPO) . . . . . . . 8. Einstellung wegen anderweitiger Verfolgung (§ 154 Abs. 2, § 154b Abs. 4 StPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Strafbefehl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Sonstige prozessabschließende Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Prozessbeendigung durch die Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Einstellung wegen mangelnden hinreichenden Tatverdachts (§ 170 Abs. 2 StPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

753 754 754 759 760 761 761 767 773 774 775 777 777 777 777 778 780 781 781 781 784 785 786

788 794 803 806 806 808 810 814 816 816

Inhaltsverzeichnis

IV.

2. Opportunitätsbezogene Einstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) „Gratis“ Einstellungen im Vorverfahren (insb. § 153 Abs. 1 StPO; auch § 153b Abs. 1, § 153c Abs. 1, § 153d Abs. 1, § 153f Abs. 1, 2; § 45 Abs. 1 JGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einstellung gem. § 154 Abs. 1, § 154b Abs. 1–3 StPO und § 154c StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Einstellung mit Auflage (§ 153a Abs. 1 StPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) „Späte“ Einstellungsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung der einzelnen Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19 825

825 827 828 828 829

G. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 831 I. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 831 II. Abschließende Bemerkungen zu den rechtskraftfähigen Entscheidungen . . 835

5. Kapitel Die Sperrwirkung

837

A. Das Unveränderbare an der materiell rechtskräftigen Entscheidung . . . . . . . . . . 837 B. Das von der Sperrwirkung Gesperrte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 839 I. Keine neue Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 839 II. Keine erneute qualifizierte Verdächtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 840 C. Prozessuales . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 840 D. Sonderfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 843 I. Sperrwirkung und Privatklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 843 II. Popularklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 845 E. Zwei Exkurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 846 I. Rechtshängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 846 II. Rechtsmittel gegen Freispruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 848 F. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 852

6. Kapitel Auflösung der materiellen Rechtskraft: Kleines System der strafprozessualen Wiederaufnahme A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gegenstand und Anliegen des Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Begriffliche Vorfragen: zum „Wesen“ der Wiederaufnahme des Verfahrens III. Gegenstand der Wiederaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

853 853 853 856 861

20

Inhaltsverzeichnis

B. Zur Legitimierbarkeit einer Auflösung der materiellen Rechtskraft . . . . . . . . . . . I. Begriffskonstruktivistische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wiederaufnahme als Aufrechterhaltung der Autorität gerichtlicher Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das herrschende Konzept: Wiederaufnahme als Rückschlag der Gerechtigkeit gegen die Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Versöhnungsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Begründung aus der dreisäuligen Rechtskraftlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Irrwege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Abhängigkeit vom Verfahrensmodell? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Jury; Mündlichkeit und freie Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenhang mit der Rechtsmittellehre? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zum vermeintlichen Ausnahmecharakter der Wiederaufnahme . . . . . . VII. Zusammenfassung. Überleitung zu den nächsten Abschnitten . . . . . . . . . . . C. Wiederaufnahme zugunsten des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das herrschende Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Eigene Auffassung: Schuldprinzip und Verfahrensgerechtigkeit . . . . . . II. Wiederaufnahme wegen Verletzung des Schuldprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die drei Grundformen der Verletzung des Schuldprinzips . . . . . . . . . . . 2. Wiederaufnahmeziele: Beseitigung einer Verletzung des Schuldprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verurteilung für richtigerweise strafloses Verhalten: Freispruch . . . b) Verurteilung zu einer übermäßigen Strafe: Strafmilderung . . . . . . . c) Verurteilung nach der falschen Strafvorschrift: Schuldspruchberichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Einstellung als Wiederaufnahmeziel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wiederaufnahmegrund: materieller Fehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schuldspruch, Strafausspruch, faktische und rechtliche Prämissen b) Fehler in den faktischen Prämissen des Schuld- oder Strafausspruchs: das novum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Erste Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zur Neuheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Eignung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Fehler in den rechtlichen Prämissen des Schuld- oder Strafausspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Zum Stand der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Das Leitprinzip: das rechtliche novum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Konkretisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Nachträgliche Aufhebung bzw. Milderung des angewendeten Strafgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

865 865 866 871 880 883 884 884 886 889 892 896 898 898 898 898 901 901 903 903 903 911 915 917 917 917 917 920 924 926 926 930 933 933

Inhaltsverzeichnis (2) Nachträgliche mildere Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Positivrechtliche Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Wiederaufnahme wegen Verletzung der Verfahrensgerechtigkeit . . . . . . . . 1. Zur Gebotenheit einer Wiederaufnahme wegen missachteter Verfahrensgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die zwei Formen der Verletzung der Verfahrensgerechtigkeit . . . . . . . 3. Wiederaufnahmeziele: Beseitigung der Verletzung der Verfahrensgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wiederholung des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Wiederaufnahmegrund: grundlegende Prozessrechtsverletzung . . . . . . a) Amtspflichtverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Grundfall: richterliche Amtspflichtverletzung . . . . . . . . . . bb) Geisteskrankheit des Richters? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Amtspflichtverletzungen weiterer Verfahrenspersonen? . . . . . . b) Negationen der Prozessrechtssubjektivität: Folter, Verletzungen des nemo tenetur-Grundsatzes; Verletzung von Beweisverboten . . c) Verletzungen des Anklageprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Abwesenheitsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Verwirkung des Strafanspruchs als Wiederaufnahmegrund? . . . . . . 5. Positivrechtliche Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Positivrechtliche Zusatzbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nicht wiederaufnahmefähige Willensfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zur Tiefenstruktur bestimmter Wiederaufnahmegründe . . . . . . . . . . . . . D. Wiederaufnahme zulasten des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die herrschende Auffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der vorliegende Standpunkt: fehlendes Rehabilitierungsrecht . . . . . . . 3. Grundsätzliche Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Dezisionistische Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Terminologische Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verfassungsrechtliche Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ideologische Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rationalistische Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Begriffskonstruktivistische Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Gesellschaftsorientierte Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Individualorientierte Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Vermittelnde Auffassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Gerechtigkeitsorientierte Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtspolitik der Wiederaufnahme zuungunsten . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21 935 937 938 938 940 941 941 941 942 942 942 945 946 948 949 949 950 950 952 953 955 956 956 957 957 959 959 959 959 963 964 964 964 965 966 966 967

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Inhaltsverzeichnis a) Praktische Bedeutungslosigkeit der Wiederaufnahme zuungunsten? b) Staaten ohne Wiederaufnahme zuungunsten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wiederaufnahmeziel: Verurteilung, Straferhöhung, Wiederholung des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Wiederaufnahmegrund: Fehlen eines Rehabilitierungsrechts . . . . . . . . . . . . 1. Der Leitgedanke: Verletzung der Prozessduldungspflicht . . . . . . . . . . . . 2. Wiederaufnahme propter nova zuungunsten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zuspitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Positivrechtliche Übersetzung. Die gesetzlichen Wiederaufnahmegründe (§ 362 StPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nachträgliches glaubhaftes Geständnis (§ 362 Nr. 4 StPO)? . . . . . . . . . 2. § 362 Nr. 1, 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. § 362 Nr. 3 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Wiederaufnahme propter nova zuungunsten: § 373a StPO, § 85 Abs. 3 OWiG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Wiederaufnahme zuungunsten wegen Verfassungswidrigkeit (§ 79 Abs. 1 BVerfGG)? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Wiederaufnahmegründe zuungunsten de lege ferenda? . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Neue Kriminaltechnik (DNA-Test)? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kronzeugenregelung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

967 968 971 972 972 977 979 981 981 985 986 989 991 991 991 993

E. Weitere Fragen der Wiederaufnahme des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 994 I. Befristung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 994 II. Ausgestaltung als relative oder absolute Wiederaufnahmegründe . . . . . . . . 996 F. Fazit zur Wiederaufnahme des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 998 I. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 998 II. Abschließende Bemerkungen zur Wiederaufnahme des Verfahrens . . . . . . 1005 Schlussteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1008 A. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1008 B. Abschließende Bemerkungen zur Monografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1013 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1018 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1142

Abkürzungsverzeichnis ABFRJ ADPCP AJS AK-StPO AlaskaLR AllgStRZ ALR AmJCompL AmJCrimL AmLEcR AnwBl AöR AP ArchCrimR ArchMilR ArchPen ArizStLJ ARSP AT Aufl. BayDO BayPAG

BBG BCESMPU Berlin DiszG BGH BGHSt BolGLIPGö BpRW BRAK

American Bar Foundation Research Journal Anuário de derecho penal y ciencias penales (Madrid, Spanien) American Journal of Sociology Wassermann (Hrsg.), Alternativkommentar zur Strafprozeßordnung, 1996 Alaska Law Review Allgemeine deutsche Strafrechtszeitung Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten (1794) The American Journal of Comparative Law The American Journal of Criminal Law American Law & Economics Review Anwaltsblatt Archiv für öffentliches Recht Actualidad Penal Archiv des Criminalrechts Archiv für Militärrecht Archivio Penale Arizona State Law Journal Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Allgemeiner Teil Auflage Bayerische Disziplinarordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. März 1985 (GVBl. S. 31) Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Bayerischen Staatlichen Polizei (Polizeiaufgabengesetz) in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. September 1990 (GVBl. S. 397) Bundesbeamtengesetz vom 5. Februar 2009 (BGBl. I S. 160) Boletim Científico da Escola Superior do Ministério Público da União Disziplinargesetz vom 29. Juni 2004 (GVBl. S. 263) Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Boletín semestral del Grupo Latinoamericano de Investigación Penal Göttingen Bibliothek für peinliche Rechtswissenschaft und Gesetzeskunde Bundesrechtsanwaltskammer

24 BRAK Denkschrift

BRAO BrYULR BuffCLR BuffLR BVerfG BVerfGE BVerwG BVerwGE BWPolG CalLRev CardJICL CardLR CCB CCC CJICL CLR ColLR CPC CR CrAppR D. DDP Debates I ders. dies. DigIt DJ DJZ DPP DR Dreier-GG DRiZ DrLR DRW

Abkürzungsverzeichnis Strafrechtsrechtsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer, Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme des Verfahrens im Strafprozß, 1976 Bundesrechtsanwaltsordnung Brigham Young University Law Review Buffalo Criminal Law Review Buffalo Law Review Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Polizeigesetz für Baden-Württemberg in der Fassung vom 13. Januar 1992 (GBl. 1992, 1) California Law Review Cardozo Journal of International and Comparative Law Cardozo Law Review Bambergische Peinliche Halsgerichtsordnung, Constitutio Criminalis Bambergensis, hrsgg. v. H. Bauer, 2009 Constitutio Criminalis Carolina Cardozo Journal of International & Comparative Law The Criminal Law Review Columbia Law Review Cuadernos de Política Criminal Computer und Recht The Criminal Appeal Reports Recueil Dalloz de Doctrine, de Jurisprudence et de Législation. Digesto delle Discipline Penalistische The Debates and proceedings in the Congress of the United States, Bd. 1: 1789–91, Washington, 1834 derselbe dieselbe Il Digesto Italiano Deutsche Justiz Deutsche Juristenzeitung Diritto penale e processo Deutsches Recht. Zeitschrift des Bundes Nat.-Soz. Deutscher Juristen Dreier, Horst (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 2. Aufl., Bd. 1 2006; Bd. 2 2006; Bd. 3 2008 Deutsche Richterzeitung Drake Law Review Deutsche Rechtswissenschaft

Abkürzungsverzeichnis DStR DWBl E 1905, Protokolle

E 1939 ECPI EGMR EmLJ EncDir EncGiur EPC EuGH EuR f./ff. FedRCrimP FS GA GG GiurCost GiustPen GP grdl. GS GVG Hahn/Mudgan

HarvLR HJLPP h. M. HRRS ICLR i. d. R. i. Erg. IJEP IJPG insb. insg. IoLR IP i. S.

25

Deutsches Strafrecht Deutsches Wochenblatt Reichs-Justizamt (Hrsg.), Protokolle der Kommission für die Reform des Strafprozesses, Bd. 1: Erste Lesung, 1905; Bd. 2: Zweite Lesung und Zusammenstellung der Beschlüsse, 1905 Entwurf einer Strafverfahrensordnung und einer Friedensrichter- und Schiedsmannsordnung 1939, Nachdruck 1954 European Criminal Policy Initiative Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Emory Law Journal Enciclopedia del Diritto Enciclopedia Giuridica Estudios penales y criminológicos Europäischer Gerichtshof Zeitschrift Europarecht folgende/fortfolgende Federal Rules of Criminal Procedure Festschrift Goltdammers Archiv für Strafrecht Grundgesetz Giurisprudenza Costituzionale Giustizia Penale La Gazette du Palais grundlegend Der Gerichtssaal Gerichtsverfassungsgesetz Hahn, Carl/Mudgan, Benno (Hrsg.), Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, 8 Bände, Bd. 3: Materialien zur Strafprozeßordnung, hrsg. v. E. Stegemann, 2. Aufl. 1885-6 Harvard Law Review Harvard Journal of Law & Public Policy herrschende Meinung Höchstrichterliche Rechtsprechung Strafrecht International Criminal Law Review in der Regel im Ergebnis The International Journal of Evidence & Proof Internationales Jahrbuch für Philosophie und Gesetzgebung insbesondere insgesamt Iowa Law Review L’Indice Penale im Sinne

26 IsLR i. Ü. JA JBl JBRKSoz JBRSozRTh JCL JCLC JFL Aichi Univ. JJZG JLS JöR JR JSIJ Jura JuS JW JZ KansURLP KK-OWiG KK-StPO KMR-StPO KrimJ KritJ KritV KritZRGA L&CP L&SI L&SR LAW COM Nr. 267

LegPen Lewisch/Fister/ Weilguni-VStG L/F/W-VStG LH

Abkürzungsverzeichnis Israel Law Review im Übrigen Juristische Arbeitsblätter Juristische Blätter Jahrbuch für Rechts- und Kriminalsoziologie Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie The Journal of Criminal Law The Journal of Criminal Law and Criminology Journal of the Faculty of Law Aichi University Journal für Juristische Zeitgeschichte The Journal of Legal Studies Jahrbuch des öffentlichen Rechts Juristische Rundschau Judicial Studies Institute Journal Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristische Wochenschrift Juristenzeitung Kansai University Review of Law and Politics Senge (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zum Ordnungswidrigkeitengesetz, 3. Aufl. 2006 Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 7. Aufl. 2013 v. Heintschel-Heinegg/Stöckel (Hrsg.), Kleinknecht/Müller/ Reitberger, Kommentar zur Strafprozessordnung, Loseblatt Kriminologisches Journal Kritische Justiz Kritische Vierteljahreszeitschrift für die Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft und Gesetzgebung des Auslandes Law and Contemporary Problems Law and Social Inquiry Law and Society Review The Law Commission, Double Jeopardy and Prosecution Appeals, Report on two references under section 3(1)(e) of the Law Commissions Act 1965, 2001 Legislazione Penale Lewisch, Peter/Fister, Mathis/Weilguni, Johanna, Verwaltungsstrafgesetz 1991, Wien, 2013 Lewisch, Peter/Fister, Mathis/Weilguni, Johanna: Verwaltungsstrafgesetz 1991 (VStG), Wien 2013 Libro homenaje, Estudos em homenagem (Festschrift)

Abkürzungsverzeichnis LM LouisLR LR-StPO

LR-StPO 20. Aufl.

LR-StPO 25. Aufl.

LZ v. Mangoldt/Klein/ Starck-GG M/D-GG MDR MichLR MIKV MK-StGB MK-ZPO MLR ModPenC MoLR M/SB/K/B-BVerfGG MschrKrim MSchrKrimPsych v. Münch/Kunig-GG NArchCrim NDiszG NEP NJW NK NK-StGB NorthCarLR

27

Lindenmaier-Möhring, Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs Louisiana Law Journal Erb, Volker u. a. (Hrsg.), Löwe-Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz. Großkommentar, 26. Aufl., 2006 ff. Niethammer, E. u. a. (Hrsg.), Löwe-Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz. Kommentar, 20. Aufl. 1958 Rieß, Peter (Hrsg.), Löwe-Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz. Großkommentar, 25. Aufl., 1999 ff. Leipziger Zeitschrift für Deutsches Recht v. Mangoldt, Hermann/Klein, Friedrich/Starck, Christian (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz, 6. Aufl., 2010 Maunz, Theodor/Dürig, Günter (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar 70. Ergänzungslieferung 2013 Monatsschrift für deutsches Recht Michigan Law Review Mitteilungen der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung Joecks, Wolfgang/Miebach, Klaus (Hrsg.): Münchener Kommentar zum StGB, 2. Aufl. 2011 ff. Rauscher, Thomas u. a. (Hrsg.), Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Auflage, 2012 The Modern Law Review The American Law Institute, Model Penal Code. Proposed Official Draft, Philadelphia, 1962 Missouri Law Review Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 40. Ergänzungslieferung, 2013 Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform v. Münch, Ingo/Kunig, Philip (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 6. Aufl. 2012 Archiv des Criminalrechts (Neue Folge) Niedersächsisches Disziplinargesetz vom 13. Oktober 2005 (Nds.GVBl. Nr.21/2005 S.296) Nouvelles études pénales Neue Juristische Wochenschrift Neue Kriminalpolitik Kindhäuser, Urs u. a. (Hrsg.), Nomos-Kommentar zum Strafgesetzbuch, 4. Aufl. 2013 North Carolina Law Review

28 NotreDameLR NovDigIt NRHDFE NStZ NuDigIt NVwZ-RR NYULR NZV NZWiSt OGHBrZ OhioStJCrimL OJLS ÖJZ OñSLS P&SC PekULJ PolG NRW

Abkürzungsverzeichnis

Notre Dame Law Review Novissimo Digesto Italiano Nouvelle Revue Historique de Droit Français et Étranger Neue Zeitschrift für Strafrecht Nuovo Digesto Italiano Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Rechtsprechungs-Report New York University Law Review Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht Neue Zeitschrift für Wirtschaftsstrafrecht Oberster Gerichtshof für die Britische Zone Ohio State Journal of Criminal Law Oxford Journal of Legal Studies Österreichische Juristenzeitung Oñati Socio-Legal Series Philosophy and Social Criticism Peking University Law Journal Polizeigesetz des Landes Nordrhein-Westfalen in der Fassung vom Neufassung 25. Juli 2003 (GV. NRW. S. 441) Proc. Arist. Soc. Proceedings of the Aristotelian Society Prüting/Gehrlein-ZPO Prüting, Hanns/Gehrlein, Markus (Hrsg.), ZPO Kommentar, 5. Aufl. 2013 Public Affairs Quarterly PAQ RabelsZ Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht RBCC Revista Brasileira de Ciências Criminais RDP Rivista di diritto processuale RDPC Rivista di diritto processuale civile RDPP Rivista di diritto processuale penale RDProc Revista de derecho procesal REcSt Review of Economic Studies RevDPC Revue de droit penal et de criminologie (Belgien) RGSt Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen R/H-StPO Radtke, Henning/Hohmann, Olaf (Hrsg.), Strafprozessordnung. Kommentar, 2011 RhZZP Rheinische Zeitschrift für Zivil- und Prozessrecht des In- und Auslandes RIDP Rivista italiana di diritto penale RitDPP Rivista italiana di diritto e procedura penale RJDRSC Revue de Science Criminelle et de Droit Pénal Comparé RLJ Revista de Legislação e Jurisprudência RMGE Entscheidungen des Reichsmilitärgerichts RTDC Revue Trimestrielle de Droit Civil RTDPC Rivista Trimestrale di Diritto e Procedura Civile

Abkürzungsverzeichnis RuP RutgLR RuW

RW S. s. Sachs-GG SchlHA Sch/Sch-StGB SchwJZ SchwZStR ScPos SCR SDiegoILJ SG SJZ SK-StPO SLR S/M-östStPO

SNO Sp. SpuRt SSW-StGB Stein/Jonas-ZPO StGB StLR StLULJ StPO StraFo StV UChLR UCLALR UColLR

29

Recht und Politik. Vierteljahreshefte für Rechts- und Verwaltungspolitik Rutgers Law Review Recht und Wirtschaft. Monatsschrift der Vereinigung zur Förderung zeitgemäßer Rechtspflege und Verwaltung „Recht und Wirtschaft“ Rechtswissenschaft. Zeitschrift für rechtswissenschaftliche Forschung Seite siehe Sachs, Michael (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 6. Aufl., 2011 Schleswig-Holsteinische Anzeigen Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 28. Aufl. 2010 Schweizerische Juristen-Zeitung Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht La Scuola Positiva The Supreme Court Review San Diego International Law Journal Studium Generale; Soldatengesetz Süddeutsche Juristenzeitung Wolter, Jürgen (Hrsg.), Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung, 4. Aufl. 2011 ff. Stanford Law Review Schmölzer, Gabriele/Mühlbacher, Thomas (Hrsg.), Strafprozessordnung, Kommentar. Bd. 1: Ermittlungsverfahren, Wien, 2013 Studi e Note di Economia Spalte Sport und Recht Satzger, Helmut/Schmitt, Bertram/Widmaier, Günter (Hrsg.), Strafgesetzbuch Kommentar, 2009 Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, 22. Aufl., 2002 ff. Strafgesetzbuch Stanford Law Review Saint Louis University Law Journal Strafprozessordnung Strafverteidiger Forum Strafverteidiger University of Chicago Law Review UCLA Law Review University of Colorado Law Review

30 Umbach/Clemens/ Dollinger-BVerfGG UPennLR VE ME PolG

VillLR VirgLR VVDStRL WK-östStPO WULQ WULR YLJ ZAkDR ZBR ZdStV ZfgRW ZfRSoz ZfRV ZIS ZRG ZStW ZVglRWiss ZZP

Abkürzungsverzeichnis Umbach, Dieter C./Clemens, Thomas/Dollinger, Franz-Wilhelm, Bundesverfassungsgerichtsgesetz Kommentar, 2. Aufl. 2005 University of Pennsylvania Law Review Clages (Hrsg.), Kniesel/Vahle (Bearbeiter), Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes in der Fassung des Vorentwurfs zur Änderung des ME PolG, 1990 Villanova Law Review Virginia Law Review Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Wiener Kommentar zur Strafprozessordnung, Wien (Loseblatt) Washington University Law Quarterly Washington University Law Review The Yale Law Journal Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht Zeitschrift für Beamtenrecht Zeitschrift für deutsches Strafverfahren einschließlich des Gefängniswesens Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft Zeitschrift für Rechtssoziologie Zeitschrift für Rechtsvergleichung Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft Zeitschrift fü Vergleichende Rechtswissenschaft Zeitschrift für Zivilprozess

Einleitung A. Gegenstand der Untersuchung Die vorliegende Arbeit sollte ursprünglich die materielle Rechtskraft in ihrer negativen Dimension untersuchen, also den sog. ne bis in idem-Grundsatz.1 Verfahren müssen ein Ende haben. Mehr und mehr wurde mir aber klar, dass man erst verstehen kann, warum das Verfahren enden muss, wenn man weiß, warum es überhaupt anfangen darf. Eine Rückbesinnung auf die Grundlagen des Strafprozessrechts erwies sich als erforderlich, was im Einklang mit einer langen prozessrechtswissenschaftlichen Tradition steht, die von einem engen Zusammenhang zwischen der Frage nach dem Zweck des Verfahrens und der Frage nach der Rechtskraft ausgeht.2 Weil aber die grundlagentheoretische Reflexion zugleich als Selbstzweck betrieben werden muss, ging sie zum Teil weit über dasjenige hinaus, was zur Lösung der Rechtskraftprobleme unabdingbar war. Daher die Überschrift „Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft“. Das erste Anliegen der Arbeit – „Strafprozesstheorie“ – besteht also darin, über die Grundlagen des Strafprozessrechts zu reflektieren. Im Mittelpunkt soll konkret die selten explizit gestellte Frage stehen, warum es Strafprozesse geben darf. Gerade bei der Erforschung der Grundlagen des Strafprozessrechts ist ein wissenschaftliches Defizit zu verzeichnen, das auch seit Jahrzehnten beklagt wird.3 Der Vergleich zur theoretischen Durchdringung und Systematisierung des materiellen Strafrechts schmeichelt dem Strafprozessrecht nicht. So stellt Roxin fest: „. . . ein begrifflich und teleologisch durchgebildetes prozessuales Gesamtsystem hat die Wissenschaft bisher nicht schaffen können“.4 Nach Wolter befin-

1 In der französischen Literatur ist eher von „non bis in idem“ die Rede; zur kaum diskussionswürdigen Frage, welche Formulierung „richtiger“ ist, Barja de Quiroga, Non bis in idem, S. 14 ff.; ders. Tratado, S. 178 ff. 2 Nachw. u. Bd. 2, Fn. 358. 3 Genauer sogar seit über 150 Jahren, vgl. etwa Köstlin, Wendepunkt, S. III f.; genau vor 100 Jahren Binding, Rechtsgang I (1913), S. 1, 10 f. 4 Roxin, 40 Jahre BGH, S. 66. Ebenso Roxin, Strafrechtswissenschaft, S. 371; Schaper, Verfahren, S. 29; Wolter, NStZ 1993, S. 1; ders. Theorie und Systematik, S. 267; Perron, FS Lenckner, S. 244; Bottke, FS Roxin I, S. 1243; Fischer, NStZ 2007, 436; s. a. Frisch, Wesenszüge, S. 171: „Eine umfassende Theorie, die das Ziel des Strafprozesses, dessen Institutionen und Einzelerscheinungen zu einer Einheit verbindet und aus diesem Verständnis dann konkrete Anforderungen und Erscheinungen (auch kritisch) reflektiert, fehlt weitgehend (oder ist doch allenfalls in Andeutungen vorhanden)“ – besser könnte man das hier verfolgte Ziel kaum beschreiben.

32

Einleitung

det sich das Strafprozessrechtssystem in einem „Ur- und Rohzustand“:5 „uns fehlt in der Tat schon der bloße Ansatz einer modernen Strafprozeßrechtstheorie und eines prozessualen Gesamtsystems“.6 Die vielzitierte Behauptung Friedrich Steins, der das Prozessrecht als „technisches Recht“ bezeichnete, das „von wechselnden Zweckmäßigkeiten beherrscht, der Ewigkeitswerte bar“ sei,7 enthält mehr Wahres, als man zugeben möchte. Das Strafverfahrensrecht ist in Deutschland im Großen und Ganzen ein richterrechtliches Gebilde,8 das immer noch auf eine überzeugende theoretische Einrahmung wartet. Die vorliegende Arbeit strebt an, einen Beitrag zur Errichtung einer derartigen Theorie zu liefern; sie möchte sich in die jüngeren Bestrebungen eingeordnet sehen, die vor Kurzem Anlass zu der Feststellung einer „Renaissance der Strafprozesstheorie“ gegeben haben.9 Insofern versteht sie sich als prozessuales Gegenstück zu der in einer anderen Monografie entwickelten Straftheorie:10 Die materiellrechtliche Straftheorie beschäftigt sich mit der Frage, warum die Strafe sein darf, die Strafprozesstheorie ihrerseits mit der Frage, warum das Strafverfahren sein darf. Diese Fragestellung muss genauso radikal sein wie die materiellrechtliche: In erster Linie muss es darum gehen, ob und wie die empfindliche Beanspruchung, die das Strafverfahren für den Betroffenen bedeutet, nicht nur der Gesellschaft gegenüber, sondern diesem gegenüber gerechtfertigt werden kann. Im Strafrecht rechtfertigt man ein Übel gegenüber einem Schuldigen; das Strafverfahren trifft indes zugleich Unschuldige, so dass es eigentlich überrascht, dass man sich dieser Frage bisher eher zögerlich zuzuwenden bereit war. Hier wird sie zum Angelpunkt der ganzen Strafprozesstheorie erhoben; sie wird zugleich den Schlüssel zum Verständnis der Rechtskraft im Strafverfahren liefern und der gesamten Dogmatik der mit ihm verbundenen Rechtsinstitute. Eine solche Strafprozesstheorie wird, wie auch die Straftheorie, notwendig vorpositiv sein. Erst eine vorpositive Warte vermag einen festen Halt zu bieten, von dem aus man einen Beitrag zur Klärung anderer Probleme (hier: der Rechtskraft bzw. des ne bis in idem-Grundsatzes) erwarten kann. Der sparsam-pragmatische Weg einer ad hoc Behandlung von Fragen aus sich selbst heraus mag zwar 5

Wolter, FS Roxin I, S. 1141. Wolter, NStZ 1993, S. 1; s. a. ders. FS Roxin II, S. 1245. 7 Stein, Grundriß, S. XIV. Vgl. auch Volk, Prozessvoraussetzungen, S. 10: Prozessrecht als „Heimstatt pragmatischer Lösungen“. Von diesem Spruch Steins wurde behauptet: „Wohl kaum ein Wort hat der Prozeßrechtswissenschaft solches Ärgernis und manchem Spötter solche Genugtuung bereitet wie dieser Ausspruch eines der angesehensten Prozessualisten“ (Gaul, AcP 1968, S. 28). Dezidierte Kritik bei Eb. Schmidt, ZStW 65 (1953), S. 162 f., 166 ff.; krit. a. Figueiredo Dias, Direito processual penal, S. 50. 8 Roxin, 40 Jahre BGH, S. 66; ders. Strafrechtswissenschaft, S. 371; Sternberg-Lieben, ZStW 108 (1996), S. 745. 9 Haas, ZStW 125 (2013), S. 121. 10 Greco, Lebendiges, insb. S. 202 ff. 6

Einleitung

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wegen seiner Konsensfähigkeit besonders attraktiv erscheinen. Mehr als Kompromisse, die immer so vorläufig bleiben wie die zufällig übereinstimmenden Interessen, die sie tragen, erzielt man aber dadurch nicht. Und hiermit kommt man schon zum zweiten Anliegen der Arbeit, der materiellen Rechtskraft. Die Arbeit bemüht sich zugleich um eine Klärung der Grundlagen und Reichweite der Rechtskraft in ihrer negativen Dimension, der sog. Sperrwirkung, deren beschuldigtenfreundliche Seite der sog. ne bis in idem-Grundsatz darstellt.11 Bei diesem im Allgemeinen selten bestrittenen Grundsatz – ein „Satz des Universalrechts“, wie es seit den Beratungen im französischen Conseil d’Etat 1804 im Laufe des 19. Jahrhunderts immer wieder hieß,12 der inzwischen an vielen Stellen positivrechtliche Anerkennung bekommen hat13 – sind viele Einzelheiten äußerst unklar. Man kann in anschaulicher Bezeichnung klassische und moderne Probleme unterscheiden; nur mit Ersteren wird sich die vorliegende Monografie beschäftigen. Die klassischen Probleme ergeben sich bereits aus einer strukturellen Analyse der Aussage, die das Prinzip umschreibt. Rechtssatztheoretisch betrachtet bestimmt der ne bis in idem-Grundsatz, dass wenn eine Tat bereits bestraft bzw. abgeurteilt bzw. verfolgt worden ist (Tatbestandsseite), es verboten ist, sie noch einmal zu bestrafen bzw. abzuurteilen bzw. zu verfolgen (Rechtsfolgenseite). Das bedeutet zunächst ein dreistufiges Arbeitsprogramm: auf der Tatbestandsseite muss man erstens bestimmen, was unter einer „Tat“ zu verstehen ist – die klassi11 Auf eine geschichtliche Fundierung wurde bewusst verzichtet; s. insb. Griolet, Chose jugée, S. 182 ff.; Hommey, Chose jugée, S. 9 ff.; Hirtz, Chose jugée, S. 10 ff.; Esmein, NRHDFE 11 (1887) S. 545 ff.; Carfora, DigIt XIII/4 (1900), S. 286 ff.; Rocco, Cosa giudicata I, S. 25 ff.; Rheingans, Rechtskraftlehre, S. 3 ff.; Schwarplies, Ne bis in idem, S. 14 ff.; Musselli, Giudicato, S. 3 ff.; Friedland, Double Jeopardy, S. 5 ff.; Sigler, Double Jeopardy, S. 1 ff.; Najarian, Chose jugée, S. 17 ff.; s. a. Callari, Firmitas, S. 61 ff. Der in geschichtlich orientierten Arbeiten immer wieder hervorgehobene dogmatische Ertrag einer geschichtlichen Fundierung (statt aller Rocco, Cosa giudicata I, S. 16), die den Weg bis zum Recht der Antike zurückgeht, wird eher behauptet als eingelöst; zur angemessenen Rolle der Geschichte in der prozessualen Theoriebildung s. u. Teil 1 Kap. 1 C. (S. 112 f.; „geschichtlich-analytische Methode“). 12 Berlier, in: Locré, Discussion, S. 120; die Wendung taucht in Deutschland etwa bei Glaser, GrünhutZ 12 (1885), S. 306 und Borgmann, Identität der That, S. 1, auf, freilich ohne Angabe der Urquelle. Ähnl. der amerikanische Supreme Court, Ex parte Lange, 85 U.S. 163, 169 (1873); Heffter, Non bis in idem, S. 5; Ortolan/Desjardins, Éléments, S. 294, 296. Selbstverständlich heißt das nicht, dass alle Staaten und Epochen den Satz anerkannt haben (s. Correia, Caso julgado, S. 301) – zu wichtigen Ausnahmen s. u. Teil 2 Kap. 1 C. VII. (S. 362 ff.) – und auch nicht, dass der Satz eine überstaatliche Geltung habe (abl. genau zu dieser Argumentationsweise Griolet, Chose jugée, S. 225) oder eine allgemeine Regel des Völkerrechts darstelle (abl. bereits BVerfGE 75, 1 [18 ff.]) – näher hierzu die o. S. 35 angekündigte Arbeit. 13 Für Deutschland: Art. 103 Abs. 3 GG; Art. 14 Abs. 7 IPbpR; Art. 4 des 7. ZPEMRK; Art. 54 SDÜ; Art. 50 EU-GRCh; Nachw. weiterer zwischenstaatlicher Übereinkommen bei Satzger, Europäisierung, S. 689 ff.; Conway, ICLR 3 (2003), S. 219 f. Nachw. ausländischer Rechtsvorschriften u. Fn. 1435, 1916.

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Einleitung

sche Frage nach dem Begriff der strafprozessualen Tat bzw. nach dem sog. Prozessgegenstand. Zweitens ist zu klären, was dieser Tat bereits passiert sein muss, also wie man die erste Strafe bzw. Aburteilung bzw. Verfolgung deuten soll – die Frage nach den einzelnen Sanktionen, Maßnahmen und Entscheidungen, die auf der Tatbestandsseite die zu klärende Rechtsfolge auslösen. Drittens muss die Rechtsfolgenseite betrachtet werden: Was darf einer bereits bestraften bzw. abgeurteilten oder sogar verfolgten Tat nicht mehr passieren, was bedeutet also der Begriff „Strafe“ oder „Aburteilung“ auf der Rechtsfolgenseite? Diese Frage nach dem Gehalt der Sperrwirkung bildet also das dritte unter den klassischen Problemen. Zu den klassischen Problemen zählt viertens noch die Möglichkeit der Aufhebung dieser Rechtsfolge – das Recht der Wiederaufnahme. Zwar sind alle diese Probleme Gegenstand einer Vielzahl von anspruchsvollen Abhandlungen und dickleibigen Monografien gewesen, so dass der Verdacht entsteht, man könnte „der Versuchung, die unübersehbare Menge der umfassenderen Rechtskraftuntersuchungen um eine neue Variante zu erweitern“,14 erlegen sein. Trotz der Tatsache, dass diese Fragen alle materiell verwandt sind, dass ein mehr als nur enges Verhältnis zwischen ihnen besteht, wurde soweit ersichtlich noch nicht der Versuch unternommen, sie alle in einer einzigen Arbeit monografisch zu behandeln. Denn diese Fragen gehören zusammen. Als Beispiel nehme man etwa das früher im Vordergrund stehende Problem der Rechtskraft des Strafbefehls.15 Es wird ein Strafbefehl erlassen wegen des Vergehens des Fahrens ohne Fahrerlaubnis (§ 21 StVG), nachträglich entdeckt man, dass der Beschuldigte während der Fahrt ein schweres Verbrechen begangen hatte, etwa einen Raub. Die frühere Rechtsprechung löste bis Mitte der 80er Jahre solche Fälle im Rahmen der zweiten der gerade genannten Fragen: Entscheidungen, die in summarischen Verfahren gewonnen werden, stehen einer erneuten Verfolgung übersehener schwerer Straftaten nicht entgegen. In der Lehre gab es Versuche, das Problem als ein solches des Tatbegriffs zu lösen: das Gericht sei überhaupt nicht in der Lage gewesen, im Wege des Strafbefehls seine Kognition auf den Raub zu erstrecken, weshalb das erste Verfahren diesen Vorwurf nicht zum Gegenstand gehabt haben könnte. Durchgesetzt hat sich eine Lösung im Wiederaufnahmerecht: In derartigen Fällen erstreckt sich das Verbot einer erneuten Verfolgung auch auf den Raub, dieses Verbot ist aber unter bestimmten Bedingungen auflösbar (§ 373a Abs. 1 StPO). Ein erstes Ziel dieser Arbeit, ihr Erkenntnisinteresse wird es sein, aufzuzeigen, dass hinter allen diesen Fragenkreisen eine einheitliche Theorie der Rechtskraft steht, die sich ihrerseits auf eine allgemeinere Theorie des Strafverfahrens zurückführen lässt.

14

Rieß, GA 1977, S. 86. Näher u. Teil 2 Kap. 2 D. III. 4. bb) (S. 564 ff.), Kap. 4 F. II. 9. (S. 810 ff.), Kap. 6 D. VI. 4. (S. 989 ff.). 15

Einleitung

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Theorie mag schön und gut sein; die Jurisprudenz ist aber eine praktische, eine angewandte Wissenschaft, die sich bei der Lösung konkreter Einzelfälle, die sich den Gerichten präsentieren, bewähren muss. Gerade das ist ein zweites, gleichrangiges Ziel der Arbeit, das von ihr verfolgte praktische Interesse: die Arbeit versucht die kaum überschaubare Fülle der deutschen Rechtsprechungskasuistik zu verarbeiten und einer theoriegeleiteten Lösung zuzuführen. Damit erweisen sich Erkenntnisinteresse und praktisches Interesse als untrennbare Einheit; eine zutreffende Theorie muss belegen, dass sie alltägliche Fälle präzise und befriedigend lösen kann, und die Lösung von Fällen muss sich über den Zufall des guten Bauchgefühls erheben und den Anforderungen der Theorie genügen können.16 Die Entstehung eines europäischen Rechtsraums und einer internationalen Strafrechtsebene (insbesondere mit der Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs) zwingt aber zur Erweiterung des herkömmlichen Blickfelds – es entstehen moderne Probleme der materiellen Rechtskraft. Sowohl auf der transnationalen, horizontalen Ebene als auch auf der völkerrechtlichen, also vertikalen Ebene stellen sich alle vier Fragen noch einmal. Sie werden dadurch komplizierter, weil es jetzt um das Zusammenspiel zwischen Rechtsordnungen gehen wird, die auf die vier klassischen Fragen ihrerseits unterschiedliche Antworten geben. Vor allem muss geklärt werden, welche Perspektive als maßgeblich angesehen werden darf: Kommt es auf die Antworten desjenigen an, der die Tat als Erster bestraft bzw. abgeurteilt hat, auf die Antworten desjenigen, der als zweiter antritt, oder muss man sich vielmehr auf neutralem Boden um eine „autonome“ Antwort bemühen? Ferner gibt es eine Reihe positivrechtlicher Fragen, wie etwa die nach der Bedeutung des sog. Vollstreckungselements, das in Art. 54 SDÜ, nicht aber in Art. 50 EU-GRCh genannt wird. Diese Fragen können in der vorliegenden Arbeit nicht behandelt werden. Es ist anzunehmen und wird sich am Beispiel des Tatbegriffs auch zeigen (u. Teil 2 Kap. 2 B.), dass eine fundierte Diskussion dieser hochaktuellen Fragen ohne eine grundlagenorientierte Rückbesinnung unmöglich ist. Wenn man mehr als eine Wissenschaft der „praktischen Rathschläge“ bzw. von „Alltagswaaren“ anstrebt, führt an „prinzipieller Kritik“ kein Weg vorbei.17 Die Erweiterung der hier gebotenen Theorie auf die modernen Fragen soll Gegenstand einer künftigen Arbeit sein.

16 Insofern ist die vorliegende Arbeit ehrgeiziger als die bereits erwähnte Monografie über die materiellrechtliche Straftheorie, die sich in erster Linie mit theoretischen Problemen beschäftigte und den Weg zu konkreten dogmatischen Schlussfolgerungen eher andeutete (Greco, Lebendiges, S. 483 f., 506 ff.); Fälle aus der Rechtsprechung blieben so gut wie unerwähnt. Seitdem versuche ich allmählich, aus der Theorie konkrete dogmatische Konsequenzen zu ziehen, z. B. für das Pornografiestrafrecht (RW 2 [2011], S. 275 ff.), für die Behandlung des Ehrenmordes (Ehrenmorde, S. 403 ff.) oder für die völkerstrafrechtliche Frage nach der Zulässigkeit von Amnestien (GA 2012, S. 270 ff.). 17 Köstlin, Wendepunkt, S. III f.

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B. Terminologische Präzisierungen Bereits an dieser Stelle, nicht zuletzt um Missverständnissen und falschen Erwartungen vorzubeugen, sind klärende Bemerkungen zu dem Wortpaar, das den doppelten Gegenstand der Untersuchung kennzeichnet, am Platze. Die hier angestrebte Strafprozesstheorie hat nichts mit der von Peters konzipierten „Strafprozesslehre“ gemein.18 Diese verkörpert das Gebot, „auch den wirklichen Hergang des Strafprozesses“ in die Betrachtung miteinzubeziehen. 19 Sie ist in erster Linie ein empirisches Unternehmen der „Prozeßbeobachtung und Prozeßbeschreibung“,20 also eine Art Prozesssoziologie und -psychologie, wenn auch eine geisteswissenschaftlich orientierte, die „verstehend“ und nicht „erklärend“ vorgeht. Deshalb enthält sie auch eine für geisteswissenschaftlich-verstehend orientierte Arbeiten typische, dennoch unklare Mischung zwischen empirischen und normativen Annahmen.21 Die hier zu entfaltende Strafprozesstheorie ist dagegen ein normatives Unternehmen, nicht Soziologie oder Psychologie, sondern Strafprozessrechtsphilosophie. Und mit dem Begriff der materiellen Rechtskraft sollen die Fragen erfasst werden, die normalerweise unter Rubriken wie der negativen Dimension bzw. Wirkung der materiellen Rechtskraft, der Sperrwirkung einer rechtskräftigen Entscheidung, des Strafklageverbrauchs oder des ne bis in idem-Grundsatzes behandelt werden. Es ist etwas ungeschickt, dass diese Bezeichnungen die vier klassischen Fragen, die oben I. erwähnt wurden, nicht völlig reibungslos abdekken. Insbesondere lassen die letzten zwei Ausdrücke die Aspekte der Rechtskraft, die sich gegen den Beschuldigten auswirken, also die Tatsache, dass auch er das rechtskräftige Verfahrensergebnis hinnehmen muss, und dass er deshalb auf das Rechtsinstitut der Wiederaufnahme zugunsten angewiesen ist, eher unberücksichtigt. Sperrwirkung ist in dieser Hinsicht wohl besser; denn damit wird nicht impliziert, dass nur eine Strafklage gesperrt wird, so dass Raum dafür bleibt, jede erneute Beschäftigung mit derselben Sache für unzulässig zu erklären. Nachteile dieses Ausdrucks sind aber, dass er umständlich, nahezu umgangssprachlich ist und dass er weder eine große Tradition hinter sich hat, noch international verbreitet ist. Deshalb fiel die Entscheidung für den Ausdruck materielle Rechtskraft. Das heißt aber nicht, dass die anderen Termini hier keine Verwendung finden. Von ihnen wird vor allem aus stilistischen Gründen immer wieder Gebrauch gemacht. Der Gegenstand aber, der hier behandelt wird, lässt sich besser mit dem Begriff der materiellen Rechtskraft kennzeichnen. 18 Hierzu etwa Peters, GS H. Peters, S. 891 ff.; ders. FS Maurach, S. 453 ff., 456, 458; ders. Strafprozess, S. 15. 19 Peters, GS H. Peters, S. 894. 20 Peters, GS H. Peters, S. 905. 21 Bezeichnend die Überlegungen zum Begriff der Rolle, Peters, GS H. Peters, S. 895 ff.

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Gleichzeitig soll klargestellt werden, was nicht Gegenstand der Untersuchung ist. Wenn man von materieller Rechtskraft spricht, möchte man zunächst Fragen der Rechtsmittellehre, der Anfechtbarkeit und Widerruflichkeit von Urteilen und Beschlüssen ausklammern, die die sog. „formelle Rechtskraft“ angehen.22 Ebenso wenig handelt die Arbeit von der sog. Vollstreckungswirkung des Urteils,23 die gelegentlich unter der Rubrik der materiellen Rechtskraft,24 häufiger (und richtiger) aber unter derjenigen der formellen Rechtskraft behandelt wird.25 Trotz der langen Tradition, Vollstreckbarkeit und Rechtskraft miteinander in Beziehung zu setzen, muss erkannt werden, dass diese Beziehung nicht einmal hinsichtlich der formellen Rechtskraft eine logisch notwendige ist. Entscheidungen können auch vollstreckbar sein, bevor sie unanfechtbar werden26 – die Schweiz kennt den sog. „vorläufigen Strafvollzug“.27 Ferner gibt es rechtskräftige Entscheidungen, bei denen von Vollstreckung nicht die Rede sein kann,28 zum Beispiel bei Freisprüchen. Auch die äußerst schwierigen Fragen der Teilrechtskraft bleiben hier unberücksichtigt.29 Bei der materiellen Rechtskraft unterscheidet man nicht selten negative und positive Dimensionen oder (genauer) Wirkungen. Die Arbeit beschäftigt sich allein mit Ersteren. Die Unterscheidung beruht darauf, dass die negative Dimension der Rechtskraft dem Fällen einer weiteren Entscheidung entgegensteht, sie „sperrt“ sie, während die positive Dimension eine zweite Entscheidung nicht schlechthin verbietet, sondern vielmehr dem Entscheider gebietet, seine zweite Entscheidung in inhaltlicher Übereinstimmung zu einer früheren Entscheidung zu treffen.30 Man spricht von der sog. Feststellungs-, Tatbestands- oder Bin-

22 Zur Unterscheidung von materieller und formeller Rechtskraft u. Teil 2 Kap. 1 A. I. (S. 328 f.). Diese Unterscheidung wird eher in der deutschen und italienischen Literatur gemacht; in Frankreich hat man die Unterscheidung nach anfänglichem Zögern (s. etwa Valticos, Chose jugée, S. 40 ff. m.w. Nachw.) in der Sache auch rezipiert; „force de chose jugée“ entspricht unserer formellen Rechtskraft, „autorité de la chose jugée“ unserer materiellen Rechtskraft, s. etwa Le Clec’h, Chose jugée, S. 4 f.; Guinchard/ Boisson, Procédure pénale, Rn. 2534, 2651. 23 Hierzu v. Hippel, Strafprozess, S. 373; Eb. Schmidt, Lehrkommentar I, Rn. 268; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 30 f.; Lavarini, Esecutività, insb. S. 37 ff. 24 v. Hippel, Strafprozeß, S. 373; Ranft, Strafprozeßrecht, Rn. 1869. 25 Etwa Eb. Schmidt, Kolleg Rn. 329; Trepper, Rechtskraft, S. 9; Lucarelli, Giudicato, S. 24; Mancuso, Giudicato, S. 235 ff. 26 Kroschel, GS 52 (1896), S. 409; Santoro, Manuale, S. 393. 27 Siehe etwa Laubenthal, Strafvollzug, Rn. 302. 28 Manzini, Trattato IV, S. 441. 29 Zu ihnen Spendel, ZStW 67 [1955], S. 556 ff.; W. Mezger, Teilrechtskraft, passim; Bruns, Teilrechtskraft, S. 11 ff.; Grünwald, Teilrechtskraft, passim; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 392 ff.; Gössel, Strafverfahrensrecht, S. 292 f.; Peters, Strafprozeß, S. 497 ff.; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 53 Rn. 18 f. 30 Etwa Goldschmidt, Materielles Justizrecht, S. 42 f. Die spitzfindige Behauptung, auch die positive Dimension sei negativ, weil sie es dem späteren Gericht verbiete, an-

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dungswirkung der rechtskräftigen Entscheidung in Bezug auf andere Straf- und sogar Zivil- oder Verwaltungsprozesse.31 Der Umstand, dass diese Aspekte der materiellen Rechtskraft hier ausgeklammert werden, soll nicht als Behauptung verstanden werden, dass es diese positiven Dimensionen der materiellen Rechtskraft nicht gibt oder geben darf, sondern bloß, dass sie hier nur am Rande interessieren.32 Zum großen Teil geht es dabei um Fragen, die von den jeweiligen Rechtsgebieten eigenständig geklärt werden sollen;33 und das ist auch der Grund, weshalb man bezüglich des Vorhandenseins einer derartigen positiven Bindung des Strafrichters an den Gehalt früherer Entscheidungen wenigstens Skepsis anmelden darf. Nicht nur verträgt sie sich schwer mit der Idee einer freien, nicht an gesetzliche Beweisregeln gebundenen Beweiswürdigung; eine solche positive Dimension der Rechtskraft ist, wie wir sehen werden (u. Teil 2 Kap. 2 B. IV. 7. [S. 418 ff.]; Kap. 5 A. [S. 838 f.]), eher Ausdruck eines Verständnisses, demzufolge die Rechtskraft in erster Linie staatliche bzw. gerichtliche Autorität oder

ders zu entscheiden als das Erstgericht (Nieva Fenoll, Cosa juzgada II, S. 52), ist nicht nur logisch falsch, denn die negative Dimension verbietet jede Entscheidung, auch eine gleichlautende, sondern zugleich wenig fruchtbar. 31 Zu diesen Wirkungen etwa Binding, Strafurteil, S. 344 ff., 356 ff.; Carnelutti, RDP 3 (1948), S. 8 ff.; Bruns, FS Eb. Schmidt, S. 602 ff.; Rutsaert, FS Dabin, S. 865 ff.; De Luca, Limiti soggettivi, S. 36 ff., 73 ff., 124 ff. (dogmengeschichtliche grundlegende Kritik in Italien); Sachers, FS Rittler, S. 341 ff.; Grunsky, FS Kern, S. 223 ff.; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 391 f.; Gössel, Strafverfahrensrecht, S. 293 f.; Zaczyk, GA 1988, S. 356 ff.; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 72 ff.; Tolksdorf, FS Grünwald, S. 731 ff.; Pradel, Droit pénal comparé, S. 478 ff.; ders. Procédure penal, Rn. 1037 ff.; Nieva Fenoll, Cosa juzgada II, S. 72; Tellier, RSC 2009, S. 808 ff.; Mancuso, Giudicato, S. 84 ff. Vgl. zuletzt auch den Entwurf eines Justizmodernisierungsgesetzes v. 2003, dessen Modernisierungsbeitrag u. a. aus einer solchen äußerst zweifelhaften Bindungswirkung von Strafurteilen für den Zivilprozess bestehen sollte (BT-Drs. 15/1508, S. 6, 12; krit. Satzger, 65. DJT, S. C 107 f.). Im Common Law kennt man eine Lehre von collateral estoppel bzw. von der issue preclusion, derzufolge eine Frage, die in einem früheren Gerichtsverfahren zugunsten des Beschuldigten entschieden worden ist, in späteren Gerichtsverfahren nicht abweichend entschieden werden kann (hierzu Spencer Bower/Kingcome Turner, Res Judicata, S. 283 ff.; English Jr., LouisLR 32 [1971], S. 92 ff.; Shalgi, IsLR 8 (1973), S. 73 ff.; Morris/Howard, Res judicata, S. 223 ff.; Thomas III, Double Jeopardy, S. 201 ff.; Saltzburg/Capra, American Criminal Procedure, S. 1554 ff.; s. a. U.S. Supreme Court Ashe v. Swenson, 397 U.S. 436 [1970]; abl. hingegen die englische Rspr., s. House of Lords, Reg. v. Humphrys AC 1977, 1, 2 [Leitsatz], etwa 21, 26 und passim; Devlin, in: House of Lords, Connelly v. DPP AC 1964, 1254 [1345 ff.]). 32 In dem Sinne, dass die Sperrwirkung sogar die einzige strafprozessuale Dimension der Rechtskraft sei, Goldschmidt, Materielles Justizrecht, S. 42 ff.; Liebman, Sentenza, S. 44; Lozzi, Enc. Dir. XVIII (1969), S. 913; ders. Ne bis in idem, S. 15 (abgeschwächt jetzt Lezioni, S. 781); Vogler, Rechtskraft, S. 55 f.; Cortés Domínguez, Cosa juzgada, S. 121, 142; Callari, Firmitas, S. 29 f.; oder wenigstens die Hauptdimension: Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 266; Spinellis, Rechtskraft, S. 30; Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 22; Pfeiffer/Hanich, KK-StPO Einl Rn. 170; abl. soweit ersichtlich nur Sauer, Grundlagen, S. 242 f., 483 f.; ders. GS Rocco, S. 484. 33 Peters, ZStW 56 (1935), S. 62 Fn. 9.

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sogar eine Präsumption von Wahrheit (näher u. Teil 2 Kap. 1 C. I., IV. [S. 338 ff., 351 ff.]) verkörpert.34 Zuletzt ergeben sich Schwierigkeiten bei der Bestimmung der einzelnen Fragen, die man im Rahmen der Bestimmung des näheren Gehalts der materiellen Rechtskraft zu untersuchen hat. Materielle Rechtskraft ist wenigstens im deutschen Strafprozessrecht kein Gesetzesbegriff, weshalb es auch keine klare, verbindliche Folge von zu prüfenden Merkmalen nach Art der bei Jura-Studenten so beliebten Prüfschemata gibt. Würde man vom ne bis in idem-Grundsatz sprechen, hätte man den Vorteil der Positivierung, aber den bereits genannten Nachteil, dass damit nur die beschuldigtenfreundlichen Dimensionen der Sperrwirkung bezeichnet werden. Zudem relativiert sich der Wert der Positivierung dadurch, dass jede positivrechtliche Vorschrift den Grundsatz anders beschreibt, womit klar wird, dass es auf die von den einzelnen Bestimmungen explizit genannten Merkmale nicht ankommen kann. So verbietet Art. 103 Abs. 3 GG, dass jemand „wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft“ wird. Der Wortlaut erfasst bereits den Freispruch im Erstverfahren nicht und erwähnt erst die Bestrafung, nicht aber die Verfolgung.35 Hier taucht auch die eigenartige Wendung der „allgemeinen Strafgesetze“ auf. Art. 50 EuGRC ist in dieser Hinsicht präziser: Verboten wird, dass derjenige, der „rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft“ wird. Es wird aber von einer „Straftat“, nicht von einer bloßen „Tat“ gesprochen. In der vorliegenden Abhandlung wird deshalb versucht, die konkreteren Fragen aus der hier zu entwickelnden Theorie und zugleich aus der Tradition der wissenschaftlichen Diskussion über Probleme der negativen Dimension der materiellen Rechtskraft abzuleiten. Diese Voraussetzungen sind diejenigen, die o. S. 33 f. als die vier klassischen Fragenkreise bezeichnet worden sind: ein Gegenstand, eine Tat, Straftat, also eine „res“; etwas, was diesem Gegenstand geschehen sein muss, Bestrafung, Verurteilung, Freisprechung, Aburteilung, Verfolgung, also das „iudicata“ an der res iudicata, das eigentlich zugleich eine Klärung des Strafbegriffs voraussetzt, so dass diese zweite Frage sich als doppelte Frage entpuppt; die Rechtsfolge hiervon, d.h. das „Negative“ und „Materielle“ an der negativen Dimension der materiellen Rechtskraft; und unter welchen Bedingungen man diese Rechtsfolge auflösen kann, also das Rechtsinstitut der Wiederaufnahme.

C. Gang der Untersuchung Der Überschrift entsprechend ist die Arbeit in zwei große Abschnitte aufgeteilt. Zuerst wird die Strafprozesstheorie entwickelt (u. Erster Teil); nach metho34

Ebenso Conso/Guarinello, RitDPP 1975, S. 47. Siehe deshalb Schmidt-Aßmann, M/D-GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 293: „einprägsame, aber unvollständige Kurzformel“; härter das Urteil von Ziemba, Wiederaufnahme, S. 75, der die Fassung der Vorschrift als „mißlungen“ bezeichnet. 35

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dischen Vorüberlegungen über das Projekt einer universellen Strafprozessrechtswissenschaft (Erster Teil, Kap. 1) ist der eigentlichen Frage nach der Rechtfertigung des Strafverfahrens nachzugehen (Erster Teil, Kap. 2). Anschließend soll die materielle Rechtskraft untersucht werden (u. Zweiter Teil), und zwar zunächst die Begründung dieses Rechtsinstituts (u. Zweiter Teil, Kap. 1), dann die vier, eigentlich fünf genannten klassischen Fragen, also der Tatbegriff (Zweiter Teil, Kap. 2; Bd. 2), die erste Strafe (u. Zweiter Teil, Kap. 3), die Aburteilung bzw. Verfolgung (Zweiter Teil, Kap. 4), die Rechtsfolge (Zweiter Teil, Kap. 5) und zuletzt die Auflösung dieser Rechtsfolge durch das Recht der Wiederaufnahme (u. Zweiter Teil, Kap. 6). Das Werk ist in drei Bände unterteilt, die materiell zusammengehörend konzipiert und nicht nacheinander, sondern gleichzeitig entstanden sind: Grundlagen (Teil 1, Teil 2 Kap. 1), Tatbegriff (Teil 2 Kap. 2), Begründung und Auflösung der materiellen Rechtskraft (Teil 2 Kap. 3–6).

1. Teil

Strafprozesstheorie 1. Kapitel

Vorüberlegungen zur Methode einer universellen (Strafprozess-)rechtswissenschaft „. . . das Einzige, was wir respektieren, (sind) Gründe (. . .). Was mit der Vernunft, so weit wir ihre Aussprüche gründlich darzulegen vermögen, nicht bestehen kann, das soll auch nicht bestehen, sondern fallen.“ (Feuerbach/Grolman/Almendingen, BpRW I [1797], S. VIII) „Le jurisconsulte criminaliste est de tous les pays et fait autorité dans tous.“ (Ortolan, Cours, S. 106)

Eine Arbeit, die anlässlich der Lösung bestimmter Probleme den Weg zu den Grundlagen der eigenen Disziplin sucht, sollte über ihre Vorgehensweise Rechenschaft ablegen können. Das Stichwort „universelle Rechtswissenschaft“ dürfte die leitenden Maximen der eigenen Vorgehensweise am treffendsten zusammenfassen.

A. Das Projekt einer universellen Rechtswissenschaft I. Grund und Entscheidung, Recht und Macht 1. Die Rechtswissenschaft als Rechtsdogmatik hat nach der noch herrschenden Perspektive das im eigenen Land geltende Recht zum Gegenstand.36 Sie ist deshalb eine Tätigkeit, die sich innerhalb des Rahmens einer bestimmten nationalen Rechtsordnung entfaltet. In Überschriften zu deutschen Lehrbüchern wird das immer seltener gesagt – zu den letzten prominenten Beispielen gehörten die Lehrbücher Gerlands, Belings und von Hippels37 – was aber nicht nötig er36 Dieselbe Feststellung bei Hirsch, FS Spendel, S. 43; ders. ZStW 116 (2004), S. 840; Jung, Einführung, S. 1; Coing, NJW 1990, S. 937; Perron, ZStW 109 (1997), S. 283: „nationale Fixierung des Rechts“; Kühl, ZStW 109 (1997), S. 780, 787; siehe bereits Binding, GrünhutsZ 2 (1875), S. 663 f. 37 Gerland, Der deutsche Strafprozeß, 1927; Beling, Deutsches Reichstrafprozeßrecht, 1928; v. Hippel, Der deutsche Strafprozeß, 1941. Heutzutage soweit ersichtlich nur Krey, Deutsches Strafverfahrensrecht, 2 Bände, 2006/2007. Auch im materiellen

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1. Teil: Strafprozesstheorie

scheint, denn darin werden fast ausschließlich nationale Vorschriften und Gerichtsentscheidungen berücksichtigt und so gut wie nur von Landesgenossen geschriebene Literatur zitiert.38 Zwar finden im Soge der Europäisierung des Rechts Vorschriften und Entscheidungen übernationaler Instanzen, wie des Europarats oder des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Europäischen Gerichtshofs, in den letzten Jahrzehnten vermehrt Berücksichtigung. Dies ist indes nur als Erweiterung, nicht als Überwindung des herrschenden nationalbezogenen Paradigmas anzusehen: Erweitert wird nämlich der Begriff des geltenden Rechts bzw. der eigenen Rechtsordnung. Grundsätzlich werden Vorschriften und Entscheidungen anderer Rechtsordnungen ebenso wie literarische Äußerungen ausländischer Gelehrter nicht mehr als Rechtsdogmatik, sondern als Rechtsvergleichung eingestuft. 2. Die vorliegende Arbeit lebt von der Überzeugung, dass es an der Zeit ist, das herrschende nationalbezogene Paradigma zu überwinden. Denn seine Unzulänglichkeiten lassen sich nicht mehr übersehen. a) aa) Einige Autoren, die sich für die Erweiterung des Blicks über die herkömmlichen Grenzen hinaus einsetzen, betonen, dass heutzutage bereits das alltägliche Leben diese Grenzen hinter sich gelassen hat.39 Europa sei in allen Bereichen des innerstaatlichen Rechts präsent, und die Europäisierung des Rechts und auch des Strafrechts sei wohl nur ein erster Schritt in Richtung einer Verrechtlichung eines Teils der allmählich immer intensiver gepflegten grenzüberschreitenden Beziehungen in einer globalisierten Welt. Angesichts einer solchen Lage dürfe sich die national ausgerichtete Rechtswissenschaft nicht die Gelegenheit entgehen lassen, diese noch nicht abgeschlossene Entwicklung zu beeinflussen. Diese Aufgabe erfordere aber Erkenntnisse, die über die Beherrschung des eigenen nationalen Rechts wesentlich hinausgehen. „Die Strafrechtswissenschaft sollte sich als ein Faktor präsentieren, auf dessen Rat man bei den europäischen Rechtssetzungsinstanzen nicht verzichten kann“.40 „Diese Chance gilt es zu nutzen“.41

Strafrecht lässt sich eine ähnliche Tendenz feststellen (das letzte prominente Lehrbuch mit einer derartigen Überschrift war Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969), ebenso in den gegenwärtigen Prozessrechtslehrbüchern des Auslands (z. B. Frankreichs, Spaniens und Italiens). Dieselbe Feststellung bei Marxen, Unrecht, S. 222. 38 In Deutschland werden regelmäßig nicht einmal in Österreich oder in der Schweiz publizierte, häufig sogar von deutschen Professoren stammende Aufsätze und Bücher wahrgenommen. 39 Aus strafrechtlicher Perspektive bereits Jescheck, Strafrechtsvergleichung, S. 26 f.; heute Kühl, ZStW 109 (1997), S. 789 f.; Perron, ZStW 109 (1997), S. 281; Eser, FS Kaiser, S. 1505 f.; Lagodny, ZStW 113 (2001), S. 821, 826; Vogel, GA 2002, S. 518, 519 ff.; Tiedemann, FS Lenckner, S. 413; Perron, FS Nishihara, S. 145; aus allgemeiner rechtsvergleichender Perspektive Junker, JZ 1994, S. 921; Grossfeld, Rechtsvergleichung, S. 11. 40 Kühl, ZStW 109 (1997), S. 789 (Zitat).

1. Kap.: Vorüberlegungen zur Methode

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bb) Wenn dies der einzige Grund wäre, auch dasjenige, was jenseits der nationalen Grenzen geschaffen wird, zur Kenntnis zu nehmen, wäre man noch lange nicht bei einer universellen Rechtswissenschaft. (1) Erstens ist diese Entwicklung, so wichtig und unumgänglich wie sie auch ist, eine kontingente Tatsache. Weil sich aus bloßen Tatsachen bekanntlich kein Sollen ergibt, gestatten die oben genannten Umstände für sich genommen auch die entgegensetzte normative Schlussfolgerung: So könnte man etwa meinen, gerade wegen der Europäisierung und Globalisierung sollte man sich vermehrt mit dem nationalen Recht befassen, damit man dessen nicht mittelfristig verlustig ginge. (2) Ferner muss das Bild des Wissenschaftlers als Politikberater, das diesen Stellungnahmen innewohnt, kritisch hinterfragt werden. Es ist ein gleichzeitiger Ausdruck von Selbstüber- wie -unterschätzung. Selbstüberschätzung, weil es davon ausgeht, die Politik sei von der Wissenschaft abhängig, so als hätte der Wissenschaftler gewisse Schätze im Besitz, auf die der Politiker für seinen Erfolg angewiesen wäre. Dies mag zwar für den Atomphysiker stimmen, der den Politiker mit Atombomben versorgen kann. Wenn es dagegen um den Juristen geht, dürfte diese Beurteilung wohl naiv erscheinen: Denn während sich der Politiker beim Atomphysiker genau dasjenige holt, was er bei Letzterem bestellt, können wir Juristen dasjenige, was die Politik von uns will, nicht wirklich liefern. Unsere Leistungen qua Juristen bewegen sich auf einer anderen Ebene. Der Jurist kann weder Bomben noch Macht liefern, sondern bloß seine Sorgen um Rechte und um die Einhaltung gewisser Regeln unterbreiten. Dies wird vom Politiker eher als Lästigkeit empfunden; nicht aus diesem Grunde wird er sich dem Juristen zuwenden. Die eigentliche Leistung, die sich die Politik von der Rechtswissenschaft erhofft, liegt auf einer anderen Ebene, nämlich auf der der Vermittlung von Ansehen und sozialer Anerkennung. Die Politik erhofft sich von der Jurisprudenz Unterstützung bei der Darstellung ihres Vorhabens als eines legitimen.42 Die eigentlichen Entscheidungen hat sie häufig längst getroffen; der Jurist soll diese Entscheidungen jetzt nur als rechtens adeln und damit helfen, sie auf dem großen Markt der Öffentlichkeit zu verkaufen. Gerade hier offenbaren sich größte Gefahren für eine unabhängige Wissenschaft. Allzu leicht kann sie sich von der Macht, die auch über die Vergabe von Forschungsstipendien und Projektfinanzierungen mitentscheidet, verführen lassen. Ab diesem Zeitpunkt wird bereits die Bezeichnung Wissenschaft fragwürdig, denn es droht die Gefahr, dass man zum Lieferanten von politikfügiger Ideologie wird. b) aa) Man kommt dem entscheidenden Gesichtspunkt etwas näher, wenn man über die Vorgehensweise und das Selbstverständnis vieler Rechtsgelehrter nach41

Eser, FS Kaiser, S. 1506. Ebenso Hilgendorf, PekULJ 1 (2013), S. 186; eindrucksvoll das von Vogel, Strafrechtsvergleichung, S. 207 ff., 210 erwähnte Beispiel des Corpus Juris. 42

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1. Teil: Strafprozesstheorie

denkt.43 Viele Rechtswissenschaftler interessieren sich für Gedanken allein wegen ihres Gehalts, zunächst unabhängig davon, ob sie innerhalb der eigenen Landesgrenzen formuliert worden sind. Sie nehmen an internationalen Tagungen teil und verbringen Monate, eventuell Jahre als Gäste ausländischer Institutionen. Sie publizieren im Ausland und übersetzen Texte aus dem Ausland. Und dies alles tun sie nicht nur aus ästhetisierender Neugierde, also aus Lust auf Neues oder Interessantes, und auch nicht nur wegen des Vergnügens am Reisen, sondern auch aus der Überzeugung, Fortschritte zu machen und der Erkenntnis in gewisser Hinsicht näher zu kommen. bb) Dies ist insoweit auch nur eine kontingente Tatsache. Es bleibt dennoch fraglich, ob sich hinter dieser Tatsache nicht ein tieferer Sinn verbirgt, ob sie sich nicht ihrerseits als Manifestation einer wichtigen Einsicht deuten lässt. Das ist der Fall: Im Grunde beruht sowohl die soeben beschriebene Einstellung als auch der herrschende nationalbezogene Ansatz, auf einem impliziten Verständnis dessen, was das Wesen des Rechts ausmacht. Die Nuancen der schwierigen modernen Debatte über den Rechtsbegriff beiseite legend,44 interessiert hier nur der Befund, dass die nationalbezogene Rechtswissenschaft darauf beruht, dass das Recht in seinem Wesen als Entscheidung begriffen wird. Die Rechtswissenschaft ist die Wissenschaft der Entscheidungen des Gesetzgebers und Gerichte, und die Quelle der Normativität dieser Entscheidungen – also das, was allgemein zur Befolgung dieser Entscheidung verpflichtet – beruht nicht auf dem Inhalt des Entschiedenen, sondern auf der Autorität des Entscheiders. Man könnte den bekannten Satz von Hobbes erweitern: Sed Auctoritas, non Veritas facit Ius.45 Von hier aus ist die Beschränkung des Gegenstands der Rechtswissenschaft auf die nationale Rechtsordnung nur konsequent: Auch gleichlautende Entscheidungen anderer Rechtsordnungen sind an sich unterschiedlich, denn sie beruhen auf unterschiedlichen Autoritäten. Die Quelle ihrer Normativität ist eine andere. Dieses Bild vom Recht ist indes schwer hinnehmbar. Wird Recht mit der Entscheidung einer Autorität identifiziert, dann ist nicht mehr ersichtlich, wie sich Recht und Macht voneinander unterscheiden sollen. Denn das Recht fängt erst dort an, wo der Hinweis darauf, die Autorität habe etwas entschieden, nicht mehr genügt, also dort, wo Entscheidungen auch begründet werden. „The act of giving a reason is the antithesis of authority“.46 Unbegründetes Entscheiden ist das, was man allgemein als Willkür versteht, und Willkür ist genau das Gegenteil dessen, was man als Recht bezeichnet. Deshalb werden Gesetze nicht nur beschlossen, 43 Ähnlich Roxin, Strafrechtswissenschaft, S. 380; Hirsch, FS Spendel, S. 54; ders. ZStW 116 (2004), S. 841; ders. Universale Strafrechtswissenschaft, S. 94; Kühl, ZStW 109 (1997), S. 791: „Neugier, mehr wissen zu wollen als bisher bekannt“. 44 Zu dieser Diskussion m.w. Nachw. etwa Alexy, Begriff, S. 27 ff. 45 Hobbes, Leviathan, Caput 26 (S. 133). Der ursprüngliche Satz spricht nicht von Ius, sondern von Legem. 46 Schauer, StLR 47 (1995), S. 636.

1. Kap.: Vorüberlegungen zur Methode

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sondern auch mit einer amtlichen Begründung versehen, deshalb enthalten Gerichtsentscheidungen mehr als nur Leitsätze. Auch dort, wo sich das Recht unbestreitbar in seiner Autoritäts- und Machtdimension äußert, versucht es mehr zu sein als nackte, willkürliche Macht.47 Das Recht kann man also unbefangen und minimalistisch als etwas bestimmen, was in einem Gegensatz zum Begriff der Willkür steht. Die differentia specifica, die Recht und Willkür als Töchter der Macht unterscheidet, ist der Anspruch, Macht auf Gründe stützen zu können, berechtigte, begründete Macht auszuüben. cc) Die Frage nach dem Verhältnis von Grund und Entscheidung, von ratio und voluntas, dürfte eines der Grundthemen der Rechtsphilosophie sein.48 Auf der einen Seite stehen diejenigen, die für die Priorität der Entscheidung vor dem Grund eintreten (Voluntaristen), auf der anderen diejenigen, die den Grund für das Primäre gegenüber der Entscheidung halten (Rationalisten). Selbstverständlich können beiläufige Überlegungen im Rahmen einer zur Verdeutlichung der eigenen Methode geschriebenen Einleitung diesem ewigen Streit kaum gerecht werden. Dennoch sei zumindest das zentrale Argument für das hier vorausgesetzte rationalistische Verständnis knapp skizziert: Eine Entscheidung ist und bleibt eine schlichte Tatsache, die als solche keine normative Relevanz hat. Dass sich jemand in einem bestimmten Sinne entschieden hat, ist bis auf Weiteres sein Problem und geht mich nichts an. Die nackte Tatsache, dass jemand etwas will, schafft kein Recht; ob der, der etwas will, die Macht hat, seinen Willen durchzusetzen, ist ebenfalls irrelevant.49 Erst wenn ich einen Grund habe, den Inhalt des Entschiedenen oder die Autorität des Entscheiders zu beachten, ist die Brücke zum Normativen geschlagen worden. Entscheidungen sind also auf Gründe angewiesen, um auf die Ebene des Normativen zu gelangen. Das bedeutet, dass Gründe gegenüber Entscheidungen prioritär sind. 3. Dies eröffnet gleichzeitig den Weg, das herkömmliche nationalbezogene Paradigma zu überwinden. Wenn Gründe und nicht Entscheidungen den Kern dessen ausmachen, was wir Recht nennen, dann ist die normative Quelle dieser Entscheidungen nicht die 47 Vgl. auch Welzel, Wahrheit, S. 7; ders. Naturrecht, S. 248: „Keine wirkliche politische Ordnung hat sich selbst als bloßes Machtverhältnis offeriert“; Alexy, Begriff, S. 64 (sog. „Richtigkeitsargument“). 48 Hierzu das klassische geschichtsphilosophische Werk von Welzel, Naturrecht, etwa S. 23, 74, 89 und passim. 49 Sogar Positivisten müssen dieser Intuition dadurch Rechnung tragen, dass regelmäßig ein Mittler postuliert wird, so dass das Recht nicht schon aus der bloßen Faktizität der Macht enstehen muss (bei Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Aufl. S. 62 ff. die Grundnorm, bei Hart, Concept of Law, S. 100 ff. die rule of recognition). Freilich erheben sie nicht den Anspruch, aus dem begrifflichen Konstrukt die Legitimität des Rechts abzuleiten.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

hinter ihnen stehende Autorität, sondern der Grund, der diese Entscheidung oder zumindest den Entscheider stützt. Gründe sind Erwägungen, die für oder gegen etwas sprechen.50 Ein Grund besteht immer aus einer Reihe von Voraussetzungen, deren Zusammentreffen das ureigene normative Phänomen des „Dafür- bzw. Dagegen-Sprechens“ auslöst – man nennt dieses Phänomen das normative Gewicht eines Grundes.51 Weil die Angabe eines Grundes nichts anderes bedeutet, als dass bei Gegebensein seiner Voraussetzungen das ihm zugesprochene normative Gewicht entfaltet wird, ist jedem Grund ein Universalitätsanspruch eigen.52 Ein auf Gründen basiertes Verständnis des Rechts sieht es deshalb nicht ein, wieso nur die vom eigenen nationalen Gesetzgeber angegebenen Gründe normatives Gewicht haben sollen, nicht dagegen die Gründe, die an einem anderen Ort angeführt werden. Denn ein Grund hat sein normatives Gewicht zunächst unabhängig davon, ob irgendeine Autorität ihn anerkennt. Deshalb können Gründe über nationale Grenzen hinweg ausgetauscht werden: Die Währung der Gründe, der rationum, kursiert überall dort, wo es Vernünftige, d.h. Wesen, die gegenüber Gründen empfindlich sind, also rationale Wesen gibt. 4. Eine Wissenschaft des Rechts, das qua Recht in erster Linie nicht aus Entscheidungen, sondern aus Gründen besteht, die qua Gründe einen Universalitätsanspruch erheben, kann sich nicht auf eine nationalbezogene Perspektive begrenzen, sondern ist notwendigerweise eine universelle Rechtswissenschaft. Diesen auf der Universalität von Gründen beruhenden Befund könnte man noch durch folgende Erwägungen bestätigen: a) Die universelle Ausrichtung ist ein Kennzeichen dessen, was eine Wissenschaft überhaupt ausmacht. Denn zum unbestreitbaren Kern dessen, was man als Wissenschaft bezeichnet, gehört die institutionalisierte Suche nach Wissen oder Erkenntnis.53 Erkenntnis ist eine wahre und begründete Meinung.54 Ob es Wahr50 Raz, Practical Reasons and Norms, S. 186 f.; Scanlon, What we Owe, S. 17; O’Day, Ethical Theory and Moral Practice 1 (1998), S. 71; Dancy, Ethics without Principles, S. 29: „contributory reasons“ als solche, die für etwas sprechen („favoring“); Broome, Reasons, S. 36 ff. (mit seinem Begriff eines „pro tanto reason“, den er von „perfect reasons“ unterscheidet). Eher blass die Definition von Schauer, StLR 47 (1995), S. 636: Grund sei alles, was dem Wort „weil“ folgt. 51 Als Jurist hat man sich daran gewöhnt, Rechtsnormen als Verknüpfungen von Tatbestand und Rechtsfolge zu analysieren (aus rechtstheoretischer Sicht Rüthers/Fischer/ Birk, Rechtstheorie § 4 Rn. 120 ff.; aus strafrechtlicher Sicht Krahl, Tatbestand, S. 50 ff., 86 ff.). Dieses analytische Modell dürfte auch zur Erfassung der Struktur von Gründen angemessen sein. Ein Grund besteht aus einer Reihe von Voraussetzungen oder Merkmalen, unter die konkrete Phänomene subsumiert werden können, und er entfaltet beim Vorliegen dieser Voraussetzungen sein spezifisches normatives Gewicht. 52 Alexy, Argumentation, S. 237; Neumann, Argumentationslehre, S. 104; Habermas, Diskursethik, S. 96 ff.; im Erg. zust. O’Day, Ethical Theory and Moral Practice 1 (1998), S. 80. 53 Von einem ähnlichen minimalistischen Verständnis geht auch das Verfassungsrecht aus, das Wissenschaft als „ernsthafte[n] planmäßige[n] Versuch zur Ermittlung der

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heit jenseits der Begründetheit gibt – also ob es begründete, aber unwahre, und unbegründete, aber wahre Meinungen geben kann – ist eigentlich eine ontologische Frage. Nimmt man die Perspektive des common-sense ein, dann fällt die Antwort entschieden bejahend, also im Sinne eines Realismus aus. Dennoch hat man keinen direkten Zugang zur Wahrheit; sie erschließt sich erst über Gründe, und darum geht es im Alltagsbetrieb der Wissenschaft, die sich um Wissen oder Erkenntnis bemüht, niemals direkt um die Wahrheit, sondern in erster Linie um einen Austausch von Gründen. b) Ferner sind wissenschaftliche und insbesondere rechtswissenschaftliche Diskussionen ohne die Annahme der Universalität von Gründen kaum denkbar. Denn wissenschaftliche Debatten bestehen zu einem Großteil daraus, dass geprüft wird, ob bestimmte Gründe richtig erfasst werden. Als negativer Test, quasi als „Widerlegung“ oder „reductio ad absurdum“, fragt man, ob der angebliche Grund in seinen Voraussetzungen nicht auch „unpassende“ Situationen miteinbezieht, also ob sich das normative Gewicht55 des Grundes auch dort entfaltet, wo dies nicht hätte sein dürfen. Man testet somit Gründe gerade anhand von Fällen und Variationen, die in bestimmten Merkmalen anders gestaltet sind, als diejenigen, an denen diese Gründe ursprünglich entwickelt worden sind. Man nimmt hierzu also sog. Fallvergleiche vor.56 So kann man gegen die Theorie, die besagt, Prävention sei ein hinreichender Grund für die Zufügung einer Strafe, anführen, dass man demnach auch einen hinreichenden Grund hätte, in bestimmten Situationen einen Unschuldigen zu bestrafen.57 Als positiver Test, also quasi als „Beleg“ oder „Bestätigung“ dient der Verweis auf weitere Instanzen, in denen die vom Grund benannten Voraussetzungen gegeben sind und in denen sich auch das vom Grund beanspruchte normative Gewicht ergibt. So kann man sagen, die Würdeverletzung ist ein ausreichender und zwingender Grund, nicht zu foltern, und darauf verweisen, dass immer dann, wenn man eine Würdeverletzung bejaht – etwa bei der Sklaverei oder beim Genozid –, man einen ausreichenden und zwingenden Grund hat, das einschlägige würdeverletzende Verhalten nicht vorzunehmen. Gründe ermöglichen gerade deshalb eine rationale Diskussion, weil sie nicht nur ad hoc und einzelfallbezogen funktionieren, sondern immer den Anspruch erheben, dass eine von ihnen benannte Gruppe von Voraussetzungen stets ein bestimmtes normatives Gewicht hat.

Wahrheit“ definiert (BVerfGE 35, 79 [113]); ausf. zur philosophischen Diskussion Pulte, Wissenschaft, S. 901 ff. 54 So die Standarddefinition der Erkenntnistheorie, vgl. mit ausf. Diskussion Audi, Epistemology, S. 214 ff. 55 Zu diesem Begriff vgl. o. Fn. 51. 56 Siehe hierzu Larenz, Methodenlehre, S. 292 f.; Art. Kaufmann, Rechtsgewinnung, S. 25. 57 Zu dieser Diskussion näher Greco, Lebendiges, S. 244 ff. m. Nachw. Für ein anderes Beispiel vgl. Engisch, Wahrheit und Richtigkeit, S. 21 f.

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c) Das bedeutet aber nicht, dass jede rechtliche Regelung schon im Voraus durch Gründe determiniert ist, oder dass für jede einzelne Frage nur eine Antwort unabhängig von Zeit und Ort als begründet angesehen werden kann. Dies wäre eine Karikatur der rationalistischen Position. Aus der Universalität von Gründen muss nicht die Einheitlichkeit der Ergebnisse folgen.58 Noch weniger als ein einheitliches europäisches Strafrecht, dem bereits heute die überwiegende Meinung Skepsis entgegen bringt,59 wäre zu befürchten, dass aus einer universellen Strafrechtswissenschaft ein einheitliches universelles Strafrecht entstehen könnte. Gründe operieren in komplexer Form, und viele von ihnen enthalten – aus bestimmten weiteren Gründen – ausfüllungsbedürftige Blankette.60 aa) Gelegentlich verweisen Gründe nämlich auf empirische Gegebenheiten. An gewissen Orten und Zeiten sind diese Gegebenheiten vorhanden, so dass sich das normative Gewicht des Grundes bemerkbar macht, an anderen nicht. Als Beispiel nehme man die von angelsächsischen Kriminologen geprägte Kategorie der sekundären Viktimisierung: Das Verfahren sei eine erneute Zumutung für das in die Rolle des Belastungszeugen gedrängte Opfer, das bereits durch die Straftat genug leiden musste.61 In Deutschland wurde dieses Argument, man müsse den Opfern „quälende Mehrfachvernehmungen ersparen“,62 in mehreren Zusammenhängen rezipiert.63 Der Gesetzgeber ließ sich dazu überzeugen, etwa in dem neuen § 255a Abs. 2 die bis dahin gebotene Vernehmung des Opferzeugen in der Hauptverhandlung durch die Vorführung einer Videoaufzeichnung einer früheren richterlichen Vernehmung zu ersetzen.64 Und unter den Verteidigern von Prozess58 Im Erg. auch Roxin, Strafrechtswissenschaft, S. 379 ff.; Delmas-Marty, Internationalisation, S. 33: „internationalisation pluraliste“; Junker, JZ 1994, S. 924, 926; nur teilw. übereinstimmend Hirsch, Universale Strafrechtswissenschaft, S. 95: Erst ab dem Besonderen Teil des materiellen Strafrechts soll für nationale Unterschiede Raum sein. 59 Vgl. Jescheck, Strafrechtsvergleichung, S. 34; Weigend, ZStW 105 (1993), S. 790 ff.; ders. FS Sootak, S. 250 ff.; Kühl, ZStW 109 (1997), S. 797; Rosenau, ZIS 2008, S. 18; Stuckenberg, EnzEuR Bd. 9 § 10 Rn. 69 („blinde Uniformitätseuphorie“); and. Sieber JZ 1997, S. 369 ff.; ders. GS Schlüchter, S. 110 ff.; Perron, ZStW 109 (1997), S. 296 f.; ders. FS Nishihara, S. 145; Rotsch, GS Eckert, S. 712 ff. 60 Ein analoges Problem (Verhältnis des einfachen Rechts zum Verfassungsrecht) löst Alexy, VVDStRL 61 (2002), S. 13 ff. durch die von ihm sog. „Dogmatik der Spielräume“. Ob es ein „Recht der Staaten auf Andersheit“ gibt (Delmas-Marty, Internationalisation, S. 35: „droit à la différence pour les états“), das über die soeben beschriebenen Grenzen hinausgeht, erscheint mir wenigstens für den empfindlichen Bereich des materiellen und prozessualen Strafrechts äußerst fragwürdig. 61 Näher m.w. Nachw. Kiefl/Lamnek, Soziologie des Opfers, m.w. Nachw. S. 239 ff.; Eisenberg, Kriminologie, § 53 Rn. 14 ff. 62 So das sog. Eckpunktepapier zur Reform des Strafverfahrens, StV 2001, S. 315. Ein zentraler Gedanke des Reformvorhabens war die Transferierbarkeit der Zeugenvernehmungen des Ermittlungsverfahrens in die Hauptverhandlung, um somit den Zeugen zu schonen (ebda., S. 315 f., Nr. 2, Nr. 7), zu Recht krit. Salditt, StV 2001, S. 312. 63 Näher Kölbel/Bork, Sekundäre Viktimisierung, S. 13 ff., 110 ff. 64 Überzeugende Kritik bei Schünemann, StV 1998, S. 399 f.; Kölbel/Bork, Sekundäre Viktimisierung, S. 112.

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absprachen wird auch angeführt, dass die durch eine Absprache ermöglichte Verkürzung der Beweisaufnahme dem Opfer die Belastungen des Verfahrens erspare.65 Problematisch an der Importierung des Arguments ist aber, dass die im angloamerikanischen Raum festgestellte sekundäre Viktimisierung zum großen Teil auf einer nur dort und nicht in Deutschland vorhandenen empirischen Gegebenheit beruht, nämlich auf der Tatsache, dass Zeugen nicht von einem unabhängigen und meistens fürsorglichen Vorsitzenden Richter, sondern vom feindselig gesinnten Verteidiger der Gegenpartei vernommen werden (Kreuzverhör).66 Der Opferzeuge wird unter solchen Regeln genötigt, sich vor seinem (vermeintlichen) Peiniger zu rechtfertigen, er wird zur Rede gestellt vom Vertreter gerade desjenigen, der ihm (mutmaßlich) Böses angetan hat und sich jetzt auf sein Schweigerecht berufen darf, was eine offensichtliche Umkehrung der moralisch gebotenen Verhältnisse darstellt. Der Grund „Vermeidung von sekundärer Viktimisierung“ hat deshalb im angelsächsischen Raum ein ungemein höheres Gewicht als in Deutschland.67 bb) Manchmal fällt die Beurteilung, ob einer der an sich vom Grund vorgesehenen Umstände gegeben ist, schwer; es ergibt sich ein epistemisches bzw. ein Erkenntnisproblem, also Situationen der Ungewissheit, weil man nicht weiß, ob der Grund vorliegt. Für solche Situationen müssen weitere Gründe formuliert werden, die die Ungewissheit zu ihren Voraussetzungen rechnen: Deshalb kann es sein, dass Gründe Platz für Prognosen, Verdachtsurteile und Beurteilungsspielräume vorsehen.68 Das Strafverfahrensrecht ist zum großen Teil ein System solcher Gründe; die Strafe ist nur beim Vorliegen von Schuld legitim, nicht immer weiß man, ob Schuld wirklich vorliegt, deshalb gestaltet man Voraussetzungen, 65 Vor allem BGH GrS 50, 40 (55); aus der Lit. etwa Kilching, NStZ 2002, S. 58; Hauer, Geständnis, S. 92; Rosenau, FS Puppe, S. 1625; s. a. Weigend, Deliktsopfer, S. 386, der eine salvatorische Bemerkung macht, dass die „meisten Berichte aus dem anglo-amerikanischen Bereich (stammen), in dem die materiellrechtliche ebenso wie die prozessuale Situation für das Opfer von Sexualdelikten in mancherlei Hinsicht ungünstiger ist“ (Fn. 386); u. Dencker, ZStW 102 (1990), S. 61, der nur das Geständnis, das einem Opfer einer Tat nach § 176 StGB die behaupteten „erheblichen Beeinträchtigungen“ einer streitigen Hauptverhandlung erspart, mit einer unter das „Verhalten nach der Tat“ i. S. des § 46 Abs. 2 StGB zu subsumierenden Strafmilderung honorieren möchte. Weßlau, KJ 1993, S. 467 ff. lehnt Tendenzen ab, opferschonendes Prozessverhalten des Beschuldigten durch Strafmilderungen zu honorieren, aber nicht aus materiellen, sondern aus positivrechtlichen Gründen. 66 Ausf. hierzu Ellison, Vulnerable Witness, S. 87 ff. Die von Kölbel/Bork, Sekundäre Viktimisierung, S. 62 ff., 64 ff., 115 ff. zusammenfassende Auswertung aller bisherigen deutschen Untersuchungen belegt, wie wenig zuverlässig solche Effekte hierzulande festgestellt worden sind. 67 Es lässt sich sogar in Frage stellen, ob man in Bezug auf das deutsche Strafverfahren überhaupt angemessen von „sekundärer Viktimisierung“ sprechen kann (skeptisch Kölbel/Bork, Sekundäre Viktimisierung, S. 113 f.); dies zu klären ist aber hier ohnehin nicht möglich. 68 Nach O’Neil, Theories of Justice, S. 60 f. gilt das für alle Regeln.

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die auf einem Verdacht beruhen. Diese Beurteilungsspielräume sind mal größer, mal kleiner: an dem einen Extrem des Spektrums steht die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, eine Kriminalisierung für präventiv geeignet und erforderlich zu erachten,69 an dem anderen die Überzeugung des Gerichts von der Schuld des Angeklagten (§ 261 StPO), die durch vernünftige Zweifel bereits ausgeschlossen wird;70 dazwischen findet sich der Tatverdacht, sein Hinreichen (§ 170 Abs. 1, § 203 StPO), seine Dringlichkeit (§ 112 Abs. 1 S. 1 StPO) oder überhaupt sein Vorhandensein (§ 160 Abs. 1 StPO). Je größer die Spielräume, desto weiter ist die Menge der untereinander nicht identischen Lösungen, die alle in gleicher Weise als gut begründet vertreten werden dürfen. Im Idealfall gäbe es die eine richtige Lösung, man handelt aber unter nicht idealen Bedingungen, und auch für sie muss man wissen, wie gehandelt werden darf. cc) Es gibt aber Fälle, in denen es nicht um Ungewissheit im gerade erläuterten, epistemischen Sinne geht, sondern um Unbestimmtheit in einem materiellen, man könnte sagen ontologischen Sinne.71 Hier besteht das Problem nicht darin, dass man nicht weiß, was das Richtige ist, sondern bereits darin, dass es die eine richtige Lösung gar nicht gibt. Es dürfte sogar auf der Universalität von Gründen beruhen, dass es mehrere Einzeltatsachen gleichzeitig geben kann, die die Umstände aufweisen, die vom Grund benannt werden (Beispiel aus dem materiellen Strafrecht: eine rechtfertigende Pflichtenkollision, zwei Opfer drohen zu ertrinken, der Täter hat nur ein Rettungsseil). In einigen dieser Fälle wird es Metagründe geben, die angeben, welche Vorgehensweise dann begründet ist (die stärkste Pflicht geht vor72 – ein Opfer ist Kind des Täters, das andere ihm völlig fremd), in anderen gibt es Raum für eine Entscheidung (bei gleich starken Pflichten darf der Täter entscheiden, welche er erfüllt;73 beide Opfer sind Kinder des Täters). Ein klares Beispiel aus dem Strafverfahrensrecht ist die Bestimmung der Anzahl der Mitglieder eines Geschworenengerichts. Ob sechs, sieben oder zwölf Geschworene erforderlich sind, lässt sich auf Grundlage der für die Institution der Jury tragenden Gedanken74 kaum mit Genauigkeit sagen. Eine Entscheidung ist hier unumgänglich; sie bedeutet aber keine Willkür, solange sie sich innerhalb des von Gründen gesteckten Rahmens bewegt. Ein weniger klares Beispiel, das aber wohl noch in diesen Zusammenhang gehört, ist die früher viel diskutierte Frage, ob es einen Eröffnungsbeschluss geben sollte oder ob nicht die Anklage-

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Etwa BVerfGE 90, 145, 173 – Cannabis; 120, 224 (240) – Inzest. Näher zu diesem nicht unumstrittenen Begriff Velten, SK-StPO § 261 Rn. 6 ff. 71 Man müsste sich nur von der Vorstellung verabschieden, dass Gründe nicht zu der Welt gehören (s. Larmore, Autonomy of Morality, S. 51 ff.). Welt muss nicht notwendig dasjenige sein, was die Natur- oder Sozialwissenschaften zu bemessen vermögen. 72 Statt aller Roxin, AT I § 16 Rn. 122. 73 Wieder Roxin, AT I § 16 Rn. 118. 74 Zu ihnen u. S. 52 f. 70

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behörde durch die Anklageerhebung unmittelbar die Durchführung einer Hauptverhandlung erzwingen können sollte.75 Dasjenige, was die über die empirischen Wissenschaften reflektierende Wissenschaftstheorie unter dem Stichwort der „Underdetermination“ bzw. Unterdeminiertheit kennt, kann also in den normativen Wissenschaften wie dem Recht ebenfalls auftreten. Mit diesem Begriff bezeichnet die Wissenschaftstheorie die Möglichkeit, die logisch immer und faktisch nicht selten besteht, dass unterschiedliche in sich schlüssige Theorien alle unsere Erfahrungen zu erklären vermögen.76 Dieses und auch das umgekehrte Phänomen, dass eine einzige Theorie logisch widersprechende Erfahrungen zu erklären vermag, lassen sich auch im Recht nicht von vornherein ausschließen. Hier würde man nicht von Phänomenen, sondern von Intuitionen oder Rechtsansichten sprechen; aber in der Sache kann man sich auch hier nicht immer sicher sein, dass die Gründe, die man anbietet, die einzigen sind, auf die sich die für richtig erachteten Ergebnisse zurückführen lassen. Ebenso wenig entspricht umgekehrt der Anerkennung eines Grundes immer und automatisch das Eintreten eines bestimmten Ergebnisses.77 Als Beispiel betrachte man nur, wie unterschiedlich die Regelungen der Öffentlichkeit und ihres Ausschlusses in verschiedenen Ländern ausfallen, die alle – wenigstens auf den ersten Blick – in gleicher Weise sowohl von der Bedeutung der Öffentlichkeit als auch von der Bedeutung der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen überzeugt sind.78 Das heißt aber nicht, dass man angesichts dieser Möglichkeiten von vornherein die Waffen strecken sollte. Es kann immer sein, dass hinter den verschiedenen Lösungen auch unterschiedliche Gründe stehen, bessere und schlechtere. Insbesondere bei der ersten Form der Unterdeterminiertheit – viele Theorien, gleiche Erfahrung – darf man nur kämpfend untergehen, also nicht zu 75 Für Abschaffung etwa v. Stemann, GA 8 (1860), S. 46 f.; Stenglein, GS 62 (1903), S. 273 ff.; Goldschmidt, JW 1920, S. 234; ders. DJZ 1928, Sp. 1140 f.; dann die Vertreter der sog. „Strafprozesserneuerung“, s. nur Hegler, Zur Strafprozeßerneuerung, S. 43 m. ausf. N. Fn. 103; in der Nachkriegszeit Schönke, SchwZStR 62 (1947), S. 89 f. und insb. Eb. Schmidt, DRiZ 1959, S. 19; ders. NJW 1963, S. 1084 ff.; ders. MDR 1967, S. 883. Für Beibehaltung Oetker, GS 99 (1930), S. 253 ff.; ders. JW 1930, S. 1839; Nagler, GS 111 (1938), S. 347 ff., 351 f., der zu Recht die Frage als eine solche der Zweckmäßigkeit einstuft; Fezer, GS Schröder, S. 421. Zwischenlösungen etwa bei Glaser, GS 19 (1867), S. 244; ders. Reform, S. 158: Eröffnungsbeschluss nur auf Antrag (Einspruch) des Angeschuldigten; eine Lösung, die auch die des österreichischen Rechts ist (§ 213 Abs. 4 östStPO); Roxin, Reform der Hauptverhandlung, S. 61 will den Beschluss auf einen anderen Richter übertragen als den, der im weiteren Verfahren tätig sein wird. 76 Etwa A. Rosenberg, Philosophy of Science, S. 129 f.; Ladyman, Philosophy of Science, S. 162 ff. 77 Eindrucksvoll Gordley, The Universalist Heritage, insb. S. 43 f., am Beispiel des in Deutschland, Amerika und Frankreich stark differierenden Schutzes der Pressefreiheit. 78 Vgl. m. v. w. N. auch zu übernationalen Rechtsquellen Guinchard u. a., Droit processuel, Rn. 409 ff.

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früh die Frage der Entscheidung preisgeben, sondern sich zuerst bemühen, die eine Theorie zu formulieren, die sich möglichst gut mit den richtigen Ergebnissen verträgt. Denn allein so ergibt sich eine relative Gewähr dafür, dass die Theorie auch den noch nicht gemachten „Erfahrungen“ gerecht werden kann. Die Universalität der Gründe wird also nicht dadurch in Frage gestellt, dass ihre normative Kraft gelegentlich von empirischen Gegebenheiten, durch Ungewissheit bedingte Beurteilungsspielräume oder sogar von Unbestimmtheiten gestatteten Entscheidungen abhängig sein kann. Universalität von Gründen bedeutet also nicht, dass immer und überall die gleichen Ergebnisse erzielt werden. Unterschiede darf es also durchaus geben. Sie sind nicht Ausdruck bloßer Willkür, wenn und weil sie sich ihrerseits auf Gründe stützen lassen – ein weiterer Beleg für die These der Priorität des Grunds vor der Entscheidung. d) Es muss aber offen eingeräumt werden, dass die These an zwei Stellen an ihre Grenzen stößt. aa) Die erste Grenze lässt sich mit dem altehrwürdigen Begriff der Billigkeit, der aequitas kennzeichnen. Diesen „proteusartigen, aalglatt uns entschlüpfenden Begriff “ 79 müssen wir hier nicht näher bestimmen. Innerhalb gewisser Grenzen darf das Recht Großzügigkeit und Milde walten lassen. Trotzdem muss darauf geachtet werden, die Ebene der Billigkeit nicht mit der des strengen Rechts zu verwechseln, und dies auch trotz des Siegeszugs des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips, also eines „großen Gleich- und Weichmachers“ 80 jeder strengen Rechtsdogmatik.81 Einen Schuldigen, der genug gelitten hat, ungestraft zu lassen, mag eine vertretbare Entscheidung der Billigkeit sein;82 die Bestrafung eines Unschuldigen ist nicht nur unbillig, sondern ungerecht, unrecht. Die Billigkeit ist für Gründe nicht völlig unempfindlich, sie ist aber für mehr empfindlich als nur für Universalisierbares. cc) Die für einen rationalistischen Ansatz schlichtweg unüberbrückbare Grenze ist aber die der schlichten Willkür. Es lässt sich nicht ausschließen, dass die Lösung, die letztlich doch gilt, eine ist, für die man keinen guten Grund anführen kann. Das beste Beispiel, das man in diesem Zusammenhang anführen könnte, ist die Institution des Geschworenengerichts. Es ist mir klar, dass diese Behauptung weder mit ungeteilter Zustimmung rechnen kann – insbesondere werden imaginäre amerikanische Leser wohl den Kopf schütteln –, noch dass sie in diesem Zusammenhang angemessen zu begründen ist. Eine ausführliche Begründung erübrigt sich aber, denn kaum ein Thema ist in der Geschichte der 79

Geyer, Entschädigung II, S. 538. Ossenbühl, VVDStRL 39 (1981), S. 189; teilw. wiederholt in ders. FS Lerche, S. 151. 81 Arzt, FS Triffterer, S. 539: Verhältnismäßigkeitsprinzip als „umfassende (auch terminologische) Modernisierung des Billigkeitsargumentes“. 82 Näher u. Teil 2 Kap. 3 D. III. 2., zur sog. poena naturalis. 80

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Strafprozesswissenschaft so tiefsinnig und überzeugend kritisiert worden wie das Geschworenengericht.83 Alle Gründe, die man seit dem 18. Jahrhundert für diese Institution anführen konnte, sind entweder obsolet oder verfehlt.84 Das Argument, die Jury sei deshalb ein Bollwerk der Freiheit, weil allein sie es zu verhindern vermag, dass die mit der Abschaffung der gesetzlichen Beweistheorie einhergehende Zulassung der freien Beweiswürdigung in Richterwillkür entartet,85 verkennt, dass dieser Zweck um einiges besser durch unabhängige Gerichte erreicht werden kann, die verpflichtet sind, ihre Entscheidungen mit Gründen zu versehen. Dass Geschworene für die Wahrheitsfindung viel weniger geeignet sind als Berufsrichter, kann nur dann geleugnet werden, wenn man an die Romantik der „jungfräulichen Seele“ des Laien glaubt.86 Viele der sich auf der staatstheoretischen bzw. politischen Ebene bewegenden Argumente sind ebenfalls dürftig. So sieht man den politischen Vorzug der Jury darin, dass sie den Gedanken der Demokratie, also der Beteiligung des Volkes an der Ausübung von Staatsgewalt verkörpere.87 Von der Vorfrage abgesehen, ob sich das Volk an der Rechtsanwendung überhaupt direkt beteiligen soll, ob es nicht ausreicht, dass sich sein Wille auf der Ebene der Rechtsgebung Gehör verschafft, ist dagegen anzuführen, dass dieses Argument aber von einer vereinfachten Entgegensetzung lebt, als gäbe es zur Jury nur die Alternative der Berufsrichter,88 ohne dass regelmäßig die Möglichkeit gemischter Gerichte, sog. Schöffengerichte, zur Kenntnis genommen wird.89 Die im 19. Jahrhundert im Vordergrund des „Kampfs um die Schwurgerichte“ stehenden Gefahren der politischen Verfolgung von Regierungsgegnern90 oder einer kritischen Presse91 sind ebenfalls durch die Institution der richter83 Ich verweise nur auf Feuerbach, Geschwornen-Gericht, S. 47 ff., 112 ff. und passim; Kohlrausch, DJZ 1920, Sp. 139 ff., der zu Recht auch feststellte, bereits Feuerbach habe alles Wesentliche gesagt; Binding, Drei Grundfragen, S. 30 ff., 82 ff., 93 f.: „So ist das Schwurgericht absolut verwerflich, weil sein Grundgedanke verfehlt und sein Grundgebrechen unheilbar ist“; und aus der heutigen Literatur auf Pizzi, Trials without Truth, S. 200 ff. 84 Ähnl. Kohlrausch, DJZ 1920, Sp. 140. 85 Nachw. bei Schwinge, Kampf, S. 18, 156 und passim, m.w. Nachw. 86 Siehe bereits die Kritik von Feuerbach, Geschwornen-Gericht, S. 117 ff. an diesem von ihm sog. „Wahrheitsinstinct“. 87 Klassisch Tocqueville, Democracy in America, S. 261 ff.; Mittermaier, Mündlichkeit, S. 37; heute Braithwaite/Pettit, Not just deserts, S. 120 Fn. 3; Amar, Constitution, S. 121 f.; Abramson, We, the Jury, S. 179 ff.; Chase, Law, Culture, Ritual, S. 56; zur Rolle der Jury in Amerika und England im 18. Jahrhundert s. Langbein, L&SR 13 (1979), S. 269 f.; s. a. Schwinge, Kampf, S. 45, 157. 88 So aber Dershowitz, Reasonable Doubts, S. 200: „The alternative to the jury is judges“. 89 Im Sinne der Überlegenheit dieser Alternative Langbein, ABFRJ 1981, S. 215 ff.; ders. HJLPP 15 (1992), S. 126; krit. Dubber, SLR 49 (1997), S. 555 ff. (und früher Gneist, Vier Fragen, S. 178 f.). 90 Schwinge, Kampf, S. 132. 91 Schwinge, Kampf, S. 132 f.

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lichen Unabhängigkeit weitgehend gebannt worden. Für die Jury lässt sich heute höchstens das anführen, was man zur Beschneidung von Frauen in Afrika anführen kann, also dass sie eine große Tradition hat, dass sie kulturell verwurzelt ist.92 Sie ist ein „article of faith“,93 die Sprüche eines solchen Körpers sind wenig mehr als die Worte eines Orakels.94 Eine „Mißgeburt“ ist die Jury zwar nicht.95 Sie hat sich nur selbst überlebt. Auch hier sollte sich die Rechtswissenschaft davor hüten, die Waffen viel zu früh zu strecken. Und selbst dort, wo sie sich mit einem Ausdruck von Willkür konfrontiert sieht, den sie nicht auf Gründe zurückführen kann, wird sie sich der undankbaren Aufgabe widmen müssen, Schadensminimierung zu betreiben, eine Wissenschaft des Zweitbesten bzw. eine Plan-B-Wissenschaft zu entwickeln. So lässt sich zum guten Teil das äußerst formalistische angelsächsische Beweisregelrecht deuten: weil man den Geschworenen eine vernünftige Verarbeitung von einer Reihe von Informationen gar nicht zutraut, müssen sie auch durch strenge Beweisregeln gegen diese Informationen abgeschottet werden.96 Auf der anderen Seite bleibt es heilige Pflicht der Wissenschaft vom Recht, Willkür nicht hinter einem irreführenden Schleier von Rationalität und Rechtlichkeit zu verstecken, sondern den Gegenstand ihrer Bemühungen und seinen Antipoden beide beim Namen zu nennen.

92 „It is part of the history of England“ (Humphreys, Criminal Days, S. 157); Fraser, BuffCLR 3 (2000), S. 826; s. a. aus einer z. T. kulturrelativistischen rechtsvergleichenden Perspektive Kunz, Kulturgebundenheit, S. 158 ff. (wenn auch eher zum Schöffengericht als zur Jury). Zu einigen weiteren nicht überzeugenden Argumenten sei noch Folgendes gesagt: Die These, Geschworene seien deshalb geboten, weil sie die Gemeinschaft repräsentieren und die Straftat eine Gemeinschaftsverletzung sei (Amar, Constitution, S. 124), fußt auf einem falschen, kollektivistischen Begriff der Straftat. Die Behauptung, die Jury gehöre zum due process (U.S. Supreme Court, Duncan v. Lousiana, 391 U.S. 145, 1968), ist nur ein im Rahmen zulässiger Auslegung des positiven Rechts gefällter Machtspruch; zum Unterschied zwischen derartigen positivrechtlich zulässigen Auslegungsbemühungen und einer inhaltlich fundierten Begründung u. C. (S. 107 f.). 93 G. Williams, The Proof of Guilt, S. 244. 94 Bereits Feuerbach, Geschwornen-Gericht, S. 33: „ihr Ausspruch gleicht dem Spruche eines Orakels, welcher, sichtbar in seinen Folgen, in seinen Gründen unerforschlich und stets heilig ist“, S. 116; Glaser, Lehre vom Beweis, S. 18; im 20. Jahrhundert G. Williams, The Proof of Guilt, S. 273; Weigend, HJLPP 26 (2003), S. 166 f. Taruffo, Verità, S. 22, 24, 188 zieht eine Parallele zu Gottesurteilen. Man kann natürlich fragen, ob das Fehlen von Begründungen für die Jury eine Notwendigkeit ist – eine Begründungspflicht wurde nicht nur immer wieder le ferenda angefordert (s. etwa Winkler, GS 78 [1914], S. 384 ff.), sondern auch in verschiedenen Rechtsordnungen, die noch eine Jury kennen, verwirklicht (für Spanien s. Jimeno-Bulnes, CJICL 21 [2013], S. 449; s. a. die weiterführenden, aber immer noch ungenügenden Vorschläge von Jackson, AmJCompL 50 [2002], S. 488 ff., 512 ff.). 95 So aber Binding, Drei Grundfragen, S. 126. 96 Dieselbe Deutung Langbein, Adversary Trial, S. 90 f.; Eser, ISLR 31 (1997), S. 437 f.

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II. Einwände Gegen das hier skizzierte Konzept können auf unterschiedlichen Ebenen Einwände formuliert werden. Die Auseinandersetzung mit diesen Einwänden soll deshalb ausführlich sein, weil sie eine Gelegenheit bietet, die zu verteidigende Position zu präzisieren. 1. Die partikularistische Herausforderung a) Auf der fundamentalsten, erkenntnistheoretisch-metaphysischen Ebene stehen die Bedenken sog. „Partikularisten“, die es bestreiten, dass Gründe universell ausgerichtet sein können.97 Die hier vertretene Behauptung der Universalität von Gründen führt uns in die Mitte einer höchst schwierigen philosophischen Diskussion, deren Feinheiten man selbstverständlich im vorliegenden Zusammenhang, nicht zuletzt wegen meiner fehlenden fachlichen Kompetenz, nicht gebührend zur Kenntnis nehmen kann. Für den Vertreter des Partikularismus kann eine Erwägung, die in einem Zusammenhang in eine bestimmte Richtung „zieht“, sich in anderen Zusammenhängen in die genau entgegengesetzte Richtung auswirken. Gründe entfalten ihr normatives Gewicht vielmehr bloß situativ eingeschränkt. „The bold stroke of red that helps balance one painting would be the ruin of another; and there is no way to specify the conditions in which it will help and the conditions in which it will detract“.98 Die Tatsache, dass in einem bestimmten Zusammenhang die Benennung einiger Voraussetzungen ein normatives Gewicht entfaltet, impliziert keineswegs, dass sich dies in allen weiteren Zusammenhängen ebenso ereignen muss. b) Ohne die Nuancen dieser komplizierten Debatte berücksichtigen zu können, soll hier auf zwei Überlegungen hingewiesen werden, die dagegen sprechen, dass man vor der partikularistischen Herausforderung kapituliert. aa) Zunächst könnte man dasjenige wiederholen, was oben zur Bestätigung der Universalität von Gründen gesagt wurde.99 Ein Partikularist hat es schwer, die universelle Ausrichtung von Wissenschaft zu erklären, die auf dem ungehinderten Austausch von Gründen beruht (o. I. [S. 46 f.]). Ebenso schwer hat er es mit der Erklärung des Verlaufs wissenschaftlicher Diskussionen, der weitgehend darin besteht, Fallvergleiche vorzunehmen, d.h. Gründe anhand neuer Sachverhalte zu erproben (o. I., S. 47). Ein Hauptvertreter des Partikularismus leugnet, dass es beim moralischen Denken um praktische Vernunft und um inferentielles Denken 97 Insb. Dancy, Ethics without Principles, S. 7 und passim, der den Partikularismus als die Position definiert, nach der „die Möglichkeit moralischen Denkens und Urteilens nicht von einem angemessenen Bestand von moralischen Prinzipien abhängig“ ist; ders. Moral Reasons, S. 60 ff.; s. a. Bouvier, Particularismo y derecho, S. 175 ff.; Sousa Mendes, FS Tavares, S. 661 ff. 98 Lance/Little, Particularism, S. 579. 99 Ähnl. Gesang, Kritik des Partikularismus, S. 212 ff.

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geht;100 die Fähigkeit, Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen Problemen zu erkennen, beruhe allein auf der Urteilskraft.101 Man fragt sich also, wie juristische Diskussionen überhaupt stattfinden können. bb) Die zweite Überlegung ist eine begriffliche. Die partikularistische Herausforderung dürfte mindestens in einem bestimmten Maße auf einer Äquivokation beruhen, nämlich darauf, dass Partikularisten und Universalisten den Begriff des Grundes anders deuten und deshalb teilweise aneinander vorbei reden. Definiert man Gründe wie oben als Erwägungen, die für oder gegen eine Behauptung sprechen bzw. denen normatives Gewicht zukommt, dann muss man einsehen, dass nicht jede Benennung von Umständen schon einen Grund darstellt. Ein solcher ergibt sich erst, wenn diese Umstände zusammen genommen für oder gegen etwas anderes sprechen.102 Ein „gewagter roter Pinselstrich“ ist für sich genommen noch kein Grund; dies wäre er erst nach der Benennung einer Reihe weiterer Umstände, etwa, dass es um ein Kriegsbild geht, dass die Stelle, an der der Strich zu setzen ist, noch zu blass und blutleer erscheint, oder dass das Bild allgemein aus warmen Tönen besteht, usw. Die von Partikularisten geltend gemachte wechselnde normative Kraft von Gründen dürfte also weitgehend darauf beruhen, dass man etwas für einen Grund hält, obwohl es dies noch keineswegs ist. Davon abgesehen ist es völlig unklar, inwieweit die vom Beispiel vorausgesetzte Parallelisierung von Moralphilosophie und Rechtswissenschaft einerseits und Kunst andererseits möglich ist. Wichtig an der partikularistischen Herausforderung ist aber, dass sie für den Unterschied zwischen zwei Erscheinungsformen eines Grundes empfindlich macht, die man jetzt als „vollen“ Grund und die „diskursiv verkürzte“ bzw. elliptische Darstellung desselben Grundes bezeichnen könnte. Prämissen, die von allen Diskursteilnehmern geteilt werden, müssen nicht bei der Geltendmachung eines Grundes ausdrücklich wiederholt werden; deshalb gelingt die Argumentation umso leichter, je mehr dieser Prämissen alle Sprecher anerkennen. Zum vollen Grund gehören diese Prämissen, die man im Rahmen eines konkreten Diskurses nicht ausdrücklich erwähnen muss, aber an sich schon. Dieser Unterschied muss beachtet werden, wenn der Versuch unternommen wird, Argumente zu verwerten, die in ausländischen Werken formuliert werden. 100

Dancy, Ethics without Principles, S. 103 ff. Dancy, Ethics without Principles, S. 142, 148. 102 Ähnlich Bennett, The Act Ifself, S. 80; Crisp, Particularizing Particularism, S. 37 ff.; McNaughton/Rawling, Unprincipled Ethics, S. 267 ff.; eine Replik bei Dancy, Ethics without Principles, S. 95 ff., 119 ff., mit der Unterscheidung zwischen Bestandteilen eines Grundes („favouring conditions“) und bloßen „enabling conditions“ (S. 38 ff.). Der Einwand von Gesang, Kritik des Partikularismus, S. 211 – nach dem der Partikularist im Widerspruch zur eigenen Position eine Generalisierung treffe, nämlich die Behauptung, dass es generelle Prinzipien nicht gibt – zieht aber gegen Dancy nicht, der eine solche gewagte These gerade nicht vertritt (Ethics without Principles, S. 77 f.). 101

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c) Das soeben Gesagte ist gerade im Strafverfahren von besonderer Bedeutung. Denn da die Strafverfahren aus einer geregelten Abfolge von einzelnen Akten konstituiert sind, können sie einem bestimmten sachlichen Grund an unterschiedlichen Stellen, und durch eine Vielzahl von unterschiedlichen Systemen von Einzelregelungen Rechnung tragen. In einem solchen Fall ist es ganz verfehlt, eine dieser Einzelregelungen aus ihrem Zusammenhang herauszureißen, um sie so zu behandeln, als verkörpere sie einen vollen Grund.103 Hierfür können die folgenden Beispiele grob angeführt werden. Die Frage, ob der Angeklagte ein Recht darauf hat, dass über seine Berufung auch dann in der Sache entschieden wird, wenn er nicht persönlich zur Verhandlung erscheint (ablehnend § 329 Abs. 1 S. 1 StPO), kann nicht richtig entschieden werden, wenn man nicht berücksichtigt, dass dieses Rechtsmittel ohne größere Zulässigkeitshürden (insb. § 313 Abs. 2 StPO) eine neue, eigenständige Hauptverhandlung zur Folge hat (§§ 324 ff. StPO), und dies zur Überprüfung eines Urteils, das bereits auf ausschließlicher (§ 261 StPO) Grundlage einer ebenso umfangreichen mündlichen Hauptverhandlung gewonnen wurde. Die Behauptung, die von § 329 Abs. 1 S. 1 StPO angeordnete Verwerfung der Berufung verletze das Recht des Angeklagten auf effektive Verteidigung (Art. 6 Abs. 1, 3c EMRK),104 ist eine ungebührende Vereinfachung dieser normativen Zusammenhänge.105 In so einem System könnte man vielmehr die Frage stellen, ob es eine so verstandene Berufung überhaupt geben sollte106 und ob der EGMR nicht ungewollt Druck macht, die großzügige deutsche Berufung abzuschaffen.107 Ähnliches konnte man in der 103 Der Sache nach bereits Glaser: „Man kann keine Prozeßfrage entscheiden, ohne den ganzen Organismus des Strafprozesses zu übersehen“ (zit. nach Binding, Drei Grundfragen, S. 114, der dem zustimmt); Eb. Schmidt, FS Kohlrausch, S. 317: „Der Strafprozeß ist ein Ganzes“; Krauß, Prozeßdogmatik, S. 1: „Jede Prozeßregel ist Funktion anderer Verfahrenssätze“; Gössel, 60. DJT, S. C 7; Fraser, BuffCLR 3 (2000), S. 789; F. Meyer, ZStW 119 (2007), S. 649 ff. (anhand der Metapher des Prozesses als Triptychons). Für das Verhältnis von materiellem Strafrecht und Prozessrecht aus rechtsvergleichender Sicht Perron, FS Lenckner, S. 246; für Rechtsordnungen allgemein Perron, ZStW 109 (1997), S. 288, 294 („komplexe dynamische Systeme“). 104 EGMR Neziraj v. Deutschland, Beschw.Nr. 30804/07, v. 8.11.2012, Rn. 52 ff.; zust. Püschel, StraFo 2012, S. 493 ff.; Esser, StV 2013, S. 331 ff.; interessante, die Entscheidung verharmlosende Lesart bei Ast, JZ 2013, S. 785, der die in ihr verkörperte Verdammung der Abwesenheitsverwerfung gem. § 329 Abs. 1 S. 1 StPO i. Erg. eher auf den Fall der drohenden Inhaftierung des Angeklagten beschränkt. 105 Insofern ist i. Erg. dem OLG München StV 2013, 301 und dem OLG Düsseldorf StV 2013, 299 weitgehend zuzustimmen. 106 Die Frage ist seit der Hinwendung zur Mündlichkeit das Grundproblem der Berufung schlechthin gewesen, s. etwa Schwarze, GS 7 Bd. II (1855), S. 1 ff.; ders. Zweite Instanz, S. 3 ff.; Lasker, in: Hahn/Mugdan, Materialien, S. 1952 f.; 100 Jahre später Tröndle, Reform des Rechtsmittelsystems, S. 77, 80 ff. (abl.); Schünemann, FS Geppert, S. 654 f. (auch abl.). 107 Als Vergleich: in Italien wird bei der Berufung der Devolutiveffekt auf die angefochtenen Gesichtspunkte beschränkt, Art. 597 Abs. 1 itStPO; eine Erneuerung der gesamten Hauptverhandlung findet nicht automatisch statt (Art. 603 itStPO), sondern

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vor 10 Jahren im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehenden Diskussion über die Reform des Ermittlungsverfahrens feststellen: Mehr Partizipationsrechte des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren könnten zugleich zu einer Abschwächung seiner Rechtsposition in der Hauptverhandlung führen,108 und genau darin bestand das Programm des sog. Eckpunktepapiers der Bundesregierung, nämlich in dem Anliegen, die Hauptverhandlung zu „entlasten“ bzw. „effizienter“ zu gestalten, m. a.W.: einen ungehinderten Transfer von Beweisen, die im Ermittlungsverfahren gewonnen werden, in die Hauptverhandlung zu ermöglichen.109 Es kann sein, dass diese Zusammenhänge so komplex gestaltet sind, dass sie weit über die Grenzen des Strafprozessrechts hinausgehen und insbesondere auch das materielle Recht miteinbeziehen. 110 So hat die Annahme eines Beweisverbots eine völlig andere Bedeutung je nachdem, ob das System das Gericht mit Aktenkenntnis versieht oder nicht,111 ob es einen engen oder weiten Tatbegriff kennt, ob eine Wiederaufnahme zulasten möglich ist, ob lange oder kurze Verjährungsfristen bestehen, ob leicht beweisbare „Auffangstraftaten“ wie z. B. Drogen- oder Waffendelikte mit weitem Strafrahmen vorhanden sind oder nicht.112 Der amerikanische Beobachter mag wegen der richterlichen Aktenkenntnis deutsche Verwertungsverbote für wenig ernsthaft halten;113 sein System gestattet aber eine sog. „prosecution by pretext“,114 d.h. es ist möglich, einen bekannten Mörder, dessen Mord nicht prozessgemäß nachgewiesen werden kann, wegen unerlaubten Waffenbesitzes zu erheblichen Strafen zu verurteilen.115 Eine universell arbeitende Rechtswissenschaft muss deshalb diese Zusammenhänge immer vor Augen nach der Deutung der Rspr. sogar nur im Ausnahmefall (s. Chiavario, Diritto processuale penale, S. 644 m.Nachw.); in Spanien findet laut Gesetz in vielen Fällen gar keine zweite öffentliche Verhandlung statt (Art. 791 f. spanStPO), und nach einer verfassungsrichterlichen Entscheidung soll sie zulässig sein, um bestimmte und keineswegs alle Beweise zu erheben (s. Armenta Deu, Lecciones, S. 267 m. Nachw.). 108 Siehe Prittwitz, FS Bemmann, S. 603 ff.; Satzger, 65. DJT, S. C 38 ff.; Moos, FS Miklau, S. 350. 109 StV 2001, S. 314 f. 110 Man bedenke die geschichtliche These von Langbein, Adversary Trial, S. 6, nach der das akkusatorische Verfahren angelsächsischen Stils sich in seiner Geringschätzung der Wahrheit deshalb entwickelt habe, um übermäßigen Androhungen von Todesstrafen eine Barriere zu bieten: „too much truth meant too much death“. 111 Zu diesem „selten zum Thema erhobenes Problem“ (so Jahn, 67. DJT, S. C 98) Grünwald, JZ 1966, S. 500 f., der den Richter wegen Besorgnis der Befangheit ablehnen möchte; Amelung, Informationsbeherrschungsrechte, S. 47; Jahn, 67. DJT, S. C 98 f. („Weiterwirkung eines Beweisverwertungsverbots“). Zu leicht macht sich die Sache Koriath, Beweisverbote, S. 48, der mit einem Hinweis auf die wissenschaftstheoretische Unterscheidung zwischen Entstehungs- und Begründungszusammenhang die Sache zu lösen vermeint. 112 Stuntz, Collapse, S. 271 ff. 113 Beispielsweise Bradley, Failure, S. 125. 114 Stuntz, Collapse, S. 300 ff. 115 Zu Recht krit. Arzt, FS Triffterer, S. 553 f.

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haben. Sie wird aber nicht an dieser Stelle stehen bleiben, sondern muss die Frage nach der zutreffenden Begründungsrichtung stellen, also klären, was Bedingung ist, was bedingt, was bloße Begleiterscheinung, und dies auch dann, wenn die Realität die an sich normativ gebotenen Verhältnisse faktisch häufig umkehrt. M.a.W. wird es immer darum gehen, nach archimedischen Punkten zu suchen. Ein solcher wäre im Zusammenhang des letzten Beispiels das Schuldprinzip, das es verbietet, dass die zugefügte Strafe sich in Wahrheit auf eine andere als die im Schuldspruch genannte Straftat bezieht. Das Beispiel aber, das uns in dieser Arbeit ausführlich beschäftigen wird, ist der Tatbegriff. Dieser weist einen Zusammenhang zur Frage der Rechtskraft, der Rechtshängigkeit und zu der Reichweite der richterlichen Kognitionsbefugnisse auf (ausf. u. Teil 2 Kap. 2 D. III. [S. 470 ff.]). Wollte man die Rechtskraft anders als die richterlichen Kognitionsbefugnisse bestimmen, dann würde etwas in Rechtskraft erwachsen, worüber keine Rechtsentscheidung gefällt werden konnte, worüber kein Verfahren gemacht wurde. Dass dies schon lange keine Selbstverständlichkeit mehr sein dürfte, belegt die unten (Teil 2 Kap. 2 B. IV. 9., D. III. 4. b) [S. 425 ff., 503 ff.]) ausführlich zu kritisierende Entwicklung eines sog. „autonomen“ Tatbegriffs durch die europäischen Gerichte, der – kurz und bündig – aus nichts anderem besteht als einer Verkennung dieser Zusammenhänge. 2. Die anti-rationalistische Herausforderung Der nächste zu erwartende Einwand ist auch erkenntnistheoretisch-metaphysisch orientiert, aber nicht mehr allgemein-philosophisch, sondern rechtsphilosophischer Natur. Das gezeichnete rationalistische Bild des Rechts sei demnach nichts Neues, sondern eine längst überwundene Mischung von aufklärerischem Vernunftrecht und Begriffsjurisprudenz. Denn dieses Bild beruhe auf der Ausblendung aller irrationalen, dezisionistischen Aspekte des Rechts und reduziere den Rechtsfindungsvorgang zu einem bloßen Erkenntnisakt. Spätestens seit der Überwindung der Begriffsjurisprudenz sei die Unzulänglichkeit einer solchen Sichtweise in der modernen Methodenlehre allseits bekannt, so dass es geradezu unverständlich sei, sie im 21. Jahrhundert neu auflegen zu wollen.116 116 Im Sinne einer voluntarischen Deutung des Rechts Bülow, Gesetz und Richteramt, S. 6; Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, S. 56 ff. (beide aus der Perspektive der sog. Freirechtsschule); Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Aufl. S. 97 f. (aus der Perspektive der reinen Rechtslehre); Esser, Vorverständnis, insb. S. 136 ff.; Betti, Auslegungslehre, S. 55 ff.; Arthur Kaufmann, Rechtsgewinnung, S. 8 (alle drei auf Grundlage eines hermeutischen Ansatzes); F. Müller, Richterrecht, S. 68 („Alles Recht beruht auf Entscheidungsakten“, aus der Perspektive der strukturierenden Rechtslehre); aus anderen Perspektiven Kriele, Rechtsgewinnung, S. 191 ff.; Krey, Gesetzesvorbehalt, S. 55 ff., 61 ff.; Tarello, Interpretazione, S. 61 ff.; Douzinas/Warrington/McVeigh, Postmodern Jurisprudence, S. 31 ff. Siehe auch Eb. Schmidt, DRiZ 1962, S. 406. Ausf. zu diesen seit der Freirechtsschule vertretenen voluntaristischen Positionen E. Schumann, FS Bötticher, S. 289 ff.

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Dem ist zu erwidern, dass die psychologisch-soziologische Frage der Entstehung einer Regelung von der normativen Frage ihrer Rechtfertigung strikt zu trennen ist, und dass dies bereits im alltäglichen und im rechtswissenschaftlichen Diskurs geschieht. Wenn überhaupt, hätte deshalb nicht die hier vertretene Position, sondern die juristische Methodenlehre einen Anlass, herrschende Dogmen zu überdenken.117 Denn weder im Alltag noch im Recht reicht der Verweis auf einen Willensakt als Begründung aus. Ein Vater, der kein Tyrann sein will, verbietet seinem Kind das Fernsehen nicht allein unter Berufung darauf, dass er es so will; und jeder Jurist versucht im Idealfall die von ihm vorgeschlagene Lösung nicht nur als die vom Gesetz gewollte, sondern zugleich als die überlegene zu begründen. Zwar ist weder das Gesetz ratio scripta, noch der Richter bouche de la loi. Aber kein gutes Gesetz beruft sich allein auf seinen Kompetenztitel („Weil Strafrecht gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung und somit auch Kompetenz des Bundes ist, wird beschlossen, dies und jenes unter Strafe zu verbieten“), ebenso wenig wie sich der Richter auf die durch die Methodenlehre so hervorgehobene Richtersubjektivität berufen darf. Mit den Worten von Carrara: „Der verurteilende Richter kann nicht sagen: Ich verurteile, weil ich verurteilen will“.118 Dieses Verständnis spiegelt sich auch in der früheren Bezeichnung von Akten der Gerichtsbarkeit nicht als Entscheidungen, wie es heute geläufig ist, sondern als „Erkenntnisse“ wider.119 M. a.W.: Das hier vertretene Verständnis des Rechts versucht dieses Phänomen aus der Innenperspektive zu begreifen,120 und aus dieser Perspektive ist das Recht nicht primär 117 Hiermit soll keine Aneignung der in der Methodenlehre geläufigen Unterscheidung von Herstellung und Darstellung einer Entscheidung erfolgen (etwa Hassemer, Einführung, S. 116 f.), die den Unterschied zwischen aufrichtiger Begründung und bloß scheinbarer Rationalisierung nicht mehr begrifflich erfassen kann. Vielmehr sollte die Entscheidung durch Gründe verursacht werden (wie auch immer man diese Form der Kausalität durch Freiheit zu erfassen vermag). Dies ist aber eine normative Anforderung und keine Beschreibung, wie Entscheidungen tatsächlich getroffen werden. 118 Carrara, Del giudizio criminale, § 1011 Fn. 1 (S. 255). 119 Siehe die Nachw. in Eichenberger, Richterliche Unabhängigkeit, S. 85 Fn. 2, der dennoch das Willensmoment zu sehr betont (S. 88 f.); s. a. Arndt, AöR 1932, S. 216 (and. aber ders. Bild des Richters, S. 8 ff.); und Eb. Schmidt, Lehrkommentar I, Rn. 472 Fn. 275, der aber den Erkenntnischarakter („Wahrspruch“, näher u. Teil 2 Kap. 4. C. II. 2., 3. [S. 716 f., 722 f.]) des Richterspruchs nur auf die Tatsachenermittlung bezieht. Es würde sich vielleicht lohnen, die Geschichte dieses Sprachwandels zu untersuchen; vermutlich hängt er mit dem Absterben des rationalistischen Naturrechts und dem Aufblühen des voluntaristischen Positivismus im 19. Jahrhundert zusammen (die wohl parallel verlaufende Geschichte der Entdeckung der Richterpersönlichkeit erzählt Küper, Richteridee, S. 34 ff., aber ebenfalls sehr voluntarisch gefärbt). Im deutschen Wort Gesetz dagegen steckt etwas von Setzung, also ein Hinweis auf die Positivität und somit auch auf einen Willen; dem griechischen Nomos und dem lateinischen Lex scheinen derartige Implikationen nicht anzuhaften, und von einer solchen nicht voluntativen Vorstellung des Gesetzes ging bekanntlich kein geringer als Montesquieu aus (De l’esprit des lois, Livre I Chap. 1: Gesetze als „rapports necessaries qui dérivent de la nature des choses“; s. a. Küster, AöR 1949, S. 405; Schreiber, Gesetz und Richter, S. 54).

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voluntas, sondern ratio. Dass andere Perspektiven möglich sind, die voluntaristische Momente in den Vordergrund stellen, wird hierdurch nicht bestritten. Nur ändert dies nichts an der Bedeutsamkeit des Blicks von innen. Rechtswissenschaft betreibt man eben aus der Innenperspektive. 3. Die kulturrelativistische Herausforderung a) Zwar wurde bereits o. I. (S. 48 ff.) dargelegt, warum ein rationalistisches Bild des Rechts nicht notwendig zu einer Vereinheitlichung aller Rechtsordnungen der ganzen Welt kommen muss. Dennoch könnte man sich immer noch fragen, ob dieses Verständnis der Tatsache, dass das Recht mit der Kultur verschiedener Gesellschaften so eng verflochten ist, hinreichend Rechnung tragen kann.121 „Recht ist Ausdruck der Kultur“.122 Es sei möglich, dass das Recht auf Gründen beruhe, aber selbst diese seien nicht kulturunabhängig erschließbar.123 Vielmehr bestünden national unterschiedliche gesetzliche Vorschriften,124 wissenschaftliche Traditionen und sogar Stile der Argumentation.125 Auch das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Lissabon-Entscheidung ein kulturorientiertes Argument entwickelt um daraus Schranken der Integration abzuleiten.126 120

Ebenso Alexy, Begriff, S. 63 f. Überlegungen zur Relevanz kultureller Hintergründe für das Strafverfahren bei Hörnle, ZStW 117 (2005), S. 801 ff.; Vogel, GA 2010, S. 7; Perron, Strafrechtsvergleichung, S. 124 f.; vgl. ferner S. Beck, Dialog, S. 65 ff. 122 Peters, Strafprozeß, S. 56. 123 So insb. Legrand, Le droit comparé, S. 50 ff., 74 ff. der den Begriff der „alterité“, der unvergleichlichen, inkommensurablen Andersheit des anderen, in den Mittelpunkt seiner Überlegungen rückt; s. a. ders. The same and the different, S. 240 ff.); ihm zust. Hodgson, French Criminal Justice, S. 9 (die von einer „centrality of legal culture“ spricht). 124 Darauf ist auch im Zusammenhang der Diskussion um die sog. Sonderfallthese – dernach die Rechtsdogmatik ein Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses sei (so Alexy, Argumentation, 33 ff., 263 ff., 426 ff.) – hingewiesen worden, etwa Neumann, Rechtstheorie 27 (1996), S. 421; ähnlich Arthur Kaufmann, Diskurs, S. 23, der wegen der Gesetzesbindung dogmatischer Argumentation meinte, dass „es im Bereich der Rechtsdogmatik, soweit sie rein systemimmanent verfährt, keinen echten rationalen Diskurs“ gebe. 125 Ausf. Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 62 ff., die den Begriff des Stils zum Anker ihres rechtsvergleichenden Ansatzes machen; aus strafprozessualer Sicht bereits Leue, Anklage-Prozeß, S. XI ff.; und heutzutage Hörnle, ZStW 117 (2005), S. 801 ff.; Kühne, LR-StPO Einl D Rn. 61 ff.; ferner Dubber, Hastings Law Journal 55 (2004), S. 28. Zum unterschiedlichen Stil insb. Perron, ZStW 109 (1997), S. 295. Eine Soziologie wissenschaftlicher Stile bei Galtung, Leviathan 11 (1983), S. 303 ff. Vgl. auch Carnelutti, ZZP 64 (1950), S. 34 f. der das deutsche und das englische Rechtsdenken mit dem Unterschied von musikalischer und malerischer Berufung verglich und (wie überraschend!) meinte, die romanischen Völker stünden zwischen beiden. 126 BVerfGE 123, 267 (358, 359 f., 408 ff.); Weigend, ZStW 105 (1993), S. 786 ff.; w. N. zu vergleichbaren Äußerungen in der Literatur b. F. Meyer, Demokratieprinzip, S. 48 ff. (skeptisch ebda., S. 124 ff.); ders. NStZ 2009, S. 662. 121

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b) aa) Man wird diese These nicht auf der empirischen Ebene in Frage stellen, obwohl sie in der modernen Rechtssoziologie keineswegs unumstritten ist.127 Es dürfte ebenso wenig ergiebig sein, die These auf einer abstrakten Ebene kritisch zu hinterfragen. Denn die gegensätzliche Behauptung, Recht sei nicht oder nicht nur Ausdruck der Kultur, ist genauso plausibel wie die zu diskutierende. bb) Beim Versuch, die These der Kulturabhängigkeit des Rechts konkreter zu fassen, müsste man nicht einmal das immer noch verbreitete Vorurteil bemühen, dass das deutsche Rechtsdenken theoretischen Abstraktionen zugeneigt, das englische Rechtsdenken dagegen immer auf konkrete Einzelfälle bezogen sei.128 Raffinierter wäre es, anstelle verzeichnender Stereotypen sich einer greifbaren, überprüfbaren Größe zu bedienen, nämlich der Form der Entscheidungsbegründung höchster Gerichte und der Argumentation rechtswissenschaftlicher Abhandlungen. (1) Französische Gerichte entscheiden knapp und spartanisch. Die Entscheidung der Cassation entsteht orakelhaft nach einigen apodiktischen Behauptungen, die mit der Formel „attendu que“ eingeleitet werden; nicht einmal eigene Präjudizien, umso weniger die Wissenschaft werden zitiert.129 Als Probekost 127 Siehe insb. Tamanaha, General Jurisprudence, insb. S. 107 ff.; Gegenauffassung bei Chase, Law, Culture, Ritual, S. 50 ff. 128 So ausdrücklich der Italiener Carnelutti, ZZP 64 (1950), S. 41 – der bezeichnenderweise der Meinung ist, das italienische Rechtsdenken habe gewußt, „das Gleichgewicht zwischen den beiden extremen Haltungen zu bewahren . . .; das sind, wenn ich mich nicht täusche, das deutsche Temperament und das angelsächsiche Temperament, zwischen denen das lateinische Temperament eine Art Brücke darstellt“. Ähnliche Vorurteile bei Legrand, Le droit comparé, S. 6 ff., 107 ff. bezüglich des Verhältnisses zwischen französischem Recht und common law, der sogar meint, das common law verfahre „im Wege der Transduktion“ (S. 108), d.h., es bewege sich von einem Einzelfall zu einem anderen Einzelfall ohne Vermittlung durch einen allgemeinen Satz (eine derart neben der Sache liegende Behauptung erweckt sogar den Verdacht, man habe Entscheidungen des amerikanischen Supreme Court nie gelesen; i. Erg. auch krit. Teubner, FS Blankenburg, S. 237). In eine ähnl. Richtung Baxi, Legal cultures, S. 267 ff. Den Unterschied zu Recht relativierend Kübler, JZ 1977, S. 118; Junker, JZ 1994, S. 926; Hodgson, French Criminal Justice, S. 23 f.; Pötters/Christensen, JZ 2012, S. 293 f., 297. 129 Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 121 f.; Hodgson, French Criminal Justice, S. 24 f.: „language of assertion rather than argument“; Witz, RTDC 1992, S. 737; und in einer Entscheidungsanmerkung Rassat, JCP II 1994, Nr. 22310 (S. 328): „die vorliegende Entscheidung scheint den Verdacht zu bestätigen, dass die Richter am Cassationsgericht, um dieses Maß an Kürze zu erreichen, sich zu regelmäßigen Übungen der Schrumpfung von Texten zwingen müssen“. – Der Entscheidungsstil des EGMR dagegen, wegen seiner an sich berechtigten Weigerung, Fragen in abstracto zu lösen (etwa EGMR EuGRZ 1983, 475 Rn. 35 [Fall Minelli]; Hauschildt v. Denmark, Beschw. Nr. 10486/83 v. 24.5.1989, Rn. 45; Fey v. Austria, Beschw. Nr. 14396/88 v. 24.2.1993, Rn. 27), charakterisiert sich durch eine Berufung auf eine Vielzahl von einzelfallbezogenen Erwägungen, von denen unklar bleibt, welche für das Ergebnis tragend, welche nur obiter dicta sind; krit. Jäger, GA 2008, S. 481 ff.; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 147 m.w. Nachw. Ein augenfälliges Beispiel, wovon u. Teil 2 Kap. 2 D. 4. b) (S. 503 ff.) näher die Rede sein soll, bietet die Entscheidung Oliveira v. Schweiz,

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nehme man die Entscheidung im berühmten Fall Laurent (dazu näher u. Teil 2 Kap. 2 D. IV. 2. [S. 486 ff., 490]), in dem die Cassation es für zulässig erklärte, dass ein Angeklagter, der wegen der fahrlässigen Tötung seiner Frau bereits verurteilt worden war, in einem späteren Verfahren wegen vorsätzlicher Tötung verurteilt wurde. In der Entscheidung, die nicht einmal eine volle Spalte einer Zeitschrift im NJW-Format in Anspruch nimmt, wird diese Schlussfolgerung mit einem einzigen Satz begründet: „Attendu que, man sich in der Tat nicht auf die Bestimmungen des Art. 368 des Code de procédure pénale130 berufen darf; dass, andererseits, das Verbrechen (crime) der vorsätzlichen Tötung (homicide qui se commet par la détermination de la volonté) und das mit ihm im Ausschlussverhältnis stehende Vergehen (délit) der Fahrlässigkeit zwei unterschiedliche Zuwiderhandlungen (infraction) sind, sowohl in ihren tatsächlichen als auch in ihren rechtlichen Merkmalen; . . .“ 131 Das ist die ganze Begründung dafür, dass eine einmal vorsätzliche, einmal fahrlässige Tötung derselben Person ohne Verletzung des gesetzlich anerkannten ne bis in idem-Grundsatzes (damals in Art. 368 franzStPO v. 1808), zweimal verfolgt werden darf. Die Bemühungen der französischen Rechtsdogmatik gelten in erster Linie der Didaktik und in zweiter Linie der Arbeit de lege ferenda; zum großen Teil auch der bloßen Erläuterung und sogar dem Erraten der weitgehend unbegründeten und deshalb wenig verständlichen höchstrichterlichen Entscheidungen.132 Berufungen auf den Wortlaut und auf Gerichtsentscheidungen sind die beliebtesten Argumente. Beschw. Nr. 84/1997/868/1080, v. 30.7.1998, Rn. 26 f., die sich im Sinne eines tatbestandsbezogenen Begriffs der prozessualen Tat aussprach, nachdem in der GradingerEntscheidung (Gradinger v. Österreich, Beschw. Nr. 15963/90 v. 25.10.1985, Rn. 55) ein faktischer Tatbegriff vertreten worden war; begründet wurde die Abweichung damit, dass im Gradinger-Fall, in dem es um einen in Trunkenheit verursachten Autounfall ging, abweichende Feststellungen des Blutalkoholgehalts des Beschuldigten von den zwei „Gerichten“ vorgenommen wurden (Rn. 28; zu Recht krit. Richter Repik, Sondervotum ebda.; Grabenwarter, JBl. 1997, S. 104). – Seinerseits entscheidet der EuGH nach französischem Stil. Besonders augenfällig ist insofern die folgenreiche Entscheidung, die der EU Strafrechtskompetenzen im Bereich des Umweltschutzes zugesprochen hat, s. EuGH GrK Rechtssache C-176/03, Rn. 47 f. (zu Recht krit. gerade zu diesem Aspekt Schünemann, StV 2006, S. 361: das Urteil sei „in seiner argumentativen Dürftigkeit das Zerrbild eines Rechtsprechungsakts“; Hefendehl, ZIS 2006, S. 164); s. auch die Entscheidung, die den Grundsatz der Rückwirkung des milderen Strafgesetzes, inzwischen in Art. 49 Abs. 1 S. 3 EuGRC anerkannt, ohne jegliche Begründung zu den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten erklärt hat, EuGH Berlusconi u. a, Rs. C-387/02, C-391/02, C 403/02, Rn. 67 f. 130 Der das Verbot der zweiten Verfolgung nach einem Freispruch ausspricht, für den Text s. u. Fn. 2808. 131 Cassation Criminelle, JCP II 1985 Nr. 20385. Bemerkenswert ist auch, das diese Sätze bereits in einer früheren Entscheidung, die einen 1:1 vergleichbaren Fall zum Gegenstand hatte (Thibaud-Fall, s. u. Teil 2 Kap. 2 D. IV. 2. [S. 489]), aufgetaucht waren; das Gericht hält es offenbar sogar für unnötig oder unangebracht, sich selbst zu zitieren! 132 Sehr krit. Witz, RTDC 1992, S. 737 f.: „Le spectacle de la doctrine française qui consacre une grande partie de son énergie à tenter d’expliquer ce qu’on voulu quelques

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(2) Amerikanische Gerichtsentscheidungen sind reich an Zitaten von Präjudizien, die nicht selten bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen; im Vordergrund steht immer die Bemühung, den neuen Fall in den corpus des bereits akzeptierten Common Law harmonisch einzugliedern und bei Bedarf ein bewährtes Kriterium so zu verfeinern, dass es auch dem neuen Problemfall gerecht zu werden vermag, ohne dass der Anschluss zu früheren Fällen verloren geht. Die Wissenschaft, die in diesen Entscheidungen eher sparsam berücksichtigt wird, versucht in erster Linie nicht so sehr die Entscheidungen auszulegen, sondern die Entwicklung der Rechtsprechung kritisch zu begleiten; um die Ausarbeitung eines „Systems“ bemüht man sich so gut wie nicht, es geht vorrangig um konkrete Fälle. (3) Deutsche Gerichtsentscheidungen sind kürzer als amerikanische und länger als französische; sie sind wissenschaftsreicher als beide. Die deutsche Rechtsdogmatik bemüht sich vorrangig um eine Systematisierung de lege lata. Sie scheut sich nicht davor, philosophische Reflexionen vorzunehmen oder anspruchsvolle allgemeine Theorien zu formulieren,133 und misst Gesetzeswortlaut und Gerichtsentscheidungen an diesen von ihr ausgearbeiteten Reflexionen und Theorien.134 c) Die Relevanz dieses Phänomens kultureller Unterschiede, für das man viele weitere Beispiele anführen könnte,135 muss dennoch stark relativiert werden. Die magistrats . . . a quelque chose de désolant“; ähnl. Rassat, JCP II 1994, Nr. 22310 (S. 328), der sich über das Ratespiel (jeu de piste), das die Cassation Criminelle mit den Juristen spielt, beklagt. 133 Aus französischer Sicht wird dies als „häufig exzessive Abstraktheit“ des deutschen Stils beschrieben, s. Valticos, Chose jugée, S. 31. 134 Ähnliche Beschreibung des deutschen Stils bei Schultz, Strafrechtsvergleichung, S. 17 f. 135 Man gehe einige der von Jayme, Postmoderne Rechtsvergleichung, S. 103 ff. angeführten Beispiele für nicht hinterfragbare, letztlich als kulturell hinzunehmende Unterschiede durch: Er verdeutlicht angeblich kulturell unterschiedliche Verbraucherleitbilder dadurch, dass er eine Vorschrift des brasilianischen Verbraucherschutzgesetzes (Gesetz Nr. 8078 v. 1990) erwähnt, die missbräuchliche Werbung als diejenige definiert, „welche die Armut von Kindern ausnutzt“ (S. 112 f.); beiseite gelassen, dass dies eine ungenaue Wiedergabe des Inhalts der Vorschrift ist, würde es unserer Perspektive eher entsprechen, zu fragen, ob man in einem Land, das völlig unreflektierte und juristisch mangelhafte Gesetze erlässt, – die, um am Beispiel der irreführenden Werbung zu bleiben, undifferenziert Tatsachen und Wertungen, Tun und Unterlassen erfassen –, überhaupt von einem Leitbild sprechen kann, und ob das Fehlen eines Leitbildes nicht ein Mangel an Rationalität darstellt, den es zu kritisieren gilt. Man nehme auch seine Feststellung, dass das portugiesische Prozessrecht formalistisch „an Carneluttis ehernem Verfahrenssystem geschult“ sei (S. 116); wir würden ungeniert sagen, dass ein solcher Zug, sofern er vorhanden ist, einen Mangel an Rationalität darstellen kann, und dies in Portugal genauso wie in Deutschland. Auch hierzulande gab es eine Zeit, zu der konstruktivistische Ansätze à la Goldschmidt in Mode waren (zu ihnen u. Kap. 2 C. II. 1. [S. 135 ff.]), die in Italien durch Chiovenda und Carnelutti (zu ihm u. Fn. 439) noch für Jahrzehnte gepflegt worden sind und nach Portugal exportiert wurden, lange nachdem sie in Deutschland schon abgelebt waren. Man kann Fehler (auch die eines fremden Rechts!) nicht dadurch heilen, dass man sie für kulturell bedingt erklärt. Auch die u. 5. (S. 69 ff.) zu besprechende „prozessstrukturelle Herausforderung“ führt die grund-

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Behauptung, dass andere Kulturkreise andere Gründe anerkennen, ist bestenfalls teilweise zutreffend. aa) Regelmäßig werden die unterschiedlichen Ergebnisse auf unterschiedliche empirische Gegebenheiten, auf eine unterschiedliche Wahrnehmung der durch Ungewissheit bedingten Beurteilungsspielräume oder auf eine durch eine Unbestimmtheit bedingte konkretisierende Entscheidung innerhalb des von Gründen gesteckten Rahmens zurückführbar sein (s. o. I. [S. 48 ff.]). Kultur wird insbesondere dort eine berechtigte Rolle spielen dürfen, wo man sich in dem nicht vollständig durch Gründe durchdringbaren Bereich der Unterdeterminiertheit oder der Billigkeit befindet (s. o. I. [S. 51 ff.]). Jenseits dieser Grenzen ist aber sehr zu zweifeln, ob das Kulturargument mehr bieten kann als eine kausale Erklärung dafür, weshalb man dies oder jenes für rechtens hält. Auch die Beschneidung von Frauen und die Verbrennung von Witwen lassen sich so erklären. Ein Beitrag zur Urfrage nach der Unterscheidung von Recht und Macht ist dies aber auf keinen Fall. bb) Es muss in aller Offenheit gesagt werden, dass dort, wo Gerichte orakelhaft entscheiden, wo sich die Rechtslehre auf Wiederholungen des Gesetzeswortlauts oder von Leitsätzen beschränkt, keine kulturell unterschiedlichen Gründe vorliegen, sondern vielmehr Autorität und Willkür für wichtiger als Gründe angesehen werden. Die Erkenntnis, nach der Recht und Willkür sich unterscheiden müssen, ist kein universell geläufiges Gut. In diesem Falle sind Stil- und Kulturunterschiede tatsächlich Unterschiede in der Sache. Sie verkörpern aber nicht unterschiedliche Gründe, sondern vielmehr, dass man sich in einem bestimmten Kreis mit der Abwesenheit von Gründen begnügt, dass das Recht zu bloßer Willkür verkümmert ist. Es wird nichts damit gewonnen, dass man das Fehlen einer Begründung als bloßen Stilunterschied euphemisiert. Erst durch Gründe wird die Sphäre der universellen Rechtswissenschaft erreicht. Die universelle Rechtswissenschaft ist ihrerseits nicht daran gehalten, Phänomenen unbegründeten Entlegende Unterscheidung zwischen akkusatorischem und inquisitorischem Prozesssystem gelegentlich auf kulturelle Unterschiede zurück (so z. B. Eb. Schmidt, NJW 1963, S. 1088; Figueiredo Dias, Direito processual penal, S. 293; van Koppen/Penrod, John Wayne and Judge Dee, S. 347 ff.; Roberts/Zuckerman, Criminal Evidence, S. 52; Guinchard/Buisson, Procédure pénale, Rn. 123); gleichzeitig leiten einige daraus das Argument ab, es sei diesen „ausländischen Versuchungen“ zu widerstehen (so wörtlich Guinchard/Buisson, Procédure pénale, Rn. 123; in Deutschland Schönke, SchwZStR 62 [1947], S. 80; Eb. Schmidt, NJW 1963, S. 1088: „eine Rezeption des angloamerikanischen Strafprozeßrechts setzt eine Rezeption des englischen Volkscharakters, der dem Engländer typischen Haltung gegenüber der staatlichen Autorität, der ganzen englischen Rechtstradition, kurz des englischen Wesens und seiner Geschichte überhaupt voraus“). Es sei nebenbei gesagt, dass dies angesichts des durch die neuere Forschung gewonnenen Bildes der Entstehung des akkusatorischen Systems, nach dem dieses System eine relativ junge, durch viele Kontingenzen, vor allem durch den Machtzuwachs der Anwaltschaft bedingte Geschichte hat (insb. Langbein, Adversary Trial, S. 67 ff., 106 ff. und passim), eine höchst fragwürdige Annahme ist. Diese konkretere Form des Einwandes soll vom vorliegenden Abschnitt ausgeklammert werden.

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scheidens große Aufmerksamkeit zu schenken, gleichgültig ob sie kulturell akzeptiert sind oder nicht. Wer glaubt, ohne Gründe auszukommen, soll sich nicht wundern, wenn er jenseits seines Machtbereichs nicht mehr ernst genommen wird.136 cc) Der Kulturrelativismus, der hinter jedem Universalismus einen kolonialisierenden oder imperialistischen Impetus zu entlarven glaubt, findet nur deshalb so viel Gehör, weil in der Tat so viel Unfug im Namen ewiger universeller Ideen verübt worden ist. Die Verbrechen des Relativismus sind aber keineswegs geringer: Von Frauenbeschneidungen und Witwenverbrennungen war schon die Rede; im Frankreich des 18. Jahrhunderts wurde das geheime, auf Folter basierende und keine Verteidigung kennende Strafverfahren des Ancien Regime gegen die als „englisch“ gebrandmarkte Reform verteidigt,137 und heute berufen sich Schurkenstaaten auf eigene Werte, etwa auf ihre „asian values“,138 um ihre Bürger weiterhin rechtlos lassen zu dürfen. Auch dort, wo es darum geht, Gutes gegen Angriffe von außen zu verteidigen – man denke nur daran, wie das Bundesverfassungsgericht durch eine Berufung auf kulturelle Aspekte des Strafrechts der in der Tat problematischen Entmachtung des nationalen Gesetzgebers durch die Europäisierung Halt geboten hat139 –, muss eine Rechtswissenschaft nach besseren Argumenten suchen, wenn sie mehr als einen Ausdruck eines „kulturellen Chauvinismus“ verkörpern will.140 Herkunft ist kein Grund. 4. Die staatstheoretische Herausforderung Die nächste Herausforderung setzt staatsphilosophisch an: wie kann man den Anspruch erheben, eine universell orientierte Strafverfahrenstheorie zu formulieren, wenn der Gegenstand dieser Theorie, also das Strafverfahren, seinerseits vom jeweils bestehenden Verständnis des Verhältnisses zwischen staatlicher Macht und Individuum abhängig ist? Ist das Strafverfahren nicht eine Funktion der „in der Gemeinschaft herrschenden weltanschaulich-politischen Werturteile“,141 also „ein Politikum“,142 letztlich nichts anderes als „angewandtes Verfassungsrecht“?143 Gilt nicht das vor und nach 1945 ausgesprochene Dictum von Exner: „Anderer Staat – anderes Strafverfahren“?144 136 In der Sache genauso – aus französischer Perspektive! – Witz, RTDC 1992, S. 737 ff., der in den schlecht begründeten Entscheidungen der Cassation einen Grund für den Ansehensverlust des französischen Rechts außerhalb Frankreichs erblickt. 137 Nachw. bei Esmein, Histoire, S. 494 f. 138 Nachw. bei Ashworth, Human Rights, S. 123 f. 139 BVerfGE 123, 267 (408 ff.). 140 Ausdruck von Langbein, CardJICL 5 (1997), S. 41 ff.; nahestehend auch Jackson, ebda., S. 51 ff. 141 Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 86. 142 Exner, Strafverfahrensrecht, S. 3. 143 Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 86.

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Eine unter Strafprozessrechtlern sehr verbreitete Replik fand in Eberhard Schmidt ihren angesehensten Fürsprecher: Viele der grundlegenden Prinzipien und Regeln des Strafverfahrensrechts würden auf einer unbefangenen und apolitischen Betrachtung der menschlichen Natur und der Bedingungen einer erfolgreichen Wahrheitsfindung beruhen.145 Vor allem der Unterscheidung von Ankläger und Richter, also dem Anklagegrundsatz, liege die psychologische Wahrheit zu Grunde, dass ein einziger Mensch unmöglich beide Rollen sachgemäß wahrnehmen könne.146 Auch dann, wenn die Politik einen Großteil des Strafverfahrens ausmacht, sei nicht alles im Verfahren von ihr abhängig.147 Diese Replik ist zum Teil gerechtfertigt. Sie ist aber nicht grundlegend genug. Denn man kann gelassen die weitgehende Abhängigkeit des Strafverfahrens von der Politik eingestehen, ohne dass daraus folgt, dass das Strafverfahren so wechselbar sein wird wie die jeweilige Parlamentsmehrheit. Das Wort „Politik“ ist mehrdeutig;148 hier kommt es nur darauf an, zwischen einer „alltäglichen“ Bedeutung (wie im Satz: „die Regierung verfolgt eine importfeindliche Politik“), einer ersten „gehobenen“ Bedeutung (eher empirisch, wie im Terminus „Politikwissenschaft“) und einer zweiten „gehobeneren“ Bedeutung (eher normativ, wie im Terminus „politische Philosophie“) zu unterscheiden. In dieser letzten Bedeutung hat Politik mit den Bedingungen legitimer Machtausübung zu tun. Nach diesem dritten Verständnis wäre die These, dass das Strafverfahrensrecht politisch abhängig ist, nichts anderes als die hier nachdrücklich verteidigte Behauptung, dass die Bedingungen legitimer Machtausübung auch für das Strafverfahrensrecht eine grundlegende Rolle spielen müssen. Macht lässt sich aber nicht auf beliebige Weise legitim ausüben. Wo diese Grenzen überschritten werden, kann man nicht mehr von Politik im letztgenannten Sinne sprechen. Eine politikwissenschaftliche Beschreibung des Strafverfahrensrechts ist aber keine genuin juristische Aufgabe mehr, und eine Regierungspolitik erst recht nicht. 144 Exner, Strafverfahrensrecht, S. 7; zust. zit. von Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 86; Peters, Strafprozeß. S. 56; und Figueiredo Dias, Direito processual penal, S. 60; ders. ZStW 104 (1992), S. 448. 145 Kohlrausch, DJZ 1920, Sp. 138 ff.; Hegler, Zur Strafprozeßerneurung, S. 10; Eb. Schmidt, FS Kohlrausch, insb. S. 278 f.; Peters, Strafprozeß, S. 57. Eine Replik aus nationalsozialistischer Sicht bei Siegert, FS Gleispach, S. 139 f.: „Wir erkennen keine ,unpolitischen‘, ,ewigen‘ Erfahrungssätze an.“; E. Wolter, Rechtskraft, S. 20. 146 Nachw. u. Teil 2 Kap. 2 B. III. 2. a) (S. 385 ff.). 147 Es mag gut sein, dass diese Diskussion wenigstens teilweise nur wissenschaftssoziologisch erklärbar ist. Man könnte den Verdacht äußern, dass die These der politischen Natur des Strafverfahrens gleichzeitig zu einer Entlastung desjenigen führt, der sich zur Zeit eines autoritären politischen Systems im Sinne eines autoritären Strafverfahrens eingesetzt hat. Dies soll hier nicht versucht werden, da die vorliegende Arbeit aus der Innenperspektive (s. o. 2. [S. 60]) bloß Gründe als solche zur Kenntnis nimmt und sich weigert, der reduktionistischen Versuchung der kausalen Reduzierung von Gründen auf Ursachen nachzugeben (s. u. B. IV. [S. 99 ff.]). 148 Zur Begriffsgeschichte s. HWBdP Bd. 7, Stichwort: Politik, S. 1038 ff.

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5. Die demokratische Herausforderung Der nächste Einwand gegen das vorliegende Projekt bewegt sich ebenfalls auf einer staatsphilosophischen Ebene. Anders als Entscheidungen lassen sich Gründe nicht ohne Weiteres erkennen. Entscheidungen beruhen auf einer Autorität, die regelmäßig daran interessiert sein wird, sich hinreichend klar zu äußern. Gründe dagegen müssen erst erschlossen werden. Dies zu tun ist aber keine einfache Aufgabe, sondern setzt eine aufwändige Ausbildung voraus, die sich nur ganz wenige leisten können. Dieses zunächst rein erkenntnistheoretische Problem verwandelt sich aber im Zusammenhang der Machtausübung zu einem genuin politischen Problem: Das Herunterspielen des Willens zugunsten der Vernunft eignet sich bestens dazu, den „Herrschaftsanspruch einer Gerechtigkeitsexpertokratie“,149 also derjenigen, die sich eine Monopolstellung hinsichtlich der Entdeckung von Gründen zusprechen, zu legitimieren. Dies sei antidemokratische Ideologie, deren Wurzeln sich bis auf Platons Staat zurückverfolgen ließen150 und die darin bestehe, den selbsternannten Kennern Rechte über alle weiteren zuzusprechen. „Gute Gründe schaffen keine Legitimation“.151 Demgegenüber muss zunächst betont werden, dass jeder von der Mehrheit gewollte Inhalt auch der Minderheit gegenüber, die ihn eben nicht trägt, legitimiert werden muss. Idealisierungen und Romantisierungen, die den Willen der Mehrheit als Verkörperung des Willens aller ansehen,152 ist entschieden zu widersprechen. Der Wille der Mehrheit ist kein Grund gegen die Minderheit. Erst so besteht die Möglichkeit, zwischen Demokratie und Tyrannei der Mehrheit überhaupt begrifflich zu unterscheiden. Gerade im Strafrecht und im Strafverfahren, in denen man regelmäßig mit einer Minderheit zu tun hat, nämlich mit Kriminellen und Verdächtigen,153 liegt es in der Natur der Sache, dass der Wille der Mehrheit äußerst selten als Argument vorkommt.154 Pointiert: Würde man sich fragen, was die Mehrheit von der Todesstrafe hält, hätte man sie noch nicht abschaffen können.155

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Gärditz, Der Staat 49 (2010), S. 337. Platon, Der Staat, insb. 5. Buch 473D – zur Kritik insb. Popper, Open Society I, S. 138 ff. 151 Gärditz, Der Staat 49 (2010), S. 350; s. davor schon Küster, AöR 1949, S. 407 f.: „Vernunft allein bringt Gesetze nicht überzeugend hervor“. 152 Klassisch Rousseau, Du contrat social, Livre II, Chap. III, mit der berühmten Unterscheidung zwischen einer unfehlbaren volonté générale und einer bloßen volonté de tous. 153 Ferrajoli, Diritto e ragione, S. 329, der deshalb das Strafrecht als „Gesetz des Schwächeren“ bezeichnet. 154 Vgl. Greco, Verfassungskonformes oder legitimes Strafrecht, S. 25; sehr nahestehend Silva Sánchez, GA 2004, S. 684; Robles Planas, ZIS 2010, S. 362 f. 150

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Zweitens beruht der Einwand auf einer Verkennung der Perspektive, aus der wissenschaftliche Argumente entwickelt werden. Die Wissenschaft kann gerade deshalb auf den Willen weitgehend verzichten, um nach Gründen zu suchen, weil und solange sie machtlos bleibt. Sie kann nicht zwingen, und schon deshalb – wenn auch nicht nur deshalb – muss sie überzeugen können. Dass legitime Machtausübung auch auf eine mehr oder weniger direkte Zustimmung der Betroffenen angewiesen sein kann, wird dadurch nicht ausgeschlossen. Vielmehr bleibt die Ausarbeitung von Gründen eine Voraussetzung dafür, dass diese Zustimmung vernünftig erfolgen kann. 6. Die prozessstrukturelle Herausforderung a) Der letzte Einwand setzt strafprozessstrukturell an. Es wird darauf hingewiesen, dass es in der heutigen Welt vor allem zwei große Strafprozesssysteme gibt, das des kontinentaleuropäischen Inquisitionsverfahrens und das des angelsächsischen Akkusations- oder Parteiverfahrens.156 Diese Modelle seien in sich geschlossene Einheiten, so dass Erwägungen, die im Rahmen eines dieser Modelle entwickelt werden, von vornherein nur relativ zu dem jeweiligen Modell Gültigkeit beanspruchen könnten. Eine Untersuchung, die auf Deutsch geschrieben wird und im Schoße der deutschen Prozessrechtstradition entsteht, könne deshalb von vornherein sehr schwer zu universell gültigen Erkenntnissen gelangen. b) Dieser Einwand hat einen berechtigten Kern, spitzt aber die Gegensätze unangemessen zu. aa) Erstens ist nicht einmal klar, was mit der häufig quasi schlagwortartigen Verwendung des Begriffspaars gemeint ist.157 (1) Vor allem unter englischsprachigen Autoren oder unter Autoren aus Italien, Lateinamerika oder sonstigen Ländern, die sich in den letzten Jahrzehnten für das amerikanische Prozesssystem haben begeistern lassen, ist eine normativierende Begriffsbildung verbreitet, die das akkusatorische System als dasjenige versteht, nach dem der Beschuldigte ein mit Rechten ausgestattetes Prozesssubjekt sei, während das inquisitorische Verfahren im Beschuldigten ein rechtloses Objekt des Verfahrens sehe.158 Diese Begriffsbestimmung ist – wenn überhaupt – 155 „Jedes Reden von Pluralismus und Relativismus kommt dann an sein Ende, wenn ein Einzelner für seine Tat wirklich bestraft wird“ (Zaczyk, Der Staat 50 [2011], S. 297). 156 Terminologische Anmerkung: hier werden die Begriffe Parteiverfahren, adversatorisches und akkusatorisches Verfahren gleichbedeutend gebraucht (and. z. B. Armenta Deu, Sistemas, S. 41 ff.). 157 Dieselbe Klage bereits bei Mittermaier, Gesetzgebung, S. 270; Zachariä, Gebrechen, S. iv; heute beispielsweise Armenta Deu, Sistemas, S. 20. 158 So beispielsweise R. Vogler, Sistema acusatorio, S. 181 ff. (der darauf besteht, von einem adversatorischen statt einem akkusatorischen Verfahren zu sprechen) „Das adver-

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nur berechtigt, sofern sie für überwiegend rechtsgeschichtliche Zwecke eingesetzt wird, also um Verfahren zu erfassen, die es gegenwärtig wenigstens in aller Offenheit kaum mehr gibt;159 nur in einer derartigen, aus heutiger Sicht rechtsgeschichtlichen Absicht wird sie von den zitierten deutschen Autoren verwendet.160 Sie bleibt indes sogar in dieser Benutzung eine Verzeichnung; denn neuere rechtsgeschichtliche Untersuchungen haben erwiesen, wie sehr einige Spielarten des vielgescholtenen mittelalterlichen Strafverfahrens, dessen ominöses Bild durch das Wort „inquisitorisch“ unvermeidbar evoziert wird,161 bestimmte Beschuldigtenrechte, vor allem formelle Verteidigungsrechte, ernstgenommen hatten.162 Ein weiteres für uns äußerst wichtiges Beispiel ist die Großsatorische Modell geht von der Prämisse aus, dass alle Bürger, einschließlich diejenigen, die angeklagt werden, eine Straftat begangen zu haben, Rechte haben“ (S. 183); ähnlich, wenn auch komplexer ders. World View, S. 19 ff., 130. In romanischsprachigen Ländern definiert man gelegentlich das akkusatorische Verfahren, das nicht immer sauber vom Anklageprinzip unterschieden wird, als dasjenige, das ein Verteidigungsrecht kennt (Prado, Sistema acusatório, etwa S. 143; wohl auch Luzón Cuesta, Casación, S. 175; zu Recht krit. Guerrero Palomares, Principio acusatorio, S. 102). Vgl. ferner den amerikanischen Supreme Court, der in Rogers v. Richmond, einem Vorgänger der berühmten Miranda-Entscheidung, argumentierte, dass unfreiwillige Geständnisse deshalb nicht zu verwerten seien, denn „ours is an accusatorial and not an inquisitorial system“ (365 U.S. 534, 541 [1961]; das selbe Argument in einem anderen Zusammenhang bei Stevens, in: Moran v. Burbine, 475 U.S. 412, 434 [1986]; s. a. Murphy v. Waterfront Commission, 378 U.S. 52, 55 [1964]); umf. zu dieser Argumentationsform, die er als „anti-inquisitorialism“ bezeichnet, Sklansky, HarvLR 2009, S. 1642 ff. In Deutschland auch klassisch Zachariä, Gebrechen, S. 43, 53 (krit. Temme, ZdStV 4 [1847], S. 98 ff.): das Inquisitionsverfahren werde vom Prinzip der Willkür beherrscht; ähnl. Binding, Strafprozeßprinzipien, S. 192 ff.: beim Inquisitionsprozess „untersteht Jemand der Gewalt eines Gewalthabers, die zugleich Straf- und Strafverfolgungsgewalt gegen ihn untrennbar mit einander verbunden einschließt“ (S. 192), beim akkusatorischen Verfahren sei der Beschuldigte Rechtssubjekt (S. 196), die alle das gemeinrechtliche Inquisitionsverfahren zu kennzeichnen suchten. Auch einige Autoren, die mit deskriptiven zusammengesetzen Idealtypen arbeiten (u. S. 72 f.), schlagen die Brücke zum Normativen (z. B. Vormbaum, Ferrajoli u. Ubertis, wie Fn. 171). Ebenso nationalsozialistische Autoren, die dem „Parteigedanken“ den Kampf erklärt hatten, etwa Henkel, DJZ 1935, Sp. 530 ff.; Siegert, DJZ 1935, Sp. 853 f. 159 Ähnl. Aguilera Morales, Regla de exclusión, S. 75 f.: ein solcher Begriff des akkusatorischen Verfahrens bedeute nichts anderes als ein dem fair trial-Prinzip konformes Verfahren. 160 So verhält es sich bei den o. Fn. 158 Zitierten. 161 Davor warnen zu Recht Langbein, Comparative Criminal Procedure, S. 1; Nijboer, Adversarial System, S. 174; Pizzi, Trials without Truth, S. 92; Armenta Deu, Sistemas, S. 50 f.; Jimeno-Bulnes, CJICL 21 (2013), S. 427. 162 Das gilt insb. bezüglich der Carolina: Sellert, FS Scupin, S. 174 ff., 181; Paulus, FS Trusen, 285 ff., S. 303 ff. (Verteidigungsrechte), der mit ausführlichen, beeindruckenden Belegen nachzuweisen versucht, dass „jenes Inquisitionsverfahren nicht weniger Rechtsstaatlichkeit gewährleistete als unser Strafprozeß“ (S. 286); Ignor, Geschichte, insb. S. 110 ff.; A. Koch, FS Rüping, S. 395 ff.; zu den Verteidigerrechten s. a. Wach, FS Binding, S. 26 f.; (hier macht sogar die Kritik von Zachariä halt (Gebrechen, S. 144 ff.: „unverkennbares Verdienst der Theorie und Praxis des deutschen Inquisitionsprocesses“ [S. 144])); s. a. Temme, ZdStV 4 (1847), S. 104 f. Wie verdienstvoll deut-

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herzigkeit des älteren Verfahrens bei der Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten, die in vielen Ländern, vor allem in Frankreich, durch die Verfahrensreformen des späten 18. Jahrhunderts verloren ging.163 Wird die Definition aber auf die heute existierenden kontinentaleuropäischen Verfahren angewandt, wie dies unter englischsprachigen Autoren häufig geschieht, dann ist sie tendenziös und dient bestenfalls propagandistischen Zwecken.164 Man fragt sich auch, wie seriös die angebliche Anerkennung des Beschuldigten als Prozesssubjekt, das über subjektive Rechte verfügt, gemeint sein kann, wenn das wichtigste bestehende akkusatorische System nur dann funktionsfähig bleibt, wenn es ihm gelingt, über 90% der Beschuldigten zum Verzicht auf diese Rechte im Wege des plea bargaining zu verleiten.165 Häufig führen gerade als inquisitorisch gebrandmarkte Institute zu Ergebnissen, die beschuldigtenfreundlicher sind als die des angeblich liberalen akkusatorischen Verfahrens.166 sche Gesetze in dieser Hinsicht waren, wird klar, wenn man bedenkt, dass die französische Ordonnance Criminelle von 1670 (Esmein, Histoire, S. 310 ff., der bemerkt: „La défense etait admise par Carpzov avec une largeur inconnue en France“ [S. 310]), die österreichische Criminalgerichtsordnung von 1788 und das Bayerische Codex Iuris Criminalis Bavarici (Nachw. b. Gössel, ZStW 94 [1982], S. 11) dem Betroffenen keinen Verteidigerbeistand gewährten. Ob die traditionelle Lektüre des französischen Inquisitionsverfahrens nicht auch einer Revision bedarf, sei hier dahingestellt; grdl. in diesem Sinne Astaing, Ancien régime, S. 74 ff. und passim. Trusen, ZRG 105 (1988), S. 230.) behauptet sogar, dass nicht einmal die Folter ein Wesensmerkmal des Inquisitionsverfahrens sei, sondern dass ihre Herkunft im akkusatorischen Verfahren des römischen Rechts liege. 163 Siehe unten Teil 2 Kap. 1 C. IV. (S. 362 ff.), Kap. 6 B. II., V. 2. (S. 867 ff., 886); und die beeindruckenden Nachw. bei Fazy, Revision, S. 14 f., der urteilt, dass das „in vielen Staaten gegenwärtige (1899, L.G.) Konzept der Wiederaufnahme unvergleichlich schlechter ist als dasjenige, wovon die Kommentatoren der Ordonnance v. 1670 ausgingen“ (S. 17). 164 Ähnl. Armenta Deu, Sistemas, S. 20, 50 f. 165 Ebenso Frankel, UPennLR 123 (1975), S. 1040; Langbein, L&SR13 (1979), S. 261 f.: „When an accused is convicted following a jury trial, we costumarily punish him twice: once for the crime, and then more severely for ,enjoy(ing) the right to . . . trial . . . by an impartial jury . . .“; ders. HJLPP 15 (1992), S. 119 ff.; Arzt, FS Triffterer, S. 532; ders. FS Volk, S. 19 f.; Rothwax, Guilty, S. 25, 144; Pizzi, Trials without Truth, S. 72, 188; Schünemann, FS Fezer, S. 556; Stuntz, Collapse, S. 39; Sklansky, HarvLR 2009, S. 1688. Vgl. die Zahlen bei Trüg, ZStW 120 (2008), S. 342; ferner Herrmann, Der amerikanische Strafprozeß, S. 148. Sympathisanten meinen dennoch, die Hauptverhandlung mache sich bereits als bloße Möglichkeit präsent (Damaska, ZStW 90 [1978], S. 837; Duff u. a., Trial, S. 8 ff.) – was aber ein zweifelhaftes Argument ist, weil es dazu anregt, in fast heuchlerischer Manier Rechte zu gewähren, freilich unter der Bedingung, dass sie von der Mehrheit der Berechtigten nicht wahrgenommen werden (mehr über diese Problematik bei unserer Stellungnahme zum Konsensprinzip, u. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 3. [S. 261 ff.]). Wesentlich optimistischere Deutung bei Feeley, IsLR 31 (1997), S. 183 ff. 166 Eindrucksvoll Schroeder, GA 2011, S. 503, mit dem Beispiel des für inquisitorische Verfahren typischen Verbots der Klagerücknahme („Immutabilitätsprinzip“), das in Russland im Rahmen der unter akkusatorischen Vorzeichen erfolgten Reform aufgehoben wurde, obwohl die Möglichkeit einer Klagerücknahme dem Beschuldigten das

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1. Teil: Strafprozesstheorie

(2) Deskriptive Bestimmungen verfahren deshalb etwas besser, da ihnen nicht von vornherein die festgestellte Tendenz innewohnt, wissenschaftliche Begriffsbildung zum Zwecke der Propaganda zu missbrauchen. Überwiegend wird aber die Entgegensetzung nicht explizit definiert, sondern in ihrer Bedeutung schlichtweg vorausgesetzt, die deshalb eher verschwommen bleibt. Nach näherem Hinsehen scheint es drei Möglichkeiten zu geben, den Gegensatz deskriptiv zu erfassen, wobei aber nur die dritte befriedigend ist. (a) Die erste denkbare Möglichkeit bestünde darin, das zu einer bestimmten Zeit (welcher?) in England oder Amerika (oder genauer: in einem der über 50 amerikanischen Bundesstaaten bzw. im Bund) geltende Strafverfahren in seinen Zügen zu beschreiben, danach die Züge des öffentlichen Verfahrens nach der Carolina, nach der Ordonnance Criminelle von 1670167 oder nach dem Code d’Instruction Criminelle von 1808168 (warum eigentlich?169), und am Ende die Summe der Züge auf der einen und auf der anderen Seite zum Begriff des akkusatorischen und inquisitorischen Systems zu erklären. Diese Vorgehensweise, die sich komplexer, also aus mehreren Merkmalen bestehender klassifikatorischer Begriffe bedient, wird nicht zuletzt deshalb nicht vorgezogen, weil sie dazu führen würde, dass schon bei einer Änderung eines dieser Züge kein akkusatorisches bzw. inquisitorisches Verfahren mehr in der Welt existieren würde. (b) Deshalb zieht man überwiegend vor, mit komplexen Idealtypen zu arbeiten:170 Man meint, der Gegensatz akkusatorisch/inquisitorisch beziehe sich auf zwei Reihen von Zügen, die aber nicht sämtlich gegeben sein müssen, damit sich die Zuordnung zu einem der gegensätzlichen Begriffe rechtfertige, sondern die auch in quantitativ unterschiedlicher Ausprägung vorhanden sein können.171 Die Recht auf eine endgültige Erledigung der Sache durch Rechtskraft nimmt. Ein solches Prinzip kennt das englische Strafverfahren seit 1900 nicht mehr, s. House of Lords, Fox v. Star, A.C 1900, 19. In Italien plädiert Ferrajoli, Diritto e ragione, S. 581 für ein akkusatorisches System, rechnet aber das Immutabilitätsprinzip (irrevocabilità della azione penale) zu dessen Bestandteil. 167 Das Muster etwa nach Carrara, Del giudizio criminale, § 978 Fn. 1 („il più tirannico ed il più iniquo sistema di procedura penale che abbia mai funestato la umanità“); Esmein, Histoire, S. 284; Hendler, Introduccíon, S. 41; Guinchard/Buisson, Procédure pénale, Rn. 39, S. 46. 168 So das Vorbild bei Vogler, World View, S. 53 ff.; Roberts/Zuckerman, Criminal Evidence, S. 47. 169 Zu den diesbezüglichen Schwierigkeiten Nijboer, Adversarial System, S. 181, der darauf hinweist, dass die kontinentaleuropäischen Strafprozesse untereinander große Unterschiede aufweisen. 170 Ausdrücklich von Idealtypen sprechen etwa Weigend, ZStW 104 (1992), S. 489; Illuminati, Sistema acusatorio, S. 136. 171 Z. B. Ferrajoli, Diritto e ragione, S. 576; Pakes, Comparative Criminal Justice, S. 78 ff.; Quintero, Sistema acusatorio, S. 11 f.; Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 24; Ubertis, Il processo penale, S. 12 ff.; Vormbaum, Lex Emminger, S. 174 ff.; Guinchard/ Buisson, Procédure pénale, Rn. 22 ff., 32 ff.; Jimeno-Bulnes, CJICL 21 (2013), S. 426 ff. Vgl. im 19. Jahrhundert die von Zachariä, Gebrechen, S. 42 ff., 53 ff. vorge-

1. Kap.: Vorüberlegungen zur Methode

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zwei Reihen von Merkmalen lauten etwa: Unterscheidung von Ankläger und Richter/Identifizierung von Ankläger und Richter, Ausrichtung auf eine formelle Wahrheit/Ausrichtung auf die materielle Wahrheit, Mündlichkeit/Schriftlichkeit, Öffentlichkeit/Heimlichkeit, Unmittelbarkeit/Mittelbarkeit, konzentrierte Hauptverhandlung/etappenweise durchgeführtes Verfahren, Laienrichter/Berufsrichter, freie Beweiswürdigung/gesetzliche Beweislehre usw. Das Problematische an dieser sehr verbreiteten Vorgehensweise ist aber, dass sie letztlich rechtswissenschaftlich kaum ergiebig ist, und dies weder auf der normativen noch auf der deskriptiven Ebene. Denn für die Lösung normativer Fragen stellt sie als deskriptives Unterfangen, das vor allem kein präskriptives Gebot der Systemreinheit kennt, streng genommen keine Argumente zu Verfügung. Um drei Beispiele aus der Geschichte der deutschen Reformdiskussion anzuführen: Die Frage, ob die Zeugen allein durch den Vorsitzenden Richter vernommen werden sollen oder ob seinen Fragen nicht ein von den Parteien durchzuführendes sog. „Kreuz-“ oder (abgemildert) ein „Wechselverhör“ vorgeschaltet werden sollte,172 oder die Frage, ob ein Richter nicht ohne Kenntnis der Akten in die Hauptverhandlung gehen sollte,173 müssen legte „Entwickelung“ des inquisitorischen und akkusatorischen Prinzips (zu ihm krit. Binding, Strafprozeßprinzipien, S. 197 Fn. 59; Schöneborn, Wiederaufnahmeproblematik, S. 65 f.); Esmein, Histoire, S. 315, der „Untersuchung, gesetzliche Beweise, Folter und Geheimnis“ als „Hauptzüge“ des Inquisitionsprozesses ansah; und Carrara, Del giudizio penale, § 843 (S. 92), § 848 (S. 97). Für die Kritiker s. die Nachw. u. Fn. 192, 193. 172 Dafür etwa v. Stemann, GA 8 (1860), S. 47 f.; Gneist, Vier Fragen, S. 111 ff.; Goldschmidt, DJZ 1928, Sp. 1141; Alsberg, DJZ 1928, Sp. 1602; Arbeitskreis AE, Alternativ-Entwurf Reform der Hauptverhandlung, S. 70 f.; Roxin, FS Jauch, S. 199; ders. Reform der Hauptverhandlung, S. 59 f. (and. ders. DRiZ 1969, S. 388); Schöch, Reform der Hauptverhandlung, S. 65 ff.; ders. Struktur der Haupverhandlung, S. 105 f.; Trechsel, SchwJZ 1981, S. 323; Moos, Österreichisches Strafprozeßrecht, S. 80; sympathisierend Herrmann, ZStW 80 (1968), S. 800 ff. (m. Nachw. der Vertreter aus dem 19. Jahrhundert S. 775 ff.); Jescheck, JZ 1970, S. 205. 173 Gegen Aktenkenntnis im 19. Jahrhundert Zachariä, Gebrechen, S. 242 f.; im frühen 20. Jahrhundert Oetker, GS 65 (1904), S. 325 ff., der sich für einen Grundsatz der „Unabhängigkeit der Urteilsfindung von der Verhandlungsleitung“ ausspricht (S. 325); Goldschmidt, Reform, S. 9, 26; ders. JW 1919, S. 68; zur Zeit des Nationalsozialismus war man selbstverständlich gegen jede Beschränkung von Richtermacht, s. Exner, ZStW 54 (1935), S. 9 („übles Versteckspiel“); Siegert, ZStW 54 (1935), S. 29; in der Nachkriegszeit sprach sich insb. Eb. Schmidt, DRiZ 1959, S. 21; ders. NJW 1963, S. 1082 ff. für die Einführung eines sog. Verhandlungsleiters aus, also eines Richters, der Aktenkenntnis besitzt, aber nicht in der Sache entscheidet (zust. Grünhut, FS v. Weber, S. 361 f.; Roxin, DRiZ 1969, S. 388; abl. Jescheck, JZ 1970, S. 205; Herrmann, ZStW 80 [1968], S. 812); gegen die Aktenkenntnis die Vertreter des akkusatorischen Verfahrens v. Stackelberg, GS Cüppers, S. 132; I. Müller, Rechtsstaat und Strafverfahren, S. 62; und gegenwärtig insb. Schünemann, der von einer unbewussten Beeinflussung des Richters durch die Lektüre der Akte spricht, sog. „Perseveranz-“ und „Schulterschlusseffekt“, etwa ders. GA 1978, S. 171 ff. (noch ohne den Vorschlag, dem Richter Aktenkenntnis vorzuenthalten); ders. Reform der Hauptverhandlung, S. 1145 ff.; ders. FS Pfeiffer, S. 477 f.; ders. StV 2000, S. 163 f.; ders. ZStW 114 (2002), S. 51 ff.; ders.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

unabhängig davon diskutiert und gelöst werden, ob das eigene Prozesssystem eher als akkusatorisch oder als inquisitorisch eingestuft wird. Denn die maßgeblichen normativen Gesichtspunkte bestehen hier in der Wahrheitsfindung, Unbefangenheit und dergleichen, die für alle einen Legitimitätsanspruch erhebenden Prozesssysteme verbindlich sind.174 Auch die aktuellste Frage, ob Prozessabsprachen legitimiert werden können, muss richtigerweise unabhängig von der Einrahmung in ein inquisitorisches oder akkusatorisches System beantwortet werden.175 Denn der Rückgriff auf eine deskriptive Selbstbeschreibung bei der Lösung normativer Fragen ist an sich nichts anderes als die Behauptung, „wir sind so, wie wir sind und wollen weiterhin so bleiben“.176 Die Einkleidung bestimmter änderungsbedürftiger Einzelregelungen als Manifestationen eines ihnen angeblich zugrunde liegenden Prozesssystems verleitet häufig nur dazu, dass man diese Regelungen für naturgegeben und unveränderlich hält. Die Verwendung von Typusbegriffen ist sogar was ihren deskriptiven Ertrag anbelangt von begrenztem Nutzen. Denn es ist zunächst sehr unklar, welche unter den zahlreichen empirisch vorhandenen Aspekten zu Merkmalen des Typus erhoben, also dem „Wesen“ eines Prozesssystems zugerechnet werden sollen, und welche dagegen nur kontingent neben historisch vorhandenen Instanzen solcher Prozesssysteme auftreten. Bezüglich des Akkusationsverfahrens sei hier das Verbot der Zeugen vom Hörensagen177 oder die in England zugelassene Möglichkeit, FS Baumann, S. 377; vorsichtig zust. Herrmann, Der amerikanische Strafprozeß, S. 156. Für Aktenkenntnis dagegen Binding, Drei Grundfragen, S. 80 f.; Stock, FS Rittler, S. 316, 318; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 109; Frankel, UPennLR 123 (1975), S. 1042 f., 1053; Roxin, Reform der Hauptverhandlung, S. 61; ders. FS Schmidt-Leichner, S. 153 f.; Figueiredo Dias, Direito processual penal, S. 278, u. a. aber mit einem Verweis auf die Tradition; Schild, ZStW 94 (1982), S. 44; Pizzi, Trials without Truth, S. 141 f.; Meyer-Goßner, ZRP 2000, S. 347; Gössel, FS Meyer-Goßner, S. 190 ff., 202 ff. 174 Näher u. Kap. 2 C. III. 3. (S. 168 ff.) (materielle Wahrheit), VI. 2. d) cc) (S. 257) (Unbefangenheit). 175 And. etwa Trüg, ZStW 120 (2008), S. 367 ff. und die u. Fn. 214 zitierten Autoren. Deshalb können auch Vertreter eines akkusatorischen Systems die Prozessabsprachen ablehnen, beispielsweise Ferrajoli, Diritto e ragione, S. 580 f. Das Bedenkliche an den Absprachen liegt nämlich woanders, hierzu näher Teil 1 Kap. 2 C. VI. 3. (insb. S. 266 ff.). 176 So begründeten die von der englischen Wissenschaftlerin Hodgson interviewten französischen Strafverfolgungsbeamten das strenge Regime der polizeilichen Festnahme (sog. garde à vue), das bis 2011 keine Belehrung über das Schweigerecht und den Verteidigerbeistand erst ab der 20. Stunde vorsah, mit dem Satz „our system is not your system“ (Hodgson, French Criminal Justice, S. 138). Dem EGMR genügten derartige Beteuerungen zu Recht nicht, s. EGMR Brusco v. France, Beschw. Nr. 1466/07, v. 14.10.2010, Rn. 45, 54. 177 Jörg/Field/Prants, Inquisitorial and Adversarial Systems, S. 52; dieses Verbot wurde in Italien unter der Flagge der akkusatorischen Wende eingeführt (Art. 195 Abs. 4 itStPO), hierzu Ferrua, Il ,giusto processo‘, S. 107 m.w. Nachw., steht aber in der Welt des Common Law unter zunehmender Kritik (z. B. McEwan, Trial, S. 68) und

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Schlüsse aus dem Schweigen des Beschuldigten zu ziehen, erwähnt.178 Bei Inquisitionssystemen denke man an die verbreitete Pflichtverteidigung gegen den Willen eines selbstverteidigungsfähigen Angeklagten179 oder an die Figur des Untersuchungsrichters.180 Welche dieser Merkmale zum Typus des einen Systems gehören, ist zum Teil sogar eine Sache willkürlicher Festlegung. Dies führt zur zweiten Schwierigkeit: Aus Typusbegriffen lassen sich nach einer wissenschaftstheoretisch aufgeklärten Auffassung keine kausalen Erklärungen ableiten. Typusbegriffe sind als Zusammenfassungen von Merkmalen nur eine Beschreibung (und teilweise sogar eine Festlegung) und keine Phänomene, die andere Phänomene hervorrufen können und die deshalb als Ursache letzterer Phänomene anwurde in England inzwischen gekippt, Criminal Justice Act 2003, Sections 114–136; hierzu Birch, Criminal Law Review 2004, S. 556 ff.; Roberts/Zuckermann, Criminal Evidence, S. 379 ff. Interessanterweise kannten gerade die Carolina und die Bambergensis ein solches Verbot, Art. 65 S. 2 CCC, 77 S. 2 CCB (s. Eb. Schmidt, FS Siber, S. 179). 178 Sect. 34 Criminal Justice and Public Order Act 1994. Ausf. Rau, Schweigen, S. 277 ff.; ferner B. Huber, Schweigen, S. 138 ff.; Ashworth, Human Rights, S. 23 ff.; McEwan, Trial, S. 62 (zust.); Pizzi, Trials without Truth, S. 59 (ebenfalls zust., mit m. E. beachtlichen Gründen); vom EGMR ist sie nicht beanstandet worden, näher m. Nachw. Ashworth, Human Rights, S. 25 f.; Rau, Schweigen, S. 299 ff. Dagegen will Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 23 m.w. Nachw. im Schweigerecht gerade ein Merkmal akkusatorischer Verfahren sehen. 179 Bspw. in Deutschland § 140 StPO (bedenklich insb. bei der Nr. 8, also dem Fall des Ausschlusses des bisherigen Verteidigers, die zu einer Art richterlich beaufsichtigten Verteidigung führen kann, zu Recht krit. Hassemer, KritV 1990, S. 265; allg. Kritik bei Müller, StV 1981, S. 570 ff.); die aber auch in England und Wales seit dem 1999 Youth Justice and Criminal Evidence Act, section 38 (3), (4) vorgesehen ist, für den Fall, dass der wegen einer Sexualstraftat Beschuldigte, der keinen Verteidiger hat, seinen Belastungszeugen befragen will, was ihm gem. section 34 nicht in eigener Person gestattet ist (hierzu McEwan, Trial, S. 56 f.). 180 Die sich in den inquisitorisch genannten Systemen in einem Rückzug befindet, vgl. allgemein Weigend, ZStW 104 (1992), S. 490 f.; Jung, FS Miklau, S. 229 ff.: In Deutschland wurde sie 1974–5 abgeschafft, u. a. mit dem Argument, es gehe bei ihr um ein Relikt des Inquisitionsverfahrens (BT-Drs. 7/551, S. 38 f.); Italien hat sie im Zuge der von der neuen Strafprozessordnung verkörpertern akkusatorischen Wende 1989 abgeschafft, Maiwald/Ippoliti, JZ 1989, S. 877; Österreich hat sie auch neuerlich abgeschafft, s. Jung, FS Miklau, S. 234 f.; Schmoller, GA 2009, S. 505 ff.; zu Spanien, das sie dieses Jahr abgeschafft hat, Jimeno-Bulnes, CJICL 21 (2013), S. 438 f. In Frankreich herrscht Streit, s. Danet, Juge d’instruction, S. 281 ff.; Hodgson, French Criminal Justice, S. 62, die nicht zu Unrecht vor einer selektiven, staatsmachterweiternden Hinwendung zum akkusatorischen System warnt und die den Untersuchungsrichter als Gewährleistung einer unabhängigen Ermittlung preist (S. 71); Guinchard/Buisson, Procédure pénale, S. 186 ff. m. ausf. N.; ebenso in Spanien, näher Montero Aroca, Proceso penal y libertad, S. 145 ff.; Bachmeier Winter, Acusatorio versus inquisitivo, S. 25 ff. (beide mit nachdrücklicher und sehr beachtlicher Verteidigung der Figur). Die Figur billigend Gneist, Vier Fragen, S. 73 ff.; Binding, Strafprozeßprinzipien, S. 200; ablehnend Stenglein, GS 62 (1903), S. 273; Goldschmidt, JW 1920, S. 230 f.; Schönke, SchwZStR 62 (1947), S. 85 („Rest des Inquisitionsprozesses“); Kohlhaas, ZRP 1971, S. 32 ff. („Überbleibsel des Inquisitionsprozesses“, S. 33); Binder, Justicia penal, S. 221 ff.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

geführt werden können.181 Konkret: Man kann nicht sagen, das französische Strafverfahren kennt einen Untersuchungsrichter, weil es ein inquisitorisches Verfahren ist, denn das ist bestenfalls eine Tautologie: Wenn inquisitorische Verfahren typischerweise solche sind, die einen Untersuchungsrichter kennen, dann ist die Existenz dieses Merkmals ein inquisitorischer Zug des französischen Systems. Der inquisitorische Charakter ist weder Ursache noch Folge des Untersuchungsrichters, sondern mit ihm teilweise identisch, und dies per definitionem. Drittens verbleiben solche Begriffe gerade wegen der Fülle an Merkmalen, die sie aufzählen, notwendig verschwommen, so dass sie wenig mehr als eine grobe Orientierungshilfe aus der Vogelperspektive anbieten.182 (c) Angesichts dieser Schwierigkeiten überrascht es nicht, dass mehrere Autoren sich gegen die Verwendung des Begriffspaars in der wissenschaftlichen Diskussion aussprechen.183 Trotzdem bin ich der Meinung, dass die Unterscheidung ertragreich sein kann. Man muss aber erstens auf Idealtypen verzichten, da sie sogar auf der deskriptiven Ebene von zweifelhaftem Wert sind, und sich klassifikatorischer Begriffe bedienen; und damit der klassifikatorische Begriff überhaupt einen Anwendungsbereich findet, wird man auf die Sättigung durch eine Vielzahl von Merkmalen verzichten müssen und sich mit einer geringen Zahl zufriedengeben müssen, die als maßgeblich zu gelten hat. Die Benutzung einfacher bzw. atomarer, also aus einem einzigen Merkmal bestehender klassifikatorischer Begriffe des inquisitorischen und akkusatorischen Systems erscheint demnach sinnvoll. Die genaue Bestimmung dieser Begriffe soll aber erst u. Teil 2 Kap. 2 B. III. 3., 4. (S. 383 ff., 398 ff.) bei der Klärung des für den Tatbegriff grundlegenden Konzepts des Anklageprinzips erfolgen. bb) Zusätzlich zu dieser begrifflichen Schwierigkeit muss angemerkt werden, dass es keine zwei völlig voneinander geschiedenen Strafverfahrensmodelle gibt – weder in der Wirklichkeit noch in der Theorie. 181 Die wissenschaftstheoretischen Details müssen hier offen bleiben; näher z. B. Watkins, The British Journal for the Philosophy of Science 3 (1952), S. 22 ff.; wohl nur scheinbar and. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 10 f. (der sich der zusätzlichen Prämisse bedient, dass Idealtypen als Ideen das Verhalten der Einzelnen leiten, so dass sie dieses Verhalten auch erklären können). 182 Etwas besser verfährt der Versuch von Damaska, begriffsnotwendige essentialia von regelmäßig begleitenden naturalia der beiden Systeme zu unterscheiden (Damaska, UPennLR 121 (1973), S. 564). Die erwähnten normativen und deskriptiven Grenzen ergeben sich aber genauso. 183 Nijboer, Adversarial System, S. 171, 173, 178, 184; Pizzi, Trials without Truth, S. 94; Eser, in Lelieur, Diskussionsbericht, S. 63 ff.; H. Jung, Truth, S. 152 f.; Binder, Reforma de la justicia criminal, S. 58; Montero Aroca, Principio acusatorio, S. 21 ff. (mit eher terminologischer Kritik); wohl auch M. Salas, Kritik, S. 144; Dubber, Comparative Criminal Law, S. 1308; Montero Aroca, Principio acusatorio, S. 21 ff. (mit eher terminologischer Kritik); wohl auch Ubertis, Il processo penale, S. 17; zurückhaltend Damaska, ZStW 90 (1978), S. 831; Hörnle, ZStW 117 (2005), S. 805. Problembewusst auch Ambos, Jura 2008, S. 592 ff.; Chase, Law, Culture, Ritual, S. 54; D. Salas, Du procés pénal, S. 36 ff.

1. Kap.: Vorüberlegungen zur Methode

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(1) Die Wirklichkeit der einzelnen vorhandenen Strafprozesssysteme, die traditionell dem einen oder dem anderen System zugewiesen werden, kennt so gut wie ausschließlich gemischte Gebilde, in denen verschiedene Züge des akkusatorischen und inquisitorischen Modells miteinander kombiniert werden. Dass die deutsche StPO seit der Reform des 19. Jahrhunderts eine solche Mischung darstellt, kann kaum bestritten werden;184 aber auch andere Verfahrensordnungen bekunden eine zunehmende Aufgeschlossenheit gegenüber aus anderen Systemen stammenden Instituten.185 Schon ein flüchtiger Blick auf die geltenden Verfahrensrechte verschiedener Länder belegt, dass Institute, die man allgemein mit einem Modell verbindet, auch in Ländern, die sich zum gegensätzlichen Modell bekennen, gefunden werden können. So ist die Möglichkeit eines Rechtsmittels gegen einen Freispruch als Merkmal des Inquisitionsverfahrens verstanden worden,186 so etwas gibt es aber in England.187 Umgekehrt zeigen sich kontinentaleuropäische Rechtsordnungen zunehmend aufgeschlossen gegenüber Verfahrensabsprachen, die von vielen als Institute des akkusatorischen Verfahrens angesehen werden.188 Auch 184 Gneist, Vier Fragen, S. 5 ff.: „halber Anklageproceß“; zust. Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 134; Binding, Strafprozeßprinzipien, S. 201: RStPO als eine „häßliche Bastardform“; Goldschmidt nannte die RStPO ein „Mischgebilde“ (Reform, S. 4) bzw. einen „halben Inquisitionsprozeß“ (DJZ 1928, Sp. 1137); heute etwa Schünemann, GA 1978, S. 162; H. Zimmermann, Anklageerhebung, S. 84: „modifizierter Inquisitionsprozeß“; Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 33: „Inquisitionsprozeß mit eingeschobener formeller Akkusation“; Jung, FS Lüke, S. 335. 185 Weitgehende Konvergenzen zwischen beiden Prozesssystemen stellen u. a. Jörg/ Field/Prants, Inquisitorial and Adversarial Systems, S. 45 ff.; Eser, FS Kaiser, S. 1528; Jung, FS Waltos, S. 32; Hendler, Introducción, S. 43; van Koppen/Penrod, Adversarial or Inquisitorial, S. 4; Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 99 ff., 194 ff., 473 ff.; Weigend, Wahrheitssuche, S. 760 ff.; Armenta Deu, Sistemas, S. 34, 54 ff.; Jimeno-Bulnes, CJICL 21 (2013), S. 411; fest. Vgl. noch Frankel, UPennLR 123 (1975), S. 1053; und Herrmann, ZStW 80 (1968), S. 781, der das angelsächsische Verfahren wegen der richterlichen Interventionsmöglichkeit als „gemäßigtes Parteiverfahren“ charakterisiert. 186 Z. B. Jörg/Field/Prants, Inquisitorial and Adversarial Systems, S. 50; Armenta Deu, Lecciones, S. 30, 56. Genau umgekehrt sieht Zachariä, Gebrechen, S. 51, 60, im Instanzenzug ein Kennzeichen des akkusatorischen Systems. 187 Vgl. Criminal Justice Act 2003, Clause 57 ff.; näher hierzu u. Teil 2 Kap. 6 D. V., E. II. (S. 848 ff.). 188 Nachw. bei Jung, GA 2002, S. 78; Weigend, ZStW 104 (1992), S. 493 ff.; ders. Bargain, S. 211 f.; Hodgson, French Criminal Justice, S. 59 ff.; Rosenau, FS Puppe, S. 1621 f.; Langer, Globalization of Plea Bargaining, S. 50 ff.; Jimeno-Bulnes, CJICL 21 (2013), S. 452 f.; zur Lage in Italien s. Maiwald/Ippoliti, JZ 1989, S. 876 f.; zu Frankreich Jung/Nitschmann, ZStW 116 (2004), S. 785 ff.; zu Spanien González Navarro, ZStW 123 (2001), S. 163 ff.; zur Schweiz Wohlers, StV 2011, S. 569 ff.; zu Bosnien und Herzegowina Schwarz/Degen, ZStW 117 (2005), S. 467 f.; zu anderen Staaten die in Thaman (Hrsg.), World Plea Bargaining gesammelten Aufsätze. Von einer Amerikanisierung sprechen Arzt, FS Trifferer, S. 527 ff.; ders. ZStW 111 (1999), S. 768 ff.; Malek, StV 2011, S. 566; Jimeno-Bulnes, CJICL 21 (2013), S. 449 f. Ob die Einordung als Institut eines akkusatorischen Systems zutreffend ist, lassen wir offen; nicht ohne Ironie ist aber die Tatsache, dass gerade die französische Ordonnance Criminelle von

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1. Teil: Strafprozesstheorie

Länder, die in den letzten Jahrzehnten von sich behaupteten, sich dem akkusatorischen System zugewandt zu haben, haben in erster Linie den Unmittelbarkeitsund Mündlichkeitsgrundsatz eingeführt bzw. die bisher ungehinderte Übertragbarkeit von Beweisen aus dem Ermittlungsverfahren in das Hauptverfahren erschwert,189 so dass es in dieser Hinsicht kaum Unterschiede zu Systemen wie dem deutschen gibt, das als reformiertes Inquisitions- bzw. als Mischsystem charakterisiert wird.190 Ebenso verhält es sich bei der Diskussion de lege ferenda: In der früher im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses stehenden Debatte über die Reform der Hauptverhandlung in Deutschland wurde die Einführung der zweigeteilten Hauptverhandlung und des Kreuzverhörs vorgeschlagen, die beide für die als akkusatorisch eingeordneten Prozesssysteme typisch sind.191 Die Diskussion entfaltete sich aber nur teilweise unter diesem Aspekt;192 im Vor1670, die nach Ansicht vieler den Prototyp des inquisitorischen Verfahrens darstellt, eine Vorschrift enthielt, die nach dem Urteil von Esmein, Histoire, S. 275 dem guilty plea nahe kam. Man denke auch an die bis 1979 geltende Vorschrift des § 245 StPO a. F., die es den Parteien gestattete, präsente Zeugen und Sachverständige durch Anträge, die nur unter engeren Voraussetzungen als denen des § 244 Abs. 3, 4 StPO abgelehnt werden durften (nämlich nur bei Unzulässigkeit der Beweiserhebung oder beim Zweck der Prozessverschleppung), vernehmen zu lassen. Die Regelung wurde als „ursprüngliches Stück Parteiprozeß in unserem reformierten Inquisitionsprozeß“ bezeichnet (so Köhler, Inquisitionsprinzip, S. 12). 189 Vgl. insb. Art. 111 IV itVerf, unter dem Stichwort des „principio del contraddittorio nella formazione della prova“; s. a. Ferrua, Il ,giusto processo‘, S. 94 ff.; Illuminati, Sistema acusatorio, S. 135 ff., der als akkusatorisch ein Verfahren versteht, bei dem nur die in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise als Urteilsgrundlage benutzt werden können (S. 150 ff.); zur Geschichte dieser Entwicklung Maiwald/Ippoliti, JZ 1989, S. 874 ff.; Marx/Grilli, GA 1990, S. 496 ff.; Stile, ZStW 104 (1992), S. 429 ff.; Honert, ZStW 106 (1994), S. 427 ff.; Ferrua, Il ,giusto processo‘, S. 1 ff. In Mexiko wurde 2008 ein neuer Art. 20 in die Verfassung eingeführt, der bestimmt: „Das Strafverfahren soll akkusatorisch und mündlich sein. Es soll von den Prinzipien der Öffentlichkeit, Kontradiktion („contradición“, die in Deutschland dem rechtlichen Gehör entspricht, L.G.), Konzentration, Kontinuität und Unmittelbarkeit geleitet werden“ (zu dieser Vorschrift Quintero, Sistema acusatorio, S. 15 ff., auch mit Erläuterungen zu den einzelnen Prinzipien). Für Kolumbien siehe die Entscheidung der Corte Constitucional, Sentencia C-591/2005. In Brasilien gibt es seit einer „akkusatorisch“ genannten Reform von 2008 insb. das Verbot, die Überzeugung des Gerichts allein (!) auf die Ermittlungsakten zu basieren (Art. 155 brasStPO, hierzu Nucci, Código de processo penal, Art. 155 Rn. 12). Ein Überblick über die Reformtendenzen in Lateinamerika in Langer, AmJCompL 55 (2007), S. 617 ff. 190 Zu diesem Begriff differenzierend Ubertis, Il processo penale, S. 15 f. 191 Nachw. zur Zweiteilung der Hauptverhandlung u. Fn. 696; zum Kreuz- bzw. Wechselverhör o. Fn. 172. 192 Die frühere deutsche Reformdiskussion stellte dagegen sofort die Frage der Prozessstruktur in den Mittelpunkt: so die Anhänger des inquisitorischen Verfahrens Exner, ZStW 54 (1935), S. 9 („Auswuchs des Parteiprozesses“); Stock, FS Rittler, S. 324; Grünhut, FS v. Weber, S. 358 f.; Eb. Schmidt, NJW 1963, S. 1088; ders. MDR 1967, S. 877 ff. (ausf.), 881; und die für das akkusatorische Verfahren eintretenden Goldschmidt, Reform, S. 16, 27 f.; ders. JW 1919, S. 68; v. Stackelberg, GS Cüppers, S. 132. Das Kreuzverhör wird unter dieser Fahne auch in Staaten vertreten, die eine Kehrtwendung zum amerikanischen Verfahren machen, wie Italien, Art. 498 itStPO, Portugal,

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dergrund standen vielmehr andere Gesichtspunkte, die von der akkusatorischen oder inquisitorischen Orientierung des Verfahrens unabhängig sind.193 (2) Ferner kennt nicht einmal die Theorie unüberbrückbare Unterschiede. Dies ist schon bei der Zielsetzung beider Modelle der Fall. Zwar wird noch häufig die „formelle“ Wahrheit des akkusatorischen Systems der „materiellen“ Wahrheit des inquisitorischen Systems gegenüber gestellt,194 und gewichtige Stimmen ergründen sogar tiefergehende, quasi-weltanschauliche Unterschiede zwischen beiden Prozesssystemen.195 Auch dann, wenn diese Behauptungen als deskriptiv geArt. 348 IV portStPO (näher Figueiredo Dias, ZStW 104 [1992], S. 469 f.) und Brasilien, Art. 212 brasStPO (eine Vorschrift, der die Praxis den Gehorsam schlicht verweigert hat, zu Recht krit. Streck, FS Prado, S. 545 ff.; Streck/Oliveira, Garantias, S. 54 m.w. Nachw.). 193 Zur Kritik an der zweigeteilten Hauptverhandlung etwa Drucker, MittIKV n. F. 4 (1930), S. 138 f.; Heinitz, FS Lübtow, S. 837 ff.; Figueiredo Dias, Direito processual penal, S. 285 ff.; Volk, Wahrheit, S. 22 ff.; skeptisch Exner, MittIKV n. F. 4 (1930), S. 174; distanziert zurückblickend Schünemann, ZStW 114 (2002), S. 51. Krit. zum Kreuzverhör, meistens mit der Behauptung, es sei ein untaugliches Mittel zur Auffindung der Wahrheit, Drucker, MittIKV n. F. 4 (1930), S. 142 ff.; Schönke, SchwZStR 62 (1947), S. 90 f.; J. Frank, Courts on Trial, S. 79 ff.; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 109; Frankel, UPennLR 123 (1975), S. 1053; Schünemann, GA 1978, S. 164 ff.; ders. StV 2000, S. 164; Gerber, ArizStLJ 19 (1987), S. 14 ff.; Langbein, Adversary Trial, S. 270 (Vertrauen auf das Kreuzverhör als „article of faith“); Armenta Deu, Sistemas, S. 94; Taruffo, Verità, S. 156 ff. Der Kritik ist zuzustimmen, wenigstens unter Berücksichtigung der tatsächlichen Handhabung des Instituts, das nicht von Belangen der Wahrheitsfindung geleitet wird; siehe die Sammlung der in den Handbüchern enthaltenen Maximen des Kreuzverhörs bei J. Frank, Courts on Trial, S. 82 ff., und R. Park, Adversarial Influences, S. 132 ff., die die Manipulativtechniken, Suggestivfragen und dergleichen zum Zwecke der völligen Kontrolle des Zeugen als zentral herausarbeiten; und die u. Kap. 2 C. VI. 2. d) bb) (S. 248 f.) zitierten Behauptungen des amerikanischen Anwalts und Professors Dershowitz; s. a. die Erfahrungsberichte von Gerber, ArizStLJ 19 (1987), S. 14 ff., auch m. N. Die Verpflichtung zur Wahrheit (niedergelegt sogar in Rule 611 (a) der amerikanischen Federal Rules of Evidence) bleibt ein Lippenbekenntnis. 194 Etwa Spendel, JuS 1964, S. 467; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 423; Honert, ZStW 106 (1994), S. 444 f.; Hörnle, ZStW 117 (2005), S. 823; Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 68; ders. ZStW 120 (2008), S. 347 f.; Vogler, Sistema acusatorio, S. 185; Grande, Dances of Criminal Justice, S. 146 ff. Ähnl. Grünhut, FS v. Weber, S. 358: im deutschen Strafverfahren gehe es um die materielle Wahrheit, im englischen um die Frage, ob die Anklage, wie sie vorgebracht ist, begründet ist; Blau, Jura 1993, S. 516. 195 So bekanntlich Damaska, Faces of Justice, S. 11, 71 ff., 88 ff. der den angelsächsischen Prozess idealtypisch als der Konfliktlösung verpflichtet sieht und in den politischen Zusammenhang eines „reactive state“ einordnet, im Gegensatz zu dem kontinentaleuropäischen Prozess, der der Durchsetzung der Staatspolitik dienen solle, also einem „activist state“ entspreche; zust. etwa Jung, Einführung, S. 2; Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 14 ff. (m.w. Nachw.); Crombag, Adversarial or Inquisitorial, S. 22; Pakes, Comparative Criminal Justice, S. 80 f.; Chase, Law, Culture, Ritual, S. 66 ff.; Hörnle, ZStW 117 (2005), S. 805; Schwarz/Degen, ZStW 117 (2005), S. 461 f. – Im 19. Jahrhundert Carrara, Del giudizio penale, § 851 [S. 102]: „Das gemischte Strafverfahren befindet sich zwischen dem rein akkusatorischen und dem inquisitorischen Verfahren, wie auch die konstitutionelle Monarchie zwischen der Republik und dem Despotismus“; und im frühen 20. Jahrhundert Goldschmidt, Reform, S. 4: „Wie der absoluten Monarchie der

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1. Teil: Strafprozesstheorie

meinte Feststellungen nicht völlig neben der Sache liegen dürften, erweisen sie sich auf einer normativen Ebene als unberechtigt. Denn beiden Systemen, wenn sie nicht von vornherein auf einen Legitimitätsanspruch verzichten wollen, muss es darum gehen, den Schuldigen zu überführen und den Unschuldigen zu schonen. Wie u. Teil 1 Kap. 2 C. III. 3. (S. 168 ff., insb. S. 183) näher dargelegt werden soll, kann kein Strafverfahren ernsthaft auf die Wahrheit als Zielsetzung verzichten.196 Die fehlende Übereinstimmung zwischen beiden Systemen darf also nicht die Ebene der Ziele, sondern nur die der Mittel betreffen.197 In diesem von Beamten geleitete Inquisitionsprozeß, der konstitutionellen Monarchie, so wie sie in Deutschland bis zum Kriege bestand, das Mischgebilde entspricht, welches in unserer StPO zur Geltung gekommen ist, so entspricht der Demokratie ein folgerichtig durchgeführter Parteiprozeß vor einem Volksgericht“ (krit. Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 134); heute Figueiredo Dias, Direito processual penal, S. 60 ff.: Dem absolutistischen Staat entspreche das inquisitorische, dem liberalen Rechtsstaat das akkusatorische, dem sozialen Rechtsstaat das akkusatorische Verfahren mit Untersuchungsprinzip; Tiedemann, ZRP 1992, S. 108: das akkusatorische System sei eher liberal, das inquisitorische dagegen eher sozial (ähnl. ders. JZ 2000, S. 144); zust. Eser, FS Tiedemann, S. 1457; ferner Ubertis, Il processo penale, S. 14; Jung, FS Waltos, S. 32: inquisitorisches Modell stehe für eine „eher autoritäre und paternalistische Methode der Wahrheitsfindung“; Hodgson, Trial, S. 223 ff.; und neuerdings vor allem Haas, Strafbegriff, S. 102 ff. – Ebenso die nationalsozialistische Kritik am „Parteiprozess“, etwa Exner, ZStW 54 (1935), S. 4 ff.; Henkel, ZStW 54 (1935), S. 35, 44; ders. DJZ 1935, Sp. 530 f.; ders. DStR 1935, S. 131 ff.; Siegert, ZStW 54 (1935), S. 19; Stock, Zur Strafprozesserneuerung, S. 8, 12 f.; Henkel, ZStW 54 (1935), S. 35, 44; ders. DJZ 1935, Sp. 530 f.; ders. DStR 1935, S. 131 ff. – Ferner Thibaut/Walker, CalLRev 66 (1978), S. 548 ff.: dem inquisitorischen Verfahren gehe es um Wahrheit, dem akkusatorischen um distributive Gerechtigkeit; v. Stackelberg, GS Cüppers, S. 128: Das inquisitorische Verfahren strebe nach Wahrheit, das akkusatorische nach der Sicherstellung, dass kein Unschuldiger verurteilt werde; Jimeno-Bulnes, CJICL 21 (2013), S. 434: Im inquisitorischen Verfahren (das er lieber als „Untersuchungsverfahren“, investigative procedure bezeichnen möchte, S. 429) gehe es um materielle Wahrheit, im akkusatorischen (das er „adversatorisch“ nennt, S. 431) um fairness. 196 Bereits Zachariä, Gebrechen, S. 26, 40 f.; Goltdammer, GA 1858, S. 516; heutzutage, allein unter Autoren, die aus einem akkusatorischen System stammen oder die einem derartigen System sympathisch gegenüberstehen: Herrmann, ZStW 80 (1968), S. 780, 810; ders. Reform, S. 158 ff.; Cramer, FS Rebmann, S. 156; Rothwax, Guilty, S. 32; Pizzi, Trials without Truth, S. 24; und aus der amerikanischen Rspr.: „The basic purpose of a trial is the determination of truth . . .“ (U.S. Supreme Court, Tehan v. Shott, 382 U.S. 406, 416 [1966]); „. . . the very nature of a trial as a search for truth . . .“ (U.S. Supreme Court, Nix v. Whiteside, 374 U.S. 157, 158 [1986]); s. a. Art. 102 der amerikanischen Federal Rules of Evidence, der „the end of ascertaining the truth“ unter den Zwecken der rules of evidence benennt. 197 Ebenso – manchmal auch eher als Seins- und nicht, wie hier, als Sollensbehauptung – Kohlrausch, DJZ 1920, Sp. 138; Goldschmidt, Problemas jurídicos y políticos, S. 779 f.; Stock, FS Rittler, S. 308 f.; Herrmann, Reform, S. 158 ff.; ders. Der amerikanische Strafprozeß, S. 155 f.; Jackson, ModLR 51 (1988), S. 556; ders. CardLR 10 (1988), S. 502; Vanni, Enc. Dir. XL (1991), S. 158; Jörg/Field/Brants, Inquisitorial and Adversarial Systems, S. 42; Eser, IsLR 31 (1997), S. 429; Fraser, BuffCLR 3 (2000), S. 805, 818, 823 f.; Hauer, Geständnis, S. 240; Schünemann, FS Fezer, S. 559; Armenta Deu, Sistemas, S. 89 Fn. 114; Rosenau, FS Puppe, S. 1618; Weigend, FS Rissing-van Saan, S. 755.

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Sinne erblicken zahlreiche Vertreter des akkusatorischen Systems in der kontradiktorischen Beweisaufnahme vor einem weitgehend unbeteiligten Gericht die beste Gewähr für die Erreichung der Wahrheit,198 was von Sympathisanten des inquisitorischen Systems bestritten wird.199 Nach dieser Deutung geht es eher um die Wahrnehmung eines durch Ungewissheit bedingten Beurteilungsspielraums (s. o. I. [S. 49 f.]). Aber selbst was diese Mittel anbelangt, muss die Entgegensetzung relativiert werden: So ist weder der Staatsanwalt im akkusatorischen Verfahren Partei im vollen Sinne des Wortes, da er unter einer Objektivitäts- und Unparteilichkeitspflicht handelt,200 noch ist das Gericht ein rein passiv beobachtendes Schiedsgericht.201

198 Thibaut/Walker, Procedural Justice, S. 32 ff. (mit empirischen Belegen); I. Müller, Rechtsstaat und Strafverfahren, S. 183, 192 ff.: die Tauglichkeit zur Auffindung der materiellen Wahrheit sei die „Lebenslüge des Inquisitionsprozesses“ (S. 192); Fraser, BuffCLR 3 (2000), S. 818 ff.; Ferrua, Il ,giusto processo‘, S. 9, 91 ff.; Roberts/Zuckerman, Criminal Evidence, S. 51; wohl auch Bauer, Richtermacht, S. 111; aus der amerikanischen Rspr. U.S. Supreme Court, United States v. Cronic 466 U.S. 648, 655 (1984) m.w. Nachw. In einer äußerst häufig zitierten Passage erklärte der Verfasser des klassischen Buchs zum Beweisrecht des Common Law Wigmore, Evidence III, S. 27 das Kreuzverhör als „beyond any doubt the greatest legal engine ever invented for the discovery of truth“ (die Passage wird in der Lehre zitiert etwa von G. Williams, The Proof of Guilt, S. 76 f.; R. Park, Adversarial Influences, S. 131; Weigend, Bargain, S. 216 Fn. 38; auch der amerikanische Supreme Court zitiert sie wiederholt, etwa California v. Green, 399 U.S. 149, 158 [1970]; White v. Illinois, 502 U.S. 346, 356 [1992]). 199 Siehe Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 282 Fn. 1; Henkel, DStR 1935, Sp. 531; ders. DStR 1935, S. 142, 144; ders. Strafverfahrensrecht, S. 110 f.; Nowakowski, Strafprozeß, S. 234, Stock, FS Rittler, S. 324; Sax, Grundrechte, S. 990; Eb. Schmidt, NJW 1963, S. 1088; ders. MDR 1968, S. 881 f.; Schünemann, GA 1978, S. 164 ff.; ders. FS Fezer, S. 562 ff.; ders. Rechtsstaat, S. 56; Tiedemann, ZRP 1992, S. 108; Gössel, FS Meyer-Goßner, S. 195 ff.; Eser, FS Tiedemann, S. 1464; ebenso Autoren, die akkusatorische Systeme von innen kennen, J. Frank, Courts on Trial, S. 85: „Our present trial method is thus the equivalent of throwing pepper in the eyes of a surgeon when he is performing an operation“; Frankel, UPennLR 123 (1975), S. 1036 f. („self-deception“), 1056 f.; Rothwax, Guilty, S. 18 f.: „Lippenbekenntnis“ zur Wahrheit; „Our system is a carefully crafted maze, constructed of elaborate and impenetrable barriers to the truth“, S. 32; Pizzi, Trial without Truth, S. 221 ff.; Langbein, Adversary Trial, S. 331 ff.; Taruffo, Verità, S. 109 f.: für das akkusatorische Verfahren „ist die Wahrheit nicht nur kein Wert; sie ist eindeutig ein Unwert.“, S. 110 f., 120 ff., 171; mit empirischem Beleg Vidmar, ZfRSoz 14 (1993), S. 44. Selbe Geeignetheitsbeurteilung bei Zachariä, Gebrechen, S. 41 und Thibaut/Walker, CalLRev 66 (1978), S. 547, 551, die trotzdem für ein akkusatorisches Modell plädieren. Nach Weigend, HJLPP 26 (2003), S. 159 ff. verfahren beide Systeme gleich schlecht; s. a. Block/Parker/Vyborna/Dusek, American Law & Economics Review 2000, S. 170 ff. 200 Herrmann, ZStW 80 (1968), S. 781 ff.; Pizzi, Trials without Truth, S. 137; Gershman, GtJLE 14 (2001), S. 309 ff. S. a. U.S. Supreme Court, Berger v. U.S., 295 U.S. 78, 88 (1935): „while he (der Staatsanwalt, L.G.) may strike hard blows, he is not at liberty to strike foul ones. It is as much his duty to refrain from improper methods calculated to produce a wrongful conviction as it is to use every legitimate means to bring about a just one“; Arizona v. Washington, 434 U.S. 497 (1978), bei der klar wird, dass der Staatsanwalt keine entlastenden Beweise zurückhalten darf; American Bar Association

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1. Teil: Strafprozesstheorie

Ferner sind heute teilweise unter dem Motor übernationaler Menschenrechtsübereinkommen wie insbesondere der EMRK zahlreiche Mindeststandards ausgearbeitet worden, denen jedes rechtsstaatliche Strafverfahren genügen muss, unabhängig davon, ob es sich als ein akkusatorisches oder inquisitorisches System versteht.202 So ist ein System, dessen inquisitorischer Charakter bis zu einer Identifikation von Ankläger und Richter in einer Person getrieben wird oder das den Beschuldigten als rechtloses Objekt des Verfahrens behandelt,203 indiskutabel, ebenso aber umgekehrt ein System, das die Ausgestaltung als Parteiverfahren so ernst nimmt, dass sich seine Richter bei einem völlig unzureichend verteidigten Anklagten passiv verhalten und am Ende der Verhandlung bedenkenlos verurteilen.204 c) Der prozessstrukturelle Einwand ist nur insoweit berechtigt, als er daran zu erinnern mahnt, einzelne Fragen nicht losgelöst vom Zusammenhang, in dem sie sich befinden, zu betrachten. Es ist deshalb wieder an den Unterschied zwischen vollem und diskursiv verkürztem Grund (o. II. 1. [S. 56]) und an die Vielzahl vorhandener durch empirische Unterschiede, Ungewissheit oder Unbestimmtheit bedingter Spielräume zu erinnern (o. I. [S. 48 ff.]). Als solche liefert die Einordnung in ein als inquisitorisch oder akkusatorisch angesehenes System kein zwingendes Argument für oder gegen ein bestimmtes Ergebnis und erst recht keinen Standards for Criminal Justice Prosecution Function and Defense Function, 1993, Standard 3-1.2 (c): „The duty of the prosecutor is to seek justice, not merely to convict“. 201 G. Williams, The Proof of Guilt, S. 27; Herrmann, ZStW 80 (1968), S. 780, 791 ff. der u. a. deshalb von einem „gemäßigten Parteiverfahren“ spricht (S. 781); Eb. Schmidt, MDR 1967, S. 882; Damaska, ZStW 90 (1978), S. 830; Pradel, Droit pénal comparé, S. 264, m. Nachw.; Rosenau, FS Puppe, S. 1618; s. a. Rothwax, Guilty, S. 7 und aus der amerikanischen Rspr. U.S. Supreme Court, Quercia v. United States, 289 U.S. 466, 469 (1933): „. . . the judge is not a mere moderator, but is the governor of the trial for the purpose of assuring its proper conduct and of determining questions of law“. 202 Ebenso Tiedemann, ZRP 1992, S. 107; Jörg/Field/Prants, Inquisitorial and Adversarial Systems, S. 54 ff.; Lagodny, ZStW 113 (2001), S. 810 (in dubio pro reo, Öffentlichtkeit); Hörnle, ZStW 117 (2005), S. 825; Schwarz/Degen, ZStW 117 (2005), S. 472, die bereits in diesen Standards eine Annäherung an das Parteiverfahren erblicken; Guinchard/Buisson, Procédure pénale, Rn. 128 ff.; Ubertis, Il processo penale, S. 17; ähnlich Jung, Einführung, S. 3 f.; ders. FS Waltos, S. 27; ders. GA 2002, S. 80; ders. Truth, S. 153 f.; und Hassemer, FS E. Müller, S. 252 ff., der zu Recht betont, diese Standards beruhen nicht allein auf der Rspr. eines bestimmten Gerichts. Ausf. m.w. Nachw. zu dieser „prozessmodellunabhängigen Garantie wirksamer Rechte“ b. Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 462 ff. Skeptisch aus kulturrelativistischen Gründen (zu ihnen o. B. II. 3. [S. 61 ff.]) Hodgson, French Criminal Justice, S. 8 f. Selbstverständlich hat das nicht zu bedeuten, dass die Rspr. des EGMR immer als Fortschritt im Sinne der Menschlichkeit gefeiert gehört; u. Teil 2 Kap. 2 D. IV. 4. d) (S. 503 ff.) – soll harte Kritik an den von ihr vertretenen Thesen über den Tatbegriff geäußert werden. 203 So die zwei von Eb. Schmidt, MDR 1967, S. 878 genannten Merkmale des rechtshistorischen Begriffs des Inquisitionsverfahrens. 204 Ebenso Herrmann, ZStW 80 (1968), S. 780, 791 ff.; Damaska, ZStW 90 (1978), S. 858; Jung, FS Waltos, S. 33; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 474 ff.

1. Kap.: Vorüberlegungen zur Methode

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Grund, an der Möglichkeit einer universell orientierten Strafprozessrechtswissenschaft zu zweifeln. Dies lässt sich gerade anhand von Rechtsinstituten verdeutlichen, die eher aus als akkusatorisch angesehenen Systemen stammen und die deshalb in Deutschland überwiegend abgelehnt werden (oder wurden). Vereinfacht gesagt hatten die deutschen Prozessualisten gegen derartige Institute zwei Argumente parat: das einschlägige Rechtsinstitut sei systemfremd; es verkörpere ferner ein weiteres Problem. Derjenige, der das ausländische Recht nicht nur in seiner Dimension als Summe von Regeln zur Kenntnis nimmt, sondern sich darum bemüht, auch die Gedanken der in Auseinandersetzung mit diesem Recht entstandenen Rechtswissenschaft zu berücksichtigen, wird aber feststellen, dass der zweite Einwand dort genauso erhoben wird. Konkret und jetzt nicht mehr anhand der genannten klassischen Beispiele aus der früheren Reformdiskussion, sondern anhand dreier aktueller Beispiele: der Disziplinierungs- bzw. Abschreckungsgedanke als Grundlage für Beweisverbote, der in Amerika gerade von der höchstrichterlichen Rechtsprechung vertreten wird und in Deutschland eher in der Literatur bescheidenen Widerhall gefunden hat,205 wird hier häufig als systemfremd abgetan.206 Das ist eine vereinfachte Sicht der Dinge, die dem Sosein eines Systems unangemessen normative Kraft zukommen lässt (s. o. S. 73 f.). Vielmehr sollte man feststellen, dass der Haupteinwand, den man hierzulande gegen diesen Gedanken erhebt, nämlich dass kein „innerer Zusammenhang“ zwischen der Rechtsverletzung durch die Verfolgungsbehörde und der Nicht-Verwertung eines Beweises besteht,207 in gleicher Weise dort erhoben wird.208 Dies kann nicht überraschen; denn in der Tat leuchtet es

205 U.S. Supreme Court, Elkins v. U.S., 364 U.S. 206, 217 (1960): Zweck des Verwertungsverbots „to deter – to compel respect for the constitutional guaranty in the only effectively available way – by removing the incentive to disregard it.“; Mapp v. Ohio, 367 U.S. 643, 648, 658 (1961); zur amerikanischen Rechtslage m.w. Nachw. auch Herrmann, FS Jescheck, S. 1292 ff.; Harris, StV 1991, S. 313; aus der Lit. Baumann, GA 1959, S. 36 (bzgl. § 136a Abs. 3 StPO); Klug, 46. DJT, S. F 35 f.; Grünwald, JZ 1966, S. 491, 495; Nüse, JR 1966, S. 284 f. (bzgl. § 136a StPO); Achenbach, ZStW 87 (1975), S. 88; Prittwitz, StV 1984, S. 305; Weiler, GS Meurer, S. 418 f.; Satzger, 65. DJT, S. C 91; Conen, FS Eisenberg, S. 459 ff. Nach Jahn, 67. DJT, S. C 55 habe der Gesichtspunkt auch bei deutschen Gerichten Widerhall gefunden; die von ihm angeführten Belege sind nach meiner Lektüre indes nicht schlüssig (BGHSt 38, 372, 374; 42, 15 [21 f.]; 51, 285 [291 Rn. 23]). 206 So z. B. Dencker, Verwertungsverbote, S. 53; Puppe, NStZ 1986, S. 404; Kalb, Beweisverbote, S. 48. 207 Dencker, Verwertungsverbote, S. 52 ff.; Rogall, ZStW 91 (1979), S. 15 f.; Amelung, Informationsbeherrschungsrechte, S. 17 ff.; Koriath, Beweisverbote, S. 58 f.; Jäger, Beweisverwertung, S. 70 f.; Jahn, 67. DJT, S. C 58 („Inkommensurabilitätsprinzip“); Kubiciel, GA 2013, S. 232; grds. a. Otto, GA 1970, S. 301 Fn. 62. 208 Stuntz, Collapse, S. 220; Amar, Constitution, S. 27 ff., 138, 157 (krit. ihm gegenüber Luna, Buffalo Criminal Law Review 2 (1999), S. 437 f. m. Nachw.). Eher empirisch orientierte Kritik bei Jacobi, NotreDameLR 87 (2011), S. 592 ff.; Pizzi, UColLR 82 (2011), S. 691 ff.

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kaum ein, dass „the criminal is to go free because the constable has blundered.“ 209 Man nehme ferner die in den U.S.A. verbreitete Praxis, dass Parteien ihre Zeugen auf die Vernehmung vorbereiten.210 Diese Praxis erweckt bei dem im kontinentalen Prozess geschulten Betrachter regelmäßig Schrecken und Unverständnis. Man könnte aber meinen, diese Praxis sei innerhalb des Systems, in dem sie eingebettet ist, sinnvoll: Die vorbereiteten Zeugen würden sogleich mit einem gelegentlich sehr brutalen Kreuzverhör konfrontiert.211 Wenn aber kein System, das einen Legitimitätsanspruch erhebt, die Frage, was sich in Wahrheit ereignet hat, geringschätzen darf, darf kein System es billigen, dass Beweise manipuliert werden, dass sie von Mitteln der Wahrheitsfindung zu Trümpfen in einem Kartenspiel degradiert werden. Die Vorbereitung von Zeugen ist aber nichts anderes als eine offene Manipulation am Beweis. Wenn eine derartige Praxis sich in ein Prozesssystem reibungslos einfügen lässt, dann ist das keine Rechtfertigung dieser Praxis, sondern vielmehr eine Verdammung des Systems, das seinen Auftrag der Verurteilung nur wahrhaft Schuldiger und der Schonung der Unschuldigen verraten hat. Das wird gerade von amerikanischen Autoren betont: „Witnesses are not just witnesses in our system: they are performers who need to be coached to give their best performance from the point of view of the lawyer calling the witness“.212 Und in England wird die Vorbereitung von Zeugen berufsethisch verachtet.213 Man nehme als letztes Beispiel die Prozessabsprachen, gegen die man lange Zeit gesagt hat, sie seien nur mit dem amerikanischen Prozessmodell vereinbar.214 Häufig kleidet sich diese Bemerkung strafprozessdogmatisch-konstruktivistisch ein: Man betont, im amerikanischen Verfahren sei eine Verfügung über den Prozessgegenstand möglich, im deutschen dagegen nicht. Auch dies kann nicht das letzte Wort sein, denn nach näherem Hinsehen entdeckt man, dass die 209 Votum des Justice Cardozo, in: People v. Defore, Court of Appeals of New York, 242 N.Y. 13; 150, N.E. 585, 587 (1926). Die Stelle wird bezeichnenderweise von Amelung, Informationsbeherrschungsrechte, S. 18 zitiert. 210 Näher Applegate, TexLR 68 (1989), S. 277 ff.; Ambos, FS Volk, S. 12 ff. 211 Applegate, TexLR 68 (1989), S. 341: Diese Praxis sei ein „child of the adversary system“; w. N. dieses Standpunktes bei Ambos, FS Volk, S. 13 – interessanterweise gibt es sie aber in England nicht, s. den weiteren Text. Andere (äußerst fragwürdige!) Begründung bei Burns, A Theory of the Trial, S. 57: Die Vorbereitung diene dazu, dem Zeugen die Bedeutung seiner künftigen Aussagen näher zu bringen. 212 Pizzi, Trials without Truth, S. 125. Siehe auch die Kritik von Langbein, UChLR 52 (1985), S. 833 ff.; ders. CardJICL 5 (1997), S. 42 f.; Ambos, FS Volk, S. 16 f.; und Amar, Constitution, S. 133. 213 Pizzi, Trials without Truth, S. 125. 214 So z. B. Seier, JZ 1988, S. 683; Schünemann, NJW 1989, S. 1896; ders. FS Baumann, S. 381; Rönnau, Absprache, S. 280; krit. Rosenau, FS Puppe, S. 1612; s. a. o. Fn. 175; deskriptiv Langer, Globalization of Plea Bargaining, S. 46 ff.

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hierzulande wiederholt geltend gemachten Hauptprobleme der Prozessabsprachen von angelsächsischen Autoren genauso gerügt werden.215 Gegen diese materiellen Gesichtspunkte ist der Hinweis auf die formale Konstruktion einer Verfügung der Partei über den Prozessgegenstand etwas Kümmerliches: Vielmehr müsste man sich fragen, ob ein einen Legitimitätsanspruch erhebendes Strafverfahrenssystem eine derartige Verfügung überhaupt anerkennen dürfte. Diese Frage muss entschieden verneint werden (näher u. Kap. 2 C. VI. 3. [S. 261 ff.]), gleichgültig, ob das jeweilige Verfahrenssystem sich als inquisitorisch oder akkusatorisch einordnet. 7. Fazit Dem Projekt einer universellen Prozessrechtswissenschaft stehen keine überzeugenden Einwände gegenüber. Die vom Partikularismus gegen die Universalität von Gründen vorgebrachten Erwägungen dürften zum Teil auf Unklarheiten bezüglich des Begriffs des Grundes beruhen, denn nicht alles, was man in einer konkreten Diskussion zur Unterstützung eines Standpunkts anführen kann, ist für sich genommen schon ein vollständiger Grund. Diese Erwägungen stellen in weitem Maße sogar die Möglichkeit einer rationalen Diskussion normativer Probleme in Frage, die sich häufig der die Universalität von Gründen voraussetzenden Methode des Fallvergleichs bedient. Die anti-rationalistischen Strömungen der modernen juristischen Methodenlehre können das Recht nicht aus der Innenperspektive erfassen: Kein guter Gesetzgeber oder Richter rechtfertigt seine Vorgaben allein damit, dass er sie so will. Er führt vielmehr Gründe an, und ab diesem Zeitpunkt hat er sich einer universell austauschbaren Währung bedient. Kulturelle Unterschiede sind häufig nur eine Chiffre für die vielfältigen bei Gründen vorgesehenen Blankette. Es mag aber auch sein, dass sie Begründungen ersetzen, dass sie Ausdruck von Autorität und Willkür sind. Dann sind sie für eine universelle Rechtswissenschaft, die nur für Gründe empfindlich ist, unbeachtlich. Demokratie ist aus der Perspektive der Wissenschaft kaum ein Argument; der Wille der Mehrheit gibt ihr kein Recht über die nichtwollende Minderheit. Das Strafverfahren mag politisch abhängig sein, aber nicht jede Politik lässt sich legitim verfolgen. Nicht einmal die unterschiedliche Struktur von akkusatorischen und inquisitorischen Prozesssystemen vermag die universelle Orientierung der Prozessrechtswissenschaft in Frage zu stellen. Der gemeinsame Boden ist viel größer, als man anzunehmen pflegt, und viele angebliche Systemunterschiede sind Institute, die sich schlechthin nicht verteidigen lassen. Die universelle Rechtswissenschaft trägt aber den berechtigten Systemunterschieden dadurch Rechnung,

215 Ähnliche Feststellung bei Armenta Deu, Sistemas, S. 52 f.; Rosenau, FS Puppe, S. 1612 ff.; s. a. die Zusammenfassung der kritischen Stellungnahmen bei R. Vogler, ZStW 116 (2004), S. 140 ff. und die Nachw. im unteren Abschnitt über das Konsensprinzip (Teil 1 Kap. 2 C. VI. 3. [S. 261 ff.]).

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dass sie den Zusammenhang, in den eine Lösung eingebettet ist und der eigentlich zum vollständigen Grund gehört, nicht außer Acht lässt.

B. Alternative Konzepte einer universellen (Strafprozess-)Rechtswissenschaft Das in seinen Grundannahmen skizzierte, u. C. (S. 101 ff.) noch zu präzisierende Modell einer universellen Rechtswissenschaft, die auf der Universalität von Gründen beruht, ist nicht das einzige, das gegenwärtig vertreten wird. Viele Autoren, die in gleicher Weise mit dem herrschenden, national beschränkten Ansatz unzufrieden sind, haben sich um eine universelle Orientierung bemüht. Im Folgenden soll eine Auslese dieser Modelle untersucht werden. Vor der hier vertretenen Perspektive werden sie sich nicht als falsch erweisen, sondern eher als unzureichend. Sie bleiben auf halbem Weg stehen: Aus den vielfältigen Gründen, die international aufgedeckt und ausgetauscht werden könnten, wählen sie einige aus und widmen dem restlichen, weitaus größeren Anteil keine Aufmerksamkeit. I. Universelle Rechtswissenschaft als formelle Rahmenwissenschaft? Unter den Vertretern einer universellen Rechtswissenschaft gibt es einige, die sie auf die „Schaffung eines leistungsfähigen dogmatischen Koordinationssystems“ 216, auf die Herstellung eines „analytischen Rahmens“ 217 beschränken wollen. Hruschka unterscheidet drei dogmatische Aufgaben, nämlich die Ausarbeitung der Strukturen strafrechtlicher Normensysteme, die Anstellung normativethischer Überlegungen und die Kommentierung des geltenden Rechts, und meint, die beiden ersten Gebiete seien von der Gestalt der jeweiligen Rechtsordnung weitgehend unabhängig.218 Die strukturtheoretischen Überlegungen, zu denen beispielsweise die Unterscheidung von rechtfertigendem und entschuldigendem Notstand oder die Differenzierung zwischen Sachverhalts-, Rechts- und Subsumtionsirrtümern gehörten,219 müssten streng systematisch – als Modell gilt ihm die Geometrie – entwickelt werden.220 Der zweite Bereich, der der normativen Rechtsethik, sei ebenso wenig national beschränkt, nur aber wesentlich weniger entwickelt.221 Und Stuckenberg schlägt in seiner universellen Metatheorie des Vorsatzes nicht einen bestimmten Vorsatzbegriff vor, sondern zeichnet die vielen Möglichkeiten nach, die einem übernationalen Gesetzgeber offen stün216 217 218 219 220 221

Stuckenberg, Vorsatz, S. 29. Stuckenberg, Vorsatz, S. 27. Hruschka, GA 1981, S. 237 f. Hruschka, GA 1981, S. 239, 230. Hruschka, GA 1981, S. 242. Hruschka, GA 1981, S. 244.

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den.222 Seiner Auffassung nach gebühre es der universellen Rechtswissenschaft, allgemeine formelle Kategorien auszuarbeiten, die unabhängig von den für richtig erachteten inhaltlichen Annahmen angewandt werden könnten. Rechtswissenschaft sei eine Art „universelle Grammatik“,223 die zwar nicht die Bewertung einzelner Argumente gestattet, aber zumindest klären könne, wo diese Argumente hingehören. Dass die Ausarbeitung formeller Bezüge wichtig ist, soll hier nicht bestritten werden. Fraglich ist indes, warum man an dieser Stelle, also vor den inhaltlichen Fragen, Halt machen muss.224 Erstens erscheint diese Selbstbeschränkung nicht wirklich möglich, weil bereits die Trennung zwischen Formellem und Inhaltlichem unklar ist.225 Häufig sind die formellen Fragen, mit denen man sich befasst, eigentliche Folgeerscheinungen früherer materieller Festlegungen. So diskutiert Stuckenberg die vielen möglichen Bestimmungen sowohl des voluntativen Vorsatzelements226 – womit implizit die Richtigkeit einer Willenstheorie des Vorsatzes vorausgesetzt wird – als auch des kognitiven Vorsatzelements,227 – was gleichzeitig eine Ablehnung des Gedankens einer dem Vorsatz gleichstehenden oder zu ihm sogar begrifflich gehörenden Tatsachenblindheit228 bedeutet. Zweitens und vor allem wird sogar dort, wo Selbstbeschränkung an sich möglich wäre, anders vorgegangen als gepredigt, womit klar wird, dass sie für unbegründet gehalten wird. Selbstbeschränkung wäre an sich möglich, wenn es offensichtlich und explizit um materielle Fragen geht, wo materielle Fragen direkt behandelt werden und nicht – wie beim gerade genannten Beispiel der Vorsatzelemente – bloß eine implizite Prämisse direkt behandelter formeller Fragen darstellen. Diese Fragen könnte man nämlich schweigend übergehen, man könnte sie den national orientierten Wissenschaftlern überlassen. Stuckenberg diskutiert indes das materiellste aller Probleme der Vorsatzlehre, die ratio der Vorsatzbestrafung, ausführlich und auf höchstem Niveau,229 und dies wird weder von ihm noch von

222 Stuckenberg, Vorsatz, S. 210 ff., 283 ff. und passim; hierzu Greco ZIS 2009, S. 813 ff. 223 Hruschka, Strafrecht, S. XX. Vgl. auch Fletcher, Grammar, S. 8 und passim, der aber die Dimension des Inhaltlichen nicht außer Betracht lassen will; diese Wendung taucht auch bei Zuccalà, GS Schlüchter, S. 119 und Delmas-Marty, Internationalisation, S. 32 auf. 224 Gegen Hruschka lassen sich die folgenden Bemerkungen nur teilweise richten, weil sein Konzept auch normativ-ethische Fragen erfassen soll (s. o. Fn. 221). Seine einzelnen Beiträge erwecken aber den Eindruck, dass bei ihm formelle Konstruktionen im Vordergrund stehen. 225 Für eine solche Trennung tritt Hruschka, GA 1981, S. 248 ein. 226 Stuckenberg, Vorsatz, S. 211 ff. 227 Stuckenberg, Vorsatz, S. 283 ff. 228 In diesem Sinne etwa Jakobs, ZStW 101 (1989), S. 528 ff.; ders. ZStW 114 (2002), S. 584 ff.; Lesch, JA 1997, S. 802 ff. 229 Stuckenberg, Vorsatz, S. 406 ff.

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seinem Leser als unangemessen empfunden. Darin sieht man, dass das Universelle nicht auf formelle Strukturen beschränkt ist, sondern dass auch die Dimension des Inhaltlichen an ihm teilhat.230 II. Universelle Rechtswissenschaft als Erforschung sachlogischer Strukturen? 1. Ein anderer, vor allem im materiellen Strafrecht prominenter Ansatz wird von den Anhängern der sog. finalen Handlungslehre vertreten. Ihrer Meinung nach sind in der Wirklichkeit gewisse Gegebenheiten vorhanden, die von jeder Rechtsordnung zur Kenntnis genommen werden müssen, solange die Rechtsordnung den Anspruch erhebt, die Wirklichkeit zu regeln. Diese Gegebenheiten werden als sachlogische Strukturen bezeichnet. Die wichtigsten unter ihnen, die für das materielle Strafrecht grundlegende Bedeutung haben, sind die sachlogische Struktur der Handlung als „Ausübung der Zwecktätigkeit“ 231 und der Schuld als „Dafür-Können“.232 „Diese sachlogischen Strukturen sind das bleibende Objekt der Rechtswissenschaft, das auch dem Gesetzgeber vorgegeben ist“.233 In der Nachkriegszeit betonte der Vater dieser geistigen Richtung, Welzel, in erster Linie den zeitlosen Charakter der auf sachlogischen Strukturen basierten Erkenntnis.234 Seine Schüler Armin Kaufmann und Hirsch haben die räumliche Dimension in den Vordergrund gestellt. Armin Kaufmann unterscheidet einen „Kernbereich der Dogmatik, in dem die Sachlogik dominiert“, von einem Bereich axiologischer und empirischer Forschung. Im ersten Bereich gehe es allein darum, „ein Modell der richtigen Regelung zu entwerfen“, und ein solches sei 230 Im Erg. übereinst. Silva Sánchez, GA 2002, S. 681. Dieser Ansicht dürfte auch Hruschka sein, der trotz seiner Hervorhebung der Strukturanalyse auch die normativethische Dimension für zeit- und ortsunabhängig hält (GA 1981, S. 238). 231 Welzel, Strafrecht, S. 33. 232 Welzel, Strafrecht, S. 138. 233 Welzel, Aktuelle Strafrechtsprobleme, S. 4. 234 Welzel, Aktuelle Strafrechtsprobleme, S. 5: „Schon als der erste Mensch einen Stein als Werkzeug benutzte, hätte man an dieser Handlung die ganze finale Handlungslehre entwickeln können“; ders. Naturrecht, S. 236 ff., insb. S. 244 mit Fn. 11; ders. FS Grünhut, S. 173 ff., mit der bezeichnenden Überschrift „Vom Bleibenden und Vergänglichen in der Strafrechtswissenschaft“; Armin Kaufmann, Lebendiges, S. VIII f., 275; ders. Unterlassungsdelikte, S. 17 ff. In einem seiner letzten Aufsätze hebt Welzel auch die übernationale „Transmissibilität“ dogmatischer Erkenntnisse hervor (Welzel, FS Maurach, S. 5). Vor 1945 waren sachlogische Strukturen noch völkisch geprägt und damit nicht universell, sondern nur innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft von Bedeutung (insb. Welzel, Naturalismus, S. 86). Zu dieser Wende im Denken Welzels vgl. Roxin, ZStW 74 (1962), S. 549; ders. FS Androulakis, S. 575 ff.; Hirsch, ZStW 116 (2004), S. 11. Auch die Auffassung von Stratenwerth, Natur der Sache, S. 17, der sachlogische Strukturen als ontische Gegebenheiten ansieht, die sich erst aus einer bestimmten Wertperspektive als wesentlich erweisen, erhebt keine Ansprüche auf universelle Gültigkeit.

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„notwendigerweise ,überpositiv‘ und uneingeschränkt ,übernational‘“.235 Nach Hirsch236 müsse die Strafrechtswissenschaft die Struktur der Gegenstände, die das Recht regeln soll, ernst nehmen: gerade „wegen der zumeist bestehenden weltweiten Gleichartigkeit der Regelungsgegenstände des Allgemeinen Teils (ist) eine weltweite Diskussion über identische Forschungsfragen und die Transferierung der Ergebnisse in andere Rechtsordnungen möglich“.237 „Es gibt keine nur deutsche, keine nur japanische, italienische oder andere rein nationale Strafrechtswissenschaft, sondern hinsichtlich des zentralen Forschungsbereichs nur eine nach allgemeinen wissenschaftlichen Maßstäben ganz oder teilweise richtige oder aber falsche“.238 2. Dieser Ansatz wird indes heutzutage weniger und weniger vertreten, und dies nicht ohne Grund. a) Ein erster Einwand setzt hochphilosophisch ein. An dem auf sachlogischen Strukturen basierenden Ansatz wird gerügt, er gehe von einem unreflektierten Bild des Verhältnisses von Wirklichkeit und Sprache aus. Die Wirklichkeit werde durch die Sprache nicht im Sinne eines naiven Realismus abgebildet, sondern vielmehr im Sinne eines sozialen Konstruktivismus konstituiert. Was eine sachlogische Struktur wie etwa die Handlung ausmache, erschließe sich deshalb nicht unabhängig von der Sprache und damit auch nicht unabhängig von einzelnen Gesellschaften.239 Ob der Einwand richtig ist oder nicht, kann man im vorliegenden Zusammenhang nicht klären, denn er berührt schwierige Fragen der Sprachphilosophie und Ontologie. Hier ist nur anzumerken, dass er schon auf den ersten Blick weit über das Ziel hinaus zu schießen scheint. Denn er macht die Tatsache, dass man sich jenseits der eigenen Sprachgemeinschaft verständigen kann, weitgehend zum Rätsel. Nach der sozial-konstruktivistischen These müsste man eigentlich immer an den Mitgliedern anderer Sprachgemeinschaften vorbei sprechen, da sie ihre Welt unterschiedlich konstruieren und deshalb streng genommen in anderen Welten leben als wir. Ob und wie diese theoretische Schwierigkeit behoben werden könnte, soll hier nicht entschieden werden. Es empfiehlt sich deshalb, die Berechtigung des sachlogischen Ansatzes auf einer nicht derart anspruchsvollen Ebene zu überprüfen. 235

Armin Kaufmann, GS Tjong, S. 108 ff. (alle Zitate aus S. 110). Hirsch, Strafrechtsdogmatik, S. 74 f.; ders. FS Spendel, S. 47 ff.; ders. FS Androulakis, S. 228; ders. ZStW 116 (2004), S. 842 ff.; ders. Universale Rechtswissenschaft, S. 90 ff.; ders. Hirsch, S. 145. Hirsch meint auch, man könne über den Bereich des Ontischen hinaus allgemeingültige Erkenntnisse erzielen, lässt aber offen, wo die Grenze gezogen werden soll (FS Spendel, S. 55). 237 Hirsch, ZStW 116 (2004), S. 843. 238 Hirsch, FS Spendel, S. 58. 239 Etwa Hassemer, FS Rudolphi, S. 67; Mir Puig, Grenzen des Normativismus, S. 83 f.; Ambos, Cardozo Law Review 28 (2007), S. 2654; ders. LH Gimbernat, S. 104 f. 236

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b) Die klassische Kritik am sachlogischen Ansatz, die insbesondere von Engisch und Roxin formuliert wurde, deutet auf dessen erstes großes Problem hin. Man wirft dem sachlogischen Ansatz den Fehler des naturalistischen Fehlschlusses vor: Es sei nicht ersichtlich, wie man von der Ebene der Wirklichkeit, des Seins, zu der des Normativen, des Sollens, gelangen könne. Aus faktischen Erwägungen seien keine normativen, insbesondere keine rechtlichen Schlussfolgerungen zu ziehen.240 Es ist erstaunlich, wie wenig sich die Vertreter des sachlogischen Ansatzes um diesen Einwand, der dogmengeschichtlich so bedeutsam war, gekümmert haben.241 Dennoch ist einzuräumen, dass der Einwand nicht das letzte Wort gegen den Ansatz bedeutet. Seinen Vertretern steht vielmehr immer noch eine Replik offen, die aber ebenfalls unzureichend ist. Die Vertreter der sachlogischen Strukturen können nämlich erwidern, sie würden ihre normativen Schlussfolgerungen nicht allein aus faktischen Prämissen ableiten. Vielmehr sei ihre Ausgangsprämisse immer eine normative gewesen, wenn auch dies nicht immer mit der zu wünschenden Klarheit dargelegt worden sei: Bei Welzel und noch am deutlichsten bei Armin Kaufmann gab es immer eine leitende normative Prämisse, nämlich dass die Rechtsordnung Rechtsgüter schützen möchte242 und dass dieser Schutz nur mittels Verboten und Geboten von Handlungen effektiv erreicht werden könne. Will die Rechtsordnung durch ihre Verbote und Gebote menschliche Handlungen steuern, dann müsse sie die Struktur der menschlichen Handlung beachten, ansonsten verfehle sie ihren Regelungsgegenstand.243 Also ist bei diesen Autoren der Verweis auf sachlogische Strukturen Teil einer durchaus normativen Überlegung, nämlich eines Grundes der Zweckmäßigkeit: Die Rechtsordnung erreiche nur dann ihren Zweck, wenn sie die sachlogischen Strukturen zur Kenntnis nehme. Man könnte sich auch auf eine andere normative Ausgangsprämisse berufen, die Welzel und auch – vielleicht noch klarer – Stratenwerth zum Ausgangspunkt diente: Die Rechtsordnung müsse als verpflichtende und nicht bloß zwingende Ordnung von dem Gedanken eines verantwortlich handelnden Menschen ausgehen. Die Berücksichtigung von sachlogischen Strukturen sei der dogmatische Ausdruck der Anerkennung des Menschen als ein verantwortlich handelndes 240

Statt vieler Engisch, Natur der Sache, S. 218 ff., 242 f.; Roxin, AT I § 8 Rn. 25. Zu den seltenen Ausnahmen gehört vor allem Hirsch, FS Androulakis, S. 232 f.; ders. ZStW 116 (2004), S. 4 ff.; ders. ZStW 116 (2004), S. 843 ff. 242 Unabhängig davon, dass bei Welzel diese Prämisse noch einen Zwischenschritt voraussetzt, nämlich dass das Strafrecht Rechtsgüterschutz durch den Schutz von sozialethischen Handlungswerten anstrebt, Strafrecht, S. 5 ff. 243 Z. B. Welzel, Naturrecht, S. 244; ders. Strafrecht, S. 37; ders. Neues Bild, S. XI: „Wie das Recht nicht den Frauen gebieten kann, die Schwangerschaft zu beschleunigen und schon nach sechs Monaten lebensfähige Kinder zur Welt zu bringen, so kann es ihnen auch nicht verbieten, Fehlgeburten zu bekommen“ (selbes Beispiel bei Welzel, Wahrheit, S. 14); Armin Kaufmann, Lebendiges, S. 69 ff.; ders. Unterlassungsdelikte, S. 20; ders. GS Tjong, S. 109 f.; Hirsch, FS Spendel, S. 47. 241

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Subjekt.244 Diese Argumentation macht die Benennung von sachlogischen Strukturen zu einem Teil eines Grundes des Respekts. Die Heranziehung sachlogischer Strukturen ist also – vielleicht überraschend – nicht das Primäre im sachlogischen Ansatz. Primär ist vielmehr der normative Satz, die Rechtsordnung müsse ihre Zwecke effektiv zu erreichen suchen bzw. die Rechtsordnung müsse den Menschen respektieren. Ein naturalistischer Fehlschluss ergibt sich deshalb nicht. Diese Replik, die zwar dem Einwand des naturalistischen Fehlschlusses begegnen kann, führt dennoch zu anderen Schwierigkeiten. Denn wenn sachlogische Erwägungen nur wegen des Vorhandenseins einer normativen Ausgangsprämisse von Relevanz sind, ist anzumerken, dass die behaupteten Zusammenhänge zwischen Sachlogik und Zweckmäßigkeit bzw. Respekt keineswegs so eng sind, wie behauptet wurde. Konkret: Es ist zum einen nicht unbestreitbar, dass ein effektiver Rechtsgüterschutz nur über Verbote und Gebote von Handlungen erreicht werden kann. Vielleicht lassen sich in Zukunft auch Gedanken steuern, so dass es an sich sinnvoll wäre, Verbote direkt an Gedanken und nicht erst an Handlungen zu richten.245 Zum anderen ist die Behauptung, dass die Rechtsordnung ihren Respekt vor dem Einzelnen nur dann gebührend ausdrücke, wenn sie von der finalen Handlungslehre oder von der Schuld als Andershandelnkönnen ausgehe, zu wenig plausibel. Dass etwa eine personale Handlungslehre oder ein Begriff der Schuld, der sich zu der Frage der Willensfreiheit agnostisch verhält,246 in dieser Hinsicht nicht mindestens gleichwertig sein können, leuchtet nicht ein. Somit landet man in einem Dilemma. Entweder räumt der Vertreter der Sachlogik ein, dass er aus einem bloßen Faktum normative Schlussfolgerungen zieht. Oder er beruft sich, um dem Einwand des naturalistischen Fehlschlusses zu entkommen, auf die normativen Prämissen, die die Verbindlichkeit der ansonsten nur nackten Tatsachen verbleibenden sachlogischen Strukturen tragen sollen, womit gleichzeitig klar wird, dass diese Prämissen das vertretene Ergebnis nicht tragen können. 3. Verbreitet ist auch eine relativistische Kritik am sachlogischen Ansatz.247 Diesem wird entgegengehalten, über Raum und Zeit stehende sachlogische Strukturen seien nicht ohne Weiteres in einzelne Rechtssysteme übertragbar, sondern müssten zunächst in Anbetracht der einzelnen Systeme und ihrer sozialen, kulturellen und politischen Hintergründe angepasst werden. Damit gehe aber den sachlogischen Strukturen die universelle Verbindlichkeit verloren. 244 Welzel, Naturrecht, S. 239 f.; ders. Wahrheit, S. 9 f.; Stratenwerth, Natur der Sache, S. 17; ders. FS Jakobs, S. 665; darauf weist auch Sticht, Sachlogik, S. 162 hin. 245 Damit soll selbstverständlich nicht diese Schlussfolgerung vertreten werden; zu dem eigentlichen Grund, weshalb Gedanken straflos bleiben müssen, Greco, Drogenbesitz, S. 81 ff. 246 Beide vertreten von Roxin, AT I , § 8 Rn. 44 ff., § 19 Rn. 36 ff. 247 So Ambos, Allgemeiner Teil, S. 67 f.; ders. Cardozo Law Review 28 (2007), S. 2653 f.; ders. LH Gimbernat, S. 104; wohl auch Jakobs, System, S. 16 Fn. 13.

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Dem ist aber zu entgegnen, dass, selbst wenn dies stimmen würde, man noch keinen Grund hätte, an der Richtigkeit des Ansatzes zu zweifeln. Denn hinter den sozialen, kulturellen und politischen Schichten könnte immer noch ein sachlogisches Rückgrat vorhanden sein, das nur noch klar herausgearbeitet werden müsste. Deshalb haben viele Vertreter des sachlogischen Ansatzes nicht gezögert, zusätzlich zu der ewigen, ontologischen Komponente der Finalität eine sozialwandelbare hinzuzuziehen, nämlich die der Sozialadäquanz.248 Dennoch lässt sich diesem relativistischen Einwand ein berechtigter Aspekt entnehmen. Auch wenn alle Argumente der Vertreter des sachlogischen Ansatzes stimmen würden, müsste man einsehen, dass sachlogische Erwägungen nur bei einer sehr begrenzten Menge von Fragen hilfreich sein können.249 Im materiellen Strafrecht hat die finale Handlungslehre wesentlich zur Ausarbeitung des Handlungsunwerts als Kern des Unrechts beitragen,250 ebenso und insbesondere zu der Erfassung des Unterschieds zwischen Tatbestands- und Verbotsirrtum (Stichwort: Schuldtheorie)251 und der Tatbestände als Vertypungen von Formen der Tatherrschaft.252 Die Fragen, um die es heute geht, sind aber nicht mehr diese, sondern etwa inwiefern eine Risikoverringerung oder ein erlaubtes Risiko den Handlungsunwert ausschließt, welche Irrtümer als vorsatzirrelevante Subsumtionsirrtümer, welche aber als vorsatzausschließend anzusehen sind, oder ob es so etwas wie eine Organisationsherrschaft als Form der Tatherrschaft geben darf. Zu diesen Fragen kann der Verweis auf sachlogische Strukturen äußerst wenig beitragen. Dieser schon für das materielle Strafrecht festzustellende Befund gilt erst recht für das Strafprozessrecht: In dem Bereich ist kaum der ernsthafte Versuch unternommen worden, mit sachlogischen Strukturen zu argumentieren.253 Soweit ersichtlich wurde nur von Paeffgen die Struktur von Armin Kaufmanns Normentheorie zur Bestimmung der Haftgründe fruchtbar gemacht.254 Auf Gründe der Sachlogik beruft sich indes auch Paeffgen nicht. 248 Grdl. Welzel, ZStW 58 (1939), S. 516 ff. (zu einer Zeit, in der der vorsoziale Charakter der sachlogischen Strukturen noch nicht im Vordergrund stand, s. o. Fn. 234); ders. Strafrecht, S. 55 ff.; Gracia Martín, FS Tiedemann, S. 205 ff.; Rueda Martín, Imputación objetiva, S. 244 ff.; krit. zu diesem Gedanken aber der Finalist Hirsch, ZStW 74 (1962), S. 78 ff. 249 Ähnl. Perron, ZStW 109 (1997), S. 300. Die universelle Strafrechtswissenschaft i. S. von Armin Kaufmann und Hirsch hat insbesondere Fragen des Allgemeinen Teils des materiellen Strafrechts zum Gegenstand; bereits der Besondere Teil wird nur teilweise erfasst (Armin Kaufmann, GS Tjong, S. 110; Hirsch, FS Spendel, S. 55 f.; ders. ZStW 116 [2004], S. 847); auf den Strafprozess gehen beide bezeichenderweise nicht ein. Insofern – und nur insofern – kann man Jakobs zustimmen, wenn er sagt: „Sachlogik ist beschnittenes, kastriertes Naturrecht“ (System, S. 16 Fn. 13). 250 Roxin, FS Androulakis, S. 584 f.; ders. AT I § 8 Rn. 26. 251 Roxin, FS Androulakis, S. 585; ders. AT I § 21 Rn. 6. 252 Roxin, Täterschaft, S. 64; ders. FS Androulakis, S. 585. 253 Vgl. Fn. 249. 254 Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 81 ff.

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4. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass der sachlogische Ansatz unrichtig ist, da er in ein Dilemma mündet – entweder ist das Argument, das eine sachlogische Struktur anführt, ein unbeachtlicher Versuch, aus Deskriptivem Normatives abzuleiten (naturalistischer Fehlschluss), oder er beruht auf Gründen der Zweckmäßigkeit oder des Respekts, die auch ohne Sachlogik auskommen könnten. Gegen eine auf sachlogische Strukturen gegründete universelle Rechtswissenschaft spricht auch, dass sich die Universalität einer derartigen universellen Rechtswissenschaft auf eine sehr geringe Anzahl von Fragen beschränken würde. Demnach könnte man zwar übernational darüber diskutieren, ob ein Handlungsunwert, die Schuldtheorie oder die Tatherrschaftslehre anzuerkennen sind, aber über nicht viel mehr, erst recht nicht über den Strafprozess. Eines der größten Probleme dieses Ansatzes ist also von seiner Richtigkeit unabhängig: Auch wenn er richtig wäre, bliebe er für eine auch das Strafverfahren miteinbeziehende Strafrechtswissenschaft unzureichend. III. Universelle Rechtswissenschaft als universelles Problemdenken? Man könnte ferner meinen, eine universelle Rechtswissenschaft ließe sich auf die Universalität von möglichen Problemen gründen.255 Vor allem Hruschka bemüht sich darum, bei den einzelnen Problemen anzusetzen: Sein „logisch-analytischer“ Zugang zu dem Allgemeinen Teil des materiellen Strafrechts besteht in erster Linie darin, das System bzw. Teilsystem aufzudecken, das hinter bestimmten Gruppen von Fällen steht256 – etwa erschließe sich aus der Diskussion der verschiedenen Irrtumsprobleme ein sog. Simultaneitätsprinzip, nach dem alle Voraussetzungen der Strafbarkeit gleichzeitig vorzuliegen haben.257 Aber wichtiger als diese Prinzipien erscheinen ihm die Probleme selbst, die eine universelle Struktur aufweisen: „Gegenstand der Lehren des Allgemeinen Teils des Strafrechts sind nicht die zufälligen positiven Regelungen in irgendeiner Gegend des Erdballs, die gestern andere waren als heute und morgen wieder andere sein werden.“ (. . .) Es gehe „nicht um die Antworten, die das Gesetz in seinen positiven Rechtssätzen auf bestimmte Fragen gibt, sondern um diese Fragen selbst. Nicht um die Problemlösungen, sondern um die Probleme“.258 Und das vom Freiburger Max-Planck-Institut durchgeführte Forschungsprojekt „Allgemeiner strafrechtlicher Strukturvergleich“ 259 bemühte sich darum, zu bestimmten Problemfeldern 255 Vogel, GA 2002, S. 523, 524; Stuckenberg, Vorsatz, S. 34 Fn. 160; auch Kühl, ZStW 109 (1997), S. 803: „Thema des wissenschaftlichen europäischen Strafrechtsdiskurses sollten deshalb vorrangig Sachprobleme sein“. 256 Hruschka, Strafrecht, S. XIII. Zum „logisch-analytischen“ Programm gehört auch, dass man nicht vorschnell bei Wertungen Zuflucht nehmen soll (S. XXIII). 257 Hruschka, Strafrecht, S. XIV, 4 f. 258 Hruschka, Strafrecht, S. XVI. 259 Hierzu Perron, Strukturvergleich, S. 127 ff.; ders. ZStW 109 (1997), S. 287 ff.; vgl. auch Jung, JuS 1998, S. 2.

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– etwa zur Unterscheidung von Unrecht und Schuld,260 zu den Grenzen von Vorsatz und Fahrlässigkeit261 oder zur Tötung des Haustyrannen262 – eine übernationale Diskussion zu führen. Auch derartige Ansätze gehen von der fehlerhaften Vorstellung aus, eine Teilmenge sei das Ganze. Denn bereits die Wahrnehmung von etwas als ein Problem beruht auf Gründen. Auch die Fragen, mit denen sich Hruschka beschäftigt, etwa die des fehlerhaften Vorverhaltens263 oder die Verhältnisse zwischen Notrechten,264 beruhen darauf, dass man eine Strafbarkeit nur dann für begründet hält, wenn eine zeitliche Koinzidenz von Unrecht und Schuld gegeben ist, oder dass man die Gründe für ein ausdifferenziertes System von Notrechten zur Kenntnis genommen hat. Man kann sich also nur deshalb über nationale Grenzen hinweg über Probleme unterhalten, weil man sich auch über Gründe über nationale Grenzen hinweg unterhalten kann. Geht es also primär um Gründe, dann ist die Selbstbeschränkung auf Probleme nicht mehr verständlich, denn auch Lösungen können mit gleicher Berechtigung ausgetauscht werden. Warum muss man sich auf eine deskriptive Erfassung von Gemeinsamkeiten und Regelmäßigkeiten beschränken,265 nicht aber die Frage stellen dürfen, welche Lösungen richtig, welche falsch sind? IV. Universelle Rechtswissenschaft als Rechtsvergleichung? 1. Ein letztes denkbares Konzept einer universellen Rechtswissenschaft bietet das Modell der Rechtsvergleichung.266 Die Rechtsvergleichung ist schon im An260 Eser, Einführung, S. 1 ff.; ders. Eröffnungsansprache, S. 3 ff.; ders. FS Kaiser, S. 1519 f. 261 Perron, FS Nishihara, S. 146 ff. 262 Perron, ZStW 109 (1997), S. 291 ff. 263 Hruschka, Strafrecht, S. 274 ff. 264 Hruschka, Strafrecht, S. 68 ff. 265 So Perron, Strukturvergleich, S. 131 ff. in seiner Kritik eines „rein dogmatischen Ansatzes“; ders. FS Nishihara, S. 147. 266 Vgl. zusätzlich zu den in den nächsten Fn. Genannten noch Cadoppi, Diritto penale comparato, insb. S. 41 ff. und passim; Pradel, Droit pénal comparé, S. 1 ff. und passim; Vogel, JZ 2012, S. 29 f.; und die Aufsätze in NEP 17 (1998), S. 51–145; Beck/Burchard/Fateh-Moghadam (Hrsg.), Strafrechtsvergleichung; Streng/Kett-Straub (Hrsg.), Strafrechtsvergleichung, die sich in erster Linie mit der Frage von Theorieimporten und -exporten beschäftigen. Der vorliegende Abschnitt bezieht sich allein auf das, was man nach meiner Wahrnehmung als herrschenden (strafrechts-)vergleichenden Ansatz bezeichnen könnte. Andere Konzepte der Rechtsvergleichung (Überblick und Kritik einiger Ansätze bei Großfeld, FS Henrich, S. 215 ff.; instruktiv zu den in Frankreich vorhandenen Ansätzen Jung, FS Tiedemann, S. 1515 ff.) können höchstens kursorisch, also in dieser Fn. und beiläufig anlässlich der Auseinandersetzung mit dem herrschenden Ansatz berücksichtigt werden. Postmoderne Konzepte (etwa Legrand, Le droit comparé, passim, der für eine Rechtsvergleichung plädiert, die nicht nach Gemeinsamkeiten sucht, sondern als „Gegendiskurs“ bzw. „politischer Widerstandsdiskurs“ [S. 22]

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satz auf die Überschreitung nationaler Grenzen angelegt und deshalb in einer bestimmten Hinsicht universalistisch ausgerichtet. Gerade im deutschen Strafverfahrensrecht zeitigte die Rechtsvergleichung einen großen praktischen Erfolg: Die historische Entscheidung des Bundesgerichtshofs, die ein Beweisverwertungsverbot bei unterlassener Belehrung über das Schweigerecht nach § 136 Abs. 1 S. 2 StPO anerkannte, berief sich u. a. auf das amerikanische Strafverfahren.267 2. Das hier vorgeschlagene Modell kann mit Rechtsvergleichung im herkömmlichen Sinne nicht gleichgesetzt werden. Es ist vielmehr der Versuch, Rechtsvergleichung auf die nächste Stufe zu überführen, Rechtsvergleichung „aufzuheben“ im Hegel’schen Sinne – also zu etwas zu gelangen, was dem Aufgehobenen überlegen ist, aber das gleichzeitig dasjenige, was an ihm richtig ist, aufzubewahren weiß. a) Das Richtige am rechtsvergleichenden Ansatz ist erstens die sorgfältige Kenntnisnahme der Erzeugungen anderer Rechtssysteme. Rechtsvergleichung fängt mit einer umfassenden Materialaufnahme an, mit einer bewunderungswürdig akribischen Sammlung und Verwertung von in fremden Sprachen verfassten Texten.268 Diese Mühe darf sich die universelle Rechtswissenschaft nicht ersparen. Darauf hingewiesen zu haben ist der erste große Verdienst des rechtsvergleichenden Ansatzes und gleichzeitig ein großer Vorzug gegenüber den eben erwähnten Modellen, die häufig auf der äußerst fragwürdigen Prämisse beruhen, Universelles sei erreichbar, ohne dass es erforderlich sei, die Gedanken von Mitgliedern anderer Rechtssysteme zu berücksichtigen. den anderen in seinem inkommensurablen und deshalb auch unvergleichlichen Anderssein [„alterité“, S. 50 ff., 74 ff.] zu verstehen trachtet; s. a. ders. The same and the different, S. 240 ff.; Jayme, Postmoderne Rechtsvergleichung, S. 103 ff.: postmoderne Rechtsvergleichung als Suche nach dem Trennenden, nach Unterschieden, S. 104, 107; zu ihm bereits o. Fn. 135; Frankenberg, HILJ 26 [1985], S. 411 ff.), sind eine Spielart des kulturellen Relativismus, zu dem schon o. 3. (S. 61 ff.) Stellung genommen wurde (w. Krit. b. Rosenau, FS Puppe, S. 1608 f.); s. a. den Ansatz von Häberle, Grundrechtsgeltung, S. 36 ff., der in der Rechsvergleichung die fünfte Auslegungsmethode erblicken möchte, und Coendet, Rechtsvergleichende Argumentation, insb. S. 155 ff., der versucht, im Anschluss an postmodernes Denken eine theoretische Rechtfertigung für rechtsvergleichendes Argumentieren darzubieten. Die von Burghardt, Rechtsvergleichung, S. 250 ff. vorgeschlagene diskursiv-vermittelnde Rechtsvergleichung, deren Ziel es ist, die Akzeptanzbereitschaft völkerstrafrechtlicher Entscheidungen zu erhöhen, unterscheidet sich vom vorliegenden Ansatz nicht nur durch ihre auf das Völkerstrafrecht begrenzte Reichweite, sondern insbesondere dadurch, dass es ihr nicht um die Verbesserung der „Begründungsleistung“, sondern der „Vermittlungsleistung nach Außen“ geht (S. 251); es geht also mehr um die Form als um den Stoff, der Ansatz ist eine (in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzende) Form der Rhetorik. Vgl. auch u. Fn. 277, 280. 267 BGHSt 38, 215 (228 ff.); hierzu Eser, FS Kaiser, S. 1510 Fn. 31; Roxin, FS Waltos, S. 238; genau hierzu ausf. Schramm, Strafrechtsvergleichende Erkenntnisse, S. 169 ff. Weitere Beispiele aus der frühen BGH-Rspr. bei Jescheck, Strafrechtsvergleichung, S. 14 Fn. 17 (nicht notwendigerweise aus dem Prozessrecht). 268 Zweigert, SG 1960, S. 195; Jung, FS Tiedemann, S. 1519.

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b) Nicht zu unterschätzen sind ferner die von der Rechtsvergleichung erarbeiteten Übersetzungstechniken. Es ist ein großer Verdienst der Rechtsvergleichung, über gemeinsame Nenner und Oberbegriffe reflektiert zu haben, unter die die Regelungswerke unterschiedlicher Rechtssysteme gebracht und somit kommensurabel gemacht werden können. Die Mahnung, es sei eine naive Annahme, dass die Institute der eigenen Rechtsordnungen entsprechende Nachbildungen in allen ausländischen Rechtssystemen fänden, und die Schärfung des Blicks für sog. funktionale Äquivalente,269 sind auch für die universelle Rechtswissenschaft wichtige Lektionen. Sie weisen eine unverkennbare Nähe zu dem auf, was o. A. II. 1. (S. 56 f.) als vollständiger Grund bezeichnet worden ist. 3. Der vorliegende Ansatz geht aber in mehreren Hinsichten über die herkömmliche Rechtsvergleichung hinaus. Denn Rechtsvergleichung ist eigentlich der Versuch, die Grenzen des herrschenden nationalbezogenen Ansatzes zu überschreiten, ohne aber seine tragende Prämisse – dass es im Recht in erster Linie um Entscheidungen geht – in Frage zu stellen. Wenn man das Augenmerk nicht auf Entscheidungen richtet, sondern auf Gründe, weil man eingesehen hat, dass unbegründete Entscheidungen Willkür und kein Recht sind, dann findet man eine universelle Währung, die ungehindert über die Grenzen der einzelnen Rechtssysteme hinweg ausgetauscht werden kann. a) Deshalb ist die Bereitschaft der Rechtsvergleichung, aus anderen Systemen zu lernen, von vornherein beschränkt.270 Die Gedanken und Argumente, die im Ausland publiziert werden, werden zwar zur Kenntnis genommen. Sie werden aber primär als Beiträge zur Auslegung und Konstruktion eines fremden Rechts angesehen, als Arbeit in einer anderen Sache, also als etwas, worüber man in der dritten Person berichtet. Der Universalitätsanspruch der in diesen Gedanken und Argumenten enthaltenen Gründe wird als solcher selten wahrgenommen. Man weiß zwar vom anderen, diskutiert aber nicht mit ihm. Mit anderen Worten: Die Meta-Ebene, auf die sich der rechtsvergleichende Blick erhebt, bringt eine gewisse Arroganz mit sich, die eine übernationale wissenschaftliche Auseinandersetzung auf Augenhöhe erschwert. Die Rechtsvergleichung ist – neben der Rechtssoziologie, -psychologie und -anthropologie – eine weitere Deutung des Rechts aus der Außenperspektive, während die universelle Rechtswissenschaft 269 Zweigert, SG 1960, S. 197; ders. FS Schmitthoff, S. 405 f.; Schultz, Strafrechtsvergleichung, S. 16 f.; Kötz, JBl 1982, S. 357 f.; ders. Rechtsdogmatik, S. 83 f.; Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 33 ff.; Junker, JZ 1994, S. 922, Perron, FS Nishihara, S. 145; Reitz, AmJCompL 46 (1998), S. 621 f.; Stuckenberg, Vorsatz, S. 37; Ambos, Allgemeiner Teil, S. 44 f. m.w. Nachw. in Fn. 34; ders. Internationales Strafrecht § 5 Rn. 8; Pradel, Droit pénal comparé, S. 47; für den Strafprozess Rieß, FS Schäfer, S. 188 ff.; Rosenau, FS Puppe, S. 1604 ff. Weiterführend Fateh-Moghadam, Strafrechtsvergleichung, S. 43 ff.; krit. aber Teubner, FS Blankenburg, S. 235 m.w. krit. N. Fn. 7. 270 Ich spreche nicht einmal von der von Dubber, Comparative Criminal Law, S. 1296 ff. sog. „hierachical“ bzw. „unidirectional“ betriebenen Rechtsvergleichung, die nur lehren und nicht lernen will.

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darauf besteht, die Innenperspektive nicht zu verlassen (s. o. II. 3. [S. 60]). Rechtsvergleichung verfährt eher empirisch sozialwissenschaftlich, ihr geht es mehr darum, fremdes Recht zu erklären oder zu verstehen.271 Aufschlussreich ist hier die Vorgehensweise vom wohl bedeutsamsten Vertreter des rechtsvergleichenden Ansatzes im deutschen Strafrecht, Jescheck. Seiner Ansicht nach hat die Strafrechtsvergleichung in vier Stufen zu erfolgen: die Erste ist das Einnehmen eines „eigenen dogmatischen und kriminalpolitischen Standpunkts“, in der Zweiten geht es um die „exegetische Arbeit am Auslandsrecht“, in der anschließenden Stufe erfolgt eine „systematische Ordnung und Darstellung des Materials“, und zuletzt wird eine rechtspolitische Bewertung versucht.272 Das heißt, man nimmt einen dogmatischen und kriminalpolitischen Standpunkt auf der ersten Stufe, also endogam ein, ohne sich davor mit anderen ausgetauscht zu haben.273 Auch im Lehrbuch von Jescheck, das aus komparatistischer Perspektive als „mustergültiges Werk“ 274 gilt, werden ausländische Regelungen und ausländische Literatur zur Kenntnis genommen, aber erst in einem Abschnitt, der nach der Behandlung der eigentlichen Fragen jeden Paragraphen abschließt.275 Von einer „Herstellung eines internationalen Gesprächs über die Probleme der Rechtswissenschaft“ 276 kann bei einer solchen Vorgehensweise nicht wirklich die Rede sein. Rechtsvergleichung berichtet über fremde Gedanken, universelle Rechtswissenschaft denkt sie mit und eignet sie sich an. b) Der entscheidungsbezogene Ansatz der Rechtsvergleichung führt auch dazu, dass es ihr insbesondere um Regelungen geht. Im Wort Rechtsvergleichung bedeutet das „Recht“, das verglichen wird, in erster Linie „Rechtsordnung“;277 271 Etwa Zweigert, RabelsZ 38 (1974), S. 301 ff., 303: „Die Rechtsvergleichung ist selbst eine Sozialwissenschaft“; Rheinstein, Einführung, S. 20 f., 28 ff. Zwar sind in der rechtsvergleichenden Literatur Ansätze i. S. einer „wertenden Rechtsvergleichung“ vorhanden, s. Zweigert, FS Schmitthoff, S. 405 ff.; zust. Rosenau, FS Puppe, S. 1610 f.; Sauer, ZStW 67 (1955), S. 351 ff. (Gegenüberstellung von historisch-soziologischer und normativ-kritischer Rechtsvergleichung); es bleibt aber dabei, dass auch bei diesen Ansätzen die kritische Wertung als etwas verstanden wird, das die Grenzen der wissenschaftlich legitimen Betätigung sprengt. 272 Jescheck, Strafrechtsvergleichung, S. 40 ff. 273 Die aus rechtsvergleichender Perspektive an diesem Modell gelegentlich verübte Kritik stellt gerade das nicht in Frage, z. B. Nelles, FS Eser, S. 1008 f. 274 Schroeder, ZStW 86 (1974), S. 794; zust. Kaiser, Strafrechtsvergleichung, S. 84. 275 Jescheck/Weigend, AT, S. 350 f., 370 f., 467 f., 489 f., 498 f., 527 f., 575 f., 612 f., 661 f., 725 f., 765 f., 780 f., 883 f., trotz seines Bekenntnisses zu einer „universalen Methode der strafrechtswissenschaftlichen Forschung“, S. 44. Ähnlich geht die Monografie von Spinellis über das Problem der Rechtskraft vor, die von allen deutschen Dissertationen das wohl sorgfältigste rechtsvergleichende Kapitel zum Thema enthält (S. 137–166). Nur beginnt dieses Kapitel bezeichnenderweise erst nach Abschluss der Darstellung der deutschen Diskussion und der Entwicklung der eigenen Auffassung. 276 Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 3. 277 Rabel, RhZZP 1924, S. 280 ff.; Sauer, ZStW 67 (1955), S. 354; Ancel, GS R. Goldschmidt, S. 105 f.; Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 4; s. a. Constantinesco,

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Rechtsvergleichung erforscht ausländische Rechtserzeugungen auf der Suche nach brauchbaren „Lösungsvorräten“.278 Rechtsvergleichung ist also eher ein Vergleich von Ergebnissen als von Gründen. Deshalb glaubt sie auch, sich nur mit sog. Mutterordnungen und nicht mit unter ihrem Einfluss stehenden Tochterordnungen befassen zu müssen.279 Mit Frankreich und Italien müsse man sich intensiv beschäftigen, die Rechtsordnungen der iberischen Halbinsel und Südamerikas dürfe und müsse man beiseitelassen.280 Demgegenüber interessiert sich eine universelle Rechtswissenschaft vorwiegend für Gründe, also für hochwertige wissenschaftliche Leistungen und gut fundierte gerichtliche Entscheidungen. Ob sie im Rahmen von Mutter- oder Tochterordnungen entstanden sind, ist für sich genommen ohne Relevanz. Traditionell von der Rechtsvergleichung geschätzte Länder wie Frankreich verlieren für eine universelle Rechtswissenschaft ihre Prominenz,281 während Länder mit einzelnen kreativen und anregenden Rechtswissenschaftlern wie Italien und Portugal daran gewinnen. ZVglRW 1980 (1981), S. 184; krit., aber den Ansatz nur teilweise überwindend, Burghardt, Rechtsvergleichung, S. 237. Erweiterungen (z. B. Schultz, Strafrechtsvergleichung, S. 9 f., 11 f., der die normative Perspektive mit einer sozialwissenschaftlichen Betrachtung ergänzen möchtet; Eser, FS Kaiser, S. 1501, der eine Mehrzahl unterschiedlicher Gegenstände der Vergleichung nennt: „ob nur bestimmte Rechtssätze oder Institutionen, ob nur deren gegenwärtige Erscheinungsformen oder auch ihre Entstehungsgeschichte und Zukunftsperspektiven, ob nur das normative Selbstverständnis oder auch die tatsächliche Implementation oder ob unter Berücksichtigung sonstiger Aspekte“; Nelles, FS Eser, S. 1010, die den „realen Lebenssachverhalt“ als Gegenstand des Vergleichs ansieht; Pradel, Droit pénal comparé, S. 2, der sämtliche Rechtsquellen in Betracht ziehen möchte) schlagen noch nicht die Brücke zur universellen Rechtswissenschaft. Denn auch aus diesen angereicherten Perspektiven bleiben Gründe zweitrangig und sind bestenfalls „sonstige Aspekte“ im Sinne Esers. 278 In diesem Sinne Jescheck, Strafrechtsvergleichung, S. 28, 42; ders. Strafprozeßreform, S. 11, 22; Jescheck/Weigend, AT, S. 45; Sauer, ZStW 67 (1955), S. 352; Ancel, FS Julliot de la Morandière, S. 16 ff.; Kaiser, Strafrechtsvergleichung, S. 83 („Förderung der Arbeit des Gesetzgebers“ als „eigentliche Bedeutung der Strafrechtsvergleichung“), 84, 90; Perron, Strafrechtsvergleichung, S. 122; Eser, FS Kaiser, S. 1511; Nelles, FS Eser, S. 1013; Pradel, Droit pénal comparé, S. 12 ff.; dies erfolgt nicht erst bei der von einigen sog. „legislativen Rechtsvergleichung“ (Perron, Eser, ebda.; Vogel, Strafrechtsvergleichung, S. 205). Krit. auch Jung, JuS 1998, S. 6: „marginale Rolle“ der Rechtsvergleichung bei der Rechtsanwendung, denn „der deutsche Strafrichter wendet nur deutsches Recht an“; ferner ders. Einführung, S. 4. Dem hier vertretenen Verständnis näher steht die von Junker, JZ 1994, S. 922 erhobene Forderung einer der Idee der Bildung verpflichteten Rechtsvergleichung als Grundlagenfach. 279 Zweigert, SG 1960, S. 195; Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 44. 280 Zweigert, SG 1960, S. 195; teilw. anders Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 45 f. Nach dem von Burghardt, Rechtsvergleichung, S. 252 vorgeschlagenen diskursiv-vermittelnden Ansatz sind insbesondere die Erzeugungen der Länder zu vergleichen, auf deren Kooperation das jeweilige völkerstrafrechtliche Gericht in seiner Entscheidung angewiesen ist. 281 Nach der polemischen Einschätzung von Schünemann, FS Roxin I, S. 11 soll die strafrechtswissenschaftliche Entwicklung Frankreichs teilweise das 19. Jahrhundert nicht überwunden haben. Positiver dagegen das Urteil von Tiedemann, FS Lenckner, S. 422 f.; gegen Schünemann Pradel, Droit pénal comparé, S. 11 (ersichtlich beleidigt).

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c) Die für den hier vertretenen universellen Ansatz charakteristische Weigerung, die Innenperspektive aufzugeben, führt zu einem weiteren Unterschied zum rechtsvergleichenden Ansatz. Denn die kulturellen, geschichtlichen, politischen Faktoren, die für die Rechtsvergleichung seit Montesquieu im Vordergrund stehen,282 müssen bei einer Auseinandersetzung aus der Innenperspektive weitgehend ausgeblendet werden. Was die Rechtsvergleichung als „fatale Selbstbeschränkung der Juristen auf dogmatische Analyse und Rechtsanwendung“ 283 ansieht, ist für die universelle Strafrechtswissenschaft Teil des Programms. Dass kulturelle Unterschiede für die universelle Rechtswissenschaft keine Hürde sind, wurde o. A. II. 3. (S. 61 ff.) bereits dargelegt. Eine solche Selbstbeschränkung ist weder ein Luxus noch ein sacrificium intellectus. Sie beruht vielmehr auf der rationalistischen Ausgangslage, die nichts anderes bedeutet, als dass man Gründe als solche, d.h. hinsichtlich der in ihnen formulierten normativen Ansprüche, ernst nimmt. Denn die Verlagerung der Diskussion auf eine andere, angeblich höhere oder tiefere Ebene, führt überwiegend dazu, dass dem Grund seine normative Dimension verlustig geht. Das Normative wird zum Epiphänomen erklärt, zum bloßen Überbau einer eigentlich maßgeblichen, anderen Dimension. Ein solcher Reduktionismus mag zwar für die Rechtssoziologie, -psychologie oder -anthropologie und für die insofern deskriptiv ausgerichtete Rechtsvergleichung sinnvoll sein. Für eine rationalistisch begründete universelle Rechtswissenschaft bedeutet er aber das Abhandenkommen des Diskussionsgegenstands.284 Es geht nicht darum, ein Ergebnis kausal zu erklären, auch nicht darum, es geisteswissenschaftlich-kulturalistisch zu verstehen, sondern darum, ob es berechtigt ist, oder dafür gute Gründe angeführt werden können. Natürlich kann diese Selbstbeschränkung in einer gewissen Hinsicht auch als Verarmung gesehen werden. Dies belegt auch, warum der hier vorgezogene An282 Montesquieu, De l’esprit des lois, Livre I Chap. 3; heute Zweigert, RabelsZ 38 (1974), S. 301 ff., 303; Jescheck, Strafrechtsvergleichung, S. 41; Kaiser, Strafrechtsvergleichung, S. 80; Schultz, Strafrechtsvergleichung, S. 14; Schwind, GS Constantinesco, S. 690 f.; Jung, Einführung, S. 3; ders. JuS 1998, S. 2 f.; Perron, ZStW 109 (1997), S. 286 f., 301 („Binsenweisheit der Rechtsvergleichung“); Reitz, AmJCompL 46 (1998), S. 627; Hilgendorf, Globalisierung, S. 16 ff., 22 ff.; weiterführend ebenso Großfeld, Macht und Ohnmacht, S. 25 („Rechtskulturenvergleichung“), 86 f., 134 ff.; ders. Kernfragen, S. 11 ff., 24 ff.; und jüngst der Vorschlag einer kulturbezogenen Rechtsvergleichung durch S. Beck, Dialog, S. 65 ff. Vgl. noch Legrand, Le droit comparé, S. 6 ff.; Scholler, FS Art. Kaufmann, S. 743 ff., der in Radbruch einen Vergleicher von Rechtskulturen sieht. Auch die funktionale Methode wird teilweise in diesem Sinne verstanden (etwa Hilgendorf, Globalisierung, S. 22 f.). Häufig mündet die Berücksichtigung kultureller Verschiedenheiten in einen Relativismus, hierzu bereits die o. A. II. 3. (S. 61 ff.) formulierte Kritik. 283 Hilgendorf, Globalisierung, S. 23. 284 Für eine anti-reduktionistische Methodik bereits Greco, Lebendiges, S. 27 f. und näher u. C. Ansonsten dürfte man ein Argument damit zu entkräften versuchen, dass man darauf hinweist, es komme von einem Amerikaner oder Deutschen (ähnl. Fletcher, AmJCompL 46 [1998], S. 692); für ein konkretes Beispiel s. u. Bd. 3, Fn. 3912.

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satz nicht den Anspruch erhebt, mit der Rechtsvergleichung zu konkurrieren. Derjenige, der eine bestimmte Rechtsordnung in ihren kulturellen, sozialen und politischen Zusammenhängen verstehen will, wird nur bei der Rechtsvergleichung sein Erkenntnisanliegen befriedigen können. d) Weil man gegenüber dem ausländischen Recht keine bloß externe Perspektive einnimmt, wird die universelle Rechtswissenschaft bei der Kritik dieses Rechts auch weniger Zurückhaltung spüren lassen dürfen. Zwar sollte derjenige, der von einem anderen lernen will, von einem Charity-Principle bzw. einem Prinzip wohlwollender Auslegung ausgehen.285 Bis zum Nachweis des Gegenteils gilt der andere als jemand, der Sinnvolles sagt und sich nicht selbst widerspricht. Eine in der Innenperspektive verbleibende Beschäftigung mit Gedanken anderer Rechtsordnungen muss dagegen auch mit der Möglichkeit rechnen, dass sich diese nicht immer auf überzeugende Gründe zurückführen lassen, sondern Ausdruck von Billigkeit oder sogar von Willkür sind (s. o. A. I. [S. 44, 52 ff.]). Manchmal wird das einzige, was man für eine bestimmte Regelung anführen kann, ein „so tun wir’s halt“ sein. Weil aber ein Umsteigen auf Soziologie, Psychologie oder Ähnliches die Innenperspektive sprengt, stünde es der universellen Rechtswissenschaft allein offen, einen stillschweigenden Grund aufzudecken oder einen an sich nicht vorhandenen Grund nachträglich unterzuschieben. Kann man aber keinen stillschweigenden Grund ausfindig machen, dann muss dies schlicht festgestellt werden; eine universelle Rechtswissenschaft muss sich davor hüten, Willkür zu Recht hochzustilisieren (bereits o. A. I. [S. 44], und u. D. [S. 116]). Genauso selbstverständlich, wie er das eigene Recht kritisiert, wird der universell arbeitende Jurist fremdes Recht als Willkür denunzieren dürfen. Rücksichten auf die political correctness kennt er nicht. Das heißt aber noch nicht, dass er das ausländische Recht mit derselben Härte und Entschiedenheit kritisieren wird, wie sein eigenes. Das Bewusstsein der vielen Schwierigkeiten, die mit der Beschäftigung mit fremden Rechtsordnungen einhergehen (dazu sogleich u. C. [S. 113 f.]), und vor allem die Tatsache, dass es für ihn eher darum geht, vom anderen zu lernen als ihn zu belehren, raten zur Zurückhaltung (näher u. C. [S. 112 f.]). e) Die Aufwertung der Innenperspektive bedeutet letztlich nichts anderes als eine Vertiefung des herkömmlichen rechtsdogmatischen Ansatzes. Zwar hat das Wort Dogmatik einen theologischen Beigeschmack, als würde man bei Sätzen anfangen, die über jede Kritik erhaben sind, und auch aus diesem Grund wird es von ausländischen Juristenkreisen häufig gemieden. Das Wesentliche aber, was das Wort Dogmatik in der Tat treffend widerspiegelt, ist die Weigerung, die Innenperspektive reduktionistisch aufzugeben. Der hier vertretene universalistische Ansatz ist somit der Versuch, das in der Innenperspektive vorhandene Potenzial 285

Dazu Davidson, Expressing Evaluations, S. 35 f.

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auszuschöpfen und normative Prämissen, die man bei der Verwendung diskursiv verkürzter bzw. elliptischer Gründe implizit voraussetzt, aufzudecken. Während Rechtsvergleicher zu einer dogmatikskeptischen Haltung neigen, nach der raffinierte (vor allem deutsche) Konzepte als Verschwendung von Ressourcen angesehen werden,286 und häufig bei einem relativistischen non-liquet stehen bleiben,287 will der vorliegende universalistische Ansatz die hinter den einzelnen herkömmlichen Dogmatiken verborgene Weisheit aufdecken und weiter entwickeln. V. Fazit Die vorhandenen Ansätze zu einer universell ausgerichteten Wissenschaft befriedigen das Erkenntnisinteresse, das die hier vorgeschlagene rationalistische universelle Rechtswissenschaft belebt, nicht. Die Selbstbeschränkung auf formelle Strukturen oder Probleme macht nach Abdecken eines Bereichs aus der Welt der Gründe willkürlich Halt. Sachlogische Strukturen können kaum erfolgreich als Gründe fungieren. Rechtsvergleichung wird eher als Blick von außen getrieben, der selten den Schritt zu der Ebene der Gründe wagt. Gerade hier setzt das vorliegende Modell einer universellen Rechtswissenschaft an. Eine Hoffnung, die von einem prominenten Rechtsvergleicher geäußert wurde, der hiermit die Grenzen des eigenen Ansatzes überwindet, wird hier erneut aufgegriffen: „Erinnern wir uns: was wir letzten Endes erhoffen, ist eine universale Rechtslehre mit eigenen Begriffen und Wertungsmaßstäben“.288

C. Die eigene konkrete Vorgehensweise Welche Konsequenzen sind hieraus für die konkrete Vorgehensweise desjenigen, der seine Forschung als Arbeit an einer universellen Rechtswissenschaft versteht, zu ziehen? Eine Wissenschaft ist keine individuelle Tätigkeit, sondern ein kollektiv-institutionelles Unternehmen. Es können deshalb auf der kollektiven Ebene Eigenschaften entstehen, die auf der individuellen Ebene an sich noch nicht vorhanden sind.289 Trotzdem muss bereits jeder Beitrag, der auf der indivi286 Zweigert, FS Bötticher, S. 448, 449: „Rechtsvergleichung ist also ihrer Natur nach eine funktionelle und antidogmatische Methode“; Kötz, Rechtsdogmatik, S. 77 ff.; Jescheck, Strafrechtsvergleichung, S. 44 erwartet von der Rechtsvergleichung „Gegengewichte gegen die Überschätzung der eigenen Dogmatik“; Eser, FS Kaiser, S. 1516 f.; Tiedemann, FS Lenckner, S. 423 f., der sogar die Unterscheidung von Unrecht und Schuld für „wohl nicht wirklich notwendig“ hält! Zu Recht krit. Dölle, RabelsZ 34 (1970), S. 403 ff.; Junker, JZ 1994, S. 923 f. 287 Ausdrücklich für einen Relativismus Zweigert, RabelsZ 38 (1974), S. 303; ausführlicher ders. FS Schmitthoff, S. 403 ff. Auch nach Rabel, RhZZP 1924, S. 280 gehören Wertungen nicht mehr zur Rechtsvergleichung. 288 Rabel, RabelsZ 16 (1951), S. 358. 289 Aus philosophischer Sicht spricht man hier von „Emergenz“, vgl. zu dem Begriff stellvertretend Kim, Synthese 151 (2006), S. 547 ff.

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duellen Ebene geleistet wird, in einem bestimmten Maße im Sinne der Entstehung dieser Eigenschaft ausgerichtet sein. Das bedeutet konkret, dass ein individueller Beitrag zum Kollektivunternehmen der universellen Strafrechtswissenschaft bestimmten Anforderungen genügen muss. I. An erster Stelle muss nach den Fähigkeiten des individuellen Autors ausländische Literatur und Rechtsprechung Berücksichtigung finden. Dies bedeutet, dass zusätzlich zu dem, was die Mitglieder der eigenen Rechtsordnung schreiben, was keine wissenschaftliche Arbeit unberücksichtigt lassen darf, auch das, was außerhalb der eigenen Staatsgrenzen publiziert wird zur Kenntnis genommen werden muss.290 Insofern bedeutet ein solcher Ansatz in der Tat „mehr Arbeit“.291 Man darf aber vier Punkte nicht übersehen. Erstens ist nicht einmal der traditionell arbeitende Jurist dazu gehalten, alles, was in seinem Land publiziert wird, zu berücksichtigen. Vielmehr darf oder soll er sogar eine Auslese nach Qualitätskriterien treffen. Dieser Freibrief muss erst recht dem universal arbeitenden Juristen gewährt werden.292 Zweitens ist die Berücksichtigung fremdsprachiger Literatur nicht nur in anderen Rechtsgebieten, wie etwa dem Völkerrecht, eine Selbstverständlichkeit, mit der man seit Generationen lebt, sondern sie gehört in vielen Ländern wie Spanien, Portugal oder Italien zum wissenschaftlichen Alltag. Die an die deutsche Strafrechtswissenschaft gerichtete Kritik, nach der sie die ausländischen Forschungsbeiträge souverän ignoriere, ist nicht völlig unberechtigt.293 Es ist an der Zeit, diese als „Einbahnstraße“ charakterisierte Relation zu rechtswissenschaftlichen Beiträgen aus dem Ausland294 hinter sich zu lassen. Drittens wird die Beschäftigung mit fremdsprachiger Literatur und Rechtsprechung von demjenigen, der ein aufrichtiges Interesse an den zu behandelnden Fragen hat, nicht allein als lästige Bürde empfunden, sondern als unerschlossene Fundgrube von Gedanken und Anregungen, die er begeistert zur Kenntnis nehmen wird. Viertens ist, wie betont, Wissenschaft kein individuelles, sondern ein kollektives Unternehmen. Kein Wissenschaftler muss also alle Sprachen der Welt beherrschen. Wenn sich aber jeder Wissenschaftler bemüht, in seiner Untersuchung die Gründe, die in den von ihm beherrschten Sprachen formuliert wurden, dem universellen Diskussionsforum vorzustellen, das auch durch seine Arbeit all290

Fletcher, Grammar, S. 9. So die Befürchtung von Kühl, ZStW 109 (1997), S. 792. 292 Das ist den Völkerrechtlern längst bekannt, vgl. Art. 38 Nr. 1 d IGH-Statut, der die „teachings of the most highly qualified publicists of the various nations“ als Rechtsquelle benennt. Hierzu Ambos, Internationales Strafrecht, § 5 Rn. 9. 293 Fletcher, Deutsche Strafrechtsdogmatik, S. 239: „selbstbewusste Provinzialität der deutschen Literatur“. 294 Ambos, Allgemeiner Teil, S. 56; ebenso Hünerfeld, Strafrechtsdogmatik, S. 15; Tiedemann, FS Lenckner, S. 413; Fletcher, Deutsche Strafrechtsdogmatik, S. 239 f.; Donini, RitDPP 2001, S. 49 f.; Hilgendorf, Globalisierung, S. 17; Vogel, JZ 2012, S. 27. Bereits Rabel, RhZZP 1924, S. 299. 291

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mählich entstehen wird, dann ist mittelfristig zu erwarten, dass alle wichtigen Gründe Gehör finden.295 Die vorliegende Arbeit bedient sich vor allem der italienischen, amerikanischen, französischen und portugiesischen Literatur. Die italienische Strafprozesswissenschaft bietet eine weitgehend unentdeckte Quelle von Argumenten und Einfällen; so gut wie alle Themen des Strafprozessrechts sind Gegenstand fundierter monografischer Studien. Aus den USA wurden in erster Linie die auf sorgfältige Argumente gestützten, problembezogenen Entscheidungen des Supreme Court und die sich mit ihnen eingehend beschäftigenden Aufsätze berücksichtigt. Die Berücksichtigung dieser aus einer prinzipiell verschiedenen prozessualen Tradition entstammenden Gedanken ist vor allem deshalb fruchtbar, weil sie für die o. A. II. 6. (S. 69 ff.) aufgestellte These, dass die Unterschiede zwischen Prozessstrukturen einer universellen Strafprozessrechtswissenschaft nicht entgegenstehen, die Feuerprobe bietet. Das Angebot, das aus dem heutigen Frankreich zur Lösung der hier behandelten Sachprobleme geleistet wird, ist demgegenüber mager; eine Beschäftigung mit der französischen Literatur aus dem 19. Jahrhundert wird aber gewisse Prämissen, die dem geltenden deutschen Recht unausgesprochen zugrunde liegen, zu enthüllen helfen. Im kleinen Land Portugal wird relativ wenig publiziert, dafür aber Interessantes und Kreatives. Ich habe auch versucht, die mir bekannt gewordenen Spitzenleistungen der englischen, spanischen, schweizerischen, österreichischen und auch lateinamerikanischen, vor allem argentinischen Literatur zu berücksichtigen. Auch mit ausländischer Rechtsprechung habe ich mich beschäftigt, eher mit der amerikanischen als mit der anderer Staaten. Dies hing zum Teil mit der schweren Verfügbarkeit dieser Entscheidungen zusammen, zum Teil auch mit ihrer zweifelhaften Qualität. Davon, dass die französische Rechtsprechung ihre Entscheidungen kaum begründet, war bereits die Rede (s. o. A. II. 3. [S. 62 f.]); die italienischen Gerichte liefern dagegen zwar Begründungen, die aber nicht immer rechtlich ernst genommen werden dürfen (s. u. Teil 2 Kap. 2 D. IV. 3. a) [S. 493 ff.]).296 II. Kern der universell orientierten Untersuchung ist aber ihre Bemühung, aus den einzelnen Argumenten unterschiedlicher Herkunft, die bei der eigenen Reflexion und Theoriebildung Berücksichtigung finden, die „vollständigen“ Gründe auszuarbeiten. Die Notwendigkeit der Erarbeitung vollständiger Gründe bedeutet 295 Somit wird nur die von Rechtsvergleichern bereits formulierte Erwartung wiederholt: „Was noch an Färbung des Bildes durch Herkunft und Schulung des Forschers übrig ist, korrigiert sich durch die internationale Zusammenarbeit“ (Rabel, RabelsZ 16 [1951], S. 359; zust. Zweigert, SG 1960, S. 200). 296 Zu Spanien s. ähnliche Rügen von De la Oliva Santos, Conexion, S. 167. Gerade zum Verhältnis zwischen Kriminalstrafrecht und Ordnungs- bzw. Verwaltungs- und Disziplinarstrafrecht (näher Teil 2 Kap. 3 D. IV. 1. [S. 673 ff.]) gibt es eine ausgiebige spanische Rechtsprechung (zusammenfassend etwa Górriz Royo, EPC 24 [2004], S. 196 ff.), die so viele materiell- und prozessrechtliche Fragen vermengt, dass es kaum möglich erscheint, daraus Erkenntnisse abzuleiten.

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negativ, dass Autoritätsargumente, insbesondere Gesetzestexte und nackte Leitsätze von Gerichtsentscheidungen für sich genommen nur von eingeschränkter Aussagekraft sind.297 Positiv bedeutet es die Erforderlichkeit der Formulierung einer vorpositiven Theorie, die erst in einem weiteren, davon auch deutlich zu trennenden Schritt in das Korsett des geltenden Rechts der eigenen Rechtsordnung übersetzt werden soll. Erst auf dieser Stufe ist die Autorität von Gewicht. Es werden also in Weiterführung der großen Tradition des Endes des 18. und Anfangs des 19. Jahrhunderts zwei Stufen unterschieden, die der „Rechtswissenschaft“ und die der „Gesetzeskunde“,298 eine philosophische Stufe, in der es um die Bestimmung der „möglichen Rechte des Staates“ geht, und eine ihr nachfolgende positive Stufe, die sich um die Bestimmung der „wirklichen Rechte“ kümmert.299 Die Aufgabe ist, darüber Wache zu halten, ob das Wirkliche nicht das Mögliche überschreitet. 1. Bei der Ausarbeitung der vorpositiven Theorie wird die Vorgehensweise besonders komplex sein.300 Der Traum mancher Vernunftrechtler, ein System allgemeiner rechtlicher Grundsätze rein deduktivistisch, more geometrico abzuleiten, ist ausgeträumt. Die eigene Argumentation soll deshalb nicht rein fundationalistisch, vom Konkreteren zum Abstrakten entwickelt werden. Vielmehr soll man sich zum einen gewisser fundamentaler Prinzipien bedienen, die für die Möglichkeit einer Unterscheidung von Macht und Recht konstitutiv sind, und die ihrerseits kaum mehr einer fundationalistischen Begründung fähig sind. Dazu gehört etwa das Instrumentalisierungsverbot301 und der nemo iudex in causa sua-Grundsatz.302 Auf der anderen Seite soll auf konkrete Intuitionen zur richtigen Lösung bestimmter klarer Einzelfälle großer Wert gelegt werden. Dabei soll als Rohstoff für die eigene Reflexion Literatur aus allen dem Verfasser zugänglichen Quellen 297

Ähnlich Amelung, Informationsbeherrschungsrechte, S. 9 f., gegen jede „Unterwerfung der Wissenschaft unter die Praxis“. 298 So die Überschrift der von Feuerbach/Grolman/Almendingen herausgegebenen Zeitschrift: „Bibliothek für die peinliche Rechtswissenschaft und Gesetzeskunde“ (1797 ff.). 299 Feuerbach, Lehrbuch, S. 2: „Das allgemeine peinliche Recht, als Philosophie der rechtlichen Gründe des Strafrechts und seiner Ausübung, ist die Wissenschaft von den möglichen Rechten des Staats aus Strafgesetzen; das positive peinliche Recht die Wissenschaft von den wirklichen Rechten eines bestimmten Staats (Deutschland) aus gegebenen Strafgesetzen“. S. a. Grolman, Grundsätze, S. VII; und Carrara, mit der Unterscheidung zwischen „philosophischer“ und „positiver“ Betrachtung des Strafverfahrens; Erstere beschäftige sich aber seines Erachtens „mit den obersten Seinsgründen des Strafverfahrens und entwickelt eine Reihe absoluter Prinzipien und eine Lehre, die bei allen Völkern die gleiche ist“ (Carrara, Del giudizio criminale, § 784 Fn. 1 [S. 62]). 300 Siehe bereits Greco, Lebendiges, S. 27 f. 301 Das bei der Konstruktion unserer „dreistufigen“ Strafprozesstheorie eine zentrale Rolle spielen wird, s. u. Teil 1 Kap. 2 C. III. 6., IV. 4., VI. (S. 192 ff., 209 ff., 234 ff.). 302 Woraus ein Anklagegrundsatz folgt, der seinerseits für die Lösung der Problematik des Tatbegriffs von maßgeblicher Bedeutung ist, s. u. Teil 2 Kap. 2 B. III. 2. b) (S. 388 ff., 390 ff.).

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Berücksichtigung finden. Und gleichzeitig zu dieser sich zugleich von oben nach unten als auch von unten nach oben bewegenden Theorisierung soll auf die Kohärenz des Ganzen geachtet werden, die ihrerseits als weitere Bestätigung für dessen Richtigkeit angesehen werden kann. 2. Tragende Prämisse hinter der Übersetzung ist der Anspruch, der von jeder Rechtsordnung gestellt wird, eine rationale und keine reine Macht- und Willkürordnung zu sein.303 Selbstverständlich soll diese Übersetzung nur im Rahmen des methodisch Zulässigen erfolgen304 – also im deutschen Recht die Grenzen der anerkannten Mittel der teleologischen Auslegung und insbesondere Reduktion und Extension beachten. Lässt sich eine diese Grenzen einhaltende Übersetzung nicht reibungslos bewerkstelligen, liefert die vorpositive Theorie einen Maßstab für Kritik und für Anregungen de iure condendo. Im vorliegenden Rahmen wird die Übersetzung in erster Linie die eigene deutsche Rechtsordnung im Blick haben. Diese ist die Rechtsordnung, die dem Verfasser und dem Publikum, für das die vorliegende Monografie in erster Linie geschrieben wird, am besten bekannt ist. Höchstens an vereinzelten Stellen werden für weitere Rechtsordnungen Schlussfolgerungen gezogen. Diese Schlussfolgerungen bedürfen selbstverständlich einer Bestätigung, die im Idealfall nur durch eine Untersuchung eines kompetenteren Kenners des einschlägigen Rechtssystems dargebracht werden könnte. Der universelle Anspruch der vorpositiven Theorie wird dadurch aber nicht konterkariert, da dieser sowohl inhaltlich als auch prozedural gestützt ist. Denn inhaltlich wird er auf Gründen beruhen, die von einzelnen positiven Rechtsordnungen unabhängig sind, weil sie mit der Grundfrage nach der Legitimität von staatlicher Machtausübung im Bereich der Strafverfolgung zu tun haben. Und prozedural wird sicherzustellen sein, dass die Theorie nicht allein unter endogamer Berücksichtigung deutschsprachiger Literatur gewonnen wird, sondern unter Aufarbeitung von Reflexionen, die in allen dem Verfasser zugänglichen Sprachen verfasst worden sind. Somit findet das an sich anspruchsvolle und gewagte Projekt einer universellen Rechtswissenschaft den Weg zurück zur Bescheidenheit. Denn die Übersetzung der vorpositiven Theorie in das positive Recht muss jede Dogmatik für die eigene Rechtsordnung vornehmen. Die universelle Rechtswissenschaft möchte, wie schon vorher gesagt, eher von den anderen lernen als sie belehren. III. Zur Vermeidung von Missverständnissen ist noch zu betonen, dass die universelle Rechtswissenschaft einen besonderen Anspruch gerade nicht stellt. 1. Universelle Rechtswissenschaft ist nicht Ausarbeitung eines gemeinsamen, konsensfähigen Nenners. Die universelle Rechtswissenschaft wird allein vom In303

Vgl. die Nachw. o. Fn. 47. Zu den gelegentlich schwierigen wissenschaftsethischen Dilemmata, in die man sich zu verwickeln vermag, Zaczyk, StV 1993, S. 492 Fn. 28. 304

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teresse an der Erweiterung und Vertiefung der Erkenntnisse geleitet. Sie ist deshalb kein Wegbereiter der Rechtsvereinheitlichung und muss sich nicht wegen der gefürchteten internationalen Durchsetzungsschwierigkeiten auf Kompromisse einlassen.305 Vor allem ist sie nicht daran gehalten, sich dumm zu stellen, so zu tun, als wäre ihr das Niveau der herkömmlichen (vor allem deutschen) Rechtswissenschaft zu hoch. Sie weigert sich also, im Chor der Klagelieder gegen eine „Überdogmatisierung“,306 eine „hypertrophe Strafrechtsdogmatik“ 307 oder sogar eine „pathologische Überwucherung der deutschen Strafrechtsdogmatik“ 308 mitzusingen.309 Während immer zahlreichere Stimmen deutsche Systematisierungsansprüche als Hindernisse bei der internationalen Anschlussfähigkeit der hierzulande entwickelten Gedanken ansehen310 und sogar mit vorbildhafter political correctness die Gleichwertigkeit aller nationalen Dogmatiken beteuern,311 besteht die universelle Rechtswissenschaft auf dem Wert eines ausdifferenzierten dogmatischen Systems. Ihre noch größere Befürchtung ist vielmehr, dass die von den Kritikern um der internationalen Anschlussfähigkeit halber geforderte Preisgabe einer erst über Generationen mühsam erreichten Exzellenz gerade das, was sie zu retten versucht, schon von vornherein vernichten würde. Die erhoffte Erleichterung der internationalen Akzeptanz der deutschsprachigen Rechtswissenschaft soll vielmehr darauf beruhen, dass ein zur universellen Rechtswissenschaft fortentwickelter Ansatz Gedanken, die im Ausland formuliert werden, in seine Reflexion miteinbezieht. Nicht die angebliche Gleichwertigkeit aller Dogmatiken – die hinter der Fassade der Bescheidenheit letztlich die selbstgenügsame Annahme verdeckt, die deutsche Dogmatik könnte für „bloße Ausländer“ viel zu schwer sein –, sondern allein die Weiterentwicklung des erreichten Exzellenzniveaus, diesmal unter Aufarbeitung von Beiträgen ausländischer Wissenschaftler und Gerichte, ist ein authentischer Ausdruck von Anerkennung des anderen als eines Gleichen. Kondeszendenz ist eigentlich eine Form der Missachtung.

305 Ein weiterer Unterschied zur Rechtsvergleichung, vgl. Perron, Strafrechtsvergleichung, S. 123; für Kompromisse im Völkerstrafrecht Ambos, Internationales Strafrecht, § 7 Rn. 2, der später bei der Behandlung einzelner Fragen die Überlegenheit der deutschen Systematik offen zugibt (§ 7 Rn. 99). 306 Ambos, LH Gimbernat, S. 99. 307 Rotsch, GS Eckert, S. 717. 308 Rotsch, ZIS 2008, S. 1. 309 Vgl. auch Tiedemann, JZ 2000, S. 145; Volk, Vom Aussterben bedroht, S. 90; „Die deutsche Dogmatik ist zu kompliziert geworden. So kann man sie weder applizieren noch exportieren“; ferner den von Schünemann, FS Roxin I, S. 2 ff. geprägten, aber nicht zur Kritik eingesetzten Begriff der „Überfeinerung“; ihn kritisch aufgreifend Rotsch, ZIS 2007, S. 264; der Sache nach Ambos, Internationales Strafrecht, § 7 Rn. 2. 310 Vogel, GA 2002, S. 524, 532; Rotsch, GS Eckert, S. 716 ff.; ders. ZIS 2008, S. 2. 311 Vogel, GA 2002, S. 524; ähnl. Tiedemann, FS Lenckner, S. 433. Zu Recht krit. Schünemann, FS Roxin I, S. 11; ders. GA 2002, S. 511; Silva Sánchez, GA 2004, S. 682; Puppe, ZIS 2008, S. 67 ff.

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2. Eine universelle Rechtswissenschaft sucht in erster Linie nach Gründen. Sie achtet deshalb besonders darauf, nicht die Begriffe, die zufällig von positivrechtlichen Normierungen erwähnt werden und deshalb in der Rechtsprechung der höchsten Gerichte eine bedeutsame Rolle spielen, bereits als solche als Gründe anzusehen. Hauptbeispiele für solche Begriffe im Strafverfahrensrecht sind Generalklauseln wie das faire Verfahren (Art. 6 EMRK) oder der due process of law (5. Amendment der amerikanischen Verfassung). Diese Begriffe sind eher auf der zweiten Stufe der positivrechtlichen Übersetzung als auf der ersten Stufe der vorpositiven Ausarbeitung der rationalen Tiefstruktur des Regelungssystems von Relevanz. Es lässt sich zwar nicht ausschließen, dass zwischen beiden Ebenen eine perfekte Entsprechung besteht; das ist aber eher ein glücklicher Sonderfall, mit dem nicht zu rechnen ist. Denn häufig entstehen diese Begründungen aus ganz konkreten Anlässen – nämlich daraus, dass der eine Begriff unter dem, was man in der einschlägigen Rechtsnorm vorfindet, das ist, was das erwünschte Ergebnis am ehesten tragen kann, worin man es am besten „verankern“ kann –, und müssen somit nicht notwendig dem wahren Grund entsprechen, der das jeweils gewonnene Ergebnis trägt. Konkret: bei solchen Argumenten geht es eher um die praktische Rechtsschutzperspektive als um die materielle Tiefenstruktur, d. h. als um die Perspektive der Gründe. So musste der amerikanische Supreme Court einzelne Rechte der Bill of Rights als Teil der Generalklausel des due process begreifen,312 um die Anwendbarkeit dieser Rechte auf die einzelnen Bundesstaaten zu ermöglichen.313 Der Gehalt des due process of law beruht deshalb auf Kontingenzen,314 die zwar für die Arbeitsweise des Gerichts, nicht aber für die wissenschaftliche Betrachtungsweise ausschlaggebend sein können.315 Vergleichbar verhält es sich in Spanien mit dem von Art. 24.1 spanVerf genannten Verbot der „indefensión“ – ein Begriff, der sich buchstäblich mit „Verteidigungslosigkeit“ übersetzen lässt. Viele Probleme werden von der Lehre und Rechtsprechung auf den Gesichtspunkt der 312 Siehe allgemein Stuntz, YLJ 105 (1995), S. 435 f. Beispielsweise: U.S. Supreme Court, Brown v. State of Mississipi, 297 U.S. 278, 285 ff. (1936) bzgl. der Selbstbelastungsfreiheit aus dem 5. Amendment; Mapp v. Ohio 367 U.S. 643, 650 ff. (1961), bzgl. des „right of privacy“ aus dem 4. Amendment, dessen Verletzung durch eine illegale Durchsuchung zur Unverwertbarkeit der gewonnenen Beweise führen sollte; Malloy v. Hogan 378 U.S. 1 (1964) bzgl. des „privilege against self-incrimination“ aus dem 5. Amendment; Gideon v. Wainwright 372 U.S. 335, 341 ff. (1963) bzgl. des Rechts auf „assistance of Counsel“ aus dem 6. Amendment. 313 Stuntz, Collapse, S. 225. 314 Stuntz, Collapse, S. 211 f.; Stuntz meint, dass sich dies auf den Gehalt vieler Regeln des amerikanischen Strafverfahrensrechts auswirke, insb. auf ihre Fokussierung auf den Schutz der Privatsphäre und ihre relative Sorglosigkeit hinsichtlich polizeilichen Zwangs (ders. YLJ 105 [1995], insb. S. 439 ff., 446). Zu dieser Entwicklung auch Friendly, CalLR 53 (1965), S. 929 ff. 315 Vgl. das Urteil von Stuntz, Collapse, S. 225: „For the most part, criminal procedure based on the Bill of Rights is a set of rules divorced from reasons“.

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Verteidigung des Beschuldigten zurückgeführt,316 weil dies eine Prüfungskompetenz des Verfassungsgerichts begründet,317 und den betroffenen Rechten des Beschuldigten eine verfassungsrechtliche Adelung gibt. Das hat selbstverständlich nicht zu bedeuten, dass das Verbot der Verteidigungslosigkeit die maßgebliche Größe in einer Theorie des Strafverfahrens darstellen muss. Auch das in Europa im Vordergrund stehende faire Verfahren ist zum einen ein Dachbegriff zur Zusammenfassung einzelner in Art. 6 EMRK benannter Rechte, zum anderen eine Generalklausel, die für die Bestimmung des gerichtlichen Prüfungsmaßstabes von Relevanz ist. Sobald man aus dem Begriff mehr ableitet, z. B. das Verbot der Provokation Unverdächtiger318 oder das Recht auf Verteidigerkonsultation vor der ersten Vernehmung,319 ist man auf materielle Gesichtspunkte angewiesen, etwa auf die Stellung des Beschuldigten als Prozesssubjekt320 oder auf sein Recht auf Teilhabe am Verfahren,321 die ihrerseits dem fairen Verfahren logisch vorrangig sind. Die universelle Rechtswissenschaft interessiert sich in erster Linie für diese Gesichtspunkte. Dass man sie in einem weiteren Schritt unter die Rubrik des due process, des Nichtbestehens der indefensión oder des fair trial zusammenführen kann, gehört zur Stufe der Übersetzung der vorpositiven Gründe in das positive Recht. Diese Rückführung wird meistens auch reibungslos gelingen, da es bei allen diesen Begriffen um geschmeidige Generalklauseln geht. Am klarsten wird das Gesagte, wenn man sich dem ne bis in idem-Grundsatz zuwendet. Weil das deutsche Grundgesetz ihn ausdrücklich vorsieht (Art. 103 Abs. 3 GG), entstand hierzulande ein Bedürfnis für derartige „Verankerungen“ von vornherein nicht. Auf europäischer Ebene, bevor es zum Inkrafttreten des diesen Grundsatz explizit anerkennenden Zusatzprotokolls 7 zur EMRK 1984 kam, leitete die Europäische Kommission ihn ansatzweise aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens ab.322 In anderen Staaten, in denen dieses Bedürfnis auftrat 316 Nachw. bei Armenta Deu, Lecciones, S. 50. Das wichtigste Beispiel in unserem Zusammenhang ist der Tatbegriff, s. u. Teil 2 Kap. 2 B. IV. 2. (S. 410 ff.) – und die verhängnisvolle Folge dieser Vorgehensweise ist das Unvermögen, die Fragen, die aus deutscher Perspektive mit einem Hinweis gem. § 265 StPO gelöst werden, mit denjenigen der Grenzen des Tatbegriffs zu vermengen (zutreffende Kritik bei Armenta Deu, Principio acusatorio I, S. 86; dies. Principio acusatorio II, S. 141, näher Teil 2 Kap. 2 B. IV. 2. [S. 410 ff.]). 317 Richtig Alarcón Sotomayor, Non bis in idem, S. 28, der deshalb die Diskussion als „irregeleitet“ (viciada) bezeichnet. 318 Grdl. EGMR Teixeira de Castro v. Portugal, Beschw. Nr. 25829/94, v. 9.6.1998, Rn. 38 f.; w. N. u. Fn. 797. 319 Etwa EGMR John Murray v. Vereinigtes Königreich, Beschw. Nr. 18731/91, v. 8.2.1996, Rn. 63; Magee v. Vereinigtes Königreich, Beschw. Nr. 28135/95 v. 6.6.2000, Rn. 41; Salduz v. Türkei, Beschw. Nr. 36391/02 v. 27.11.2008, Rn. 52. 320 Nachw. u. Fn. 1124. 321 Insb. Gaede, Fairness als Teihabe, S. 339 ff.; zu diesem Ansatz näher u. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 5. c) (S. 299 ff.). 322 Nachw. bei Frowein/Peukert, EMRK Art. 6 Rn. 173 Fn. 767.

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und die sich mit Generalklauseln wohl nicht so wohl fühlen, bedient man sich einer anderen Methodik, die man in der Sprache der deutschen Verfassungsdogmatik als Schutzbereichserweiterung beschreiben könnte. So folgert man in Spanien den ne bis in idem-Grundsatz aus dem Gesetzlichkeitsprinzip: Das Verfassungsgericht behauptete in der grundlegenden Entscheidung von 1981 ohne nähere Ausführungen, dass das Prinzip mit dem in Art. 25 spanVerf anerkannten Gesetzlichkeitsprinzip innerlich verknüpft sei.323 Dies wird trotz ständiger Wiederholung weder richtiger noch klarer. Es ist nicht unmöglich, dass der Gesetzgeber selbst eine doppelte Bestrafung für zulässig erklärt, womit deutlich wird, dass beide Grundsätze miteinander wenig gemein haben. In Italien konnten die Versuche im Sinne einer verfassungsrechtlichen Verankerung des Grundsatzes bei der Rechtsprechung noch keinen definitiven Erfolg feiern.324 Die in der Literatur vorhandenen Vorschläge sind aber (meistens, denn es gibt auch welche, die das faire Verfahren bemühen325) ähnlich gewagte Schutzbereichserweiterungen: Einige leiten den Satz aus dem Gebot eines Verfahrensabschlusses innerhalb einer angemessenen Frist ab (Art. 111 Abs. 2 itVerf)326 – als wäre es kein Problem, jemanden zwei Mal zu verfolgen und zu bestrafen, solange dies ganz zügig erfolgt. Andere folgern die Rechtskraft aus der Vorschrift über das Recht einer Revision (cassazione per violazione di legge) bei allen Beschränkungen der Fortbewegungsfreiheit (Art. 111 Abs. 7 itVerf),327 eine so fernliegende These, dass sich eine Kritik erübrigt.328 Die Rechtsprechung hat sich bei der nahestehenden Frage der Rechtshängigkeit eines vergleichbar gekünstelten Arguments bedient: Das bis dahin nicht anerkannte Verbot der erneuten Anklageerhebung trotz Rechtshängig-

323 Grdl. Tribunal Constitucional STC 2/1981, II.1.c; ferner etwa STC 77/1983, II.1; 159/1985, II.3; 66/1986, II.2; 154/1990, II.3; 204/1996, II.2; 152/2001, II.1; 2/2003, II.1; 236/2007, Rn. 14; 77/2010, II.4.a; 200/2012, II.2; i. Erg. zust. Garcias Planas, ADPCP 1989, S. 112 f., 123; Iglesias Machado/Moreno y Bravo, CPC 89 (2006), S. 76 f. m.w. Nachw.; Muñoz Clares, Ne bis in idem, S. 109; zust. a. Ibáñez Guzmán, Cosa juzgada, S. 38, der das Argument auf Kolumbien überträgt. Das ist der wichtigste, aber nicht der einzige in der spanischen Rspr. vorhandene Begründungsstrang; s. zu anderen Alarcón Sotomayor, Non bis in idem, S. 28 Fn. 14 m.w. Nachw.; umf. zur Entwicklung des Rspr. Górriz Royo, EPC 24 (2004), S. 196 ff. 324 Überblick und Kritik in Biscardi, Ne bis in idem, S. 557 ff. 325 Etwa Cavallaro, DPP 2010, S. 1109; Rafaraci, EncDir Annalli 3 (2010), S. 858 Fn. 9. 326 So Moscarini, Omessa valutazione, S. 53; Della Monica, DDP-Agg IV (2008), S. 390; abl. Callari, Firmitas, S. 151 ff.; Biscardi, Ne bis in idem, S. 559 Fn. 88, mit dem Gegenbeispiel zweier Strafbefehle. 327 So Lucarelli, Giudicato, S. 3; Tonini, Manuale, S. 915. 328 Umgekehrt versuchten manche, die begünstigende Wiederaufnahme verfassungsrechtlich zu fundieren, u. a. durch Rückführung auf das verfassungsrechtlich vorgesehene Resozialisierungsgebot (Art. 27 Abs. 3 itVerf): Im Falle eines in Wahrheit Unschuldigen könne die Strafe keinen solchen Zweck verwirklichen (so D’Orazi, Revisione, S. 202; zu Recht krit. Callari, Revisione, S. 61 f.; s. a. die Ablehnung eines ähnlich gerichteten Arguments in Corte Costituzionale GiurCost 2008, 1506 [1518 f.]).

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1. Teil: Strafprozesstheorie

keit (!) wurde aus der verfassungsrechtlichen Vorschrift über das Legalitätsprinzip (Art. 112 itVerf) abgeleitet.329 Auch dann, wenn die Bemühung, den Missstand gleichzeitiger Verfahren über denselben Gegenstand zu bekämpfen, Anerkennung verdient, und auch wenn das Fehlen eines Verbots zweier gleichzeitiger Verfahren in einem System, das ein Legalitätsprinzip kennt, auch praktisch unter besondere Zwänge gerät (soll denn jeder Staatsanwalt, der von Anhaltspunkten für die Tatbegehung erfährt, ermitteln und ggf. Anklage erheben müssen, obwohl sie von einem anderen bereits erhoben worden ist?), liegt es auf der Hand, dass auch ein opportunitätsbasiertes System nicht zwei Strafverfahren über einen identischen Gegenstand gleichzeitig durchführen darf.330 Die Diagnose ist aber klar. Diese Art und Weise des Argumentierens ist Folge einer verarmten Rechtsauffassung, die versucht, ohne vorpositive Gründe auszukommen und sich um Stützen bei dem, was zufällig positiv von der Autorität entschieden worden ist, bemüht. So verständlich wie diese Argumentationsstrategie auch ist, insbesondere wenn sie von Gerichten eingesetzt wird, die die ihnen vorgelegten Fälle an gelegentlich nicht gerade passenden Maßstäben messen müssen, so wenig darf sich eine Wissenschaft mit ihr zufriedengeben. Nicht zuletzt belegen gerade die obigen Beispiele das Bedürfnis nach einer vorpositiven Begründung, und zwar sowohl wenn es um Generalklauseln geht, wie dem due process, dem Verbot der Verteidigungslosigkeit oder dem fairen Verfahren, als auch wenn es sich um gekünstelte Schutzbereichserweiterungen handelt. Denn die für richtig erachteten Ergebnisse sind nicht durch die dargestellten Argumente gewonnen worden; diese sind vielmehr nachgeschobene Krücken. Einen Maßstab, der eine Beurteilung gestattet, ob diese Ergebnisse richtig sind, gibt es deshalb nicht. Ohne vorpositive Theorie hängt das ganze Argumentationsgebäude schlicht in der Luft. 3. Die universelle Rechtswissenschaft, die sich um die Ausarbeitung einer vorpositiven, in diesem Sinne auch ideellen Theorie bemüht, wird deshalb wenig Verständnis für politische Kompromisse aufbringen können, die sich in der letzten Zeit gerade im Strafverfahrensrecht in besonderer Weise spürbar machen. Weil die Strafbarkeit im Einzelfall vom Zusammenspiel von materiellem Recht und Prozessrecht abhängt, die Veränderung des Ersten jedoch gesellschaftspolitisch völlig anders wahrgenommen wird, bedient man sich immer des Strafverfahrensrechts, um sich Freiräume zu schaffen, die eigentlich bereits materiellrechtlich geschuldet wären. Schon im 19. Jahrhundert wollte man deshalb das autoritäre Pressestrafrecht durch die Institution der Schwurgerichte bändigen.331 329 Cassazione Penale (Sezioni Unite) CassPen 2006, 28 (34); zu Recht krit. zur Argumentation Biscardi, Ne bis in idem, S. 560. 330 Weshalb genau u. Teil 2 Kap. 5 E. I. (S. 846 ff.). 331 Für Deutschland Schwinge, Kampf, S. 55 f. m. Nachw. („Dogma: ,Keine Pressefreiheit ohne Schwurgericht‘ “; für Amerika Stuntz, Collapse, S. 70 f.

1. Kap.: Vorüberlegungen zur Methode

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Das wohl klarste Beispiel im heutigen Deutschland bietet die Cannabis-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: Ein „Recht auf Rausch“ von Verfassungs wegen wäre wohl politisch schwer vermittelbar; das BVerfG zog deshalb den leisen, undurchsichtigen Weg der Einstellung nach § 153 StPO vor.332 Ähnlich dürften namhafte Institute des amerikanischen Strafverfahrens, die sogar ins Ausland exportiert worden sind, als prozessrechtliche Remeduren eines fehlerhaften materiellen Strafrechts entstanden sein.333 Das Beweisverwertungsverbot für eine ungerechtfertigte Beschlagnahme aus Mapp vs. Ohio hatte mit einem Strafverfahren wegen Besitzes pornografischer Schriften zu tun,334 eines Verhaltens also, das man aus anderen, materiellrechtlichen Gründen für nicht kriminalisierbar erklären sollte.335 Der hier vertretene Ansatz weigert sich, bei diesen Entwicklungen mitzumachen. Er geht von einem strengen Verständnis dessen aus, was ein legitimes materielles Strafrecht ausmacht, das zum großen Teil Gegenstand einer früheren Untersuchung gewesen ist,336 und möchte nicht das Strafverfahren als Plan B missbraucht sehen. Solche Notlösungen bieten auf die Dauer auch keinen Ausweg.337 Auf lange Sicht kann es sogar sein, dass sie das Überleben von schlechtem materiellem Strafrecht überhaupt möglich machen, da sie es erträglich machen und dessen Reformbedürftigkeit zu kaschieren helfen.338 Gerade dem Beschuldigten wird damit nicht geholfen.339 Er wird zwar wegen der prozessrechtlichen Hürde am Ende nicht bestraft; ein Verfahren wird er aber schon erduldet haben müssen, und dies für eine Tat, für die er der Gesellschaft an sich keine Rechenschaft schuldet. Die vorpositive Theorie muss deshalb davon ausgehen, dass materielles Recht und Prozessrecht nicht beliebig austauschbar sind, sondern dass es ein richtiges Verhältnis beider Rechtssysteme gibt, das es zu finden gilt. Sie muss die sowohl 332

BVerfGE 90, 145 (189 ff.). Stuntz, YLJ 105 (1995), S. 394: „To a surprising degree, the history of criminal procedure is not really about procedure at all but about substantive issues, about what conduct the government could and should not be able to punish“. Sogar die im 4. Amendment amVerf verkörperten Begrenzungen von Durchsuchungen und Beschlagnahmen sind auf der Grundlage von Fällen entstanden, die insb. politische Straftaten (Verteilung von regierungskritischen Flugblättern, die die Straftat des sog. sedicious libel verwirklichten, Stuntz, ebda., S. 396 ff.) zum Gegenstand hatten; ebenso ist die Freiheit vom Selbstbezichtigungszwang als Hürde zur Verfolgung von politischen oder religiösen Straftaten eingerichtet worden (ebda., S. 411 ff.). 334 U.S. Supreme Court, Mapp v. Ohio, 367 U.S. 643 (1961); hierzu ausf. Long, Mapp v. Ohio, S. 3 ff. 335 Zu diesen Gründen Greco, RW 2011, S. 278 ff. 336 Greco, Lebendiges, S. 354 ff. 337 Stuntz, Collapse, S. 79 ff. 338 Eindrucksvoll Stuntz, Collapse, S. 84 f. 339 Stuntz, Collapse, S. 139. 333

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1. Teil: Strafprozesstheorie

im materiellen Strafrecht wie auch im Strafprozessrecht nicht verhandelbaren archimedischen Punkte aufdecken (s. o. A. II. 1. [S. 59]). Erst die positivrechtliche Übersetzung kann sich notgedrungen auf Kompromisse einlassen; dies wird sie aber im vollen Bewusstsein dessen machen, dass sie auch nur Krücken bietet, die nicht als eine wahre Lösung des erkannten Problems angesehen werden können. IV. Die Universalität der universellen Rechtswissenschaft, die sich in erster Linie in der Bereitschaft äußert, von anderen zu lernen (s. o. B. IV. [S. 96]), hat nicht nur einen räumlichen, sondern selbstverständlich auch einen zeitlichen Bezug: Die anderen sind auch diejenigen, die vor uns lebten. Damit wird eine eingehende Berücksichtigung der Geschichte der Strafprozessrechtswissenschaft zum Gebot; die vorliegende Arbeit bekennt sich deshalb zur selben geschichtlich-analytischen Vorgehensweise, die in der früheren Arbeit zur Legitimität der Strafe zum Einsatz gekommen ist.340 Dabei muss zugleich immer darauf geachtet werden, nicht aus dem zufälligen Umstand, dass ein Autor zwei Annahmen vertreten hat, automatisch einen logischen Zusammenhang zwischen beiden anzunehmen, ebenso wenig wie man umgekehrt einen solchen Zusammenhang allein daraus folgern darf, dass er behauptet worden ist. Das bedeutet vor allem, dass das von großen Denkern der Strafprozessgeschichte Gedachte zur Kenntnis zu nehmen ist und dass die großen theoretischen Würfe früherer Generationen auch dann, wenn sie heute nicht mehr im Vordergrund stehen, nicht einfach als überholt beiseite geschoben werden dürfen. Oben B. II. (S. 88 ff.) wendeten wir uns dem Finalismus zu, u. Teil 2 C. II. 1., 2. (S. 135 ff.) werden wir uns auch mit den theoretischen Projekten, die man mit den Namen Bülows, Goldschmidts und Luhmanns verbindet, näher beschäftigen. Die hier gebotene Strafprozesstheorie strebt das Ideal einer Art Bilanzziehung aus den letzten 200 Jahren Strafprozessrechtswissenschaft an, ein Ideal, das sie notwendig verfehlen muss, aber das sie – was die deutschsprachige Literatur anbelangt – wenigstens annäherungsweise mit allen Kräften zu verwirklichen trachtet. Dies wird sich gerade deshalb als fruchtbar erweisen, weil sich herausstellen soll, dass die Orientierungslosigkeit, die bezüglich der Bestimmung des prozessualen Tatbegriffs herrscht, Folge einer nur halben Überwindung des gemeinrechtlichen Verfahrens ist, also eines Fehlers, der bereits im 19. Jahrhundert begangen wurde (näher u. Teil 2 Kap. 2 B., E., insb. S. 628 ff.). Ebenso wird man erkennen, dass die Bestimmung der strafklageverbrauchenden prozessabschließenden Entscheidungen immer noch auf Grundlage eines Schemas erfolgt, das für ein Verfahren bestimmt war, welches nach begonnener Hauptverhandlung nur mit einem (richterlichen) Sachurteil endete (näher u. Teil 2 Kap. 4 B., C., G., insb. S. 835 ff.).

340

Greco, Lebendiges, S. 22 ff.

1. Kap.: Vorüberlegungen zur Methode

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V. Ein Wort zur Sprache der universell ausgerichteten Arbeit:341 Zwar ist Englisch nicht nur im Alltag, sondern auch in internationalen Beziehungen und in vielen Wissenschaften zur Weltsprache avanciert. Die Tatsache, dass ein Werk auf Englisch verfasst wird, erweitert exponentiell den Kreis der möglichen Leser. Dennoch gibt es gute Gründe, auf der Ebene der individuellen Beiträge zum kollektiven Unternehmen der universellen Rechtswissenschaft nicht auf der Verwendung einer Weltsprache zu bestehen. Nicht nur muss die vorpositive Theorie in das eigene positive Recht rückübersetzt werden; gerade bei einer Wissenschaft, in der die Herausarbeitung der einschlägigen Gründe zum Teil eine Funktion des sprachlichen Könnens des jeweiligen Autors ist, wären die Kosten der Erweiterung des Leserkreises eine umgekehrt proportionale Verengung des Kreises der aktiven Diskussionsteilnehmer. Ferner weisen einzelne Sprachen spezifische Vorteile auf. So bietet die deutsche Sprache die beste Gewähr dafür, dass der Anschluss an die Tradition des deutschsprachigen Rechtsdenkens gefunden wird, die wohl die reichste und ausgiebigste Quelle universell verwertbarer Argumente darstellt.342 Es spricht deshalb alles dafür, dass man auf der individuellen Ebene bei einem „freien Markt der Sprachen“ 343 verbleibt. Wenn jeder Wissenschaftler als aktiver Diskussionsteilnehmer sich der ihm bestens vertrauten Sprache bedient, aber als passiver Leser die für ihn lesbaren fremdsprachigen Beiträge berücksichtigt, wird sich auf der kollektiven Ebene ein weitgehend ungehinderter Argumenteaustausch ergeben können. VI. Man soll nicht die Gefahren unterschlagen, denen Beiträge zur universellen Rechtswissenschaft in einem besonderen Maße ausgesetzt sind. Vor allem ist an die bereits von Rechtsvergleichern erkannten Gefahren des Dilettantismus und

341 Die radikale These einer sprachlichen Konstitution der Wirklichkeit, mit den Folge einer umfassenden Inkommensurabilität der durch die unterschiedlichen Sprachen bezeichneten Gegenstände und der Unmöglichkeit von Übersetzungen (so Legrand, Le droit comparé, S. 102; ähnlich, wenn auch gemäßigter Curran, AmJCompL 46 [1998], S. 43 ff., die vom Gedanken einer „cultural immersion“ ausgeht), muss uns nicht beschäftigen. Aus unserer Perspektive, die nicht diejenige des Philosophen ist, und deshalb die „letzten“ Fragen ausklammern kann, dürfte eine mittlere bzw. gemäßigte Linie die zutreffende sein, die diese Schwierigkeiten weder bagatellisiert, noch für unüberwindbar hält (ebenso Großfeld, Macht und Ohnmacht, S. 175). 342 Krit. zur Benutzung der deutschen Sprache aber Muñoz Conde, Universalización, S. 223; Ambos, Allgemeiner Teil, S. 55; Vogel, JZ 2012, S. 27 f. Zu Sprachbarrieren auch Kühl, ZStW 109 (1997), S. 793; Jung, JuS 1998, S. 5 f.; Eser, FS Kaiser, S. 1523; Perron, FS Lenckner, S. 228; Grossfeld, Rechtsvergleichung, S. 37 ff.; Pradel, Droit pénal comparé, S. 43 ff. 343 Kühl, ZStW 109 (1997), S. 796 (wenn auch in einem teilweise anderen Zusammenhang; Kühl sieht im Fehlen einer gemeinsamen Wissenschaftssprache ein Manko [S. 793]).

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1. Teil: Strafprozesstheorie

des Eklektizismus zu denken.344 Es ist schon schwer genug, sich mit dem eigenen Rechtssystem und mit den Gedanken der einheimischen Wissenschaftler vertraut zu machen. Ein universell orientierter Jurist riskiert deshalb immer, die Dinge nur zur Hälfte zu verstehen, sich seiner blinden Flecke völlig unbewusst zu bleiben. Diese Gefahren kann man auf der individuellen Ebene auch bei bestem Willen nur teilweise eindämmen; ein Restrisiko wird immer noch vorhanden sein. Endgültig können diese Gefahren erst auf der kollektiven Ebene überwunden werden, auf der sich die einzelnen Beurteilungen und Stellungnahmen gegenseitig ergänzen und die möglicherweise individuell vorhandenen Unzulänglichkeiten behoben werden. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass zwischen Rubriken und Inhalten nicht überall eine Entsprechung besteht. In anderen Ländern werden unter der Rubrik des ne bis in idem-Grundsatzes so heterogene Fragen diskutiert wie die Abgrenzung von Idealkonkurrenz bzw. Realkonkurrenz und Gesetzeskonkurrenz,345 die Zulässigkeit einer Straferhöhung wegen Rückfalls,346 die überlange Verfahrensdauer347 oder sogar Fragen, die in Deutschland als solche der Verwirkung des Strafanspruchs wegen schwerer Rechtsstaatsverstöße verstanden werden.348 Am schwierigsten wird es bei der umgekehrten Situation, in der die gleichen Fragen unter verschiedenen Rubriken diskutiert werden, denn hier kann es sein, dass man nicht einmal erfährt, dass zu dem jeweiligen Problem eine Diskussion vorhanden ist. Häufig kommt es auch dazu, dass man zu einem Rechtsproblem in ausländischen Schriften deshalb nichts findet, weil es von den Gerichten als Tatfrage eingestuft wird.349 Ein Teil der Herausforderungen des universell arbeitenden Juristen ist es gerade, durch die Schale der Worte zu dem Kern der Gründe durchzudringen.

344 Bereits Rabel, RhZZP 1924, S. 300 und ausf. Pradel, FS Cornu, S. 345 ff.; ferner Jescheck, Strafrechtsvergleichung, S. 38; ders. Strafprozeßreform, S. 17 („Datenfriedhof“); Eser, FS Kaiser, S. 1524; Dubber, Comparative Criminal Law, S. 1325. 345 In Frankreich: Dekeuwer, RSC 1974, S. 518 ff.; in Spanien Garcias Planas, ADPCP 1989, S. 110; Muñoz Clares, Ne bis in idem, insb. S. 259 ff.; in Amerika Kirchheimer, YLJ 58 (1949), S. 516 ff.; und aus der amerikanischen Rspr. etwa die Fälle U.S. Supreme Court, Prince v. United States, 352 U.S. 322 (1957); Milanovich v. United States, 365 U.S. 551 (1961); Iannelli v. United States, 420 U.S. 770 (1975); United States v. Gaddis, 424 U.S. 544 (1976); Simpson v. United States, 435 U.S. 6 (1978); Whalen v. United States, 445 U.S. 684 (1980); United States v. Woodward, 469 U.S. 105 (1985). 346 In Spanien: Garcias Planas, ADPCP 1989, S. 118; in Argentinien J. Maier, Derecho Procesal Penal I, S. 640 ff.; in Brasilien Rangel, Coisa julgada, S. 293 ff. alle m.w. Nachw. 347 Siehe die Nachw. für Entscheidungen des argentinischen Obersten Gerichts in Bertelotti, Ne bis in idem, S. 122 ff. 348 Bouwen Poulin, VillLR 39 (1994), S. 651 ff. 349 So zu Brasilien bzgl. des Tatbegriffs Tigre Maia, BCESMPU 16 (2005), S. 55.

1. Kap.: Vorüberlegungen zur Methode

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VII. Zuletzt einige Formalia. Es wurde nach Möglichkeit versucht, der materiellen Zweiteilung von vorpositiver Theorie und positivrechtlicher Übersetzung auch formell dadurch zu entsprechen, dass die Gedanken in zwei unterschiedlichen Abschnitten entwickelt werden. Dieser Grundsatz findet aber eine wichtige Relativierung, wenn es darum geht, zu einer Frage den Diskussionsstand darzustellen. Da es regelmäßig auch darum geht, für das deutsche Strafprozessrecht praktikable Ergebnisse zu gewinnen, man also zum deutschen Recht am Ende zurückkehren wird, empfiehlt es sich, auch von der hierzulande bestehenden Sachlage auszugehen. Anders kann man nicht vorgehen. Diese Zweiteilung wirkt sich auch auf die Zitierweise in den Fußnoten aus. Wenn es um die Entwicklung der autoritätsindifferenten vorpositiven Theorie geht, wird die Lehre vor der Rechtsprechung zitiert; Fundstellen werden nach Alter zitiert, ohne dass zwischen Nationalitäten unterschieden wird. Nationalitäten werden nur bei der Rechtsprechung hervorgehoben; bei Autoren regelmäßig nur dann, wenn das für das Argument von Bedeutung ist. Bei Aussagen zum positiven Recht wird dagegen die traditionelle Reihenfolge, also Rechtsprechung vor Literatur zitiert, und auch bei Literaturnachweisen zwischen Nationalitäten unterschieden. Beim Umgang mit ausländischer Literatur und Rechtsprechung erfolgte eine Anpassung an die deutschen Zitierstandards. Werke, die durchnummerierte Ziffern aufweisen, wurden nach der Randnummer zitiert (Rn.), unabhängig davon, ob diese Zitierweise im Herkunftsland üblich ist oder nicht. Für ausländische Zeitschriften, für die es keine kanonische Abkürzung gibt, wurde von mir eigenverantwortlich eine festgelegt. Einige Probleme bietet der Umgang mit ausländischer Rechtsprechung. Nicht immer gibt es eine offizielle Entscheidungssammlung nach dem Muster von BVerfGE oder BGHSt, und nicht immer war sie für mich greifbar. Sofern möglich habe ich in Zeitschriften publizierte Entscheidungen benutzt und die Zeitschriftenfundstelle angegeben. Eine Vielzahl von Entscheidungen ist aber online verfügbar, entweder auf der offiziellen Internetseite des Gerichts selbst350 oder auf einer zuverlässigen privaten Internetseite.351 Bei der Zitierung solcher Entscheidungen habe ich mich grundsätzlich darum bemüht, genug Informationen anzugeben, um ein Auffinden der Entscheidung zu ermöglichen; ich habe mich eher, aber nicht starr, an der Zitierweise der Landesgenossen des Gerichts orientiert. Bei Gerichten, die ihre Entscheidungen nach dem Beschwerdeführer benen-

350 Für den EGMR: http://hudoc.echr.coe.int/; für den spanischen Tribunal Constitucional: http://hj.tribunalconstitucional.es/en; für den spanischen Tribunal Supremo http://www.poderjudicial.es/search/indexAN.jsp 351 Für amerikanische Rspr.: http://www.justia.com/

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1. Teil: Strafprozesstheorie

nen, wurde diese Bezeichnung auch benutzt. Seitenzahlen konnten vor allem bei online abrufbaren Entscheidung nicht immer angegeben werden. Ausländische Gerichte sind grundsätzlich mit ihrem Eigennamen zitiert worden, nicht immer mit einer Spezifizierung der Nationalität (U.S. Supreme Court, Cassation Criminelle). Ausländische Vorschriften sind halb verdeutscht worden. Die Bezeichnung der Vorschrift als §, Artikel, section wurde dem Original entsprechend beibehalten; die unteren Vorschriften sind dagegen regelmäßig verdeutscht worden (etwa Abs. 1 S. 2, usw., und nicht comma 1, wie in Italien, oder (1), wie in England). Ausländische Gesetze dagegen sind der Einfachheit halber in verdeutschter Abkürzung zitiert worden, mit einem abgekürzten Hinweis auf das jeweilige Land: itStGB, franzStGB, portStPO, japVerf usw. Dort, wo Missverständnisse zu befürchten sind, ist auf eine Abkürzung verzichtet worden.

D. Zusammenfassung: Universelle Rechtswissenschaft als Wissenschaft der Unterscheidung von Recht und Macht Unterscheidet sich Recht von bloßer Macht, dann bilden Gründe und nicht Entscheidungen das Primäre in seinem Gefüge. Gründe sind ihrerseits universell ausgerichtet und können deshalb universell ausgetauscht werden. Eine von diesen Prämissen ausgehende Rechtswissenschaft erhält somit notwendig einen universellen Charakter. Die vornehmste Aufgabe der universellen Rechtswissenschaft ist deshalb nicht, „dem vom Volk legitimierten, vom Parlament geschaffenen Gesetz lege artis zur Durchsetzung zu verhelfen“,352 sondern fundamentaler als „vierte Gewalt“ 353 zu überwachen, dass der Unterschied von Recht und bloßer Macht nicht an Schärfe verliert, dass Macht nicht im Gewande des Rechts auftritt. Die vorliegende Arbeit versteht sich als punktueller Beitrag zur Verwirklichung dieses Projekts im engen Gebiet des Strafprozessrechts. Ihr erstes Anliegen ist deshalb die Ausarbeitung der „Bedingungen, die nicht fehlen können, ohne dass ein Strafverfahren in Machtmissbrauch entartet“.354

352

So Canaris/R. Schmidt, Hohe Kultur, S. 144. Grdl. Schünemann, FS Roxin I, S. 8 f.; ders. FS Herzberg, S. 44; ders. GA 2011, S. 446; ders. Gesetzlichkeitsprinzip, S. 7. 354 Carrara, Del giudizio penale, § 825 (S. 83). 353

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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2. Kapitel

Strafprozesstheoretische Grundlegung „Nichts scheint näher zu liegen als der Satz, dass der Verbrecher eben nicht nur die Strafe, sondern auch die Strafprozedur leiden müsse. Wäre diese Beurteilungsweise richtig, so wäre das aufgeworfene Problem schnell gelöst. (. . .) Ein böser Denkfehler haftet (diesem) Gedankengange an. In strafprozessualische Behandlung werden ja nicht nur Verbrecher genommen. Jedem, auch dem Unschuldigsten der Unschuldigen, kann das Unglück zustossen, dass er, z. B. weil er einen Doppelgänger hat, in einen Strafprozess verstrickt wird. Und gerade bei dem Unschuldigen werden die Seelenqualen und die Aufregung besonders heftig auftreten. Und auch wenn er schliesslich der Verurteilung entrinnt, was auch leider nicht einmal sicher ist, dann kann es sein, dass er durch die Unruhe, vielleicht durch lange Untersuchungshaft zermürbt aus dem Prozess hervorgeht. Ihn kann man aber nicht, wie den Schuldigen, damit abspeisen, dass die Strafprozessleiden eine selbstverschuldete Folge einer strafbaren Tat gewesen seien. Er hat ein Unglück erlitten pro nihilo, für nichts und wieder nichts.“ (Beling, Grenzlinien, S. 8 f.).

A. Einleitende Erwägungen I. Der unbestrittene Kerngehalt der materiellen Rechtskraft bzw. des ne bis in idem-Grundsatzes ist etwas an sich Schlichtes: die Strafverfolgung muss ein Ende haben.355 Die herkömmliche Sichtweise sieht hierin, und insbesondere in der Tatsache, dass selbst die materiellrechtlich falsche Entscheidung der Verfolgung ein Ende setzen kann, einen Anlass zur theoretischen Reflexion. Früher formulierte man sog. Rechtskrafttheorien, deren Sinn es war, zu erklären, warum das überhaupt sein darf.356 Auch die Diskussion über den Zweck des Strafverfahrens,357 in der unter anderem die Ziele „Wahrheit und Gerechtigkeit“ oder „Rechtsfrieden“ genannt werden, ist ein solches Unternehmen.358 Erblickt man

355 Kleinschrod, ArchCrimR Bd. 2 St. 3 (1800), S. 24: „Der Grund, warum überhaupt Urtheile rechtskräftig werden . . . besteht darin, daß Processe nicht ewig dauern, sondern einmal aufhören müssen“; ähnl. Geppert, GA 1972, S. 170. 356 Zu ihnen u. Teil 2 Kap. 1 B., C. (S. 334 ff.). 357 Hierzu u. Teil 1 Kap. 2 C. III. (S. 157 ff.). 358 Der enge Bezug zwischen der Diskussion über den Zweck des Strafverfahrens und der Problematik des Endes der Strafverfolgung wird immer wieder hervorgehoben, beispielsweise Rocco, Cosa giudicata I, S. 226; Sauer, FS R. Schmidt, S. 318 Fn. 38: „die Rechtskraft läßt sich eben nur aus Wesen und Aufgabe des Prozesses selbst er-

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1. Teil: Strafprozesstheorie

in den Rechtswerten Wahrheit und Gerechtigkeit den Zweck des Strafverfahrens, gerät die Idee einer Verfahrensbeendigung trotz Verfehlung dieser Zwecke in ein Zwielicht; man beruft sich deshalb auf einen Rechtswert, den der Rechtssicherheit.359 Das Prozessziel des Rechtsfriedens scheint demgegenüber diese Schwierigkeiten vermeiden zu können: Weil immer wiederholbare Überprüfungen der bereits gefällten Entscheidung für den Rechtsfrieden nicht förderlich sind, muss auch die falsche Entscheidung ab einem bestimmten Punkt hingenommen werden. Die lange Tradition, sich dem Problem genau unter diesem Blickwinkel anzunähern, trübt den Blick dafür, wie voraussetzungsreich diese Vorgehensweise bereits ist. Denn eigentlich beruht die Fragestellung auf der Prämisse, dass erst das Ende der Strafverfolgung zu rechtfertigen sei. Dies mag zwar geschichtlich erklärbar sein: Das frühere, allein der materiellen Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichtete historische Inquisitionsverfahren machte sich kaum eine Vorstellung von der Rechtskraft.360 Aus heutiger Sicht fällt aber auf, dass nicht erst das Ende der Verfolgung rechtfertigungsbedürftig ist, sondern schon ihr Anfang. Denn die Verfolgung ist ein Übel, ihr Ende ist aus unbefangener Sicht ein nullum. In einer freiheitlichen Ordnung ist ungestörte Freiheit als „Nullzustand“ anzusehen, so dass bereits die Einmischung in diese Freiheit und nicht erst das Ausbleiben einer solchen Einmischung gerechtfertigt werden muss. Diese Sichtweise, die für das öffentliche Recht, in dem sich regelmäßig die Frage nach Eingriffen und deren Rechtfertigung stellt, selbstverständlich ist, und die auch den materiellstrafrechtlichen Straftheorien, die vom Übel der Strafe ausgehen, und dessen Rechtfertigungsvoraussetzungen zu formulieren suchen,361 eigen ist, muss sich auch das Strafprozessrecht nicht erst bei den Zwangsmitteln, sondern durchgehend aneignen. II. Die eigentliche Fundamentalfrage lautet also: Warum darf es Strafverfolgung geben? Warum darf Strafverfolgung überhaupt anfangen? Es ist zu vermuten, dass sich die Erklärung des Endes der Strafverfolgung aus dieser Perspektive als unselbständiges Problem präsentiert. Seine Lösung könnte sich daraus ergeben, dass die Gründe, die eine Strafverfolgung tragen, schlicht wegfallen, oder sogar, und radikaler, dass Strafverfolgung erst unter der Bedingung anfangen darf, dass sie auf immer endet.

kennen und begründen“; Vogler, Rechtskraft, S. 39 f. m.w. Nachw.; Dippel, GA 1972, S. 106; Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 40; Conde Correia, Caso julgado, S. 141; aus zivilprozessrechtlicher Sicht Gaul, AcP 168 (1968), S. 35. 359 Unten Teil 2 Kap. 1 C. II. (S. 344 ff.). 360 Unten Teil 2 Kap. 1 C. III. (S. 350 ff.) 361 Siehe insb. Greco, Lebendiges, S. 203 ff., 274 ff., 303 ff.

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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B. Der Begriff der Strafverfolgung I. Einleitende Worte Die Fundamentalfrage nach der Rechtfertigung der Strafverfolgung zwingt zu einer Präzisierung dessen, was gerechtfertigt werden soll. Ähnlich wie die Theorie der legitimen Strafe (sog. Straftheorie) richtigerweise zuerst den Begriff der Strafe bestimmen muss, bevor sie sich mit der Frage befasst, was Strafe legitimiert,362 muss eine Theorie der legitimen Strafverfolgung vorab klären, was sie unter Strafverfolgung versteht. Bei der Begriffsbildung muss vor allem darauf geachtet werden, dass das, was Strafverfolgung rechtfertigungsbedürftig macht, genau ausgearbeitet wird – eine Maxime, die ich woanders als „methodischen Pessimismus“ bezeichnet habe.363 Denn jede Theorie, die sich mit den Bedingungen der Rechtfertigung einer bestimmten Institution (sei es des Staates, der Strafe oder, wie im vorliegenden Zusammenhang, der Strafverfolgung bzw. des Strafverfahrens) beschäftigt, muss klar bestimmen, welche Eigenschaften die Institution aufweist, die die Rechtfertigungsfrage überhaupt entstehen lassen. Würden nämlich die benannten Institutionen nicht irgendwelche bedenklichen Züge aufweisen, gäbe es keinen Anlass, sich zu fragen, unter welchen Voraussetzungen sie dennoch gerechtfertigt werden können. Die erste Frage, mit der sich eine Theorie des Strafprozesses befassen muss, ist deshalb die nach dem Übel der Strafverfolgung. Dieses Übel bildet den Gegenstand der Rechtfertigungstheorie. Die Zufügung eines Übels verletzt prima facie das Verbot des neminem laedere, so dass ein Staat, der einen Legitimitätsanspruch erhebt, gute Gründe anführen muss, damit das prima facie Verbot entkräftet werden kann. Von dem Gegenstand der Rechtfertigungstheorie sind die Rechtfertigungsvoraussetzungen strikt zu trennen, und dies aus denselben Gründen, die schon an anderer Stelle mit Bezug auf die Institution der Strafe aufgeführt wurden.364 Es ist nicht das Gleiche, ob man es mit einer Strafe oder mit einer legitimen Strafe, mit einer Strafverfolgung oder mit einer legitimen Strafverfolgung zu tun hat. Die Frage nach der Rechtfertigung der Strafverfolgung wird deshalb erst anschließend gestellt.365 II. Strafverfolgung als Strafverfahren Man kann die Strafverfolgung als Gesamtheit der Aktivitäten verstehen, die funktional auf die Vollstreckung einer Strafe gerichtet sind (ohne die Vollstre-

362 363 364 365

Ausf. Greco, Lebendiges, S. 275 ff. mit Nachw. in S. 278 Fn. 323. Greco, Lebendiges, S. 287 ff. Ausf. Greco, Lebendiges, S. 275 ff. und hier u. Teil 2 Kap. 3 C. III. (S. 643 ff.). Vgl. u. C. (S. 133 ff.).

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1. Teil: Strafprozesstheorie

ckung selbst).366 Jemand wird also einer Strafverfolgung unterworfen, wenn gewisse Aktivitäten vorgenommen werden, die dazu dienen sollen, ihn zu bestrafen. Bei Anerkennung eines staatlichen Gewaltmonopols, wovon das Strafmonopol eine der wichtigsten Komponenten darstellt, bedeutet Strafverfolgung nichts anderes als ein Strafverfahren. Als erste begriffliche Annäherung bietet sich an, das Strafverfahren als Gesamtheit der staatlichen Aktivitäten zu definieren, die funktional auf die Vollstreckung einer Strafe gerichtet sind (ohne die Vollstreckung selbst).367 Auf Grundlage dieses Begriffs gehören sogar einseitig durch die Polizei gegen Unbekannt durchgeführte Ermittlungen zum Strafverfahren. Erst Tätigkeiten, die dem Entstehen eines Tatverdachts noch vorausgehen, die also buchstäblich ins Blaue erfolgen, sind nicht mehr als Strafverfahren anzusehen. III. Strafverfahren als latente soziale Bedrohung Man muss aber präziser sein: Wie gesagt (o. I., S. 119), sind die spezifischen Dimensionen, die das Strafverfahren rechtfertigungsbedürftig machen, in den Vordergrund zu rücken, was die gerade eingeführte Definition noch nicht tut. Ansonsten besteht die Gefahr, dass die Rechtfertigungstheorie einen blinden Fleck aufweist, dass sie gerade etwas, was das Verfahren zu einem Übel macht, außer Betracht lässt und deshalb keine Rechtfertigungsbedingungen dafür formuliert. Inwiefern ist das Strafverfahren also ein malum? Hier kann man zwei Perspektiven einnehmen, die der Gesellschaft und die des betroffenen Individuums.368 Aus der Perspektive der Gesellschaft liegt es zunächst nahe, den Blick auf das Ökonomische zu richten. Auch dann, wenn das Strafverfahren perfekt funktioniert, impliziert dessen bloße Existenz als gesellschaftliche Institution erhebliche Kosten.369 An sich wäre es der Gesellschaft möglich, die Strafe sofort zuzufügen, 366 Ähnlich Schroeders „weiter Begriff der Strafverfolgung“: „Der Begriff der Strafverfolgung umfaßt damit das gesamte Vorgehen gegen einen Beschuldigten von den Ermittlungen über die Anklageerhebung bis zur rechtskräftigen Verurteilung“ (GA 1985, S. 486; ders. FS Waltos, S. 498). Für eine Einbeziehung der Vollstreckung in den Begriff des Strafverfahrens Wach, FS Binding, S. 9; Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 80, der zu Recht den terminologischen Charakter des Streits betont (Fn. 1); Goldschmidt, Materielles Justizrecht, S. 28; ders. Problemas jurídicos y políticos, S. 745; Arndt, FS Schmid, S. 22; Peters, Strafprozeß, S. 99; dagegen Binding, Strafanspruch, S. 299; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 18 f. Zwischen Strafprozess im weiten und engen Sinne differenziert Exner, Strafverfahrensrecht, S. 1; andere Diff. b. Figueiredo Dias, Direito processual penal, S. 37 f. Man darf nicht verkennen, dass dieser Wortstreit zugleich von der begriffskonstruktivistischen Vorstellung beseelt war, die Einordnung der Vollstreckung würde darüber entscheiden, ob sie Sache der Justiz oder der Exekutive sei. 367 Nachw. anderer Definitionen bei Schaper, Verfahren, S. 23 f. 368 Zur Notwendigkeit der Berücksichtigung beider Perspektiven in der Straftheorie Hörnle, Straftheorien, S. 4.

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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als eine Art self-executing Sanktion.370 Man stelle sich vor, das Gesetz ermögliche die sofortige Verhängung einer Strafe, wenn der Täter flieht,371 in flagranti erfasst worden ist,372 oder wenn die Tat während einer Hauptverhandlung vor einem Richter begangen wird.373 Das vorrevolutionäre französische Recht kannte die sog. lettres de cachet, einen königlichen Befehl, jemanden ohne Gerichtsverfahren zu bestrafen,374 und die amerikanische Verfassung musste auch explizit das sog. „bill of attainder“ verbieten (Art. 1 Sec. 9 Clause 3), also ein von der Legislative erlassenes Gesetz, das die Verhängung einer Strafe an eine bestimmte Person anordnet.375 Es stimmt also nicht, dass das Strafrecht notwendigerweise auf das Strafverfahren angewiesen ist.376 369 Hierzu aus der Perspektive der ökonomischen Analyse des Rechts Rohleder, Justiz, S. 111 ff.; Bier, Kosten, S. 124 ff.; Schmidtchen/Bier, Kosten, S. 85 ff.; rechtfertigungstheoretischer Ausgangspunkt bereits auch bei Hörnle, Straftheorie. S. 16 f.; dies. in: Starck, Diskussion, S. 97; abl. Kaspar, Verhältnismäßigkeit, S. 81 f., 117. Siehe bereits Bentham, Evidence I, S. 34: „avoidance of unnecessary delay, vexation and expense“ als „collateral ends of justice“. 370 Siehe auch Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 7. 371 Esmein, Histoire, S. 262: die Ordonnance Criminelle von 1670 vermutete die Schuld desjenigen, der flieht. 372 Vgl. Köstlin, Wendepunkt, S. 204: die Idee dieses Verfahrens sei, „daß der Verbrecher durch die That selbst überführt und gerichtet werde“, S. 277; Langbein, Adversary Trial, S. 65: „Into the later Middle Ages trial of any sort was reserved largely for cases of clandestine crime. Someone caught in the act in or in flight from a serious crime was put to death on the spot, without trial“, m. Nachw.; s. a. Eb. Schmidt, FS Siber, S. 162, der aus der Tiroler und Radolfzeller Halsgerichtsordnung (1499, 1506) zitiert, dass bei Handhaftigkeit „alsdann ist nicht not ainicherlay weiters erkunden“. In der Tat sehen heute viele Rechtsordnungen abgekürzte Verfahren mit sehr eingeschränkter Beweisaufnahme für den Fall vor, dass der Beschuldigte während der Tatbegehung oder unmittelbar danach festgenommen wird (für Frankreich insb. Art. 53 ff., Art. 395 Abs. 2 franzStPO [Fall der sog. infraction flagrante], s. a. Bouloc, Procédure Pénale, Rn. 410 ff., 638 ff.; für Italien Art. 449 ff. itSPO [Verfahren des sog. giudizio diretissimo]; für Spanien Art. 795 ff. spanStPO; nahestehend das deutsche beschleunigte Verfahren, § 417 ff. StPO); zum alten französischen Recht Esmein, Histoire, S. 49 ff., 78 f., 112 f. 373 Man denke an eine falsche Beschuldigung oder einen Meineid; im Grenzfall sogar an einen Mord, wie derjenige, der in Dachau an einem Staatsanwalt kurz nach der Verkündung des Urteils begangen worden ist (etwa http://www.spiegel.de/panorama/ justiz/0,1518,808802,00.html, abgerufen am 12.1.2012). Dieser Fall wird uns mehrfach als Anlass für weitere Reflexionen dienen (s. Teil 1 Kap. 2 C. III. 3. [S. 186 f.] und öfter). Siehe auch LG Saarbrücken NJW 1968, 1686: der wegen Diebstahls Angeklagte schlug während der Verhandlung einen Zeugen mit der Faust ins Gesicht. 374 Fazy, Revision, S. 2. 375 Näher zu dieser Bestimmung Wilson Jr., CalLR 54 (1966), S. 212 ff. 376 Der vielzitierte Satz Mommsens, Römisches Strafrecht, S. VII: „Strafrecht ohne Strafprozess ist ein Messergriff ohne Klinge und Strafprozess ohne Strafrecht eine Klinge ohne Messergriff“; (ähnl. H. Mayer, GS 104 [1934], S. 311: „Das subjektive Strafrecht des Staates kann doch überhaupt nur auf dem Durchgang durch den Prozeß Realität gewinnen“; Figueiredo Dias, Direito processual penal, S. 56; Peters, Strafprozeß, S. 7: „Es gibt keine Strafrechtsverwirklichung ohne Strafprozeß“) ist also wenigstens als Tatsachenbehauptung unrichtig.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

Die Zwischenschaltung eines Strafverfahrens führt dazu, dass die Institutionen der Polizei, Strafgerichte und Staatsanwaltschaft finanziert werden müssen, also vor allem mit Personal, Technologie und Arbeitsräumen zu versorgen sind. Eine funktionierende Strafverfolgung ist nicht billig, sie frisst Ressourcen auf, die an Grundschulen oder Krankenhäuser umgeleitet werden könnten. Das könnte das malum sein, das eine Theorie des Strafverfahrens zu rechtfertigen hätte. Dieses malum ist aber kein notwendiges. Je mehr das Strafsystem die Geldstrafe statt der Freiheitsstrafe, Zahlungsauflagen (nach dem Vorbild des § 153a StPO), Maßnahmen der Einziehung und Vorteilsabschöpfung einsetzt, desto eher kann es sein, dass die Existenz eines Strafverfahrens sogar zur öffentlichen Einnahmequelle wird.377 Dies macht die Rechtfertigung des Strafverfahrens gegenüber der Gesellschaft aber noch nicht hinfällig; genau umgekehrt scheint dies das Strafverfahren eher bedenklicher zu machen.378 Das bedeutet, dass das Strafverfahren in einer anderen als bloß ökonomischen Hinsicht problematisch sein muss. Diese Hinsicht ist die/besteht darin, dass die Tatsache, dass in einer Gesellschaft Strafverfahren möglich sind, eine latente Bedrohung für alle Bürger bedeutet, die sich unbesehen in ein solches Verfahren verwickelt sehen können. Diese latente allgemeine Bedrohung ist die eigentliche Dimension des malum, die man der Gesellschaft gegenüber rechtfertigen können muss. IV. Strafverfahren als individuelle Verdächtigung Verfahren richten sich aber gegen ein bestimmtes Individuum, den Inkulpat, Beschuldigten, Verdächtigen oder schlichter: Betroffenen.379 Sie können nur in einer vorläufigen Anfangsphase ad rem bzw. gegen Unbekannt geführt werden

377 Betont von Schroeder, NJW 1983, S. 142: „Rentabilität des Strafverfahrens“. Eine Zuspitzung dieses Standpunkts erkennt Kohler, GA 1918, S. 310 in der französischen Strafrechtspflege des Ancien Régime. 378 Siehe bereits Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 27. 379 Terminologisch ist anzumerken, dass hier diese Begriffe gleichbedeutend benutzt werden. Um klarzustellen, dass es nicht um die Auslegung von Vorschriften der deutschen StPO geht, wird hier regelmäßig die letzte, neutralere Sprechweise vorgezogen, also von Betroffenem gesprochen. Die der StPO zugrunde liegenden Terminologie (§ 157 StPO) wird nur in den auf das positive Recht bezogenen Abschnitten der Arbeit gebraucht. Es muss auch nicht geklärt werden, ob zwischen Beschuldigtem und Verdächtigem ein Unterschied zu machen ist (so etwa Hilger, JR 1985, S. 95 bzgl. § 102 StPO; dagegen Corts, JA 1976, S. 380; Silva Dias/Costa Ramos, Nemo tenetur, S. 20 Fn. 38 auf Grundlage des portugiesischen Rechts), wobei ohne Weiteres zugegeben werden kann, dass einige positivrechtliche Vorschriften von einer solchen Unterscheidung ausgehen (insb. § 60 Nr. 2 StPO: der Zeuge, also gerade kein Beschuldigter, ist nicht zu vereidigen, wenn er u. a. der Beteiligung an der Tat verdächtig ist). Der Verdacht, von dem diese Vorschriften sprechen, ist in der im Folgenden (u. VI. [S. 131 ff.]) einzuführenden Terminologie kein „qualifizierter“, insb. weil es an dem Moment der Drohung mit einer Bestrafung fehlt.

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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(positivrechtlich: § 160 Abs. 1 StPO, „Erforschung des Sachverhalts“; s. a. § 159 Abs. 1 StPO).380 Aus der Perspektive des betroffenen Individuums sieht die Lage etwas unübersichtlicher aus. 1. Man könnte zunächst quasi-soziologisierend behaupten, das Strafverfahren sei wegen seiner gravierenden Auswirkungen auf das soziale Umfeld des Betroffenen selbst eine Strafe. Von Strafverfahren, vor allem von der öffentlichen Hauptverhandlung, gehe eine stigmatisierende Wirkung aus, die schwerwiegende Folgen für das Berufs- und Privatleben des Betroffen zeitigen könne.381 „Auf der Anklagebank erscheinen zu müssen“ sei „ein wirkliches Mißgeschick“;382 die öffentliche Hauptverhandlung sei ein „moralischer Spießrutenlauf und entehrender Pranger“,383 das Strafverfahren eine prototypische „Degradierungszeremonie“.384 „The process is the punishment“, wurde bekanntlich gesagt.385 Diesen Befund zum allgemeinen rechtfertigungsbedürftigen Zug des Strafverfahrens zu erklären, ginge indes an der Sache vorbei. Erstens werden hiermit Probleme angesprochen, die sich nicht bei jedem Strafverfahren notwendig ergeben müssen, sondern nur kontingent mit empirisch gegebenen Strafverfahren verbunden sind. Ein ohne öffentliche Hauptverhandlung geführtes Verfahren (man denke an den deutschen Strafbefehl oder an Erledigungen gem. § 153 Abs. 1, § 153a Abs. 1 StPO) hat weniger stigmatisierende Wirkungen und auch weniger Folgen für das soziale Umfeld des Betroffenen. Auch wenn man zugibt, dass selbst ein geheimes Verfahren ehrverletzend sein kann, weil „die Untersuchung, die gegen Jemand eröffnet worden, bekannt wird und nicht verschwiegen bleiben kann“,386 bleibt dies ein kontingenter Umstand. Es 380 In diesem Moment gibt es aus der Perspektive der Gesellschaft schon ein rechtfertigungsbedürftiges Übel, aus der Perspektive des Individuums noch nicht. Die Übel des Strafverfahrens können also verschieden sein, je nach der Perspektive, in der sie erfasst werden. 381 Geyer, Entschädigung I, S. 500: „Ehrenschmälerung, Seelenleiden, Kränkung und Kummer mancher Art, Zeit und damit Vermögensverlust und dergleichen mehr“; Kronecker, ZStW 10 (1890), S. 521, 523; Nagler, GS 111 (1938), S. 344; Peters, ZStW 68 (1956), S. 385; ders. Individualgerechtigkeit, S. 195 f.; Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 117 Fn. 478; Ferrajoli, Diritto e ragione, S. 760 f.; Sternberg-Lieben, ZStW 108 (1996), S. 722 f.; and. Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 171. 382 Kronecker, ZStW 10 (1890), S. 523. 383 Roesen, NJW 1959, S. 1861. 384 Ein von Garfinkel, AJS 61 (1956), S. 420 ff. geprägter Begriff. 385 So der Titel der Monografie von Feeley, passim; zust. Braithwaite/Pettit, Not just deserts, S. 121; s. auch Carnelutti, Lecciones, S. 70 ff.; ders. RDP 1951, S. 294 f. (krit. Petrocelli, RDP 1953, S. 81 ff., Replik von Carnelutti, ebda., S. 91 ff.; krit. a. Fenech, RDP 1957, S. 205 ff., Replik von Carnelutti, ebda., S. 217 ff.); Schild, Notwendigkeit, S. 107; ferner Schünemann, 58. DJT, S. B 35 f. 386 Leue, Anklage-Prozeß, S. 257 f. (Zitat); Gneist, Vier Fragen, S. 86 f.; heute in Bezug auf das Ermittlungsverfahren Rieß, NStZ 1982, S. 436; ders. FS Geerds, S. 507 f.; ders. FS Roxin I, S. 1325; Ulrich, ZRP 1982, S. 171; Neu-Berlitz, Bestandskraft, S. 52; Hilger, JR 1985, S. 95 f.; Richter II, StV 1985, S. 383 f.; Eisenberg/

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1. Teil: Strafprozesstheorie

ist denkbar, Strafverfahren nach bester Stasi-Manier so heimlich durchzuführen, dass niemand, vor allem nicht der Betroffene selbst, davon erfährt. Ein solches Verfahren wäre aber auch rechtfertigungsbedürftig, und dies nicht in geringerem, sondern wohl in größerem Ausmaß als das rufrührige Verfahren, das wir kennen. Dies kann nur der Fall sein, weil der Übelcharakter des Strafverfahrens etwas anderem anhaften muss. Zweitens ist die von Einigen, aber nicht von allen vorgetragene Gleichsetzung von Strafverfahren und Bestrafung theoretisch unergiebig. Sie beruht darauf, dass man über den Begriff der Strafe nicht hinreichend reflektiert hat. Von diesem Begriff soll später ausführlich die Rede sein (Teil 2 Kap. 3 C. [S. 640 ff.]). An dieser Stelle wird man nur die Charakterisierung der Strafe als etwas, was als staatliche Reaktion auf ein Fehlverhalten zugefügt wird, vorwegnehmen. Damit wird schon klar, dass Strafverfahren keine Strafen sind, weil sie weder eine Reaktion sind, noch ein Fehlverhalten voraussetzen, sondern sich mit der Möglichkeit eines solchen begnügen. Die Ablehnung der Gleichsetzung von Strafe und Strafverfahren ist deshalb wichtig, weil für Strafen viel strengere Legitimationsvoraussetzungen gelten müssen als für Strafverfahren. Insbesondere setzt Strafe Schuld voraus, was immer man auch unter Schuld versteht. Wäre das Strafverfahren eine Strafe im vollen Sinne des Wortes, dann hätte die Reflexion über dessen Rechtfertigung von vornherein keinen Sinn. Strafverfahren wären (außer vielleicht im Falle evident vorhandener Schuld) nicht einmal rechtfertigungsfähig. Damit soll nicht geleugnet werden, dass sich ein Verfahren faktisch genau wie eine Strafe auswirken kann. Man stelle sich vor, jemand wird auf Verdacht für mehrere Jahre eingekerkert, angeblich als Untersuchungshäftling, so dass niemand ohne Erwähnung der Tat, die er begangen haben soll, erklären kann, wieso ihm das geschieht. Ein solches Verfahren könnte aber nicht mehr gerechtfertigt werden und bildet nicht den Gegenstand der weiteren Überlegungen. Es wäre vielmehr, wie wir sehen werden, nicht nur einer Strafe gleich, sondern begrifflich eine Strafe (u. Teil 2 Kap. 3 D. I. 2. [S. 663 f.]), die sich den von der Straftheorie genannten Legitimitätsvoraussetzungen stellen müsste. Erst die Verfahren, die Wirkungen zeitigen, die in einem faktischen, soziologisierenden Sinne „strafnah“ sind, aber eindeutig weder als Strafen noch als „strafähnlich“ charakterisiert werden können,387 kann man zu rechtfertigen versuchen. b) Nach dem Ungenügen dieser eher faktisch-soziologisierenden Perspektive liegt es nahe, den Blick auf Rechtliches zu richten. Im Strafverfahren sind näm-

Conen, NJW 1998, S. 2242; Füßer/Viertel, NStZ 1999, S. 116; Nagel, StV 2001, S. 187; Satzger, Gutachten 65. DJT, S. C 82. 387 Zu diesem schillernden Begriff der „Strafähnlichkeit“, der hier gemieden wird, u. Teil 2 Kap. 3 C. I. (S. 640 ff.).

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lich mehrere Zwangsmaßnahmen möglich:388 Beschlagnahmen, Durchsuchungen, Telekommunikations- und Wohnraumüberwachungen, zwangsweise Blutentnahmen und sogar die Untersuchungshaft (in Deutschland etwa §§ 81a, 94 ff., 100a ff., 102 ff., 112 ff. StPO; siehe den vergleichbaren Katalog, beispielsweise in Italien Art. 244 ff., 272 ff., 352 ff. itStPO und in Spanien, Art. 528 ff., 545 ff.). Hierin ist der „allergische Punkt der ganzen Strafrechtspflege“ 389 bzw. „geradezu das Grundproblem des Strafverfahrensrechts“ erblickt worden.390 Bei der gerade erwähnten Untersuchungshaft zeigt sich diese aggressive Dimension des Strafverfahrens am deutlichsten,391 und deshalb hat man insbesondere im Zusammenhang mit der Untersuchungshaft die Rechtfertigungsfrage aufgeworfen, die man häufig mit einem Hinweis auf den Aufopferungsgedanken zu lösen versucht hat.392 Indes können zum einen Strafverfahren auch ohne Zwangsmaßnahmen auskommen. Gesetzt den Fall, in einem Verfahren erfolgt keine Beschlagnahme, Durchsuchung usw.: Ist es in dann deplatziert, nach einer Rechtfertigung des Verfahrens zu fragen? Geschieht dem Betroffenen nichts Übles? Das mutet kontraintuitiv an, und deshalb sollte man nachfragen, ob ein Strafverfahren nicht weitere Dimensionen von Übeln verkörpert, die jenseits spezifischer und kontingenter Zwangsmaßnahmen stehen. Ferner können sich viele Zwangsmaßnahmen auch gegen denjenigen richten, gegen den das Verfahren nicht durchgeführt wird (etwa §§ 81c, 94 ff., 99, 100a Abs. 3, 100c Abs. 3 S. 2, 100f Abs. 2 S. 2, 100h Abs. 2 S. 2 StPO).393 Rechtliche Zwangsmaßnahmen sind – wie die soziologisch-faktische „Strafnähe“ – begrifflich betrachtet kontingente Möglichkeiten. Selbstverständlichkeit bedeutet auch hier die Aktualisierung der Möglichkeit, dass eine besondere Rechtfertigung erfolgen muss; aber dies erschöpft bei Weitem nicht die Arbeit, das Verfahren, was auch immer es ist, zu rechtfertigen.394 388 Ob man eher von Grundrechtseingriffen sprechen sollte (so Amelung, Rechtsschutz, S. 15 f.; dagegen Schroeder, JZ 1985, S. 1029; Replik bei Amelung, JZ 1987, S. 737 f.) ist aus unserer Perspektive zweitrangig. 389 Eb. Schmidt, ZStW 65 (1953), S. 169. Wohl ebenso Oetker, GS 99 (1930), S. 241; Sax, Grundsätze, S. 972, 973 ff.; Hassemer, KritV 1990, S. 262; ders. KritV 1998, S. 336 f. 390 Steinberg, Richterliche Gewalt, S. 15. 391 Vgl. Exner, Strafverfahrensrecht, S. 7. 392 Müller-Dietz u. a., Reform der Untersuchungshaft, S. 10; Peters, Strafprozeß, § 47 A X 1, wobei er gerade hier fehl am Platz ist, wenn man die Untersuchungshaft richtigerweise nur gegen den Störer des Verfahrenszwecks heranzieht, weil dem Störer gerade kein Sonderopfer abverlangt wird (Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 211, 220 ff., 237 f.); und weil in den Fällen, in denen das nicht der Fall ist, eigentlich eine (illegitime) Strafe vorliegt, s. u. Teil 2 Kap. 3 D. I. 2. (S. 663 ff.). 393 Ebenso Hegler, Strafprozeßerneuerung, S. 28 Fn. 27. 394 Und dies nicht einmal wegen der materiellrechtlichen Dimension dieser Maßnahmen, die sie zu sog. doppelfunktionalen Prozeßhandlungen macht (Amelung, Rechts-

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c) Noch vor dem Verhängen konkreter Zwangsmaßnahmen könnte die rechtfertigungsbedürftige Dimension des Strafverfahrens darin liegen, dass es ein Ermitteln darstellt.395 L. Schulz formuliert die Gretchenfrage: Würde das Verfahren auch dann ein Übel darstellen, wenn es geheim bleibt und auch keine Zwangseingriffe erfolgen? „Worin liegt der rechtliche Eingriff und lässt sich von einem Eingriff durch das Verfahren selbst sprechen, soweit isolierbare Ermittlungseingriffe ausbleiben und das Verfahren bis zuletzt geheim bleibt?“ 396 Schulz meint, auch in einem solchen Fall sei das Verfahren ein Übel, denn das Ermitteln beinhalte eine „Verletzung des Persönlichkeitsrechts“, die wiederum einen „latenten Eingriff“ verkörpert, der „jederzeit in ein öffentliches Verfahren umschlagen kann“.397 Dieser Ansatz, der sich ein „nacktes“ Verfahren vorzustellen versucht, führt einen Schritt weiter als der vorherige, der sich auf konkrete Zwangsmaßnahmen bezieht. Aber auch das Abstellen auf Ermittlungen bleibt unbefriedigend. Erstens ist zu rügen, dass sich die Redeweise von einem „latenten“ bzw. potentiellen Eingriff in die Sphäre des Betroffenen nicht völlig von soziologisierenden Kontingenzen befreien konnte. Sie ist nur verständlich, weil implizit erst das öffentliche Verfahren als reeller Eingriff angesehen wird. Liefe das Verfahren von der Ermittlung bis zur Verurteilung vollständig geheim – ohne dass ein „Umschlagen in ein öffentliches Verfahren“ überhaupt möglich wäre – dann wären auf Grundlage dieser Annahmen keine Bedenken mehr zu hegen. Dass dies nicht richtig sein kann, liegt, wie o. S. 123 f. gesagt, auf der Hand. Man könnte aber von diesen noch vorhandenen soziologisierenden Restzügen der Argumentation abstrahieren, womit man bei der rein juristischen These wäre, dass Ermitteln ein Eingriff in die Sphäre des Betroffenen sei.398 Dem würde es schutz, S. 14; ders. NJW 1979, S. 1688; Fezer, Jura 1982, S. 24; OLG Karlsruhe NStZ 1982, 434 [435]; zur Kategorie näher u. C. II. 1. [S. 140]), sondern weil sich bereits ihre prozessuale Dimension von der des Strafverfahrens, in dessen Schoß sie eingesetzt werden, unterscheidet. 395 So Schulz, Normiertes Misstrauen, 546 ff.; ähnlich auch Krauß, ZStW 85 (1973), S. 329: „Eine latente Bedrohung der Intimsphäre ist im Prozeß fast unausweichlich. Denn das Strafverfahren ist seinem Wesen nach auf Inquisition und Indiskretion angelegt, eine Gefahr für das allgemeine Persönlichkeitsrecht demnach institutionalisiert.“ 396 Schulz, Normiertes Misstrauen, S. 547. 397 Schulz, Normiertes Misstrauen, S. 549, 548 (Zitate). 398 Siehe etwa Kühne, NJW 1979, S. 617. Man könnte spezifischer vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht oder noch präziser vom Recht auf informationelle Selbstbestimmung sprechen (so vor allem Bottke, StV 1986, S. 121; s. a. Renzikowski, JZ 1997, S. 714; ausf. zur Rolle dieses Rechts im Strafverfahren Riepl, Informationelle Selbstbestimmung, S. 34 ff. und passim). Das wäre indes eine grundrechtsdogmatische Aussage, die nach dem Ansatz der universellen Rechtswissenschaft nicht bei der vorpositiven Theorie, sondern erst bei der zweiten Stufe der Übersetzung der vorpositiven Theorie in das positive Recht von Bedeutung ist (hierzu o. Teil 1 Kap. 1 C. [S. 104 ff.]). Eine Betrachtungsweise, die von Gründen ausgeht, hat große Schwierigkeiten mit der An-

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entsprechen, das Strafverfahren als einen Prozess der Informationsverarbeitung zu begreifen.399 Dies legt die Frage nahe, inwiefern dies so ist. Als Antwort reicht der Hinweis, dass jedes Ermitteln die Aufdeckung von Informationen bezweckt, die der Betroffene lieber geheim halten würde, aber offensichtlich nicht aus. Denn dies käme darauf hinaus, beim Schuldigen ein prima facie Recht zur Geheimhaltung einer Straftat zu postulieren. Bezüglich des Unschuldigen, also desjenigen, der „nichts zu verstecken hat“, wäre das ein seltsames prima facie Recht zur Geheimhaltung von etwas, was es nicht einmal gibt. Beide Folgerungen sind viel zu kontraintuitiv, um richtig zu sein. Denkbar wäre allein, von bestimmten Informationsbeherrschungsrechten auszugehen, die sich entweder auf konkrete, eigenständig geschützte Sphären (wie die Wohnung, Art. 13 GG, oder den Körper, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) zurückführen lassen oder unmittelbar geschützt sind (wie das Sozialgeheimnis, § 35 SGB I, oder das Steuergeheimnis, § 30 AO).400 Nicht jedes Strafverfahren wird indes Eingriffe in solche Rechte kennen. Es gibt eine zusätzliche theoretische Schwierigkeit: auch Strafverfahren ohne Ermittlungen sind denkbar. Selbst historische Beispiele, wie etwa Gottesurteile, Zweikämpfe oder Reinigungseide, könnten, bestimmte weitere, von uns nicht mehr geteilte Prämissen vorausgesetzt (konkret: dass Gott dem Unschuldigen beistehe, oder dass ein ehrbarer Mann nicht falsch schwöre), als Mittel der Wahrheitsfindung angesehen werden.401 Frühere Strafverfahren kannten Präsumptionen, die Verurteilungen ohne Ermittlungen gestatteten: Derjenige, der einem anderem ein Übel androht, ist, falls das Übel später tatsächlich eintritt, Täter; derjenige, der sich dem Verfahren entzieht, gesteht; hat eine Schwangere ein Kind heimlich zur Welt gebracht, das danach verschwunden ist, ist sie Täterin einer Kindestötung.402 Vielleicht lässt sich der zweifelsohne seltene, aber dennahme, es gebe eine „Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen“ (BVerfGE 65, 1 [43]), obwohl diese Daten nicht einmal privat sein müssen, da es „unter den Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung kein ,belangloses‘ Datum mehr“ gebe (E 65, 1 [45]). Das ist nichts anderes als ein Recht zur Geheimhaltung von wahrheitsgemäßen Aussagen über die äußere Welt, also ein Recht, „öffentliche Güter“ (Sieber, CR 1995, S. 111) anderen vorzuenthalten (ebenso Deutsch, Informationen, S. 78: es gehöre zur conditio humana, dass die anderen von dem erfahren, was man tut; Rogall, GA 1985, S. 11: „Gefahr des Schaffung eines allgemeinen Dateneigentums“; ders. ZStW 103 [1991], S. 919 ff.; Duttge, Zwangsmaßnahme, S. 36, 78 ff., 186 ff., 191). 399 So insb. Amelung, FS Roxin I, S. 1277; s. a. Rogall, GA 1985, S. 3; und bereits Heinze, GA 1876, S. 280. 400 Amelung, Informationsbeherrschungsrechte, S. 33 ff.; ders. FS Roxin I, S. 1260. 401 Binding, Strafprozeßprinzipien, S. 188: „Dieser Strafprozeß war ein Rechtsgang ohne Beweisverfahren in unserem Sinne, aber freilich nicht ohne Beweisverfahren in seinem eigenem“; Damaska, CardJICL 5 (1997), S. 29 ff.; Jaconelli, Trial, S. 27; Taruffo, Verità, S. 6 f., 18 f. 402 Diese drei Regeln werden angeführt von Carrara, Del giudizio criminale, § 976 Fn. 1, m. Nachw. (S. 231).

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noch mögliche Fall des Täters, der selbst Anzeige erstattet, sich selbst überstellt, von sich aus ein Geständnis ablegt und alle weiteren Beweise gegen sich präsentiert, als ein Strafverfahren ohne Ermittlungen beschreiben.403 Auch bei einer allein auf der Zustimmung des Betroffenen beruhenden Strafzufügung,404 die, wenn sie auch in den meisten kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen unmöglich ist, durchaus in der Konsequenz der Anerkennung eines Konsensprinzips liegt, kann man schwer von irgendeiner Ermittlung sprechen.405 Dies belegt, dass die Verknüpfung von Strafverfahren und Ermittlungstätigkeit keine begriffsnotwendige ist. Ermitteln muss im Prinzip nur derjenige, der erstens die Wahrheit für wichtig hält und zweitens der Meinung ist, sie noch nicht im Besitz zu haben. Das für alle Strafverfahren wesentliche Übel ist mit dem Hinweis auf das Ermitteln noch nicht gefunden worden. d) Das Verfahren ist keine Strafe; es muss keine öffentliche Bloßstellung sein. Nicht immer muss es Zwangsmaßnahmen enthalten. Das Ermitteln muss weder notwendig die Sphäre des Betroffenen berühren, noch sind Verfahren ohne Ermittlungen undenkbar. Das Übel, das für jedes Strafverfahren eigentlich konstitutiv ist, muss in etwas anderem liegen. Jedes Strafverfahren als Summe staatlicher Aktivitäten, die funktional auf die Vollstreckung einer Strafe gerichtet sind, lebt davon, dass der Betroffene als einer erachtet wird, dem möglicherweise deshalb eine Strafe zugefügt werden muss, weil er möglicherweise eine Straftat begangen hat. M. a. W.: Konstitutiv für das Strafverfahren ist eine Verdächtigung, ein Zutrauen von etwas Schlechtem. „In der Spezialuntersuchung liegt dies: daß der Staat erklärt, er traue einem bestimmten Individuum zu, daß es ein bestimmtes Verbrechen begangen habe“.406 Bereits dies ist rechtfertigungsbedürftig.407 Es fragt sich nur, wie genau. 403 Ich sage vielleicht, weil auch die Beschreibung als Strafverfahren mit Ermittlungen, die von einer Einwilligung gedeckt sind, möglich erscheint. Nach materiell-strafrechtlichen Maßstäben dürfte aber eher die andere Beschreibung einleuchten, weil hier der Betroffene die Herrschaft über das Gesamtgeschehen zu haben scheint. 404 Wie im berühmt-berüchtigten amerikanischen Fall U.S. Supreme Court, North Carolina v. Alford, 400 U.S. 25 (1970), in dem der Beschuldigte, der der Strafe zustimmte, sogar seine Schuld bestritt; eine Beweisaufnahme erfolgte selbstverständlich nicht; zu diesem Fall s. a. u. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 3. (S. 266). 405 So auch die Selbstbeschreibung dieser Systeme, insofern sie sich auf die römische Maxime adversus confitentem datur iudex non rei iudicandae sed aestimandae stützen (so über England z. B. Carrara, Giudizio criminale, § 932 Fn. 1). 406 Köstlin, Wendepunkt, S. 61. 407 Diese Erkenntnis war bei den Theoretikern des Inquisitionsverfahrens allgegenwärtig, beispielsweise Grolman, Grundsätze, § 599; Köstlin, Wendepunkt, S. 61; Müller, ZdStV 1 (1844), S. 17; krit. aber Biener, Beiträge, S. 179 Fn. 65; ders. ZfgRW 12 (1844), S. 94. Man könnte meinen, dass dies darauf beruhe, dass dieses Verfahren mit der Konzentration der Ermittlungen auf eine bestimmte Person (sog. Spezialinquisition) früher die Folter, im 19. Jahrhundert regelmäßig die Untersuchungshaft für zulässig hielt; das Schöne an dem im Text wiedergebenen Zitat von Köstlin ist eben, dass es den Blick auf die ideellen Dimensionen der Belastung lenkt. Später Beling, Reichstrafpro-

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V. Der Inhalt der Verdächtigung Eine Verdächtigung ist eine Tätigkeit, die einen bestimmten Inhalt aufweist. Ihr wesentlicher Inhalt ist der (vergangenheitsbezogene) Satz, möglicherweise sei eine schlechte Tat vom Täter begangen worden. Das bedeutet, dass jede Verdächtigung einen doppelten Inhalt aufweist.408 Sie besteht aus dem deskriptiven Satz, dass möglicherweise etwas passiert ist, genauer: dass der Täter möglicherweise ein bestimmtes Verhalten vorgenommen hat; und aus einem normativen Satz, aus der Bewertung dessen, was eventuell passiert ist, als etwas Schlechtem. Sie lässt sich deshalb auch auf zwei Ebenen in Frage stellen: Man kann auf der deskriptiven Ebene bestreiten, dass der Betroffene sich so wie vermutet verhalten hat; man kann ferner auf der normativen Ebene anzweifeln, ob das Verhalten als zeßrecht, S. 29: „schon die Prozeßbehelligung selbst (ist) ein Übel“; heutzutage Corts, JA 1976, S. 304 (Eingriff in die freie Entfaltung, Art. 2 Abs. 1 GG); Hamm, AnwBl 1986, S. 66, und Radtke, Strafklageverbrauch, S. 356, die richtigerweise allein auf die Änderung der Rechtsstellung zum Beschuldigten abstellen; Füßer/Viertel, NStZ 1999, S. 117; Satzger, Gutachten 65. DJT, S. C 82 (Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht); wohl auch Neu-Berlitz, Bestandskraft, S. 50 ff. S. a. Bottke, FS Roxin I, S. 1247; ders. FS Meyer-Goßner, S. 73: Derjenige, gegen den ein Prozess geführt wird, erleide „eine Minderung seines Vermögens, unbescholtener Bürger zu sein“. Bottke nennt dies „Dissoziation“. Aus dogmatischer Sicht dient die Beschreibung der Belastungen durch das Vorverfahren unterschiedlichen Zwecken, die alle durch die hier genannten Erwägungen, die bloß den Gegenstand der Rechtfertigungstheorie näher zu umschreiben suchen, keineswegs präjudiziert werden. So berief sich der BGH auf diese Belastungen, um die Möglichkeit der Amtshaftung wegen Verzögerung der Verfahrenseinstellung zu begründen (BGHZ 20, 178 [181 f.]); auf den Gesichtspunkt des „Drucks des Verfahrens“ hat man auch hingewiesen, um den Strafrabatt bei Verletzungen des Beschleunigungsgebots herzuleiten, s. BGHSt 35, 137 (142); dagegen lehnt man es ab, daraus die Möglichkeit von Rechtsschutz gegen das Betreiben des Ermittlungsverfahren zu schließen, s. BVerfG NStZ 1984, 228 (229); OLG Karlsruhe NStZ 1982, 434; OLG Jena NStZ 2005, 343; Nagler, GS 111 (1938), S. 371; Rieß, NStZ 1982, S. 435 f.; ders. FS Geerds, S. 502 ff. (de lege lata), 508 ff. (de lege ferenda); Keller, GA 1983, S. 520; Bottke, StV 1986, S. 121; and., gerade mit Hinweis auf diese Belastungen, Richter II, StV 1985, S. 389; Hamm, AnwBl 1986, S. 68; E. Müller, AnwBl 1986, S. 54; Eisenberg/Conen, NJW 1998, S. 2246 ff.; Nagel, StV 2001, S. 191 f. 408 Siehe auch Bruns, GS H. Kaufmann, S. 866 f.; s. zum positivrechtlichen Begriff des Tatverdachts die für unsere Zwecke nicht sehr fruchtbaren Erwägungen von v. Hindte, Verdachtsgrade, S. 19 ff.; Kühne, NJW 1979, S. 619 ff.; Fincke, ZStW 95 (1983), S. 923 f.; H. Zimmermann, Anklageerhebung, S. 90 ff.; Lohner, Tatverdacht, S. 44 ff. Vor einem verbreiteten Missverständnis sei jetzt schon gewarnt: Der Verdacht soll nicht als retrospektive Prognose, also als vergangenheitsorientiertes Gegenstück zur Gefahr (= prospektive Prognose) begriffen werden (so aber Kühne, NJW 1979, S. 619 f.; H. Zimmermann, Anklageerhebung, S. 90), denn die Unsicherheit des Verdachtsurteils beruht nur darauf, dass unsere Kenntnis der Realität unzureichend ist, während die Unsicherheit des Gefahrurteils in diesem Sinne nicht nur epistemisch, sondern auch ontologisch bedingt ist; m. a. W.: Nicht nur unsere Kenntnis der Realität ist unzureichend, sondern die Realität selbst, also der Gegenstand der Erkenntnis, liegt noch nicht fest (s. Greco, StraFo 2010, S. 54 f.). Kurz gesagt, beim Verdacht geht es um Ungewissheit, nicht um Unbestimmtheit (zu diesen zwei Kategorien o. Kap. 1 A. I. [S. 50 f.]).

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schlecht anzusehen ist. Diese beiden Sätze bilden den Inhalt oder Gegenstand der Verdächtigung. VI. Das Übel der Verdächtigung Zuletzt ist zu klären, inwiefern Verdächtigungen rechtfertigungsbedürftig sind. M. a.W.: Warum soll gerade dieses Bild des Strafverfahrens – unter anderen gegebenenfalls möglichen Beschreibungen – auch als Ausgangspunkt der Rechtfertigungstheorie dienen? Verdächtigungen müssen in bestimmten Hinsichten ein Übel darstellen. 1. Verdächtigungen sind schon im Alltag mit einer Rechtfertigungshypothek behaftet. Am klarsten lässt sich dieser Befund anhand von Beispielen erkennen. Ein in einer Wohngemeinschaft lebender Student merkt, dass es am Waschbecken seit einigen Tagen nur eine Zahnbürste gibt, nämlich seine; ein Professor entdeckt in seiner Publikation ein Fehlzitat. Die an den Mitbewohner bzw. an den Assistenten gerichtete Frage – „Benutzt Du meine Zahnbürste?“, „Haben Sie diese falsche Fußnote gemacht?“ – ist nicht erst qua Informationserhebung rechtfertigungsbedürftig. Sie enthält darüber hinaus eine Verdächtigung, deren problematische Dimension am deutlichsten wird, wenn der Verdacht widerlegt wird. Drückt der Mitbewohner seine eigene Zahnbürste dem Studenten ins Gesicht, oder zeigt der Assistent, dass er sich zur Zeit der Fertigstellung der Publikation im Urlaub befand, müssen sich der Student und der Professor entschuldigen. Die Verdächtigten werden sich trotzdem unwohl fühlen, und dies nicht ohne Grund: denn jedes Verdächtigen enthält, unabhängig davon, ob sich der Verdacht bestätigt, unabhängig davon, ob man nach der Verdächtigung ermittelt, die implizite Behauptung, man traue es dem Verdächtigten zu, das bescholtene Verhalten vorgenommen zu haben. „Benutzt Du meine Zahnbürste?“ heißt auch, „Du bist wohl schmutzig“, „ich glaube, Du bist einer, der die Regeln des Zusammenlebens in einer Wohngemeinschaft missachten könnte“; „Haben Sie diese falsche Fußnote gemacht?“ bedeutet gleichzeitig, „ich glaube nicht wirklich, dass Sie zuverlässig arbeiten“. Bereits dieses „Ich-traue-es-Dir-zu“ ist ein rechtfertigungsbedürftiges Übel. Ein zusätzlicher besonderer Aspekt der Verdächtigung besteht darin, dass sie – anders als die Strafe – auf einem einseitigen Verhalten des verdächtigenden Subjekts beruht. Während der Bestrafte einen Beitrag zu der eigenen Bestrafung leistet – nämlich die schuldhafte Begehung einer Straftat –, kann man in Verdacht geraten, ohne überhaupt etwas getan zu haben. „Ob wir uns strafbar machen, das hängt von uns ab; ob wir einem Strafprozeß unterworfen werden, nicht: wir können durch Personenverwechselung, Namensmißbrauch, böswillige Denunziation usw. in ihn verstrickt werden“.409 Die Verdächtigung entsteht ohne Beitrag des 409 Beling, Reichsstrafprozeßrecht, S. 28. Siehe auch Leue, Anklage-Prozeß, S. 3; Mittermaier, Lehre vom Beweise, S. 472 f.; Binding, Drei Grundfragen, S. 12: „. . . dem

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Betroffenen und muss deshalb ohne einen solchen Beitrag legitimiert werden können. Der Betroffene kann sowohl an der Tat als auch an dem Verdacht „unschuldig“ sein. 2. Die im Strafverfahren verkörperte Verdächtigung ist gegenüber alltäglichen Verdächtigungen sogar in mehreren Aspekten qualifiziert. a) Erstens was ihren Gegenstand anbelangt: Zugetraut wird nicht nur die Begehung einer schlechten Tat, sondern einer Straftat, also einer Tat, die so gravierend ist, dass die Rechtsordnung sie als strafwürdig und -bedürftig ansieht und für strafbar erklären musste. Dies hat aus der Perspektive des Verdächtigten zwei Implikationen. Die Erste weist einen vergangenheitsbezogenen Charakter auf. Kriminologen behaupten die Normalität des Verbrechens,410 Strafrechtler klagen über flächendeckende Kriminalisierung.411 Nichtdestotrotz stellt die Begehung einer Straftat die gravierendste Art und Weise dar, seine Pflichten als rechtstreuer Bürger zu verletzen. Ginge es bei unserer Wohngemeinschaft oder unserem Lehrstuhl nicht um eine missbrauchte Zahnbürste oder eine falsche Fußnote, sondern um einen Diebstahl, wäre die Verdächtigung viel gravierender. Denn sie hätte den Inhalt, man traue dem Verdächtigten sogar die Begehung einer Straftat zu. Man traut ihm also zu, nicht einmal die elementarsten Bürgerpflichten beachtet zu haben. Es lässt sich aber eine zweite, eher zukunftsbezogene Seite ausmachen. Geht es nicht um die Benutzung einer Zahnbürste oder eine ungenaue Fußnote, sondern um einen Diebstahl, dann bedeutet die Verdächtigung zugleich eine Drohung, der Verdächtigte könne eine Strafe erleiden. Diese zukunftsbezogene objektive Dimension der Verdächtigung erhält ihre volle Ausprägung erst, wenn auch die folgenden, subjektiven Umstände vorliegen, um die es im Anschluss gehen wird. b) Denn die zweite Qualifikation der Verdächtigung, die ein Strafverfahren konstituiert, bezieht sich auf das die Verdächtigung äußernde Subjekt: Nicht irgendeiner, sondern der Staat412 traut dem Betroffenen die Begehung einer Straftat zu. Dies ist besonders gravierend, weil es beim Staat erstens um eine Instanz geht, die exponentiell mächtiger ist als das Individuum. Ein Staat, der kein sog. failed state ist,413 besitzt das Gewaltmonopol über ein bestimmtes Territorium, so dass besten Bürger (kann) das Unheil widerfahren, daß ein unglückliches Zusammentreffen von Indizien ihn zum Beschuldigten werden läßt“; Nagler, GS 111 (1938), S. 344. 410 Pointiert Haferkamp, Kriminalität ist normal, passim. 411 Stellvertretend Silva Sánchez, Expansión, S. 1 ff.; Husak, Overcriminalization, S. 3 ff. 412 Bzw. eines staatsähnlichen Gebildes im u. Teil 2 Kap. 3 C. III. (S. 645 f.) erläuterten Sinne. 413 Zu diesem Begriff statt aller Hailbronner/Kau, in: Graf Vitzthum, Völkerrecht, Abs. 3 Rn. 85.

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eine von ihm ausgesprochene Verdächtigung dem Individuum besonders bedrohlich erscheint.414 Der Kampf gegen eine solche Instanz ist ungleich schwerer als der gegen den Mitbewohner oder den Professor. Die zwei objektiven Dimensionen der Verdächtigung gewinnen hierdurch auch ihre volle Realität: Dieses mächtige Subjekt kann die in der Verdächtigung enthaltene vergangenheitsbezogene Möglichkeitsaussage erforschen und beweisen, und auch die in der Verdächtigung enthaltene zukunftsbezogene Drohung kann dieses mächtige Subjekt verwirklichen. Zweitens erhebt diese Instanz auch den (sozial weitgehend anerkannten) Anspruch, legitim zu handeln.415 Der Staat behauptet, im Namen aller zu handeln, also sowohl gegenüber der Gesellschaft als Ganzem als auch gegenüber dem Betroffenen über eine besondere Legitimation zu verfügen. Diese Ansprüche werden bei jeder Verdächtigung durch den Staat implizit geltend gemacht. „Im Namen aller und legitimerweise sage ich, dass ich Dir die Missachtung Deiner elementarsten Pflichten als Bürger zutraue“. Gerade wegen der Erhebung dieses Anspruchs und der in der Regel damit verbundenen sozialen Anerkennung sieht sich der vom Verdacht Betroffene isoliert. Sein Versuch, den Verdacht zu entkräften, erscheint allein schon deshalb weniger glaubwürdig, weil eine Instanz, die legitime Macht ausübt, als eine solche gilt, die auch nicht ohne gute Gründe verdächtigt. Der anerkannte Legitimitätsanspruch des Staates potenziert deshalb in erster Linie die vergangenheitsbezogene Seite des Verdächtigungsgegenstands. 3. Die im Strafverfahren verkörperte qualifizierte Verdächtigung ist aber graduierbar. Man kann unterschiedliche Verdächtigungsdimensionen unterscheiden, die sich bildlich gesprochen auf zwei Achsen bewegen, einer vertikalen und einer horizontalen. a) Bei der vertikalen Dimension geht es um etwas, das man als Verdächtigungstiefe bezeichnen könnte: Wie ernsthaft wird dem Betroffenen die Begehung einer Straftat zugetraut, wie weit eignet sich der verdächtigende Staat den Verdacht an? Diese Dimension intensiviert sich, je mehr der Prozess voranschreitet, sie ist deshalb notwendig dynamisch. Es lässt sich vermuten, dass die zweite der oben genannten klassischen Fragen des ne bis in idem-Grundsatzes, also die nach der „ersten Verfolgung bzw. Aburteilung“, eine Beziehung zu der Verdächtigungstiefe aufweisen wird. Das soll unten in Teil 2 Kap. 4 E II, III (S. 741 ff.) näher ausgeführt werden. b) Auf der anderen, horizontalen Achse geht es um die Reichweite der Verdächtigung: Was wird dem Betroffenen alles zugetraut? Es ist zu vermuten, dass hierzu die erste der oben genannten klassischen Fragen, die nach dem Begriff der „Tat“, ein enges Verhältnis aufweisen wird (vgl. u. Teil 2 Kap. 2 B., D. 414 415

Richter II, StV 1985, S. 383. Vgl. bereits o. Fn. 47 und Greco, Lebendiges, S. 128 ff.

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[S. 379 ff., 468 ff.]). Einen notwendig dynamischen Charakter weist die horizontale Dimension – anders als die der Verdächtigungstiefe – aber nicht auf. Man kann sich Verdächtigungen vorstellen, bei denen das, was dem Betroffenen zugetraut wird, statisch bleibt, ebenso wie solche, bei denen sich das Zugetraute in der Zeit dynamisch verändert. VII. Fazit: Das Übel des Strafverfahrens Aus der Perspektive der Gesellschaft verkörpert das Strafverfahren eine latente Bedrohung, aus der Perspektive des Betroffenen eine Verdächtigung, ein Zutrauen von etwas Schlechtem, die sogar qualifiziert ist, weil sie vom mächtigen und Legitimität beanspruchenden Staat erhoben wird, und weil sie die Begehung einer Straftat zum Gegenstand hat. Das doppelte Übel des Strafverfahrens ist deshalb sein Charakter als allgemein bedrohliche Institution und als qualifizierte Verdächtigung.

C. Die Rechtfertigung der Strafverfolgung als Rechtfertigung einer allgemein bedrohlichen Institution und einer qualifizierten Verdächtigung I. Einleitendes Mit den Worten Nieses: „Jeder der Gerichtsbarkeit Unterworfene, der in den hinreichenden Verdacht einer Straftat gerät, ist verpflichtet, an einem Strafverfahren als Beschuldigter teilzunehmen“.416 Es fragt sich aber warum: Mit welchem Recht legt der Staat einem möglicherweise Unschuldigen diese „harte Pflicht“ 417 auf? Diese einleuchtende Frage nach der Begründung der allseitig anerkannten Prozessduldungspflicht wird erstaunlich selten gestellt. Auch Niese stellt sie nicht, sondern begnügt sich mit der Behauptung, dass eine solche harte Pflicht bestehe. Nachdem Klarheit über den zu rechtfertigenden Gegenstand – einerseits die Existenz einer allgemein bedrohlichen Institution, andererseits die qualifizierte Verdächtigung, die in der staatlichen Zutrauung der Begehung einer Straftat durch den Betroffenen verkörpert wird – erreicht worden ist, kann man sich der normativen Frage der Rechtfertigung zuwenden. Die einzelnen bisher entwickelten anspruchsvolleren Theorien über das Strafverfahren wird man noch einmal Revue passieren lassen. Sie werden in drei Hauptgruppen eingeteilt, je nachdem, ob sie auf einem gesellschaftlichen Nutzen (u. III., S. 157 ff.), auf einem individuellen Nutzen (u. IV., S. 197 ff.) oder auf deontologischen Erwägungen des Respekts (u. VI., 416 417

Niese, ZStW 63 (1951), S. 219. Niese, ZStW 63 (1951), S. 219.

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S. 234 ff.) beruhen. Es wird sich erweisen, dass eine überzeugende Antwort auf die Ausgangsfrage diese drei Stufen durchgehen muss. Es ist nicht der Sinn der nachfolgenden Abschnitte, alle bisher formulierten Rechtfertigungen des Strafverfahrens darzustellen. Es geht auch nicht darum, die Ansichten bestimmter Autoren jeweils kompakt wiederzugeben. Die Erörterungen beziehen sich auf Argumente, und es wird versucht, sie in das vorhin genannte dreistufige Schema einzuordnen. Dies führt aber zu Komplikationen bei Theorien, die Aspekte von mehr als einer dieser drei unterschiedenen Stufen in sich vereinen. Sind diese Theorien teilbar, werden sie zergliedert, auch dann, wenn die prominentesten ihrer Vertreter sie als Einheit begriffen haben.418 Ist es aber nicht möglich, die Theorien zu teilen, dann sind sie an der Stelle zu behandeln, die ihrem Schwerpunkt am besten entspricht oder die der Entwicklung meiner eigenen Reflexionen am besten dienlich ist.419 Weil es zwei Gruppen von Theorien gibt, die mehrere Ebenen in sich vereinen, wurde versucht, sie in einer Zwischenstufe zu akkommodieren (u. V. [S. 216 ff.]). Anschließend sind die Theorien aus zwei Perspektiven kritisch zu untersuchen: zunächst intern, wo es in erster Linie um allgemeine Anforderungen der Konsistenz, aber auch um die allgemein-intuitive Überzeugungskraft ihrer Gedankenführung geht; zweitens, und wichtiger, extern, also hinsichtlich ihrer Fähigkeit, auf die o. B. (S. 119 ff., 133) gestellte und präzisierte Fundamentalfrage eine befriedigende Antwort zu geben. Es wird nicht verkannt, dass viele der zu untersuchenden Theorien nicht als Antworten auf die hier als zentral ausgearbeitete Fragestellung gedacht worden sind. Deshalb könnte man fragen, ob die hier vorzunehmende externe Kritik nicht ein Spiel mit gezinkten Karten sei, das die Theorien von vornherein nicht gewinnen können. Dies trifft aber nur insoweit zu, wie die jeweilige Theorie spezifische Eigentümlichkeiten der oben ausgearbeiteten Übel des Strafverfahrens unberücksichtigt lässt. Dass dies wahrscheinlich passieren wird, liegt in der Tat auf der Hand; nicht grundlos haben wir uns die Mühe gemacht, das malum des Strafverfahrens präzise zu erfassen. Dennoch wird man sehen, dass die meisten Erwägungen, die bei der externen Kritik eine tragende Rolle spielen werden – vor allem die Sorge um die Instrumentalisierung oder Bevormundung des Einzelnen (insb. u. III. 5. [S. 191 ff.], IV. 4. [S. 209 ff.]) – für jede umfassende Recht418 Das wird vor allem bei der Bestimmung der „Wahrheit und Gerechtigkeit“ als Zwecke des Strafverfahrens der Fall sein müssen. Die materielle Wahrheit wird u. III. 3. (S. 168 ff.) erörtert, die Gerechtigkeit dagegen unter VI. 2. (S. 236 ff.). 419 Beispiel: Der Gedanke der materiellen Wahrheit weist sowohl eine zweckmäßigkeitsbezogene als auch eine respektbezogene Dimension auf: Die Bestrafung des Falschen ist regelmäßig präventiv unangebracht und verletzt zudem das Schuldprinzip. Die materielle Wahrheit wird hier unter den Theorien, die auf einen gesellschaftlichen Nutzen abstellen, behandelt (u. III. 3. [S. 168 ff.]), weil sich bereits auf dieser Ebene ein wichtiger Teil ihres Sinns erschließt.

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fertigung von Übelzufügungen durch den Staat gelten, auch dann, wenn es nicht um eine allgemein bedrohliche Institution bzw. eine qualifizierte Verdächtigung im obigen Sinne geht. Die meisten der zu untersuchenden Theorien stellen deshalb durchaus Beiträge zum Unternehmen der Rechtfertigung des Strafverfahrens dar. Es ist deshalb nicht unbillig, sie daran zu messen, wie gut sie diese Aufgabe lösen können. II. Drei Beispiele für die Verkennung der Fundamentalfrage Damit soll nicht geleugnet werden, dass es prominente Theorien zum Strafverfahren gibt, die ein völlig anderes Spiel spielen, die m. a. W. die Rechtfertigungsfrage gar nicht stellen. Weil die ersten zwei Ansätze, der des begrifflichen Konstruktivismus und der Systemtheorie, mindestens zeitweilig großes Ansehen genossen haben, und weil immer wieder versucht wurde, aus ihnen Einsichten für die Lösung bestimmter prozessualer Sachfragen, also normative Schlussfolgerungen abzuleiten, ist es angemessen, sie eines kritischen Blicks zu würdigen. Der dritte Ansatz, der hier als prozessualer Machiavellismus bezeichnet wird, hat dagegen als abstrakte Theorie wenig explizite Vertreter gefunden; dennoch wird seine Präsenz gerade im Rahmen der Rechtskraftlehre in besonderer Weise spürbar. 1. Der begriffskonstruktivistische Ansatz: Prozess als Rechtsverhältnis und als Rechtslage a) Der in Deutschland und in romanischsprachigen Ländern wirkungsmächtigste Ansatz zum Strafprozess (und in der Regel auch zum Zivil- und ggf. zum Verwaltungsprozess) ist der der sog. „konstruktiven Prozeßrechtswissenschaft“.420 Charakteristisch für diesen Ansatz ist die Bemühung, eine formelle Strukturtheorie des Verfahrens anzubieten, die die grundlegenden Begriffe und Kategorien, wie etwa die des Verfahrens und der Klage, des Prozessgegenstands, der Prozessbeteiligten und der Prozessakte, analysiert. Diese Theorie beansprucht, für alle Gerichtsverfahren gültig zu sein, so dass man häufig von einer allgemeinen Prozesslehre spricht421 – ein Projekt, das in Deutschland seit den 420 Diese Bezeichnung findet sich etwa bei Goldschmidt, Prozeß, S. 1 (der sich auf Landsberg beruft); Niese, Prozeßhandlungen, S. 15; Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Bd. I Rn. 113; Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 4; Schaper, Verfahren, S. 33. Zu den geschichtlichen Vorgängern Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 132 ff. 421 Etwa Tolomei, Principî fondamentali, S. 13 ff.; Sabatini, Principi I, S. 84 ff.; Sauer, FS R. Schmidt, S. 311 f.; ders. Allgemeine Prozeßrechtslehre, S. VII ff., 57 ff. (zu ihm s. u. Fn. 439); Goldschmidt, Teoría general del proceso, S. 813 ff.; Carnelutti, Teoría general, S. 41 ff. (zu ihm ebenfalls u. Fn. 439); Angelotti, Teoria generale del processo, S. 4 ff.; Niese, Prozeßhandlungen, S. 21 ff.; Hagen, Allgemeine Verfahrenslehre, S. 10 f., 12 ff.; ders. Elemente, S. 12 f.; Kohlhosser, JZ 1973, S. 8 ff.; Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, S. 1, der vom Zivilprozessrecht ausgehen und dessen Kategorien auf andere Prozessformen übertragen will, das Strafverfahren aber weitge-

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siebziger Jahren nicht mehr im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses steht,422 in anderen Ländern, vor allem, aber nicht nur in romanischsprachigen Kreisen, höchst lebendig ist423 und zeitweilig sogar den Gedanken eines einheitlichen Prozessgesetzes angefeuert hat.424 Einen besonderen Erfolg zeitigten zwei Ansätze: die Lehre vom Prozess als Rechtsverhältnis und die Lehre vom Prozess als Rechtslage. aa) Die von Bülow425 begründete Lehre vom Prozess als Rechtsverhältnis betrachtet das gerichtliche Verfahren als ein „stufenweise vorwärts schreitendes, sich von Schritt zu Schritt entwickelndes Rechtsverhältniß“.426 Ein Rechtsverhältnis sei ein „Verhältniß gegenseitiger Berechtigung und Verpflichtung“,427 ein „Verhältnis . . ., welches in die Rechtssphäre beider Prozeßtheile eingreift, Rechte erzeugt, Rechte verändert, Rechte vernichtet“;428 bündiger: das „Verhältnis von hend ausklammert (S. 11). Vgl. auch Rödig, Erkenntnisverfahren, S. 1 ff., der sich die Aufgabe stellt, die logische Struktur der gerichtlichen Prozesse zu klären; Schaper, Verfahren, S. 8 und passim. Nachw. zur italienischen Lehre in Sabatini, ScPos 1951, S. 453 Fn. 15, S. 456 Fn. 24. 422 Dieselbe Einschätzung bei Steinberg, Richterliche Gewalt, S. 8. 423 In Deutschland Lüke, JuS 1961, S. 41 ff. (ihm zust. Nakano, ZZP 79 [1966], S. 113); Lüke, ZZP 107 (1994), 145 ff.; ders. FS Müller-Dietz, S. 479 ff.; Heger, JZ 2010, S. 647; Bachmann, ZZP 118 (2005), S. 133 ff. (zu ihm u. Fn. 469). In Spanien Alcalá-Zamora y Castillo, Teoría general I u II, S. 505 ff., 525 ff.; Ormazabal Sánchez, Introducción al Derecho Procesal, insb. S. 113 ff.; Montero Aroca/Gómez Colomer/ Montón Redondo/Barona Vilar, dessen dreibändiges Werk zum Derecho Jurisdiccional (Gerichtsbarkeitsrecht) im ersten Band den Allgemeinen Teil, im zweiten das Zivil-, im dritten das Strafprozessrecht behandelt; in Brasilien Araújo Cintra/Grinover/Dinamarco, Teoria geral do processo, S. 25 ff.; in Frankreich Cadiet/Normand/Mekki, Théorie générale du procès, insb. S. 287 ff.; Guinchard u. a., Droit processuel, S. 32 ff.; Guinchard/Buisson, Procédure pénale, Rn. 8, S. 10 f. (freilich nicht mehr konstruktivistisch orientiert, sondern i. S. eines „droit processuel humaniste“, dessen Ansatzpunkt der alle Prozessrechte umfassende Art. 6 EMRK sei); in Kolumbien Benabentos, Teoría general, insb. S. 119 ff.; in den USA Thibaut/Walker, CalLRev 1978, S. 542; Burns, Theory of the Trial, S. 34 ff. W. Nachw. zu unterschiedlichen Ansätzen bei Bachmann, ZZP 118 (2005), S. 143 ff. und Steinberg, Richterliche Gewalt, S. 7; w. Nachw. zum italienisch- und spanischsprachigen Schrifttum b. Salas, Kritik, S. 56 ff.; s. zuletzt die Aufsätze in Didier Jr./Ferreira Jordão (Hrsg.), Teoria do processo. 424 Dafür etwa Angelotti, Teoria generale del processo, S. 167 ff.; Battaglini, ScPos 1951, S. 439 ff.; Sabatini, ScPos 1951, S. 456 ff. (i. S. eines einheitlichen prozessualen „Vorgesetzes“); s. sogar den Untertitel des 1990 publizierten Buchs von Fairen Guillen, Doctrina general: „Ansätze . . . eines allgemeinen Prozessgesetzes“; abl. Guarnieri, ScPos 1951, S. 469 ff. 425 Bülow, Proceßeinreden, S. 1 ff.; zu ihm Lüke, ZZP 108 (1995), S. 428 f.; ausf. Schaper, Verfahren, S. 35 ff.; J. Braun, Einleitung, S. 1 ff.; s. a. Moos, FS Jescheck, S. 736 ff. Erstmals dürfte der Begriff nach Bülows eigenen Angaben (Proceßeinreden, S. 1 Fn. 1a) in einer 1864 publizierten Arbeit von v. Bethmann-Hollweg benutzt worden sein. 426 Bülow, Proceßeinreden, S. 2. 427 Bülow, Proceßeinreden, S. 1. 428 Kohler, Prozeß, S. 1.

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Rechtsanspruch und Rechtspflicht“.429 Diese zuerst unter Zivilprozessualisten entwickelte Lehre fand bald im Strafprozess Anerkennung.430 Von späteren Generationen wurde sie als „großer rechtswissenschaftlicher Wurf “ 431 bzw. als „epochemachende Theorie“ 432 bezeichnet. Die dogmengeschichtliche Errungenschaft des Ansatzes war die Gewinnung der Kategorie der sogenannten Prozessvoraussetzungen, die zuerst als Voraussetzungen der Existenz eines Prozesses verstanden wurden,433 nach der heute allgemein vertretenen Auffassung aber nur Voraussetzungen einer Sachentscheidung sein sollen.434 (Diese Kategorie wird uns u. in Teil 2 Kap. 4 F. II. 4. [insb. S. 800 ff.] etwas Kopfzerbrechen bereiten.) Trotz vieler streitiger Nebenaspekte435 herrschte unter den Vertretern dieser Lehre über zwei zentrale Punkte Einvernehmen: Erstens sei das Prozessrechtsverhältnis ein öffentlich-rechtliches; 436 zweitens, und wichtiger, sei das prozessuale Verhältnis unabhängig vom materiellen Rechtsverhältnis.437

429

Bierling, ZStW 10 (1890), S. 252. v. Kries, ZStW 5 (1886), S. 1 ff.; ders. Lehrbuch, S. 4 ff.; Bierling, ZStW 10 (1890), S. 309 ff.; Ortloff, GrünhutsZ 23 (1896), S. 520 Fn.; ders. AöR 1897, S. 91; Beling, Enzyklopädie, § 20 (S. 149 ff.); Binding, Grundriss des Strafprocessrechts, S. 4, 175 ff.; Kohler, GA 1918, S. 317; Dohna, Das Strafprozeßrecht, S. 42 ff.; Rosenfeld, Reichs-Strafprozeß, S. 29; Sabatini, Principi I, S. 24 ff.; H. Mayer, GS 104 (1934), S. 309; Bettiol, Correlazione, S. 91 ff.; Nagler, GS 111 (1938), S. 342 f.; teilw. and. Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 21 Fn. 1, S. 102; w. Nachw. aus dem damaligen Schrifttum bei Goldschmidt, Prozeß, S. 1 Fn. 4. Seit dem 2. Weltkrieg Santoro, Manuale, S. 74 ff.; Leone, Trattato I, S. 216 ff.; ders. Manuale, S. 94 ff.; Peters, Strafprozeß, S. 100; Lüke, ZZP 108 (1995), 427 ff.; Nachw. für die österreichische Literatur bei Moos, FS Jescheck, S. 726 f. Darauf beruft sich auch Steinberg, Richterliche Gewalt, S. 10 ff.: „unbestrittenes und evidentes Allgemeingut aller Verfahrenslehren“ (S. 12); zu ihm näher u. Kap. 2 C. VI. 5. a) (S. 292 ff.). 431 Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Bd. I Rn. 113. 432 Nakano, ZZP 79 (1966), S. 99. 433 Grdl. Bülow, Proceßeinreden, S. 5 ff.: „constitutive Elemente des Proceßrechtsverhältnisses“ als „Proceßvoraussetzungen“; ihm folgend v. Kries, ZStW 5 (1886), S. 1 ff. 434 Goldschmidt, Materielles Justizrecht, S. 10; ders. Prozeß, S. 399; Gerland, Strafprozeß, S. 6; Eb. Schmidt, Kolleg Rn. 323; Lüke, ZZP 108 (1995), S. 431 („gesicherte Erkenntnis der Prozeßrechtswissenschaft“); Meyer-Goßner, Prozessvoraussetzungen, S. 7; dagegen etwa v. Kries, ZStW 5 (1886), S. 32 ff. (der Prozess- und Urteilsvoraussetzungen unterschied); Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 234 (Voraussetzungen der „Zulässigkeit des Verfahrens“); Peters, Strafprozeß, S. 276 f.; Kühne, LR-StPO Einl K Rn. 37; aus der Rspr. BGHSt 10, 74 (75); 45, 108 (113). Vertreten wurde sogar, dass ohne Prozessvoraussetzungen überhaupt kein Prozess entstehe, Kries, ZStW 5 (1886), S. 2 ff., 43; Beling, Enzyklopädie, § 20 II (S. 149); w. Nachw. zu dieser Auffassung bei Goldschmidt, Prozeß, S. 3 Fn. 23. 435 Nachw. Schaper, Verfahren, S. 37 f.; Lüke, ZZP 108 (1995), S. 429 ff. 436 Bülow, Proceßeinreden, S. 2; ders. ZZP 27 (1900), S. 233; Bierling, ZStW 10 (1890), S. 303, 313; hierzu ausf. Nakano, ZZP 79 (1966), S. 106 ff. 437 Bülow, ZZP 27 (1900), S. 233; and. Bierling, ZStW 10 (1890), S. 299, 315 ff. 430

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bb) In der deutschen Strafprozessrechtswissenschaft war aber die von J. Goldschmidt 1925 begründete Lehre vom Prozess als Rechtslage noch erfolgreicher.438,439 Das Werk wurde noch in den siebziger Jahren, also nach mehreren Jahrzehnten und dem Wechsel zweier Rechtssysteme, als „Grundlage und Ausgangspunkt für alle methodischen Untersuchungen auf dem Gebiete des Prozeßrechts“ erklärt.440 Diese Lehre begreift, wie ihr Name es schon vermuten lässt, den Prozess als eine dynamische „Rechtslage“ und nicht bloß als ein Rechtsverhältnis, das wegen seines angeblich statischen Charakters abgelehnt wird.441 Eine Rechtslage sei ein „Stand der Angelegenheit einer Person, betrachtet unter dem Gesichtspunkt des nach Maßgabe des Rechts zu erwartenden richterlichen Urteils, kürzer: die rechtlich begründete Aussicht auf ein günstiges oder ungünstiges richterliches Urteil und folgeweise auf die gerichtliche Geltung des geltend gemachten Anspruchs als rechtlich begründet oder unbegründet“.442 Der Ansatz 438 Goldschmidt, Prozeß, S. 146 ff. (davor hatte er noch die Lehre vom Prozessrechtsverhältnis vertreten, s. ders. Materielles Justizrecht, S. 4 f., 10); zu ihm und seiner Theorie Eb. Schmidt, SJZ 1950, S. 447 f.; Calamandrei, RDP 1951, S. 1 ff.; F. Weber, SG 1970, S. 188 ff.; Schaper, Verfahren, S. 63 ff.; Grunst, Prozeßhandlungen, S. 66 ff.; Salas, Kritik, S. 49 ff.; Heger, JZ 2010, S. 637 ff.; Barja de Quiroga, ZStW 123 (2011), S. 179 ff. Nachw. zu den zwei wichtigsten Anhängern dieser Lehre im Strafprozess, Niese und Eb. Schmidt, in den folgenden Fn. 439 Auf andere Konstruktionen muss ich im vorliegenden Zusammenhang nicht vertieft eingehen; ihr Vorhandensein ist ein augenfälliger Beleg für das Problem des Esels des Buridans, wovon sogleich die Rede sein wird (u. S. 141). Ich erinnere nur an den Italiener Carnelutti, der seinen ersten großen Entwurf einer allgemeinen Prozessrechtslehre auf der Grundlage des Begriffs der Streitigkeit (Lite) errichtete (hierzu umf. u. krit. Calamandrei, RDPC 1928, S. 3 ff., 89 ff.; Paoli, RDPC 1930, S. 63 ff.; Invrea, ebda., S. 224 ff.; s. die Repliken von Carnelutti, direkt im Anschluss an die einzelnen Publikationen, RDPC 1928, S. 23 ff., 99 ff.; 1930, S. 74 ff., S. 245 ff.; einschränkend später Carnelutti selbst, RDP 1951, S. 291); an Foschini, RDP 3 (1948), S. 110 ff., der das Verfahren aus statischer Perspektive als komplexe Rechtslage, aus dynamischer Perspektive als komplexen Rechtsakt und aus normativer Perspektive als komplexes Rechtsverhältnis begriff – welch ein Erkenntnisgewinn!; an den Uruguayer Couture, FS Redenti, S. 369 ff., der unter Rezeption des französischen institutionellen Denkens das Verfahren als „Institution“ zu begreifen suchte; und an den deutschen Rechtsphilosophen Sauer, etwa Allgemeine Prozeßrechtslehre, S. 1, der den Prozess als „richterliche Gestaltung eines Einzelfalls des Rechtslebens . . . zu einem Gemeinschaftswert gemäß der Gerechtigkeit“ verstand (zu ihm zusammenfassend Siegert, RIDP 1952, S. 600 ff.). Ein Überblick über eine Vielzahl weiterer Ansätze bei Alcalá-Zamora, Naturaleza del processo, S. 377 ff. 440 F. Weber, SG 1970, S. 188. 441 Krit. zum Prozessrechtsverhältnis Goldschmidt, Prozeß, S. 148 ff.; ders. Problemas jurídicos y políticos, S. 766 f., 769; ders. Teoría general del proceso, S. 816 ff.; Niese, Prozeßhandlungen, S. 104; Kleinknecht, StPO 35. Aufl. Einl. Rn. 1; distanziert Eb. Schmidt, Lehrkommentar I Rn. 43 ff. 442 Goldschmidt, Prozeß, S. 255; ders. Problemas jurídicos y políticos, S. 768; ders. Teoría general del proceso, S. 831 ff.; dem folgend Niese, Prozeßhandlungen, S. 58; Schmidt, Lehrkommentar I Rn. 53; Fairen Guillen, Doctrina general, S. 45; sympathisierend auch Figueiredo Dias, Direito processual penal, S. 299 f.; krit. Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 21 Fn. 1.

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besteht auf einer sog. dynamischen Betrachtungsweise, die als eigenständige prozessuale Perspektive angesehen wird und die man im Vergleich zu der statischen Perspektive des materiellen Rechts, die auch die der Lehre vom Prozessrechtsverhältnis sei, für grundlegend verschieden hält.443 Der Prozess kenne keine Rechte und Pflichten, sondern nur Möglichkeiten und Lasten.444 Der Ansatz bemüht sich auch darum, eigenständige prozessuale Bewertungskategorien zu entwickeln:445 Das materielle Recht kenne die Kategorien der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit, während sich das Verfahrensrecht der Kategorien der Erheblichkeit und Unerheblichkeit bzw. Beachtlichkeit und Unbeachtlichkeit, oder der Unterscheidung von Zulässigkeit und Begründetheit bediene. Der Prozess bezwecke nicht die Herbeiführung bzw. Wiederherstellung eines dem materiellen Recht gemäßen Zustands, vielmehr wird das Prozessziel prozessintern beschrieben, nämlich als Herbeiführung der Rechtskraft.446 Eine bekannte Kategorisierung der Prozess443 Goldschmidt, Prozeß, S. 227 ff.; ders. Problemas jurídicos y políticos, S. 769; zust. Niese, Prozeßhandlungen, S. 30, 57; Eb. Schmidt, FS Rittler, S. 302; ders. Lehrkommentar I Rn. 33 ff.: materielles Recht und Prozessrecht beziehen sich auf „verschiedene soziale Wirklichkeitsräume“ (Rn. 33), 50 Fn. 108, 50 ff., 60 ff.; wohl auch Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 114 und Rieß, LR-StPO 25. Aufl. Einl. B Rn. 9; nahestehend auch Sauer, ARSP 19 (1925–26), S. 279 ff. Warum das Prozessrechtsverhältnis für statisch gehalten wird, ist nicht leicht ersichtlich, hatte doch schon Bülow (Proceßeinreden, S. 2: „stufenweise vorwärtsschreitendes, sich von Schritt zu Schritt entwickelndes“; S. 3: „sich stufenweise entwickelndes“ Verhältnis) dessen dynamischen Charakter betont (vgl. auch Schaper, Verfahren, S. 35, 36, 64; Figueiredo Dias, Direito processual penal, S. 299; Peters, Strafprozeß, S. 102). Zuletzt ist auch zweifelhaft, ob das materiellrechtliche Rechtsverhältnis statisch ist: ein typisches Schuldverhältnis entwickelt sich von der Phase der Verhandlung, die bereits bestimmte Nebenpflichten begründet (c.i.c.), über den Vertragabschluss hin zum Erlöschen durch Erfüllung, das auch nicht das Ende der Nebenpflichten bedeutet (s. Nowakowski, Strafprozeß, S. 239 f.; Schaper, Verfahren, S. 35 f. [m. Nachw. aus der älteren Diskussion], 80 ff.). Krit. a. Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 7 f. Im Sinne einer Kombination dieser Ansätze, je nach Perspektive, Foschini, RDP 1948, S. 110 ff.; ders. RIDP 1949, S. 125 f. 444 Goldschmidt, Prozeß, S. 268 ff. (genauer werden die prozessualen Rechte in Aussichten, Möglichkeiten und Befreiungen von einer prozessualen Last unterteilt; meine obige Erwähnung der Möglichkeit ist deshalb ein stilistisch geschuldetes pars pro toto), 335 ff.; ders. Problemas jurídicos y políticos, S. 768; ders. Teoría general del proceso, S. 828 ff.; ebenso Niese, Prozeßhandlungen, S. 63 ff.; Sax, ZZP 67 (1954), S. 52 f.; Eb. Schmidt, Lehrkommentar I Rn. 65 ff., 72 ff.; teilw. zust. Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 239 Fn. 11; F. Weber, SG 1970, S. 187; Salas, Kritik, S. 51, 54; krit. Hegler, GS 93 (1926), S. 451 ff.; Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 20 Fn. 1; F. v. Hippel, ZZP 65 (1952), S. 434 ff. („primitiver Gesichtspunkt egozentrisch zweckmäßiger Parteitaktik“, S. 437); Nowakowski, Strafprozeß, S. 240 ff. (insb. Vorwurf der Soziologisierung, S. 243); Nakano, ZZP 79 (1966), S. 104 f.; Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 81 ff., 87; Schaper, Verfahren, S. 75 ff.; Lüke, ZZP 108 (1995), S. 432. 445 Goldschmidt, Prozeß, S. 367 ff., 394 ff., 428 ff., 450 ff.; ders. Problemas jurídicos y políticos, S. 769; zust. Niese, Prozeßhandlungen, S. 75, 82 ff.; Eb. Schmidt, FS Rittler, S. 302; ders. Lehrkommentar I Rn. 63; Sax, ZZP 67 (1954), S. 49 ff.; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 239 ff.; F. Weber, SG 1970, S. 191; Figueiredo Dias, Direito processual penal, S. 34; krit. Nowakowski, Strafprozeß, S. 245. 446 Goldschmidt, Prozeß, S. 151 ff.; ders. Teoría general del proceso, S. 822; and. Niese, Prozeßhandlungen, S. 115.

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handlungen (Erwirkungs- und Bewirkungshandlungen) wird angeboten.447 In die Strafprozesswissenschaft wurde diese Lehre vor allem von Niese eingeführt, der aus der prozessualen Betrachtungsweise eine Lehre sogenannter doppelfunktionaler Prozesshandlungen entwickelte.448 Dem schloss sich kein geringerer als Eberhard Schmidt an, der die Gedanken Goldschmidts und Nieses zur Grundlage seiner einflussreichen Kommentierung der Strafprozessordnung erhob.449 b) Eine Würdigung des begriffskonstruktivistischen Ansatzes muss differenziert ausfallen. Die Tatsache, dass diese Theorien im heutigen Deutschland nicht mehr in Mode sind, ist aus der Perspektive einer universellen Rechtswissenschaft für sich genommen kein ausreichender Grund, sie unberücksichtigt zu lassen. Ferner wird sich im Laufe der Untersuchung immer wieder zeigen, wie sehr begriffskonstruktivistisches Denken und Argumentieren sogar unbemerkt und unausgesprochen bei der Lösung bestimmter Sachfragen eine Rolle spielt. aa) Häufig schreibt man dem Ansatz das Verdienst zu, dass erst er die wissenschaftliche Eigenständigkeit des Prozessrechts gegenüber dem materiellen Recht theoretisch zu begründen vermochte.450 War nach der früheren actiones-Lehre die Klage nichts als eine Verwirklichungsform des materiellrechtlichen Anspruchs,451 konnte nach der Ausarbeitung eines eigenständigen, vom materiellrechtlichen Anspruch unabhängigen Prozessrechtsverhältnisses der Prozess als solcher Gegenstand der Betrachtung werden. Vor allem soll die Bestimmung des prozessualen Rechtsverhältnisses als ein öffentlich-rechtliches der Verselbständigung gegenüber der Zivilrechtsdogmatik geholfen haben.452 Ob diese wissenschaftshistorische und eher das Zivilprozessrecht betreffende Behauptung zutrifft oder nicht, kann man hier nicht untersuchen. Hier soll nur angemerkt werden,

447 Goldschmidt, Prozeß, S. 362 ff.; ders. Problemas jurídicos y políticos, S. 769; ders. Teoría general del proceso, S. 849 ff.; ihm folgend Niese, Prozeßhandlungen, S. 89 ff.; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 236 f.; hierzu F. Weber, SG 1970, S. 191 f.; Grunst, Prozeßhandlungen, S. 165 ff.; Heger, JZ 2010, S. 642. 448 Vgl. Niese, Prozeßhandlungen, S. 57 ff., 107 ff.; ihm zust. Eb. Schmidt, Lehrkommentar I Rn. 35 ff.; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 238; krit. Nowakowski, Strafprozeß, S. 248 ff.; Dencker, Verwertungsverbote, S. 22 ff. und zum Ganzen Grunst, Prozeßhandlungen, S. 91 ff. In einer nur in spanischer Sprache erschienenen Arbeit stellt Goldschmidt klar, seine Theorie sei für den Zivilprozess entwickelt worden, und führe nicht unkomplizierte und unangreifbare Zusatzprämissen ein, um sie auch auf das Strafverfahren übertragen zu können (Problemas jurídicos y políticos, S. 770 f.). 449 Eb. Schmidt, Lehrkommentar I, S. 10, Rn. 33 Fn. 64 und die vorstehenden Fn.; ders. SJZ 1950, Sp. 447 ff.; ferner ders. FS Rittler, S. 297, 302. 450 Betont von Weber, SG 1960, S. 184 f.; Gaul, AcP 1968, S. 31; Schaper, Verfahren, S. 33, freilich etwas zurückhaltender S. 88; Salas, Kritik, S. 58; Barja de Quiroga, ZStW 123 (2011), S. 192. 451 Nachw. bei H. Kaufmann, Strafanspruch, S. 43 ff.; Schaper, Verfahren, S. 39 ff. 452 Gaul, AcP 1968, S. 31; s. aber Nakano, ZZP 79 (1966), S. 99, der im Anschluss an Degenkolb meint, dies sei eher eine zufällige „Fernwirkung“ gewesen.

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dass es unplausibel, arrogant und undankbar anmutet, die Werke etwa von Feuerbach, Mittermaier, Zachariä, Köstlin, Filangieri, Pagano und Carrara sowie die gesamte Diskussion des 19. Jahrhunderts über die Reform des Strafverfahrens als Teil einer bloßen Vorgeschichte der Prozessrechtswissenschaft ad acta zu legen,453 als hätte diese erst mit der großen Entdeckung des Prozessrechtsverhältnisses ihre Geburt feiern können.454 Dennoch ist anzumerken, dass diese eher zu Zwecken der Beschreibung gewonnene Einsicht, dass materielles und prozessuales Rechtsverhältnis sich nicht decken, auch für eine Betrachtungsweise wie die vorliegende interessant ist, die nicht bei der Beschreibung stehen bleibt, sondern auf die Ebene der Rechtfertigung gelangen will. Denn diese Einsicht bedeutet die Gebotenheit, den Prozess bereits für sich genommen zu rechtfertigen. Die Eigenständigkeit des Prozesses vor dem materiellen Recht bedeutet aus normativer Sicht, dass der Prozess einer Begründung bedarf, die sich nicht in dem Hinweis auf das Vorhandensein materiellrechtlicher Gesichtspunkte erschöpfen darf. Auf diese Einsicht wird häufig zurückzukehren sein, wenn wir bestimmte Theorien zur Rechtfertigung des Strafverfahrens kritisch untersuchen, vor allem solche, die meinen, das Strafverfahren lasse sich auf der Grundlage einer Straftheorie rechtfertigen (u. III. 2. [S. 162 ff.], IV. 2. [S. 201 ff.], VI. 2. b) [S. 238 ff.]). bb) Wenn schon das größte Verdienst sich nur etwa zur Hälfte bestätigen konnte, werden sich die Mängel wohl umso weniger übersehen lassen. (1) Bereits aus formeller Perspektive lässt sich die Überzeugungskraft der einzelnen konstruktivistischen Gebilde in Frage stellen. Denn als wertfreie, logisch konsistente Theoriebildungen erscheinen sie alle grundsätzlich im gleichen Maße überzeugend. Auf welcher Grundlage man die eine oder die andere Ansicht vorziehen soll, inwiefern die Lehre vom Prozess als Rechtslage einen Fortschritt im Vergleich zur Lehre vom Prozess als Rechtsverhältnis bedeutet, ist kaum ersichtlich. Man könnte in Anknüpfung an eine bekannte Metapher der Philosophiegeschichte vom Problem von Buridans Esel sprechen:455 Treten zwei Theorien hervor, die in erster Linie einen Anspruch von logischer Konsistenz stellen und die auch diesem Anspruch gerecht werden, dann ist es auf der Grundlage der von den Theorien angebotenen Prämissen unmöglich, die eine Theorie der anderen

453 Bezeichnend Sauer, ARSP 19 (1925–26), S. 268: „Die Prozeßrechtswissenschaft ist jung.“; Bellavista, GS Rocco I, S. 152, der von der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schreibt, „dass es zu dieser Zeit eine Strafprozessrechtswissenschaft – im eigentlichen Sinne – in der Tat noch nicht gab“. 454 Ähnlich Braun, Einleitung, S. 2. 455 Dabei ging es um einen Esel, der deshalb verhungerte, weil er sich zwei gleich weit entfernten und gleich großen Heuhaufen gegenüber sah und sich deshalb nicht entscheiden konnte, in die eine oder andere Richtung zu gehen (s. etwa Röd, Weg der Philosophie, S. 74). Die Kritiker der Begriffsjurisprudenz sprachen hier vom Problem der Äquivalenz der Konstruktionen (Heck, Begriffsbildung, S. 256; Engisch, Wahrheit und Richtigkeit, S. 13).

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vorzuziehen.456 Dies wäre erst anhand von externen Kriterien möglich. Auf der deskriptiven Ebene lassen sich diese aber nur schwer gewinnen, denn was jede dieser Theorien beansprucht, ist gerade, dass sie die richtige Beschreibung der Struktur des Gegenstands bietet. Jede von der Theorie nicht „gesehene“ Tatsache kann deshalb aus der Perspektive der konkurrierenden Theorie als Epiphänomen neu beschrieben werden, das nicht zur angeblichen Grundstruktur gehört. Die einzige Grenze ist hier, dass die Neubeschreibung ab einer bestimmten Schwelle kontraintuitiv anmutet. Man kann aber von den zwei oben beschriebenen Ansätzen kaum sagen, dass sie diese Schwelle überschreiten. Deshalb kann derjenige, der sich heutzutage mit der Lektüre der dem konstruktivistischen Ansatz verpflichteten Untersuchungen beschäftigt, häufig nicht die Frage unterdrücken, was eigentlich der Sinn der von fast jedem Autor neu eingeführten Begriffe und Unterscheidungen ist.457 (2) Die wichtigste Unzulänglichkeit beruht aber darauf, dass der konstruktivistische Ansatz eben konstruktivistisch ansetzt bzw. „moralinfrei“ 458 ist, sich also in einer Beschreibung erschöpft und somit die grundlegenden Rechtfertigungsfragen nicht wirklich stellt.459 Dies ist nicht erst aus unserer dezidiert normativen 456 Ähnlich Sax, ZZP 1954, S. 25: Jede der einzelnen konstruktivistischen Prozesstheorien bleibe „eine von mehreren möglichen Prozeßrechtsauffassungen“; Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 18 f. gegen H. Kaufmann; ähnl. auch Schaper, Verfahren, S. 95 ff., der für eine „pragmatische“, d.h. vom jeweiligen Erkenntnisinteresse abhängige Bestimmung des Prozessbegriffs eintritt. Siehe auch Sauer, ARSP 19 (1925–26), S. 274, in einem Musterbeleg dafür, dass die Kritik Anderer leichter fällt als die Selbstkritik: „Goldschmidt besitzt nun seine eigenen prozeßrechtlichen Kategorien, die von denjenigen anderer Autoren abweichen, und kann von hier aus die Ansichten jener, zu denen auch ich in überaus zahlreichen Fälle gehöre, als ,unrichtig‘ bekämpfen – von seinem Standpunkt gewiß oft oder meist mit Recht.“ 457 Bereits Degenkolb, Klagrechtsbegriff, S. 2: „Über nichts wird erbitterter und zugleich aussichtsloser gestritten, als über juristische Konstruktionen und den ihr dienenden Begriff“; zust. Schaper, Verfahren, S. 88 Fn. 4. 458 Goldschmidt, Prozeß, S. 292 („Es ist im Prozesse wie im Krieg und in der Politik“), S. 342; zust. Niese, Prozeßhandlungen, S. 75, 78 f. Hierin ist teilweise eine Verwandtschaft mit liberalem Denken erblickt worden (so Goldschmidt selbst, Prozeß, S. V: „Aber das Prozeßrecht kann nur auf dem Boden des Liberalismus oder es kann gar nicht gedeihen“; zust. Calamandrei, RDP 1951, S. 2 ff., der aber bemerkt, dies sei in gewisser Weise auch ein „prozessualer Machiavellismus“ [S. 8]; ebenso, aber mit krit. Vorzeichen Schaper, Verfahren, S. 89). Dies ist nicht unzutreffend, dennoch sehr präzisierungsbedürftig. Liberal ist die Theorie tatsächlich in ihrer Weigerung, individuelle Gegensätze auf einer höheren Ebene für aufgehoben zu erklären, was häufig autoritär gesinnte Autoren im Wege einer „gegensatzaufhebenden Begriffsbildung“ (hierzu u. Fn. 632 und insb. u. V. 2. [S. 232 f.]) vertreten haben. 459 Hegler, GS 93 (1926), S. 446 ff., 450; Nowakowski, Strafprozeß, S. 254; Henckel, Gerechtigkeitswert, S. 12; ferner F. v. Hippel, ZZP 65 (1952), S. 439 (am Beispiel des Begriffs der Last bei Goldschmidt und Niese, der „nichts erklärt, sondern alles voraussetzt“. Die „Frage nach dem Rechtsgrund“, also die Legitimierung der mit der jeweiligen Last geknüpften Nachteile, bleibe offen), S. 450 f. (zu den prozessualen Wertkategorien, die richtigerweise für „rein formale Fragestellungen“ angesehen werden); auch Henckel, Prozeßrecht, S. 50 (gegen Goldschmidt): „Aus dieser Sicht ist das Prozeßrecht

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Perspektive von Belang. Denn nicht einmal die Vertreter des Ansatzes konnten sich an diese Selbstbeschränkung halten: Sie haben sich immer wieder auf ihn berufen, um normative Thesen abzuleiten.460 Unverblümt stellte einer von ihnen sogar den Anspruch auf, dass sich „eine geschlossene prozessuale Wertordnung ableiten läßt, die für alle Probleme des Prozesses brauchbare Maßstäbe und Möglichkeiten bietet“.461 Damit haben sie belegt, dass eine Theorie, die im Deskriptiven stehen bleibt, den Bedürfnissen der Rechtswissenschaft nicht gerecht werden kann. An einem aus heutiger Sicht aussagekräftigen Beispiel: Niese462 folgerte aus seiner Lehre der doppelfunktionellen Handlungen, dass sich die materiellrechtliche Rechtswidrigkeit einer Durchsuchung, die etwa ohne richterliche Anordnung erfolgt, nicht auf die prozessuale Ebene auswirke, so dass grundsätzlich alle sich ergebenden Erkenntnisse prozessual verwertbar seien.463 (3) Gerade die an sich berechtigte Betonung der wissenschaftlichen Eigenständigkeit des Prozessrechts hat gelegentlich zu Überspitzungen geführt, die aus einer normativen Perspektive nicht mehr einleuchten. Die Lehre vom Prozess als Rechtslage begriff den Prozess als etwas, dessen Ziel sich in der Rechtskraft er-

kein Recht mehr und der Prozeß hat keine Funktion in der Rechtsordnung; er ist vielmehr ein Ereignis, ein Schicksal, das die Parteien überzieht wie ein Krieg“. Wenn hier von Deskriptivität die Rede ist, bedeutet das nicht, dass die angesprochene Theorie empirisch ist (was Goldschmidt von seiner Theorie aber behauptet, Prozeß, S. 146 ff., hinsichtlich der Lehre vom Rechtsverhältnis aber gewiß nicht mehr zutrifft), sondern allein, dass sie beim Strukturellen bzw. Formellen stehen bleibt und keine rechtfertigungstheoretischen Fragen stellt. 460 An Goldschmidt selbst kann man diesen Vorwurf nicht richten. Seine bis heute lesenswerten Schriften zur Reform des Strafverfahrens sind von seinen Konstruktionen völlig unabhängig (Reform, S. 4 ff.; JW 1920, S. 66 ff.); und in späteren Werken unterscheidet er bereits äußerlich zwischen rechtlichen und politischen Fragen des Strafverfahrens (Problemas jurídicos y políticos, S. 744 ff. zu den rechtlichen, S. 778 zu den politischen Fragen). Der Vorwurf muss hier anders lauten: nämlich dass alle Rechtfertigungsfragen als außerrechtliche begriffen, in den Bereich des Politischen verbannt werden. 461 Niese, Prozeßhandlungen, S. 39. 462 Niese, ZStW 63 (1951), S. 216 f.; ders. Prozeßhandlungen, S. 139. 463 Ob dieses Ergebnis richtig (so Rudolphi, MDR 1970, S. 97 f.; Amelung, Informationsbeherrschungsrechte, S. 42) oder falsch ist (BGHSt 51, 285 [291 ff.], für den Fall der bewußten Missachtung des Richtervorbehalts; Dencker, Verwertungsverbote, S. 92), kann hier offen bleiben. Entscheidend ist nur, dass Niese auf Grundlage seiner strukturell-formellen Theorie die materielle Verwertbarkeitsfrage weder im positiven noch im negativen Sinne lösen dürfte (ähnl. Haffke, GA 1973, S. 72; Dencker, Verwertungsverbote, S. 22 f.; Rogall, ZStW 91 [1979], S. 24 f.; krit. zur doppelfunktionalen Betrachtungsweise a. Grünwald, JZ 1966, S. 495 Fn. 61). Ähnl. Kritik zu anderen Beispielen bei F. v. Hippel, ZZP 65 (1952), S. 428. Krit. zur sog. prozessualen Betrachtungsweise: Hegler, GS 93 (1926), S. 453 ff.; F. v. Hippel, ZZP 65 (1952), S. 444 ff.; Henckel, Gerechtigkeitswert, S. 10 f., 12; Nakano, ZZP 79 (1966), S. 103 f.; Rödig, Erkenntnisverfahren, S. 23 ff.; Nowakowski, Strafprozeß, S. 240 ff.; Philipps, FS Bockelmann, S. 842 f.; Sieber, FS Roxin I, S. 1118 f.; Popp, Fehlerkorrektur, S. 360 ff., S. 365: Verbannung der Grundrechte.

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schöpft, also als einen Selbstzweck. Damit wird aber unklar, warum es einen Prozess geben soll.464 (4) Auch das Projekt einer allgemeinen Prozesslehre erscheint zweifelhaft, weil die Abstraktion von allen Besonderheiten der verschiedenen Rechtsgebiete dazu führt, dass der Theorie für die Beantwortung von normativen Fragen kaum ein Erkenntniswert zukommt.465 Weder der Zivil- noch der Verwaltungsprozess beruht auf einer qualifizierten Verdächtigung, die in ein allgemein bedrohliches System eingebettet ist. Vielmehr dürfte hinter der Hoffnung, aus gemeinsamen Oberbegriffen für alle darunter subsumierbaren Unterbegriffe identische und fruchtbare Ergebnisse zu gewinnen, der Geist der Begriffsjurisprudenz walten.466 Dies erschließt sich nicht nur jedem Leser des klassischen Buches von Niese, was an dieser Stelle nicht näher belegt werden muss, weil ein solcher Beleg schon vor über 60 Jahren von F. v. Hippel geliefert wurde.467 Auch modernere Untersuchungen wie diejenige von Lüke verfahren nicht besser. Dieser beendet sein Plädoyer für eine allgemeine Prozessrechtslehre mit dem Fazit, dass „beide Prozeßrechte

464 So auch Niese, Prozeßhandlungen, S. 115; F. v. Hippel, ZZP 65 (1952), S. 436 f.; Sax, ZZP 67 (1954), S. 27; Gaul, AcP 1968, S. 56; Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 179; Schaper, Verfahren, S. 131: „Der Prozeß ist so nicht nur Selbstzweck, sondern zwecklos“; Kudlich, Mißbrauchsverbot, S. 205; Krack, Rehabilitierung, S. 43; Duttge, ZStW 115 (2003), S. 542 f.; Wasserburg/Eschelbach, GA 2004, S. 339. 465 In der Sache bereits Leue, Anklage-Prozeß, S. 201, zu einer Zeit, als es eine allgemeine Prozessrechtslehre noch nicht gab; noch im 19. Jahrhundert Kronecker, ZStW 10 (1890), S. 490 ff. (gegen v. Kries); im 20. Jahrhundert Wach, FS Binding, S. 5; Kohler, GA 1918, S. 309; Gerland, Strafprozeß, S. 10: „Es gibt kein Prozeßrecht als solches, es gibt nur einzelne Prozeßrechte“; F. v. Hippel, ZZP 65 (1952), S. 426, 429, 452 ff.: „Entweder sind seine (Nieses, L.G.) Behauptungen zwar zutreffend, aber im Grunde selbstverständlich und jedermann bekannt. Oder sie bringen Neues, erweisen sich aber näherer Nachprüfung gegenüber als nicht wertbeständig“ (S. 453), „ständiger Wechsel von selbstverständlichen oder fragwürdigen Behauptungen“ (S. 459); Conso, RitDPP 1958, S. 292 ff.; Henckel, Gerechtigkeitswert, S. 18; Peters, GS H. Peters, S. 894; ders. Strafprozeß, S. 14; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 20; Bertel, Identität der Tat, S. 21 Fn. 46; Figueiredo Dias, Direito processual penal, S. 54 f.; heutzutage Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 1 Rn. 10 ff.; Wolter, FS Roxin I, S. 1154 f.; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 341 ff.; Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, Rn. 24. Diese Erkenntnis scheint sich in romanischsprachigen Ländern erst allmählich durchzusetzen, etwa Nunes da Silveira, Juízo de admissibilidade, S. 186; dennoch glauben auch besonders aktuelle Arbeiten zum Problem der Rechtskraft, dass es eine für alle Verfahrensrechte einheitliche Lösung gibt (Nieva Fenoll, Cosa juzgada I, S. 123). M. Salas, Kritik, S. 57 rügt, dass der Begriff des Allgemeinen bloß rhetorisch sei. Die Behauptung stimmt schlichtweg nicht: Die Allgemeinheit i. S. d. allgemeinen Prozesslehre hat keine rhetorische, sondern die logische Bedeutung der Ausarbeitung eines genus proximum. 466 Wach, FS Binding, S. 5 (gegen das Prozessrechtsverhältnis); Beling, ZStW 42 (1921), S. 259 ff. (gegen Sauer); F. v. Hippel, ZZP 65 (1952), S. 442, 452 f., 462 Fn. 8 (insb. gegen Niese); Schaper, Verfahren, S. 88; Moos, FS Jescheck, S. 748. Zur Begriffsjurisprudenz allgemein m. v. Nachw. Larenz, Methodenlehre, S. 19 ff. 467 Vgl. die Nachw. in Fn. 465.

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voneinander lernen können“.468 Fragt man aber, „was denn?“, so findet man in der Abhandlung beispielsweise folgende Antwort: Es werden beim zivil- und strafprozessualen Tatbegriff Ähnlichkeiten festgestellt und daraus wird geschlossen, dass es sich empfehle, „jeweils das andere Rechtsgebiet und die dortige Entwicklung zur Kenntnis zu nehmen und, falls möglich, angemessen zu berücksichtigen“.469 Ein großer Erkenntnisgewinn liegt hierin nicht. Dass dies bei konkreten Fragekreisen anders sein mag, dass das Strafverfahrensrecht vom Zivilprozessrecht Anregungen für die Lösungen bestimmter Probleme zu gewinnen vermag, wird hierdurch nicht ausgeschlossen.470 Dies geschieht aber nicht über den Umweg einer allgemeinen Prozesstheorie, die von diesen konkreten Fragen losgelöst entwickelt wird. (5) Bekanntlich vermag auch der Begriff des Prozessrechtsverhältnisses den hohen Erwartungen seines Schöpfers – der von einem Gedanken sprach, der ihm „allein geeignet (erschiene), dem gesammten Aufbau des Prozessrechtsganzen zum Grundpfeiler zu dienen“, durch den „sämmtliche Besthandtheile des Prozessrechts . . . ihren festen einheitlichen Stützpunkt und eine harmonische, sehr 468

Lüke, FS Müller-Dietz, S. 491. Lüke, FS Müller-Dietz, S. 490. Ähnlich vage Figueiredo Dias, Direito processual penal, S. 55 f., der trotz Ablehnung der allgemeinen Prozessrechtslehre den „hohen Wert“ der zwischenprozessualen Rechtsvergleichung behauptet. Baumann, ZZP 69 (1956), S. 356 ff. und neuerdings Bachmann, ZZP 118 (2005), S. 133 ff. wollen dagegen die Herausforderung ernst nehmen. Ersterer möchte an dem auch für uns interessanten Problem des Tatbegriffs nachweisen, dass der „Vergleich beider Prozesse . . . für jede Disziplin fruchtbar sei“ (S. 356), kommt aber zum Ergebnis, dass der Prozessgegenstand im Strafprozessrecht sich nicht in einem Lebensvorgang erschöpfen dürfte (S. 372), was u. Teil 2 Kap. 2 D. VII. (S. 520 ff.) zwar bestätigt werden soll, wenn auch aus Gründen, die durch und durch strafprozessual sind. Seinerseits möchte Bachmann nicht „auf dem Wege hoher Abstraktion“ verfahren, sondern meint, „was ein prozessordnungsübergreifender Ansatz wirklich leistet, zeigt sich indes erst bei der Behandlung eines konkreten Problems“ (S. 135). Sein Verständnis der allgemeinen Prozesslehre setzt an normativen Prozessprinzipien (S. 146 ff.) und an prozessordnungsvergleichenden Überlegungen (S. 150 ff.) an. (Wegen dieser normativen Grundlage unterscheidet sich dieses Konzept in einer wichtigen und zu begrüßenden Hinsicht von der Mehrheit der im vorliegenden Abschnitt kritisierten Ansätze). Aus dieser Warte versucht er, konkrete Schlussfolgerungen zu der Möglichkeit einer Zeugenvernehmung durch Videokonferenz abzuleiten (S. 135 ff., 154 ff.). Er meint insb., dass die Regelung von § 128a Abs. 2 ZPO, die diese Form der Beweiserhebung vom Einverständnis beider Parteien abhängig macht, gemessen am Unmittelbarkeitsprinzip, an der Dispositionsmaxime und an der abweichenden Regelung des § 247a StPO unbegründet sei. Schon die Berufung auf die Dispositionsmaxime erweckt Zweifel bezüglich der Gültigkeit der Argumentation für alle Verfahrensrechte. Einen sehr fragwürdigen Versuch unternimmt ferner W. Bauer, NStZ 2003, S. 175 ff., der bei der Rechtskraftlehre den Anschluss zur Diskussion über die „Klagekonkurrenz im römischen Recht“ sucht, und daraus u. a. ableitet, dass Klageverbrauch nur eintrete, wenn den Klagen eine eadem causa zugrunde liegt. 470 Eindrucksvoll für eine bestimmte Gruppe strafprozessualer Zwangsmaßnahmen (nämlich seine „beweis- und vollstreckungssichernden Grundrechtseingriffe“, die er als Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes ansieht) Amelung, JZ 1987, S. 741 ff., 743; s. a. Bussy, RSC 2007, S. 39 ff. 469

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1. Teil: Strafprozesstheorie

leicht und klar übersichtliche Gliederung“ erhalten würden471 – nicht gerecht zu werden. Nicht darin, dass die Charakterisierung als Rechtsverhältnis falsch ist, sondern dass sie zu wenig anbietet, weil es auf den Inhalt dieses formell verbleibenden Verhältnisses letztlich ankommt, liegt das Problem. Der Begriff des Rechtsverhältnisses bleibt als solcher ein leerer Begriff.472 (6) Zuletzt erweist sich die Lehre vom Prozess als Rechtsverhältnis als deskriptiv unzulänglich, weil sie in ihrer überwiegend vertretenen Version dazu einlädt, das Ermittlungsverfahren außer Betracht zu lassen.473 Denn mehrheitlich verstehen die Vertreter dieser Lehre das Rechtsverhältnis, das den Prozess konstituiert, als ein Verhältnis dreier Subjekte, nämlich eines Gerichts, einer Anklagebehörde und eines Angeklagten.474 Ein Prozess ist somit ein Verhältnis trium personarum. Das sich (dort, wo es die richterliche Voruntersuchung nicht oder nicht mehr gibt, grundsätzlich) ohne Beteiligung eines Gerichts entfaltende Ermittlungsverfahren gehört deshalb begrifflich nicht zum Prozess.475 Im deutschen Sprachraum ist vor allem, aber nicht erst seit der grundlegenden Fehlerquellenuntersuchung von Karl Peters zunehmend anerkannt, dass die Ergebnisse des Hauptverfahrens zu einem großen Teil bereits im Ermittlungsverfahren vorprogrammiert werden.476 Eine Beschreibung des Strafverfahrens, die für das Er471

Bülow, ZZP 27 (1900), S. 255. Ebenso Hegler, GS 93 (1926), S. 446; Sauer, Allgemeine Prozeßrechtslehre, S. 58; Nowakowski, Strafprozeß, S. 235; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 114; Figueiredo Dias, Direito processual penal, S. 298; Schaper, Verfahren, S. 62 („reiner Sammelbegriff“), 87; Moos, FS Jescheck, S. 727, 740 („rein formales Gebilde“), 746; Grunst, Prozeßhandlungen, S. 64; Kühne LR26 Einl. K Rn. 4. Nachw. aus dem modernen zivilprozessrechtlichen Schrifttum bei Lüke, ZZP 108 (1995), S. 435 Fn. 55, 56, der diesen Standpunkt selbst nicht teilt. 473 Ebenso Kühne LR-StPO Einl. K Rn. 4. 474 Von einem „Verhältniß zwischen Gericht und Parteien“ spricht Bülow, Proceßeinreden, S. 3; ders. ZZP 27 (1900), S. 233; w. Nachw. bei Goldschmidt, Prozeß, S. 2 Fn. 10; Schaper, Verfahren, S. 38, auch zur Gegenmeinung. 475 In diesem Sinne auch v. Kries, ZStW 5 (1886), S. 3 f., 43 f.; Bornhak, ZStW 14 (1899), S. 71; Binding, Grundriss des Strafprocessrechts, S. 188; Goldschmidt, Materielles Justizrecht, S. 26 Fn. 131; Oetker, GS 99 (1930), S. 247; Bettiol, Correlazione, S. 91 f., 94 f.; Santoro, Manuale, S. 83; Castro Ospina, Sistema acusatorio, S. 46; Pacelli, Processo Penal, S. 13, 53; noch vor der Lehre vom Prozessrechtsverhältnis Mittermaier, Strafverfahren, § 3, S. 4 (Hauptverhandlung als „Strafprozeß im engeren Sinne“); unklar Ortloff, GrünhutsZ 23 (1896), S. 523 Fn. und Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 114 Fn. 24 (der dem Prozessrechtsverhältnis eher skeptisch gegenüber steht). 476 Peters, ZStW 68 (1956), S. 384; „Weitgehend ist das Ergebnis der Hauptverhandlung durch das Ermittlungsergebnis festgelegt“; ders. Fehlerquellen, Bd. II, S. 299; E. Müller, NJW 1976, S. 1067; ders. Diskussionsbeitrag, S. 63; Fezer, GS Schröder, S. 412 ff.; Rieß, FS Schäfer, S. 207 f. („Allgemeingut“); Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), S. 1228; Richter II, NJW 1981, S. 1820 f.; ders. StV 1985, S. 385 f.; Wolter, Aspekte, S. 35: „Das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren ist Kern und Höhepunkt des Strafprozesses“, S. 53 ff., 83; ders. GA 2005, S. 27; Moos, Österreichisches Strafprozeßrecht, S. 52 ff.; Schreiber, FS Baumann, S. 384; Weigend, ZStW 104 (1992), S. 504 f.; Prittwitz, FS Bemmann, S. 604; Schünemann, StV 2000, S. 163, der auf die 472

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mittlungsverfahren keinen Raum hat, lässt also gerade einen faktisch und rechtlich besonders relevanten Verfahrensabschnitt außer Betracht, was bereits aus deskriptiver Sicht ungenügend ist.477 c) Im Ergebnis erweist sich die in Deutschland verbreitete Distanz zu den konstruktivistischen Ansätzen als wohlbegründet. Nicht einmal ihr angebliches Hauptverdienst, die Betonung der Unabhängigkeit des Prozessrechts gegenüber dem materiellen Recht, ist ihr voll anzuerkennen. Es sind aber viele logisch konsistente und deskriptiv plausible Beschreibungen des Prozesses möglich. Der Umstand, dass es bei diesen Ansätzen um Versuche der deskriptiven Erfassung

Freispruchsquote von unter 4 % verweist; ders. ZStW 114 (2002), S. 22; Bacigalupo, JöR 49 (2001), S. 54 ff.; ders. Proceso con todas las garantías, S. 488, 491; Gusy, StV 2002, S. 156; Satzger, Gutachten 65. DJT, S. C 36: „wahres Zentrum des Strafprozesses“; Gaede, Fairness, S. 190 f., 201 ff. m.v.Nachw.; Erb, LR-StPO vor § 158 Rn. 7. Vor Peters Heinemann, MittIKV 1904, S. 660; ders. Verteidiger, S. 341: „. . . der tatsächlichen Handhabung nach stellt jede Maßnahme im Vorverfahren einen Akt endgültiger Beweisaufnahme dar“; Goldschmidt, Reform, S. 14: die Hauptverhandlung werde „zu einer reinen Komödie gemacht und das Hauptgewicht in die Voruntersuchung verlegt“. 477 Für eine Einbeziehung des Ermittlungsverfahrens in den Verfahrensbegriff auch Heinze, GA 1876, S. 285; Wach, FS Binding, S. 9; v. Hippel, Strafprozess, S. 8 (der das Vorverfahren sogar als Prozessrechtsverhältnis ansieht); Rieß, FS Schäfer, S. 209; Moos, Diskussionsbeitrag, S. 46; ders. FS Jescheck, S. 749; ders. FS Miklau, S. 336; Bacigalupo, Proceso con todas las garantías, S. 492; Erb, LR-StPO vor § 158 Rn. 14. Man könnte sich zusätzlich fragen, ob nicht eine solche Ansicht die Neigung fördert, das Ermittlungsverfahren als rechtsfreien Raum, als internum (zu dieser These u. Teil 2 Kap. 4 E. III. 3. a) [S. 765 ff.]) zu konzipieren. In der Tat hat die an sich deskriptiv gemeinte These des Prozessrechtsverhältnisses in vielen Ländern ein bequemes Argument dafür zur Verfügung gestellt, dass man für das Ermittlungsverfahren die Geltung bestimmter prozessualer Rechte, etwa des Beistands eines Verteidigers bei Vernehmungen, ablehnt (für Österreich krit. Moos, FS Jescheck, S. 724 ff., 730 ff., 746, 748 mit den entspr. Nachw.). Klassisches Vorbild für eine solche Argumentationsweise war eigentlich Zachariä, Gebrechen, der nach seiner harschen Kritik des Inquisitionsverfahrens (insb. S. 70 ff.: „Gewalt . . ., deren innerstes Wesen es ist, daß sie das Recht der freien Persönlichkeit des Inquisiten völlig negiert“, so dass dieser „gleichsam wie ein gefesselter Sclave der subjectiven Willkühr des Inquirenten Preis gegeben wird“ [beide Zitate S. 70]) folgert, dass „der eigentliche Proceß gegen den Angeschuldigten oder das s.g. Hauptverfahren auf das accusatorische Prinzip gegründet“ werden müsse (S. 73), nicht aber das Ermittlungsverfahren, das ein „den eigentlichen Proceß vorbereitendes Verfahren“ sei (S. 74; s. a. S. 120; ebenso Leue, Anklage-Prozeß, S. 211 f.). Das wäre indes ein naturalistischer Fehlschluss: Eine deskriptiv-formelle Theorie bietet an sich keinen Rohstoff für normative Schlussfolgerungen. An demselben Mangel leiden auch die Bemühungen der neueren italienischen Literatur, durch die Lehre vom Prozessrechtsverhältnis ähnlich wie Zachariä eine Aufwertung der Hauptverhandlung zu bewirken und dem bis 1989 weitgehend unbeschränkt möglichen Transfer von Beweisen aus dem Ermittlungsverfahren in die Hauptverhandlung entgegenzutreten (beispielsweise Amodio, ZStW 102 [1990], S. 189; Stile, ZStW 104 [1992], S. 432; Parlato, ZIS 2012, S. 515 f.); umgekehrt gibt es Versuche, das Rechtsverhältnis schon im Ermittlungsverfahren anfangen zu lassen und bis auf die Strafvollstreckung zu erweitern, um dadurch die Rechtsposition des Betroffenen zu stärken (etwa Leone, Manuale, S. V). Man markiert den Unterschied bereits terminologisch, durch die Differenzierung zwischen gerichtlichem „processo“ und verwaltungsrechtlichem „procedimento“.

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der Struktur des Verfahrens geht, führt notwendig dazu, dass sie für eine Wissenschaft, die sich mit der Lösung normativer Fragen beschäftigt, nur eingeschränkt fruchtbar sein können. Exkurs: Die Lehre vom Strafklagerecht Immerhin ist im Schoße des konstruktivistischen Ansatzes ein kleines Juwel entstanden, das von der heutigen Strafprozesslehre völlig vergessen worden ist. Dieses Juwel besteht darin, dass im Zuge des Versuchs, das Prozessrecht vom materiellen Recht zu emanzipieren, das hier zur Gretchenfrage erhobene Problem der Legitimierung eines Prozesses gegenüber dem Betroffenen, das im Fall der Unschuld eine besondere Zuspitzung erfährt, mit erstaunlicher Klarheit als solches erkannt worden ist. Aus zivilprozessrechtlicher Sicht richtete Degenkolb an die früheren Theorien, die das Klagerecht als Dimension des materiellrechtlichen Anspruchs deuteten, die Frage, wie sie den von ihm sog. „Einlassungs-“ bzw. „Klagzwang“, also den Zwang, sich einem Prozess zu stellen,478 auch in den Fällen, in denen dem Kläger kein Anspruch zusteht, begründen können.479 Zutreffend erkannte er: „Aus dem Hypothetischen allein kann sich nie das real Existierende entwickeln. Aus dem bloß in hypothesi bestehenden Recht des Klägers nicht das real vorhandene Recht, den Verklagten zur Verantwortung vor Gericht zu ziehen“.480 Diese Einsichten wurden von führenden Strafprozessrechtlern rezipiert und fanden wohl bei Beling ihren vollkommensten Ausdruck. Zusätzlich zu dem Zitat, das den vorliegenden Abschnitt eröffnet, schrieb er: „Eine landläufige Redewendung läßt den Strafprozeß gleich der Strafe selbst ,aus dem Verbrechen entspringen‘; sie geht von der Vorstellung aus, als dürfe nur dem Verbrecher der Prozeß gemacht werden, als seien die Prozeßleiden, die der Beschuldigte kraft Rechtens über sich ergehen lassen muß, eine Art von Zubehör zu der Strafe, die er sich durch seine Tat verdientermaßen zuzieht. Das ist schief. Schon rein tatsächlich entspringen keineswegs alle Prozesse aus einem Verbrechen; viele rühren lediglich davon her, daß der falsche Anschein eines solchen aufgetaucht ist.“ 481 478 Seine eigene Definition ist eher an positiven Mitwirkungspflichten orientiert und trifft deshalb aus unserer strafprozessorientierten Perspektive nicht den Kern des Problems: „Unter Einlassungszwang verstehen wir die rechtliche Gebundenheit, auf angestellte Klage hin, zum Zustandekommen, zur Entwickelung des Processes mitzuwirken durch eigene Erklärung oder durch die eines Vertreters“ (Degenkolb, Einlassungszwang, S. 16). Immerhin könnte die aus strafprozessualer Sicht befremdlich anmutende Erklärungspflicht dadurch akzeptabler gemacht werden, dass Degenkolb das Schweigen als Erklärung versteht (S. 19 f.). Dies führt zu weiteren Schwierigkeiten, insbesondere dazu, das weitgehend anerkannte Verbot, aus dem Schweigen Rückschlüsse zu ziehen, nicht mehr angemessen beschreiben zu können. 479 Degenkolb, Einlassungszwang, S. 14 f. 480 Degenkolb, Einlassungszwang, S. 27. 481 Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 4.

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Welche Antworten gaben nun die Autoren auf dieses von ihnen scharfsinnig erkannte Grundproblem? Hier muss man teilweise enttäuscht feststellen, dass die konstruktivistische Einstellung die Oberhand gewann. So glaubte Degenkolb, mit der Postulation eines sog. abstrakten Klagerechts, also eines vom Bestehen des materiellen Anspruchs unabhängigen Klagerechts, das Problem zu lösen.482 Man fordert vom Verklagten, „dass er das Recht an sich verwirklichen und in seinem Fortbestand erhalten helfe“;483 das Klagerecht werde „nicht aus dem conkreten Recht“ abgeleitet, „sondern aus dem weit allgemeineren rechtlichen Interesse an Gewähr von Rechtsgenuss überhaupt“.484 Ein solches Recht sei bei der gutgläubigen Klage mit rechtserheblichem Inhalt gegeben.485 Ihm folgte kein geringer als Binding,486 der sauber zwischen Strafrecht und Strafklagerecht unterschied: „Das Strafklagrecht ist ein von dem Strafrecht ganz unabhängiges öffentliches Recht auf Konstituierung des Prozessrechtsverhältnisses und Endigung desselben durch Urteil“. Voraussetzung dieses Rechts sei eine „Behauptung der Schuld und Bescheinigung dieser Behauptung, nicht wirkliche Schuld“ 487, wobei die Frage, wie aus einer bloßen Behauptung und Bescheinigung ein Recht gegen einen anderen entstehen könne, nicht erst unbeantwortet, sondern sogar ungestellt blieb. Andere leugneten schlichtweg das Problem: „Der Prozeß wird niemals gegen den Unschuldigen als solchen geführt. (. . .) Der Prozeß wird vielmehr immer gegen den möglicherweise Schuldigen geführt, die Voraussetzung des Prozesses ist also ein hypothetischer Strafanspruch“ 488 – als hätte man Degenkolbs Einsicht, dass das Hypothetische eben nicht reell ist, überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Demgegenüber zeigte Beling mehr Problembewusstheit. Zunächst stellte er das Problem der „Zulässigkeit der Strafverfolgung“ an die Pforte seiner Darstellung des Erkenntnisverfahrens: „Es drängt sich die Frage auf: Inwieweit sind denn Prozesse überhaupt rechtmäßig? Inwieweit darf prozessiert werden? Quibus sub condicionibus processus est justus? Denn daß die Strafprozeßtätigkeit nicht nach Belieben schrankenlos zulässig sein kann, ist ja von vorn herein schon angesichts der Behelligungen zu vermuten, die sie mit sich bringt, zumal es ja nicht einmal möglich ist, die Unschuld als solche gegen Strafverfolgung sicherzustellen“.489

482 Degenkolb, Einlassungszwang, S. 33 ff.; ders. Klagrechtsbegriff, S. 47 ff., in dem das Klagerecht als „Recht auf rechtliches Gehör“ begriffen wird. 483 Degenkolb, Einlassungszwang, S. 36. 484 Degenkolb, Einlassungszwang, S. 37. 485 Degenkolb, Einlassungszwang, S. 41 ff.; hierzu H. Kaufmann, Strafanspruch, S. 29 ff.; Schaper, Verfahren, S. 41. 486 Binding, Handbuch, S. 192 ff.; ders. Normen I, S. 234 ff. Auch Glaser, Handbuch I, S. 14, 17: „Strafverfolgungsrecht“; Schanze, ZStW 4 (1884), S. 482 f.; Barbarino, Rechtskraft, S. 67 ff. 487 Binding, Handbuch, S. 193 (beide Zitate). 488 H. Mayer, GS 104 (1934), S. 311 f. 489 Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 82 f.

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Zwar postulierte auch er ein Strafklagerecht.490 Dieses richtet sich gegen den Staat und nicht gegen den Beschuldigten,491 und spielt eher eine dogmatische Rolle. Das Strafklagerecht dient bei ihm als Sammelbezeichnung für bestimmte Verfolgungsbedigungen, die er als „abstrakte“ bezeichnet, die also Bedingungen der Zulässigkeit eines Verfahrens „an sich“ seien, und die er den Prozessvoraussetzungen im engeren Sinne gegenüberstellt, als Bedingungen der Zulässigkeit des konkreten Verfahrens.492 Diese insbesondere prüfungstechnischen Zwecken dienende493 Unterscheidung, die von anderen mit den Termini Prozessvoraussetzungen einerseits, Strafklagebedingungen andererseits bezeichnet werden sollte, kann ihm selbstverständlich auch nicht als Lösung des Legitimationsproblems dienen. Er führt auf den ersten Seiten seines Lehrbuchs an: „Vollends unrichtig wäre die Meinung, als wurzle die rechtliche Statthaftigkeit des strafprozessualischen Vorgehen im Verbrechen. (. . .) Gerade deshalb, weil dies (ob sich der Betroffene strafbar gemacht hat, L. G.) nicht von vornherein feststeht, befindet sich der Staat in einem Dilemma. Er muß Strafprozesse auf das Risiko hin erlauben und anordnen, daß der Betroffene unschuldig ist, weil er sonst auf die Strafjustiz überhaupt verzichten müßte“.494 Beling verweist also auf eine gewissermaßen in der Sache selbst liegende Notwendigkeit: Alles andere würde „auf eine völlige Lahmlegung der Strafjustiz hinauslaufen“.495 Hiermit gelangt Beling zu einer Legitimation aufgrund einer Interessensabwägung.496 „. . . so muss eben notgedrungen das Individualinteresse des Unschuldigen, so unerwünscht dies auch ist, zurücktreten. Der sichere Schaden, den die Gesamtheit bei Ausfall der Strafjustiz leiden würde, erscheint gegenüber den möglichen an sich unerwünschten Leidzufügungen gegen Einzelne als das größere Übel.“ 497

490

Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 97 ff. Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 98. 492 Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 100 f. Beispiele für die erste Gruppe sind, dass der Klageakt den inhaltlichen und formellen Anforderungen genügt, der Zuständigkeit des angerufenen Gerichts, Prozessfähigkeit und Legitimation des Klägers, denen „im deutlich erkennbaren Gegensatz“ die Zulässigkeit des Strafrechtswegs, das Unterfallen des Beschuldigten unter die Gerichtsbarkeit, die Parteifähigkeit und Sachlegitimation gegenüberstehen sollen. Ich gestehe, den Gegensatz zwischen beiden Gruppen nicht wirklich erkennen zu können; ähnlich erging es wohl den meisten in Deutschland, was dogmengeschichtlich dazu führte, dass die Kategorie der Klagerechtsvoraussetzungen abgelehnt wurde (Nachw. u. Fn. 498) und in die der Prozessvoraussetzungen eingegangen ist. Bei der Prüfung der ganz konkreten Frage der Einstellung als Wiederaufnahmeziel (u. Teil 2 Kap. 6 C. II. 2. d) [S. 915 ff.]) wird sich aber herausstellen, dass dies ein Fehler war und dass die Unterscheidung, wenn auch nicht notwendig mit diesem Inhalt, sinnvoll und weiterführend ist. 493 So ausdrücklich Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 101. 494 Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 4. 495 Beling, Grenzlinien, S. 11. 496 Beling, Grenzlinien, S. 16. 497 Beling, Grenzlinien, S. 16. 491

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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Das Schönste an diesen Erwägungen Belings ist, dass auch sie nicht sein letztes Wort sind. Er begnügt sich weder mit dem Konstrukt des Strafklagerechts und der Strafklagebedingungen noch mit der Interessensabwägung. Denn sein Ergebnis ist nicht, dass die Strafverfolgung restlos rechtmäßig ist; sondern dass die Verfolgung des Unschuldigen eine Instanz einer rechtmäßigen Tätigkeit mit rechtswidrigem Erfolg darstellt. Mit diesen Gedanken, die wir als Beling’sche Herausforderung bezeichnen werden, werden wir uns später eingehend beschäftigen (VI. 6. b) [S. 303 ff.]). Die Lehre vom Strafklagerecht und die Unterscheidung von Prozessvoraussetzungen und Klagebedingungen, die namhafte Anhänger hatte498 und auf die die Bezeichnung „Strafklageverbrauch“ eigentlich verweist, lassen sich immerhin als Beleg dafür anführen, dass der Konstruktivismus durchaus den Blick für bestimmte Brüche schärfen konnte, hier insbesondere für das Problem der Existenz des wirklichen Rechts, einen Prozess zu führen, das aber im Dienst eines bloß möglichen Rechts steht, das Gegenstand des geführten Prozesses ist. Gleichzeitig verkürzte er dieses Problem aber zu bloß logischen Fragen und konnte dadurch den Weg zu den Legitimitätsfragen, um die es im Recht eigentlich geht, nicht mehr finden. 2. Systemtheorie: Legitimation durch Verfahren a) Ein seit den 70er Jahren sehr beliebter Ansatz beruft sich auf Luhmanns grundlegende Gedanken einer „Legitimation durch Verfahren“.499 Die herrschende Sichtweise, die das Verfahren an den Werten der Wahrheit und Gerechtigkeit orientiert, beruhe auf einem schlichten „Vorurteil“.500 Ihr steht vor allem die Tatsache entgegen, dass Prozesse immer ein Ergebnis liefern müssen. „Ein System, das die Entscheidbarkeit aller aufgeworfenen Probleme garantieren muß, 498 Neumayer, ZStW 23 (1903), S. 454 Fn. 35; Goldschmidt, Materielles Justizrecht, S. 59 ff.; Kohler, GA 1918, S. 318 f.; Sabatini, Principi I, S. 221 ff. (mit anderer Terminologie: seine Strafklagebedingungen heißen Prozeßbedingungen); Sauer, GS Rocco, S. 488 (noch wesentlich komplizierter ders. Allgemeine Prozeßrechtslehre, S. 227 ff.); Santoro, Manuale, S. 128 ff., 134 ff., 149 ff.; Leone, Trattato I, S. 115 ff., 156 ff.; Kern, Strafverfahrensrecht, S. 91 f. (bei Kern/Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 83 ff. nicht mehr vorhanden); Soto Nieto, Correlación, S. 51 ff.; nur terminologische Kritik, in der Sache wohl übereinstimmend Peters, Strafprozeß, S. 274, 275 ff.; abl. Eb. Schmidt, Lehrkommentar I Rn. 120 Fn. 224; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 231 Fn. 3: „praktisch entbehrlich und irreführend“; zum Ganzen noch Schaper, Verfahren, S. 53 f. Die meisten modernen systematischen Darstellungen weisen die Kategorie auf die klarste Art und Weise zurück, die die Wissenschaft kennt: mit Schweigen. Im Rahmen der Diskussion, die unter der Rubrik der Verwirkung des staatlichen Strafanpruchs geführt wurde, trat die Kategorie erneut, wenn auch eher vereinzelt auf (z. B. bei Katzorke, Verwirkung, S. 116). 499 Siehe zusätzlich zu den in den folgenden Fn. zitierten Autoren noch Hagen, JuS 1972, S. 485 ff.; Schaper, Verfahren, S. 202 ff.; Machura, ZfRSoz 14 (1993), S. 97 ff.; Henke, GS Eckert, S. 300 ff.; Stübinger, Das idealisierte Strafrecht, S. 539 f. 500 Luhmann, Legitimation, S. 20.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

kann nicht zugleich die Richtigkeit der Entscheidung garantieren“.501 Die spezifische Leistung eines Verfahrens liege also nicht darin, dass seine Ergebnisse einen bestimmten (richtigen, wahren, gerechten) Inhalt aufweisen, sondern dass sie Komplexität dadurch reduzieren,502 dass ihnen Verbindlichkeit zuerkannt wird. Denn die Teilnahme am Ritual eines geregelten, unterschiedliche Rollen und Aufgaben differenzierenden Verfahrens erzeugt eine Legitimation der gewonnenen Ergebnisse.503 Den Begriff der Legitimation deutet Luhmann selbstverständlich weder als materielle (also philosophische oder rechtliche) Richtigkeit der Regelung, noch soziologisch als Anerkennung durch die Betroffenen, sondern funktionalistisch als „generalisierte Bereitschaft, inhaltlich noch unbestimmte Entscheidungen innerhalb gewisser Toleranzgrenzen hinzunehmen“.504 Legitimität bedeutet also, dass eine Entscheidung grundsätzlich unabhängig von ihrem Inhalt als verbindlich akzeptiert wird.505 Und Akzeptanz bedeutet nicht Billigung oder Einverständnis, sondern Erhöhung der Bereitschaft zur Hinnahme der Entscheidung als letztes Wort bzw. Marginalisierung desjenigen, der weiterhin zu protestieren sucht. In der strafverfahrensrechtlichen Literatur machte sich insbesondere Lesch um eine Fruchtbarmachung dieser Gedanken verdient, die er in vielen Hinsichten weiter entwickelt und mit zusätzlichen Überlegungen ergänzt. Die materielle Wahrheit sei ein erkenntnistheoretisch unmögliches Ziel, weshalb man sich um eine prozessuale Wahrheit bemühen solle.506 Diese bestehe nicht unabhängig vom Verfahren, sondern werde von diesem vielmehr konstituiert – eine Erscheinungsform einer Legitimation durch Verfahren.507 Dichotomien und Spannungsverhältnisse, die Beschuldigtenrechte auf der einen Seite Strafverfolgungsinteressen auf der anderen Seite entgegensetzen, seien somit vordergründig,508 denn ohne die Einräumung dieser Rechte würde das Verfahren seine Legitimationsleistung nicht erbringen können.509 Auch Stuckenberg schlägt eine systemtheoretisch inspirierte Deutung der Unschuldsvermutung als „Verbot der Desavouierung des Verfahrens“ vor, denn dieses könne nur dann seine Legitimationsfunktion erfüllen, wenn es für ergebnisoffen erachtet werde.510, 511

501

Luhmann, Legitimation, S. 21. Luhmann, Legitimation, S. 23 ff., 41 ff. 503 Luhmann, Legitimation, S. 38 ff., 57 ff. 504 Luhmann, Legitimation, S. 28. 505 Luhmann, Legitimation, S. 31 ff. 506 Lesch, ZStW 111 (1999), S. 624; ders. FS Volk, S. 313 f. 507 Lesch, ZStW 111 (1999), S. 624, 625: „Prozessuale Wahrheit – namentlich Schuld bzw. Unschuld – ist also nichts ontisch Vorgegebenes, das es zu erkennen gälte, sondern etwas Werdendes, das in der konkret-juristischen Entscheidung erst geschaffen werden muß“; ders. Strafprozessrecht, Rn. 2, 4, 5; ders. FS Volk, S. 314. 508 Lesch, Strafprozessrecht, Rn. 5; ders. FS Volk, S. 315, 319 509 Lesch, Strafprozessrecht, Rn. 4. 502

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b) Der Gedanke einer Legitimation durch Verfahren ist schon vor Jahrzehnten kritisch durchleuchtet worden.512 Die wichtigsten Aspekte dieser Kritik, der man kaum etwas hinzufügen kann, seien hier noch einmal kurz erwähnt. aa) So wurde zunächst bemängelt, dass ein Verfahren ohne Bezug auf von ihm unabhängige inhaltliche Richtigkeitskriterien kaum etwas legitimieren könne.513 Die systemtheoretische Deutung des Verfahrens überschätze die legitimitätsschöpfende Kraft der inhaltslosen Form. Diesem Einwand liegt aber eine petitio principii zugrunde. Zwar stimmt es, dass der Protest gegen das Ergebnis des Prozesses nicht deshalb marginalisiert wird, weil dieses aus dem Verfahren stammt, sondern weil man glaubt, es sei richtig. Der Vertreter der Systemtheorie würde dies aber nicht bestreiten. Ihm geht es gerade nicht um die Perspektive der ersten Person, also derjenigen, die am Verfahren teilnimmt, sondern um eine externe Beobachter-Perspektive. bb) Hierin liegt das eigentliche Problem des Ansatzes. Er ist also nicht falsch, sondern dient einem anderen Erkenntnisinteresse, das mit dem für den Juristen im Vordergrund stehenden nichts gemeinsam hat, was sein Schöpfer auch nicht bestritten hat.514 Der Ansatz liefert eine soziologische Beschreibung der Wirk510 Stuckenberg, Unschuldsvermutung, S. 530 ff.; ders. ZStW 111 (1999), S. 452 ff.; ders. FS Hilger, S. 49; zust. Lesch, Strafprozessrecht, Rn. 4; krit. L. Schulz, GA 2001, S. 234 ff. 511 Systemtheoretisch argumentieren auch Schleiminger Konfrontation, S. 247 ff., 256, die das Konfrontationsrecht systemtheoretisch deutet, also nicht als Ausfluss der Subjektstellung des Angeklagten, sondern als Voraussetzung für eine Legitimation durch Verfahren: Der Angeklagte wirke an seiner eigenen Schuldfeststellung mit, so dass er sie am Ende hinnehmen müsse; und neuerdings vor allem Theile, Wirtschaftskriminalität, S. 82 ff.; ders. MSchrKrim 2010, S. 151 ff.; ders. NStZ 2012, S. 667 ff., der eine zumindest überraschende Kombination von Systemtheorie und Diskurstheorie versucht (zu ihm auch u. Teil 2 Kap. 1 IV. 3. [S. 263, 266 ff.]). In der Rechtskraftdiskussion hat sich insbesondere Schöneborn, Wiederaufnahmeproblematik, S. 43 ff. um eine weiterführende Rezeption dieser Gedanken bemüht, dazu u. Teil 2 Kap. 6 B. V. 2. (S. 888 f.). Der Systemtheorie in der Sache sehr nahestehend Jackson, Trial, S. 128, 134 ff.: Die streng ritualisierte Hauptverhandlung habe demnach die Funktion, die Botschaft öffentlich zu vermitteln, dass der strafende Staat sich ernsthaft um die Wahrheit bemüht habe; s. a. Nobles/Schiff, Criminal Trial, S. 251 ff. 512 Vgl. zusätzlich zu den weiteren Fn. Esser, Vorverständnis, S. 205 ff.; Rottleuthner, KritJ 1971, S. 69 ff.; Zippelius, FS Larenz, S. 293 ff.; Schreiber, ZStW 88 (1976), S. 135 ff.; Lüderssen, ZStW 85 (1973), S. 317 ff.; Schünemann, GA 1978, S. 176 f.; Rödig, Erkenntnisverfahren, S. 41 ff.; Figueiredo Dias, Reforma, S. 202 f.; Schaper, Verfahren, S. 220 ff.; Hassemer, Einführung, S. 98 ff.; Stamp, Wahrheit, S. 202 ff.; Gaede, Fairness, S. 363 ff. – alle m.w. Nachw. 513 Krauß, FS Schaffstein, S. 422 (der aber dem Ansatz viel Sympathie zollt, S. 421 f.); Schreiber, Konsens, S. 77 f.; Rieß, FS Schäfer, S. 169; Geisler, ZStW 93 (1981), S. 1135; Bora, Verfahrensgerechtigkeit, S. 27; Stamp, Wahrheit, S. 203 f.; Duttge, ZStW 115 (2003), S. 548 f.; ähnl. L. Schulz, GA 2001, S. 236. 514 Luhmann, Legitimation, S. 6 f. Es ist eine andere Frage, ob er diese Grenzen stets eingehalten hat, krit. Rottleuthner, KritJ 1971, S. 78 f.; Rödig, Erkenntnisverfahren, S. 41. Ausdrücklich normativ aber Müssig, GA 1999, S. 123; Lesch, Strafprozessrecht

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weise von Verfahren und schweigt zu der rechtsethischen Frage, warum es Verfahren geben darf.515 Er beobachtet das Verfahren von außen, während der Jurist für seinen Blick aus der Innenperspektive Licht benötigt (s. o. Teil 1 Kap. 1 A. II. 2. [S. 60]). cc) Aber ebenso wenig wie es beim konstruktivistischen Ansatz der Fall war, begnügen sich die Vertreter der Systemtheorie in der Strafprozessrechtswissenschaft mit Deskriptivem. So begründet Lesch das in § 136 Abs. 1 S. 2 StPO verbürgte Recht des Beschuldigten, über die Art und Weise seiner Verteidigung zu bestimmen, mit der Erwägung, dass der Beschuldigte in den Kommunikationsprozess einbezogen werden soll, damit eventuelle Proteste gegen die spätere Entscheidung absorbiert werden.516 Ebenso soll § 136a StPO bestimmte Vernehmungsmethoden nicht aus Respekt vor dem nemo-tenetur-Grundsatz oder vor der Menschenwürde des Beschuldigten verbieten, sondern ausschließlich wegen der Unzuverlässigkeit dieser Methoden. Gegen einen Prozess, der sich derartiger Methoden bedient, werde daher später unvermeidlich Protest laut.517 Diese Vorgehensweise ist aber angreifbar, denn sie besteht darin, dass man aus einer deskriptiven These normative Schlussfolgerungen ableitet, was einen klassischen naturalistischen Fehlschluss darstellt. Denn der Protest muss nicht per se unterbunden werden; den Protest des unschuldig Verurteilten darf man nicht einmal unterbinden wollen. Man könnte diesem Einwand entgehen, indem man den Anspruch, bloß zu beschreiben, aufgibt, und sich einer normativen Ausgangsprämisse bedient. Eine solche normative Prämisse – also ein Grund, weshalb die Absorption des Protests richtig ist und sein soll – findet sich bei Lesch wenigstens in expliziRn. 4 Fn. 18, was nur cum grano salis einleuchtet. Denn man argumentiert nicht schon deshalb normativ, weil man sich dieser Bezeichnung bedient, sondern weil die Prämissen, von denen man ausgeht, normativ sind. Lesch bräuchte deshalb eine Prämisse, die über die Beschreibung der Funktionsweise eines Systems hinausgeht, also einen Grund dafür, dass das System auch funktionieren soll. Sobald man aber eine solche Prämisse anbietet, sprengt man den Rahmen der deskriptiv angelegten Systemtheorie, so dass man zu der positiven Generalprävention kommt; mit dieser wird man sich erst u. III. 2. (S. 160 f.) näher beschäftigen. 515 Gössel, GA 1980, S. 332; Neumann, ZStW 101 (1989), S. 73; Hassemer, Einführung, S. 98 f.; Kröpil, JZ 1998, S. 136; Kudlich, Mißbrauchsverbot, S. 206; MüllerDietz, FS Ishikawa, S. 366; Stamp, Wahrheit, S. 205 f.; Wohlers, FS Trechsel, S. 824; Popp, Fehlerkorrektur, S. 106, 108. Gaede, Fairness, S. 364, der aber aus Art. 6 EMRK die fehlende normative Prämisse ableiten will, S. 365 f.; ähnl. Henke, GS Eckert, S. 302. Ob die Beschreibung als solche zutrifft, soll hier offen bleiben, krit. etwa Schaper, Verfahren, S. 246 ff. 516 Lesch, ZStW 111 (1999), S. 636. 517 Lesch, ZStW 111 (1999), S. 640 f. Dies bedeutet aber nicht, dass Lesch im Ergebnis als Apologet prozessualer Übergriffe anzusehen ist: vielmehr vertritt er im Gegensatz zur herrschenden Meinung, dass die Belehrungspflicht des § 136 Abs. 1 StPO eine Mitteilung aller Verdachtsgründe gebietet (S. 642), und dass das Täuschungsverbot des § 136a Abs. 1 S. 1 StPO nicht restriktiv, sondern vielmehr extensiv auszulegen ist, so dass insbesondere Fangfragen und weitere Formen der noch als zulässig erachteten „List“ ebenfalls dem Verbot unterliegen (S. 645).

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ter Form nicht. Deutet man ihn aber anders, schafft man es also, aus dem Ballast der systemtheoretischen Beschreibung die tragende Wertung herauszudestillieren, dann wäre der vorliegende Einwand gegen Lesch in der Tat hinfällig. Das primäre Ziel – die Systemtheorie, die als bloß deskriptive und deshalb unergiebige Theorie kritisiert werden soll – hätte der Einwand dennoch nicht verfehlt, denn als Vertreter einer normativen Sichtweise hätte Lesch selbst die deskriptive Systemtheorie hinter sich gelassen. c) Das Fazit ist schnell gezogen: Die bloß deskriptiv ausgelegte Deutung des Verfahrens als Legitimationsverschaffungsmechanismus vermag höchstens ein soziologisches Erkenntnisinteresse zu befriedigen, nicht aber das juristische. Deshalb wundert es nicht, dass die Anhänger des Ansatzes dem Trilemma gegenüberstehen, entweder zu normativen Fragen zu schweigen oder naturalistische Fehlschlüsse zu formulieren oder die systemtheoretische Betrachtung zumindest implizit zugunsten einer normativen Theorie zu überwinden. 3. Prozessualer Machiavellismus Eine dritte Art und Weise, die eigentlichen Sachfragen zu verkennen, besteht in dem Ansatz, der sich offen auf das Wohl des Herrschers – gleichgültig, ob man unter Herrscher die natürliche Person eines Fürsten, Königs, Kanzlers oder Präsidenten oder die fiktive Person einer Regierung, eines Staates oder einer Rechtsordnung versteht –, also auf dessen Autorität oder Ansehen beruft, um zu erklären, weshalb Strafverfahren durchgeführt werden müssen. Ein solcher Ansatz wurde in der expliziten Form einer abstrakten Theorie kaum vertreten, wenn auch die unter Autoren der sog. „Klassischen Schule“ verbreitete Vorstellung, dass der Prozess zur Wahrung der Autorität des Staates den staatlichen Strafanspruch festzustellen bzw. durchzusetzen habe,518 dem auf jeden Fall sehr nahe kam. Auch Zucker, der dieser Schule zwar nicht zugeordnet werden kann, formulierte eine in dieser Hinsicht fast unverhohlene machiavellistische Strafprozesstheorie: „die bloße Vermuthung, dass eine Auflehnung wider den im Verbote zum Ausdrucke gelangten Staatswillen stattgefunden habe, verleiht dem Criminalprocess einen impetuosen Charakter und unterwirft den Verdächtigen einer Repressivgewalt, die vielfach unbedenklich in dessen Rechtssphäre hinübergreift, sobald der Zweck der Verfolgung durch einen solchen Eingriff eine Förderung zu erfahren vermag“. Nicht erst durch die Strafe, sondern schon das Verfahren, „das die Schuld zu ermitteln und festzuhalten hat, soll die Nichtigkeit der Auflehnung des Einzelwillens wider den Willen der Gesammtheit aufgezeigt werden und sich das Uebergewicht der Staatsgewalt manifestieren“.519 Es wird sich aber erweisen, 518 Oetker, GS 108 (1936), S. 1 f.; ähnl. Rosenfeld, Reichs-Strafprozeß, S. 29, 30; Hafter, Lehrbuch, S. 1. 519 Zucker, GrünhutsZ 15 (1887), S. 331.

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dass derartige Vorstellungen gerade in der Lehre und Dogmatik der materiellen Rechtskraft an mehreren Stellen, am klarsten im Wiederaufnahmerecht, eine prominente Rolle spielen.520 Hierdurch verschwinden alle Rechtfertigungsfragen; nur der Zweck zählt. So kann Zucker sogar die schwersten prozessualen Eingriffe, vor allem die Festnahme des auf frischer Tat Betroffenen und die Untersuchungshaft, als Übel rechtfertigen, die vor dem Urteil zugefügt werden, um den Betroffenen „schon durch die Verhaftung für die Verübung der That zu strafen“.521 Die Kritik wird sich deshalb an der vorliegenden Stelle ähnlich kurz fassen wie die Darstellung. Die Problematik dieser Art des Argumentierens liegt auf der Hand: Ihrer kann sich auch die Räuberbande – um die bekannte Argumentationsfigur von Augustinus aufzugreifen522 – bedienen. Gerade weil der Hinweis auf das eigene Wohl keine Übelzufügung rechtfertigen kann, ist der prozessuale Machiavellismus ein unbefriedigender Ansatz. Autorität muss man verdienen.523 Sie ist keine selbständige Quelle von Gründen, sondern beruht darauf, dass man wiederholt und zuverlässig Gründen gemäß, d.h.: richtig handelt. Die Berufung auf die Autorität bedeutet somit nur ein Kürzel oder ein Surrogat, das von der Aufgabe, die diese Autorität autorisierenden Gründe zu finden, nicht entlastet. Das wird auch gerade dann erkennbar, wenn das Argument der staatlichen Autorität im liberalen Sinne benutzt wird. So nehme man etwa eine im 19. Jahrhundert beliebte Form der Kritik an den Versuchen der Exekutive, in das Geschäft der Gerichte einzugreifen, durch den Hinweis, dass dies dem Ansehen der Gerichte schade,524 oder, um ein noch konkreteres und sogar hochaktuelles Beispiel zu nehmen, erinnere man sich an eine Entscheidung des Reichsgerichts, die den heute weitgehend selbstverständlichen Einsatz von sog. Lockspitzeln verdammte, mit der Begründung, es sei, „unaufrichtig und jedenfalls mit dem Ansehen der Behörden der Strafrechtspflege unvereinbar, wenn deren Beamte oder Beauftragte sich dazu hergeben, . . . zum Verbrechen anzulocken, und auch, wenn sie nur den Schein erwecken, als ob sie Täuschung oder sonstige unlautere Mittel in den Dienst der Strafrechtspflege 520

Siehe unten Teil 2 Kap. 1 C. I. (S. 338 ff.), Kap. 6 B. II. (S. 866 ff.). Zucker, GrünhutsZ 15 (1887), S. 332 Fn. 21. Interessanterweise hatte er aus diesen vor wenigen Jahren formulierten Gedanken (Untersuchungshaft, S. 16 ff.) noch die Folgerung gezogen, die vorläufige Festnahme zu beseitigen. Davon ist aber in der zitierten Abhandlung nichts mehr zu sehen. 522 Augustinus, Vom Gottesstaat, 4. Buch, Kap. 4, S. 213. 523 Ebenso Henckel, Gerechtigkeitswert, S. 17: „Rechtlich bindende Autorität setzt deshalb voraus, daß ihr Träger sich nach dem Maßstab des Rechts Ansehen erwirbt und damit seiner Verantwortung vor dem Recht gerecht wird“; ähnl. Arndt, Bild des Richters, S. 3: Autorität als „mittelbares Ergebnis überzeugender Geltungskraft“; Eb. Schmidt, DRiZ 1962, S. 404. 524 Etwa Ortloff, GS 49 (1894), S. 275; s. a. im Rahmen der Rechtskraftlehre u. Teil 2 Kap. 1 C. I. (S. 342 f.). 521

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stellten.“ 525 Ginge es in der Tat nur um das Ansehen der Rechtspflege, wäre es kein Problem, das einschlägige Verhalten heimlich vorzunehmen. Der Grund hier liegt in dem, was dieses Mittel „unlauter“ macht.526 Dem muss die Strafprozesstheorie auf der Spur sein. III. Erste Rechtfertigungsstufe: Strafverfahren im Interesse der Gesellschaft (Lehren vom Zweck des Strafverfahrens) 1. Vorüberlegungen Interessant sind erst die Lehren, die die Ebene des Normativen erreichen – was weder bei den konstruktivistischen Ansätzen, noch bei der Systemtheorie, noch beim prozessualen Machiavellismus der Fall ist – und die sich als Begründungen verstehen lassen, warum es ein Strafverfahren geben soll. Besonders nahe liegt es, das Strafverfahren dadurch zu rechtfertigen, dass man darlegt, es bringe der Gesellschaft etwas Gutes. Die Bezeichnung „erste Rechtfertigungsstufe“ beruht darauf, dass gesellschaftsbezogene Vorteile dasjenige sind, was einem bei dem Versuch, das normative Problem der Rechtfertigung des Strafverfahrens zu lösen, an erster Stelle einfällt. Dies wird auch durch die schiere Anzahl der Stimmen, die sich für eine solche Lösung aussprechen, belegt. Gleichzeitig deutet diese Bezeichnung darauf hin, dass es weitere Stufen geben muss, dass man sich mit dieser ersten Rechtfertigungsstufe nicht zufriedengeben kann. Weshalb dies so ist, soll im Laufe der Reflexionen sichtbar werden. Im Folgenden soll man sich mit den sog. Lehren vom Zweck des Strafverfahrens befassen, also mit einem Problemfeld, von dem schon gesagt wurde, dass es zu den „am meisten diskutierten und gleichwohl am wenigsten gelösten Problemen des Prozesses“ 527 gehört. Obwohl nicht immer definiert wird, was in diesem Zusammenhang überhaupt mit Zweck gemeint ist,528 können diese Ansätze relativ klar als diejenigen beschrieben werden, die von der These ausgehen, Strafverfahren seien deshalb gerechtfertigt, weil sie ein Mittel zur Verwirklichung eines gesellschaftlich positiv bewerteten Zustandes darstellen. Denn Zwecke sind Zu525

RG bei Kohlrausch, ZStW 33 (1912), S. 695. Hierzu näher Greco, StraFo 2010, S. 53 ff. Erst einige Zeit nach dem Schreiben dieser Zeilen ist mir klar geworden, dass diese Argumentationsweise auch als Versuch angesehen werden kann, den Gesichtspunkt der Tugend in das Strafverfahrensrecht einzubeziehen; näher u. D. II. 2. c) (S. 325 f.) und ausf. Greco, FS Wolter, S. 79 f. 527 Rödig, Erkenntnisverfahren, S. 33. 528 Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 173 f.; Rödig, Erkenntnisverfahren, S. 40 f.; Schaper, Verfahren, S. 107, 132 ff.; Krack, Rehabilitierung, S. 31; Popp, Fehlerkorrektur, S. 101. Die Unklarheit wird durch die fragwürdige Unterscheidung von Zweck, Ziel und Funktion (so etwa Rieß, LR-StPO 25. Aufl Einl. B Rn. 4 ff. [aufgegeben in JR 2006, S. 270 Fn. 2]) bzw. von Ziel und Aufgabe (Radtke, Konzeptionen, S. 144 Fn. 68) noch erhöht. 526

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stände, deren Förderung einen guten Grund zum Handeln liefert.529 Ein Zweck des Strafprozesses ist also eine Größe, die vom Prozess gefördert werden soll, die also begrifflich und empirisch außerhalb des Prozesses liegt.530 Ob der Prozess diese Zwecke tatsächlich verfolgt, ist eine andere Frage;531 Lehren vom Zweck des Strafverfahrens bestimmen, welche Zwecke verfolgt werden sollten. In normativ-ethischer Begrifflichkeit handelt es sich bei solchen Lehren um Konsequentialismen, also um Theorien, die das Richtige als Funktion der Herbeiführung guter Folgen verstehen.532 Die guten Folgen, um die es in dieser Stufe geht, werden von der Gesellschaft für gut erklärt. Gleichgültig, ob man die Gesellschaft als eine organische Ganzheit oder als eine Summe atomisierter Individuen begreift, geht es bei einem solchen gesellschaftsbezogenen Konsequentialismus um das Gemeinwohl (in der Sprache der Naturrechtslehren),533 um den „massimo di felicità o minimo de infelicità possibile“ (Beccaria),534 um kollektive Güter535 bzw. um Wohlfahrt536 (so die Ökonomen). In der strafverfahrensrechtlichen Diskussion werden in erster Linie drei konkrete Zustände bzw. gute Folgen herangezogen.537 Es liegt zunächst nahe, das 529 Bereits Greco, Lebendiges, S. 138, 256, in Verfeinerung der von Feuerbach und A. Bauer formulierten Bestimmungen. Die von Koch/Rüssmann, Juristische Begründungslehre, S. 169 vorgeschlagene Definition („Wirkungen von Handlungen, die der Handelnde mit seiner Handlung anstrebt“), die in der Strafprozesslehre von Schaper, Verfahren, S. 133 wörtlich übernommen worden ist (ähnl. aus staatsrechtlicher Sicht M. C. Jakobs, Verhältnismäßigkeit, S. 16), hat die Schwäche, dass sie im Psychologischen verharrt und die Ebene der Gründe noch nicht erreicht: Zwecke sind in einer Rechtfertigungstheorie nicht das, was der Handelnde tatsächlich anstrebt, sondern vielmehr das, was er anstreben sollte, würde er legitim handeln. Krack, Rehabilitierung, S. 31, der diese Definition geringfügig verändert („Folgen, die seitens eines handelnden Menschen für erstrebenswert erachtet werden“), verschlechtert sie in einer weiteren Hinsicht, denn dadurch, dass auf einen „handelnden Menschen“ abgestellt wird, kann man nur indirekt über den Zweck von Institutionen oder Kollektiva sprechen. 530 So auch Sax, ZZP 67 (1954), S. 27; Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 183; ferner Popp, Fehlerkorrektur, S. 109, der die Fragestellung auf folgende Weise konkretisiert: „Was soll gerade durch die Durchführung eines Verfahrens erreicht werden?“. Darin unterscheiden sich die Lehren vom Zweck des Strafprozesses von der Variante des konstruktivistischen Ansatzes, die im prozessinternen Zustand der Rechtskraft den Zweck des Verfahrens sieht (o. C. II. 1., S. 139). 531 Verkannt von Gassin, FS Pradel, S. 119 f. 532 Eine kanonische Definition gibt es nicht; für einen knappen Überblick der unterschiedlichen in der Moralphilosophie kursierenden Bestimmungen Greco, Lebendiges, S. 120 Fn. 62, mit geringfügig abweichendem Definitionsvorschlag. 533 Etwa Messner, Naturrecht, S. 189 ff.; Finnis, Natural Law, S. 153, 154 ff. 534 Beccaria, Delitti, § XLI; ähnl. Bentham, Introduction, Chapter I Nr. 2 ff. 535 Zu diesem Begriff Alexy, IJPG 1989, S. 49 ff. 536 Vgl. hierzu etwa die Beiträge von Lamont, Brotman Corbett, in: Proc. Arist. Soc. Suppl. Vol. 27 (1953), S. 159 ff., 183 ff., 211 ff. 537 Weitere Ansichten gibt es durchaus (ausf. Schaper, Verfahren, S. 107 ff., 120 ff.). Hier interessieren allein diejenigen, die für den Strafprozess von besonderer Bedeutung sind.

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Strafverfahren streng in den Dienst des materiellen Rechts zu stellen: Hier wird vertreten, dass der vom materiellen Strafrecht verfolgte Zweck der Generalprävention – also eines Zustands, in dem die Allgemeinheit weniger Straftaten begeht – auch für das Strafverfahren maßgeblich sei (u. 2.). Zweitens wird auf die prozessspezifische Erwägung der materiellen Wahrheit – eines Zustandes, der durch die Kenntnis des Tatablaufs charakterisiert ist – abgestellt (u. 3. [S. 168 ff.]). Eine dritte, immer zahlreicher vertretene Ansicht richtet das Strafverfahren an dem Zweck der Wiederherstellung des Rechtsfriedens aus (u. 4. [S. 187 ff.]). 2. Straftheorien (I), insbesondere: Generalprävention als Zweck des Strafverfahrens a) „Das Dasein des Strafprocesses beruht auf demselben Grunde, von welchem die rechtliche Nothwendigkeit der Strafe getragen wird“.538 „Wenn, was niemand bestreiten kann, der Prozeß nur Mittel zum Zwecke der Bewährung des materiellen Rechtes ist, so folgt unabweisbar, daß er, das formale Recht, sich diesem Zweck, der Natur des materiellen Rechtes, anbequemen muß. Es ist der Geist, der sich den Körper baut“.539 Das Strafverfahren wird der Verhängung einer Strafe vorgeschaltet. Es existieren enge Beziehungen zwischen dem Strafverfahren und dem materiellen Strafrecht.540 Schon deshalb liegt es besonders nahe, das Strafverfahren mit denselben Argumenten zu rechtfertigen, mit denen die Strafe gerechtfertigt wird. Die Theorie der Rechtfertigung des Strafverfahrens wäre demnach nur der verlängerte Arm der bekannten Straftheorien. Je nachdem, ob man die Strafe mit der Vergeltungstheorie als Gebot der Gerechtigkeit rechtfertigt oder mit den generalpräventiven Theorien als Abschreckung bzw. Integration der Allgemeinheit oder mit den spezialpräventiven Theorien als Unschädlichmachung bzw. Resozialisierung des zu Bestrafenden legitimiert, würde man das Strafverfahren entsprechend rechtfertigen und auch ausrichten müssen. Der vorliegende Abschnitt behandelt allein Rechtfertigungsversuche, die sich auf der „ersten Stufe“, also auf der Stufe der gesellschaftsbezogenen Zweckbestimmungen des Strafverfahrens bewegen. Deshalb werden hier nur generalpräventive Rechtfertigungen des Strafverfahrens diskutiert. Der Versuch, aus der Resozialisierungslehre Rückschlüsse für das Strafverfahren zu ziehen, wird deshalb erst u. IV. 2. (S. 198 ff.), der Rückgriff auf die Vergeltungstheorie erst u. VI. 2. b) (S. 238 ff.) behandelt. 538

Zachariä, Gebrechen, S. 25. Wach, FS Binding, S. 4 f. Ähnl. Zipf, Kriminalpolitik, S. 144. 540 Klassisch Peters, Strafrechtsgestaltende Kraft, insb. S. 12 ff.; ders. ZStW 68 (1956), S. 398; ders. Strafprozeß, S. 7 („Prozessuales Recht und materielles Recht bilden eine Einheit“); und Lüderssen, ZStW 85 (1973), S. 288 ff.; ferner Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 17 f.; Figueiredo Dias, Direito processual penal, S. 28 ff.; Geppert, GS Schlüchter, S. 43 ff.; Jahn, Gesetzesvorbehalt, S. 225 ff. 539

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1. Teil: Strafprozesstheorie

b) Die Behauptung leuchtet auf den ersten Blick ein: Weil das Strafverfahren der Zufügung einer Strafe dient, sind die Strafzwecke in letzter Hinsicht allesamt als Verfahrenszwecke anzusehen. Vertritt man, dass der Zweck der Strafe die Generalprävention ist – als Zustand, in dem die Allgemeinheit weniger Straftaten begeht –, ergeben sich also zwei Möglichkeiten, je nachdem, welche Form der Generalprävention man für richtig hält. aa) Nach der älteren, negativ genannten Generalprävention dient Strafe der Abschreckung der Allgemeinheit vor der Begehung von Straftaten. Präzisierend habe ich diese Zielbestimmung umschrieben als Bekanntgabe von klugheitsbezogenen Gründen für rechtmäßiges Verhalten.541 Durch die Strafe soll gezeigt werden, dass sich das Verbrechen nicht auszahlt, dass es also unklug ist, sich für die Begehung einer Straftat zu entscheiden, weil diese Begehung eine Strafe nach sich zieht. Für eine solche Straftheorie bin ich in der bereits mehrmals zitierten früheren Monografie eingetreten. Im Anschluss an den Gedanken Feuerbachs schlug ich vor, die Momente der Strafandrohung und der Strafzufügung voneinander zu unterscheiden, wobei Erstere dem Zweck der allgemeinen Abschreckung, also der allgemeinen Bekanntmachung klugheitsbezogener Gründe zur Beachtung der im Gesetz enthaltenen Gebote dienen sollte, die Zufügung dagegen allein der Bestätigung der Ernsthaftigkeit der Androhung dienen sollte.542 Man könnte versuchen, diesen Ansatz auf das Prozessrecht zu erweitern, etwa dadurch, dass man meint, auch das Strafverfahren diene der Bestätigung der Ernsthaftigkeit der Androhung. Durch das Strafverfahren stelle der Staat klar, dass er möglichen Straftätern auf der Spur ist, dass sie nicht damit rechnen können, unbestraft zu bleiben. In der strafverfahrensrechtlichen Literatur ist eine solche Begründung des Strafprozesses wohl von Mittermaier und später von Dohna dargebracht worden.543 Ersterer fängt sein Lehrbuch des Strafverfahrensrechts mit dem Satz an: „Das Interesse der bürgerlichen Gesellschaft an der Entdeckung der Verbrechen, und die Überzeugung, daß die Gewißheit der Bestrafung jedes Schuldigen ein sicheres Mittel, von der Begehung von Verbrechen abzuschrecken, werden kann, fordern die Anordnung eines Verfahrens, welches auf die Entdeckung der Verbrechen und ihre Bestrafung abzielt“.544 bb) Nach der heute wohl herrschenden positiven Variante der Generalprävention soll die Strafe ebenfalls Straftaten der Allgemeinheit vorbeugen. Nur soll diese Vorbeugung nicht dadurch erfolgen, dass die Bevölkerung abgeschreckt 541

Greco, Lebendiges, S. 361. Greco, Lebendiges, S. 362 ff., 420 ff. 543 Dohna, Das Strafprozeßrecht, S. 1 f. Vgl. auch Rudolphi, ZRP 1976, S. 167 und Krack, Rehabilitierung, S. 38 f. (positive und negative Generalprävention als Zwischenzwecke zum Endzweck des Rechtsfriedens). 544 Mittermaier, Strafverfahrensrecht, § 1 (S. 1). 542

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wird. Vielmehr geht es der positiven Generalprävention um Ziele wie „Verteidigung der Rechtsordnung“,545 „Einübung in Rechtstreue“ 546 bzw. „Einübung in Normanerkennung“,547 oder – mit eher moralisierender Konnotation – um die „Erhaltung rechtlicher Gesinnungswerte“ 548 oder um die „sittenbildende Kraft des Strafrechts“.549 Zur Präzisierung habe ich vorgeschlagen, die Theorie, die sich gerade von der klugheitsbezogenen Abschreckungstheorie abzugrenzen versucht, anhand des Begriffs zu definieren, der den Gegensatz zum Begriff der Klugheit bildet. Geht es der negativen Generalprävention um die Bekanntmachung klugheitsbezogener Gründe, also von Gründen, weshalb sich die Begehung einer Straftat nicht lohnt, will die positive Generalprävention durch die Strafe der Gesellschaft mitteilen, dass die Begehung einer Straftat falsch ist und schon deshalb nicht sein darf. Die positive Generalprävention sieht in der Strafe also die Bekanntmachung eines im weiten Sinne moralitätsbezogenen Grundes zum rechtskonformen Verhalten.550 Diese Theorie tritt insbesondere mit dem Anspruch auf, die Antinomie von Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit bzw. Respekt, die bei sonstigen präventiven Theorien, vor allem bei der negativen Generalprävention in pointierter Form auftreten können, aufzuheben.551 Denn die von ihr angestrebte Manifestation der Richtigkeit rechtsgemäßen Verhaltens ist nur glaubhaft, und erreicht bei der Bevölkerung nur dann langfristig und dauerhaft ihre bewusstseinsbildenden Ziele, wenn die verhängte Strafe auch als gerecht empfunden wird. Es liegt deshalb aus mehreren Gründen nahe, diese Überlegungen auch im Strafverfahren zu verwerten. Erstens tritt im Strafverfahren auch die Antinomie von Zweckmäßigkeit und Respekt am augenfälligsten in Erscheinung. Zweitens erscheint es empirisch plausibel, dass nicht erst der vollstreckten Strafe der Sinngehalt zukommt, dass bestimmte Verhaltensweisen falsch sind. Vielmehr kann die ganze Strafrechtspflege, vom Moment der gesetzlichen Fixierung von Verboten bzw. Androhung von Strafen an bis hin zu dem der Strafverfolgung durch die Durchführung von Strafverfahren, im Lichte dieser Aufgabe betrachtet werden. Nicht erst die Bestrafung eines Mordes, sondern bereits die Tatsache, dass mög-

545

Vgl. insb. §§ 47 Abs. 1 oder 59 Abs. 1 S. 3 StGB; BGHSt 24, 40 (44 f.); Zipf, FS Bruns, S. 219. 546 Jakobs, Schuld und Prävention, S. 10. 547 Jakobs, AT, § 1 Rn. 15. 548 Welzel, Begriff des Strafgesetzes, S. 229. 549 Hellmuth Mayer, Strafrecht, S. 26; ders. Gesetzliche Bestimmtheit, S. 260 („Aufrichtung von Werttafeln“); zust. Jescheck/Weigend, AT, S. 4. 550 So die früher vorgeschlagene Definition, Greco, Lebendiges, S. 397; Nachw. zu den von den Vertretern der positiven Generalprävention benutzten Formulierungen ebda., S. 396. 551 Siehe insb. Hassemer, Positive Generalprävention, S. 41 ff.; Nachw. b. Greco, Lebendiges, S. 240 Fn. 151.

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liche Morde verfolgt werden, zeugt davon, dass die Gesellschaft nicht bereit ist, ein solches Verhalten hinzunehmen, sondern es als falsches und deshalb als zu unterlassendes Verhalten ansieht. So versteht Schroeder das Strafverfahren als Instrument zur Verwirklichung der sekundären strafrechtlichen Norm (der sog. Sanktionsnormen), deren Zweck die „Wiederherstellung des Rechtsfriedens i. S. einer Befriedigung des Rechtsgefühls“ sei.552 Müssig, der im Strafrecht eine Institution sieht, die im Sinne der positiven Generalprävention die konkrete Gestalt einer Gesellschaft, d.h. die Geltungskraft ihrer einzelnen Normen garantiert, ordnet auch das Strafverfahren in diesen Zusammenhang ein: „Die Theorie der positiven Generalprävention bestimmt somit auch die Gestalt des Strafverfahrens“.553 Einen ähnlichen Ansatz vertritt Freund: „Das Strafverfahren als solches hat ausschließlich die Aufgabe, das materiellstrafrechtliche Programm umzusetzen“.554 Dieses Programm sei als „angemessene Reaktion auf das (möglicherweise) begangene Fehlverhalten eines bestimmten Subjekts nebst Folgen“ zu verstehen.555 Auch im angelsächsischen Schrifttum sind ähnliche Ansätze zu finden.556 c) Der erste Mangel dieser Ansätze liegt indes auf der Hand: das Strafverfahren ist keine Strafe. Wie o. B. IV. (o. S. 124 f.) schon angedeutet und u. Teil 2 Kap. 3 C. (S. 640 ff.), insb. IV. 2. (S. 659) näher ausgeführt wird, unterscheidet sich das Übel des Strafverfahrens – als bedrohliche Institution einerseits, als qualifizierte Verdächtigung andererseits – in mehreren Hinsichten von demjenigen, das für die Strafe kennzeichnend ist. Versucht man, das Strafverfahren mit strafspezifischen Argumenten zu legitimieren, entsteht die Gefahr, dass man auf der einen Seite zu viel, auf der anderen zu wenig rechtfertigt.

552

Schroeder, NJW 1983, S. 139. Müssig, GA 1999, S. 121 ff., 123 (Zitat). 554 Freund, GA 2005, S. 333. 555 Freund, GA 2005, S. 333 (Zitat), 321 f.; ähnl. ders. GA 1995, S. 12; ders. Strafrechtssystem, S. 44 ff., 49 ff. Positivgeneralpräventiv argumentieren auch Dencker, Verwertungsverbote, S. 59 ff., 72; Volk, Wahrheit, S. 11; Beulke, JR 1982, S. 312; Schild, ZStW 94 (1982), S. 41 ff.; Bottke, ZStW 96 (1984), S. 747; ders. Verfahrensgerechtigkeit, S. 49 f.; ders. FS Roxin I, S. 1245; ders. FS Meyer-Goßner, S. 73; monografisch Hauschild, Positive Generalprävention, S. 153 ff., mit äußerst magerem Ertrag (S. 173 ff.). Früher Siegert, DJZ 1935, Sp. 854 f., der Abschreckung, Spezialprävention und an erster Stelle die von ihm sog. Integration durch das Strafverfahren erreichen will. Dem sehr nahestehend auch Peters, Strafprozeß, S. 31: „Das Ziel des Strafverfahrens ist daher die Bewährung der sittlich-rechtlichen Ordnung, ohne die ein Gemeinschaftsleben nicht möglich ist“. 556 Braithwaite/Pettit, Not just deserts, S. 120 ff.; Hildebrandt, Trial, S. 20 f., 25 ff. (die auch den Gedanken der Demokratie heranzieht und aus den positiv-generalpräventiven Gedanken insbesondere Schlussfolgerungen für die Öffentlichkeit und die FairTrial Struktur des Verfahrens zieht); und am prominentesten Duff, dessen schwer einzuordnende Theorie hier unter den positiv-spezialpräventiven Ansätzen behandelt wird, s. u. IV. 2. (S. 201 f.). 553

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aa) Man rechtfertigt zu viel, d.h., auch gravierende oder – wenn überhaupt – eigentlich nur als Strafen rechtfertigungsfähige Übelzufügungen, obwohl derjenige, gegen den verfahren wird, nicht notwendig Schuld auf sich geladen haben muss. So will Freund, der nicht erst die Strafe, sondern schon das Verfahren als Reaktion versteht, nicht nur Einstellungen mit Auflagen,557 sondern vor allem die Untersuchungshaft558 als angemessene Reaktionen auf möglicherweise begangene Straftaten begreifen. Freund denkt, die Führung eines Prozesses sei selbst ohne praktische Aussichten auf eine Überführung deshalb legitim, weil sie den „Zweck des ,Zur-Rede-Stellens‘ eines möglichen Straftäters erfülle.“ 559 Dies sei sogar bei der Untersuchungshaft möglich, wenn sie dort verhängt wird, wo es an einem prozesssichernden Zweck fehlt und wo es kaum Aussichten auf Überführung gibt.560 Es mutet aber befremdlich an, dass man dort von einer Reaktion spricht, wo die erste Aktion nur möglich ist, es an ihr also möglicherweise fehlt. Der Verdacht ist keine Aktion. Die Straftat ist eine Aktion, aber ob eine Straftat gegeben ist, kann noch unsicher sein. Eine sichere Aktion liegt nur im Akt des Verdächtigens. Dieser Akt wird aber nicht von demjenigen, der Adressat der Reaktion ist, begangen, sondern vielmehr von demjenigen, der reagiert. Eine Reaktion aber, die auf eine Aktion des Reagenten reagiert, lässt sich nur durch eine unnatürliche Verwendung von Begriffen als Reaktion bezeichnen. Es bietet sich vielmehr an, offen von zwei Aktionen bzw. von einer Aktionenfolge zu sprechen. Man könnte dennoch auf die Sprechweise einer Reaktion verzichten und schlichter argumentieren. Es hieße dann, dass bereits die Möglichkeit einer gravierenden Tat u. a. die Verhängung der Untersuchungshaft rechtfertige, weil der Rechtsfrieden schon durch die Möglichkeit der Tat gestört sei und durch die Verhaftung des möglichen Störers wiederhergestellt werden müsse. Damit aber droht die Unterscheidung von Prozess und Strafe, von Untersuchungshaft und Freiheitsstrafe zu verschwinden. Prozess und Strafe werden weitgehend austauschbar, weil ihre Legitimität allein von ihrer Tauglichkeit zur Verwirklichung eines Zwecks abhängt, der von beiden in ähnlicher Weise verwirklicht werden kann. Dass die mögliche Tat des möglichen Täters eben nur eine Möglichkeit und keine Gewissheit ist, wird zu wenig berücksichtigt.561 557 Freund, GA 1995, S. 16 f.; ders. Strafrechtssystem, S. 66 ff.; ders. GA 2005, S. 335, 336. Die Tatsache, dass Freund bei der Bestimmung der Voraussetzungen der Einstellung mit Auflagen nach § 153a StPO restriktiver als die h. M. vorgeht und eine Erschöpfung der Sachverhaltserforschung bzw. ein Geständnis des Betroffenen verlangt (GA 1995, S. 17), ist theoretisch zufällig und beruht nicht notwendig auf den von ihm aufgestellten Prämissen. 558 Freund, GA 1995, S. 20. 559 Freund, GA 1995, S. 13; ders. Strafrechtssystem, S. 70 ff. 560 Freund, GA 1995, S. 21. 561 Sehr ähnlich gegen eine vergleichbare von Hünerfeld vertretene Auffassung zu § 153a StPO (ZStW 90 [1978], S. 920: Bekräftigung der „Gültigkeit der möglicher-

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1. Teil: Strafprozesstheorie

Dass dies nicht bloß theoretisch von Belang ist, lässt sich an zwei Beispielen verdeutlichen. Weil Strafverfahren und Bestrafungen unerlässlich für die Normverdeutlichung seien undabsolute Gewissheit über die Schuld den Menschen verschlossen bleibt, stellt sich für Freund die „bewußte Inkaufnahme der Verurteilung Unschuldiger“ als „das Zentralproblem der Strafrechtsanwendung“.562 Fehlverurteilungen stellen bis zu einem Punkt erlaubte Risiken dar, die es zu legitimieren gelte. Diese Legitimation erfolgt in erster Linie durch das Präven-

weise durch ihn [den Beschuldigten, L.G.] verletzten Norm“) Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 225 Fn. 28. Ähnlich die verbreitete, wegen der notwendigen Differenzierung von Strafbegriff und Rechtfertigungsbedingungen der Strafe an sich ungenaue (s. u. Teil 2 Kap. 3 C. III. [S. 643 f.]) Kritik, nach der die Heranziehung von Strafzwecken in laufenden Strafverfahren die Unschuldsvermutung verletze, etwa Krauß, Unschuldsvermutung, S. 161; Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), S. 1268; Kuhlen, Diversion, S. 53; Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 159; Frister, Schuldprinzip, S. 93 ff. („Verbot einer strafähnlichen Rechtfertigung von Eingriffen“); Gropp, JZ 1991, S. 809 f.; Wolter, Aspekte, S. 40 f. Fn. 107; Weigend, ZStW 104 (1992), S. 502; Corso, RIDP 63 (1992), S. 208; Kondziela, MSchrKrim 1989, S. 182 f.; Stuckenberg, Unschuldsvermutung, S. 540 und S. 537 Fn. 99 (gegen Freund); Murmann, GA 2004, S. 74 Fn. 59; Riess, Verbrechensprävention, S. 969 f.; in der Rspr. grdl. BVerfGE 19, 342 (348). 562 Freund, Tatsachenfeststellung, S. 1 (Zitat), ferner S. 58, 65 ff.; ders. GA 1991, S. 403 f.; ders. FS Meyer-Goßner, S. 409 ff.; in eine ähnliche Richtung Stein, Gewißheit und Wahrscheinlichkeit, S. 246 ff., der ein erlaubtes Fehlverurteilungsrisiko postuliert, in dem Maße, wie dies zur Einhaltung einer effektiven Strafrechtspflege unerlässlich sei (S. 249). Die Menschenwürde des unschuldig Verurteilten sei mit den Belangen einer effektiven Strafrechtspfege in Ausgleich zu bringen (S. 248 f., 262); alle Strafen seien in einem bestimmten Grade Verdachtsstrafen (S. 261). Die wichtigste konkrete Schlussfolgerung, die Stein aus seinen Überlegungen ableitet, ist an sich keineswegs staatsmachterweiternd: Er lehnt die mehrheitlich vertretene Ansicht ab, dass sich das Gericht im Wege einer „persönlichen Gewissheit“ trotz des Bestehens objektiv-vernünftiger Zweifel für überzeugt erklären kann (S. 256 ff.). Diese Schlussfolgerung, über deren Richtigkeit man ebenfalls streiten könnte, folgt aber keineswegs zwingend aus den Prämissen. Denn wie weit die erlaubten Fehlverurteilungsrisiken reichen, wird allein von den behaupteten Bedürfnissen einer effektiven Strafrechtspflege abhängen. Sobald ein Justiznotstand droht (prominentes Beispiel einer solchen Argumentation: BGHSt GrS 50, 40 [53 f.]), ermöglichen diese Prämissen, dass Verurteilungen auf Grundlage von noch lascheren Kriterien erfolgen (ebenso Erb, FS Rieß, S. 91). Uneingeschränkt zuzustimmende Kritik bei Neumann, GA 1989, S. 279 f.; und Erb, FS Rieß, S. 82 ff. Letzterer betont zu Recht, dass solche Ansätze die „Büchse der Pandora“ öffnen (S. 89), denn sie seien eine „gefährliche Relativierung des fundamentalen Interesses (richtiger: Rechts, L.G.) des einzelnen . . ., nicht zum Opfer eines Justizirrtums zu werden“ (S. 88). Das ganze Unternehmen der Legitimation von Fehlverurteilungsrisiken mit Hinweis auf gesellschaftliche Interessen hält er richtigerweise für fehlgeleitet (S. 92): „Statt dessen ist es geboten, den Umstand, daß das Strafverfolgungssystem in einem gewissen Rahmen notwendigerweise die Verurteilung Unschuldiger impliziert, stets als Problem zu betrachten“. Selbstverständlich heißt das nicht, dass das alternative Konzept des Abstellens auf ein subjektives Gefühl des Überzeugt-Seins befriedigend ist. Der daran von Freund, Tatsachenfeststellung, S. 47 ff., 50 geübten Kritik („Glaubensakt“) ist voll beizupflichten. Auch sein „Alternativenausschlussmodell“ (S. 23 f.) dürfte viel Richtiges enthalten (s. davor schon Bendix, RuW 7 [1918], S. 188 f.). Die angebotene Begründung macht aber sogar diese grundsätzlich zu billigenden Ergebnisse instabil und lässt deshalb Schlimmeres befürchten als die Krankheit.

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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tionsinteresse der Gesellschaft.563 Gleichzeitig müsse die Fehlverurteilung auch dem Unschuldigen gegenüber legitimiert werden, wozu Freund den Gedanken einer Verantwortlichkeit für eine „nur möglicherweise begangene wirkliche Tat“ einführt.564 Derjenige, der sich nicht um eine Widerlegung der von der Anklageseite vorgelegten Hypothese bemüht, obwohl dies ihm möglich und zumutbar ist, werde auch als Unschuldiger legitim verurteilt. Weil es nicht ersichtlich sei, wie ansonsten Normverdeutlichung erreicht werden könne, müsse das Strafverfahren auf das betroffene Individuum setzen: Es gebe insofern eine „Schuld bei der Tatsachenfeststellung“.565 Man beachte, dass diese angebliche Legitimation gegenüber dem Betroffenen kaum eigenständigen Gehalt aufweist, sondern eher einen Reflex der präventiven Überlegungen darstellt.566 Als Konsequenz einer präventiven, auf die Normverdeutlichung abzielenden Argumentation könnte man auch bei schweren Taten oder bei Taten, die massive Empörung zur Folge haben, Fehlverurteilungsrisiken eher legitimieren.567 Fehlverurteilungsrisiken dürfen nicht sehenden Auges in Kauf genommen werden. Angesichts dessen, dass eine Pflicht, erst zu handeln, wenn absolute, gottgleiche Gewissheitsbedingungen bestehen, für menschliche Einrichtungen nicht postulierbar ist, ist es durchaus zulässig, nicht überall die gleichen Bemühungen um Wahrheitsfindung vorzunehmen (näher u. C. III. 3. [S. 183 ff.]). Grund dafür ist aber entgegen Freund nicht ein Interesse der Gesellschaft daran, Strafrechtspflege überhaupt funktionierbar zu gestalten, sondern – grob gesagt – dass niemandem Unrecht geschieht, wenn für menschliche Einrichtungen menschliche Maßstäbe herangezogen werden (s. u. C. III. 3. [S. 174]). Auch die Begründungsschwierigkeiten des Haftgrundes der Tatschwere (§ 112 Abs. 3 StPO), der sogar Gegenstand einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung war,568 wären unter Zugrundelegung einer solchen generalpräventiven Auffassung des Strafverfahrens allzu leicht behoben.569 Schwere Taten sind eben sol563

Freund, Tatsachenfeststellung, S. 64 ff. Freund, Tatsachenfeststellung, S. 67; zu Recht krit. Neumann, GA 1989, S. 280: „Unbegriff“; Erb, FS Rieß, S. 91 Fn. 53. 565 Freund, Tatsachenfeststellung, S. 70. 566 Freund, Tatsachenfeststellung, S. 67: „Konkretisierung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit“, S. 69 f. 567 Richtig Erb, FS Rieß, S. 89 f. Freund selbst zieht diese Schlussfolgerungen nicht. Das Problem wird von ihm aber wohl erkannt, dennoch ohne größere Sorgen als „unrealistisch“ bzw. als nur „für die fernere Zukunft“ von Relevanz abgetan (Tatsachenfeststellung, S. 92). 568 BVerfGE 19, 342. Krit. zu diesem Haftgrund I. Müller, Rechtsstaat und Strafverfahren, S. 100 f., 139 ff.; Deckers, AnwBl 1983, S. 421 ff.; Schünemann, ZStW 114 (2002), S. 15, der von der „Abwesenheit eines Haftgrundes“ spricht; Ashworth, Human Rights, S. 31; Greco, Feindstrafrecht, S. 70 – und näher u. Teil 2 Kap. 3 D. I. 2. (S. 663 f.). 569 Freund, Strafrechtssystem, S. 71 ff., liebäugelt zwar mit einer solchen Rechtfertigung des Haftgrunds der Schwere der Tat, indem er ihn auf seinen Zweck des „zur 564

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1. Teil: Strafprozesstheorie

che, bei denen ein besonderes generalpräventives Bedürfnis zu bejahen ist, gegen die also energisch vorgegangen werden muss. Genau so argumentierte in den dreißiger Jahren Siegert auf Grundlage der von ihm vertreten Strafzwecklehre der „Integration“: „Zur vollen Wiederherstellung des Rechtsbewußtseins der Gemeinschaft ist es nötig, daß ihm (dem Volksbetrüger) schnell der Prozeß gemacht wird, daß er alsbald verhaftet und aus der Gemeinschaft der freien Volksgenossen entfernt wird.“ 570 Auch wäre der damit eng verwandte, in vielen ausländischen Rechtsordnungen noch vorhandene Haftgrund der „Erregung der Öffentlichkeit“ d.h. des Sozialalarms bzw. der Garantie der öffentlichen Ordnung weitgehend gerechtfertigt.571 bb) Gleichzeitig besteht eine Rechtfertigungslücke, denn viele Aspekte des Strafverfahrens lassen sich nur schwer durch Straftheorien durchleuchten. Dies ist vor allem bei bestimmten Konstellationen des Freispruchs der Fall, nämlich bei dem Freispruch, der auf mangelnden Beweisen beruht, oder bei dem Freispruch, der allein deshalb erfolgen muss, weil ein zentrales Beweismittel unverwertbar ist. In diesen Situationen erscheint es forciert, zu behaupten, dass auch ein Freispruch oder eine Einstellung belegen würden, dass an der materiellrechtlichen Norm festgehalten werde.572 In der Situation des Freispruchs des Schuldigen wegen eines Beweisverbots ist sogar offensichtlich, dass einer, der sich strafbar gemacht hat, sich seiner Strafe entzieht, so dass weder dem Zweck der negativen noch der positiven Generalprävention gedient wird, sondern vielmehr gezeigt wird, dass sich das Verbrechen auch lohnen kann bzw. dass man nicht fähig war, den Normbruch als solchen für unrichtig zu erklären. d) Zweitens bedeutet die Heranziehung von Straftheorien im Strafverfahren, dass man sich mit den gegen diese Theorien im Rahmen der straftheoretischen Diskussion formulierten Bedenken wird auseinandersetzen müssen. Dies ist im vorliegenden Zusammenhang aber in ausführlicher Form weder möglich noch angemessen, so dass hier eine Kurzfassung auszureichen hat.

Rede Stellens“ der Verdächtigen für zurückführbar erklärt; im Ergebnis enthält er sich aber einer endgültigen Stellungnahme (S. 73). Das ändert nichts daran, dass dieser Haftgrund gerade in dem von ihm vorgebrachten argumentativen Rahmen einen bequemen Sitzplatz findet. 570 Siegert, DJZ 1935, Sp. 855. 571 Vgl. etwa § 112 Abs. 1 StPO in der zwischen 1935 und 1945 geltenden Fassung, mit dem Haftgrund der „Rücksicht auf die Schwere der Tat und die durch sie hervorgerufene Erregung der Öffentlichkeit“ (näher Sax, Grundsätze, S. 976 Fn. 192; Eb. Schmidt, Lehrkommentar II, § 112 Rn. 4 f.; I. Müller, KritJ 1977, S. 19 f.; ders. Rechtsstaat und Strafverfahren, S. 86); vgl. auch Art. 144 Nr. 7 franzStPO, in der seit November 2009 geltenden, wesentlich eingeschränkten Form; Art. 204 c portStPO; Art. 312 brasStPO. 572 So aber Freund, Tatsachenfeststellung, S. 91; Müssig, GA 1999, S. 122; und Lesch, Strafprozessrecht, Rn. 3; ders. FS Volk, S. 318, der eher systemtheoretisch (vgl. o. II. 2. [S. 152 f.]), z. T. auch positiv-generalpräventiv argumentiert.

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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aa) Die negative Generalprävention krankt daran, dass sie in besonderen Fällen durchaus grausame oder unverhältnismäßige Strafen rechtfertigen kann. Sie ist deshalb auf externe Schranken (vor allem das Schuldprinzip) angewiesen, um nicht den Betroffenen im Ergebnis zu instrumentalisieren.573 Davon abgesehen ist sie aber eine normativ gut begründete und empirisch plausible Theorie,574 die deshalb bis auf die angezeigte Ergänzungsbedürftigkeit durch externe Schranken überzeugt. bb) Dagegen bewegt sich die positive Generalprävention insgesamt außerhalb der Sphäre des rechtlich Zulässigen. Eine Strafe als Kundgebung zu legitimieren, dass bestimmte Verhaltensweisen unrichtig und deshalb zu unterlassen sind, ist eigentlich nichts anderes als der Gebrauch von strafrechtlichem Zwang zum Zweck der Volkspädagogik. Positive Generalprävention ist also Erziehung durch Zwang, was nicht mit der Autonomie der zu erziehenden Personen verträglich ist.575 e) Die gerade beschriebene Rechtfertigungslücke lenkt den Blick auf den dritten Mangel dieser Ansätze. Die Tatsache, dass das Strafverfahren die Verhängung einer Strafe ermöglichen soll, ist noch zu unspezifisch und bedeutet nicht, dass die Erwägungen, die die Verhängung einer Strafe rechtfertigen, für die Rechtfertigung des Verfahrens ausreichend sind. Auch wenn die Fahrt des Arztes in die Klinik die Durchführung einer Operation ermöglichen soll, heißt das weder, dass er sich vor der Autofahrt die Hände desinfizieren muss, noch umgekehrt, dass er bei der Autofahrt keine Rücksicht auf die StVO nehmen muss. Die Fahrt ist ein Mittel zum Zweck der Operation, aber nicht nur ein solches Mittel. Die hier kritisierte Ansicht beruht letztlich darauf, dass das Strafverfahren ausschließlich in seiner dem materiellen Strafrecht dienenden Rolle betrachtet wird, so dass die teilweise bestehende Eigenständigkeit des Verfahrens gegenüber dem materiellen Strafrecht ignoriert wird.576 Die straftheoretisch orientierte Verfahrensbegründung ignoriert also die Besonderheiten des Strafverfahrens gegenüber dem materiellen Strafrecht. Der spezifische Beitrag des Strafverfahrens zum materiellen Strafrecht, die genaue Art und Weise, wie das Verfahren die legitime Zufügung einer Strafe ermöglicht, wird dadurch noch nicht erläutert. e) Als Fazit ist also zu sagen, dass Zweck der Strafe in der Tat allgemeine Abschreckung, also negative Generalprävention ist. Die Strafe wird angedroht, um der Allgemeinheit bekannt zu machen, dass sich das Verbrechen nicht lohnt, und zugefügt, um den Ernst der Androhung zu bestätigen. Das Strafverfahren ist aber keine Strafe, sondern eine eigenständige Erscheinung, die sich deshalb nicht 573

Greco, Lebendiges, insb. S. 381 ff. (m. ausf. Nachw.). Greco, Lebendiges, S. 362 ff., 369 f., 377, 377 ff., 395. 575 Greco, Lebendiges, S. 399 ff. 576 Nachw. zur Kritik an der verbreiteten Auffassung einer dienenden Rolle des Strafverfahrens u. in Fn. 881. 574

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1. Teil: Strafprozesstheorie

bereits mit einem Verweis auf den Zweck der Strafe voll rechtfertigen lässt. Gefragt ist also nach spezifischen, auf die Eigenständigkeit des Verfahrens zugeschnittenen Erwägungen. 3. Materielle Wahrheit als Zweck des Strafverfahrens a) „. . . es (handelt) sich im Strafverfahren weder auf Seiten des Staates, noch auf Seiten des Angeklagten um verzichtbare Parteirechte, vielmehr um die Ermittelung materieller Wahrheit . . .“.577 Im Gedanken der materiellen Wahrheit könnte womöglich der spezifische Beitrag des Strafverfahrens zur Bestätigung der Ernsthaftigkeit der Strafandrohung liegen. Der Begriff der materiellen Wahrheit wird zwar selten ausdrücklich definiert. In Deutschland hat man § 244 Abs. 2 StPO im Hinterkopf, der von „Erforschung der Wahrheit“ im Rahmen der „Beweisaufnahme“ spricht. Man kann die materielle Wahrheit definieren als eine sich mit der Wirklichkeit deckende Beschreibung der für die Subsumtion unter eine materiellstrafrechtliche Vorschrift relevanten Tatsachen, also als eine Beschreibung, die sich unabhängig vom Verfahren, insbesondere vom Willen der Parteien bestimmen lässt.578 Materielle Wahrheit ist deshalb Tatsachenwahrheit, ist Wahrheit des Untersatzes des juristischen Syllogismus.579 Will man auf die Wahrheit des Obersatzes Bezug nehmen, 577

Motive, in: Mugdan, Materialien, S. 152. Gusy, StV 2002, S. 155 spricht von einer „materiellen, vorprozessualen Wahrheit“; Volk, Wahrheit, S. 17 betont, dass es bei der materiellen Wahrheit um eine Größe geht, „die als prinzipiell unabhängig vom Verhandlungsgeschick der jeweils Beteiligten erscheint“. Die in jüngerer Zeit im Völkerstrafrecht vertretene Ansicht, das Strafverfahren müsse der Entdeckung der historischen Wahrheit dienen (Werle, Völkerstrafrecht, Rn. 107; Neubacher, NJW 2006, S. 969 [„Dokumentation historischer Fakten“]; Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 12; zu Recht krit. Pastor, FS Volk, S. 541 ff.), besagt etwas anderes als die jetzt zu untersuchende Ansicht, da die historische Wahrheit des Völkerstrafrechts sich nicht in einer subsumtionsrelevanten Wahrheit erschöpfen soll, sondern weitere Zusammenhänge erfassen soll. 579 Deutlich etwa Niese, Prozeßhandlungen, S. 47; Spendel, JuS 1964, S. 466. Hier geht es nur um eine Feststellung eines verbreiteten Sprachgebrauchs, die keine Stellungnahme i. S. der These impliziert, dass nur empirische Sätze wahrheitsfähig sind, und dass im Bereich des Normativen von Wahrheit nicht die Rede sein könne (so z. B. Adomeit, JuS 1972, S. 631 f.; Hoerster, Ethik und Interesse, S. 71 ff.; Hilgendorf, ARSP 92 [1996], S. 397 ff. [insb. S. 407 f.]; Engländer, ARSP 90 [2004], S. 90 ff., insb. 94 f.). Meine Ablehnung derartiger Thesen habe ich anderenorts m.w. Nachw. begründet, Greco, Lebendiges, S. 143 ff. Zur Frage der Wahrheit des Obersatzes Poscher, ARSP 2003, S. 211 ff.; Neumann, Wahrheit im Recht, S. 16 ff.; Sucar, Verdad jurídica, S. 102 ff. Die vom Großen Senat des BGH betriebene Wiederentdeckung der materiellen Wahrheit, womit das dem Revisionsrecht zugrunde liegende sog. Verbot der Rügeverkümmerung aufgegeben worden ist (BGHSt 51, 298 [309 f.]), hat deshalb mit einer völlig anderen Frage zu tun, da es hier nicht um die Subsumtion unter materiellrechtliche Vorschriften geht, sondern um die Einhaltung von Verfahrensregeln (ebenso Schünemann, GA 2008, S. 320; zur Kritik etwa Ziegert, FS Volk, S. 903 f.). 578

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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spricht man üblicherweise von „Gerechtigkeit“. Es erscheint begrifflich sauberer, die materielle Wahrheit als Ziel der Ermittlungen von der Frage zu trennen, in wessen Verantwortung die Erreichung dieses Ziels steht. Der Gedanke der materiellen Wahrheit ist deshalb nicht gleichbedeutend mit dem in Deutschland ebenfalls § 244 Abs. 2 StPO zu entnehmenden Untersuchungs- bzw. Amtsermittlungsgrundsatz.580 Zwar wird diese Zweckbestimmung selten als alleinige, das Verfahren rechtfertigende Überlegung angeführt. Häufiger ist die Behauptung, das Verfahren diene der Verwirklichung von Wahrheit und Gerechtigkeit, womit man sich unten VI. 2. (S. 236 ff.) näher befassen wird. Dennoch findet man Konzepte, die das Verfahren in erster Linie unter Bezugnahme auf die materielle Wahrheit deuten wollen. So nannte der BGH die Findung der Wahrheit „oberstes Ziel des Strafverfahrens“,581 und das BVerfG bezeichnet in mehreren Entscheidungen die Ermittlung des wahren Sachverhalts als „zentrales Anliegen des Strafprozesses“.582 Heute behauptet Schünemann: „Die Tauglichkeit zur Auffindung der materiellen Wahrheit bildet also nach wie vor den archimedischen Punkt für jede Konstruktion des Strafverfahrens, während alle anderen Zwecke entweder daraus abgelei-

580 Vorbildhaft Zachariä, Gebrechen, S. 40: „Untersuchungsprinzip und Erforschung materieller Wahrheit verhält sich zu einander blos wie Mittel zum Zweck, ohne daß es das einzige und ausschließliche Mittel genannt werden könnte“; S. 41: „Offenbar gehört die Identifizierung des Inquisitions-Prinzips und des Prinzips der materiellen Wahrheit zu den verbreitetesten, aber auch zu den schädlichsten Irrthümern der neueren Zeit“; ebenso Leue, Anklage-Prozeß, S. 21; Mittermaier, Mündlichkeit, S. 282; Temme, ZdStV 4 (1847), S. 91, 95, 107; Ortloff, AöR 1897, S. 86; Binding, Strafprozeßprinzipien, S. 173 f. Fn. 11, 190 f.; heute Hauer, Geständnis, S. 239. And. aber Eb. Schmidt, FS Siber, S. 13; Spendel, JuS 1964, S. 466, der von einer „Verfahrensmaxime, das Prinzip der ,materiellen Wahrheit‘, auch Untersuchungsgrundsatz genannt“ und später vom „Verhandlungsgrundsatz oder Prinzip der ,formellen‘ Wahrheit“ (S. 467) spricht; Figueiredo Dias, Direito processual penal, S. 148; I. Müller, KritJ 1977, S. 25; ders. Rechtsstaat und Strafverfahren, S. 66; Alwart, GA 1992, S. 564 Fn. 75; Pfeiffer/Hanich, KK-StPO 6. Aufl. Einl Rn. 7; ebenso die französische Literatur, vgl. Vitu, Das französische Strafverfahren, S. 23. Etwas besser Nijboer, Materielle Wahrheit, S. 30 ff., der zwei Bedeutungen von materieller Wahrheit unterscheidet. 581 BGHSt 9, 280. Interessanterweise hebt die Entscheidung das Urteil des Tatgerichts deshalb auf, weil man die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung nicht schon wegen der Erwartung, die Wahrheitsfindung werde dadurch erleichtert, ausschließen dürfe (S. 281). Dem Prinzip der Öffentlichkeit wird also eine vom Prinzip der materiellen Wahrheit unabhängige und gleichrangige Bedeutung zugesprochen. 582 BVerfGE 57, 250 (275); 63, 45 (61); 100, 313 (389); 122, 248 (270); ferner 32, 373 (381); 33, 367 (383); BVerfG NJW 1984, 1451; von einem „legitimen Anspruch der Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat“ sprechen BVerfGE 20, 45, 49; 20, 144, 147; ähnl. 36, 174, 186; 47, 239, 247 f. Wie ernst diese Bemerkungen des Bundesverfassungsgerichts zu nehmen sind, ist eine andere Frage, denn die Kammerentscheidung BVerfG NStZ 1987, 419, in der es hieß, „dem Ziel, die materielle Wahrheit zu erforschen“ seien „Gericht und Staatsanwaltschaft gleichermaßen verpflichtet“, war gerade eine der ersten höchstrichterlichen Stellungnahmen im Sinne der Zulässigkeit von Prozessabsprachen.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

tet werden oder lediglich zur Verhütung schädlicher Nebenfolgen ergänzend hinzutreten“.583 Das Gebot der materiellen Wahrheit wird häufig als Folge des Rechtsstaatsprinzips584 angesehen, andere wiederum verstehen es als Folge des Schuldprinzips.585 Schünemann leitet es aus dem Rechtsgüterschutzprinzip ab.586 b) Gegen dieses Konzept sind – insbesondere, aber nicht nur in den letzten 30 Jahren – unterschiedliche Einwände laut geworden, die aber selten die materielle Wahrheit in ihrem Kern treffen können. aa) Sehr verbreitet ist ein sich auf einer philosophischen Ebene bewegender Einwand, nach dem die Idee der materiellen Wahrheit erkenntnistheoretisch oder ontologisch naiv sei.587 Die materielle Wahrheit beruhe auf der fragwürdigen Korrespondenztheorie der Wahrheit, die voraussetze, dass es Realitäten gebe, die vom erkennenden Subjekt völlig unabhängig seien. Damit bleibe man einer überholten Dichotomie zwischen Subjekt und Objekt verhaftet und verkenne, dass Erkenntnis immer aus dem Zusammenspiel dieser Pole zustande komme. Statt der dem Gedanken der materiellen Wahrheit zugrunde liegenden, philosophisch verdächtigen Korrespondenztheorie der Wahrheit anzuhängen, müsse man einsehen, dass Wahrheit nur konstruktivistisch oder prozessual verstanden werden könne. Das Strafverfahren interessiere sich nicht für eine materielle Wahrheit, sondern bloß für die seinen Regeln entsprechend hergestellte, deshalb prozessuale Wahrheit.588 Dies sei insbesondere, aber nicht nur, bei mentalen Zuständen 583 Schünemann, FS Fezer, S. 559; s. a. ders. FS Geppert, S. 652: „alleinige Legitimationsgrundlage des Strafverfahrens“; ders. GA 2008, S. 319. Andere Akzente bei Schünemann, FS Strauda, S. 830; ders. Rechtsstaat, S. 55 f., wo die Fairness gegenüber dem Beschuldigten und seine Stellung als Prozesssubjekt als „weitere Anforderungen“ „neben“ die materielle Wahrheit platziert werden. Völlig anders früher ders. FS Pfeiffer, insb. S. 474 ff. (materielle Wahrheit als „Chimäre“, S. 481). 584 Kühne, LR-StPO Einl H Rn. 23; Stamp, Wahrheit, S. 25 f.; BVerfGE 36, 174 (186); 57, 250 (275); 63, 45 (61); ähnl. Volk, Wahrheit, S. 17. 585 Zachariä, Gebrechen, S. 26 f., 40 f.; Sax, Grundrechte, S. 990 f.; Kühne, LRStPO Einl H Rn. 23; Radtke, Konzeptionen, S. 133; Frisch, NStZ 2013, S. 250; Eisenberg, Beweisrecht Rn. 2; ähnl. P.-A. Albrecht, NStZ 1983, S. 487 (Gerechtigkeit); nach Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 62 „Korrelat sowohl des materiellen Schuldprinzips als auch der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs“; nach Weigend, HJLPP 26 (2003), S. 157 f. Folge des Rechtsfriedens und des Schuldprinzips. Aus der Rspr. BVerfGE 57, 250 (275, 287); 63, 45 (61); 122, 248, 270; BVerfG NStZ 1987, 419. 586 Schünemann, FS Fezer, S. 558 f.; ders. Struktur des Strafverfahrens, S. 830. 587 Paulus, FS Spendel, S. 690 ff.; Grasnick, 140 Jahre GA, S. 66 ff.; Herdegen, JZ 1998, S. 54; Volk, FS Salger, s. 413 ff.; Lesch, ZStW 111 (1999), S. 625; ders. FS Volk, S. 313 f.; wohl auch Radtke, FS Schreiber, S. 379. Aus kriminalsoziologischer Perspektive Boy/Lautmann, Kommunikationssituation, S. 42 ff.; Mikinovic/Stangl, Strafprozess und Herrschaft, S. 26 ff. 588 Paulus, FS Spendel, S. 697; auch ders. GS K. Meyer, S. 316; ders. FS U. Weber, S. 503; ders. FS Würzburger Juristenfakultät, S. 707 f. Im Sinne einer prozessualen (bzw. gerichtlichen, forensischen und dergl.) Wahrheit auch Rödig, Erkenntnisverfahren, S. 151 ff., der die prozessuale Wahrheit als Funktion einer Interessensabwägung begreift; Gallandi, NStZ 1987, S. 420; Hassemer, Rolle des Verteidigers, S. 143; ders.

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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unbestreitbar: einen Willen, einen Vorsatz, einen Beweggrund gebe es schlichtweg nicht. Vielmehr seien sie sämtlich Produkte von Zuschreibungen.589 Die Wahrheit von Dispositionsprädikaten und normativen Begriffen könne nur durch standardisierte Verfahren bestimmt werden, so dass bei ihnen zwischen materieller und formeller Wahrheit kein Unterschied existiere.590 Lassen wir noch drei prominente Kritiker zu Wort kommen. Schon im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts klagte Bendix, die Vorstellung, dass „der Strafprozeß zum Ziele habe, die materielle Wahrheit zu erforschen, und das Gericht die Aufgabe und die Fähigkeit habe, den Tatbestand ,objektiv‘ festzustellen“, stehe in „Kontinuität . . . mit den mittelalterlichen Überlieferungen“ und sei als „unzulässige Übertragung naturwissenschaftlicher Begriffe auf das geschichtliche Leben“ „mit den Ergebnissen der modernen Wissenschaftstheorie nicht in Einklang zu bringen“.591 Heute spricht Grasnick von einer „Handlungstheorie der Wahrheit“, die er auf folgende Weise beschreibt: „Die Wahrheit ist ein Objekt des Handels.

Einführung, S. 153; ders. KritV 1990, S. 270; ders. FS StA Schleswig-Holstein, S. 534; ders. FS Volk, S. 215 (wohl anders inzw. ders. Prozeduralisierung, S. 11); Ferrajoli, Diritto e ragione, S. 17 f., 18 ff.; Ubertis, Verità giudiziale, S. 45 ff.; ders. Sistema, S. 56 f.; Fraser, BuffCLR 3 (2000), S. 817 (mit einem kulturrelativistischen Argument); Duttge, ZStW 115 (2003), S. 544; Weigend, HJLPP 26 (2003), S. 170 ff.; Muñoz Conde, Verdad, S. 112; Schilling, Illegale Beweise, S. 129 f.; Matravers, Jury Nullification, S. 77 ff.; Prado, Sistema acusatório, S. 35; Callari, Firmitas, S. 263; Fabbri/Guéry, RSC 2009, S. 350 ff.; Rivello, RitDPP 2010, S. 1255 ff.; Sampaio, Verdade, S. 163 ff.; Pacelli, Processo Penal, S. 10, 333. Konstruktivistische Ansätze auch bei Marxen, Straftatsystem, S. 345, der den Prozess sogar als Existenzbedingung der Straftat ansieht; Ransiek, Rechte des Beschuldigten, S. 79 ff.; Neves Batista, Verdade real, S. 203 ff.; nahestehend auch Jackson, CardLR 10 (1988), S. 513 ff.; Uberti, Verità giudiziale, S. 89; Lesch (o. Fn. 507); Wolfslast, NStZ 1990, S. 414 Fn. 87; Dershowitz, Reasonable Doubts, S. 35 ff.; wohl auch Kröpil, JZ 1998, S. 136; H. Jung, Truth, S. 148, 155 f.; Arzt, FS Volk, S. 32; Barros, Busca da verdade S. 42; Jahn, FS Kirchhof, S. 1394. Tendenziell auch die Aufsätze in Garofoli/Incampo (Hrsg.), Verità e processo penale. 589 Hruschka, FS Kleinknecht, S. 200 f.; Grasnick, Sprache, 269 ff. (bzgl. der Schuld); ders. JZ 1991, 287 ff., 293 ff.; ders. 140 Jahre GA, S. 62; ders. FS MeyerGoßner, S. 213 ff.; Lüderssen, StV 1990, S. 418 Fn. 24; Hassemer, GS Armin Kaufmann, S. 304; wohl auch Krauß, Prozeßdogmatik, S. 6. 590 Volk, FS Salger, S. 214. 591 Bendix, JW 1920, S. 268 (m.w. N. zu eigenen Publikationen in Fn. 3); ders. GA 1917, S. 38 ff.; ders. MSchrKrimPsych 1934, S. 230, wo den „Verfassern der Strafprozeßordnung“ „erkenntnistheoretische Unbildung“ und ein „naiver Begriffsrealismus“ attestiert werden. Siehe auch ders. RuW 7 (1918), S. 185: „Wie etwa jeder Chemiker im Urin durch die bekannten chemischen Operationen Zucker feststellt und feststellen muß, so jeder Richter – das ist die Meinung, die der Ausdrucksweise des § 266 StPO zugrunde liegt – in gleicher Weise durch logische Operationen im Tatsachenstoff die gesetzlichen Merkmale.“ Nebenbei bemerkt: Bendix dürfte zu den „modernsten“ Prozessrechtlern der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts gehören (was nur eine Feststellung und kein Lob ist); aus seinem Konstruktivismus und aus der Unmöglichkeit, Sachverhalte mit völliger Gewissheit zu ermitteln, leitete er sogar den prophetischen „Gedanken eines strafrechtlichen Vergleichs zwischen Anklagebehörde und Verteidigung ab“ (GA 1917, S. 45); zu ihm auch Stübinger, Das idealisierte Strafrecht, S. 561 ff.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

Besser, weil angemessener: des Handelns. Sie wird ausgehandelt.“ 592 Wahrheit werde weder erforscht noch gefunden, sondern hergestellt.593 Eine äußere Wirklichkeit, die von der Sprache völlig unabhängig sei, gebe es nicht.594 Ähnlich behauptet Volk, man könne die Wirklichkeit nicht von unseren Deutungen trennen, denn Wirklichkeit weise bereits eine narrative Struktur auf.595 bb) Indes ist von diesen Behauptungen nicht viel zu halten. Sie vermögen zwar wegen pointierter Formulierungen oder einiger Zitate angesehener Philosophen zu beeindrucken, und passen gut zum angeblichen „postmodernen“ Zeitgeist. Ihr inhaltliches Angebot bleibt dennoch dürftig. (1) Erstens sind sie nicht einmal auf dem von ihnen ausgesuchten Schlachtfeld der Philosophie siegreich. Dass nur die Überwindung des Subjekt-Objekt Schemas, ein Konstruktivismus oder Postmodernismus philosophisch respektabel seien, dass die Korrespondenztheorie in der Philosophie überholt sei, sind bloße Behauptungen, die sowohl den Reichtum an heutzutage vertretenen philosophischen Positionen596 als auch die immer noch gehobene Rolle der Korrespondenztheorie597 ignorieren. Vielmehr dürfte es eher der Fall sein, dass diese zu Recht als „veriphobisch“ bezeichneten598 konstruktivistischen Positionen eher unter Soziologen und Literaturwissenschaftlern als unter Philosophen Widerhall finden. Zu den prominentesten Neuauflagen der Korrespondenztheorie gehört die sog. semantische Wahrheitstheorie Tarskis.599 Beliebt ist auch die Betonung, die 592 Grasnick, 140 Jahre GA, S. 67. Einige Seiten weiter spricht er von einer „dynamischen Wahrheitstheorie“ (S. 70). 593 Grasnick, GA 1990, S. 485; ders. 140 Jahre GA, S. 69. Zwar heißt es anschließend, die Redeweise der Herstellung von Wahrheit sei nur eine „nützliche Metapher“, und dass Wahrheit weder festgestellt, noch hergestellt werden kann (140 Jahre GA, S. 70 f.). Dem Leser überlasse ich die Beurteilung, ob man diesen Gedankengang verstehen kann. 594 Grasnick, 140 Jahre GA, S. 71 f.; auch ders. FS Meyer-Goßner, S. 216, 221; ders. GA 1990, S. 486 Fn. 14 („Mythos des Gegebenen“). 595 Volk, FS Salger, S. 413 f. „Wenn nämlich jene Korrespondenztheorie für die Wahrheit verlangt, daß die Aussage mit der ,Wirklichkeit‘ übereinstimmt, nimmt sie auf eine konstruierte Wirklichkeit Bezug“ (S. 415). Ähnl. Hassemer, KritV 1990, S. 269. 596 Nachw. zu den Konkurrentinnen der Korrespondenztheorie bei Puntel, Wahrheitstheorien, S. 70 ff., 142 ff., 172 ff.; Gloy, Wahrheitstheorien, S. 76 ff.; Hilgendorf, GA 1993, S. 551 ff.; Poscher, ARSP 2003, S. 204 ff. 597 Zu dieser Theorie und ihren verschiedenen Spielarten Puntel, Wahrheitstheorien, S. 26 ff.; Gloy, Wahrheitstheorien, S. 92 ff.; Stübinger, Das idealisierte Strafrecht, S. 460 ff. Nach der Einschätzung von Hilgendorf, GA 1993, S. 549 ist die Korrespondenztheorie „in der Philosophie nach wie vor herrschend“; dort auch Nachw. aus der Philosophiegeschichte von Aristoteles bis Russel und Popper (S. 549 f.). Abw. Einschätzung bei Poscher, ARSP 2003, S. 205 f. 598 Bezeichnung von Goldman, Knowledge, S. 7; überzeugend gegen derartige Positionen Boghossian, Fear of Knowledge, S. 10 ff. 599 Grdl. Tarski, Studia Philosophica 1 (1935), S. 267 ff.; zust. Popper, Truth, S. 223 ff.; ders. Objektive Erkenntnis, S. VII, 44 ff.; dem folgend aus juristischer Sicht

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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Wahrheit als Korrespondenz könne weiterhin als regulative Idee verstanden werden.600 Die von den Kritikern mit der Autorität eines philosophischen Dogmas versehene konstruktivistische Position ist also aus der Perspektive der Philosophie nur eine Ansicht unter vielen anderen. Die selektive Ausblendung von Gegenpositionen legt den Verdacht eines philosophischen Dilettantismus nahe. (2) Aber selbst wenn dies anders wäre, selbst wenn die Berufung auf philosophische Autoritäten berechtigt wäre, würde daraus nicht folgen, dass dies das Ende der materiellen Wahrheit sein müsste. Denn rechtliche Theorien müssen nicht von der Beschreibung der Welt ausgehen, die von der Philosophie oder von einer anderen Wissenschaft für zutreffend erachtetet wird, sondern vielmehr vom Alltagsverständnis.601 Das Alltagsverständnis ist aber durch und durch realistisch602 und versteht Wahrheit als Korrespondenz von Tatsachen und Aussagen.603 Viele alltäglich ohne Weiteres einleuchtenden Beschreibungen wären unsinnig, wenn man diesen Realismus aufgeben würde. Man dürfte nicht von der Ferrajoli, Diritto e ragione, S. 21 ff.; Taruffo, Verità, S. 81. Hierzu auch Puntel, Wahrheitstheorien, S. 41 ff.; Gloy, Wahrheitstheorien, S. 145 ff. 600 Popper, Truth, S. 226; aus juristischer Sicht Ferrua, Il ,giusto processo‘, S. 72; Callari, Firmitas, S. 262. 601 Grdl. Engisch, Weltbild, S. 15; dem folgend Greco, Lebendiges, S. 367 ff. („alltäglicher Realismus“). Auch Paulus, FS Spendel, S. 704 will seine „prozessuale“ und deshalb nicht materielle Wahrheit an die Maßstäbe des sozialen Lebens binden. Weshalb diese Wahrheit eine bloß prozessuale bleiben soll, ist nicht mehr ersichtlich. 602 Wobei unter „Realismus“ hier die ontologische These verstanden werden soll, nach der die in den für wahr gehaltenen Sätzen auftretenden Seienden wirklich existieren (zu den vielen möglichen ebenfalls mit diesem Wort verknüpften Bedeutungen HWBdP Bd. 8, Stichwort: Realismus, S. 147 ff.). Für eine solche These etwa Gössel, Ermittlung, S. 12 f.; ders. FS Meyer-Goßner, S. 199 f.; Duttge, ZStW 115 (2003), S. 544; Taruffo, Verità, S. 78. 603 Genauso Engisch, Wahrheit und Richtigkeit, S. 5 f.; Volk, Wahrheit, S. 7; Weigend, Deliktsopfer, S. 182 Fn. 33; Amelung, Informationsbeherrschungsrechte, S. 16 f.; Stamp, Wahrheit, S. 42 f., 49; Hörnle, Rechtstheorie 2004, S. 184: Korrespondenztheorie als „integraler Bestandteil unserer geteilten Lebenswelt“; Schünemann, FS Fezer, S. 559: die Korrespondenztheorie der Wahrheit entspreche „exakt der in der Umgangssprache erfolgenden gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“; für die Korrespondenztheorie mindestens im Erg. auch Jarke, NArchCrimR 8 (1826), S. 98; Mittermaier, Lehre vom Beweise, S. 64; Leue, Anklage-Prozeß, S. 133; Binding, Strafprozeßprinzipien, S. 189: materielle Wahrheit als „volle Übereinstimmung des Bildes mit dem wirklichen Verlauf“; Spendel, JuS 1964, S. 465; Meurer, FS Tröndle, S. 547; Hilgendorf, GA 1993, S. 549, 554; Ferrajoli, Diritto e ragione, S. 21 ff.; Gössel, Ermittlung, S. 13 f.; Guzmán, Verdad, S. 63 ff.; Rieß, JR 2006, S. 273 Fn. 32; Trüg, ZStW 120 (2008), S. 334; Taruffo, Verità, S. 78; Callari, Revisione, S. 3; Fischer, FS Kühne, S. 207; wohl auch Feuerbach, Geschwornen-Gericht, S. 135, und Carrara, Programa, § 900, wenn auch etwas schief ausgedrückt, nämlich dass die Wahrheit „in der Sache“ (so Feuerbach) bzw. „in den Tatsachen“ (so Carrara) liege; Nachw. weiterer Vertreter der Korrespondenztheorie unter Juristen bei Paulus, FS Spendel, S. 688 Fn. 7, 8. Nahestehend Weßlau, Konsensprinzip, S. 22 f., trotz ihrer 150 S. später erfolgenden Ablehnung der Korrespondenztheorie zugunsten einer „Intersubjektivitätstheorie der Wahrheit“, S. 159 ff.; Käßer, Wahrheitserforschung, S. 9 ff.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

Entdeckung eines bisher unbekannten Planeten sprechen, sondern von dessen Schöpfung durch Astronomen. Man könnte kaum sinnvoll Erkenntnis und begründeten Irrtum voneinander unterscheiden. Die Vorstellung, dass ein Unschuldiger trotz eines formgerecht durchgeführten Strafverfahrens irrtümlich verurteilt werden kann, die anerkannte und unabweisbare Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten beim Bekanntwerden neuer Tatsachen oder Beweismittel604 sind ohne eine realistische und korrespondenztheoretische Grundeinstellung um Einiges schwerer zu erklären.605 Nicht einmal eine Kritik an der („positiven“) gesetzlichen Beweistheorie, die besagt, dass der Geständige schuldig ist, ebenso derjenige, gegen den zwei Augenzeugen aussagen, erscheint ohne den Gedanken einer unabhängig von unserer Erkenntnis bestehenden Wirklichkeit artikulierbar.606 Dieser Realismus der Alltagsanschauung erfährt nicht einmal bei mentalen Zuständen wie beim Vorsatz, bei Absichten, Motiven und Gesinnungen eine Einschränkung.607 cc) Weitere philosophisch inspirierte Einwände sind ebenfalls sehr dürftig. So wird der materiellen Wahrheit entgegengehalten, eine „absolute“, im Sinne einer völlig gewissen Wahrheit sei menschlich nicht erreichbar.608 Dies bestreitet aber kaum einer.609 Es ist selbstverständlich, dass ein göttlicher Maßstab für die von Menschen betriebene Strafjustiz unangemessen ist;610 es geschieht deshalb nie604

Näher u. Teil 2 Kap. 6 C. II. 3. b) (S. 924 ff.). Ähnl. L. Schulz, GA 2001, S. 235; näher Gössel, Ermittlung, S. 16 ff.; ders. FS Meyer-Goßner, S. 201; Hauer, Geständnis, S. 208. Man lese auch die aussagekräftigen Passagen, die aus der Feder des Konstruktivisten Bendix stamen: Der Angeklagte habe „einen anzuerkennenden Anspruch darauf, daß selbst die moralische und soziale Verwerflichkeit seines Tuns nicht der Wahrheit zuwider strafrechtlich umgedeutet wird, und so die Verletzung des Strafgesetzes aus letzten Endes rechtspolitischen Gründen durch Feststellung unrichtiger Tatsachen konstruiert wird“ (GA 1917, S. 36; kursiv im Original). Bendix behauptet unmittelbar danach, dass die tatsächlichen Feststellungen so gut wie immer Konstruktionen seien (S. 36), aber auch, dass sie niemals ein „verzerrtes Abbild des wahren Sachverhaltes“ sein dürften (S. 37). Auch ein Konstruktivist spürt das Bedürfnis, richtige und unrichtige Konstruktion voneinander zu unterscheiden. Seine Theorie gestattet dies ihm aber nicht und ist gerade auch deshalb als schlechte Theorie anzusehen. 606 Siehe bereits Leue, Anklage-Prozeß, S. 131 ff., der aus der Warte der materiellen Wahrheit seinen Angriff gegen „das Unding der Beweismessung“ vollzieht. Ob so eine Theorie dem damals geltenden Recht zugrunde lag (näher ebda., S. 155 ff.), ist eine Frage, von der die Richtigkeit des oben formulierten begrifflichen Arguments nicht abhängt. 607 Entgegen Neumann, Funktionale Wahrheit, S. 78, der hier eine Konzession macht. Engisch, Wahrheit und Richtigkeit, S. 23 Fn. 7 nennt die Ansicht zu Recht „merkwürdig“. 608 Etwa Stackelberg, GS Cüppers, S. 128 f.; I. Müller, Leviathan, S. 531 f.; Freund, Tatsachenfeststellung, S. 1 Fn. 2, S. 12 Fn. 1; Paulus, FS Spendel, S. 690 ff.; ders. FS Würzburger Juristenfakultät, S. 696 f.; Nobles/Schiff, Criminal Trial, S. 246; Jahn, FS Kirchhof, S. 1398. 609 Nachw. bei Stamp, Wahrheit, S. 55 Fn. 182. 610 Ebenso Gössel, ZStW 94 (1982), S. 20; Neumann, Funktionale Wahrheit, S. 75; Gaede, Fairness, S. 377 m.w. Nachw.; Grünewald, ZStW 120 (2008), S. 556 f.; Taruffo, 605

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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mandem Unrecht, wenn er von Menschen nach menschlichen und nicht nach göttlichen Maßstäben abgeurteilt wird (s. bereits o. 2. [S. 165]). Die menschliche Unvollkommenheit ist eher ein Grund, vorsichtig vorzugehen, als von vornherein auf das Ziel zu verzichten.611 Nicht nur Ziele, die sich mit endgültiger Gewissheit erreichen lassen, sind rational verfolgbar.612 Der Hinweis auf die menschliche Unvollkommenheit hat einen anderen Sinn als den Verzicht auf die materielle Wahrheit. Weil nur der in Wahrheit Schuldige verurteilt werden darf, man aber keine Verurteilung auf absolut sicheres Wissen gründen kann,613 sondern auf die Überzeugung des Gerichts (so § 261 StPO) bzw. auf eine „proof beyond a reasonable doubt“,614 muss das Prozessrecht zwei Folgerungen ziehen: erstens und prospektiv, dass es kein Recht auf ein völlig fehlersicheres Verfahren geben kann; zweitens und retrospektiv, dass es dennoch Wege zur Korrektur möglicherweise eintretender Fehler geben muss. Dazu gleich mehr (u. S. 183 ff.). dd) Eine eingehende Widerlegung anderer offensichtlich zweifelhafter Einwände erscheint nicht nötig.615 Es bleibt festzuhalten, dass die sozial-konstruktiVerità, S. 82. Es kommt also nicht darauf an, dass ansonsten eine funktionierende Strafrechtspflege nicht zu erhalten wäre (so aber Freund, Tatsachenfeststellung, S. 6; Erb, FS Rieß, S. 77 f.; und bereits Bendix, MSchrKrimPsych 1934, S. 234), sondern darauf, dass für eine menschliche Strafrechtspflege auch menschliche und nicht göttliche Maßstäbe gelten müssen. 611 Schünemann, FS Fezer, S. 559. 612 Schlüchter, Wert der Form, S. 214; Gössel, FS Meyer-Goßner, S. 199; Weßlau, Konsensprinzip, S. 24; P.-A. Albrecht, NStZ 1983, S. 487; Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 164 („Richtmaßfunktion der Wahrheit“); Rönnau, Absprache, S. 60; Stamp, Wahrheit, S. 157; Hauer, Geständnis, S. 222; auch Vertreter der prozessualen Wahrheit (Nachw. o. S. 170 f.) räumen das ein, insb. Hassemer, FS Volk, S. 215; aus allgemeiner Perspektive Greco, Lebendiges, S. 373 f. 613 RGSt 61, 202 (206): „Ein ,absolut sicheres‘ Wissen . . . ist der menschlichen Erkenntnis bei ihrer Unvollkommenheit überhaupt verschlossen“; die letztlich nie mit völliger Sicherheit ausschließbare theoretische Möglichkeit eines Irrtums sei irrelevant. Ebenso RGSt 66, 163 (164 f.); 75, 324 (326 f.); BGHSt 10, 206 (211); 41, 206 (214); BGH NJW 1951, 83: für die richterliche Überzeugungsbildung ist „nur das Schweigen der Zweifel eines besonnenen, gewissenhaften und lebenserfahrenen Beurteilers, nicht aber auch eine von niemand anzweifelbare absolute Gewißheit“ erforderlich; NJW 1951, 122; GA 1954, 152; NJW 1988, 3273; w.Nachw.b. Meurer, FS Tröndle, S. 536 Fn. 12; Paulus, FS Spendel, S. 690 Fn. 16. 614 Für den proof beyond a reasonable doubt grdl. aus der englischen Rspr. House of Lords, Woolmington v. DPP (1935) AC 462, (1935) 1 (7 f.); s. a. ModelPenC, Section 1.12 (1); in Italien sogar gesetzlich vorgeschrieben, Art. 533 Abs. 1 S. 1 itStPO; aus amerikanischer Sicht United States v. Regan, 232 U.S. 37 (1914); Zalman, Criminal Procedure, S. 497 f.; ausf. A. Stein, Foundations, S. 173 ff.; rechtsgeschichtlich Whitman, Reasonable Doubt, S. 192 und passim. Im Sinne der substantiellen Gleichheit beider im Text genannten Maßstäbe Eser, IsLR 31 (1997), S. 430; abl. Fraser, BuffCLR 3 (2000), S. 816. 615 Kleine Auswahl: Die Korrespondenztheorie lasse den Richter oder Staatsanwalt, der sie anwenden wolle, „im Stich“. „Sie sagt ihnen ja bestenfalls, wann eine Aussage

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1. Teil: Strafprozesstheorie

vistische Kritik also weder philosophisch zwingend ist, noch sich mit dem Alltagsverständnis, das für die rechtliche Betrachtung maßgeblich ist, verträgt. Eine andere beliebte Art, gegen die materielle Wahrheit anzutreten, ist rechtsethisch begründet. Sie beruht darauf, dass man die materielle Wahrheit für die Sünden ihrer angeblichen Töchter verantwortlich macht: Insbesondere Ingo Müller meint, „der vorgeblich hohe Wert der ,materiellen Wahrheit‘ legitimiert, so gering ihn auch die Justiz als Leitlinie eigener Tätigkeit schätzt, noch jede Beseitigung individueller Rechte im Strafverfahren und degradiert den Beschuldigten so zum Objekt staatlicher Verbrechensverfolgung“.616 Volk behauptet: „Wenn man

wahr ist, aber nicht, wie man denn die Wahrheit ,herausbekommt‘, noch viel weniger, wie man sie herstellt, unterstellt, es liefe gerade darauf hinaus“ (Grasnick, 140 Jahre GA, S. 66). Damit wird die schlichte Selbstverständlichkeit behauptet, dass es beim Wahrheitsbegriff nicht um ein Wahrheitskriterium geht. Die ganze Wahrheit oder Wahrheit an sich bliebe uns Menschen immer verborgen (Peters, FS Gmür, S. 316; Callari, Firmitas, S. 258; ähnl. Montero Aroca, Proceso Penal y Libertad, S. 434: Käme es in der Tat auf die materielle Wahrheit an, wäre es erforderlich, in der Hauptverhandlung den wirklichen Täter aufzudecken; Hassemer, FS Volk, S. 215); es gebe also mehrere Wahrheiten, je nachdem, aus welcher Perspektive das Urteil gefällt werde (Volk, FS Salger, 1995, S. 418; Theile, NStZ 2012, S. 667; ähnl. Krauß, FS Schaffstein, S. 423 ff.). Es geht aber weder um die Ermittlung der „ganzen Wahrheit“ bzw. „des Wahren an sich“ noch um die „eine“ oder „andere“ Wahrheit, was diese Wendungen immer auch bedeuten sollen, sondern um die Feststellung des wahren Entscheidungssachverhalts, also der Tatsachen, die eine Subsumtion unter die einschlägige materiellrechtliche Norm gestatten (treffend Weigend, Deliktsopfer, S. 134; Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 17, 23; Neumann, Funktionale Wahrheit, S. 76; Stamp, Wahrheit, S. 126 f.; Weßlau, Konsensprinzip, S. 21 [„triviale Aussage“]; Hörnle, Rechtstheorie 2004, S. 177; Rieß, JR 2006, S. 273; Schünemann, FS Fezer, S. 560; wohl auch Fabbri/Guéry, RSC 2009, S. 344): etwa ob der Beschuldigte die fremde Uhr in die eigene Jackentasche gesteckt habe, um sie für sich zu behalten, und hiermit eine fremde bewegliche Sache in Zueignungsabsicht weggenommen habe. Die moderne Mikrophysik habe die Unhaltbarkeit einer subjektunabhängigen Wahrheit erwiesen (etwa Achutti, Oñati Socio-Legal Series 1/2 [2011], S. 10; wohl auch Kargl, Handlung, S. 27 ff.). Strafverfahren haben aber so gut wie niemals mit dem Verhalten subatomarer Partikel zu tun, sondern mit dem Verhalten von Menschen (nur teilw. zutreffende Gegenkritik bei Gössel, Ermittlung, S. 10 f.). 616 I. Müller, Leviathan 1977, S. 523 ff., 533 (Zitat); ebenso ders. KritJ 1977, etwa S. 25 f.: „Dieses Prinzip ist stets dazu verwandt worden, Rechte des Beschuldigten zurückzudrängen“; ders. Rechtsstaat und Strafverfahren, S. 75 ff., 175 ff., 220; ähnl. Riehle, KritJ 1980, S. 317; Prittwitz, StV 1984, S. 305; Vormbaum, Lex Emminger, S. 174, 176, 179 f.; Honert, ZStW 106 (1994), S. 445; Braum, KritV 1995, S. 374 f.; Sampaio, Verdade, S. 172 ff.; Streck, RT 921 (2012), S. 385; tendenziell auch Strate, Beweisverbote, S. 14 f. und Jahn, 67. DJT S. C25. Diese zwei Aufsätze von Müller haben weniger Beachtung gefunden als sie an sich verdient hätten. Dies dürfte teilweise auch daran gelegen haben, dass Müller sich an vielen Stellen tendenziös zusammengestellter Zitate bedient. Beispiel: Sax kritisierte die Eingriffsmöglichkeiten des § 81a StPO, insofern sie weiter reichen als die des § 81c StPO, als „Hintansetzen der Menschenwürde des Beschuldigten zugunsten des Interesses der Allgemeinheit an der Wahrheitsfindung“. Müller zitiert diese Stelle in einer mit dem Wissenschaftsethos kaum zu vereinbarenden Weise, nämlich um zu belegen, dass in der „heutigen Prozeßliteratur“ die „Forderung nach ,Hintansetzen . . .‘“ gestellt werde (KritJ 1977, S. 27)! Krit. zu

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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glaubt, daß es die materielle Wahrheit ,gibt‘ und daß man sie nur ,finden‘ müsse, dann erscheinen rechtstaatliche Regeln als Kosten (Wahrheit ,nicht um jeden Preis‘), als Begrenzungen, Beeinträchtigungen, die man mit Rücksicht auf andere Interessen hinzunehmen hat – leider, was die eigentlich erreichbare Wahrheit betrifft.“ 617 In Ländern, in denen der Prozess traditionell akkusatorisch ausgerichtet ist oder die in jüngerer Zeit ihre Prozessreformen unter der Flagge der Hinwendung zum akkusatorischen Prozesssystem durchführt haben, wird die materielle Wahrheit als theoretische Rechtfertigung des zu überwindenden inquisitorischen Systems bekämpft. Bezeichnend schreibt Thaman: „In den faschistischen, kommunistischen oder sonst autoritären Diktaturen jener Zeit war das Volk ständig der Gefahr von Razzien, Spitzeln und Folter ausgesetzt. In der Strafrechtspflege thronte das Prinzip der materiellen Wahrheit“.618 Man könnte auch daran erinnern, dass § 244 Abs. 2 StPO eine Schöpfung der nationalsozialistischen Zeit ist;619 und es ist nicht zu leugnen, dass sich die Bewegung im Sinne der „Prozesserneuerung“ der 30er Jahre besonders gerne auf die materielle Wahrheit berief.620

Müller Sellert, FS Scupin, S. 181 („tendenziös“); Stamp, Wahrheit, S. 210 („SchwarzWeiß-Malerei“); ferner Schlüchter, Wert der Form, S. 215 Fn. 86, mit einem keineswegs ausreichenden Hinweis auf die Initiativrechte des Beschuldigten. 617 Volk, FS Salger, S. 417. 618 Thaman, FS Eser, S. 1052. Für Italien Ferrajoli, Diritto e ragione, S. 17; Marx/ Grilli, GA 1990, S. 496; Ubertis, Verità giudiziale, S. 88; Parlato, ZIS 2012, S. 513; für Brasilien Sampaio, Verdade, S. 172 ff.; Pacelli, Processo penal, S. 332 ff.; Streck, RT 921 (2012), S. 385; für Japan Kato, JFL Aichi Univ. 153 (2000), S. 14, 22 f.; Japan wandte sich zwar formell nach dem 2. Weltkrieg dem akkusatorischen Verfahren amerikanischer Prägung zu, materiell blieb es dennoch weitgehend inquisitorisch (ausf. Kato, ebda., insb. S. 2 f., 14). 619 Darauf beruft sich I. Müller, Leviathan, S. 525, 526 ff.; ders. KritJ 1977, S. 15 ff., 26 m. v. w. Nachw.; krit. zu der Einführung der Vorschrift, wenn auch aus anderen Gründen (nämlich weil hierdurch der Eindruck erweckt werde, die Wahrheitserforschungspflicht beruhe auf dem Gesetz), Niethammer, FS Sauer, S. 27 f. 620 Schwarz, Der nationalsozialistische Strafprozeß, S. 1460: Materielle Wahrheit als „das einzige Ziel; andere Rücksichten müssen demgegenüber zurücktreten. Es ist gleichgültig, ob es dem Angeklagten bei dem Verfahren zur Wahrheitsermittlung gut oder schlecht geht“; Stock, Zur Strafprozesserneuerung, S. 10, 35; Henkel, DStR 1935, Sp. 535: Die Mitwirkung des Beschuldigten am Verfahren sei „so zu gestalten, daß sie in größtmöglichem Umfang die Wahrheitsfindung ermöglicht und fördert, keineswegs dagegen die Wahrheitserforschung hemmen und vereiteln darf“; es sei deshalb auch zu erwägen, „ob die neue Verfahrensordnung nicht auf der Grundlage einer Erklärungsund Wahrheitspflicht des Beschuldigten aufgebaut sein soll“; ders. DStR 1935, S. 144 f.; Freisler, DStR 1935, S. 236; Peters, ZStW 56 (1935), S. 54; Doerner, Wiederaufnahme, S. 428: „Das Streben nach der Wahrheit ist das höchste Ziel des Strafverfahrens und die schönste Aufgabe des Richters“; Finke, Liberalismus, S. 26; Lobe, GS 110 (1938), S. 243; s. a. die Begründungen der von den amtlichen Strafprozeßkommissionen des Reichsjustizministeriums vorgelegten (vertraulichen!) Entwürfe einer Strafverfahrensordnung pp., v. 1936, S. 8; v. 1939, S. 4 – beide abgedruckt in Schubert (Hrsg.), Quellen, Abt. III, S. 8, 375.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

(1) Diese Kritik ist nicht völlig unberechtigt, auch dann, wenn man sauber zwischen dem Prinzip der materiellen Wahrheit und der Untersuchungsmaxime unterscheidet (s. o. S. 169, u. S. 183 f.), was die zuvor genannten Kritiker nicht immer tun. In der Tat weist die materielle Wahrheit die beschriebene Tendenz auf. Das mittelalterliche Inquisitionsverfahren bekannte sich zur materiellen Wahrheit,621 und sogar unter der Herrschaft des Grundgesetzes gab es Stimmen, die sich auf sie beriefen, um die Zulässigkeit der Wahrheitsspritze (sog. „Narkoanalyse“) darzulegen.622 Noch heutzutage wird diese Tendenz augenfällig durch die Judikatur belegt. Ein guter Teil der o. zitierten verfassungsrichterlichen Entscheidungen, die die Relevanz der Findung der materiellen Wahrheit für das Strafverfahren betonen, verklammert die materielle Wahrheit mit der ihrerseits aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege, also mit einer Figur, deren Hauptrolle es ist, bei Abwägungen den Antagonisten der Beschuldigtenrechte zu spielen.623 So liest man wiederholt in Entscheidungen des BGH zu Beweisverboten eine Mahnung zur Zurückhaltung bei der Annahme eines Verwertungsverbots, die unter Berufung auf die materielle Wahrheit begründet wird: Es sei zu beachten, „daß ein Beweismittelverwertungsverbot einen der wesentlichen Grundsätze im Strafverfahren einschränkt, nämlich den, daß das Gericht die Wahrheit erforschen und dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel, die von Bedeutung sind, zu erstrecken hat. Diesem Grundsatz gegenüber bildet das Beweisverwertungsverbot eine Ausnahme, die im Einzelfall hingenommen werden muß“.624 Hinter der langen Zögerung, aus der Verletzung der Belehrungspflicht nach § 136 Abs. 1 S. 2 StPO ein Verwertungsverbot abzuleiten, stand die Befürchtung, die Belehrung des Beschuldigten könne für die Aufklärung der Wahrheit ein Hindernis sein.625 621

Statt aller Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 34; Eb. Schmidt, Einführung, S. 86 f. Sauer, JR 1949, S. 500 ff.: „Dem Wahrheitsziel müssen sich sämtliche andere, sachliche wie erst recht persönliche Interessen einordnen“ (S. 500); „Der Zweck der Wahrheitsermittlung ist wertvoller als der Schutz der individuellen Freiheit und der körperlichen Unversehrtheit“ (S. 501). 623 Zur Kritik m. Nachw. u. V. 1. (S. 227 f.). 624 BGHSt 27, 355 (357); bestätigend etwa BGHSt 37, 30 (32); 35, 32 (34); 40, 211 (217); 42, 372 (377); 44, 243 (249); 51, 285 (290); 54, 69 (87); BVerfG NJW 2009, 3225; 2011, 2417 (2419). Zust. Weigend, ZStW 113 (2001), S. 289; Radtke, Konzeptionen, S. 135 f.; ebenso aus amerikanischer Sicht Schlesinger, BuffLR 26 (1976–1977), S. 385; Rothwax, Guilty, S. 62: „If you supress evidence, you’re supressing truth“. Krit. Wolter, FS BGH, S. 988 f. 625 Für ein Verständnis von § 136 Abs. 1 als „bloße Ordnungsvorschrift“ noch BGHSt 22, 170 (173 ff.); ebenso Stock, FS Rittler, S. 311, 319; Tillmann, LR-StPO 20. Aufl. § 136 Rn. 11; Rejewski, NJW 1967, S. 2000; w. Nachw. u. Krit. bei Eb. Schmidt, NJW 1968, S. 1209 ff., 1216 ff.; aus heutiger Sicht Jahn, 67. DJT, S. C 42 ff. Wohl aus denselben Gründen wurde die Einführung von § 136a StPO durch das Rechtsvereinheitlichungsgesetz v. 12. September 1950 vielfach abgelehnt, Bader, JZ 1951, S. 123; Baumann, GA 1959, S. 33 („zweifelhaftes Geschenk“) und danach die Forderung gestellt, die Vorschrift „vernünftig auszulegen“ (Eb. Schmidt, Lehrkommentar II, § 136a Rn. 4), d.h. wohl: restriktiv zu interpretieren (so Nüse, JR 1966, S. 284). Krit. zu dieser „tief622

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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Seit Jahrzehnten plädiert man dafür, dem Verteidiger ein Anwesenheitsrecht bei der für den weiteren Ablauf des Verfahrens anerkannt prägenden Erstvernehmung durch die Polizei zu gewähren,626 und dies erfolglos, offensichtlich weil man sich den ungehinderten Zugriff zum Beschuldigten als Informationsquelle sichern möchte. Und in Italien hat die Corte Costituzionale die erst durch die Reform eingeführten Schranken der Übertragbarkeit von Beweismitteln aus dem Ermittlungsverfahren in die Hauptverhandlung mit dem Argument einer Verletzung des verfassungsrangigen Prinzips der materiellen Wahrheit für verfassungswidrig erklärt.627 (2) Dennoch rechtfertigt dieser Umstand noch lange nicht die Preisgabe der Idee der materiellen Wahrheit. Denn dass Wahrheit nicht alles im Strafverfahren ist, dass es „auch sonst kein Grundsatz der Strafprozessordnung (ist), daß die Wahrheit um jeden Preis erforscht werden müßte“,628 wird kaum bestritten. Es gibt vieles, was dem Interesse der Wahrheitsfindung entspricht, aber trotzdem nicht getan werden darf – das klarste Beispiel dürfte die Folter sein.629 Die Kritik an der materiellen Wahrheit glaubt, einen Fortschritt dadurch zu erzielen, dass sie diese Schranken der Wahrheitsfindung bereits als Komponenten des neu definierten Wahrheitsbegriffs konzipiert. Bei der materiellen Wahrheit stehen das Ziel der Wahrheitsfindung und die Schranke der Beschuldigtenrechte und anderer Prozessgrundsätze einander gegenüber, bei der prozessualen Wahrheit wird schon das Ziel bescheidener definiert, nämlich unter Berücksichtigung der Beschuldigtenrechte und anderer Prozessgrundsätze. Dies ist aber ein verbaler Kunstgriff, der ein weiterhin nicht aufgelöstes Spannungsverhältnis nur verschleiert. Materielle Gegensätze lassen sich nicht durch Wortschöpfungen hegelianisch „aufheben“. Vielmehr erscheint es analytisch ergiebiger, diese Gegensätze beim Namen zu nennen, also über einen Begriff der materiellen Wahrheit zu verfügen, dessen Sinn es ist, das zu bezeichnen, was sich ereignet hat und auf dessen Suche man ist, und über einen anderen Begriff zu verfügen, der die Schranken markiert, die man bei dieser Suche nicht außer Acht lassen darf.630 Ansonsten kann die Überschreitung dieser Schranken begrifflich nicht als solche, sondern nur als Zielverfehlung, als Verschwendung von Ressourcen erfasst werden.631 sitzenden Abneigung“ ggü. § 136a StPO I. Müller, Rechtsstaat und Strafverfahren, S. 152, wenn auch wieder mit tendenziösen Passagen (vgl. schon o. Fn. 616). 626 Etwa Richter II, StV 1985, S. 387; Prittwitz, FS Bemmann, S. 605 f.; Salditt, StV 2001, S. 311; s. a. die Stellungnahme des DAV zur Reform der Strafjustiz, AnwBl 2001, S. 41 (i. S. eines sog. „partizipatorischen Vorverfahrens“). Zur noch schlimmeren Rechtslage in Österreich, auch mit historischer Herleitung, Moos, FS Miklau, S. 334 ff. 627 Nachw. bei den o. Fn. 189 Zitierten. 628 BGHSt 14, 358 (365). 629 Zu weiteren Schranken Spendel, JuS 1964, S. 467 ff. 630 Ebenso Neumann, Funktionale Wahrheit, S. 77; Arzt, FS Eser, S. 692. 631 Man nehme etwa Hassemer, der auf Grundlage seines Begriffs der „forensischen Wahrheit“ (Nachw. o. Fn. 588) die Förmlichkeiten des Verfahrens als Komponente der

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1. Teil: Strafprozesstheorie

(3) Hat man also eingesehen, dass die „gegensatzaufhebende Begriffsbildung“ 632 der Gegner der materiellen Wahrheit nicht überzeugt, sondern dass es gute Gründe gibt, materielle Wahrheit und Schranken ihrer Erforschung begrifflich getrennt zu halten, dann verliert die Kritik an der materiellen Wahrheit einen guten Teil ihres Sinns. Denn dieser besteht häufig darin, bestimmte Rechtsinstitute, die auf die Tradition des Inquisitionsverfahrens zurückgehen, zu kritisieren – so etwa die Transferierbarkeit der Ergebnisse des Vorverfahrens in die Hauptverhandlung,633 das Recht des (Untersuchungs-)Richters, aus eigener Initiative Zwangsmittel anzuordnen,634 oder die Leitung der Beweisaufnahme durch das Gericht.635 Diese Institute lassen sich aber nicht allein mit einem Hinweis auf die materielle Wahrheit rechtfertigen. Insbesondere können sie begrifflich nicht mit der materiellen Wahrheit identifiziert werden.636 Vielmehr wird ihre Rechtfertigung erst gelingen, wenn ihre Vereinbarkeit mit weiteren anerkannten Rechten und Grundsätzen dargelegt werden kann. Bei der ersten Frage wird es z. B. darum gehen, ob nicht das Prinzip der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit der Hauptverhandlung zu sehr beeinträchtigt ist, bei der zweiten und dritten Frage darum, ob es nicht zu einer Identifikation von Richter und Ankläger kommt.637 Wahrheit begreift und deshalb den Wert dieser Förmlichkeiten dadurch hervorzuheben sucht, dass er behauptet: „Ein Angriff auf diese Förmlichkeiten (ist) ein Angriff auf den Prozess der Wahrheitssuche“ (FS Volk, S. 217). Im Grunde genommen lässt sich bei einer solchen Begriffsbestimmung nicht einmal sinnvoll davon sprechen, dass Formen „bestimmte Quellen der Wahrheitsfindung verbarrikadieren“ bzw. dass sie „die Annäherung an die gesuchte Wahrheit verlangsamen“ (FS Volk, S. 219 f.). Daran wird klar, dass auch der Vertreter der prozessualen Wahrheit einen Begriff einer prozessunabhängigen, also materiellen Wahrheit braucht (man könnte sagen, schon wieder – s. o. Fn. 605, zu Bendix). S. a. die paulinische Bekehrung von Grasnick, Nur das Ergebnis zählt, S. 178 ff., in der die von ihm soweit ersichtlich immer befürworteten Prozessabsprachen (s. u. VI., 3. [S. 263]) mit dem Argument kritisiert werden, dass das, „was da abgesprochen wird, . . . mit Wahrheit und Gerechtigkeit nichts zu tun“ habe (S. 179). 632 Grdl. hierzu Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, passim. Mit dem vorliegenden Gebrauch dieses Terminus sind die weitreichenden von Lepsius vertretenen politischen Thesen – in Kürze, dass gegensatzaufhebende Begriffsbildung autoritär ist – nicht verbunden (eine Bestätigung dieser politischen These in der strafprozessrechtlichen Literatur immerhin bei Henkel, DStR 1935, S. 131). Die weniger anspruchsvolle ideologiekritische These, nach der Gegensatzaufhebungen missbrauchsanfällig sind, weil sie es – anders als analytisches Denken – leichter haben, bedenkliche Gesichtspunkte unter den Teppich zu kehren, verdient aber uneingeschränkte Zustimmung. Dazu insb. u. V. 2. (S. 232 f.). 633 So die Diskussion in Italien, vgl. o. Fn. 189. 634 Zielscheibe der Kritik in Deutschland, als es die gerichtliche Voruntersuchung noch gab, etwa Goldschmidt, JW 1920, S. 230 f.; ders. DJZ 1928, Sp. 1140; v. Stackelberg, GS Cüppers, S. 130 („Eine solche Verbindung von ermittelnder Tätigkeit und richterlicher Machtfülle ist ungesund“); in Brasilien etwa Sampaio, Verdade, S. 173 f. 635 Goldschmidt, Reform, S. 28; v. Stackelberg, GS Cüppers, S. 132; heute Samson, Fair trial, S. 521. 636 Gegen die verbreitete Verwechselung von materieller Wahrheit und Instruktionsbzw. Untersuchungsmaxime bereits o. S. 169. 637 Näher u. Teil 2 Kap. 2 B. III. 3. (S. 392 ff.).

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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Die Kritik an der materiellen Wahrheit wirkt sogar verdunkelnd, denn sie schweigt zu den spezifischen Gesichtspunkten, unter deren Licht die erwähnten Institute zu problematisieren sind. Einer klaren wissenschaftlichen Auseinandersetzung ist es gerade nicht förderlich, dass man bei der Kritik konkreterer Institute immer wieder die materielle Wahrheit in die Diskussion miteinbezieht. Die unter der Rubrik der materiellen Wahrheit geführte Diskussion verschwimmt ins Philosophische und kommt kaum zu den entscheidenden, erst bei der näheren Untersuchung des konkreten Instituts zum Vorschein tretenden Umständen. (d) Ein selten explizit formulierter, dennoch sehr wirkmächtiger Einwand gegen die materielle Wahrheit wirft ihr vor, sie sei hoffnungslos obsolet. Dies lasse sich vor allem daran erkennen, dass sogar das positive Recht, also eine Institution, die strukturell träge und konservativ ist, sich schon weitgehend von der materiellen Wahrheit verabschiedet habe.638 Ein solcher Einwand beruht aber auf einem abweichenden Verständnis des jetzigen Diskussionsgegenstands. Die Frage nach dem Zweck des Strafverfahrens kann nämlich aus der positivistisch-dogmatischen Perspektive, die sich um die Erklärung des geltenden Strafprozessrechts bemüht, oder aus einer quasi-vernunftrechtlichen Perspektive, die die Legitimitätsbedingungen für Strafprozesse schlechthin erarbeiten will, gestellt werden. Aus dem, was im methodischen Abschnitt (o. Kap. 1, insb. D. [S. 116 f.]) dargelegt wurde, ist klar, dass hier von letzterer Perspektive ausgegangen wird. Dem Hinweis darauf, dass das positive Recht die Dinge anders sieht, begegnet die hier vertretene Perspektive deshalb entweder mit achselzuckender Gelassenheit (denn der Gesetzgeber kann anderer Meinung sein) oder mit dezidiertem Stolz (denn auch der Gesetzgeber begeht Fehler, und es ist die höhere Aufgabe einer guten Theorie, sie aufzudecken), niemals aber mit resignierender Selbstpreisgabe. Ein Machtspruch ist für eine Perspektive, der es um Gründe geht, genauso fehl am Platz wie umgekehrt ein Argument in einem Boxring. c) Die diskutierten Einwände sind allesamt nicht überzeugend. Die Kritik an der materiellen Wahrheit hat keinen Erfolg. Eine positive Begründung für die materielle Wahrheit als Rechtfertigung des Strafverfahrens ist hier aber noch nicht angeboten worden. Dies ist jedoch ohne größere Schwierigkeiten möglich. Das Strafverfahren ermöglicht die Zufügung einer Strafe. Die materielle Wahrheit muss ein Zweck des Strafverfahrens sein, weil die am Ende des Verfahrens eventuell zu verhängende Strafe nur den „Richtigen“ treffen darf – also denjenigen, der sich strafbar verhalten hat, der also die Tat schuldhaft begangen hat – und weil man häufig (aber nicht zwingend) nicht weiß, ob der Betroffene der Richtige ist. Strafverfahren sind insofern ein Beitrag zur Lösung eines Er-

638 Paulus, GS Karlheinz Mayer, S. 314 f. (zu ihm näher u. VI. 2. d) cc) [S. 252]); Wagner, GS Eckert, S. 940 ff., 948, der als Beispiele Einstellungen nach §§ 153, 153a StPO, das Strafbefehlsverfahren und die Verfahrensabsprachen anführt.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

kenntnisproblems: im Strafverfahren soll geklärt werden, ob der Betroffene derjenige ist, der bestraft werden soll und darf.639 Hiermit führt die Begründung der materiellen Wahrheit als Prozesszweck in der Tat auf die Frage nach der Begründung der Strafe zurück. Weil die Strafe nur gegenüber dem Richtigen gerechtfertigt ist, muss das die Strafe vorausgehende Verfahren die Vorfrage lösen, ob der Betroffene der Richtige ist. Man könnte sich fragen, warum Strafe nur gegenüber dem Richtigen gerechtfertigt ist – damit wäre man aber bei einer anderen Diskussion. Hier soll nur gesagt werden, dass die zwei Fundamente, worauf die Rechtfertigung der Strafe beruht,640 auch hier einschlägig sind. Erstens kommen die o. 2. (S. 167) formulierten negativ-generalpräventiven Erwägungen zum Tragen: Eine gut funktionierende, langfristig angelegte Abschreckungsgeneralprävention ist darauf angewiesen, dass der Richtige bestraft wird. Die Strafzufügung bezweckt die Bestätigung, dass die Androhung ernst gemeint war. Man muss also schon aus konsequentialistischen Gründen denjenigen bestrafen, der die Androhung missachtet hat. Denn nur so wird klargestellt, dass sich das Verbrechen nicht lohnt. Dies reicht aber noch nicht aus, um sicherzustellen, dass die Strafe in keinem Fall den Falschen treffen darf. Es mag sein, dass im Einzelfall die Bestrafung des Falschen abschreckungstheoretisch sinnvoll ist. Man nehme an, eine Androhung wird wiederholt missachtet, es herrscht ein Klima der Anomie; jemand von besonderer Prominenz macht sich hochverdächtig, obwohl er in Wahrheit unschuldig ist. Auch dann, wenn dies eine einmalige Gelegenheit wäre, den Ernst und die Wirklichkeit der Androhung zu bekräftigen, darf die Strafe nicht sein. Eine unübersteigbare Gewähr dafür bietet erst die zweite, nicht mehr konsequentialistische, sondern deontologische Säule der Straftheorie, wozu vor allem das Schuldprinzip gehört.641 Das Schuldprinzip verbietet jede Strafe ohne Schuld. Eine Bestrafung des Unschuldigen ist also demnach per se illegitim, und dies auch dann, wenn sie in einer Situation erfolgt, in der dies präventiv angezeigt wäre.642 639 Das Gesagte kann als Präzisierung der verbreiteten Behauptung verstanden werden, nach der die materielle Wahrheit eine Vorbedingung für eine richtige bzw. gerechte Entscheidung sei (Nachw. u. Fn. 862). 640 Vgl. o. 2. (S. 167). 641 Ausf. Greco, Lebendiges, S. 128 ff., 179 ff., 230 ff., 247 ff., 484 ff. Deshalb ist die häufig anzutreffende These, dass die „absolute“ Wahrheit mit der klassischen Vergeltungstheorie korreliere, dagegen den präventiven Theorien eine Relativierung der Wahrheit entspreche (etwa Stamp, Wahrheit, S. 257; Wolfslast, NStZ 1990, S. 416; ausf. m. Nachw. aus dem 19. Jahrhundert H. Zimmermann, Anklageerhebung, S. 51; Haas, Strafbegriff, insb. S. 221 ff.), teilweise, aber nur teilweise berechtigt. Gerade weil die strafbarkeitsbegrenzende Seite der Vergeltungstheorie weiterhin als Komponente der Straftheorie anzuerkennen ist – sie ist nämlich nichts anderes als die deontologische Schranke des Schuldprinzips –, kann die Relativierung der Wahrheit, die häufig mit der Ablehnung der Vergeltungstheorie einhergeht, gerade nicht stattfinden. 642 Greco, Lebendiges, S. 274.

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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d) Die Bestrafung allein des wahrhaft Schuldigen ist also aus präventiven Gründen empfohlen und aus Gründen der Gerechtigkeit geboten. Daraus folgt, dass man sich, bevor man straft, darüber vergewissern muss, nicht einen Falschen vor sich zu haben, also die Wahrheit zu erforschen. Das hat insbesondere drei konkretere Schlussfolgerungen: aa) Zunächst, dass aus der Notwendigkeit, die Wahrheit zu erforschen, nicht mit gleicher Notwendigkeit auch folgt, dass diese Aufgabe einem Gericht und nicht der Staatsanwaltschaft bzw. den Parteien zugewiesen sein muss. Denn dieser weitere Schluss hängt insbesondere von empirischen Prämissen bezüglich der Frage ab, welche Methode der Wahrheitsermittlung die beste ist, über die man vertretbar streiten kann und auch streitet. Mit anderen Worten dürfte man sich hier wenigstens zum Teil in einem Bereich der Ungewissheit bewegen, in dem man gegen die Zuerkennung von Beurteilungsspielräumen nichts anführen kann (s. o. Teil 1 Kap. 1 A. I. [S. 50 f.]). Damit wird klar, weshalb die Verbindlichkeit des Prozessziels der materiellen Wahrheit unabhängig von der Frage nach der akkusatorischen oder inquisitorischen Struktur des Strafverfahrens ist. Auch ein Verfahren, das keine Wahrheitserforschungspflicht des Gerichts kennt, sondern den Parteien die Verantwortung über die Beweisaufnahme zuschreibt,643 muss aus präventions- und schuldbezogenen Gründen die materielle Wahrheit als verfahrensspezifischen Zwischenzweck anstreben.644 Solange die Strafe Schuld voraussetzt, und solange man nicht von vornherein weiß, ob der Täter schuldig ist, wird man ein Strafverfahren brauchen, das seinerseits auf die Findung von Wahrheit gerichtet ist. Sich mit einer sog. prozessualen bzw. forensischen Wahrheit zu begnügen, bedeutet letztlich nichts anderes, als dass man die Bestrafung des Falschen, also desjenigen, der die Tat nicht schuldhaft begangen hat, hinzunehmen bereit ist. bb) Zweitens verlangen weder die Prävention noch das Schuldprinzip ein absolut fehlsicheres Verfahren.645 Die Prävention schon nicht, weil sie einen vom Verfahren und von der gesamten Strafrechtspflege angestrebten Vorteil darstellt, der schon als solcher, wegen der konsequentialistischen Struktur von Berufungen auf Vorteile, mit Nachteilen verrechenbar sein muss. Ein zu 100% fehlersicheres Verfahren wäre zu aufwändig und sperrig. Bei dieser Argumentation stehen zu bleiben, wäre aber nichts anderes als die o. 2. (S. 164 f.) bereits abgelehnte Legitimierung von Fehlverurteilungsrisiken 643 Zum genauen Begriff des akkusatorischen und des inquisitorischen Verfahrens s. u. Teil 2 Kap. 2 B. III. 4. b) (S. 398 ff.). 644 Womit sich die im Rahmen unserer „strafprozessstrukturellen Herausforderung“ formulierten Thesen bestätigen, s. o. Teil 1 Kap. 1 A. II. 6. (S. 69 ff.). 645 Grdl. zu dieser selten behandelten Frage R. Dworkin, Principle, Policy, Procedure, S. 72 ff., 79 ff.; s. a. Ashworth, Human Rights, S. 16.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

aus Interessen der Generalprävention. Dieses Argument erklärt nur, warum die Gesellschaft ein Interesse daran hat, nicht exzessive Investitionen in die Güte des Verfahrens zu machen, nicht aber, warum der Beschuldigte sich ein nicht 100% fehlsicheres Verfahren gefallen lassen muss. Sollte nicht aus dem Schuldprinzip ein derartiges Recht direkt oder indirekt ableitbar sein? In verfassungsdogmatischer Terminologie: Sollte man nicht dem Schuldprinzip eine objektiv-rechtliche Dimension zuerkennen und daraus das Gebot ableiten, das Strafverfahren so einzurichten, dass niemals die Bestrafung eines Schuldigen eintreten könnte? Ein solches fehlurteilssicheres System würde ganz anders aussehen als alle bisher vorhandenen. In groben Zügen müsste man an den Belastungsbeweis strengste Anforderungen stellen, dem Entlastungsbeweis äußerst großzügig entgegenstehen, und erst bei Überwindung auch der leisesten, abstraktesten Zweifel eine Überzeugung von der Schuld des Angeklagten für zulässig erachten. Man kann nicht dagegen anführen, dass dies der Zusammenbruch der Strafrechtspflege wäre, denn dies wäre eine Berufung auf die Prävention oder auf die Interessen der Gesellschaft, es geht hier aber um Schuld, um das Recht des Betroffenen. Aus dem Schuldprinzip kann aber nur das Recht folgen, eine Strafe nicht ohne hinreichend zuverlässige Ermittlungen, die die Schuld des Betroffenen bestätigen, zu verhängen, und nicht mehr. Ermittlungen sind zuverlässig, wenn sie den gesellschaftlich anerkannten Maßstäben gesicherter Verantwortungszuschreibung entsprechen. Was diese Anforderung konkret bedeutet, ist eine Frage für sich; hier reicht die Feststellung, dass das Schuldprinzip kein Recht auf mehr hergeben kann. Denn eine Grenze nach oben würde ein solches Recht auf den vollen Beweis niemals haben. Erkennt man, dass die göttliche Allwissenheit kein für Menschen brauchbares Maß bietet (s. o. S. 174 f.); und dass es keine „natürlichen“ Beweise gibt, sondern dass alle Beweise in dem Sinne „künstlich“ sind, dass sie nur Rückschlüsse auf das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache gestatten,646 niemals aber dieses Vorhandensein selbst verkörpern können (was eine seltsame, mystische Transsubstantiation wäre); dann kann man nie ausschließen, dass sich ein weiteres Beweismittel finden lässt, das den Beweis um 0,00001% sicherer macht, und dies ad infinitum. Nicht einmal das oben ausgedachte fehlurteilsichere System würde ausreichen. Das Recht, nicht ohne Schuld bestraft zu werden, kann nicht demjenigen, der strafen möchte, notwendig (und nicht nur kontingent) unerfüllbare Lasten auferlegen. Dies belegen besonders augenfällig die Erfahrungen, die man immer dann machen musste, als man eine Überführung an strengere Maßstäbe gebunden hat als die gesellschaftlich anerkannten. Es entstehen Spannungen, ein typisches Folgephänomen unbegründeter beschuldigtenfreundlicher Regelungen, das uns u. IV. 3. 646

Siehe bereits Mittermaier, Lehre vom Beweise, S. 140.

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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(S. 206) etwas näher beschäftigen wird. Dies hat insbesondere die gesetzliche Beweistheorie des gemeinrechtlichen Strafverfahrens versucht. A spricht in aller Öffentlichkeit gegen B Morddrohungen aus; B ist drei Tage später tot; die Tatwaffe, die A gehört, wird auch in seinem Besitz aufgefunden; man findet bei A ein blutbeflecktes Hemd, an seinen Fingernägeln lassen sich noch einige Tage nach der Tat Blutspuren sehen; B hatte sonst keine Feinde, sondern war bei allen beliebt; A gilt dagegen als gewalttätige Person. Weder gesteht aber A, noch finden sich zwei Augenzeugen. Die Wahrheit ist, dass kaum ein Verfahren in einem solchen Fall den Beschuldigten schlicht gehen lässt. Es werden regelmäßig Strafen verhängt, die nur nicht immer so heißen, insbesondere Folter, sog. außerordentliche Strafen und Untersuchungshaft. Aus unserer Perspektive erscheint es aber bemerkenswert, dass man dies auch allgemein mit gutem Gewissen tut; man weiß, mit dem Schuldigen zu tun zu haben. Das ist auch der Grund, weshalb es summarische Strafverfahren ohne Hauptverhandlung geben darf, also Verfahren, bei denen man sich mit einer anerkannt weniger zuverlässigen Methode der Wahrheitsermittlung zufrieden gibt. Entgegen einer verbreiteten Auffassung, der man sich u. VI. 3. (S. 261 ff.) gleich näher zuwenden wird, legitimiert nicht der Konsens des Betroffenen die Strafe. Ebenso wenig geht es um eine Inkaufnahme von Fehlverurteilungsrisiken (s. o. 2. [S. 164 f.]). Vielmehr kann der Umstand, dass der Betroffene darauf verzichtet, das aus den Ermittlungsakten hervorgehende Ergebnis des Vorverfahrens in einer Hauptverhandlung prüfen zu lassen, unter bestimmten Bedingungen als Bestätigung dafür verstanden werden, dass die im Vorverfahren angestellten Ermittlungen hinreichend zuverlässig sind und deshalb auch der Wahrheit entsprechen. Konsens ersetzt nicht die Wahrheit, Konsens bestätigt die Wahrheit. Die Frage ist nur, worin diese Bedingungen bestehen; dies müsste in einer Theorie summarischer Verfahren eigenständig entfaltet werden.647 Wichtig ist hier nur der Beleg, dass auch ein kompromissloses Bekenntnis zur materiellen Wahrheit summarische Verfahren nicht notwendig ablehnen muss.648 cc) Gerade aus den oben gewonnenen Einsichten folgt drittens, dass das Strafverfahren mit der Möglichkeit eines Verfehlens der Wahrheit rechnen und gegen sie Vorsorge treffen, m. a. W.: Wege zur Korrektur dieses Irrtums vorsehen muss. Weil der sichere Besitz der Wahrheit ein Privileg Gottes ist (s. o. S. 174) und weil es nicht einmal eine Pflicht gibt, die menschliche Strafrechtspflege als fehlurteilssicheres System einzurichten (s. o. S. 183 ff.), kann man sich nicht anmaßen, die Möglichkeit eines Fehlurteils auszuschließen. Das ist erst recht bei summari647 Für die hier erste Ansätze geliefert werden sollen, s. u. D. VI. 3. (S. 280 f.), Teil 2 Kap. 4 F. II. 9. (S. 810 ff.), Kap. 6 II. 3. b) aa), dd) (S. 921 f., 926 ff.). Kap. 6 C. II. 3. b) cc), dd) (S. 921 f., 926 f.). 648 Und dass deshalb der Versuch der Verteidiger des Konsensprinzips, das Strafbefehlsverfahren als eine erste Manifestation dieses Grundsatzes zu deuten, fehl geht (näher u. VI. 3. [S. 261 ff.]).

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1. Teil: Strafprozesstheorie

schen Verfahren der Fall, bei denen die Aufgabe der Wahrheitsermittlung zum Teil auf den Beschuldigten delegiert und seinem Konsens, wie gerade gesagt, ein wahrheitsbestätigendes Vermögen zuerkannt wird. Diese Bestätigung darf nur solange aufrechterhalten werden, wie keine neuen Erkenntnisse auftauchen, die Zweifel entstehen lassen. M. a.W. summarische Verfahren lassen sich ohne eine großzügige Wiederaufnahmebereitschaft nicht legitimieren. Die Folgen hiervon sollen uns u. in Teil 2 Kap. 6 C. II. 3. b) aa), dd) (S. 921 f., 926 ff.) näher beschäftigen. e) Die dargebrachte Begründung macht gleichzeitig die Grenzen des Ansatzes ersichtlich. Denn die materielle Wahrheit als prozessspezifisches Ziel muss nur dann erstrebt werden, wenn das oben genannte Erkenntnisproblem besteht. Weiß man aber von vornherein, wer der Richtige ist, dann ist auf Grundlage dieser Zielvorstellung nicht ersichtlich, warum ein Strafverfahren überhaupt erforderlich ist, warum man nicht sofort die Strafe zufügen darf. Dieser Einwand lässt sich nicht dadurch ausräumen, dass man behauptet, ohne Strafverfahren könne man sich niemals sicher sein, das Erkenntnisproblem tatsächlich bewältigt zu haben. Denn es ist möglich, dass das Erkenntnisproblem auf der kollektiven oder auf der individuellen Ebene bereits vor dem Verfahren gelöst ist. Die Lösung des Erkenntnisproblems auf der kollektiven Ebene wäre ein totaler Überwachungsstaat, der nach dem Vorbild von Orwells Big Brother jede Bewegung seiner Bürger kennt und registriert. Er hätte für ein Strafverfahren, das allein in der Wahrheitsfindung seine Existenzberechtigung erblickt, kein Bedürfnis. Gelegentlich ist das Erkenntnisproblem nur, aber immerhin schon im konkreten Einzelfall gelöst: So war vor Kurzem in den Nachrichten zu lesen, dass ein Verurteilter noch im Gerichtssaal des Dachauer Amtsgerichts den Staatsanwalt erschossen hat.649 Ginge es im Verfahren nur um die Findung der materiellen Wahrheit, könnte man gegen einen solchen Täter (den man von jetzt an als „Dachauer Schützen“ bezeichnen wird) sofort, also ohne Verfahren, eine Strafe verhängen.650 Ein in 649

Nachw. o. Fn. 373. Siehe auch Binding, Strafprozeßprinzipien, S. 270 f., und zu diesen Passagen näher u. IV. 3. (S. 203 ff., 203 f.). Dem könnte man entgegenhalten, ein Verfahren wäre noch zur Erforschung von Mordmerkmalen oder von der Schuldfähigkeit erforderlich. Falsch ist das zwar nicht; es führt aber nur dazu, das Beispiel mit mehreren Präzisierungen anzureichern. An der Schuldfähigkeit wird man eher schwer zweifeln können, da der Täter verhandlungsfähig war. Aber auch Mordmerkmale könnten schon aus der objektiven Beschaffenheit der Tat entnommen werden, etwa falls der Täter beim Schießen geschrieen hätte: „Ich zahl’s Ihnen heim!“ Wem das Beispiel nach dieser letztlich von der Kontingenz einer zu subjektivierenden Fassung des deutschen Mordtatbestands veranlassten Präzisierung zu phantastisch erscheint, der möge anstelle des Dachauer Schützen sich einen „Dachauer Schläger“ vorstellen, der seinem Staatsanwalt einen Faustschlag zu verpassen schafft, oder den Fall eines Meineides bei einem offensichtlich lügenden Zeugen. Die naheliegende Replik, ein Verfahren sei erforderlich, um die strafzumessungsrelevanten Umstände zu erheben (was beim Mord, der mit lebenslänglicher Freiheitsstrafe geahndet wird, nicht der Fall war), zieht auch nicht. Erstens ist fraglich, inwiefern heutige Strafverfahren strafzumessungsrelevante Tatsachen erheben; vielmehr 650

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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solchen Situationen ohne Verfahren strafender Staat würde keinen Unrichtigen bestrafen, seine Strafen wären deshalb sowohl präventiv sinnvoll als auch schuldangemessen. Daran wird ersichtlich, dass es dem Strafverfahren um mehr gehen muss als allein um die materielle Wahrheit. f) Zusammenfassend ist daran festzuhalten, dass die Findung der sog. materiellen Wahrheit – also der wirklichen Umstände, die die Subsumtion unter eine Strafnorm gestatten – der spezifische Zweck des Strafverfahrens darstellt. Erstens sind die dagegen gerichteten Einwände allesamt unschlüssig: Die materielle Wahrheit ist weder philosophisch suspekt, noch wäre dies an sich für ein Rechtssystem, das allein auf den Anschluss an das dem common sense zugrunde liegende Weltbild angewiesen ist, ein Problem. Es muss nur anerkannt werden, was von kaum jemandem bestritten wird, dass es nicht um eine Wahrheit „um jeden Preis“ geht. Zweitens ist sie ihrerseits rechtlich gut begründet, denn sie beruht auf der konsequentialistischen Erwägung, dass die Bestrafung des Falschen in der Regel nicht zur allgemeinen Abschreckung von der Straftatbegehung beiträgt, und auf der deontologischen Erwägung, dass die Bestrafung des Falschen bereits an sich das Schuldprinzip verletzt und falsch ist.651 Man muss nur einsehen, dass das Bekenntnis zur materiellen Wahrheit weder eine Stellungnahme zugunsten des Prinzips darstellt, dass die Wahrheitsermittlung als Gerichtsaufgabe anzusehen ist, noch impliziert, dass das Strafverfahren 100% fehlurteilssicher ausgestaltet werden muss. Sie impliziert auch durchaus, dass Mechanismen zur Korrektur von Verfehlungen der materiellen Wahrheit vorhanden sein müssen. Die materielle Wahrheit vermag aber nicht zu erklären, warum man auch dann ein Verfahren durchführen muss, wenn man von der Schuld des Betroffenen bereits weiß. 4. Rechtsfrieden a) In erster Linie dürfte die Unzufriedenheit mit den traditionelleren Zweckbestimmungen des Strafverfahrens der immer stärker vertretenen Rechtsfriedenslehre als Inspiration gedient haben. Demnach ziele das Strafverfahren vorrangig

scheint man zum großen Teil die Strafhöhe allein nach den Maßstäben der Schadenshöhe und des Vorhandenseins von Vorstrafen zu bemessen (Hauer, Geständnis, S. 123, m. Nachw.). Zweitens und entscheidend: Dies sind wiederum nur Kontingenzen des geltenden Rechts. Ein Strafrecht mit festen Strafdrohungen bleibt denkbar (so in der Tat das französische StGB von 1791), und aus theoretischer Perspektive ist das bereits ausschlaggebend; ebenso ein Strafverfahren, das nach angelsächsischem Vorbild über die Schuld- und die Straffrage in unterschiedlichen Verhandlungen entscheidet. Deshalb wird im Text weiter vom Dachauer Schützen gesprochen, um den – wenn auch nur theoretischen – Grenzfall zu bezeichnen, in dem wir alle entscheidungserheblichen Informationen vor Anfang des Verfahrens besitzen. 651 Damit erweist sich die materielle Wahrheit zum Teil als Zweck, der die im vorliegenden Abschnitt behandelte erste Rechtfertigungsstufe sprengt. Vgl. bereits o. C. I. (Fn. 419).

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1. Teil: Strafprozesstheorie

weder auf Wahrheit noch auf Gerechtigkeit i. S. einer richtigen Anwendung des materiellen Rechts.652 Dies sei daran ersichtlich, dass Freisprüche auf Unwahrheit beruhen dürften und dass sogar materiellrechtlich unrichtige Entscheidungen rechtskräftig werden könnten. Erst der Gedanke der Wiederherstellung des Rechtsfriedens, dessen Nähe zur o. 2. (S. 160 ff.) bereits diskutierten Theorie von der positiven Generalprävention unübersehbar ist,653 liefere für diese Erscheinungen eine Erklärung. Der Verdacht einer Straftat führe zu einem Zustand der Beunruhigung, dem der Prozess ein Ende setzt. Die prozessuale Aufarbeitung eines Verdachts dient deshalb unabhängig von der Richtigkeit des Ergebnisses dazu, den friedlichen Zustand der Gesellschaft wiederherzustellen.654 Beim Rechtsfrieden handele es sich „im Hinblick auf den Verdacht eines mit Strafe bedrohten Rechtsbruches um einen Zustand, bei dem sich die Gemeinschaft über den Rechtsbruch beruhigen kann“.655 Vom Begriff des Rechtsfriedens wird auch erwartet, dass er die richtigen Aspekte der anderen Theorien in sich bewahrt und zu einer Synthese führt.656 652

Hierzu u. VI. 2. c) (S. 239 ff.). Roxin, Gesamtkonzept, S. 21; Rieß, LR-StPO 25. Aufl. Einl. B Rn. 4; Kahlo, FS Wolff, S. 153 Fn. 1. Siehe auch Kubiciel, GA 2013, S. 233 f., der beide Ansätze sogar zusammenfasst. 654 Grdl. Schmidhäuser, FS Eb. Schmidt, S. 516 ff., 521 ff.; ihm folgend Gantzer, Rechtskraft, S. 123; Lampe, GA 1968, S. 38; Rudolphi, MDR 1970, S. 97; Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 183, 200 ff. (der den Gedanken durch die von ihm sog. „Bewährung des Strafrechts“ näher bestimmt, S. 201); Krauß, ZStW 85 (1973), S. 345; Rieß, FS Schäfer, S. 170, 192; ders. NStZ 1981, S. 5; ders. 55. DJT, S. C 52; ders. LR-StPO 25. Aufl. Einl B Rn. 4; ders. StraFo 2000, S. 368; ders. JR 2006, S. 270; Kühl, Unschuldsvermutung, S. 74 (im Anschluss an Schmidhäuser); Roxin, Gesamtkonzept, S. 21; Kleinknecht, StPO 35. Aufl. Einl. Rn. 4; Weigend, Deliktsopfer, S. 215; ders. ZStW 113 (2001), S. 277; Gerd Kaiser, Beschwer, S. 87 f.; Geisler, ZStW 93 (1981), S. 1130; Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), S. 1205 f., 1261; ders. FS Ishikawa, S. 364; Ranft, FS Spendel, S. 724; ders. Strafprozessrecht, Rn. 2, 3; Blau, Jura 1993, S. 514 f.; Sieber, FS Spendel, S. 766 f.; Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 75, 104 ff., 106, 115; Kudlich, Mißbrauchsverbot, S. 226 f. (der in der Sache einen Abwägungsansatz vertritt, s. u. Fn. 779); Wolter, FS BGH, S. 1002; Geppert, GS Schlüchter, S. 44 f.; Krack, Rehabilitierung, S. 33 ff., 46; Duttge, ZStW 115 (2003), S. 543; Tiedemann, Einführung, S. 89; Rudolphi/Wolter, SK-StGB (40. Lfg.) § 78 Rn. 10; Meyer-Goßner, StPO Einl. Rn. 4; Radtke, Konzeptionen, S. 133 (wohl etwas unterschiedlich ders. FS Schreiber, S. 375); ders. GA 2012, S. 187. Ferner Oster, Rechtskraft, S. 7 (bereits 1912!); Köhler, Inquisitionsprinzip, S. 45 f., 77 (zusammen mit Wahrheit und Gerechtigkeit, S. 41). Auch der BGH hat sich auf das Prozessziel des Rechtsfriedens berufen, um das strafmildernde Vermögen von Geständnissen und damit auch die Prozessabsprachen zu rechtfertigen, BGHSt 43, 195 (209), im Anschluss an Schäfer, 58. DJT, S. L 59 und Widmaier, ebda., S. L 40; ebenso Schmidt-Hieber, NStZ 1988, S. 304; Böttcher, 58. DJT, S. L 19; Landau/Eschelbach, NJW 1999, S. 326; s. a. Jähnke, ZRP 2001, S. 576; ausf. Dippel, FS Widmaier, S. 105 ff.; zu Recht krit. Weßlau, StraFo 2007, S. 3 Fn. 18. Nachw. für Vorgänger im Zivilprozessrecht bei Gaul, AcP 1968, S. 57 Fn. 145. Krit. Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 24 ff.; Kahlo, FS Wolff, S. 153 Fn. 1. 655 Schmidhäuser, FS Eb. Schmidt, S. 516. 656 Schmidhäuser, FS Eb. Schmidt, S. 521: Synthese von Gerechtigkeit und Rechtssicherheit; ferner Rieß, FS Schäfer, S. 170 f., 192, der Rechtsfrieden sei nur durch einen 653

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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b) Die Probleme dieses Ansatzes lassen sich dennoch nicht übersehen.657 Vor allem haftet dem sehr schillernden und kaum näher präzisierten658 Begriff des Rechtsfriedens eine grundlegende Zweideutigkeit an,659 die zu einem Dilemma führt, von dem kein Horn tragfähig erscheint. aa) Rechtsfrieden könnte man zunächst deskriptiv-soziologisierend als Zustand tatsächlicher Befriedung oder Beruhigung in einer Gesellschaft verstehen.660 Dann ist aber der behauptete Zusammenhang zwischen prozessualer Aufarbeitung eines Verdachts und Rechtsfrieden falsch, weil bloß kontingent. Es lassen sich richtige Sachentscheidungen vorstellen, die keinen Rechtsfrieden stiften, sondern vielmehr die Unruhe der Gesellschaft vermehren: Man denke nur an den Freispruch eines unschuldigen Angeklagten, der von der öffentlichen Meinung für einen Terroristen gehalten wird.661 Derartige Situationen dürften in einer von sensationshungrigen Massenmedien geprägten Gesellschaft keine Seltenheit sein.662 Auf der anderen Seite dürfte der Frieden häufig viel leichter ohne Prozess zu realisieren sein, einfach durch einen staatlichen Machtspruch: „jetzt ist Ruhe!“,663 oder durch eine Steigerung rein ritualistischer, für die Wahrheitsfinan Wahrheit und Gerechtigkeit orientierten, justizförmig durchgeführten Prozess erreichbar; ders. LR-StPO 25. Aufl. Einl. B Rn. 4 („komplexe Verfahrenszielbestimmung“). Ähnlich versucht Krack, Rehabilitierung, S. 37 ff., u. a. die materielle Wahrheit, die Generalprävention, die Achtung der Beschuldigtenrechte und die Justizförmigkeit des Verfahrens als Zwischenzwecke eines auf den Endzweck des Rechtsfriedens orientierten Strafverfahrens zu begreifen. Ebenso Sieber, FS Spendel, S. 767; Kudlich, Mißbrauchsverbot, S. 226 f. 657 Weitere Kritik bei Eb. Schmidt, Lehrkommentar I Rn. 20 Fn. 44; Gaul, AcP 1968, S. 57 ff. 658 Insofern kritisch Conde Correia, Caso julgado, S. 164; Murmann, Kritik, S. 205, 206; und sogar Anhänger dieser Ansicht, nämlich Weigend, ZStW 104 (1992), S. 502: „Kaum ein Ausdruck in der heutigen strafprozeßrechtlichen Debatte weist so viele Bedeutungsschattierungen auf und eignet sich daher so wenig zu verläßlicher Interpretation“ und Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 100 Fn. 359. 659 Ebenso Volckart, JR 2005, S. 181 f.; Ziemann, ARSP-Beiheft 103 (2005), S. 135; ähnliche Unterscheidung bei Neumann, Funktionale Wahrheit, S. 82; in der Sache auch Weßlau, StraFo 2007, S. 3 Fn. 18. Weitere Differenzierungen bei Weigend, Deliktsopfer, S. 197 ff. 660 So insb. Weigend, Deliktsopfer, S. 215; Maiwald, GA 1970, S. 36: Abwesenheit vom „Gefühl der Unsicherheit und des Gefährdetseins“. 661 Mit einem anderen Beispiel Volckart, JR 2005, S. 182; übereinstimmend auch Taruffo, Verità, S. 114. 662 Greifbare Beispiele, in denen sogar die Entlassung aus der U-Haft von der Presse als „tief deprimierend“ bezeichnet wurde, bei Schubarth, Unschuldsvermutung, S. 15 Fn. 69. Siehe auch Arzt, FS Volk, S. 31; Conde Correia, Caso julgado, S. 170 Fn. 271. 663 Schaper, Verfahren, S. 163. Siehe auch Feuerbach, Oeffentlichkeit und Mündlichkeit I, S. 236, wenn auch teilweise zu dem, was wir heute Beschleunigungsgrundsatz nennen würden: „Schnelligkeit als höchstes Gesez opfert die Wahrheit und das Recht einem baldigen Frieden auf und gilt vor allem für die Justiz in Gewalt-Staaten (Despotien), denen weit mehr daran liegt, daß alle in Ruhe seyen, als daß jeder Einzelne sein Recht erhalte.“

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1. Teil: Strafprozesstheorie

dung und Verteidigung indifferenter Elemente des Strafverfahrens.664 Der faktisch verstandene Begriff des Rechtsfriedens zeigt also eine bedenkliche Neigung, zu einem prozessualen Machiavellismus im o. C. II. 3. (S. 155 f.) genannten Sinn zu degenerieren. bb) Dies überrascht indes nicht alle Vertreter des Rechtfriedensgedankens. Von Anfang an behauptete kein Geringerer als Schmidhäuser, dass Rechtsfrieden deshalb nicht faktisch, sondern normativ zu verstehen sei, nämlich als „Zustand, bei dem von der Gemeinschaft vernünftigerweise erwartet werden kann, daß sie sich über den Verdacht einer Straftat beruhige“.665 Dieser Ausweg vermag vielleicht das oben angesprochene Problem zu lösen, weil hiermit ein notwendiger Zusammenhang zwischen prozessualer Aufarbeitung und Rechtsfrieden besteht. Trotzdem führt er nicht sehr weit: Denn der Grund, weshalb sich die Bevölkerung als befriedet erachten muss, ist die Tatsache, dass ein ordnungsgemäßer Strafprozess durchgeführt wurde, also ein Prozess, dessen Durchführung man anfänglich mit dem Zweck der Stiftung des Rechtsfriedens rechtfertigen wollte. M. a.W.: Das normative Konzept des Rechtsfriedens führt zu einem leeren Gedanken, der nichts rechtfertigen kann, sondern sich in einem Zirkel erschöpft. Denn Rechtsfrieden bezeichnet hier nicht eine Größe, die als Folge des Prozesses von ihm erst herbeigeführt werden sollte und die ihn eventuell rechtfertigen könnte, sondern etwas, das sich mit der ordnungsgemäßen Durchführung des Prozesses deckt.666 In dieser normativen Deutung besagt Rechtsfrieden nichts als den missverständlichen Versuch, den Eigenwert des ordnungsgemäß durchgeführten Verfahrens zu erfassen – m. a. W. dasjenige zu bezeichnen, was u. VI. 2. d) cc) (S. 251 ff.) unter der Rubrik einer rechtlichen Verfahrensgerechtigkeit diskutiert werden soll. 664 Siehe Schünemann, GA 1978, S. 176, der von der Förderung des Rechtsfriedens durch Einrichtung einer „Potemkinschen Fassade“ spricht; in eine ähnliche Richtung die Rüge von Gilles, FS Schiedermair, S. 196. Zur Legitimationswirkung derartiger Elemente ausf. Garland, Punishment, S. 68 ff.; Chase, Law, Culture, Ritual, S. 114 ff. 665 Schmidhäuser, FS Eb. Schmidt, S. 522; ebenso Lampe, GA 1968, S. 38; Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 200; Gerd Kaiser, Beschwer, S. 89; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 50; ders. ZStW 110 (1998), S. 323 Fn. 100; ders. Konzeptionen, S. 133; Krack, Rehabilitierung, S. 34 f.; Duttge, ZStW 115 (2003), S. 543; Rieß, JR 2006, S. 271; Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 104 ff.; Grünewald, ZStW 120 (2008), S. 577 Fn. 178. 666 Ähnlich Weigend, Deliktsopfer, S. 215, der von einer Tautologie spricht; Murmann, GA 2004, S. 69; Rath, FS Küper, S. 470 Fn. 67; tendenziell auch Schaper, Verfahren, S. 163, und Schöneborn, Wiederaufnahmeproblematik, S. 22, die Schmidhäusers Normativierung vorwerfen, sie sei in der Sache mit der Lehre der Gerechtigkeit als Prozesszweck identisch. Diese Leere erklärt auch, weshalb zwei Autoren aus dem normativen Begriff des Rechtsfriedens gerade entgegengesetzte Folgerungen ziehen können, vgl. Gerd Kaiser, Beschwer, S. 88 einerseits und Krack, Rehabilitierung, S. 47 ff. andererseits (hinsichtlich der Frage, ob der Freispruch mangels Beweises die Rechtsfriedensstörung beseitige oder nicht). Aus einem solchem Begriff lässt sich richtigerweise nichts ableiten.

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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5. Externe Kritik an Rechtfertigungsversuchen auf der ersten Stufe Intern vermochte allein der Gedanke der materiellen Wahrheit vollumfänglich zu befriedigen; die Abschreckungsgeneralprävention nur teilweise, nämlich als verfahrensunspezifischer Endzweck. Jetzt gilt es, die besprochenen Lehren in ihrer Leistungsfähigkeit zur Rechtfertigung der beiden Übeldimensionen des Strafverfahrens unter die Lupe zu nehmen. a) Die erste Stufe der Rechtfertigung besteht aus der Heranziehung eines gesellschaftlichen Zwecks, also eines Zustandes, der deshalb einen guten Grund für ein Verhalten darstellt, weil er für die Gesellschaft von Belang ist. Das Strafverfahren soll gerechtfertigt sein, weil es der Generalprävention, der materiellen Wahrheit oder dem Rechtsfrieden förderlich ist. Aus einer externen Perspektive lässt sich aber entgegenhalten, dass dieses Argument nur ein Teil dessen rechtfertigen kann, was o. B. VII. (S. 133 f.) als die Übel des Strafverfahrens gekennzeichnet wurden. Denn der Hinweis auf das Interesse der Gesellschaft oder ihrer Teile reicht als Rechtfertigung gegenüber dem Betroffenen noch nicht aus. Ein Zweck der Gesellschaft rechtfertigt nur gegenüber der Gesellschaft. b) In der Tat lässt sich die latente Bedrohung, die ein Strafverfahren für die Gesellschaft verkörpert (s. o. B. III. [S. 122 f.]), dadurch rechtfertigen, dass man darauf verweist, ohne ein der Strafzufügung vorgeschaltetes Strafverfahren bestünde eine zu hohe Gefahr, dass man einen straft, der nicht der „Richtige“ ist – dass also die materielle Wahrheit verfehlt würde (o. 3. [S. 181 f.]). Dies wäre generalpräventiv abträglich, denn dadurch bliebe die von der Strafzufügung zu leistende Bestätigung der Wirklichkeit der Strafandrohung aus. Es wurde aber bemerkt, dass selbst dies nicht uneingeschränkt gilt: Denn in den Fällen, in denen keine Erkenntnisprobleme zu lösen sind, besteht nicht die Gefahr, den Richtigen zu verfehlen (s. o. 3. [S. 186 ff.]). Aus den gerade genannten Gründen wäre kein Strafverfahren nötig. Bedeutet das, dass die Rechtfertigung des Verfahrens gegenüber der Gesellschaft in solchen Fällen misslingt? Hier müssen die zwei o. o. 3. (S. 186 f.) genannten Formen der verfahrenslosen Lösung des Erkenntnisproblems voneinander geschieden werden. Es wurde gesagt, dass das Erkenntnisproblem sowohl auf der kollektiven Ebene, durch einen totalen Überwachungsstaat, als auch bei konkreten Einzelfällen, wie etwa beim Dachauer Gerichtsschützen, schon vor Verfahrensbeginn gelöst sein kann. Die Lösung auf der kollektiven Ebene, die Errichtung des lückenlosen Überwachungsstaates, hätte indes sehr große Nachteile für die Gesellschaft, die die vorhandene Bedrohungslast durch ein staatliches Strafverfolgungssystem bei Weitem übersteigern würden. Ein System lückenloser Überwachung wäre mehr als eine Bedrohung. In bestimmten Hinsichten wäre es bereits eine Verletzung wichtiger Dimensionen der Freiheit aller Gesellschaftsmitglieder. Denn viele Entscheidun-

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gen des Alltags können nur unter der Voraussetzung frei und spontan getroffen werden, dass sie gerade nicht „in die Geschichte eingehen“. Es wäre in der Tat unbehaglich, wenn man noch 10 Jahre später feststellen könnte, wo jemand gestern Mittag essen war oder an welchem Abend er mit seinen Freunden etwas trinken gegangen ist. Hier wird klar, dass ein auf die materielle Wahrheitsfindung gerichtetes Strafverfahren eine zusätzliche Rechtfertigung erfährt, nämlich als freiheitliche Alternative zum totalen Überwachungsstaat. Eine Gesellschaft, die ihren freiheitlichen Charakter nicht verlieren will, muss es vorziehen, die Frage, ob der zu Bestrafende der Richtige ist, nicht großflächig durch ein totales Überwachungssystem zu klären, sondern durch einzelne Strafverfahren. Die allgemeine Bedrohung durch die Institution des Verfahrens ist insoweit – auch trotz Vorhandenseins einer denkbaren und machbaren Lösung des Erkenntnisproblems auf der kollektiven Ebene – gerechtfertigt. Hier ist der spezifische Verfahrenszweck genauer gesagt nicht mehr die Findung der materiellen Wahrheit, sondern die Bewahrung vor der Degeneration zum totalen Überwachungsstaat. Ist dagegen das Erkenntnisproblem nur in einem Einzelfall gelöst, sind derartige Gefahren für die Gesellschaft nicht mehr vorhanden. Andere gesellschaftsbezogene Belange sind nicht ersichtlich. Deshalb muss man hier sagen, dass die Durchführung des Verfahrens in der Tat der Gesellschaft gegenüber nicht mehr gerechtfertigt ist. Die Gründe, die zur Durchführung des Verfahrens in solchen Situationen zwingen, sprengen bereits die erste gesellschaftsbezogene Rechtfertigungsstufe. An der Gesellschaft bleiben also bestimmte Kosten hängen, die nicht durch einen gesellschaftsbezogenen Nutzen kompensiert werden können. Die Tatsache, dass die Gesellschaft sich dennoch bereit erklärt, diese Kosten zu tragen, soll nicht begrifflich in einen gesellschaftlichen Belang höherer, erhabenerer Art umdefiniert werden (etwa einen gesellschaftlichen Belang der Ernstnahme individueller Belange), sondern vielmehr als bestandene Feuerprobe hinsichtlich der Bekenntnis dieser Gesellschaft zum Eigenwert des Individuums begrüßt und gelobt werden. Es bleibt dennoch zu klären, um welche individuellen Belange es hier geht. Dies wird in den nächsten Rechtfertigungsstufen zu thematisieren sein. c) Die das Individuum betreffende Dimension des Übels – die qualifizierte Verdächtigung – wird aber mit der Geltendmachung eines gesellschaftlichen Zwecks nicht gerechtfertigt. Verkörpert das Individuum einen intrinsischen Wert, der ihm selbst unabhängig von jedem gesellschaftlichen Nutzen anhaftet, leuchtet sofort ein, inwiefern der Hinweis auf Zwecke, die für andere ein Gut sind, von beschränkter Bedeutung bleiben muss. Denn dem Individuum steht immer noch die Replik offen: Was geht mich das an? Hat der Einzelne als Selbstzweck nicht nur einen Preis, sondern eine Würde,667 ist er eine eigenständige, von anderen getrennte Person,668 dann ist es nicht legitim, ihm etwas mit der Begründung 667 668

Kant, Grundlegung, S. 434. Rawls, A Theory of Justice, S. 23 f.

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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wegzunehmen, dies stelle einen anderen besser oder sogar viel besser.669 „Using one of these people for the benefit of others, uses him and benefits the others“.670 Jemandem ein Übel zuzufügen mit der Begründung, dies fördere das Gute eines anderen, ist nichts anderes als eine offene Instrumentalisierung. aa) Dies ist bei der Heranziehung generalpräventiver Überlegungen offensichtlich.671 Bereits in der straftheoretischen Diskussion gilt als Standardeinwand gegen diese Lehren, dass sie das Individuum instrumentalisieren, es zu den „Gegenständen des Sachenrechts“ erniedrigen.672 Generalprävention kann gegenüber dem Individuum erst dann legitimiert werden, wenn bestimmte nicht mehr zweckmäßigkeitsbezogene, sondern deontologische Schranken, insbesondere das Schuldprinzip, eingehalten werden.673 Die Kraft dieses Einwands wird im Strafverfahren aber um einiges potenziert. Denn bei der straftheoretischen Diskussion geht es um den Schuldigen, beim Strafverfahren hingegen nur um einen, der für verdächtig gehalten wird. Reicht Generalprävention nicht einmal als Grund für die Bestrafung des Schuldigen aus, dann ist sie erst recht kein ausreichender Grund für das Verfolgen eines Unschuldigen. Es geht nicht um bloße Quantitäten, dass die ganze Gesellschaft ein Interesse an der Strafverfolgung hat, und nur der Einzelne ein Interesse daran hat, vor ihr verschont zu bleiben. Auch das Interesse Aller verleiht ihnen kein Recht gegen einen Einzelnen.674 669 Das ist in der Notstandslehre bereits „allgemeine Auffassung“, so Küper, JZ 2005, S. 106. 670 Nozick, Anarchy, State, Utopia, S. 33. 671 Bzgl. generalpräventiver Prozessauffassungen ebenso Weigend, JZ 1990, S. 781. 672 Grdl. Kant, Metaphysik der Sitten, A 196/B 226. 673 Vgl. o. C. III. 3. (S. 182). 674 Kant, Handschriftlicher Nachlaß, Reflexion Nr. 6586: „Der Nutz vieler giebt ihnen kein Recht gegen einen“. Dies wird von Freund verkannt: Zwar postuliert auch er auf den ersten Blick eine mehrstufige Rechtfertigungstheorie, die Entscheidungen dann für gerechtfertigt erklärt, wenn sie dem überwiegenden Interesse entsprechen (GA 1991, S. 395) und eine „zu erwartende Akzeptanz“ des Betroffenen vorliegt (GA 1991, S. 396). Die zweite Komponente folgt weitgehend aus der ersten: „Daß die Entscheidung eine solche für das eindeutig überwiegende Interesse darstellt, muß einer an rechtlich richtigem Verhalten prinzipiell interessierten Person argumentativ so überzeugend dargelegt werden können, dass sie dieses Wertungsergebnis zu akzeptieren, als eigenes anzunehmen vermag“ (S. 396). Die am rechtgemäßen Verhalten interessierte Person lässt sich deshalb freiwillig instrumentalisieren, solange die Zwecke gewichtig genug sind. S. a. Freund, Tatsachenfeststellung, S. 67: Die Inkaufnahme der Verurteilung eines Unschuldigen müsse als „Entscheidung für den eindeutig höherrangigen Wert ausgewiesen werden“ können. Problematisch erscheint auch das Rechtfertigungsmodell von Frister, das zwei Formen der Legitimierung staatlicher Eingriffe unterscheidet, Zurechnung einerseits, ein überwiegendes öffentliches Interesse andererseits (Frister, Schuldprinzip, S. 29 f.). Bei der Strafe sei die erste Rechtfertigungsform am Platze; weil Strafverfahren keine Strafen sind, gilt bei ihnen das Prinzip des überwiegenden öffentlichen Interesses innerhalb der Opfergrenze (Frister, Schuldprinzip, S. 103 ff.). Im Klartext heißt das, der Staat darf instrumentalisieren, solange er weder straft noch zuviel verlangt;

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1. Teil: Strafprozesstheorie

Man könnte dem Einwand dadurch zu entgehen versuchen, dass man die Generalprävention „gegensatzaufhebend“ deutet, was gerade bei der positiven Generalprävention immer wieder gemacht wird.675 Eine positivgeneralpräventiv sinnvolle Strafe könne nur eine sein, die die Belange des Individuums ernst nimmt. So leitet Schroeder besondere Anforderungen an das Verfahren – dass es zum richtigen Ergebnis führen müsse, dass es transparent, fair und formgerecht durchzuführen sei – allesamt daraus ab, dass diese „nicht nur – wie im Zeitalter eines einseitigen Liberalismus oft behauptet – ein Interesse des Angeklagten“ sei, sondern eine Voraussetzung der positivgeneralpräventiv gebotenen „Identifikation der Öffentlichkeit mit der Entscheidung“ verkörperten.676 Damit wird das Problem der Instrumentalisierung nicht gelöst, sondern bestenfalls vorläufig entschärft. Die Entschärfung ist nur vorläufig, weil es eine empirische und deshalb kontingente Frage ist, ob die angestrebte Identifikation der Öffentlichkeit mit der Entscheidung in der Tat den Respekt vor den Belangen des Individuums voraussetzt. Gerade in Prozessen gegen ein Individuum, dem die Gesellschaft wenig verständnisvoll gegenüber steht, wie einem mutmaßlichen Terroristen arabischer Herkunft oder einem von der Stirn bis zu den Zehenspitzen mit Hakenkreuzen, Runen und dergleichen tätowierten Mitglied der rechten Szene, lässt sich dies ernsthaft bezweifeln. Die Entschärfung ist auch nie eine Lösung, denn auch dort, wo das Individuum im Ergebnis seinen Rechten entsprechend behandelt wird, geschieht das nicht aus Achtung vor diesen Rechten, sondern weil es der Gesellschaft gerade noch passt. Der Betroffene wird erst im Hinblick auf Belange der Gesellschaft ernst genommen, was keine wahre Ernstnahme bedeutet, sondern eine Instrumentalisierung bleibt. bb) Bei der materiellen Wahrheit liegen die Dinge auf den ersten Blick komplizierter. Denn die materielle Wahrheit stützt sich sowohl auf zweckmäßigkeitsbezogene Gründe – nämlich dass die Generalprävention als Bestätigung des Ernstes der Strafandrohung darauf angewiesen ist, dass nur der, der die Androhung missachtet, bestraft wird – als auch auf deontologische Gründe, vor allem das Schuldprinzip. Insofern sie einen gesellschaftsbezogenen Zwischenzweck zum Endzweck der Prävention darstellt, dürfte klar sein, dass sie den Betroffenen nicht als eigenständigen Träger von Rechten betrachten kann. Dies wird in einigen Passagen deutlich, die von Eberhard Schmidt kurz vor dem Absturz der nationalsozialistischen Diktatur geschrieben worden sind: „Nicht um die staatliche Macht einzuschränken . . . fordert man eine ,Subjektstellung‘ des Beschuldigten mit eigener prozessualer Rechtsstellung; diese erscheint vielmehr erforderlich, damit das Interesse des Staates an Wahrung der Gerechtigkeit nicht durch kleinere oder sogar mittlere Instrumentalisierungen sind in Ordnung. Unten VI. 6. d) (S. 312 ff.) soll der Versuch unternommen werden, den Aufopferungsgedanken so zu konzipieren, dass er vielmehr eine Instrumentalisierung ausschließt. 675 Siehe oben Fn. 551. 676 Schroeder, NJW 1983, S. 139.

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menschliche Fehlleistungen vereitelt werde . . .“ 677 Die „Verurteilung eines Unschuldigen“ sei „gerade im Interesse der staatlichen Autorität“ zu vermeiden.678 Für die prozessuale Stellung des Beschuldigten in der Hauptverhandlung „ist allein maßgebend, wie die Findung der Wahrheit am besten zu fördern ist“.679 Die materielle Wahrheit funktioniert aber nicht nur als gesellschaftsbezogener Zweck, sondern gleichzeitig als dem Individuum verpflichtete deontologische Schranke. Sie allein bietet dafür (gute, wenn auch nicht absolut fehlsichere, s. o. 3. [S. 183 ff.]) Gewähr, dass das Individuum nicht ohne Schuld bestraft wird. Dennoch wird dadurch die Inanspruchnahme des Individuums durch einen qualifizierten Verdacht noch nicht hinreichend gerechtfertigt. Der vom qualifizierten Verdacht Betroffene muss vielmehr unabhängig von der wahren Sachlage, unabhängig davon, ob er der Richtige ist, das Verfahren dulden. Die materielle Wahrheit schützt ihn zwar davor, als Unschuldiger bestraft zu werden. Er würde es aber sicherlich vorziehen, als Unschuldiger nicht erst nicht bestraft, sondern nicht einmal verfolgt zu werden. Weshalb man sich über dieses verständliche Interesse des Betroffenen hinwegsetzen darf, wird durch den bloßen Hinweis auf die materielle Wahrheit nicht erklärt. Beim Unschuldigen kommt die materielle Wahrheit also zu spät. Etwas unscharf,680 aber dennoch anschaulich: Dem Unschuldigen dient die materielle Wahrheit als Schadensminimierung. Es muss aber geklärt werden, warum der Schaden überhaupt rechtens sein darf. cc) Dagegen ist bei den Rechtsfriedenslehren die Instrumentalisierung offensichtlich. Denn dass die Gesellschaft ein Interesse an einer Befriedung hat, heißt noch lange nicht, dass sie es auf Kosten des Betroffenen durchsetzen darf. Die oben angemerkte Unbestimmtheit des Begriffs des Rechtsfriedens eröffnet aber einen Weg, diese Sachlage in einem milderen Licht erscheinen zu lassen. 677 Eb. Schmidt, FS Kohlrausch, S. 275 f. Eine Bemerkung ist aber am Platze, damit die Kritik an den Thesen nicht unbemerkt als ein Vorwurf an deren Verfasser verstanden wird. Eb. Schmidt nahm eine eher distanzierte Haltung zum Nationalsozialismus ein, und in dieser 1944 erschienenen Abhandlung will er u. a. die Struktur der StPO, mit ihrer Trennung von Staatsanwaltschaft und Gericht, gegen die vor allem von Henkel geäußerten Vorwürfe, diese Struktur sei Ausfluss liberalistischen, gewaltteilenden Denkens bzw. des „Parteigedankens“ verteidigen. Schmidt versucht deshalb, die Sache dadurch zu entpolitisieren, dass er behauptet, die Struktur der StPO beruhe teilweise auf politikfreien Grundsätzen menschlicher Psychologie, nämlich dass die Vereinigung von Richter und Ankläger in einer Person diese psychologisch überfordere (S. 272 ff., 278 f.). Vgl. auch o. Kap. 1 A. II. 4. (S. 66 f.). 678 Eb. Schmidt, FS Kohlrausch, S. 288 f. 679 Eb. Schmidt, FS Kohlrausch, S. 294. Auch hier muss man vorsichtig sein: Schmidts Äußerungen sind polemisch gegen Henkel gerichtet, der den Beschuldigten zur aktiven Mitwirkung an der Wahrheitsfindung verpflichten wollte. 680 Denn die Redeweise von „Schaden“ und „Dienen“ ist bereits konsequentialistisch gefärbt. Es wird sich erweisen, dass die gebotene Rechtfertigung der qualifizierten Verdächtigung erst auf der dritten, nicht mehr konsequentialistischen, sondern deontologischen Stufe des Respekts gelingen wird.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

Ähnlich wie bei der prozessualen bzw. forensischen Wahrheit (o. 3. [S. 180]) und bei der positiven Generalprävention (o. S. 194) ist versucht worden, im Wege gegensatzaufhebender Begriffsbildung681 in den ursprünglich eher gesellschaftsorientierten Begriff des Rechtsfriedens682 die Perspektive des Betroffenen miteinzubeziehen.683 Die einseitige Aufopferung des Individuums im Interesse der Gesellschaft wäre demnach keine wahre Befriedung. „Schrankenlose Wahrheitssuche kann den Rechtsfrieden gefährden“.684 Wenn Rechtsfrieden empirisch verstanden wird und sich nicht in einer leeren normativen Begriffshülse erschöpft,685 wird man aber nicht ausschließen können, dass schrankenlose Wahrheitssuche den Rechtsfrieden in vielen Fällen auch zu fördern vermag. Zwar bedeutet schrankenlose Wahrheitssuche nach der gegensatzaufhebenden Definition von Rechtsfrieden immer gleichzeitig, dass dieser Zweck nicht vollumfänglich, sondern nur teilweise – nämlich in seinem gesellschaftsbezogenen Teil – erreicht worden ist. Weil aber gerade der Teil verwirklicht worden ist, der wohl der größere ist, wird der aufgeopferte Betroffene mit seiner Beschwerde kaum Gehör finden können. Es findet also ebenfalls eine Instrumentalisierung statt. Auch hier können inhaltliche Gegensätze nicht durch begriffliche Festlegungen überspielt werden.686 Die die Perspektive des Individuums miteinbeziehende Definition des Rechtsfriedens landet beim Spiel der Abwägung,687 ein Spiel, bei dem dem schwächeren Individuum von Anfang die schlechteren Karten zugeteilt werden.688 Ferner ist zu bezweifeln, ob der durch die individuelle Perspektive angereicherte Begriff des Rechtsfriedens überhaupt dazu in der Lage ist, dem Individuum gerecht zu werden. Denn da seine Belange erst unter dem Dach des Rechtsfriedens zu Wort kommen, bleibt immer der Verdacht, dass das Individuum nicht um seiner selbst willen von Bedeutung ist, sondern nur insofern, wie es der Rechtsgemeinschaft gerade ziemt. In diesem Sinne verhält es sich genauso wie bei der soeben kritisierten positiven Generalprävention. Die individuellen Belange müssen erst den Filter des der Rechtsgemeinschaft zustehenden, also 681

Vgl. o. Fn. 632. Richtig Henckel, Gerechtigkeitswert, S. 15 f. 683 So etwa Rieß, FS Schäfer, S. 170; ders. StraFo 2000, S. 368; ders. JR 2006, S. 272; ebenso Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 65 f., der im Rechtsfrieden die Auflösung der Kollision zwischen materieller Wahrheit und Justizförmigkeit erblickt; H. Jung, Truth, S. 149. Vgl. ferner o. S. 188 und Fn. 656. 684 Rieß, FS Schäfer, S. 170. 685 Für diese Unterscheidung bereits o. 4. (S. 189 f.). 686 Zugegeben von Rieß, FS Schäfer, S. 172: „mühsam harmonisierbares Gebilde verschiedener Topoi“. 687 Rieß, JR 2006, S. 271; vgl. auch Rieß, FS Schäfer, S. 172 f. („praktische Konkordanz“). 688 Kritik der Abwägungstheorien u. V. 1. (S. 217 ff., 224 ff.). 682

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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kollektiven Rechtsfriedens passieren, um Gehör zu finden. Es ist nicht ersichtlich, wie eine Rechtsfriedenslehre diese kollektivistische Grundorientierung zu überwinden vermag. 6. Erste Zwischenbilanz am Ende der ersten Rechtfertigungsstufe Ein erstes Zwischenergebnis zur Fragestellung nach der Rechtfertigung des Strafverfahrens ist also erreicht worden. Die Lehren vom Zweck des Strafverfahrens, die die Durchführung von Strafverfahren damit rechtfertigen, dass diese für einen von der Gesellschaft für wertvoll erachteten Zustand förderlich sein können, sind unerlässlich, um das große Freiheitsbedrohungspotenzial eines Systems qualifizierter Verdächtigungen erklärlich zu machen. Diese Zwecke haben ihrerseits die Abschreckungsgeneralprävention als Endzweck, die gleichzeitig den Zweck der Strafe darstellt, und die materielle Wahrheit als spezifisch prozessualen Zwischenzweck. Teilweise dient das Verfahren auch dem gesellschaftsbezogenen Zweck der Bewahrung vor dem totalen Überwachungsstaat. Rechtsfrieden ist aber kein Verfahrenszweck. Damit werden gleichzeitig zwei Grenzen klar. Erstens können die beiden genannten Zwecke des Strafverfahrens, insofern sie soziale Belange darstellen, für die Rechtfertigung der Inanspruchnahme des Individuums nicht ausreichen. Sie können also nur die sozialbezogenen Übel des Verfahrens, nicht aber dessen individualbezogene Dimension als qualifizierte Verdächtigung rechtfertigen. Würde man bei ihnen stehen bleiben, hieße das, dass das Individuum um der Verfolgung sozialer Zwecke willen instrumentalisiert wird. Zweitens gibt es eine Konstellation, in der ein Verfahren weder zur Findung der materiellen Wahrheit noch zur Bewahrung vor dem Überwachungsstaat erforderlich erscheint, nämlich die nicht nur theoretischen Einzelfälle, in denen das gesamte subsumtionsrelevante Tatsachenmaterial bereits vor Verfahrensbeginn geklärt und bekannt ist („Dachauer Schütze“). Diese zwei verbleibenden Fragen zwingen dazu, zu den nächsten Rechtfertigungsstufen fortzuschreiten. IV. Zweite Rechtfertigungsstufe: Strafverfahren im Interesse des Betroffenen 1. Einleitende Bemerkungen Die Gleichgültigkeit gegenüber den Belangen des Betroffenen und dessen in ihr verkörperte Instrumentalisierung sind das Fundamentalproblem der Lehren, die auf das Interesse der Gesellschaft abstellen, um das Strafverfahren zu rechtfertigen. Deshalb liegt es nahe, dass man sich auf eine höhere Rechtfertigungsstufe begibt, in deren Mittelpunkt das Interesse des Betroffenen steht. Ähnlich wie die erste Rechtfertigungsstufe deshalb als konsequentialistisch eingeordnet wurde, weil es um die Förderung eines Zwecks bzw. Guts ging, nämlich eines

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1. Teil: Strafprozesstheorie

gesellschaftlichen, hat man hier ebenfalls mit konsequentialistischem Denken zu tun, diesmal ist es aber individualorientiert. Denn der gute Zweck, auf dessen Förderung es jetzt ankommen soll, bezieht sich auf den vom Verfahren betroffenen Einzelnen. Allem Anschein nach richtet sich das Strafverfahren gegen den Betroffenen. Lehren, die eine Rechtfertigung auf der zweiten Stufe vorschlagen, sehen in diesem Befund bloßen Schein. Letztlich werde auch und gerade der Betroffene durch die Tatsache, dass es ein Strafverfahren gibt, besser gestellt als zuvor. Vor allem auf zwei Theorien ist näher einzugehen: zunächst auf die eher sozialstaatlich inspirierten, im Rahmen der Reformbewegung der siebziger und achtziger Jahren stark vertretenen Thesen, wonach das Strafverfahren im Dienst der Resozialisierung stehen sollte; und an zweiter Stelle auf die erzliberale These des Strafverfahrens als Mittel des Schutzes des Betroffenen. 2. Straftheorien (II): Das Strafverfahren im Dienste der Resozialisierung a) Bevor die positive Generalprävention zur vorherrschenden Straftheorie avancieren konnte, hatte der Resozialisierungsgedanke, wonach die Strafe dem Beschuldigten helfen sollte, den Weg in die Rechtsgemeinschaft zurückzufinden, seinen Höhepunkt erreicht. Schon die IKV setzte sich nachdrücklich dafür ein, dass die Maxime, dass „nicht die Tat, sondern der Täter zu bestrafen“ sei, strafverfahrensrechtlich umgesetzt werden müsse.689 In der Nachkriegszeit plädierte Karl Peters, nach Eb. Schmidt wohl der prominenteste deutsche Strafprozessrechtler der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, von einer moralisierenden Resozialisierungstheorie der Strafe ausgehend,690 für ein dem angeblich modernen Täterstrafrecht angemessenes Prozessrecht.691 Der Strafprozess sei dieser Ansicht nach als „sittlicher Vorgang“, als „sittlicher Läuterungsprozeß“ zu begreifen, sowohl für den Beschuldigten als auch für die Rechtsgemeinschaft.692 Der Beschuldigte sei deshalb im 689

Etwa Rosenfeld, MittIKV n. F. 4 (1930), S. 117 f. Peters, FS Heinitz, S. 502 ff., S. 513: „Verantwortung, Bindung, Ordnung, Autorität und Sichunterstellen (bei Jugendlichen: Gehorsam), Strafe“; ders. Kriminalpädagogik, S. 91 („Lebendes Recht erfordert objektive Befolgung und subjektive Bejahung“), S. 109. Interessanterweise versuchte Peters, Individualgerechtigkeit, S. 200 ff. aus der „Prozeßidee selbst“, also aus dem Gedanken, dass „im Strafverfahren . . . der Täter der Sühne, der Besserung, der Rechtsachtung zugeführt werden soll“, sozialethische Grenzen der Wahrheitsfindung zu gewinnen, denn „Verhaltensweisen und Methoden, die unsittlich sind, versperren den Weg zum Prozeßziel“ (alle Zitate S. 200). Als konkrete Folgerung wird die Unverwertbarkeit der Zeugenaussage eines U-Haft-Spitzels abgeleitet (S. 201 f.). 691 Peters, Strafprozeß, S. 9. 692 Peters, Strafprozeß, S. 43 f. 690

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Verfahren als sittliche Persönlichkeit zu behandeln, weil ansonsten diese Läuterung nicht erfolgen könne, also der Sinn des Verfahrens vereitelt werde.693 In den 60er Jahren hieß es lapidar in § 2 Abs. 1 Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuchs: „Strafen und Maßregeln dienen dem Schutz der Rechtsgüter und der Wiedereingliederung des Täters in die Rechtsgemeinschaft“. Darin lag gleichzeitig der Kern eines umfassenden Programms zur Reform des Strafverfahrens. Das herkömmliche, auf die materielle Wahrheit angelegte Verfahren, in dem ein strafwilliger Staat mit einem Individuum zusammenstößt, das sich der Strafe zu entziehen sucht, beruhe auf der Vergeltungstheorie.694 Ein nicht mehr an der Vergeltung, sondern an der Resozialisierung orientiertes Strafrecht verlange deshalb nach einem anderen, weniger konfliktiv und mehr kooperativ ausgestalteten Strafverfahren, in dem Staat und Betroffener sich gemeinsam um die beste Lösung des vorhandenen Konflikts bemühen würden. Da ein Großteil des Konflikts regelmäßig auf täterbezogene Faktoren zurückführbar sei, setze eine wahre Lösung grundsätzlich voraus, dass diese Faktoren gezielt verändert würden, m. a. W.: dass der Täter resozialisiert werde.695 In der deutschen Reformdiskussion hat man aus diesen Gedanken vor allem zwei konkrete Folgerungen abgeleitet, die beide mit der Ausgestaltung der Hauptverhandlung zu tun hatten. Erstens schlug man die Einführung einer zweigeteilten Hauptverhandlung mit einem Schuldinterlokut vor696 – interessanter693

Peters, Strafprozeß, S. 45. Krauß, FS Schaffstein, S. 424 ff.; Roxin, Gesamtkonzept, S. 17; Rieß, FS Schäfer, S. 162, 179; Lenckner, JuS 1983, S. 340; Behrendt, FS R. Schmitt, S. 28 („ödipale Fixierung“); davor schon Eb. Schmidt, DriZ 1959, S. 16; ausf. und gründlich Haas, Strafbegriff, S. 171 ff. 695 F. Bauer, Suche, S. 204 f.; Maihofer, Verbrechensbekämpfung im Wandel, S. 47: „In Wahrheit beginnt schon mit der ersten polizeilichen Vernehmung des Täters jener Prozeß der Resozialisierung . . ., auf dessen Gelingen für eine moderne Kriminalpolitik alles ankommt“. Spezialpräventive Gedanken auch bei Schreiber, Konsens, S. 83; Rudolphi, ZRP 1976, S. 165; Zipf, Kriminalpolitik, S. 144 ff.; H. Schäfer, GA 1986, S. 65 f.; Behrendt, FS R. Schmitt, S. 20 f., 28 ff. Vgl. auch Haberstroh, Strafverfahrensrecht und Resozialisierung, der nach einer (in obiger Terminologie, etwa Kap. 1 B. II. [S. 89]) „sozial-konstruktivistischen“ Kritik an der materiellen Wahrheit, die sowohl auf Grundlage der Konsenstheorie von Habermas als auch der Wahrnehmungspsychologie formuliert wird (S. 68 ff., 73 ff.), fordert, dass in der Hauptverhandlung gerade die vielen Wahrheiten miteinander zu einer Synthese gebracht werden, was auch dem Täter andere Perspektiven der Deutung seiner Tat eröffnen und den Weg zu seiner Resozialisierung anbahnen würde (S. 64 f., 88 ff., 109, 110 ff., 148 ff., 165 ff.). 696 Rosenfeld, MittIKV n. F. 4 (1930), S. 118 f.; Eb. Schmidt, DRiZ 1959, S. 20; Grünhut, FS v. Weber, S. 366 f.; Roxin, DRiZ 1969, S. 389; ders. Reform der Hauptverhandlung, S. 62 ff.; ders. FS Jauch, S. 198 ff.; Dahs, NJW 1970, S. 1707; Jescheck, JZ 1970, S. 206; Müller-Dietz, Z. ev. Ethik 15 (1971), S. 271 f.; ders. ZStW 93 (1981), S. 1263 f.; Rudolphi, ZRP 1976, S. 165, 171; Lenckner, JuS 1983, S. 343 ff.; Schöch, Reform der Hauptverhandlung, S. 59 ff.; ders. Hauptverhandlung, S. 99 f., 104 f.; Rieß, FS Schäfer, S. 179 ff.; Beulke, JR 1982, S. 315; Moos, Österreichisches Strafprozeßrecht, S. 80; mit empirischem Test Dölling, Zweiteilung, insb. S. 240 ff.; w. N. b. Haber694

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1. Teil: Strafprozesstheorie

weise eine zentrale Forderung der ebenfalls spezialpräventiv orientierten Bewegung der Nouvelle Defense Sociale in Frankreich.697 Die Hauptverhandlung sollte demnach zäsiert werden; der erste Teil widme sich der Schuld-, der zweite Teil der Straffrage. Die Thematisierung der allein für die Strafzumessung relevanten Umstände, insbesondere der Person und der Vorgeschichte des Betroffenen, sollte demnach erst nach der Entscheidung über die Schuldfrage erfolgen. Dies sei rechtsstaatlich vorteilhaft, denn es verringern sich dadurch die Gefahren, dass aus dem Persönlichkeitsbild, das man sich macht, eine Voreingenommenheit bezüglich der Schuldfrage entstehen kann. Vor allem ermögliche die Zweiteilung der Hauptverhandlung eine kooperative Suche nach der besten Rechtsfolge, woraus man sich große Erfolge in Hinblick auf die Resozialisierung erhoffte. Zweitens wurde in einem Alternativ-Entwurf die Einführung eines Verfahrens mit nichtöffentlicher kooperativer Hauptverhandlung vorgeschlagen.698 Aus dem Sozialstaatsprinzip folge, dass man bereits im Strafverfahren mit der pädagogischen Einwirkung auf den Täter anzufangen habe. Der Alternativ-Entwurf unterscheidet deshalb konfrontatives und kooperatives Verfahren.699 Es gebe zwei Gruppen von Beschuldigten: die, die um einen Freispruch kämpfen, und die, die von vornherein geständig sind und eine möglichst schonende Sanktion anstreben.700 Für Letztere müsse ein Verfahren vorgesehen werden, das die Stigmatisierung durch eine öffentliche Hauptverhandlung vermeide und dadurch eine möglichst schnelle Wiedereingliederung des Betroffenen in die Rechtsgemeinschaft gewährleiste. Auch an anderen Stellen, etwa in der Diskussion über Beweisverbote, hat man sich spezialpräventiver Argumente bedient.701 Auch außerhalb Deutschlands sind vergleichbare Ansätze vorhanden. Von der Défense Sociale Nouvelle war schon kurz die Rede. In Italien war es vor allem Carnelutti, der auf Grundlage einer moralisierenden Sühnetheorie das Strafverfahren sogar als Erscheinungsform freiwilliger Gerichtsbarkeit (nach dem Vor-

stroh, Strafverfahrensrecht und Resozialisierung, S. 31 f. Dafür auch v. Stackelberg, GS Cüppers, S. 143, unter Berufung auf das Vorbild des angelsächsischen Verfahrens; Schubarth, Unschuldsvermutung, S. 19, und Trechsel, SchwJZ 1981, S. 32, die sich aber ausschließlich auf die Unschuldsvermutung berufen. Nachw. zur Kritik o. Fn. 193. 697 Ancel, FS Hugueney, S. 205 ff.; ders. Sozialverteidigung, S. 235 f.; Vitu, RIDP 40 (1969), S. 485 ff.; zu dieser Bewegung vgl. noch Ancel, MschrKrim 1957 Sonderheft S. 51 ff.; Würtenberger, MSchrKrim 1957 Sonderheft, S. 60 ff.; Antón Oneca, ADPCP 1967, S. 26 ff.; H. Kaufmann, FS v. Weber, S. 418 ff.; Melzer, Neue Sozialverteidigung, S. 37 ff. 698 Baumann u. a., AE-Strafverfahren mit nichtöffentlicher Hauptverhandlung, etwa S. 6 ff.; s. a. Lenckner, JuS 1983, S. 344 ff.; Schöch, Haupverhandlung, S. 105. 699 Roxin, FS Jauch, S. 190 ff.; Schöch, Struktur der Hauptverhandlung, S. 100 ff. 700 Roxin, FS Jauch, S. 190, 195; zust. Wolter, GA 1985, S. 52. 701 Osmer, 136a StPO, S. 10 f.; Otto, GA 1970, S. 297; Haffke, GA 1973, S. 72; Baumann, Strafprozeßrecht, S. 50: „Ein ,sauberes‘ Verfahren ist gleichzeitig Beginn der Resozialisierungstätigkeit des Strafrechts“.

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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bild des zivilrechtlichen Entmündigungsverfahrens) konzipierte.702 In der heutigen angelsächsischen Diskussion vertritt in erster Linie Duff einen auf den Betroffenen abstellenden Standpunkt.703 Die Strafe wird als eine Form säkularisierter Sühne (penance) verstanden, also als ein kommunikativer Apell an den Täter, sich von seiner Tat zu distanzieren und den Weg zurück in die Gemeinschaft der Vernünftigen und Verantwortlichen zu finden.704 Entsprechend begreift Duff das Strafverfahren und vor allem die Hauptverhandlung als Situation, in der jemand vor seiner Gemeinschaft als moralisches Subjekt zur Verantwortung gezogen wird. Die Gemeinschaft versucht, einen Bürger über seine Taten in ein Gespräch zu verwickeln, in dem die Gerechtigkeit der an diesen Bürger gestellten Anforderungen dargelegt werden soll.705 Die Hauptverhandlung verkörpert die Werte, die sie zu verwirklichen sucht: Sie soll den Bürger vom Unrecht (wrongfulness) seiner Tat und von seiner moralischen Pflicht, das Recht zu achten, überzeugen.706 b) Es lassen sich mehrere Unzulänglichkeiten feststellen. aa) Erstens sind die drei Einwände, die o. III. 2. (S. 162 ff.) bei der Stellungnahme zu den generalpräventiven Begründungen des Strafverfahrens formuliert worden sind, auch hier mutatis mutandis einschlägig. (1) Das Strafverfahren ist keine Strafe.707 Die Rechtfertigung des Strafverfahrens durch seinen Beitrag zur Resozialisierung des Betroffenen führt dazu, dass man viel zu weitgehende Einwirkungen rechtfertigt, die man – wenn überhaupt – nur einem Schuldigen gegenüber rechtfertigen könnte.708 Sieht man die Resozialisierung als Verfahrenszweck, dann sind nicht nur viele der u. 4. (S. 210 f.) so702 Carnelutti, Principi, S. 49 f.; zust. Luso Soares, Jurisdição voluntária, S. 58 ff. Auf Carneluttis Straftheorie kehren wir u. Teil 2 Kap. 1 C. VII. (S. 366 ff.) bei Erörterung seiner Rechtskraftlehre zurück. Krit. Guarneri, NovDigIt XV (1968), S. 233 f. 703 Duff hätte sicherlich Vorbehalte dagegen, dass man seine Lehre als präventive, also letztlich konsequentialistische Theorie einordnet (s. insb. Trials and Punishments, S. 151 ff.). Ich kann mir aber keinen angemesseneren Ort vorstellen, die Theorie zu behandeln, als den vorliegenden, zumal er Gedanken vertritt, die in der deutschen Diskussionsgemeinschaft, wo Prävention positive und Vergeltung negative Konnotationen hat, große Ähnlichkeit zu Konzepten aufweisen, die als spezialpräventiv bezeichnet werden (wie dasjenige/diejenigen von Peters, s. o.; und von Arthur Kaufmann, JZ 1967, S. 556 f.; ders. Jura 1986, S. 231). Eine Nähe zu positiv-generalpräventiven Ansätzen ist auch unverkennbar, s. o. Fn. 556. 704 Insb. Duff, Communication and Community, S. 107 ff.; ferner ders. Trials and Punishment, S. 39 ff., 245 ff.; ders. Punishment, Expression and Penance, S. 329 ff.; ders. Desert and Penance, S. 164; ders. Punishment & Society 1 (1999), S. 36 ff.; und dazu Ellscheid, Straftheorie von Duff, S. 25 ff. 705 Ausf. Duff, Trials and Punishments, S. 114 ff.; ferner ders. Communication and Community, S. 72, 80; krit. hinsichtlich des Vermögens des Ansatzes, die Verfolgung von politischer Kriminalität zu erfassen, Veitch, Judgement, S. 164 ff. 706 Duff, Trials and Punishments, S. 124 ff. 707 Siehe oben B. IV. (S. 124 f.); Teil 2 Kap. 3 C. (S. 640 ff.), insb. IV. 2. (S. 659). 708 Von einer Verletzung der Unschuldsvermutung spricht deshalb Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), S. 1266, 1268. Vgl. auch o. Fn. 561.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

gleich zu erwähnenden Beschneidungen von Beschuldigtenrechten legitimiert. Auch der belehrende, arrogante Ton vieler Richter und Staatsanwälte nicht nur außerhalb Deutschlands erfährt hierdurch eine theoretische Bestätigung. Umgekehrt verbleiben Rechtfertigungslücken, die noch größer sind als diejenigen, die bei generalpräventiven Ansätzen festgestellt worden sind. Denn die Resozialisierungstheorie hat es bekanntlich schwer mit der Erklärung, wieso man gesellschaftlich voll integrierte und deshalb keiner Resozialisierung bedürftige Straftäter bestrafen darf.709 Diese Schwierigkeiten steigern sich ins Unermessliche, wenn man aus dieser Theorie eine Erklärung abzuleiten versucht, wieso man nichtresozialisierungsbedürftige Beschuldigte verfolgen darf. (2) Zweitens erben die Bemühungen, die Resozialisierungslehre für das Strafverfahren fruchtbar zu machen, die im Rahmen der straftheoretischen Diskussion gegen die Resozialisierung als Strafweck formulierten Einwände. Vernichtend ist insbesondere der Einwand, dass der Anspruch, einen mündigen Erwachsenen durch Strafe zu erziehen, sich nicht mit der Anerkennung von dessen Autonomie verträgt.710 Die Resozialisierung ist – anders als die (negative) Generalprävention – kein Strafweck, denn sie liefert keinen guten Grund zu strafen. Erst recht benennt sie keinen Grund zum Verfolgen. Die „gute Seite“ der Resozialisierung besteht in ihrer humanisierenden Stoßrichtung, die sich z. B. im Vorschlag des Alternativ-Entwurfs ausdrückt, eine eher dialogisch orientierte „Erörterung der Sach- oder Rechtslage“ an Stelle der einseitig geleiteten Vernehmung einzuführen.711 Jedoch ist sie von diesem Strafzweck eigentlich inhaltlich unabhängig: Man soll nicht deshalb human handeln, damit der Betroffene daraus etwas lerne, sondern weil Menschen mit Menschen menschlich umgehen sollen.712 (3) Drittens riskiert die unvermittelte Heranziehung eines Strafzwecks im Rahmen des Strafverfahrens, die Spezifität des Verfahrens außer Betracht zu lassen. Der Hinweis auf den Strafzweck bezeichnet nur den Endpunkt, lässt aber den genaueren Weg, den spezifischen Beitrag des Strafverfahrens zur Förderung dieses Zwecks unterbelichtet. Die spezifisch prozessbezogenen Gesichtspunkte wären näher auszuarbeiten. Sie könnten etwa in dem Zweck der Vermeidung von Stigmatisierung bestehen – dann hätte man aber eine andere Theorie vor sich. c) Als Fazit lässt sich also festhalten, dass die Resozialisierungslehre, die schon bei der Erfüllung ihrer eigentlichen Aufgabe, nämlich bei der Rechtfertigung der Strafe, scheitert, erst recht nicht das Strafverfahren zu rechtfertigen vermag.

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Statt aller Roxin, AT I § 3 Rn. 19. Greco, Lebendiges, S. 435 ff. m. ausf. Nachw. 711 Baumann u. a., AE-Strafverfahren mit nichtöffentlicher Hauptverhandlung, § 407e Abs. 5 S. 2 (S. 32, 33). 712 Greco, Lebendiges, S. 443 ff. 710

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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3. Das Strafverfahren als Mittel zum Schutz des Betroffenen a) War die Resozialisierung eher sozialstaatlich orientiert, ist dagegen die Inspiration für den jetzt zu erörternden Standpunkt eine im klassischen Sinne liberal-rechtsstaatliche. Das Strafverfahren existiere demnach im Interesse des Beschuldigten, denn es stellt einen Mechanismus der Begrenzung der staatlichen Strafgewalt dar. Ein solcher Standpunkt wird beim prominentesten italienischen Strafrechtler des 19. Jahrhunderts zumindest angedeutet. So schrieb Carrara: „Zweck der bürgerlichen Obrigkeit ist es, die Gewalt der Individuen abzubremsen: Zweck des Strafgerichts ist es, die Gewalt des Gesetzgebers abzubremsen: Zweck des Verfahrensordnungen ist es, die Gewalt der Richter abzubremsen: denn diese Formen der Gewalt sind alle drei (wie es Bacon schon angemerkt hatte) auf gleiche Weise Feindinnen des Rechts, und auf gleiche Weise schädlich“.713 Auch Binding, der nicht selten des Kollektivismus und Autoritarismus beschuldigt wird,714 entwickelt ein ähnliches Argument. Er stellt sich die Situation vor, die der unseres Dachauer Schützen entspricht: „Unmöglich ist es ja nicht, daß alle diese Voraussetzungen der Strafdurchführung sofort mit dem Verbrechen gegeben sind. Der Täter kann notorisch, seine Zurechnungsfähigkeit und sein Vorsatz außer Zweifel sein, der Inhaber des Strafrechts desgleichen; auch die Subsumtion der Tat unter das Gesetz kann vielleicht nicht die geringste Schwierigkeit bereiten; fällt die Missetat dann zugleich unter ein absolut bestimmtes Strafgesetz – aber nur dann –, so stände des Verbrechers sofortiger Bestrafung grundsätzlich nichts im Wege“.715 Daraus schließt er: „Ganz überwiegend zum Schutze des angeblichen wie des wirklichen Verbrechers ist aller Strafprozeß geschaffen worden“.716 Die in Deutschland eher vereinzelt gebliebenen Vertreter des Parteiverfahrens beriefen sich gerne auf den Gedanken des Beschuldigtenschutzes. So schrieb Goldschmidt: „In der Tat ist Zweck der Strafe, die Gesamtheit vor rechtswidrigen Angriffen einzelner zu schützen, Zweck des Strafprozesses aber, den einzelnen vor rechtswidrigen Angriffen der Gesamtheit zu schützen.“ 717 In den fünfziger Jahren hatte v. Stackelberg vorgeschlagen, dass angesichts der Unmöglichkeit der 713

Carrara, Del giudizio penale, § 814 (S. 75). Zuletzt von Naucke, Rechtstheorie und Staatsverbrechen, S. IX ff. mit teilw. fragwürdigen Argumenten. 715 Binding, Strafanspruch, S. 270. 716 Binding, Strafanspruch, S. 271. Eine weitere Frage ist, wie ernst diese Sätze gemeint sind. Es gibt im strafprozessualen Werk Bindings einige Stellen, die sich nicht ohne Weiteres mit ihnen vereinbaren lassen (beispielsweise ders. Strafurteil, S. 308: „Hauptaufgabe des Strafprozesses“ sei „die Feststellung der durch den Angeschuldigten begangenen Missetat“). Siehe auch die schönen Passagen bei Gareis, Allgemeines Staatsrecht, S. 129, der den Strafprozess als Kampf zwischen dem Staat als Macht- und als Rechtswesen begreift. 717 Goldschmidt, JW 1924, S. 237. 714

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1. Teil: Strafprozesstheorie

Erreichung der vom inquisitorischen Verfahren angestrebten materiellen Wahrheit es sich rechtfertige, „das Strafverfahren nach dem Grundsatz auszurichten, daß größtmögliche Sicherheit vor der Verurteilung Unschuldiger geboten wird“.718 In der Wende von den siebziger zu den achtziger Jahren war es Ingo Müller, der traditionelle Prozesszwecke, insbesondere die materielle Wahrheit, ablehnte und Folgendes an ihre Stelle setzen wollte: „In Wirklichkeit diente das liberal-rechtsstaatliche Verfahren in erster Linie einer ganz anderen Aufgabe: dem Schutz des einzelnen vor der Gesellschaft und dem Staat als ihrem organisierten Machtzentrum“.719 Und heute versteht Hassemer das Strafverfahren in erster Hinsicht als rechtliche Formalisierung sozialer Kontrolle,720 die eingebettet ist in die Tradition einer Rechtskultur, die sich durch den Respekt vor dem Unverfügbaren selbst definiert.721 Auch im Ausland werden ähnliche Gedanken entwickelt. In Italien möchte Ferrajoli, der den Anschluss an die Tradition des italienischen Liberalismus sucht, das Strafrechtssystem insgesamt dem Zweck der Prävention verpflichten, aber nicht nur wie herkömmlich der Prävention von Straftaten, sondern auch der Prävention übermäßiger Sanktionierung.722 In dieses Gesamtkonzept wird auch das Strafverfahren eingeordnet. Unter Zuhilfenahme vor allem des Falsifikationismus von Popper vertritt Ferrajoli, dass ein letztgültiger positiver Beweis eines empirischen Satzes logisch unmöglich sei.723 „Strenggenommen sind Beweise niemals hinreichend (sufficienti)“.724 Weil aber eine richterliche Entscheidung erst durch die Wahrheit ihrer Prämissen gerechtfertigt werden kann,725 muss das Verfahren die Falsifikation der von der Anklage formulierten These ermöglichen.726 „Nulla poena sine judicio“.727 Und in Spanien schlägt Montero Aroca ein Modell vor, dessen „Grundgedanke“ darin besteht, dass „das Strafverfahren nicht mehr als bloßes Mittel zur Anwendung des materiellen Strafrechts angesehen werden darf, sondern als Abwehrrecht (garantía), als Mittel der Garantie des

718

v. Stackelberg, GS Cüppers, S. 129. Ähnl. Prado, Sistema acusatório, S. 104. I. Müller, Rechtsstaat und Strafverfahren, S. 197. 720 Hassemer, KritV 1998, S. 338; zum Konzept der Formalisierung, das im Denken Hassemers eine zentrale Rolle spielt, Hassemer, Strafziele, S. 61 ff.; ders. JuS 1987, S. 263; ders. Einführung S. 316 ff.; ders. Selbstverständnis, S. 43. 721 Hassemer, FS Maihofer, S. 183 ff., 197 ff.; ders. KritV 1988, S. 343; ders. FS Volk, S. 211 ff. 722 Ferrajoli, Diritto e ragione, S. 325 ff. Zu dieser Straftheorie näher Greco, JJZG 10 (2008/2009), S. 192 ff. 723 Ferrajoli, Diritto e ragione, S. 111 ff. 724 Ferrajoli, Diritto e ragione, S. 114. 725 Ferrajoli, Diritto e ragione, S. 43. 726 Ferrajoli, Diritto e ragione, S. 130; dem Ansatz folgend Giunchedi, DDP-Agg IV (2008), S. 324 f. 727 Ferrajoli, Diritto e ragione, S. 69. 719

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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Freiheitsrechts der Bürger gegen das materielle Strafrecht“.728 In vielleicht zu buchstäblicher, sonst aber nicht die Prägnanz des Originals widerspiegelnder Übersetzung: „Ist das Strafrecht Repression, muss das Strafverfahren Freiheit sein“.729 Diese Verbürgung von Freiheit sei sogar der „einzige Zweck“ des Strafverfahrens.730 Freiheit wird hier aber – einem ersten Eindruck entgegen – nicht allein im Sinne des Beschuldigtenschutzes verstanden, sondern soll auch die Rechte des Opfers, aller anderen Bürger und der Gesellschaft als Ganzes umfassen.731 In Japan schreibt Nose: „Der Strafprozeß (die Tätigkeit des Gerichts) soll nicht der Verwirklichung des materiellen Strafrechts, sondern der Kontrolle oder Hemmung der Interessensvertretung der Staatsanwaltschaft dienen“,732 und in Amerika formulierte Packer den Idealtypus eines von ihm sog. „due process model“ des Strafverfahrens, das mit einem Hindernislauf verglichen wird, als Antipode eines „crime control model“.733 b) Der Ansatz sieht zugegeben besonders attraktiv aus. Die Stellungnahme wird aber differenziert ausfallen müssen. aa) Gerade die Kompromisslosigkeit, mit der das staatsmachtbegrenzende Anliegen vertreten wird, macht den Ansatz viel zu einseitig. Wichtige und nur schwer abzulehnende Aspekte des Strafverfahrens verbleiben außerhalb seines Begründungszusammenhangs. Wie erklärt das Konzept eines Verfahrens als Beschuldigtenschutz eine Wohnungsdurchsuchung oder eine Untersuchungshaft? Dem Konzept würde es eher entsprechen, auf solche Institute überhaupt zu verzichten. Auch Belange der Gesellschaft müssen im Strafverfahren berücksichtigt werden. Die zweite Rechtfertigungsstufe soll, wie o. III. 6. (S. 197 f.) schon gesagt, die erste ergänzen, nicht schlichtweg ersetzen. bb) Der diesem Ansatz implizite Manichäismus ist viel zu naiv, um richtig zu sein; die durch ihn angestrebte Stärkung der Position des Beschuldigten erweist sich nach näherem Hinsehen sogar als intrinsisch unstabil, self-defeating. Gerade die Dezidiertheit, mit der er sich für seine Ziele einsetzt, vereitelt, dass er sie erreichen kann. Denn er impliziert die simple Annahme, dass alles, was Strafverfolgung erleichtert, schlecht, und alles, was sie stattdessen erschwert, gut ist. Ein solcher Ansatz verwischt die Grenzen zwischen zulässiger Verteidigung und unzulässiger Verfahrenssabotage, die spätestens dann erreicht wird, wenn der Beschuldigte zu fliehen sucht oder Beweisfälschungen unternimmt, möglicherweise sogar durch 728

Montero Aroca, Proceso penal y libertad, S. 23; ferner S. 65 f., 525. Montero Aroca, Proceso penal y libertad, S. 24, 525. 730 Montero Aroca, Proceso penal y libertad, S. 35. Anders freilich S. 170: Zwei Zwecke, Gewährung der Rechte und Wahrheitsermittlung. 731 So erst 100 Seiten später Montero Aroca, Proceso penal y libertad, S. 147. 732 Nose, ZStW 82 (1970), S. 794. 733 Packer, Limits, S. 153 ff., 163 ff. 729

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1. Teil: Strafprozesstheorie

eigenständige Straftaten wie Urkundenfälschungen oder Nötigungen von Zeugen. Gerade derjenige, der einer sog. Konfliktverteidigung sympathisch gegenübersteht,734 muss über ein theoretisches Instrumentarium verfügen, das erklären kann, wieso sich diese auf Konfrontation angelegte Form der Verteidigung etwa von der schlichten Flucht bzw. Strafvereitelung materiell unterscheidet. Weil die Theorie für Vergleichbares keinen Raum bietet, macht sie alle Verteidigungsrechte gleich verdächtig wie die niedrigste Verfahrenssabotage. Damit wird klar, dass das Problem nicht nur die einseitige Indifferenz vor den berechtigten Belangen der Gesellschaft ist, sondern dass der Ansatz nicht einmal die Perspektive des Beschuldigten, das, was für ihn auf dem Spiel steht, zutreffend zu erfassen vermag. Der Grund für diese Unzulänglichkeit führt uns schon zur externen Kritik, weshalb er hier nur angedeutet werden soll: Er liegt darin, dass der Ansatz eine konsequentialistische, auf Interessen oder Vorteile des einzelnen bedachte Betrachtungsweise darstellt. cc) Diese Einseitigkeit ist nicht ein bloß theoretisches Problem. Stellt man jede Verfolgung von gesellschaftlichen Interessen unter Verdacht, und sieht man in jeder beschuldigtenfreundlichen Bestimmung eine Verwirklichung des wahren Sinns des Strafverfahrens als Bollwerk der Freiheitsinteressen des Beschuldigten, ergeben sich ganz reelle Spannungen, die das ganze Strafverfahren und sogar vielleicht das materielle Strafrecht in Unordnung bringen können und die Strafrechtspflege zum heuchlerischen Unternehmen zu machen droht. Von dem Schaden, den die gesetzliche Beweistheorie des Gemeinrechts in ihrer eigentlich gutgemeinten Absicht, den Beschuldigten vor Fehlurteilen zu bewahren, herbeiführen könnte, war schon o. III. 3. (S. 184 f.) die Rede. Den besten aktuellen empirischen Beleg für das angesprochene Problem bietet das amerikanische Strafverfahren, das auf der einen Seite bei der Gewährleistung von Beschuldigtenrechten äußerst großzügig ist, auf der anderen Seite sowohl im Prozessrecht als auch im materiellen Recht eine Vielzahl von Mechanismen vorsieht, die die Bedeutsamkeit dieser Rechte aushöhlen, wie das plea bargaining, einen besonders engen Tatbegriff und schuldunangemessene Strafdrohungen.735 Dort, wo sogar das normierte Recht wenig aufrichtig ist,736 wird die Praxis unvermeidlich um einiges schlimmer sein: So hat das amerikanische System ein großes Problem mit Polizeibeamten, die nicht zögern, unter Eid Unwahres auszusagen (sog. „testilying“); diese Unsitte soll sich nach der Diagnose von Kritikern als Reaktion auf die verzwickten Regeln zur Durchführung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen herausgebildet haben, um der Rechtsfolge des Verlusts des Beweismittels zu entgehen, die bei Verletzung dieser Regeln unweigerlich eintreten sollte.737 734

Zu diesem schwer fassbaren Begriff Jahn, Konfliktverteidigung, S. 61 f. Vgl. bereits o. Kap. 1 A. II. 1. (S. 58 f.). 736 Richtig Schünemann, FS Geppert, S. 660: „symbolisches Strafverfahren“ bzw. „Mogelpackung“. 735

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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dd) Der Ansatz vom Strafverfahren als Beschuldigtenschutz könnte immerhin die vermisste Erklärung für die o. III. 3. (S. 186 f.) bei der Prüfung des Prozesszwecks der materiellen Wahrheit gefundene Begründungslücke liefern (s. a. o. III. 5. [S. 197 f.]). Es wurde nämlich angemerkt, dass in bestimmten Einzelfällen – Stichwort: Dachauer Schütze – kein Strafverfahren nötig ist, um herauszufinden, ob man es mit dem „Richtigen“, also mit dem Schuldigen zu tun hat. Die materielle Wahrheit ist nicht hinreichend, um zu erklären, warum man in einer solchen Konstellation nicht auf das Strafverfahren verzichten dürfte. Vielleicht könnte der Gedanke des Prozesses auch als Mittel zum Schutz des betroffenen Individuums eine Lösung für dieses Rätsel liefern. Warum entspricht es dem Interesse des bereits bekannten Schuldigen, nicht sofort bestraft zu werden, sondern erst nach Zwischenschaltung eines Verfahrens? Der Vorteil könnte darin liegen, dass der Prozess allein durch seine Existenz schon die Bestrafung zeitlich verzögert. Ob dieser Vorteil die festgestellte Begründungslücke schließen kann, ist indes zweifelhaft. Wir prozessieren den bereits entdeckten Schuldigen nicht deshalb, damit seine Strafe erst verzögert verhängt werden kann.738 Ginge es nur um die zeitliche Verzögerung, müsste man nur einige Wochen oder Monate warten, bevor man die Strafe verhängt. Auf einen aufwendigen Prozess könnte man verzichten. Der Hinweis auf die zeitliche Verzögerung der Bestrafung geht indes nicht völlig an der Sache vorbei. Denn die zeitliche Verzögerung wird zwar nicht als selbständiger Zweck beabsichtigt; sie ist aber dem entscheidenden Gesichtspunkt durchaus verwandt. Dieser besteht nämlich darin, dass das Verbot, Strafe ohne die Zwischenschaltung eines Verfahrens zu verhängen, die für eine richtige Entscheidung erforderliche Distanz von der Tat schafft.739 Die durch ein geregeltes Verfahren auferlegten Zwänge führen dazu, dass man nicht mehr unter dem Eindruck der Tat urteilt, und erhöhen deshalb die Wahrscheinlichkeit, dass man bei der Würdigung der Tat allein nach rechtlichen Kriterien vorgeht und sich vom moralischen oder sogar ästhetischen Widerwillen gegenüber dem Rechtsbrecher befreit. Eine Strafe, die unmittelbar im Anschluss an die entdeckte Tatbegehung verhängt werden könnte, hätte es schwerer, die durch das Schuldprinzip auferlegten Grenzen zu beachten. Es ist also gerade nicht so, dass „nur dasjenige Urtheil seine Aufgabe ganz erfüllen würde, welches dem Verbrecher auf dem Fuße folgt, d.h. in den nächsten Tagen nach der verübten Frevelthat gesprochen und vollzogen wird.“ 740 Unter dem erschütternden Eindruck der Tat drohen die Grenzen 737 Schockierende Darstellung in Cloud, EmLJ 43 (1994), S. 1311 ff. („dirty little secret“); aus Anlass des Verfahrens gegen O. J. Simpson Slobogin, UColLR 67 (1996), S. 1037 ff.; Reitz, ebda., S. 1061 ff.; eine Beschreibung der Praxis auch bei Dershowitz, Reasonable Doubts, S. 49 ff. s. a. Pizzi, Trials without Truth, S. 66. 738 Siehe auch Zaczyk, StV 1993, S. 491. 739 Ebenso A. Binder, Reforma de la justicia criminal, S. 48 Fn. 5. 740 Jagemann, GS 2 (1850), S. 61.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

zwischen dem rechtlichen Unwertgehalt, der moralischen Bosheit und der ästhetischen Abscheulichkeit zu verschwimmen. Trotz der klaren Kenntnis der Schuld des Betroffenen, d.h. trotz Nichtbestehens irgendeines Erkenntnisproblems, kann das richtige Urteil immer noch verfehlt werden, weil der Urteilende sachfremden Motiven ausgesetzt ist. Durch Schaffung von Distanz zur Tat trägt das Strafverfahren deshalb zur Lösung eines Motivationsproblems bei. Das ist der tiefere Grund, weshalb Augenzeugen keine Richter sein dürfen (§ 22 Nr. 5 StPO; Art. 668 Abs. 5 franzStPO; Art. 34 Abs. 3 itStPO; Art. 39 Abs. 1 d portStPO) – eine Schranke, die auf Grundlage der materiellen Wahrheit gar nicht erklärbar erscheint,741 und eine Hinsicht, auf die schon bei Diskussionen über die Legitimität des beschleunigten Verfahrens und vor allem seiner äußerst kurzen Ladungs- und Vorbereitungsfristen hingewiesen worden ist.742 Der als solcher bekannte Schuldige hat also einen Vorteil davon, dass man gegen ihn ein Verfahren durchführt. Das Strafverfahren entspricht insofern seinem Interesse. Ob das indes als Rechtfertigung des Verfahrens ihm gegenüber ausreicht, soll u. 4., 5. (S. 212 f., 213 ff.) näher betrachtet werden. ee) Nur vom Schuldigen ist aber gerade die Rede gewesen, und dies wohl nicht zufällig. Denn ob auch derjenige, der trotz seiner Unschuld unter Verdacht gerät, vom Verfahren besser gestellt wird, ob das Verfahren auch in seinem Interesse durchgeführt wird, erscheint fraglich. Darauf wird u. 4. (S. 212) zurückzukommen sein. c) Zusammenfassend ist der Ansatz vom Strafverfahren als Beschuldigtenschutz zwar einseitig, weil er dazu neigt, die Perspektive der Gesellschaft auszublenden. Er ist intrinsisch unstabil, weil ein solcher Ansatz Verteidigung und Verfahrenssabotage begrifflich kaum voneinander zu unterscheiden vermag, womit die Position des Beschuldigten, die ein solcher Ansatz zu stärken anstrebt, unter einen umfassenden Verdacht gestellt wird. Die theoretische Einseitigkeit führt zu einer praktischen Unaufrichtigkeit, weil jedes Prozesssystem, das sich die Interessen der Beschuldigten über Gebühr zu Herzen nimmt, gleichzeitig Umwege kennen wird, den berechtigten Präventionsinteressen der Gesellschaft Rechnung zu tragen. Der Gedanke, dass Strafverfahren auch, aber nicht nur, im Interesse des Beschuldigten geführt werden, ist aber insofern weiterführend, als dass er eine der o. III. 5. (S. 197 f.) am Ende der Prüfung der Begründungsansätze auf der ersten Stufe festgestellten Lücken auszufüllen vermag: Er erklärt, 741 Vgl. bereits Carrara, Del giudizio criminale, § 905 (S. 170). Man könnte sich noch fragen, ob nicht gerade in diesem Motivationsproblem ein weiterer Vorbehalt gegen die Institution des Geschworenengerichts zu sehen ist, da Geschworene eher dazu neigen, auf Grundlage ihrer Emotionen Entscheidungen zu treffen (vgl. bereits Feuerbach, Geschwornen-Gericht, S. 120 ff.; Weigend, HJLPP 26 [2003], S. 165 ff., der die Funktion der Jury sogar darin erblickt, die Wahrheit zu verfehlen und nicht auf Wahrheit beruhende Freisprüche zu liefern). 742 Rieß, FS Dünnebier, S. 167.

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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warum wir denjenigen prozessieren, den wir bereits zweifelsfrei als den Schuldigen erkannt haben. Wir tun dies nicht der Gesellschaft halber, sondern um die gebotene Distanz zur Tat zu gewinnen, die Voraussetzung dafür ist, dass wir uns bei deren Würdigung nur von vernünftigen Rechtskriterien und nicht von rechtsfremden Maßstäben oder sogar Gefühlen leiten lassen. 4. Externe Kritik der Rechtfertigungsversuche auf der zweiten Stufe a) Jeder Versuch, das Strafverfahren mit einem Hinweis auf Interessen des Betroffenen zu rechtfertigen, hat mit der Tatsache zu ringen, dass die das Verfahren konstituierende qualifizierte Verdächtigung ohne und sogar regelmäßig gegen den Willen des Betroffenen erhoben wird. Den Betroffenen fragt man nicht, ob er sich ein Strafverfahren wünscht. Vielmehr legt ihm der Staat eine mögliche Tat zur Last, die einzelnen Schritte der Strafverfolgung werden in Gang gesetzt, und der Betroffene sieht sich vor die Alternativen gestellt, entweder passiv zuzuschauen (Schweigerecht) oder aktiv Widerstand zu leisten (Verteidigungsrecht). Die Alternative aber, die er wohl vorziehen würde – schlichtweg in Ruhe gelassen zu werden –, steht ihm nicht mehr zur Verfügung. Wird das Verfahren nur durch ein Interesse der Gesellschaft gerechtfertigt, erfolgt eine offene Instrumentalisierung des Betroffenen, der als bloßes Mittel zu fremden Zwecken ausgenutzt wird (s. o. III. 4. [S. 192 ff.]). Versucht man dagegen, wie die vorliegenden Ansätze auf der zweiten Rechtfertigungsstufe, das Verfahren durch ein Interesse des Betroffenen zu rechtfertigen, ohne dass man ihn aber fragt, ob er hiermit einverstanden ist, dann steht hinter der menschenfreundlichen Rhetorik und der wohlmeinenden Berücksichtigung der Perspektive des Beschuldigten trotzdem nichts anderes als eine verdeckte Instrumentalisierung, die durch Bevormundung erfolgt. Ginge es wirklich um die Interessen des Betroffenen, müsste man ihn fragen, ob man ihnen durch eine qualifizierte Verdächtigung Rechnung tragen darf. b) Diese Bevormundung ist bei dem Konzept, das das Strafverfahren auf die Resozialisierung gründet, unübersehbar. Schon gegen den Resozialisierungsgedanken als Rechtfertigung der Strafe wurde als Haupteinwand vorgetragen, dass er nicht mit der Anerkennung der Autonomie des Betroffenen verträglich ist (o. 2. [S. 202]). Denn die vermeintliche Hilfe wird ihm im Gewand der Strafe nicht nur angeboten, sondern aufgezwungen; Strafe zur Resozialisierung bedeutet, dass der Betroffene sich durch Zwang erziehen lassen muss. Dieser Einwand gilt in zugespitzer Form für die Heranziehung dieser Theorie im Strafverfahren, in dem man es möglicherweise mit jemandem zu tun hat, der unschuldig ist, und von dem man deshalb umso weniger verlangen darf, dass er sich umerziehen lässt. Gerade im Strafverfahren wirkt sich die im Resozialisierungsdenken verkörperte Aufschwingung zum Sachwalter fremder Interessen am gefährlichsten aus.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

Denn ihrer Logik entspricht es, Interessengegensätze zu relativieren und sogar zu leugnen, wollen doch Staat und Individuum im Ergebnis das Gleiche, nämlich dass das Individuum wieder in die Rechtsgemeinschaft eingegliedert wird.743 In der Konsequenz des Ansatzes liegt das von Exner für Maßregeln geprägte Motto, das sich auf Strafverfahren entsprechend übertragen lässt: „Das Individuum aber braucht nicht geschützt (zu) werden gegen Maßregeln, die selbst seinem Schutze dienen“.744 Dies führt zwangsläufig zu einer Entwertung der die Rechtsstellung des Beschuldigten stärkenden Verteidigungsrechte.745 In der deutschen Diskussion hat sich diese Gefahr zwar nicht realisieren können. Es war regelmäßig eher von einem „mehrspurigen Strafprozess“,746 und nicht von einer umfassenden Ausrichtung des Strafverfahrens auf den Resozialisierungszweck hin die Rede. Trotzdem bestand das dem Resozialisierungszweck gewidmete Verfahren nicht nur aus Wohltaten: Der Angeklagte kommt nach dem Alternativ-Entwurf über Strafverfahren mit nichtöffentlicher Hauptverhandlung nur dann in den Genuss der Vorteile einer solchen Prozessform, wenn er gesteht, d.h. auf eine Vielzahl von Verteidigungsrechten verzichtet, etwa auf sein Schweigerecht, auf sein Beweisantragsrecht und auf Rechtsmittel.747 Wenigstens sollte die Weichenstellung noch von der Zustimmung des Betroffenen abhängen. Demgegenüber scheute man sich im Ausland nicht davor, den Weg zu Ende zu gehen. So behauptete Ancel, die prominenteste Figur im Rahmen der Défense Sociale Nouvelle, unverhohlen, dass „das Problem nicht mehr so sehr im Schutz des Angeklagten gegen die Angriffe der Anklage besteht, sondern in der Mitwirkung des gesamten Gerichtsapparates . . . bei der unparteiischen Bestimmung der besten Schutzmaßnahme“,748 was als konkrete Folge für das Strafverfahren habe, dass dem Angeklagten die Kenntnis von Zeugenaussagen und vor allem von psychologischen Gutachten zu versagen sei.749 Denn die Kenntnis dieser Aussagen 743

Zutreffend bzgl. des AE-NÖV Weßlau, Konsensprinzip, S. 127. Exner, Sicherungsmittel, S. 118; zu Recht krit. Gössel, ZStW 94 (1982), S. 32, der den Satz auch zitiert. Exner verkennt dabei nicht, dass dieser Gedanke „dem Wohlfahrtsstaat als Deckmantel für all seine Bevormundungstätigkeit gedient hat“ (S. 118). 745 Krauß, FS Schaffstein, S. 428 ff.; Grünwald, Vorgänge 36 (1978), Heft 6, S. 16; Engels/Frister, ZRP 1981, S. 117; Wolter, GA 1999, S. 54. 746 Lenckner, JuS 1983, S. 342. 747 Baumann u. a., AE-Strafverfahren mit nichtöffentlicher Hauptverhandlung, § 407 Abs. 1; auch dürfen Beweisanträge abgelehnt werden, ohne dass die Voraussetzungen des § 244 StPO vorliegen, § 407e Abs. 6 S. 1. Beachtliche Kritik bei Engels/Frister, ZRP 1981, S. 115 ff.; Beulke, JR 1982, S. 314, insb. mit der Bemerkung, dass nach dem AE nur 6,3 % der Hauptverhandlungen zwingend öffentlich wären; Jung, GS H. Kaufmann, S. 906; Grünwald, ARSP-Beiheft 33, 1987, S. 102. Zur Vermeidung von Missverständnissen: Eine ablehnende Stellungnahme von meiner Seite ist das nicht; es geht nur darum, zu belegen, dass die Berufung auf das Wohl des Betroffenen gerade für ihn nicht immer nur Vorteile bringt. 748 Ancel, Sozialverteidigung, S. 238. 749 Ancel, Sozialverteidigung, S. 237. 744

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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oder Gutachten könne den Betroffenen davon abhalten, sein Bestes zu wollen, worüber allein das Gericht, vorzugsweise also über seinen Kopf, zu befinden habe. Weil es im Strafverfahren sogar in erster Linie darum gehe, den zu bestrafenden Menschen besser kennenzulernen, das „menschliche Wesen“ wiederzufinden,750 soll „die Beobachtung des Delinquenten in allen Phasen des Verfahrens stattfinden“.751 Im Klartext: Sein Prozessverhalten wird als relevantes Datum im Hinblick auf die später zu treffenden Strafentscheidungen angesehen. Ein Recht darauf, sich zu verteidigen, wird als unsinniges Recht auf Selbstschädigung diffamiert: „Eine Regel, die früher als Garantie für den Beschuldigten betrachtet wurde, kann heute ganz im Gegenteil . . . als ein Nachteil oder als eine Gefahr erscheinen . . .“ 752 Auch Duff kann zwar ein starkes Recht auf rechtliches Gehör aus seinem Ansatz ableiten, hat aber besondere Schwierigkeiten mit der Begründung eines Schweigerechts und eines nemo tenetur-Grundsatzes.753 Dagegen ist zu betonen: „Der Betroffene hat auch ein Recht auf Schutz vor Resozialisierung“.754 Eine Strafverfolgung im „wohlverstandenen Interesse“ des Betroffenen755 verfolgt eben andere Interessen als die des Betroffenen. c) Deshalb ist als besonderes Verdienst des Ansatzes vom Strafverfahren als Beschuldigtenschutz zu verbuchen, dass er sich weigert, die Interessenslage von Staat und Individuum gleichzusetzen, sondern vielmehr im altliberalen Geist von einem unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Staat und Individuum ausgeht. Wollte noch das im Dienste der Resozialisierung stehende Strafverfahren Individuum und Staat zur Zusammenarbeit auffordern, hört der vorliegende Ansatz nicht auf ein solches Versprechen, sondern besteht darauf, dass die Perspektive des Individuums nicht in dem Sog der staatlich repräsentierten Gesellschaftsinteressen aufgelöst wird. Es ist aber fraglich, inwiefern dieser Ansatz zur Rechtfertigung der noch offenen Dimensionen des Übels des Strafverfahrens beizutragen vermag. Denn es bleibt dabei, dass das Verfahren nicht auf die Einwilligung desjenigen, in dessen Interesse man zu handeln vorgibt, angewiesen ist.

750

Ancel, Sozialverteidigung, S. 227. Ancel, Sozialverteidigung, S. 239. 752 Ancel, Sozialverteidigung, S. 237. 753 Duff, Trials and Punishments, S. 132 ff. Er gibt zu, dass dieses Recht bei ihm bloß auf Praktikabilitätserwägungen beruht – ähnlich wie man in Deutschland häufig eine Wahrheitspflicht des Beschuldigten postuliert, die man aber als nicht-erzwingbar deklariert (in diesem Sinne etwa Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 310; Peters, Strafprozeß, S. 207 f.; Bottke, FS Roxin I, S. 1253 ff.; dagegen Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 25 Rn. 10; Gleß, LR-StPO § 136 Rn. 63 m.w. Nachw.). 754 Wolter, GA 1999, S. 55 (Zitat); davor ders. GA 1980, S. 88 f.; Engels/Frister, ZRP 1981, S. 116 f. Beide rügen auch eine Verletzung der Unschuldsvermutung. 755 So Baumann, NJW 1982, S. 1565. 751

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1. Teil: Strafprozesstheorie

Der bereits als schuldig bekannte Schuldige („Dachauer Schütze“) ist, wie bereits o. III. 5. (S. 192 f.) ausgearbeitet, der größte Interessierte daran, dass seine Strafe erst nach einem Verfahren verhängt wird, das Distanz zur Tat schafft. Deshalb ist anzunehmen, dass er sich mit der Durchführung eines Verfahrens für einverstanden erklären wird, wenn er nicht unklug ist. Es könnte aber gut sein, dass er aus welchen Gründen auch immer sein Einverständnis verweigert – entweder weil er schlichtweg unklug ist oder weil er sogar zu entkommen plant. Wie dem auch sei: Bei Verweigerung des Einverständnisses darf man sich nicht auf die „wahren“ Interessen des Betroffenen berufen, denn dies verträgt sich nicht mit dessen Anerkennung als autonomes Wesen. Sobald der Betroffene seine Zustimmung verweigert, ist eine Rechtfertigung auf der zweiten Stufe nicht mehr möglich. Der Ansatz des Prozesses als Schutzrecht hat aber nicht erst beim Grenzfall des bekannten Schuldigen, der seine Zustimmung verweigert, Schwierigkeiten. Der Ansatz stößt schon an seine Grenzen bei der Konstellation des noch ungewissen Schuldigen und vor allem bei der des Unschuldigen. Für den Schuldigen, dessen Schuld noch ungewiss ist, bedeutet das Strafverfahren nicht nur den Vorteil der Distanzgewinnung (o. 3. [S. 207 f.]), sondern eine qualifizierte Verdächtigung und zudem die Gefahr, dass seine Schuld überhaupt entdeckt wird und dass er somit bestraft wird. Ob er es deshalb nicht vorziehen würde, in Ruhe gelassen zu werden, wird vor allem von der Beweislage und von seiner Risikobereitschaft abhängen. Es ist deshalb nicht möglich, mit Berufung auf sein Interesse seine Inanspruchnahme durch das Verfahren von vornherein zu rechtfertigen. Dies ist erst recht beim Unschuldigen der Fall. Natürlich eröffnet das Strafverfahren eine Aussicht darauf, dass der Betroffene seinen Namen reinwäscht. Häufig wird aber ein diesbezügliches Bedürfnis überhaupt erst durch das Verfahren hervorgerufen. Wohl würden die meisten Unschuldigen es vorziehen, überhaupt nicht verdächtigt zu werden und von vornherein kein Strafverfahren dulden zu müssen. Man könnte dennoch eine Besserstellung des Unschuldigen darin erblicken, dass er ansonsten noch schlechter gestellt wäre, dass also der Staat ohne Prozess strafen würde. Dies wäre ein Argument aus dem kleineren Übel, das sich aber nach näherem Hinsehen als klarer Fehlschluss erweist.756 Denn die Tatsache, dass die einzig vorhandene Alternative noch schlimmer wäre, verleiht noch kein Recht auf das weniger Schlimme. Ansonsten hätte der Vater, der im betrunkenen Zustand seine kleine Tochter gerne schlägt und vergewaltigt, ein Recht darauf, sie entweder „nur“ zu schlagen oder „nur“ zu vergewaltigen. Mit anderem Worten: ein Argument aus dem kleineren Übel funktioniert als Rechtfertigung nur 756

Bereits Greco, JJZG 10 (2008/2009), S. 202 f.

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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dann, wenn bereits die Zufügung des größeren Übels an sich erlaubt wäre. Erst wenn die Bestrafung des Unschuldigen ohne Verfahren erlaubt wäre, könnte man sagen, dass das Verfahren ihm nur Vorteile bringt. 5. Zweite Zwischenbilanz am Ende der zweiten Rechtfertigungsstufe Eine zweite Zwischenbilanz kann gezogen werden. Die Lücken, die nach der Durchsicht der Rechtfertigungstheorien auf der ersten Stufe verblieben – die qualifizierte Verdächtigung des Individuums, ob schuldig oder unschuldig, und die Fallkonstellation des Dachauer Schützen –, vermögen die Theorien auf der zweiten Stufe nicht zu schließen. Bei der Heranziehung eines Interesses der Gesellschaft wurde der Betroffene offen missachtet, nämlich durch Instrumentalisierung. Beruft man sich dagegen auf sein eigenes Interesse, dann wird er verdeckt missachtet – durch Paternalisierung. Nur der Dachauer Schütze könnte ein Interesse am Verfahren haben, insoweit das Verfahren zu einer distanzierten Beurteilung der Tat verhilft und insofern zur Lösung des hier sog. Motivationsproblems beiträgt – dies aber auch nur, solange er nicht sein Einverständnis zu dem Prozess verweigert, aus welchen Motiven auch immer. Die zweite Rechtfertigungsstufe entpuppt sich im Ergebnis als sehr zweifelhaft. Die intuitive Überzeugungskraft der Berufung auf Interessen des Betroffenen, die Grundlage verschiedener rechts- und moralphilosophischer Entwürfe ist,757 verschwindet nämlich, sobald der Betroffene seinen widerstrebenden Willen kundgibt. Darin wird erkennbar, dass in Wahrheit nicht die Interessen des Betroffenen moralisch und rechtlich von Gewicht waren, sondern vielmehr die Tatsache, dass diese Interessen seinem Willen entsprechen. Die nicht durch den Willen des Betroffenen gedeckten Interessen sind eigentlich nicht beachtlich. Das Argument dafür ist schlicht, aber dennoch – oder gerade deshalb – unumgänglich. Setzt man sich über diesen Willen hinweg und beruft man sich unmittelbar auf diese Interessen, dann spricht man ihm das Recht ab, Herr und nicht bloßer Sklave seiner Interessen zu sein. Eine Autonomie, die diesen Namen verdient, erfasst deshalb auch das Recht zur Unvernunft im Sinne von Unklugheit, also das Recht, dasjenige zu wollen, was dem eigenen Interesse sogar widerspricht. Die Gefahren der Paternalisierung – nämlich die in ihr verkörperte „wohlwollende, aber verwerfliche Tendenz, die Blöße des positiven Rechts mit dem Mantel der Liebe zu decken“ 758 – sind nicht bloß theoretisch.759 Das historisch wichtigste Beispiel dürfte die These sein, es entspreche dem Interesse des Be757

Etwa Hoerster, Ethik und Interesse, S. 206 ff.; Engländer, Diskurs, S. 157 ff. Köstlin, Wendepunkt, S. 80. 759 Weitere anschauliche Beispiele bei I. Müller, Rechtsstaat und Strafverfahren, S. 220 ff. 758

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1. Teil: Strafprozesstheorie

schuldigten, keinen Verteidiger zu haben, denn der Richter kümmere sich bereits darum, dass ihm kein Unrecht geschehe (sog. materielle Verteidigung).760 Gegen das Schweigerecht wurde auch geltend gemacht, Schweigen könne dem Beschuldigten zum Nachteil gereichen – wozu Gneist zu Recht erwiderte, dies sei „eine sehr gütige, aber unnöthige Fürsorge“.761 Auch in den letzten Jahrzehnten hat man sich immer wieder dieses Argumentationsmusters bedient. So wurde die Abschaffung der für die Beschuldigtenstellung zentralen Befugnis, die Vernehmung präsenter Zeugen und Sachverständigen zu erzwingen, ohne dass das Gericht sich ihrer durch eine Erheblichkeitsbeurteilung entziehen kann (§ 245 a. F. StPO), damit begründet, dass hiermit „dem Interesse des Angeklagten an vollständiger Wahrheitserforschung Rechnung getragen“ wurde.762 Heute soll bei einem Beschuldigten, der einen Verteidiger hat, ein Verwertungsverbot erst dort greifen, wenn gegen die Verwertung des fraglichen Beweismittels bis zum Ende der maßgeblichen Beweiserhebung ein Widerspruch erhoben wird (sog. Widerspruchslösung).763 Dieses Erfordernis, das letztlich dazu führt, dass Fehler des Verteidigers sich unvermittelt zum Nachteil des Beschuldigten auswirken,764 wird unter anderem mit folgendem Hinweis begründet: „Die Verwertung kann im Interesse des Beschuldigten liegen“.765 Die Verwertung von Tagebuchaufzeichnungen ist u. a. damit gerechtfertigt worden, dass diese „geeignet waren . . . auf entlastende Um760 Hierzu etwa Gössel, ZStW 94 (1982), S. 11 (zur österreichischen Criminalgerichtsordnung von 1788 und zum Codex Iuris Criminalis Bavarici von 1751); in England s. Langbein, Adversary Trial, S. 28 m. Nachw. (kein Geringerer als Coke in 1613); dass diese Perspektive im gegenwärtigen Frankreich, wo bis 2011 der Kontakt zum Verteidiger erst nach der 20. Stunde der polizeilichen Festnahme (sog. garde à vue) möglich war, weit verbreitet ist (s. bereits o. Fn. 176), belegt Hodgson, French Criminal Justice, S. 136 ff. Zu dieser Sichtweise hat bereits Feuerbach, Oeffentlichkeit und Mündlichkeit I, S. 383 geschrieben: die Vereinigung „der wesentlichen Pflichten des Fürsprecher-Amtes mit den Pflichten des Richters“ sei etwas, das „sich freilich einfach und freundlich ausnimmt, doch aber nur unter der einzigen Voraussetzung für die beste Art der Rechtspflege gelten kann, unter welcher auch sogar der Despotismus die beste Regierungsart genannt werden darf, nämlich: wenn gerade die Person des Gewaltträgers an Einsicht, Geist und Gemüth so vollkommen ist, wie der Mensch – weder immer, noch gewöhnlich, sondern nur in sehr seltenen Ausnahmen zu erscheinen pflegt“; Köstlin, Wendepunkt, S. 80 f. (materielle Verteidigung als „gehaltlose Beschönigung“). 761 Gneist, Vier Fragen, S. 84. 762 BT-Drs. 8/323, S. 2; krit. I. Müller, Rechtsstaat und Strafverfahren, S. 124: „geradezu zynische Behauptung“. 763 BGHSt 38, 214 (225 f.); 39, 349 (351 f.); 42, 15 (22 fff.); 50, 272 (274 f.); 52, 38 (41 ff.). Erwähnenswert auch BGHSt 1, 376, 378 f.: eine Vernehmung bis zu später Nacht wurde deshalb trotz des in § 136a Abs. 1 S. 1 StPO genannten Verbots der Ermüdung für zulässig erklärt, weil man damit dem Beschuldigten gem. § 136 Abs. 2 StPO eine Gelegenheit gab, die Verdachtsgründe zu entkräften. 764 Vgl. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 24 Rn. 35, m.w. Nachw. zur Kritik. Wohlgemerkt: Das Gesagte enthält keine Stellungnahme gegen die Widerspruchslösung, sondern nur gegen den wenig aufrichtigen Versuch, diese den Beschuldigten benachteiligende Theorie auf den Schutz seiner Interessen zurückzuführen. 765 BGHSt 39, 349 (352).

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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stände hinzuweisen“.766 Auch die Beschleunigung des Verfahrens, die angeblich in erster Hinsicht den Beschuldigten zugutekommen soll, kommt bei Gerichten767 gerade wegen ihres Potenzials, die Beschuldigtenposition unter paradoxer Berufung auf die Belange des Beschuldigten zu schwächen, zunehmend zum Einsatz.768 Die scheinbare Bedeutsamkeit des Hinweises auf Interessen beruht nach näherem Hinsehen darauf, dass bei einem vernünftigen (hier im Sinne von klugen) Menschen eine große Wahrscheinlichkeit besteht, dass Wille und Interesse miteinander übereinstimmen. Der kluge Mensch will das, was für ihn am besten ist, was seinem Interesse entspricht. Insofern wird der Verweis auf die Interessen häufig auch den Willen des Betroffenen treffen. Trotzdem darf nicht verkannt werden, dass Interessen auch hier nicht den Seinsgrund des so oder so beschaffenen Willens des Betroffenen bilden, sondern nur ein probates Mittel sind, diesen Willen zu erkennen. So verhält es sich auch bei der ersten Rechtfertigungsstufe der sozialen Interessen. Hier darf man sich, wenigstens aus der Perspektive einer normativen Theorie, auf Interessen berufen, in der mehr oder weniger begründeten Hoffnung, dass der Wille der Gesellschaft, der sich vor allem in ihren Gesetzen äußert, ihnen entsprechen wird. Dieses Erkenntnismittel verliert aber an Aussagekraft, sobald entgegenstehende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Betroffene nicht dasjenige will, was seinem Interesse entspricht, und erst recht dann, wenn der Betroffene seinen entgegenstehenden Willen kundgibt.769 Dies passiert häufiger auf der individuellen als auf der gesellschaftlichen Ebene. Damit wird zugleich klar, wie wenig Gewicht das Anführen eines Interesses hat. Das eigene Interesse kann nicht rechtfertigen, dass man einem anderen Übel zufügt. Das eigene Interesse kann höchstens eine Übelzufügung an dem Interes766 BGHSt 34, 397 (401); krit. genau zu diesem Argument Wolter, GS K. Meyer, S. 508. 767 BGHSt GrS 51, 298 (310 f.) begründet die Zulässigkeit einer rügeverkümmernden nachträglichen Protokollberichtigung u. a. mit dem menschenrechtlich verbürgten Beschleunigungsgrundsatz (krit. Ziegert, FS Volk, S. 905 f.; anders in dieser Hinsicht die verfassungsrichterliche Entscheidung, die die Zulässigkeit der BGH-Rspr. bestätigt hat, BVerfGE 122, 248 [272 ff.], deren Beschleunigungsgrundsatz – aufrichtigerweise – keine Menschenrechtsbezüge mehr aufweist, sondern aus der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege abgeleitet wird). BGHSt 42, 20 (23); 52, 38 (43) führen für die Widerspruchslösung noch den Beschleunigungsgrundsatz als Argument an. 768 Kritik der Beschleunigungsidee bei v. Scanzoni, JW 1925, S. 1642 f. (anlässlich der berüchtigten sog. Emminger’schen Notverordnung v. 1924); Hanack, FS Gallas, S. 342 f.; I. Müller, Rechtsstaat und Strafverfahren, S. 110 ff.; Schünemann, Warnung vor Holzwegen, S. 269: „Utopie einer eierlegenden Wollmilchsau . . ., in deren Fell sich das trojanische Pferd einer weiteren Steigerung der Macht der Strafverfolgungsbehörden verbirgt“; Fischer, FS Kühne, S. 210 f.; und bereits Feuerbach, Oeffentlichkeit und Mündlichkeit I, S. 236 (Text o. Fn. 663). 769 Ebenso verhält es sich bei der strafrechtsdogmatischen Figur der mutmaßlichen Einwilligung, statt aller Roxin, AT I § 18 Rn. 5.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

senträger selbst rechtfertigen, und dies auch nur solange, wie sein entgegenstehender Wille nicht ersichtlich ist. Die ausschlaggebende Größe ist hiermit der Wille; und so wird zugleich klar, dass man bei ihr unmöglich stehen bleiben kann. Denn sobald mehr als nur ein Mensch auf dem Spiel steht, ist es nicht mehr möglich, von der nackten Tatsache eines Willens auf die normative Größe eines subjektiven Rechts zu schließen.770 A mag das Auto von Z so viel wollen, wie es nur möglich ist, viel mehr als Z selbst es tut, der reich ist und über 30 Autos in seiner Garage hat. Der Verbrecher B will unbestraft bleiben. Der Beschuldigte C will, dass der Zeuge X einen Meineid zu seinen Gunsten ableistet. Der Beschuldigte D will Fragen an den gesperrten V-Mann richten, dessen Aussagen durch Vernehmung einer Vernehmungsperson in die Hauptverhandlung eingeführt worden sind. Und der Beschuldigte E will zu allen sachbezogenen Fragen, die Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht an ihn richten, schlicht schweigen. A, B, C, D und E wollen alle etwas; es ist aber klar, dass die Frage, ob ihnen ein Recht auf das Gewollte zusteht, von dem factum dieses Willens unabhängig ist. Einer interessenbezogenen Sichtweise, die sich, um nicht zu paternalisieren, in eine willensbezogene Sichtweise verwandeln muss, fehlt aber das Instrumentarium, hier Unterschiede auszuarbeiten. Sie wird sagen müssen, der Wille von A, B und C sei rechtlich unbeachtlich, der von E rechtlich verbindlich, und bei D wird man sich über die Beachtlichkeit seines Willens streiten. Sobald man aber angefangen hat, Willen als beachtlich oder unbeachtlich zu qualifizieren, hat man die Sphäre schlichter Tatsachen verlassen und sich implizit auf die nächste, dritte Rechtfertigungsstufe begeben. Von ihr soll erst u. VI. (S. 216 ff.) die Rede sein. Davor sollen noch zwei Versuche unter die Lupe genommen werden, die beiden ersten Rechtfertigungsstufen miteinander zu kombinieren. V. Rechtfertigungsversuche zwischen den beiden ersten Stufen Weil o. IV. 3. (S. 205 ff.) die Einseitigkeit des Ansatzes gerügt wurde, der im Strafverfahren ein Mittel zum Schutz des von der Verdächtigung Betroffenen sieht, liegt es nahe, den Blick auf Begründungsmodelle zu richten, deren Anliegen es ist, den Interessen der Gesellschaft und des Betroffenen gerecht zu werden. Der erste dieser Ansätze bemüht sich um einen Ausgleich zwischen beiden Perspektiven, die anhand bestimmter Maßstäbe miteinander abgewogen und in „praktische Konkordanz“ 771 gebracht werden sollen (u. 1.). Der zweite Ansatz erstrebt keinen Ausgleich, sondern will vielmehr den Gegensatz beider Perspektiven durch Ausarbeitung eines gemeinsamen oder höheren Nenners überwinden und sie miteinander versöhnen (u. 2. [S. 230 ff.]). 770 771

Bereits Greco, Lebendiges, S. 172 ff. Grdl. Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 72, 317 ff.

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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Eine Bemerkung zur Darstellung: Bei der Untersuchung der Rechtsfertigungsversuche auf der ersten und zweiten Stufe wurde aus den o. C. I. (S. 134) genannten Gründen zwischen einer internen und einer externen Kritik unterschieden. Diese äußere Trennung dürfte für die weiteren Abschnitte nicht mehr angebracht sein. Denn ein großer Teil der eigenen Erwägungen ist bereits entwickelt worden, so dass es gekünstelt erscheint, sie bei einer internen Kritik zunächst unberücksichtigt zu lassen. Auch der Anlass dafür, sich nicht mit den zwei ersten Stufen zufrieden zu geben, sondern sich zu weiteren Rechtfertigungsstufen zu erheben, waren ganz konkrete Unzulänglichkeiten der jeweils untersuchten Theorien, auf die man nicht erst in einem zweiten Schritt Bezug nehmen sollte. 1. Das Ausgleichsmodell: Abwägung a) Ein in der Strafverfahrensliteratur und auch in der Praxis deutscher und internationaler Gerichte besonders stark vertretener Ansatz772 sieht im Strafverfahren den Versuch eines abwägenden Ausgleichs unterschiedlicher gesellschaftlicher und individueller Interessen. aa) In der Literatur des 19. Jahrhunderts vertrat kein Geringerer als Bentham eine derartige komplexe Theorie. Er unterschied direkte und kollaterale Zwecke des Verfahrens und der Rechtspflege: Ersterer sei „rectitude of decision“, also die materiellrechtliche Richtigkeit der Entscheidung, Letztere seien die „avoidance of unnecessary delay, vexation and expense“.773 In Frankreich plädierte Hélie dafür, „zwei in gleicher Weise mächtige und in gleicher Weise heilige und schutzwürdige Interessen, das allgemeine Interesse der Gesellschaft an Gerechtigkeit und sofortiger Repression von Straftaten, und das Interesse der Angeklagten (das gleichzeitig ein gesellschaftliches ist), das nach einer vollständigen Gewährleistung der Rechte der Gesamtheit und der Verteidigung verlangt“, zu berücksichtigen.774 Hierzulande behauptete Mittermaier, dass die „höchste Aufgabe der Gesetzgebung in Bezug auf den peinlichen Proceß darin (liege), die öffentliche Sicherheit, das dringende Interesse des Staates, daß Verbrechen entdeckt werden, mit der Sicherheit der einzelnen Bürger und der Rücksicht auf die mögliche Unschuld in Harmonie zu bringen“.775 Wenn man das Rad der Geschichte um etwa hundert Jahre nach vorn dreht, kommt man zu einem Aufsatz von Stock, der in der Nachkriegszeit von vier Strafprozesszwecken sprach, zunächst den traditionell nebeneinander genannten 772

Nach der Einschätzung von Wolter, FS Roxin, 2001, S. 1141 h. M. Bentham, Evidence I, S. 34. 774 Helie, Traité I, S. 4; diese Stelle wird heutzutage von Guinchard/Buisson, Procédure pénale, Rn. 3, S. 3 f. zust. zitiert. 775 Mittermaier, Handbuch I 1, S. 175. Die Stelle wird von Duttge, Zwangsmaßnahme, S. 31 zust. zitiert. 773

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1. Teil: Strafprozesstheorie

Wahrheit und Gerechtigkeit, zusätzlich noch die Persönlichkeitsachtung und die Generalprävention.776 Heute unterscheidet Krauß drei Funktionen des Strafverfahrens: die dogmatische Funktion der Durchsetzung des materiellen Strafrechts, die rechtstaatliche Funktion der Begrenzung der Staatsgewalt und die soziale Funktion der Wiederherstellung des Rechtsfriedens.777 Nach Roxin und Schünemann soll das Strafverfahren eine materiell richtige, prozessordnungsmäßig zustande kommende und Rechtsfrieden schaffende Entscheidung anstreben.778, 779 Allen diesen Ansichten ist gemeinsam, dass sie fest mit der Möglichkeit eines Widerstreits zwischen den genannten Zwecken rechnen und sich der Methode der Abwägung bedienen wollen, um diese Konfliktsituationen zu bewältigen. bb) Auch in der deutschen Rechtsprechung spielt der Abwägungsgedanke eine prominente Rolle. Vor allem werden Beweisverwertungsfragen durch eine umfassende Abwägung aller im Einzelfall betroffenen Interessen gelöst.780 Und in der

776

Stock, FS Mezger, S. 430 ff., 433, 440 ff. Krauß, ZStW 85 (1973), S. 339, 342, 344. 778 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 1 Rn. 3; zust. Ziemba, Wiederaufnahme, S. 153 f.; Pfeiffer, Grundzüge, Rn. 2; ders./Hannich, KK-StPO Einl. Rn. 1; Kröpil, JZ 1998, S. 136 f.; Saliger, GA 2005, S. 170. 779 Abwägungslehren vertreten auch: Nagler, GS 73 (1909), S. 143 ff.; Sotgiu, Revisione, S. 8 ff.; Baumann, FS Eb. Schmidt, S. 528; Schöch, Haupverhandlung, S. 99; Hagen, Elemente, S. 107; Wolter, GA 1985, S. 53 ff.; ders. Grundrechtliche Beweisverbote, S. 331; Schlüchter, Wert der Form, S. 214 ff. (materielle Wahrheit bzw. Gerechtigkeit, Rechtssicherheit, Menschenwürde); Rogall, FS Hanack, S. 293 ff.; Böse, GA 2002, S. 12; Gusy, StV 2002, S. 154 f.; Beulke, Strafprozessrecht Rn. 3 ff.; ders. StV 2009, S. 554; Schwarz, Jura 2007, S. 334 f.; Kühne, LR-StPO Einl B Rn. 51; Armenta Deu, Lecciones, S. 27 f.; ferner McCoy/Mirra, SLR 32 (1980), S. 918; Eser, ZStW 104 (1992), S. 362 f.; Stamp, Wahrheit, S. 22 f.; Antunes, Segredo de Justiça, S. 1237 f.; Kudlich, Mißbrauchsverbot, S. 226 f., der die Abwägungen unter den Dachbegriff des „Rechtsfriedens“ zusammenfasst; Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 64 ff.; Krey, Strafverfahrensrecht I, Rn. 15 ff.; Donatsch, SchwJZ 2004, S. 323; Barja de Quiroga, Tratado, S. 95; Conde Correia, Caso julgado, p. 185 e ss.; Moreno Catena, Derecho procesal penal, S. 35; Schroeder/Verrel, Strafprozessrecht, Rn. 10; Guinchard/Buisson, Procédure pénale, S. 3 f. Zumindest nahestehend auch Mittermaier, Strafverfahrensrecht, § 1 (S. 2); Dohna, Strafprozeßrecht, S. 2 f.; Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 28, 29; Figueiredo Dias, Direito processual penal, S. 45; Bottke, Verfahrensgerechtigkeit, S. 53. – Siehe auch das Manifest zum Europäischen Strafverfahrensrecht, das das europäische Strafverfahren als Ausgleich nicht bloß zwischen staatlichem Verfolgungs- und Beschuldigteninteressen, sondern auch Interessen des Opfers und sogar staatliche Souveranitätsinteressen berücksichtigen möchte, ECPI, ZIS 2013, S. 412; Satzger/Zimmermann, ZIS 2013, S. 409. 780 Etwa BGHSt 24, 125, 130 (Medizinalassistenten-Entscheidung); 37, 30 (32); 38, 214 (219 f.); 38, 372 (373 f.); 42, 372 (377); 44, 243 (249); 54, 69 (87); grdl. Beling, Beweisverbote, S. 33; zust. Rogall, ZStW 91 (1979), S. 8 ff., 10, 31; ders. Beweisverbote, S. 141, 155 ff.; ders. JZ 1996, S. 947 f.; ders. FS Grünwald, S. 546 f.; ders. FS Hanack, S. 293 ff.; Koriath, Beweisverbote, S. 94, 105 (bzgl. selbständiger Beweisverbote); Pizzi, Trials without Truth, S. 43 ff.; ders. UColLR 82 (2011), S. 731 ff. (mit Verweis auf Kanada und Neuseeland); Fraser, BuffCLR 3 (2000), S. 804; Bradley, Failure, S. 130, der den (nicht nur) deutschen Abwägungsansatz für besser hält als den 777

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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Verfassungsrechtsprechung werden viele heikle Fragen häufig auf der Angemessenheitsstufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung behandelt. Zentrale Abwägungstopoi sind als Komponenten des Rechtsstaatsprinzips in erster Linie auf der einen eher gesellschaftsbezogenen Seite die sog. Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege,781 auf der anderen eher beschuldigtenbezogenen Seite das Prinzip des fairen Verfahrens.782 cc) In der Rechtsprechung anderer wichtiger Gerichte, insbesondere des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, stehen Abwägungen ebenfalls im Vordergrund. Der EGMR legt die in Art. 6 EMRK verbürgte Garantie eines fairen Verfahrens aus als Gebot einer Abwägung zwischen widerstreitenden Belangen einer effektiven Verteidigung, der Interessen der Öffentlichkeit, der Opfer und eventueller Zeugen.783 Das Gericht prüft nicht eine einzelne Regelung, sondern ob das Verfahren als Ganzes diesen Anforderungen entspricht.784 Gleichzeitig hat das Gericht in mutigen Entscheidungen immer wieder betont, dass das Recht auf ein faires Verfahren von derartiger Bedeutung sei, dass es in einer Demokratie nicht Erwägungen der Zweckmäßigkeit (expedience) geopfert werden dürfe,785 und dass es ebenfalls unzulässig sei, dieses Recht in seinem Wesensgeamerikanischen, nach dem jede Regelverletzung ein Verwertungsverbot zur Folge habe; w. N. bei Jahn, 67. DJT, S. C 58 Fn. 237. 781 BVerfGE 33, 367 (383); 38, 105 (115 f.); 41, 246 (250); 46, 214 (222): „Der Rechtsstaat kann sich nur verwirklichen, wenn sichergestellt ist, daß Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden“; 74, 257 (262); 77, 65 (76 f.); 100, 313 (388 f.); 106, 28 (49); 107, 104 (118 f.); 122, 248 (272); BVerfG NJW 2011, 103 (104); BGHSt 31, 296, 299; 34, 397, 401 (Tagebuch-Entscheidung); 38, 214, 220; 54, 69, 89; zust. Rogall, ZStW 91 (1979), S. 8; Rieß, FS Schäfer, 173, 182 f.; ders. StraFo 2000, S. 364 ff.; ders. JR 2006, S. 272; Gössel, ZStW 94 (1982), S. 27; Landau, NStZ 2007, S. 124 ff.; Radtke, Konzeptionen, S. 135; Beulke, Strafprozessrecht Rn. 3. 782 BVerfGE 38, 105 (111 f.); 57, 250 (274 f.); 109, 13 (34); 122, 248 (271 f.). Zum Begriff des fairen Verfahrens noch Hartmann/Apfel, Jura 2010, S. 495 ff.; Brunhöber, ZIS 2010, S. 761 ff.; Ferrua, Il ,giusto processo‘, S. 27 ff.; ausf. und gründlich Gaede, Fairness, insb. S. 369 ff. (zu ihm näher u. VI. 5. c) [S. 299 ff.]). 783 Vgl. etwa EGMR Rowe u. Davis v. Vereinigtes Königreich, Beschw. Nr. 28901/ 95, v. 16.2.2000, Rn. 61; Al-Khawaja u. Tahery v. Vereinigtes Königreich, Beschw. Nr. 26766/05 u. 22228/06, v. 15.12.2011, Rn. 118; Lea v. Estland, Beschw. Nr. 59577/ 08, v. 6.12.2012, Rn. 78; Sievert v. Deutschland, Beschw. Nr. 29881/07, v. 19.7.2012, Rn. 58. 784 Etwa EGMR Doorson v. Niederlanden, Beschw. Nr. 20524/92, v. 26.3.1996, Rn. 67; Taxquet v. Belgien, Beschw. Nr. 926/05, v. 16.11.2010, Rn. 84; Al-Khawaka u. Tahery v. Vereinigtes Königreich, Beschw. Nr. 26766/05 u. 22228/06, v. 15.12.2011, Rn. 118; ausf. m. v. w. N. Schroeder, GA 2002, S. 293 ff., der die Gesamtbetrachtung als Beruhensprüfung deutet; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 428 ff. (zust. S. 443); krit. Kühne/Nash, JZ 2000, S. 997 f.; Gleß, NJW 2001, S. 3607; Jäger, GA 2008, S. 481 ff.; Wolter, ZIS 2012, S. 244. 785 EGMR Kostovski v. Niederlanden, Beschw. Nr. 11454/85, v. 20.11.1989, Rn. 44; Windisch v. Österreich, Beschw. Nr. 12489/86, v. 27.9.1990, Rn. 30; Saidi v. Frankreich Beschw. Nr. 14647/89, v. 20.9.1993 17 Rn. 44 (alle drei zum Konfrontationsrecht);

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1. Teil: Strafprozesstheorie

halt (essence) einzuschränken.786 Diese Behauptungen sprengen an sich den Rahmen des Abwägungsansatzes. b) Eine Stellungnahme muss differenziert ausfallen. Wenn auch unübersehbare Mängel zu verzeichnen sind (zu ihnen sogleich u. c) [S. 224 ff.]), weisen die Abwägungsansätze einen wichtigen Vorzug auf. Sie gehen von der richtigen Einsicht aus, dass es unmöglich ist, aus einem einzigen Gesichtspunkt eine gehaltvolle juristische Theorie zu konstruieren. Jede Theorie, die Abwägungen in ihren Mittelpunkt stellt, wird eine Reihe unterschiedlicher Werte anerkennen, die sie miteinander in ein Gleichgewicht zu führen versuchen wird.787 Insbesondere scheinen Abwägungsansätze, insofern dem deshalb bereits gelobten Ansatz vom Strafverfahren als Beschuldigtenschutz ähnlich, davon auszugehen, dass Beschuldigter und Gesellschaft auf unterschiedlichen, regelmäßig sogar entgegengesetzten Positionen stehen. Das Bedürfnis nach dem Ausgleich entsteht erst, weil man die Konfliktträchtigkeit des Verfahrens nicht durch gegensatzaufhebende Konstrukte zu verdecken sucht (s. o. III. 3., 5. [S. 180 f., 194, 196]). Die Kehrseite dieses Vollzugs ist aber ein schwieriges und nicht umgehbares Dilemma. Denn ein rationaler Ausgleich verschiedenartiger Größen setzt voraus, dass sie miteinander kommensurabel sind.788 Hinter den scheinbaren Unterschieden müssten sich also gleichartige Einheiten verbergen. Es ist deshalb kein Wunder, dass man häufig nicht von schlichter Abwägung, sondern eher von einer Interessens-, Wert- oder Prinzipienabwägung spricht. Eine solche Terminologie deutet darauf hin, dass ein Abwägungsansatz eine Tendenz in sich birgt, alle relevanten Größen auf Interessen, Werte oder Prinzipien zurückzuführen. Die Not, nach einem gemeinsamen Nenner zu suchen, damit Abwägungen überhaupt rational vorgenommen werden können, führt dazu, dass der Abwägungsansatz in letzter Hinsicht reduktionistisch erscheint. Möchte der Vertreter eines Abwägungsansatzes dem Reduktionismus entgehen und besteht er auf einer fundamentalen Verschiedenartigkeit der normativ releEGMR Teixeira de Castro v. Portugal, Beschw. Nr. 25829/94, v. 9.6.1998, Rn. 36 (Deutsch in EuGRZ 1999, 660, 663); Khudobin v. Russland, Beschw. Nr. 59696/00, v. 26.10.2006, Rn. 129; Ramanauskas v. Litauen, Beschw. Nr. 74420/01, v. 5.2.2008, Rn. 53 (alle drei zum Lockspitzel-Problem); Bykow v. Russland, Beschw. Nr. 4378/02, v. 10.3.2009, Rn. 20; Lalmahomed v. Niederlanden, Beschw. Nr. 26036/08, v. 22.2. 2011, Rn. 36. 786 EGMR Winterwerp v. Niederlanden, Beschw. Nr. 6301/73, v. 24.10.1979, Rn. 60; Kiselev v. Russland, Beschw. Nr. 75469/01, v. 29.1.2009, Rn. 26; Fedorov v. Russland, Beschw. Nr. 63997/00, v. 26.2.2009, Rn. 29; R.P. u. a. v. Vereinigtes Königreich, Beschw. Nr. 38245/08, v. 9.10.2012, Rn. 64. 787 Man könnte sich dennoch fragen, ob dies nicht eine Kapitulation der Wissenschaft darstellt, deren höchstes Anliegen immer die Zurückführung aller einzelnen Erkenntnisse auf eine einzige Grundidee sein sollte. Da dieser Einwand auch gegen die hier zu entwickelnde Theorie gerichtet werden kann, ist darauf an späterer Stelle einzugehen (u. D. II. 1. [S. 320 ff.]). 788 Insofern richtig Maher, ARSP-Beiheft 19 (1984), S. 102.

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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vanten Größen, also auf einem Pluralismus – wofür die besseren Gründe sprechen, von denen aber erst später die Rede sein wird (s. u. D. II. 1. [S. 320 ff.]) –, dann verfällt er dem zweiten Horn des Dilemmas. Denn mit diesem Pluralismus verschwindet die Kommensurabilität und mit ihr die Möglichkeit, zwischen den widerstreitenden Größen einen rationalen Ausgleich zu finden. Mit anderen Worten: Eine pluralistische Abwägungstheorie überwindet den Reduktionismus dadurch, dass sie zu einem Dezisionismus wird, demzufolge Abwägungen nichts anderes sind als willkürliche Stellungnahmen für eine und gegen eine andere für relevant erachtete Größe. c) Wenn schon der Vorzug des Abwägungsansatzes teuer erkauft wurde, also damit, dass er in ein Dilemma von Reduktionismus oder Dezisionismus verfiel, ist zu erwarten, dass die Mängel umso beachtlicher sein werden. An Einwänden fehlt es nicht; ihre Berechtigung soll jetzt näher geprüft werden. aa) Ein geläufiger Einwand richtet sich gegen die vermeintlichen metaphysischen Wurzeln des Abwägungsdenkens: Es beruhe auf einer materiellen Wertphilosophie, die aber aus mehreren Gründen suspekt sei.789 Weder die Frage nach der Existenz von Werten noch die nach deren Erkennbarkeit sei geklärt. Umso weniger sei es möglich, ein Rangverhältnis zwischen Werten zu bestimmen, was aber erforderlich wäre, um Kollisionen vernünftig zu lösen. Diese Argumentation gleicht aber einem Angriff gegen Windmühlen. Denn es besteht kein notwendiger Zusammenhang zwischen materieller Wertphilosophie und Abwägung.790 Mag zwar das Bundesverfassungsgericht einen solchen Zusammenhang durch die Redeweise von Grundrechten als einer objektiven Werteordnung suggeriert haben,791 machen sich die Kritiker alles zu einfach, wenn sie meinen, dass die Schlacht bereits durch eine Diskreditierung der ohnehin kaum noch vertretenen materiellen Wertphilosophie gewonnen ist. Selbst wenn die materielle Wertphilosophie die Mutter der Abwägungsansätze gewesen wäre – was nicht stimmt, denn, wie gesehen, hatten sie bereits im 19. Jahrhundert namhafte Vertreter –, wäre eine solche Widerlegung ähnlich unbefriedigend wie die Ablehnung eines Einreisevisums mit der Begründung, die Eltern des Antragstellers seien vorbestraft. bb) Verbreitet ist zweitens ein pragmatisch ausgerichteter Einwand. Den Abwägungen würde es weitgehend an Rationalität im Sinne von intersubjektiver Überprüfbarkeit fehlen.792 Der eigentliche Maßstab einer Abwägung sei das sub789 Forsthoff, Verfassungsgesetz, S. 153 f.; Böckenförde, Wertbegründung, S. 71 ff.; Müssig, GA 1999, S. 139. 790 Insb. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 126 ff., 133 ff., 137. 791 Grdl. die Lüth-Entscheidung, BVerfGE 7, 198 (205). 792 Eb. Schmidt, JZ 1968, S. 361; ders. JZ 1968, S. 684; ders. ZStW 80 (1968), S. 573, 581; ders. NJW 1969, 1140 ff. (wohlgemerkt: Eine Hauptzielscheibe der Kritik von Eb. Schmidt war aber gerade die aus seiner Sicht gefährliche individualschützende

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1. Teil: Strafprozesstheorie

jektive Empfinden des Entscheiders, dem sowohl der Betroffene als auch die Gesellschaft vollständig ausgeliefert wären. Man spricht von einer „irrationalen Abwägungswillkür“.793 Häufig wird der Einwand um eine politische Dimension erweitert: Gerade wegen ihrer Willkürlichkeit seien Abwägungen in einer gewaltenteilenden Demokratie Sache des Gesetzgebers und nicht der Richter794 – umso weniger der Universitätselite, könnte man wohl hinzufügen. Der Abwägungsansatz führe zu der Gefahr einer Herrschaft der Menschen statt der Gesetze.795 Dieser Einwand ist nachvollziehbar. In der Tat muten viele der in der alltäglichen Gerichtspraxis und Literatur getroffenen Abwägungen zufällig an. Nicht immer gibt es einen sprunglosen Weg von der Abwägung, die regelmäßig nicht mehr als eine Tendenz kennzeichnet,796 zu der Formulierung der subsumtionsfähigen Regel oder der Lösung des Einzelfalls. Man sieht es ganz schön an der Diskussion über die Provokation eines Unverdächtigen, die nach der Rechtsprechung des EGMR und des BGH als Verletzung des fairen Verfahrens eingestuft wird.797 Die einzelnen überwiegend auf eine Abwägung abstellenden Stellungnahmen möchten aus diesem Verstoß nicht von ungefähr die unterschiedlichsten Rechtsfolgen ableiten: Der EGMR spricht in unklarer Weise davon, dass sich in einem solchen Fall der „Gebrauch von Beweismitteln“ („use of evidence“) ver-

Orientierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes!; gerade dem stimmt Ulrich, ZRP 1982, S. 1970 zu); Jescheck, JZ 1970, S. 205; Maher, ARSP-Beiheft 19 (1984), S. 100; Pawlowski, Methodenlehre, Rn. 51 ff. („Kadijustiz“); Murmann, GA 2004, S. 67 f.; Streck/Oliveira, Garantias, S. 95. Häufig taucht die Kritik bei der Auseinandersetzung mit der sog. Abwägungslehre im Rahmen der Beweisverwertungsverbote auf, etwa Kohlhaas, DRiZ 1966, S. 289; Amelung, Informationsbeherrschungsrechte, S. 9; ders. FS Roxin I, S. 1276; Grünwald, Beweisrecht, S. 155 f.; Lesch, FS Volk, S. 312; Jahn, 67. DJT, S. C 47 f.; Neuhaus, StV 2010, S. 50. 793 Lesch, FS Volk, S. 312. 794 Eb. Schmidt, JZ 1968, S. 359, 361; ders. JZ 1968, S. 684; ders. ZStW 80 (1968), S. 575; Köhler, ZStW 107 (1995), S. 15 ff.; Zaczyk, StV 2002, S. 127 („inhaltsleer“); ferner Amelung, FS Roxin I, S. 1275. 795 So insb. Leisner, NJW 1997, 638; ders. Der Abwägungsstaat, S. 43 f.: Die Abwägung begründe „etwas wie einen Ausnahmezustand“, in dem ein „letztes, gottähnliches Richterwort“ gesprochen werde, das den Richter zum „Diktator des Einzelfalls“ erhebe. 796 Am deutlichsten hierzu Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 146, der von einem „Abwägungsgesetz“ spricht: „Je höher der Grad der Nichterfüllung oder Beeinträchtigung des einen Prinzips ist, um so größer muß die Wichtigkeit der Erfüllung des anderen sein“. Gleichzeitig stellt er aber klar, dass diese Formel „keinen Maßstab (liefert), mit dessen Hilfe Fälle definitiv entschieden werden könnten“ (S. 152). 797 Grdl. EGMR Teixeira de Castro v. Portugal, Beschw. Nr. 25829/94, v. 9.6.1998, Rn 38; s. a. EGMR Vanyan v. Russland, Beschw. Nr. 53203/99, v. 15.12.2005, Rn. 49; Khudobin v. Russland, Beschw. Nr. 59696/00, v. 26.10.2006, Rn. 134; V. v. Finnland, Beschw. Nr. 40412/98, v. 24.7.2007, Rn. 70. In Deutschland BGHSt 47, 44 (47 ff.); 45, 321 (326 ff.); BGH NStZ 2002, 50; 1995, 506; BGH NJW 1995, 2237 (2238 f.; in der amtlichen Veröffentlichung BGHSt 41, 64 ist eine zentrale Passage nicht gedruckt worden).

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biete,798 was wohl als Beweisverwertungsverbot zu verstehen ist,799 während der BGH bloß einen Strafzumessungsrabatt verleiht.800 Im Rahmen der Dogmatik der Wiederaufnahme des Verfahrens, die den Gegenstand des letzten Abschnitts der vorliegenden Monografie bildet und die von der herrschenden Auffassung als Ausfluss einer Abwägung von Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit gedeutet wird,801 wird man auch sehen, wie sehr alle möglichen Zwischenlösungen mit einer Berufung auf die widerstreitenden Werte propagiert werden können.802 M. a.W.: Von klaren Grenzfällen abgesehen, führen Abwägungen selten zu dem einzig richtigen Ergebnis, sondern sind mit einer Vielzahl von allgemeinen Regeln oder einzelnen Falllösungen kompatibel.803 Das am Ende herauskommende Ergebnis ist dann in der Tat kein Resultat eines Zusammenspiels von Gründen, sondern das einer nicht restlos durch Gründe determinierten Entscheidung. Dennoch ist eine sich ihrer Grenzen bewusste, in diesem Sinne bescheidenselbstkritische Abwägungslehre nicht nur unproblematisch, sondern weitgehend unerlässlich. Zunächst gibt es doch Grenzfälle, bei denen eine Abwägung zu einem eindeutigen Ergebnis führt. Das in Deutschland bekannteste Beispiel dürfte die Liquorentnahme-Entscheidung des BVerfG sein.804 Obwohl diese Fälle nicht den bevorzugten Gegenstand höchstrichterlicher Entscheidungen und wissenschaftlicher Auseinandersetzungen darstellen, dürften sie im Alltag der Strafprozesspraxis weitgehend die Regel bilden. Und auch in vielen nicht so eindeutigen Fällen erhöht die Abwägung die Klarheit und intersubjektive Nachprüfbarkeit der Argumentation, weil sie die Gesichtspunkte benennt, die bei der Gewinnung der allgemeinen Regel oder bei der Lösung des konkreten Falls berücksichtigt worden sind.805 Solange sich der Abwägungsansatz nicht selbst überschätzt und die oben beschriebene erkenntnistheoretische Grenze einhält, also solange er nicht so tut, als würden die in den Abwägungsvorgang eingehenden Gründe das Abwä798 EGMR Teixeira de Castro (Fn. 797), Rn. 36; Khudobin (Fn. 797), Rn. 133; V. (Fn. 797), Rn. 69; Edwards u. Lewis v. Großbritannien, StraFo 2003, 360 (361, Rn. 49). 799 So auch die Deutung von Kinzig, StV 1999, S. 289, 292; Wolter, FS BGH, S. 982; Eschelbach, StV 2000, S. 395; Ambos, NStZ 2002, S. 632. 800 BGHSt 47, 44 (51); 45, 321 (326 ff.); BGH NStZ 2002, 50. 801 Unten Teil 2 Kap. 6 B. III. (S. 871 f.). 802 Unten Teil 2 Kap. 6 B. III. (S. 873 ff.). 803 Ebenso Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 143; Koriath, Beweisverbote, S. 97. Das Behauptete ist unabhängig davon, ob man der Lehre von der einzig richtigen Entscheidung folgt, zu ihr ausf. Dworkin, Hard cases, S. 105 ff. („Herkules“); L. Schulz, Verdacht, S. 245 ff.; Neumann, Wahrheit im Recht, S. 37 ff.; Bittner, Recht als interpretative Praxis, S. 215 ff.; davor bereits krit. Engisch, Wahrheit und Richtigkeit, S. 14 ff. Denn dieser Theorie zufolge beruht dieses Problem auf Ungewissheit, und wenn man ihr nicht zustimmt, auf Unbestimmtheit (zu dieser Unterscheidung o. Kap. 1 A. I. [S. 49 ff.]); pragmatisch bleibt es dabei, dass man nicht weiß, welches Ergebnis rechtens sein soll. 804 BVerfGE 16, 194 (202 f.). 805 Wolter, SK-StPO 4. Aufl. vor § 151 Rn. 44; ähnl. Koriath, Beweisverbote, S. 97.

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gungsergebnis eindeutig determinieren, hat er einen Platz in der Jurisprudenz und deshalb auch im Strafverfahrensrecht.806 cc) Das Hauptproblem des Abwägungsansatzes liegt indes nicht auf der erkenntnistheoretischen bzw. politischen Ebene, sondern auf einer rechtsethischen. Dass man sich auf eine Abwägung einlässt, bedeutet nicht nur, dass man sich für eine bestimmte Art und Weise des Argumentierens entscheidet, sondern ist teilweise zugleich eine inhaltliche Festlegung.807 Denn Abwägungen sind ein „Normbegründungsvorgang juristischer Zweckrationalität“: 808 Im Rahmen einer Abwägung werden die einzelnen auszugleichenden Anforderungen als Anforderungen begriffen, die maximiert bzw. optimiert werden sollen.809 Deshalb haben Abwägungen mindestens eine Verwandtschaft zum konsequentialistischen Denken, das in der Herbeiführung bzw. Förderung guter Folgen den Maßstab des Richtigen erkennt.810 Die wichtigste Implikation dieses Ansatzes ist aber, dass Unverfügbares verloren geht.811 Bereits sprachlich äußert sich dieser Mangel

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Im Ergebnis ähnl. Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 705 ff. Richtig Hassemer Unverfügbares, S. 183: bei der Abwägung enthalte „bereits die Wahl des Lösungswegs die Lösung“. Dies verkennt Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 32 ff., wenn er meint, seine Abwägungslehre liefere eine bloße „Strukturtheorie“; etwas pauschal deshalb Jansen, Rationales Abwägen, S. 52 f., der Abwägung als Ausdruck des Liberalismus versteht. 808 Bartlsperger, Abwägungsgebot, S. 107; zust. Rogall, FS Hanack, S. 299 f. (der aber den Fehler begeht, Zweckrationalität und Rationalität gleichzusetzen, S. 297 ff.: Abwägung als „Denkmethode“ bzw. „Methode wertorientierten Denkens“); ebenso Wieacker, FS R. Fischer, S. 878 ff.; Kahlo, KritV 1997, S. 188 Fn. 22; Kaspar, Verhältnismäßigkeit, S. 90 ff.; Schlink, Abwägung, S. 143 ff., 154 ff., mit seinem Konzept einer „Abwägungspragmatik“, das er auf Grundlage der Wohlfahrtsökonomik und der Spieltheorie zu konkretisieren sucht; im Strafverfahrensrecht Schlüchter, Wert der Form, S. 219, die bezeichnenderweise volkswirtschaftswissenschaftliche Literatur zitiert; Frisch, NStZ 2013, S. 252, der zu Recht hier ein zentrales Problem erkennt. Dass auf der Ebene der Angemessenheit „wertrationale Elemente“ eine ausschließliche (so wohl Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 11) oder große Rolle (Kaspar, Verhältnismäßigkeit, S. 97 f., 129 f.) spielen sollen, bedeutet nicht, dass kein Konsequentialismus vorliegt. Konsequentialistisch ist jede Theorie, die darauf angelegt ist, ein Gut zu maximieren, auch dann, wenn dieses Gut immaterieller Art ist (prominentes Beispiel: G. E. Moore, Principia Ethica, Nr. 89, 113). Nur die wichtigste konsequentialistische Theorie, nämlich der Utilitarismus, will ein Gut maximieren, das nicht immaterieller Art ist: Lustgefühle (Bentham, Introduction, Chapter I 1 ff.), Präferenzen (P. Singer, Practical Ethics, S. 14, 94) usw. Man kann aber Konsequentialismen bilden, bei denen das zu maximierende Gut die Schönheit, die Gerechtigkeit oder sogar die Verwirklichung der Grundrechte ist. Sog. Wertrationalität kann deshalb auch eine Form von zwar ideell sublimierter, aber dennoch konsequentialistischer Rationalität sein. W.N. zum Ganzen bei Greco, Lebendiges, S. 120 Fn. 62, 132 Fn. 85. 809 Zum Begriff des Optimierungsgebots grdl. Alexy, Theorie de Grundrechte, S. 75 ff.; ebenso Rogall, FS Hanack, S. 298. 810 Vgl. die Definition des Konsequentialismus o. C. III. 1. (S. 158). 811 Insb. die zahlreichen Arbeiten von Wolter, beispielsweise ders. NStZ 1993, S. 1 ff.; ders. FS Küper, S. 707 ff.; ders. FS Roxin II, S. 1262 f.; ferner Hassemer, Unverfügba807

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darin, dass man – wie o. S. 220 gerade angemerkt – sehr leicht von einer Interessens-, Werte- oder Prinzipienabwägung spricht, sich aber intuitiv davor sträubt, von einer Rechteabwägung zu sprechen. Hinter diesem Widerstand der Sprache steht wohl die intuitive Einsicht, dass Rechte etwas sind, das man nicht ohne Weiteres einer Abwägung preisgeben kann. Nach dem Abwägungsansatz stehen dagegen alle Rechte des Einzelnen unter einem Kostenvorbehalt.812 Sind die gegen das Recht des Einzelnen sprechenden Interessen hinreichend stark oder hinreichend zahlreich – und gerade im Strafverfahren ist eine solche Situation quasi vorprogrammiert, denn es geht hier auf der einen Seite um schwere Taten, von denen die Gesellschaft immer wieder zu erkennen gibt, dass sie sie bekämpfen will, auf der anderen um den einzelnen Verdächtigen, der häufig auch kein Engel ist – dann bedeutet Abwägung, wie o. III. 5. (S. 196) angemerkt, ein Spiel mit gezinkten Karten, dessen Regeln schon im Voraus zulasten des Individuums formuliert worden sind. Damit mündet die Alleinherrschaft der Abwägung letztlich doch in eine Instrumentalisierung, da die Interessen anderer, sobald sie eine gewisse Stärke erreichen, sich gegenüber jeder Position des Einzelnen durchsetzen. Nach dem Abwägungsansatz gibt der Nutzen vieler ihnen durchaus ein Recht gegen einen!813 Davon, dass diese Gefahr keine bloß theoretische ist, zeugt die Handhabung der Abwägung durch Lehre und Rechtsprechung. Bereits Beling sagte, dass „ein Beweisverbot, das für Bagatellstrafsachen Billigung verdient, oft in Kapitalsachen tadelnswert sein“ werde,814 und namhafte Verfassungsrechtler der Nachkriegszeit vertraten, dass die von § 136a StPO verbotenen Mittel der Narkoanalyse oder der Hirnwäsche bei „besonders ,ausgekochten‘ vorbestraften Beschuldigten“ nicht nur zulässig, sondern von Verfassungs wegen sogar geboten seien.815 Die Tagebuch-Entscheidungen des BGH und des BVerfG begründeten die Verwertbarkeit von Tagebuchaufzeichnungen im Strafverfahren u. a. damit, dass es um die Aufklärung eines Mordes ging. Ein Verstoß gegen die Menschenwürde liege vor, wenn der Tatvorwurf auf einen Meineid lautet (BGHSt 19, 325), anscheinend aber nicht, wenn es um „eine der schwersten Straftaten, die das Strafgesetzbuch kennt“, geht (BGHSt 34, 397 [401]).816 Und jüngst hat der BGH res, S. 184; ders. Einführung, S. 153 Fn. 205; I. Müller, Rechtsstaat und Strafverfahren, S. 41; Jahn, 67. DJT, S. C 62 f. 812 Vgl. Greco, GA 2006, S. 634 – „Kostenregel“. 813 Siehe das entgegengesetzte Kant-Zitat o. Fn. 674. 814 Beling, Beweisverbote, S. 35. Die Passage geht so weiter: „Der Beweis bei schweren Verbrechensfällen wird weniger verschränkt sein dürfen, als der Beweis bei Uebertretungssachen“. 815 Mangoldt/Klein, GG 2. Aufl. Art. 1 Anm. III 5 a; (in der 3. Aufl. befindet sich die Passage nicht mehr, Mangoldt/Klein/Starck, GG Art. 1 Abs. 1 Rn. 40); zu Recht krit. Kohlhaas, DRiZ 1966, S. 289: „unbegreiflicher Satz“. 816 Dabei will ich zum Ergebnis der Entscheidungen nicht Stellung nehmen (ausf. hierzu m.w. Nachw. Sax, JZ 1965, S. 1 ff.; Amelung, NJW 1990, S. 1753 ff.; Wolter, GS

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ein Verwertungsverbot aus der Verletzung der Belehrungspflicht gem. Art. 36 WÜK u. a. mit dem Argument abgelehnt, dass die zur Last gelegte Tat ein „Kapitalverbrechen“ war.817 Wegen solcher Schlussfolgerungen ist wiederholt die Nähe der Abwägungslehre zur mittelalterlichen Maxime „in delictis atrocissimis propter criminis enormitatem jura transgredi liceat“ hervorgehoben worden.818 Es sieht so aus, als würden die Regeln der Strafprozessordnung nur für Vergehen gelten, als wären Beweisverbote „Gnadenakte für kleine und mittlere Delinquenten“.819 Das Gesagte soll nicht dahingehend missverstanden werden, dass hiermit jeder Abwägung eine Absage erteilt würde. Es gilt nur, neben der oben ausgearbeiteten erkenntnistheoretischen Grenze eine weitere Grenze zur Geltung zu bringen, die ein bescheiden-selbstkritischer Abwägungsansatz zu achten hat, nämlich eine rechtsethische Grenze. Soll der Gedanke von Schranken, die keine auch so große Macht überschreiten darf, überhaupt denkbar bleiben, dann kann das Recht in seiner tieferen Schicht nicht nur aus Abwägungen bestehen. Vielmehr wird man unterscheiden müssen zwischen dem weiten Meer von Abwägungen und einem

K. Meyer, S. 506 ff.; ders. StV 1990, S. 175 ff.; Lorenz, GA 1992, S. 254 ff.); zu kritisieren ist nur, dass der Anschein entstehen könnte, man hätte die Menschenwürde mit der „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ abgewogen (ähnl. Wolter, FS BGH, S. 987). Denn die These, dass der Inhalt von Tagebüchern deshalb nicht zum Kernbereich gehöre, weil der Autor sie schriftlich niedergelegt habe (BVerfGE 30, 367, 376; davor Dünnebier, MDR 1964, S. 967; Nüse, JR 1966, S. 267; Spendel, NJW 1966, S. 1107), hat m. E. viel für sich (krit. aber Lorenz, GA 1992, S. 268 f.; Jahn, 67. DJT, S. C 84: nur nichtschriftliche Gedanken würden zum Kernbereich gehören). Intuitiv leuchtet schwer ein, dass man auch im Bereich der Gefahrenabwehr vor dem Öffnen eines Tagebuchs Halt macht (so insb. bei Gefahren für Leib und Leben Wolter, StV 1990, S. 176; ders. GS K. Meyer, S. 511; ders. GA 1999, S. 178), was aber an sich in der Konsequenz einer Zuordnung zum Kernbereich liegen würde (and. Wolter, der bei der Gefahrenabwehr ausnahmsweise den Kernbereich für eine Abwägung „Würde gegen Würde“ öffnen will). 817 BGH StV 2011, 603 (606 Rn. 24). 818 Carpzov, Practica nova, Pars III, Quaestio CII Rn. 68 – Beachtliches über diesen Spruch bei Paulus, FS Trusen, S. 311 ff., insb. 315, dessen Urteil, dass der Inquisitionsprozess nicht weniger rechtsstaatlich gewesen ist als unserer (s. o. Fn. 162), wohl übertrieben ist, aber dennoch eine nicht uninteressante Provokation bleibt. Der Satz soll auch nicht überall akzeptiert worden sein (in diesem Sinne in Bezug auf Frankreich Esmein, Histoire, S. 277). Dieser Einwand bereits bei Sydow, Beweisverbote, S. 108; Kohlhaas, DRiZ 1966, S. 291; die Replik von Rogall, ZStW 91 (1979), S. 34 ist ein erfolgsloses Ausweichmanöver: Er meint, es sei gerade die Frage, ob die erleichterte Verwertung rechtswidrig erlangter Beweise bei schweren Straftaten „jura transgredi“ darstelle. Der Vorwurf ist aber gerade, dass die Rechtswidrigkeit der Erlangung dieser Beweise bedeutungslos sein soll, weil es um Prozesse wegen schwerer Taten geht. 819 Amelung, Informationsbeherrschungsrechte, S. 57 (Zitat); ähnl. Wolter, GS K. Meyer, S. 494; Müssig, GA 1999, S. 142; Jahn, 67. DJT, S. C 61. Krit. a. Roxin, NStZ 1997, S. 20: Abwägungslösungen bedeuten, „dass der Zweck bis zu einem gewissen Grade die an sich bedenklichen Mittel heiligt“; Grünwald, StV 1987, S. 457; Zaczyk, StV 2002, S. 127.

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nicht mehr der Abwägung zugänglichen, „unantastbaren“ oder sogar – vor diesem Wort sollte man sich nicht scheuen – heiligen Bereich,820 einem Bereich, in dem es nicht mehr um Zwecke und Interessen, Maximierung und Optimierung geht, sondern um seitliche Schranken (side constraints821) einer jeden Zweckund Interessenmaximierung und -optimierung. Die nicht zu kaschierenden Abgrenzungsschwierigkeiten822 machen die Unterscheidung nicht weniger richtig.823 cc) Nach diesen allgemeinen Einwänden soll man sich der Prüfung der o. bb), cc) (S. 218 ff.) genannten Erscheinungsformen des Abwägungsansatzes zuwenden. (1) Die Figur der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege ist schon Zielscheibe mehrerer kritischer Stellungnahmen gewesen.824 Nicht nur hat der Gedanke einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege keinen eigenständigen Gehalt gegenüber den zwei bereits o. III. 3. (insb. S. 167), 4. (S. 187), 6. (S. 197) genannten Zwecken des Strafverfahrens, nämlich der materiellen Wahrheit und der negativen Generalprävention. Eine Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege, die auf Augenhöhe mit individuellen Rechten steht825 und mit ihnen in „praktische Konkordanz“ 826 gebracht werden soll, droht immer in die gerade charakterisierte Instrumentalisierung zu verfallen. Auch die gelegentlichen Versuche, die Funktionstüchtigkeit dadurch zu „zähmen“, dass man behauptet, nur eine die Rechte 820 Ein solches Konzept insb. bei Wolter, Grundrechtliche Beweisverbote, S. 324, 332 ff.; ders. Aspekte, S. 26; ders. GS K. Meyer, S. 496 ff.; ders. GA 1999, S. 167 f., 171 ff.; ders. FS BGH, S. 994 ff.; ders. FS Roxin I, S. 1151; ders. SK-StPO 4. Aufl. vor § 151 Rn. 25. 821 Aus philosophischer Sicht grdl. Nozick, Anarchy, State, Utopia, S. 30 f.; aus materiellstrafrechtlicher Sicht Greco, Lebendiges, S. 136 f., 248 ff., m.w. Nachw. aus dem philosophischen und juristischen Schrifttum. 822 Die von Rogall, ZStW 103 (1991), S. 912 f.; ders. FS Fezer, S. 61 ff. („Kernbereichsmystik“) krit. betont werden. 823 Ebenso Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), S. 1208. 824 Riehle, KritJ 1980, S. 316 ff.; I. Müller, Rechtsstaat und Strafverfahren, S. 28 ff.; Hassemer, StV 1982, S. 275 ff.; ders. KritV 1988, S. 342; ders. KritV 1990, S. 265 f.; Peters, Strafprozeß, S. 8; Grünwald, StV 1987, S. 457 („größte Bedrohung für den Bestand der den Beschuldigten schützenden Prinzipien“); Wolter, GS K. Meyer, S. 493 f., 502 ff.; Lorenz, GA 1992, S. 278 f.; Braum, KritV 1995, S. 378 f.; Samson, Fair trial, S. 528 f.; Rönnau, Absprache, S. 215; Bacigalupo, JöR 49 (2001), S. 52 f.; Jahn, 67. DJT, S. C 50; Kühne, GA 2008, 368 f.; Duttge, FS Karras, 459; eher empirisch begründete Kritik bei Patz, Effektivität, S. 140. zurückhaltend ferner Krauß, Prozeßdogmatik, S. 13. Wegen der „besonderen Dignität“ der Verfassungsrechtsprechung von einem „Kampf gegen Windmühlen“ zu sprechen (so Bottke, ZStW 96 [1984], S. 747), verträgt sich nicht mit dem o. Teil 1 Kap. 1 C. (S. 101 ff.) dargelegten Bild einer kritischen und nicht nur rechtsprechungsbestätigenden Rechtswissenschaft. 825 Expressis verbis Duttge, Zwangsmaßnahme, S. 30. Zu Recht krit. hierzu Wolter, GA 1999, S. 164 ff.; ders. FS BGH, S. 994; Bacigalupo, Proceso con todas las garantías, S. 474. 826 So Rieß, JR 2006, S. 271.

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des Individuums achtende Rechtspflege sei dieses Namens würdig,827 ist als weitere Instanz einer gegensatzaufhebenden Begriffsbildung aus den o. III. 5. (S. 194, 196 f.) genannten und gleich zu vertiefenden (u. 2. [S. 232 f.]) Gründen abzulehnen.828 Den Begriff der funktionstüchtigen Strafrechtspflege braucht man also nicht. Über seine Rolle als Bestandteil der positiven Verfassungsrechtsdogmatik vermag die vorliegende Untersuchung nicht zu urteilen. Aus der Perspektive einer universellen Rechtswissenschaft, der es in erster Linie um Gründe geht und nicht bloß um ihre jeweilige positiv-rechtliche Einkleidung (s. o. Teil 1 C. [S. 107 f.]), entpuppt sich die vielbeschworene Formel der funktionstüchtigen Strafrechtspflege bestenfalls als Kürzel für die zwei ausgearbeiteten Verfahrenszwecke der Abschreckungsgeneralprävention und der materiellen Wahrheit. Dann sollte man direkt von ihnen sprechen und nicht ein missverständliches, vorbelastetes Wort gebrauchen. (2) Aber auch der grundsätzlich beschuldigtenfreundlich ausgerichtete Begriff des fairen Verfahrens ist zu kritisieren. Insofern das faire Verfahren eine Manifestation des Abwägungsansatzes verkörpert – so wie es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts überwiegend gehandhabt wird –, ist die soeben formulierte Kritik einschlägig. Das faire Verfahren aus Art. 2 Abs. 1 i.V. m. 20 Abs. 3 GG verträgt sich kaum mit unverfügbaren Positionen, sondern bildet nur die Antipode zu der ebenfalls im Rechtsstaatsprinzip verankerten Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege, mit der es zur praktischen Konkordanz zu bringen ist.829 Das vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte formulierte Verständnis scheint zumindest der Theorie nach für diese Probleme nicht so anfällig zu sein, da das Gericht immer wieder an Schranken erinnert, die nicht der Zweckmäßigkeit aufgeopfert werden dürfen.830 Trotzdem ist der wissenschaftliche Nutzen eines solchen Begriffs für eine vorpositive Theorie des Strafverfahrens zweifelhaft. Weil diese nicht an eine bestimmte Normenordnung als Prüfungsmaßstab gebunden ist, gibt es für sie weder den Bedarf, ihre konkreten Aussagen auf ein mehr oder weniger zufällig in der maßgeblichen Norm genanntes Wort zurückzuführen, noch darf sie sich mit einer solchen Zurückführung begnügen, wenn die dahinter stehenden materiellen Erwägungen nicht ausgearbeitet worden sind 827 Etwa Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), S. 1269 f.: Funktionstüchtigkeit erfasse auch Glaubwürdigkeit, zu dieser gehöre die Fairness; Lorenz, GA 1992, S. 278; Rönnau, Absprache, S. 215; Rieß, StraFo 2000, S. 368; in kritischer Absicht Riehle, KritJ 1980, S. 320; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 602; ähnl. auch Hassemer, KritV 1990, S. 266 f., trotz seiner zutreffenden Kritik an Gegensatzaufhebungen. 828 Zu Recht krit. auch Hassemer, KritV 1998, S. 342. 829 Zu dieser Abwägung Kühne, LR-StPO Einl. I Rn. 110. 830 Siehe oben Fn. 785.

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(s. o. Teil 1 C. [S. 107 f.]). Denn allein mit dem Hinweis auf das Gebot, das Verfahren solle fair sein, kann man alles und auch nichts begründen; jede daraus ohne weitere Zwischenschritte und insofern unvermittelt abgeleitete konkrete Schlussfolgerung steht unter dem berechtigten Verdacht, „dezisionistische, kreisschlussgefährdete Rechtsfindung“ darzustellen.831 Die Kritik, die am fairen Verfahren seine Unbestimmtheit rügt und seine weitgehende Ersetzbarkeit durch inhaltsreichere Erwägungen,832 mag zwar die Perspektive des EGMR verfehlen, der das Handeln der europäischen Staaten an der EMRK zu messen hat. Die Perspektive der universellen Rechtswissenschaft wird aber hierdurch genau getroffen.833 c) Zusammenfassend erweisen sich auch die verbreiteten Abwägungsmodelle als nicht völlig befriedigend. Zu begrüßen ist, dass sie das Ideal einer monolithischen, aus einem einzigen obersten Gesichtspunkt konzipierten Theorie verabschiedet haben; dies führt aber zur ungelösten Schwierigkeit, dass sie zwischen den Polen eines Reduktionismus oder eines Dezisionismus einen Spagat schlagen müssen. Aus der Auseinandersetzung mit der gegen die Abwägungsansätze gerichteten Kritik sind zwei Grenzen ausgearbeitet worden. Die erste dieser Grenzen ist eine erkenntnistheoretische: Abwägungen liefern nicht immer das einzig richtige Ergebnis, sondern häufig nur eine Tendenz, mit der mehrere Ergebnisse vereinbar sind. Die zweite Grenze ist eine rechtsethische: Abwägungen haben eine Verwandtschaft zum konsequentialistischen Denken, so dass sie zu einer Zersetzung aller unverfügbaren Positionen führen, womit sie das Individuum auch nicht vor einer Instrumentalisierung bewahren können. Solange diese zwei Grenzen aber eingehalten werden, also solange man weder den Anspruch erhebt, aus Abwägungen für alle Fälle einzig richtige Entscheidungen abzuleiten, noch insbesondere versucht, durch Abwägungen Unverfügbares erklärbar oder – noch schlimmer! – verfügbar zu machen, sind Abwägungen nicht nur nützliche, sondern unverzichtbare Instrumente rechtswissenschaftlichen Denkens und Argumentierens. Gegen einen diese Grenzen anerkennenden bescheiden-selbstkritischen Abwägungsansatz lässt sich wenig anführen.

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In den treffenden Worten von Paulus, FS Seebode, S. 287. Heubel, Fair trial, S. 73, 122 f., 141 f.; ähnlich E. Müller, NJW 1976, S. 1066; Kühne, LR-StPO Einl. I Rn. 107; wohl auch Gössel, FS Meyer-Goßner, S. 199; krit. zu dieser Kritik Rüping, JZ 1983, S. 664 („vordergründig“); Bottke, Verfahrensgerechtigkeit, S. 61 ff.; Amodio, RitDPP 2003, S. 94. 833 Bezüglich ausgearbeiteter Konzepte der Verfahrensfairness wie desjenigen von Gaede und Bottke trifft das selbstverständlich nicht zu; zum Ansatz von Ersterem näher u. VI. 5. c) (S. 299 ff.). Bottke, FS Roxin I, S. 1245; ders. FS Meyer-Goßner, S. 73 ff. entwickelt ein Konzept der Fairness als Ausgleich für die durch das Strafverfahren bedingte von ihm sog. „Dissoziation“, das hier deshalb nicht kritisiert werden soll, weil es sich materiell zum guten Teil mit den hier u. VI. 6. (S. 301 ff.) zu entwickelnden Gedanken deckt. 832

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1. Teil: Strafprozesstheorie

Zuletzt wurden die zwei wichtigsten Erscheinungsformen des Abwägungsdenkens in der deutschen und europäischen Rechtspraxis, also die Figuren der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege und des fairen Verfahrens, als wissenschaftlich inhaltsleer verworfen. Diese Begriffe mögen zwar einen rechtsmitteltechnischen Sinn haben, in dem sie die Rückführung anderer Gesichtspunkte auf die für das jeweilige Rechtsmittel als Prüfmaßstab einschlägige Normenordnung ermöglicht. Aus der Perspektive einer Wissenschaft, der es um Inhalte geht, sind derartige Erwägungen von sekundärer Relevanz. 2. Das Versöhnungsmodell: Solidarität a) Abwägungsmodelle sind u. a. deshalb kritisiert worden, weil das Individuum nach ihrer Logik immer verliert, sobald mehr auf dem Spiel steht (o. 1. [S. 224 ff.]). Diese Problematik manifestiert sich nicht erst im Strafverfahren, sondern bereits in der straftheoretischen und sogar politikphilosophischen bzw. staatstheoretischen Diskussion. Deshalb ist auf diesen Ebenen insbesondere von Pawlik der Versuch unternommen worden, den dem Abwägungsansatz zugrunde liegenden Gegensatz von Gesellschaft und Einzelnem dadurch zu überwinden, dass man diesen in erster Linie nicht als bloßes Individuum, sondern als Bürger begreift. Ein Bürger kommt in den Genuss der Vorzüge eines rechtlichen Zustands und ist deshalb aus Solidarität verpflichtet, einen positiven Beitrag zur Aufrechterhaltung dieses Zustandes zu erbringen.834 „Kennzeichnend für die Rolle des Bürgers ist es, Mitverantwortung für den Bestand der soeben angesprochenen Realbedingungen seiner eigenen Freiheit zu übernehmen.“ 835 „Den Täter trifft in seiner Rolle als Bürger eine rechtliche Mitverantwortung für das Allgemeine. An dieser Mitverantwortung wird er in der Strafe festgehalten. Deshalb wird er, um ein letztes Mal mit Hegel zu sprechen, in der Bestrafung als Vernünftiges geehrt“.836 Strafe ist nach diesem Verständnis eine „Art erweiterter Steuerpflicht“.837 Dieses Modell hat auch ein strafverfahrensrechtliches Pendant.838 Der Beschuldigte wird demnach auch im Strafverfahren streng als Rechtsperson, also als Träger von Rechten und Pflichten, und nicht bloß als Individuum, als Träger

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Pawlik, Person, Subjekt, Bürger, S. 75, 82 ff. Pawlik, Person, Subjekt, Bürger, S. 82. 836 Pawlik, Person, Subjekt, Bürger, S. 97. 837 Pawlik, in: Starck, Diskussion, S. 103. 838 Zwar hat Pawlik seine strafprozessualen Gedanken vor seinen Überlegungen zur Straftheorie entwickelt. Die Verknüpfung beider ist deshalb eine eher konstruktive Interpretation von mir, die meines Erachtens aber wegen des Geschlossenheitsanspruchs des Werkes dieses Autors geboten erscheint und den Gedanken des Autors hoffentlich keine Gewalt antut. 835

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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„faktisch-kreatürlicher Interessen“ konzipiert.839 Rechtspflichten werden als Kosten der Freiheit verstanden,840 so dass sie „keine extern auferlegten Schranken der von ihnen betroffenen Bürger“ sind, sondern „dieser Freiheit, der sie erst zu sozialer Wirklichkeit verhelfen, prinzipiell immanent“ sind.841 Denn der rechtliche Zustand ist kein bloßer Idealzustand, sondern ein Zustand, in dem die in ihm verkörperten Regeln auch regelmäßig befolgt werden.842 Daraus leitet Pawlik ein Recht des Staates ab, dafür zu sorgen, dass dies geschieht, was insbesondere das Recht beinhaltet, auf den Verdacht der Nichtbefolgung dieser Regeln mithilfe von Verfahren zu reagieren.843 Der Bürger ist deshalb nicht nur dazu verpflichtet, ein Verfahren zu dulden, sondern hat sogar eine positive Pflicht zur „Mitwirkung bei der Tatsachenfeststellung“. Diese sei eine „Aktualisierung der allgemeinen Verpflichtung, die Verantwortung für die Folgen der eigenen (im Fall des von der Unschuldsvermutung profitierenden Beschuldigten: verdachtsbegründenden) Organisation zu übernehmen“.844 Der nemo tenetur-Grundsatz erhält somit den Charakter eines ausnahmsweise gewährten Privilegs.845 Daraus leitet Pawlik konkrete Folgerungen für das Problem der verdeckten Befragungen bzw. „Vernehmungen“ des Beschuldigten ab, die sich weitgehend mit den Ergebnissen der Rechtsprechung decken.846 b) Eine ausführliche Auseinandersetzung mit diesem Ansatz, der wohl zu den interessantesten Entwicklungen der jüngeren straftheoretischen Diskussion gerechnet werden muss, muss einer künftigen Gelegenheit vorbehalten bleiben.847 Hier soll allein seine Tauglichkeit zur Rechtfertigung des Strafverfahrens, insbesondere in dessen Dimension als qualifizierte Verdächtigung, interessieren. aa) Der Ansatz weist eine Reihe von Stärken auf. Die wichtigste dürfte sein, dass er auf der hochplausiblen Überzeugung beruht, dass Rechte nicht wie Manna vom Himmel fallen. Die durch Rechte begründeten Freiheitssphären sind immer gleichzeitig Sphären, für die der Einzelne in gewisser Weise auch verantwortlich ist. In welcher Weise aber genau, ist eine Frage für sich. Der Ansatz erscheint ferner intuitiv aussagekräftig, wenn es um die Erklärung von Zeugen839 Pawlik, GA 1998, S. 378 ff.; ihm weitgehend folgend Sánchez-Vera, Presunción de inocencia, S. 40 ff. 840 Pawlik, GA 1998, S. 380. 841 Pawlik, GA 1998, S. 381. 842 Pawlik, GA 1998, S. 380 f. 843 Pawlik, GA 1998, S. 381 f. 844 Pawlik, GA 1998, S. 381. 845 Pawlik, GA 1998, S. 381 ff. 846 Pawlik, GA 1998, S. 385 ff. Konkret: Unverwertbarkeit bei Aushorchungen im Rahmen der Untersuchungshaft und beim Missbrauch emotioneller Beziehungen, nicht aber bei einem freiwilligen Gespräch mit einem verdeckten Ermittler. 847 Die freundliche Aufforderung von Pawlik, ZIS 2011, S. 263 habe ich sehr glücklich zur Kenntnis genommen.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

pflichten geht,848 obwohl auch die Frage nach der Begründung dieser Pflichten hier offen bleiben soll, da uns nur die Beanspruchung des Beschuldigten interessiert. Gerade bei ihm erscheint der Verweis auf mitbürgerliche Solidarität hingegen zweifelhaft – und damit kommen wir zur gebotenen Kritik. bb) Kritisch zu dem Ansatz insbesondere unter dem Blickwinkel seines strafprozessualen Ertrags dürfte mehreres anzumerken sein. (1) Erstens sind die o. III. 3., 5. (S. 180 f., 194, 196) vielfach geltend gemachten methodischen Vorbehalte gegen gegensatzaufhebende Begriffsbildungen zu wiederholen und zu vertiefen. Der Anspruch, Gegensätze dadurch zu überwinden, dass man nicht mehr von Individuum und Gesellschaft, sondern allein von Mitbürgern spricht, konstruiert dadurch die angestrebte Harmonie, dass die Perspektive des Individuums von vornherein aus dem Blickfeld gerät. Sie wird als bloß „faktisch-kreatürliches Interesse“ abgetan.849 Es stimmt zwar, dass dem Willen der Individuen nicht per se ausschlaggebende Bedeutung zukommen darf (s. IV. 5. [S. 216 f.]). Der von Pawlik vorgezogene umgekehrte Weg, nicht auf den empirischen Menschen, sondern auf das normative Gebilde des Bürgers abzustellen, ist seinerseits mit großen Schwierigkeiten behaftet. Denn der Gehalt des Begriffs des Bürgers und hiermit die Reichweite der Pflichten zur Mitwirkung an der res publica bleiben unklar. Wohl wird man sagen müssen, dass diese Pflichten sich auf dasjenige beziehen, was Voraussetzung für das Weiterbestehen des rechtlichen Zustandes ist. Genau hierin liegt aber das Problem. Denn entweder liefert man eine apriorische Liste dieser Voraussetzungen – dies würde aber eine anspruchsvolle Staatstheorie erfordern, die ihrerseits eine Vielzahl von Einwänden auf sich ziehen würde; oder man verzichtet auf eine apriorische Liste und stellt auf Empirisches ab, was als Interpretation eher nahe liegt (denn Pawlik betont, der rechtliche Zustand müsse faktisch bestehen)850 – mit der Folge, dass die Möglichkeiten der Inanspruchnahme der Bürger grenzenlos werden, da es letztlich von wechselnden empirischen Umständen abhängen würde, wie weit diese Pflicht geht. Und hiermit wird klar, wie bedenklich die gegensatzaufhebende Methode letztlich ist. Sie bietet wenig mehr als einen Kunstgriff, unter einem verschwommenen, inhaltsarmen, und deshalb sehr aufnahmefähigen weiten Dachbegriff die unabgemildert fortbestehenden Gegensätze zu verschleiern und deshalb die Be-

848 Ähnliche Ansätze bereits Köhler, ZStW 107 (1995), 20, 22 („Justizpflicht“); Sternberg-Lieben, ZStW 108 (1996), S. 739; Rogall, SK-StPO vor § 48 Rn. 132. 849 Pawlik, GA 1998, S. 378; krit. auch L. Schulz, GA 2001, S. 239 Fn. 75. Pawlik versucht in einer mündlichen Stellungnahme, sich gegen einen (wohl) ähnlich gerichteten Einwand in Schutz zu nehmen, in: Starck, Diskussion, S. 97. 850 Pawlik, GA 1998, S. 380 f.; ders. Person, Subjekt, Bürger, S. 82: Verantwortung für die „Realbedingungen seiner eigenen Freiheit“; s. a. ders. Notstand, S. 112.

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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gründungslasten für die Bevorzugung des einen oder des anderen Gegensatzes erheblich abzumildern. Sei es die forensische Wahrheit, die zwischen der materiellen Wahrheit und den schützenden Formen vermitteln soll (s. o. III. 3. [S. 180 f.]), die positive Generalprävention, die die wichtigste Antinomie der Strafzwecke zwischen Prävention und Schuldangemessenheit überwinden soll (s. o. III. 2., 5. [S. 161, 194]), der Rechtsfrieden, der den Prozesszweck der Erreichung einer der Wahrheit und Gerechtigkeit gemäßen Entscheidung mit dem falschen, aber unveränderbaren rechtskräftigen Urteil oder sogar mit den Rechten des Beschuldigten versöhnen soll (s. o. III. 4., 5. [S. 188, 196 f.]), die richtig verstandene Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege, die nur unter Beachtung der Beschuldigtenrechte echte Effizienz verkörpern soll (s. o. 1. [S. 228 f.]), oder zuletzt der Bürger im Sinne Pawliks – immer bleiben die Spannungen mehr als nur latent vorhanden. (2) Ein weiteres Problem hat mit dem Verhältnis zwischen Rechten und Pflichten beim Begriff des Bürgers zu tun. Der Begriff des Bürgers wird an erster Stelle nicht durch Rechte, sondern durch Pflichten konstituiert. Der primäre Begriff ist nach dem Konzept von Pawlik der von Handlungskompetenzen, der Zuständigkeit bzw. der Pflicht;851 die Rechte, die einem zustehen, sind demgegenüber logisch sekundär. Die freien Räume, die einem eröffnet werden, werden deshalb eröffnet, damit man Verantwortung für sie übernehmen kann. Dies ist nicht bloß ein theoretisches Problem mit wichtigen politisch-philosophischen Implikationen,852 sondern hat die höchst praktische Konsequenz, dass Rechtfertigungslasten in bedenklicher Weise umgekehrt werden. Wo die herkömmliche, erzliberale Auffassung jeder auferlegten Pflicht zunächst Misstrauen entgegenbringt und nach dem Schema von Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung denkt, liegt für die solidaristische Perspektive von Pawlik das Problem nicht bei der Begründung von Pflichten, sondern von Rechten, die allesamt unter den Verdacht geraten, Privilegien zu sein. Grundrechtstheoretisch gesprochen: Der Ansatz von Pawlik deutet Rechtspositionen, die man herkömmlich als Abwehrrechte konzipiert, in ihrer Tiefenstruktur als Teilhaberechte, womit diese Positionen um Einiges geschwächt werden. Pawlik behandelt zwar in erster Linie den nemo teneturGrundsatz, der wie erwähnt als Ausnahme zur Mitwirkungspflicht des Beschuldigten an der Wahrheitsfindung verzeichnet wird. Man kann sich nur vorstellen, welche Konsequenzen ein solcher Ansatz, der dem Beschuldigten die prima facie Bürgerpflicht auferlegt, an seiner Überführung mitzuwirken, bei den delikaten 851

So eindeutig Pawlik, GA 1998, S. 380. Man könnte sich sogar fragen, ob ein derartiges Denken von der Pflicht her zum Liberalismus überhaupt passt, ob es nicht eher einem republikanischen oder kommunitaristischen Ansatz angemessen wäre. Von einer Stellungnahme wird aber abgesehen, denn ohne ausführliche Belege aus den verschiedenen Traditionen, die man mit diesem Namen verbindet, hängt die Rubrizierung weitgehend nur davon ab, wie man diese Begriffe definiert. 852

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1. Teil: Strafprozesstheorie

Fragen der missbräuchlichen und „verspäteten“ Beweisanträge,853 beim Verbot der sog. Rügeverkümmerung854 oder bei der früher politisch hoch brisanten Frage des Ausschlusses eines Verteidigers855 haben könnte.856 (3) Und somit kommt man zu dem Grund, weshalb dieser Ansatz für das gerade verfolgte Unternehmen unbefriedigend erscheinen muss. Denn unser Ausgangspunkt war die Feststellung, das Verfahren sei ein Übel für die Gesellschaft und für den Betroffenen, woraus die Frage entstand, ob und weshalb dieses Übel legitim sein könne (o. B. VII. [S. 133 f.]). Auf Grundlage der Prämissen der Theorie von Pawlik läge es nahe, die ausgemachten Dimensionen des Übels als „kreatürliches Interesse“ für unbeachtlich zu erklären und sogar das ganze Anliegen, das hier verfolgt wird, als wenig sinnvoll abzutun. Die Pflicht des Einzelnen, einen Prozess zu dulden, erscheint selbstverständlich; rechtfertigungsbedürftig wäre aus einer solchen Perspektive wohl eher die Befreiung von dieser Pflicht. VI. Dritte Rechtfertigungsstufe: Strafverfahren als Ausdruck des Respekts vor dem Beschuldigten 1. Einleitende Bemerkungen a) Die interessenbezogene Betrachtungsweise endet also in einem Dilemma – entweder zu instrumentalisieren oder zu paternalisieren. Die Berufung auf Interessen der Gesellschaft kann nur die allgemeine Bedrohung durch das Vorhandensein des Strafverfahrens als soziale Institution rechtfertigen, aber nicht die qualifizierte Verdächtigung eines Individuums. Die Berufung auf Interessen des Betroffenen kann nur die qualifizierte Verdächtigung des bereits bekannten, der Verfolgung auch zustimmenden Schuldigen legitimieren, ein eigentlich eher theoretischer Grenzfall. Gerade die Gretchenfrage bleibt aus einer interessenbezogenen Perspektive offen: die nach der Legitimation der Verdächtigung des Unschuldigen. Man wird also die interessenbezogene Perspektive überwinden und stattdessen die Sprache der Achtung oder des Respekts sprechen müssen.857 853 Über rechtsmissbräuchliche Beweisanträge aus der Rspr. BGHSt 38, 111; 40, 287, 289; BGH NJW 2005, 2466; hierzu umf. Kudlich, Mißbrauchsverbot, S. 47 ff., 178 ff.; ferner Herdegen, NStZ 2000, S. 1 ff. Zur Problematik des „verspäteten“, d.h. nach einer vom Vorsitzenden festgelegten Frist gestellten Beweisantrags, der nach der Rspr. (BGHSt 51, 333 [344]; 52, 355; bestätigt in BVerfG NJW 2010, 592) trotz des Normtexts des § 246 Abs. 1 StPO als Indiz der Prozessverschleppung gewertet werden darf, siehe etwa Witting, FS Volk, S. 885 ff. 854 BGHSt 51 (GrS), 299; bestätigt in BVerfGE 122, 248; umf. hierzu Schünemann, StV 2010, S. 538 ff. 855 Ausf. Müller, Rechtsstaat und Strafverfahren, S. 160 ff. 856 In der englischen und asiatischen Tagespolitik sind ähnliche Thesen vertreten worden, selbstverständlich um die Rechtsstellung des Beschuldigten einzuschränken, vgl. m.w. Nachw. Ashworth, Human Rights, S. 120 ff. (der von einer „,no rights without responsibilities‘ Thesis“ spricht).

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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b) Was Achtung oder Respekt konkret bedeutet, ist schwer zu sagen. Es lassen sich jedoch einige negative und positive Richtlinien formulieren. aa) Negativ leuchtet aus dem bereits Entwickelten ein, dass weder Vorteile für andere noch Vorteile für den Betroffenen, wie groß sie auch immer sein sollen, konstitutiv für Respekt sein können. Das eine wäre, wie gesagt, Instrumentalisierung, das andere Paternalisierung. bb) Die positive Umschreibung fällt dagegen äußerst schwer. An dieser Stelle lässt sich nicht viel mehr anführen als eine allgemeine Richtlinie und eine weitere Konkretisierung. Die allgemeine Richtlinie muss sein, dass es in dieser weiteren Stufe um die angemessene Berücksichtigung des Eigenwerts des Betroffenen als autonomes Subjekt geht. Ging es in der ersten Stufe um die anderen, in der zweiten um dasjenige, was Betroffene, sofern sie vernünftig-klug sind, wohl für sich wollen würden, soll man versuchen, dem Dilemma zwischen Instrumentalisierung und Paternalisierung dadurch zu entgehen, dass man den Betroffenen zu Wort kommen lässt und seine Belange ernst nimmt. Was dies genau bedeutet, lässt sich anhand einer weiteren Konkretisierung zeigen, die sich auf die Strafe bezieht. Generalpräventive Strafrechtfertigungen verbleiben in der ersten Stufe und instrumentalisieren, spezialpräventive Strafrechtfertigungen in der Zweiten, so dass sie paternalisieren. Erst durch die Anerkennung eines Schuldprinzips als zusätzliche Rechtfertigungsvoraussetzung der Strafe wird den Anforderungen genügt, den Eigenwert des Betroffenen als autonomes Rechtssubjekt zu respektieren. Dadurch, dass der Bestrafte Schuld auf sich geladen hat, trifft ihn die Strafe nicht als Schicksalsschlag oder Willkürakt, sondern als etwas, das er in einem weiten Sinne „gewollt“ hat: Durch die schuldhafte Begehung der Straftat hat der Straftäter seine Strafe auf sich gezogen.858 Die Schwierigkeit der Rechtfertigung des Strafverfahrens besteht gerade darin, dass man nicht einmal in einem sehr weiten Sinne von einem solchen „Wollen“ oder „Aufsichziehen“ durch den Betroffenen sprechen kann. Dies macht das Unternehmen, das Verfahren zu rechtfertigen, nicht von vornherein aussichtlos, weil Verfahren, wie o. B. IV. (S. 124 f.), C. III. 2. (S. 162), IV. 2. (S. 201) wiederholt betont wurde und u. Teil 2 Kap. 3 C. (S. 640 ff.), insb. IV. 2. (S. 659) näher ausgeführt werden soll, keine Strafen sind; dennoch stehen sie bis zu dem Moment, in dem man dieses respektbezogene Zusatzelement bzw. dieses Schuldanalogon findet, unter dem Verdacht, den Eigenwert des Betroffenen nicht gebührend ernst zu nehmen.

857 Siehe die Entgegensetzung von „Liebe“ als „Maxime des Wohlwollens . . ., welche das Wohltun zur Folge hat“ und Achtung als „Maxime der Einschränkung unserer Selbstschätzung durch die Würde der Menschheit in eines anderen Person“ bei Kant, Metaphysik der Sitten, S. 449. 858 Siehe auch Greco, Lebendiges, S. 484 ff., in Weiterentwicklung des von Feuerbach formulierten Gedankens, nach dem der Verbrecher in seine eigene Bestrafung einwillige.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

c) Die vielen in der Literatur vorgeschlagenen Kandidaten einer solchen respektbezogenen Rechtfertigung des Strafverfahrens sollen in diesem Abschnitt dargestellt werden (u. 2.–5.), an dessen Ende die eigene Lösung präsentiert werden soll (u. 6. [S. 301 ff.]). 2. Strafverfahren als Verwirklichung von Gerechtigkeit a) Drei Verständnisse von Gerechtigkeit Der am nächsten liegende Kandidat für die Lösung dieser Aufgabe ist selbstverständlich der geborene Gegner aller Betrachtungsweisen, die auf Interessen und Vorteile basieren: die Gerechtigkeit. Die vor dem Siegeszug der Rechtsfriedenslehre und der Abwägungsansätze (zu ihnen o. III. 4. [S. 187 ff.], V. 1. [S. 217 ff.]) herrschende, heute noch vielfach vertretene Auffassung erblickt den Sinn des Strafverfahrens in der Verwirklichung von Gerechtigkeit.859 Diese traditionsreiche Ansicht findet sich bereits bei Feuerbach. Dieser bestimmte als Zweck der „Criminalgerichtsbarkeit . . . volle Gerechtigkeit und, weil der gerechte Wille die Erkenntniß des Gerechten voraussetzt, Wahrheit“.860 Zwar wird häufig – nicht nur von Feuerbach, sondern im letzten Jahrhundert am prominentesten 859 Zusätzlich zu den in Fn. 861, 866, 867, 868 und 876 Genannten noch: im 19. Jahrhundert Abegg, ZdStV 1 (1841), S. 298; ders. Beiträge zur Strafprocess-Gesetzgebung, S. 8, 15; ders. Entwurf, S. 215; Köstlin, Wendepunkt, S. 18: „Der Strafprozeß hat die Aufgabe, die Tilgung des Verbrechens zu vermitteln“; Geyer, Lehrbuch, S. 3; in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Hegler, Zur Strafprozeßerneuerung, S. 9 f.; Gallas, ZStW 58 (1939), S. 627; Exner, Strafverfahrensrecht, S. 8: „Das letzte Ziel des Strafverfahrens ist ein gerechtes Urteil“; in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts Peters, Individualgerechtigkeit, S. 191; ders. Strafprozeß, S. 80; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 17 („Strafverfahren ist also das rechtlich geregelte Verfahren zur Verwirklichung des materiellen Strafrechts durch Ermittlung und Aburteilung des Verhaltens des einer strafbaren Handlung Beschuldigten“), 84; Müller-Dietz, Z.ev. Ethik 15 (1971), S. 2644; Gössel, GA 1980, S. 331 f.; ders. ZStW 94 (1982), S. 19; Tiedemann, FS Peters II, S. 140, 145; Deml, Wiederaufnahme, S. 40; Neumann, ZStW 101 (1989), S. 52; Schünemann, 58. DJT, S. B 61; Sternberg-Lieben, ZStW 108 (1996), S. 726; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 19 (teilw. and. Radtke, FS Schreiber, S. 375, wo auch der Rechtsfrieden benannt wird); Rzepka, Fairness, S. 304. Ähnlich Hegler, GS 93 (1926), S. 447 („Rechtsbewährung“); Sax, ZZP 67 (1954), S. 43, der mit seiner Bestimmung („Prozeßziel ist daher die Verwirklichung des möglichen materiellen Rechts im Rahmen eines für konkrete Konfliktsfälle dieser Art abstrakt möglichen Verfahrens“) auch das unrichtige Sachurteil miterfassen will; Paulus, FS Spendel, S. 703 f.: „Gewährleistung sozialer Ordnung durch Rechtsgüterschutz im Wege prozeßförmiger Konkretisierung der (hypothetisch-)imperativen Normen materiellen Strafrechts“; Koriath, Beweisverbote, S. 59: („Der Zweck von Strafverfahren liegt darin, den Beschuldigten oder Angeklagten genau dann schuldig zu sprechen, wenn er die Tat, derer er beschuldigt wird, begangen hat“); Murmann, GA 2004, S. 74: „Zweck des Strafverfahrens ist die Wiederherstellung des Rechts unter den Bedingungen der Unsicherheit“; und w. Nachw. b. Weigend, Deliktsopfer, S. 191 Fn. 62 u. Paulus, FS Würzburger Juristenfakultät, S. 689 Fn. 40. Für den Zivilprozess Gaul, AcP 1968, S. 32. 860 Feuerbach, Geschwornen-Gericht, S. 111.

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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von Eberhard Schmidt, dem wohl einflussreichsten Strafprozessrechtler seit der Gründung der Bundesrepublik – nicht allein von Gerechtigkeit, sondern von Wahrheit und Gerechtigkeit gesprochen.861 Damit sind aber keine inhaltlichen Unterschiede verbunden: Wahrheit und Gerechtigkeit stehen nicht als gleichberechtigte Zwecke nebeneinander, sondern vielmehr wird die Wahrheit als Zwischenzweck, als notwendiges Mittel zur Verwirklichung der Gerechtigkeit angesehen.862 Die inhaltlichen Unterschiede befinden sich an einer anderen Stelle, nämlich am jeweiligen Verständnis vom Begriff der Gerechtigkeit.863 Dieser wird im vorliegenden Zusammenhang in unterschiedlicher Bedeutung verwendet: entweder als Bezugnahme auf die Vergeltungstheorie (u. b)), oder als richtige Anwendung des materiellen Rechts (u. c) [S. 239 ff.]), oder als eigenständige Verfahrensgerechtigkeit (u. d) [S. 243 ff.]).

861 Eb. Schmidt, ZStW 61 (1942), S. 432; ders. FS Kohlrausch, S. 276, 287, 289; ders. MDR 1948, S. 379; ders. Lehrkommentar Bd. I Rn. 20, 23, 329; ders. MDR 1967, S. 877; ders. JZ 1968, S. 683; ebenso Leue, Anklage-Prozeß, S. VI; Wach, FS Binding, S. 4, 14; Goldschmidt, Problemas jurídicos y políticos, S. 779; Henkel, DStR 1935, S. 418; ders. Strafverfahrensrecht, S. 84; Sauer, JR 1949, S. 500; Niese, Prozeßhandlungen, S. 11, 19; Jescheck, JZ 1970, S. 204; J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 37; Köhler, Inquisitionsprinzip, S. 41 (der auch vom Rechtsfrieden als Prozessziel spricht, S. 45 f., 77); Schaper, Verfahren, S. 158, 170; Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 39; Gössel, 60. DJT, C 24 ff.; Lüke, FS Müller-Dietz, S. 481; Wasserburg/Eschelbach, GA 2004, S. 339; der Sache nach auch Exner, ZStW 54 (1935), S. 2 („Wahrheit und Gesetzmäßigkeit“); Meurer, JR 1993, S. 94; ferner Geisler, ZStW 93 (1981), S. 1130, der noch von Rechtssicherheit spricht, letztlich doch Schmidhäusers Rechtsfriedenslehre zustimmt; wohl auch Hassemer, Prozeduralisierung, S. 11; aus der Rspr. etwa RGSt (GrS) 68, 257 (259); aus zivilprozessrechtlicher Perspektive Gaul, AcP 1968, S. 53; Henke, GS Eckert, S. 309, 321. 862 Siehe bereits die gerade zitierte Feuerbach-Passage; auch Leue, Anklage-Prozeß, S. 19; Eb. Schmidt, Lehrkommentar I Rn. 329: Ziel des Strafprozesses sei die „Gewinnung eines auf Wahrheit beruhenden gerechten Urteils“; Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 193, 195 (Wahrheit als „Zwischenziel“); Gallas, ZStW 58 (1939), S. 627; MüllerDietz, Z.ev. Ethik 15 (1971), S. 260 f., 264: „Gerechtigkeit durch Wahrheit“; ders. ZStW 93 (1981), S. 1204; Weigend, Deliktsopfer, S. 179; ders. HJLPP 26 (2003), S. 169; Neumann, ZStW 101 (1989), S. 52; ders. Funktionale Wahrheit, S. 74 Fn. 2; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 40; ders. Konzeptionen, S. 132; Sternberg-Lieben, ZStW 108 (1996), S. 726 Fn. 31; Gössel, Ermittlung, S. 18; ders. FS Meyer-Goßner, S. 200; Stamp, Wahrheit, S. 21; Krack, Rehabilitierung, S. 41; ders. NStZ 2002, S. 122; Weßlau, Konsensprinzip, S. 20 („geklärt“); Kühne, LR-StPO Einl H Rn. 24; Eser, FS Tiedemann, S. 1464; Hauer, Geständnis, S. 215; Hassemer, FS Volk, S. 215; Conde Correia, Caso julgado, S. 146 f.; Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 62; Barros, Busca da verdade S. 28; Malek, StV 2011, S. 559. Wohl auch Vogler, Rechtskraft, S. 63 und Schaper, Verfahren, S. 156 ff. Bereits das Reichsgericht behauptete: „Das Strafverfahren dient der Rechtsfindung. Diesen Zweck kann es nur erreichen, wenn es auf der Wahrheit aufgebaut ist“ (RGSt 72, 155 [156 f.]); zust. Spendel, JuS 1964, S. 466. Aus der Rspr. noch BVerfGE 63, 45 (61); BVerfG NStZ 1987, 419. And. soweit ersichtlich nur Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 18 f.: wechselseitige Abhängigkeit. 863 Vgl. auch Schaper, Verfahren, S. 141.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

b) Strafverfahren als Verwirklichung der Vergeltung – zugleich Straftheorien (III) aa) Zunächst kann man unter Gerechtigkeit einen Hinweis auf eine bestimmte Straftheorie verstehen, nämlich auf die Vergeltungstheorie.864 Demnach betrachtet man das Strafverfahren als Mittel der Durchsetzung von Gerechtigkeit, in dem Sinne, dass das Verfahren die Verhängung einer Strafe ermöglicht, die ihrerseits deshalb legitim ist, weil die Gerechtigkeit es gebietet, dass Schuld vergolten werde.865 Im 19. Jahrhundert schrieb der Hegelianer Abegg: „Die Gerechtigkeit, der Grund und Zweck der Strafe, ist das leitenden Princip für das strafrechtliche Verfahren . . .“,866 und für v. Ortloff sei der Strafrichter zur „Erreichung und Verwirklichung der absoluten Gerechtigkeit“ verpflichtet.867 Heutzutage behauptet Schild: „Jedes Strafverfahren dient der Vergeltung (in dem Sinne, wie die absoluten Straftheorien diesen Begriff stets verstanden haben)“.868, 869 Vor allem im angelsächsischen Raum, in dem Vergeltungstheorien keine schlechte Presse haben, sind derartige Konzepte des Strafverfahrens auch keine Seltenheit.870 bb) Gegen die Bezugnahme auf die Vergeltungstheorie sind mutatis mutandis die Einwände einschlägig, die o. III. 2. (S. 162) und IV. 2. (S. 201 f.) bereits bei der kritischen Auseinandersetzung mit den Versuchen, das Strafverfahren general- oder spezialpräventiv zu deuten, geltend gemacht wurden. Erstens kann man etwas, das keine Strafe ist, nur schwer mit einem Argument rechtfertigen, das auf die Rechtfertigung von Strafen gemünzt ist. Zweitens werden die spezifischen straftheoretischen Einwände, die gegen die Vergeltungstheorie geltend gemacht werden, relevant. Der Versuch, staatlichen Zwang gegen einen Bürger allein deshalb zu legitimieren, weil dies der Gerechtigkeit entspreche, also ohne 864 Darauf verweisen Achenbach, ZRP 1977, S. 90; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 44 f. 865 Für eine Definition der Vergeltungstheorie als diejenige, die Strafe als Gebot der Gerechtigkeit versteht, Greco, Lebendiges, S. 458 (m. Nachw. zu anderslautenden Definitionen). 866 Abegg, Beiträge zur Strafprocess-Gesetzgebung, S. 202. Abeggs Begriff der Gerechtigkeit ist aber ein komplexer, gegensatzaufhebender, der auch Komponenten präventiver Theorien, vor allem der Besserungstheorie, miterfasst – s. insb. seine Rechtfertigung der Bedeutung, die das Inquisitionsverfahren dem Geständnis zuerkannte, S. 184 f. 867 v. Ortloff, GS 23 (1871), S. 187. 868 Schild, ZStW 94 (1982), S. 37. Schilds Verständnis der Vergeltung als Klar- und Wiederherstellung der Geltung der Rechtsordnung (ebda.) steht der positiven Generalprävention zumindest besonders nahe (s. a. ders. S. 41 f.). 869 V. w. N. bei Grünewald, ZStW 120 (2008), S. 551 ff. 870 Roberts, Criminal Adjudication, S. 52: „The overriding objective of criminal process . . . is . . . to serve retributive justice“. Die von ihm vorgeschlagene Gesamttheorie ist aber wesentlich komplexer, da sie drei Ebenen, die der Subjekte, der Objekte und sonstiger Werte im Strafverfahren unterscheidet (S. 40 ff.). Die Vergeltungstheorie spielt auf der zweiten Ebene eine Rolle.

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dass für irgendjemanden ein Nutzen entstünde, führt in mehreren Hinsichten zu Schwierigkeiten.871 Drittens ist auch der Einwand der mangelnden Spezifizität am Platze: Jede Prozesstheorie, die die Strafe zu ihrem Angelpunkt erklärt, unterlässt es, den spezifischen Beitrag des Verfahrens zur Erreichung dieses Zwecks näher zu beschreiben. Es verwundert deshalb nicht, dass viele Vertreter dieses Ansatzes neben der Gerechtigkeit auch die materielle Wahrheit ansprechen.872 Erst durch diese Ergänzung kommt die spezifisch prozessuale Dimension in das Blickfeld. Gerade die Vertreter der materiellen Wahrheit müssen sich aber vehement gegen den Versuch wehren, dass Wahrheit mit einer im Sinne von Vergeltung verstandenen Gerechtigkeit verknüpft wird.873 Denn dieser Versuch lädt zu dem Einwand ein, die materielle Wahrheit sei eine Folgeerscheinung des Vergeltungsstrafrechts,874 so dass dem vielfach begrüßten „Abschied von Kant und Hegel“ 875 gleichzeitig ein Abschied von der materiellen Wahrheit entsprechen würde. Die materielle Wahrheit beruht indes, wie o. III. 3. (S. 181 ff.) gezeigt, nicht auf der Vergeltungstheorie, sondern auf der (negativen) Generalprävention und dem Schuldprinzip. c) Strafverfahren als Verwirklichung des materiellen Strafrechts aa) Es ist aber auch möglich, den Begriff der Gerechtigkeit ohne Bezugnahme auf die straftheoretische Diskussion zu gebrauchen. Nach dieser heute wohl überwiegenden Deutung wird Gerechtigkeit eher formal als richtige Anwendung des materiellen Strafrechts verstanden.876 Ziel des Strafverfahrens ist nach diesem Verständnis, dass der Schuldige bestraft, der Unschuldige geschont werde.877 An871 Das komplizierte Argument lässt sich hier nicht zusammenfassen; ich verweise auf Greco, Lebendiges, S. 131 ff., 474; und auf meine weitere Verfeinerung des Arguments in FS Tavares, S. 263 ff. 872 Oben Fn. 861. 873 Dafür aber Köhler, Inquisitionsprinzip, S. 41 f. 874 Bereits o. Fn. 641. 875 Klug, Abschied, S. 36 ff. 876 Leue, Anklage-Prozeß, S. 6 f.; Kohler, GA 1918, S. 309; Kohlrausch, DJZ 1920, Sp. 138; Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 25 f.; v. Hippel, Strafprozess, S. 3; Exner, Strafverfahrensrecht, S. 1; Niese, Prozeßhandlungen, S. 31, 39 f.; Sax, ZZP 67 (1954), S. 27; Eb. Schmidt, Lehrkommentar I Rn. 24 f.; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 17, 84; Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, S. 11; Deml, Wiederaufnahme, S. 40; Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), S. 1204 f.; Schaper, Verfahren, S. 143; Neumann, ZStW 101 (1989), S. 52; ders. Rechtstheorie 27 (1996), S. 423; Kröpil, JZ 1998, S. 136; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 40; ders. FS Schreiber, S. 375; ders. Konzeptionen, S. 132. Aus zivilprozessrechtlicher Sicht Gaul, AcP 1968, S. 53; ähnl. Baur, Richtermacht, S. 103 f. 877 Eine solche Wendung bei: Feuerbach, Geschwornen-Gericht, S. 116; Carrara, Del giudizio criminale, § 791 (S. 64); Kohlrausch, DJZ 1920, Sp. 413; Scanzoni, JW 1925, S. 1642; Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 27; Eb. Schmidt, FS Kohlrausch, S. 263; G. Williams, The Proof of Guilt, S. 1; Rothwax, Guilty, S. 32, 181; Pizzi, Trials without Truth, S. 24.

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ders als das Zivilrecht wendet sich das materielle Strafrecht nicht von selbst an, sondern ist auf ein gerichtliches Verfahren angewiesen.878 Deshalb muss es ein Strafverfahren geben, das eben eine dienende, instrumentelle Rolle spielt.879 bb) Es gibt viel Richtiges in diesem Ansatz. Insbesondere erweist er sich hinsichtlich einer der noch offenen Fragen wenigstens teilweise als weiterführend: die Rechtfertigung des Verfahrens gegenüber dem Individuum. Es sieht so aus, als würde die Schuld nicht erst die Strafe, sondern auch ein Verfahren dem einzelnen gegenüber legitimieren. Aus der Tatsache, dass das Verfahren keine Strafe ist, sondern etwas anderes (s. o. B. IV. [S. 124 f.]; Teil 2 Kap. 3 C. [S. 640 ff.], insb. IV. 2. [S. 659]), folgt, dass die Rechtfertigungsbedingungen für das Strafverfahren nicht dieselben sein werden wie die Rechtfertigungsbedingungen einer Strafe. Wenn jemand aber, der etwa gemordet hat, sich darüber beschwert, dass er zu einer Gerichtsverhandlung geladen worden ist und dass er dies für eine Zumutung hält, wird er kein Gehör finden. Vielmehr lässt sich kaum bestreiten, dass man diese Beschwerden als völlig deplatziert versteht. Er hätte nicht morden müssen, wenn er das Verfahren nicht gewollt hätte. Diese Intuition ist viel zu stark, um als Verblendung abgetan werden zu können. Auch das Gesetz enthält Vorschriften, die nur als implizite Anerkennung einer Verfahrenserduldungsschuld verstanden werden können. Der Verurteilte wird für Strafverfolgungsmaßnahmen grundsätzlich nicht entschädigt (§ 2 StrEG). Eher sollte die Theorie gefunden werden, die dem angemessen Rechnung trägt, und das ist die Theorie des Strafverfahrens als Verwirklichung des materiellen Strafrechts. Schuld schuldet nicht nur Strafe, sondern auch Verfahren. Man könnte diese Dimension der Schuld als Verfahrenserduldungsschuld bezeichnen, in Abgrenzung von der traditionellen Straferduldungsschuld. Man wird dem wohl vorhalten, ein solcher Standpunkt führe zu einer Reihe von Schwierigkeiten. Dem ist zuzustimmen; und genau darum, um die Grenzen eines solchen Ansatzes, soll es sogleich (u. cc)) und auch später (u. 6. e) [S. 315 ff.]) gehen. cc) Denn es liegt auf der Hand, dass ein solcher Zweck, der vor Verfahrensende, insbesondere vor der Schuldfeststellung offen von Schuld spricht, das Strafverfahren nicht vollumfänglich rechtfertigen kann.880 878 Wenn auch nicht aus begriffsnotwendigen, sondern aus Gründen, die wir gerade dabei sind, zu klären, s. o. Fn. 376. 879 Wach, FS Binding, S. 4; Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 5, 26; Niese, Prozeßhandlungen, S. 46, Fn. 25; Leone, Trattato I, S. 3 ff.; Käßer, Wahrheitserforschung, S. 3; Hagen, Elemente, S. 120; F. Baur, Richtermacht, S. 105; Roberts, Criminal Adjudication, S. 53 (mit erheblichen Relativierungen, S. 53 ff.); Radtke, Konzeptionen, S. 133 f., wenn auch mit Einschränkungen; Armenta Deu, Principio acusatorio II, S. 122.

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(1) Der Einwand, der soeben gegen das auf der Vergeltungstheorie beruhende Verfahrenskonzept geltend gemacht wurde, nämlich die mangelnde Spezifizität, ist jetzt sogar in einer erweiterten Weise einschlägig. Denn nicht nur ist die richtige Anwendung des materiellen Rechts an sich prozessual blind, in dem Sinne, dass sie sich unabhängig vom Prozess denken und praktizieren lässt. Auch in einer Strafrechtsklausur oder -hausarbeit geht es um die richtige Anwendung des materiellen Strafrechts. Wichtiger ist noch, dass die Ansicht eine völlige Unterordnung des Prozessrechts gegenüber dem materiellen Recht suggeriert.881 Sie neigt dazu, das Verfahren zu entwerten, als ginge es allein um die Frage, ob der Betroffene schuldig ist oder nicht, als dürfte man dem Schuldigen, der bereits die Straferduldung schuldet, auch alles Erdenkbare im Prozess zumuten, solange im Ergebnis das Richtige, also die schuldentsprechende Verurteilung herauskommt. Diese Zusammenhänge lassen sich am deutlichsten erkennen, wenn gerade die korrekte Durchführung des Prozesses zu einem materiellrechtlich verfehlten Urteil führt oder ein solches perpetuiert. Anhand eines klassischen, immer wieder in der Diskussion vorgebrachten Beispiels: Auch materiellrechtlich unrichtige Entscheidungen können in Rechtskraft erwachsen;882 oder – mit einem moderne880 Ein weiterer Einwand, dessen Richtigkeit mir etwas zweifelhaft erscheint, ist der, dass diese Zweckbestimmung darüber hinaus blind dafür ist, dass ein Strafverfahren mit der Verhängung von Strafen zu tun hat. Auch der Zivil- oder der Verwaltungsprozess verfolgen den Zweck der Anwendung des materiellen Rechts. Die angegebene Zielbestimmung falle zusammen mit dem „der Rechtsordnung insgesamt immanenten Ziel der gerechten, ,richtigen‘ Regelung der Gemeinschaftsbeziehungen“ (Sax, ZZP 67 [1954], S. 27). 881 Krit. zur dienenden Rolle des Prozessrechts Noftz, Prozeßgegenstand, S. 42 f.; Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 186 ff., 193; ders. ZStW 97 (1985), S. 906 ff.; Rieß, FS Schäfer, S. 168 f. (mäßigend aber S. 171); Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 15 f.; Schaper, Verfahren, S. 155; Krauß, Prozeßdogmatik, S. 3 ff.; Neumann, ZStW 101 (1989), S. 54 ff., 58; Stamp, Wahrheit, S. 258 ff.; Hassemer, KritV 1990, S. 262; ders. FS StA Schleswig-Holstein, S. 534; Trechsel, SchwZStR 2000, S. 5 f., 11 f.; Paulus, FS Würzburger Juristenfakultät, S. 691 f.; Wohlers, FS Trechsel, S. 823; Krack, Rehabilitierung, S. 32; Murmann, GA 2004, S. 66 ff.; Salas, Kritik, S. 36; Rieß, JR 2006, S. 270; Jahn, 67. DJT, S. C 45; ders. FS Kirchhof, S. 1402; Conde Correia, Caso julgado, S. 149 f.; s. a. Rudolphi, MDR 1970, S. 96. Siehe bereits die Vertreter des begriffskonstruktivistischen Ansatzes, o. II. 1. (S. 135 ff.) und aus zivilprozessualer Sicht Gilles, FS Schiedermair, S. 192. Sternberg-Lieben, ZStW 108 (1996), S. 727 f., der den jetzt besprochenen Ansatz vertritt, ergänzt ihn durch „eigenständige Sekundärzwecke“ wie Rechtssicherheit und Persönlichkeitsschutz, so dass er die Vorstellung eines bloß dienenden Prozesses ebenfalls ablehnt. 882 Dieses Argument taucht auf bei Sax, ZZP 67 (1954), S. 28 f.; Luhmann, Legitimation, S. 17; E. Schumann, FS Bötticher, S. 318; Neumann, ZStW 101 (1989), S. 56: „Einen Triumph über das materielle Recht feiert das Prozeßrecht schließlich im Institut der Rechtskraft“; Krack, Rehabilitierung, S. 32 Fn. 53. Vgl. auch Grünewald, ZStW 120 (2008), S. 549 ff., mit Belegen für die Rechtskraftfeindlichkeit von Theorien, die das Strafverfahren auf die Verwirklichung von Gerechtigkeit ausrichten, und e contrario die Passagen bei Preiser, ZStW 58 (1939), S. 753 f., der von dem „Grundsatz“ spricht, „daß das Verfahrensrecht der Verwirklichung des materiellen Rechts zu dienen habe“, woraus er ableitet: „gegenüber der Aufgabe der Verwirklichung materiellen Rechts muß

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ren Beispiel – prozessuale Beweisverbote können eine solche Umsetzung des materiellrechtlichen Programms häufig verhindern. Aus der Perspektive des gerade untersuchten Ansatzes hat man es in all diesen Fällen hingegen mit Anomalien zu tun, also mit Fällen, in denen das Verfahren seinen Sinn verfehlt hat.883 Pointiert: Eine Verabsolutierung dieses Ansatzes bedeutet, dass jedes Verfahren, das nicht zur Verurteilung des Schuldigen führt, als gescheitert gilt, und idealiter wiederholt werden sollte, was Folgen für das Verständnis der Rechtskraft (u. Teil 2 Kap. 1 IV. [S. 362 ff.]), des Tatbegriffs (u. Teil 2 Kap. 2 B. IV. 5. [S. 416 ff.]) und der Wiederaufnahme zuungunsten haben wird (u. Teil 2 Kap. 6 D. I. 1., V. 2. [S. 957 f., 979 ff.]). Damit wird klar, dass auch dann, wenn die Schuld ein Strafverfahren schuldet, die volle Rechtfertigung des Strafverfahrens mit einem bloßen Hinweis auf die Schuld des Verfolgten nicht ausreichend dargelegt ist. Und dies aus zwei Gründen, einem vordergründigeren und einem tieferen. Der vordergründige Gesichtspunkt ist, dass man vor dem Verfahren selten wissen kann, ob der Betroffene tatsächlich schuldig ist. Der Alltag der Strafrechtspflege hat nicht mit lauter Dachauer Schützen zu tun. Derjenige, der allgemeine Regeln zu formulieren hat, ist deshalb gut beraten, geduldig zu sein und das Ende des Verfahrens abzuwarten, bis er gestattet, dass man sich auf die Schuld des Betroffenen beruft, um diesem etwas zuzumuten. Wohlgemerkt: Der vordergründige Gesichtspunkt führt nicht zu originären Rechten des Schuldigen, sondern zu bloß reflexiven Rechten. Durch ein derart begründetes Recht möchte man vorbeugen, dass ein Unschuldiger wie ein Schuldiger behandelt wird. Man denke insbesondere an das Schweigerecht des Beschuldigten und an das Verbot, hieraus belastende Schlüsse zu ziehen. Die überzeugendste und wohl auch historisch wirkmächtigste Begründung dieser Rechtsposition ist, dass eine Aussagepflicht des Beschuldigten gerade den Unschuldigen gefährdet.884 Der Schuldige ist hier der glückliche Trittbrettfahrer, der in den Genuss der Vorteile gerät, die daraus entstehen, dass das Strafverfahren den Unschuldigen schonen möchte.885 auch das Bestreben, den Angeklagten vor einem neuen Strafverfahren zu bewahren, zurücktreten“. Auch die Kritik an dem Einwand bestätigt ihn: die Rechtskraft der unrichtigen Entscheidung sei „notbehelfsmäßige Preisgabe des Prozeßziels“ (Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 268 Fn. 4). 883 So ausdrücklich Schanze, ZStW 4 (1884), S. 455. 884 Überwiegend führt man das Schweigerecht auf den nemo tenetur-Grundsatz und diesen seinerseits auf die Menschenwürde zurück (Park, StV 2001, S. 589; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 899; BVerfGE 56, 37 [41 f.]). Der nemo tenetur-Grundsatz, der durchaus begründet ist – s. u. d) cc) (S. 257) – verbietet aber die Erzwingung von Selbstbelastung; Schweigen muss nicht notwendig Selbstbelastendes zum Inhalt haben. Das Schweigerecht lässt sich als Recht zur Blockierung von Kommunikation nicht in den u. d) cc) (S. 252 ff.) gebotenen verfahrensgerechtigkeitstheoretischen Rahmen einordnen, was auch die vorgeschlagene Einordnung bestätigt. 885 Sehr ähnlich Gemma, RitDPP 1983, S. 59 f. I. S. eines Ansatzes, nach dem der Schuldige (als solcher) keine Rechte hat, in der Tat Amar, u. S. 258 f.

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Der tiefere Gesichtspunkt erschließt sich erst, wenn wir tatsächlich an den Grenzfall des Dachauer Schützen denken. Denn wäre der Schutz der Unschuld alleiniger Grund, weshalb man auch in diesem Fall dem Beschuldigten prozessuale Rechte gewähren sollte, dann geräte seine Stellung unter viel zu großen Druck. Ein erkannter Trittbrettfahrer hat etwas Unerträgliches. Wenn wir ihm trotzdem bestimmte felsenfeste Rechte anerkennen, dann spricht einiges dafür, dass wir ihm eine von der materiellrechtlichen Sachlage zum großen Teil unabhängige Rechtsposition einräumen, und dass die letzte Grundlage seiner Rechtsposition nicht ein bloßer Reflex des Schutzes der Unschuld ist, sondern eine hiervon unabhängige Größe. M. a.W.: Es muss so etwas geben wie eine spezifisch prozessuale Gerechtigkeit, eine Verfahrensgerechtigkeit; um die wird es u. d) gehen. (2) Ferner ist die damit verwandte einseitige Orientierung am Sachurteil zu monieren. Ziel des Verfahrens sei nach einem solchen Verständnis eine Entscheidung, die das materielle Recht auch anwendet, d.h. „ein auf Wahrheit und Gerechtigkeit beruhendes Sachurteil“.886 Prozessurteile, also Einstellungen, die nicht einmal zur Anwendung des materiellen Strafrechts kommen, werden von diesem Konzept auch als gescheiterte Verfahren beschrieben,887 sie werden als Kümmerform des Urteils angesehen, die deshalb auch nicht an seiner Dignität, insbesondere nicht an seiner Rechtskraftwirkung teilhaben können. Gerade dieses Problem soll uns u. Teil 2 Kap. 4 C. II. 2. (S. 715 ff.) ausführlicher beschäftigen, weshalb hier diese kurze Andeutung reichen muss. d) Strafverfahren als Verwirklichung von Verfahrensgerechtigkeit In jüngerer Zeit erfreut sich eine dritte Deutung von Gerechtigkeit zunehmender Beliebtheit. Nach dieser Deutung wird Gerechtigkeit ebenfalls formal begriffen, nun aber ohne Bezug auf die materielle Rechtslage, sondern durch und durch prozessual: Es gebe demnach eine spezifische Verfahrensgerechtigkeit.888 886 Eb. Schmidt, JZ 1968, S. 684. Vgl. auch ders. Lehrkommentar I, Rn. 33: „Alle diese Handlungen haben ein gemeinsames Ziel: richterliche Sachentscheidung“, Rn. 42; Niese, Prozeßhandlungen, S. 31: „Dem Prozeß fällt in der staatlichen Rechtsordnung die Aufgabe zu, das materielle Recht zu verwirklichen. Das Instrument der Rechtsverwirklichung ist das Sachurteil“; S. 39: „. . . den Schwerpunkt des Prozesses (bildet) das Sachurteil . . ., zu dem alle Handlungen der Prozeßbeteiligten in Beziehung stehen . . . Durch diese Bezogenheit aufs Urteil gewinnen alle prozessualen Entscheidungen ihren Sinn . . .“; S. 57: „Der Prozeß ist ein Werden, das im Sein des Urteils beharren will“. Ebenso Gössel, Strafverfahrensrecht, S. 130; davor schon Leue, Anklage-Prozeß, S. 16. Krit. Tiedemann, FS Eser, S. 899; Wagner, GS Eckert, S. 939. 887 Vgl. Niese, Prozeßhandlungen, S. 41, der dem Prozessurteil eine „negative materielle Funktion“ zuschreibt, in dem Sinne, dass „eine Verwirklichung des materiellen Rechts durch das Mittel der ordentlichen Gerichtsbarkeit ausgeschlossen wird“; vergleichbare Kritik, wenn auch aus zivilprozessrechtlicher Perspektive, in Gilles, FS Schiedermair, S. 192. 888 In diesen Zusammenhang gehören auch zahlreiche Studien, die prozessuale Regeln anhand spieltheoretischer Überlegungen zu rekonstruieren versuchen, etwa zum

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Es ist aber fraglich, was mit diesem Begriff genau gemeint ist. Hier sollen darunter alle Theorien zusammengefasst werden, die von einem weitgehend intrinsischen Wert des Verfahrens ausgehen, in dem Sinne, dass sie das Verfahren nicht bloß instrumentell, d.h. als Mittel zur Erreichung eines materiellrechtlich richtigen Ergebnisses, sondern wenigstens zum Teil als Selbstzweck verstehen. Für eine Lehre von der Verfahrensgerechtigkeit ist die Ablehnung der dienenden Rolle (s. o. c) [S. 240]; krit. bereits o. III. 2. [S. 167]) des Verfahrens konstitutiv. Die verfahrensorientierten Theorien, die sich auf einer allgemeinen normativ-ethischen oder politisch-philosophischen Ebene bewegen, wie etwa die Gerechtigkeitstheorie von Rawls, sind im jetzigen Zusammenhang nicht von Interesse.889 Aus unserer Perspektive, die sich um Verständnis und Rechtfertigung des Strafverfahrens bemüht, lassen sich – in sehr grober Form – drei Ansätze unterscheiden, deren Berücksichtigung von einigem Gewinn sein könnte. Zunächst kann der intrinsische Wert des Strafverfahrens psychologisch oder soziologisch, d.h. als eine empirisch relevante Größe erfasst werden (u. aa)); man kann prozedurale Gerechtigkeit auch am Modell eines regelgeleiteten Spiels oder Wettkampfs konzipieren (u. bb) [S. 246 ff.]); und zuletzt ist es möglich, den Begriff dazu zu gebrauchen, schlicht die prozessualen Regeln zu bezeichnen, die nicht einer konsequentialistischen Begründung zugänglich sind (u. cc) [S. 251 ff.]). aa) Empirische Verfahrensgerechtigkeit: Procedural Justice Der erste Ansatz ist empirisch orientiert. Eine Vielzahl von psychologisch oder soziologisch orientierten Untersuchungen scheint zu belegen, dass die Menschen hohen Wert auf die Einhaltung von Verfahren legen, und dass sie diesen Wert als einen intrinsischen und nicht bloß instrumentellen begreifen.890 „Den Menschen sei es wichtiger, wie sie behandelt würden, als was sie bekämen“.891 Deshalb Verfahren im Allgemeinen Bayles, Procedural Justice, S. 115 ff.; zum Beweisrecht Sanchirico, AmLEcR 3 (2001), S. 320 ff.; zum Schweigerecht Seidmann/A. Stein, HarvLR 114 (2000), S. 430 ff.; Seidmann, REcSt 72 (2005), S. 593 ff.; zum angelsächsischen akkusatorischen Verfahren Damaska, ZStW 90 (1978), S. 843. 889 Hierzu Art. Kaufmann, Prozedurale Theorien, S. 7 ff.; Tschentscher, Procedural Justice, S. 105 ff.; ders. Prozedurale Theorien, S. 118 ff., 132 ff., 309 ff.; D. Wassermann, Procedural Turn, S. 40 ff.; s. a. die Beiträge in May/Morrow (Hrsg.), Procedural justice; zur Prozeduralisierung in der Rechtstheorie Alexy, Prozedurale Theorie, S. 177 ff.; zur Prozeduralisierung im materiellen Strafrecht umf. Eicker, Prozeduralisierung, S. 163 ff. 890 Überblick bei Röhl, ZfRSoz 14 (1993), S. 1 ff. und Tyler, Justice Theory, S. 344 ff. Ausf. Thibaut/Walker, Procedural Justice, insb. S. 81 ff., 117 ff. und passim; dies. CalLRev 66 (1976), S. 541 ff.; Bierbrauer/Klinger, Akzeptanz, S. 349 ff.; Hoffmann, Verfahrensgerechtigkeit, S. 166 ff., 245 ff.; Lind/Tyler, Procedural Justice, S. 61 ff., 203 ff.; Tyler, Why People Obey the Law, S. 115 ff.; Machura, Fairneß und Legitimität, S. 77 ff., 253 ff. (am Beispiel der Schöffen); s. a. die Beiträge in Bierbrauer u. a. (Hrsg.), Verfahrensgerechtigkeit.

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werden die Menschen das Ergebnis eines Verfahrens umso leichter akzeptieren, je fairer sie sich vom Verfahren behandelt fühlen.892 Die empirischen Ansätze dürften zwar weitgehend plausible Annahmen verkörpern. Sie beschäftigen sich aber mit einer anderen Fragestellung als die vorliegende Untersuchung.893 Uns geht es um die Frage, unter welchen Bedingungen ein Strafverfahren gerechtfertigt ist, und nicht darum, unter welchen Bedingungen die Bereitschaft zur Anerkennung des Ergebnisses eines Strafverfahrens vorliegt. Die Anerkennungsbereitschaft dürfte gleichzeitig auf vielen weiteren Umständen beruhen, die vom Charisma der einzelnen Verfahrensbeteiligten bis zur Ritualistik gehen.894 Die Tatsache, dass Menschen bereit sind, Verfahren oder ihre Ergebnisse anzuerkennen, bedeutet noch lange nicht, dass diese gerechtfertigt sind.895 Eine rein empirische Deutung der Verfahrensgerechtigkeit steht deshalb unter der permanenten Gefahr, in eine Spielart des prozessualen Machiavellismus zu verfallen.896 bb) Strafverfahren als fairer, sportlicher Wettkampf (1) Der zweite Ansatz, der Verfahrensregeln einen Eigenwert zuschreibt, versteht das Strafverfahren als sportlichen Wettkampf zwischen gegnerischen Parteien.897 Diese Metapher taucht insbesondere bei Äußerungen zum angelsächsi891 Röhl, ZfRSoz 14 (1993), S. 9; ähnl. Vidmar, ZfRSoz 14 (1993), S. 35: „Tatsächlich ist ein faires Verfahren wichtiger als das Ergebnis“. 892 Vidmar, ZfRSoz 14 (1993), S. 45; Tyler, Justice Theory, S. 346. 893 Trotz ihrer unverkennbar normativen Züge, auf die Röhl, ZfRSoz 14 (1993), S. 25 f. hinweist. 894 Siehe auch Taruffo, Verità, S. 103; u. bereits o. C. I. 4. (S. 189 f.), anlässlich der Kritik an dem Prozessziel des Rechtsfriedens. 895 Ähnl. Taruffo, Verità, S. 106. 896 Dazu o. C. II. 3. (S. 155 f.). 897 S. Damaska, ZStW 90 (1978), S. 833; Koppen/Penrod, Adversarial or Inquisitorial, S. 2; Crombag, Adversarial or Inquisitorial, S. 22 ff.; Jörg/Field/Prants, Inquisitorial and Adversarial Systems, S. 51 f.; H. Jung, FS Lüke, S. 325 f.; Armenta Deu, Sistemas, S. 33, 44, 92 f.; s. a. v. Pestalozza, JW 1924, S. 286; Brennan, WULQ 3 (1963), S. 279 ff.; w. Nachw. bei Eb. Schmidt, MDR 1967, S. 878 Fn. 4a; Herrmann, ZStW 80 (1968), S. 778 f.; ders. Reform, S. 152 ff., der diese Einschätzung nicht teilt (ZStW 80 [1968], S. 780; Reform, S. 154). Krit. Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), 1209: „Zerrbild des Prozesses“); Erb, FS Rieß, S. 79. Zweifel bezüglich der empirischen Richtigkeit dieser gängigen Beschreibung des amerikanischen Verfahrens bei Herrmann (o. Fn. 888; zust. E. Müller, NJW 1976, S. 1065 f.); Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 472; Weigend, HJLPP 26 (2003), S. 160; bzgl. des englischen Verfahrens G. Williams, The Proof of Guilt, S. 36. Nicht von einem Wettkampf, sondern regelgerecht von einem Kampf sprachen Peters, ZStW 56 (1935), S. 36 ff.; Oetker, GS 108 (1936), S. 10 f.; Hassemer, FS Volk, S. 217; Fischer, FS Kühne, S. 208; und der amerikanische Rechtsrealist J. Frank, Courts on Trial, S. 85 ff. („fight theory of justice“). Freilich bedeutet dies wohl keinen inhaltlichen Unterschied. Aus der Sicht der allgemeinen Prozessrechtslehre Calamandrei, FS Carnelutti, S. 487 ff. und Carnelutti, RDP 1951, S. 101 ff.

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schen, akkusatorisch orientierten Strafverfahren auf. Gerade im Zusammenhang des uns später interessierenden double jeopardy liegt es sehr nahe, sich dieser Metapher zu bedienen. Etymologisch soll das englische Wort jeopardy eine Anglisierung des französischen Ausdrucks „jeu parti“ verkörpern, und so etwas wie ein Spiel geteilter Chancen bedeuten.898 Einige Autoren versuchen, diese Spielmetaphorik für die Auslegung des positiven amerikanischen Verfassungsrechts fruchtbar zu machen.899 (2) Die Wettkampfmetapher ist dagegen weder deskriptiv noch normativ angemessen. Sie sollte nicht mehr gebraucht werden. (a) Die deskriptive Unangemessenheit beruht auf einer Vielzahl von Umständen. (aa) Zunächst muss bemängelt werden, dass der im Prozess angeblich verkörperte Wettkampf einer ist, der von einer Partei einseitig initiiert werden kann, die sich zudem praktisch beliebig lange darauf vorbereiten durfte und die den für sie günstigsten Zeitpunkt der Konfrontation mit relativer Freiheit auswählen darf. Insofern sind die Ausgangsbedingungen des Wettkampfes ungleich und teilweise sogar einseitig dem Ermessen der einen Partei anheimgestellt. (bb) Zweitens befinden sich die zwei Gegner in völlig unvergleichbaren Stellungen, was nach genauerem Hinsehen in ein Dilemma mündet. Ist der Verfolgte unverteidigt, dann sind bereits die Voraussetzungen eines jeden sinnvollen Wettkampfes, nämlich einigermaßen ebenbürtige Mitstreiter, nicht vorhanden. Vielmehr wird außer im Fall eines Verfahrens gegen einen Mafioso ein professioneller Leistungssportler gegen einen Wochenendjogger antreten. Bedient sich der Verfolgte hingegen professioneller Hilfe, also eines Verteidigers, dann ist zwar dieses Problem gelöst, da man jetzt von einem Kampf zwischen Professionellen sprechen könnte. Nun ergibt sich aber das Folgeproblem, dass der Teilnehmer am Wettkampf, also der Verteidiger, nicht derjenige ist, der die eigentlichen Vorteile des Sieges oder die Kosten der Niederlage zu tragen hat.900 Mit anderen Worten: Der Wettkampf ist entweder ein höchst ungleicher, oder ist der Beschuldigte keine Partei, sondern bloß derjenige, dessen Kopf im Spiel ist. (cc) Dies führt zum dritten Problem: Die gegeneinander Antretenden kämpfen nur aus einer im Vordergründigen verbleibenden Perspektive um das Gleiche, d.h. um die Gunst desjenigen, der über das Verfahren entscheidet. Denn Sieg und Niederlage bedeuten in dem Zusammenhang für die zwei Parteien höchst Unterschiedliches. Für den Verfolger steht höchstens – und nicht einmal im Regelfall – 898

Etwa Herrmann, Wiederaufnahme, S. 676. Insb. Amar, YLJ 106 (1997), S. 1838 ff. Zum Beispiel soll eine durch staatsanwaltschaftliches Fehlverhalten erzwungene Einstellung (mistrial) ähnlich einer Disqualifikation in einem Spiel einen rechtskräftigen Freispruch zur Folge haben (S. 1847). 900 Schünemann, FS Fezer, S. 564. 899

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sein Berufserfolg auf dem Spiel, für den Verfolgten geht es dagegen um nichts Geringeres als, wie man früher sagte, um seinen Hals,901 zeitgemäßer also um seine Freiheit, sein Vermögen und seine Unbescholtenheit.902 Der Verfolgte hat also viel mehr zu verlieren als der Verfolger. (dd) Aus alledem wird klar, dass die deskriptiv richtige Metapher nicht die eines Wettkampfes ist, sondern die einer Jagd. Denn der Jäger gestaltet die von Anfang an ungleichen Ausgangsbedingungen der Konfrontation weitgehend nach seinem Belieben. Er bedient sich modernster Ausrüstung, die die Instinkte des Tieres, die sich über Millionen von Jahren im mühsamen Verfahren der Evolution entwickeln mussten, maßlos überfordert: Jäger und Tier befinden sich insofern auch in ungleichen und unvergleichlichen Stellungen. Und zuletzt bedeutet der Erfolg bei den angeblichen Wettkämpfern völlig Unterschiedliches: Dem Jäger geht es um Ruhm und Spaß, vielleicht auch um eine Mahlzeit, dem gejagten Tier um Leben oder Tod. (b) Die vorliegende Untersuchung möchte indes keine beschreibende Theorie des Strafverfahrens entwickeln. Die o. B. II.–VII. (S. 119 ff.) gelieferte deskriptiv orientierte Bestimmung des Strafverfahrens war allein von dem Streben geleitet, die rechtfertigungsbedürftigen Aspekte auszuarbeiten, damit man sich über eine angemessene Rechtfertigungstheorie Gedanken machen kann. Es ging somit um eine Art Moralphänomenologie im weiten Sinne. Es ist aber fraglich, ob die Wettkampf-Metaphorik, die zwar als Beschreibung des Strafverfahrens nichts taugt, nicht einen angemessenen Rahmen für eine normative Theorie des Strafverfahrens bieten könnte. Der Leitgedanke wäre hier, dass das Strafverfahren, selbst wenn es kein Wettkampf ist, nach Möglichkeit als ein solcher gestaltet werden sollte. Die aus dem angelsächsischen Raum kommende, heute immer mehr verbreitete Redeweise von einer „Waffengleichheit“ 903 scheint genau eine solche Vorstellung vorauszusetzen. Indessen ist auch ein solches normativ orientiertes Verständnis des Verfahrens als Wettkampf aus einer Vielzahl von Gründen entschieden abzulehnen. aa) Wird ein sportlicher Wettkampf zu dem Ideal eines Strafverfahrens erklärt, bedeutet dies zwangsläufig auch, dass in erster Linie der Sieg zählt, und nicht, ob 901 Im Mittelalter wurde die Strafrechtspflege bekanntlich als Halsgerichtsbarkeit bezeichnet, vgl. z. B. Eb. Schmidt, FS Siber, S. 105, 144, 159 ff. 902 Schünemann, FS Fezer, S. 564. 903 Hierzu Ortloff, GrünhutsZ 23 (1896), S. 520 f. Fn. 1; Kohlmann, FS Peters I, S. 311 ff.; E. Müller, NJW 1976, S. 1063 ff.; Jung, FS Lüke, S. 331 f.; Presutti, GS Pisapia, S. 607 ff.; Ubertis, Sistema, S. 147 ff.; ausf. aus menschenrechtlicher Perspektive Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 305 ff., 641 ff.; aus der Rspr. BVerfGE 38, 105 (111); 63, 45 (61); 110, 226 (252); EGMR Ankerl v. Schweiz, Beschw. Nr. 17748/91, v. 23.10.1996, Rn. 38; Nideröst-Huber v. Schweiz, Beschw. Nr. 18990/91, v. 18.2.1997, Rn. 23; Gorraiz Lizarraga u. a. v. Spanien, Beschw. Nr. 62543/00, v. 27.4.2004 Rn. 56; Lea v. Estland, Beschw. Nr. 59577/08, v. 6.3.2012, Rn. 77.

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der Betroffene die ihm vorgeworfene Tat begangen hat oder nicht.904 Der Gedanke des Verfahrens als Wettkampf führt also zu einer Geringschätzung der Wahrheit, was sowohl aus Gründen der Abschreckungsgeneralprävention als auch aus Respekt vor dem Schuldprinzip nicht akzeptabel erscheint (s. o. III. 3. [S. 181 ff.]). Man könnte aber meinen, dass auch das angelsächsische Strafverfahren, das häufig als Verkörperung des Modells des sportlichen Wettkampfes angesehen wird, sich für die Wahrheit interessiere.905 In der Tat gibt es viele offizielle Stellungnahmen, die die Bedeutsamkeit der Wahrheitsfindung im Strafverfahren hervorheben, und die gerade in der dialektischen, wettkampforientierten Struktur des Verfahrens den besten Weg zur Erreichung der Wahrheit erblicken.906 Es wird aber zu Recht bezweifelt, wie ernst derartige Stellungnahmen gemeint sind. Nach dem Modell des sportlichen Wettkampfes muss Wahrheit von keinem der einzelnen Prozessbeteiligten, erst recht nicht von den Parteien angestrebt werden; und eine überzeugende Erklärung, weshalb ein Erfolg, der von keinem angestrebt wird, sondern von einzelnen Beteiligten sogar nachdrücklich bekämpft wird, trotzdem beiläufig erreicht werden sollte, wird nicht angeboten.907 Mit beachtlichen Gründen bezeichnet der Strafrechtshistoriker Langbein diese für das akkusatorische, wettkampforientierte Verfahrensmodell leitende Annahme, die Wahrheit würde erreicht, obwohl keiner sie anstrebt, als Glaubensartikel,908 und erblickt im ganzen angelsächsischen Verfahren den Alptraum eines „criminal procedure in which no one was responsible for seeking the truth“.909 Er geht soweit, das akkusatorische Verfahren als zufälliges Produkt eigentümlicher Umstände Englands zu deuten, wofür man schlichtweg keine Rechtfertigung anbieten könne.910 Diese unter amerikanischen Juristen verbreitete Sichtweise kommt in dem für das allgemeine Publikum geschriebenen Buch von Dershowitz über das Verfahren gegen O.J. Simpson unverhohlen zum Ausdruck. Seine Ausführungen werden getragen vom Glauben, man habe das beste Strafverfahrenssystem der Welt.911 Eine 904 Frankel, UPennLR 123 (1975), S. 1032, 1055 ff.; Gerber, ArizStLJ 19 (1987), S. 3 ff.; Rothwax, Guilty, S. 133; Pizzi, Trials without Truth, S. 221 ff.; Langbein, Adversary Trial, S. 1, 103 ff. der von einem „combat effect“ spricht. S. a. J. Frank, Courts on Trial, S. 80 ff.: Entgegensetzung von truth theory v. fight theory of justice. 905 Siehe einige der Nachw. in Fn. 196, 198. 906 Nachw. o. Fn. 196. 907 Langbein, Adversary Trial, S. 331 ff. 908 Langbein, Adversary Trial, S. 333, 338: „Adversary criminal trial depends upon the deeply problematic assumption that combat promotes truth, to put differently, that truth will emerge even though the court takes no steps to seek it“. 909 Langbein, Adversary Trial, S. 342. 910 Langbein, Adversary Trial, S. 9: „criminal procedure for which we have no adequate theory“. Ebenso Rothwax, Guilty, S. 74 ff., 79; s. a. Amar, Constitution, S. 67; Pizzi, Trials without Truth, S. 144: „our trial system has no clear priorities“. 911 Dershowitz, Reasonable Doubts, S. 199.

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Bekenntnis zur Wahrheit fehlt nicht: Wahrheit soll langfristig durch das akkusatorische System erreicht werden.912 Im Einzelfall verhalte es sich aber anders. Aus der Sicht der Parteien gelte das Dictum des football-Trainers Vince Lombardi: „Winning isn’t everything. It’s the only thing“.913 Es folgen schockierende Sätze: „In practice, the adversary system leads both sides to do everything in their power – as long as it is lawful and ethical – to win. Since most defendants are guilty, it follows that the defense will often be in the position of advocating ultimate falsity than will the prosecution“.914 Aber auch die Anklage, gerade (und nicht obwohl!) weil sie die „ultimative Wahrheit“, das ist: die Schuld des Betroffenen auf ihrer Seite hat, wird Meineide und falsche Zeugenaussagen einsetzen, damit die Wahrheit ans Licht komme!915 „When defense attorneys represent guilty clients – as most do, most of the time – their responsibility is to try, by all fair and ethical means, to prevent the truth about their client’s guilt from emerging“.916 Die Frage, welche Mittel noch als unfair und unethisch angesehen werden, wenn sogar Meineide und ungezügelte, beschämende Kreuzverhöre eines Zeugen, der die Wahrheit aussagt, akzeptiert werden, bleibt offen. bb) Eine der weiteren bedenklichen Implikationen des normativen Modells sportlichen Wettkampfs ist seine Neigung, dem sog. „fox hunter’s argument“ Gewicht zuzuschreiben. Bei der in England sehr populären Fuchsjagd, wie auch bei jeder sportlichen Jagd, dürfen keine Mittel eingesetzt werden, die dem gejagten Tier von vornherein jede Gewinnchance wegnehmen. Auch im Strafverfahren wird häufig argumentiert, als wäre die Chance, einen Freispruch oder eine Einstellung zu erwirken, eine normativ relevante Größe.917 So sagt in Deutschland Stuckenberg, das Verfahren müsse „ergebnisoffen“ sein;918 und Bottke begründet die von ihm für richtig erachtete Fernwirkung von Beweisverboten mit dem Argument, alles andere würde einer sog. Start- und Chancengerechtigkeit widersprechen.919 Demgegenüber ist zu betonen, dass das Strafverfahren kein Spiel ist, und dass man keinen Grund anführen kann, weshalb der mögliche Sieg des Beschuldigten von vornherein etwas Gutes sein sollte. Dies ist nur dann der Fall, wenn er unschuldig ist. Ebenso wenig kann man sagen, dass die Möglichkeit einer Verurteilung normatives Gewicht hat; vielmehr gilt das nur im Fall eines Schuldigen. Weil aber Strafverfahren auch gegen Unschuldige durchgeführt werden, darf man sich allein derartiger Argumente bedienen, die von der Schuld oder 912

Dershowitz, Reasonable Doubts, S. 43. Dershowitz, Reasonable Doubts, S. 43. Auch die Staatsanwaltschaft handelt nach dem Diktum, S. 43. 914 Dershowitz, Reasonable Doubts, S. 45. 915 Dershowitz, Reasonable Doubts, S. 45. 916 Dershowitz, Reasonable Doubts, S. 166. 917 Rothwax, Guilty, S. 79. 918 Insb. Stuckenberg, Unschuldsvermutung, S. 531. 919 Bottke, FS Roxin I, S. 1257. 913

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Unschuld der Betroffenen unabhängig sind. Fox-hunter’s Argumente genügen dieser Bedingung nicht. Ein Verfahren kann auch gut sein, wenn man von vornherein weiß, was für ein Ergebnis es haben sollte. Der Gedanke der Ergebnisoffenheit macht aus dem Verfahren etwas Schlimmeres als einen Wettkampf, nämlich ein Glücksspiel.920, 921 Deshalb gehört der Begriff der Waffengleichheit, so modisch und positiv besetzt wie er auch sein mag, besser gemieden.922 cc) Zuletzt muss daran erinnert werden, dass die Wettkampfmetapher sich keineswegs notwendig beschuldigtenfreundlich auswirkt. Die Tatsache, dass sie und die auf ihr beruhende Figur der Waffengleichheit überwiegend zur Stärkung der Beschuldigtenstellung Einsatz findet, beruht eher auf Kontingenzen, unter anderem darauf, dass der Staatsanwaltschaft keine Beschwerde zum EGMR zusteht.923 So könnte man unter Berufung auf den Grundsatz viele Offenbarungspflichten und Präklusionen, unter denen die Staatsanwaltschaft handeln muss, auch für die Beschuldigtenseite postulieren – darauf beruht zum Teil das angelsächsische Institut der discovery, zu der auch die Verteidigung verpflichtet wird.924 Die Herabsetzung des Gerichts zum bloßen Schiedsrichter, der sich eher für die Einhaltung der Wettkampfregeln als für die Wahrheit interessiert, kann sogar dazu führen, dass die Nichteinhaltung von Regeln seitens der Verteidigung zu einem Beweisverbot führt. Diese Schlussfolgerung ist vom amerikanischen Supreme Court in der Tat in der Entscheidung Taylor v. Illinois gezogen worden;925 Kritiker sehen hierin einen bedenklichen Ausdruck der Sporting Theory

920 Vgl. Pizzi, Trials without Truth, S. 75, der sich kritisch zu der in Amerika verbreiteten Metapher äußert, die in der Hauptverhandlung ein „rolling the dice“ erblickt. Siehe auch U.S. Supreme Court, Williams v. Florida 399 U.S. 78, 82 (1970): das adversary trial sei „not yet a poker game“; und Carnelutti, RDP 1951, S. 109, über die unterschiedliche Rolle des Zufalls bei Spielen und beim Verfahren. 921 In der kritischen Literatur werden noch weitere Einwände gegen das normative Ideal eines Strafverfahrens als sportlicher Wettkampf angeführt. Insbesondere führt es zu einer exzessiven Prozeduralisierung, in dem Sinne, dass im Verfahren in erster Linie nicht mehr über die Sache, sondern über das Verfahren selbst diskutiert wird (Rothwax, Guilty, S. 27, 216 und passim; Stuntz, Collapse, S. 220, 226); und zu einer diskriminierenden Bevorzugung reicher Beschuldigter (Langbein, Adversary Trial, S. 1, 102: „wealth effect“; Arzt, FS Triffterer, S. 535: „Reichtum macht unschuldig“). 922 In Erg. ähnl. Töwe, GS 108 (1936), S. 24 („hohles Schlagwort“); Rieß, FS Schäfer, S. 174 f.; ders. FS Rebmann, S. 387 Fn. 20 („problematisch und mißverständlich“); Richter II, NJW 1981, S. 1822; Dreher, FS Kleinknecht, S. 10 ff.; Kintzi, FS Wasserburg, S. 903 (der aber die ebenfalls missverständliche Formulierung „Chancengleichheit“ vorzieht); Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 421 ff.; Prittwitz, FS Bemmann, S. 603 f.; Kühne, LR-StPO Einl I Rn. 118; Pradel, Procédure pénale, Rn. 398. 923 Das kann sich verändern, wenn die Opfer dieses Recht für sich entdecken und beim EGMR Gehör finden. 924 Siehe insb. Rule 16 (b) FedRCrimP; zur discovery der Verteidigung im amerikanischen Recht etwa Zalman, Criminal Procedure, S. 463. 925 U.S. Supreme Court, Taylor v. Illinois, 484 U.S. 400 (1988). Hier hatte die Verteidigung unter Verletzung der discovery-Regeln einen Zeugen nicht offenbart; als Sank-

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of Justice.926 Und auch dort, wo er zu billigenswerten Zwecken eingesetzt wird, wie etwa zur Stärkung der Verteidigung im Ermittlungsverfahren,927 kann man ohne ihn auskommen.928 cc) „Rechtliche“ Verfahrensgerechtigkeit An dritter Stelle kann man – mangels einer besseren Bezeichnung – ein „rechtliches“ Verständnis der Verfahrensgerechtigkeit unterscheiden. Gemeint sind hiermit solche Konzepte, für die die Einhaltung der prozessualen Regeln, unabhängig von ihrem Inhalt, auch unabhängig davon, ob sie einen ausgeglichenen Wettkampf bedeuten, einen Eigenwert verkörpert; und die diesen Eigenwert weder als rein sozialpsychologische noch als wettkampforientierte Größe deuten.929 So verweist Trechsel einerseits auf die vielen Schwierigkeiten, den Sachverhalt richtig festzustellen und das Recht richtig anzuwenden, andererseits auf die soeben erwähnten empirischen Untersuchungen, die die Bedeutung der Verfahrensgerechtigkeit für die Akzeptanz von Entscheidungen bestätigen. Daraus schließt er: „heftig übertreibend, materielle Gerechtigkeit sei ein Glücksfall, Verfahrensgerechtigkeit sei machbar, herstellbar“.930 Verfahrensgerechtigkeit sei so wichtig, dass „sogar in dem Urteil, das einen Unschuldigen schuldig spricht, . . . Gerechtigkeit liegen (kann), wenn das Verfahren selber von Fairness geprägt war“.931 Das radikalste Konzept hat indes Paulus entwickelt, nach dem der Verfahrenszweck „prozeßspezifisch“ zu bestimmen sei. Dieser sei „formell (innerprozessual) die rechtsrichtige Entscheidung der Staatsanwaltschaft/des Gerichts, ob der Beschuldigte einer Straftat (hinreichend) verdächtig (§§ 170; 203, 204 StPO) bzw. überzeugungssicher überführt (§ 261 StPO) ist oder nicht . . .; staatsrechtlich die justizförmige Entscheidung ob . . . die straftatverdachtsgefährdete Unschuldsvermutung widerlegbar (§§ 170; 203, 204 StPO) bzw. widerlegt (§§ 260 Abs. 1, 261 StPO) sei oder nicht.“ 932 Im Verfahren geht es also darum, die Regeln des Verfahrens einzuhalten. Verfahrensunabhängige Richtigkeitskriterien tion dafür ließ man die Vernehmung des Zeugen in der Hauptverhandlung nicht mehr zu. 926 Garcia, Sixth Amendment, S. 114 f., 122 f., 128 ff. 927 Etwa Presutti, GS Pisapia, S. 607 ff. 928 Konkret: durch den Gedanken des Gebots einer Kompensation von Prozesslagen, s. u. 6. d) (S. 311). 929 Vgl. dem zumindest nahestehend Neumann, ZStW 101 (1989), S. 67 ff.; ders. Rechtstheorie 27 (1996), S. 424 f.; ders. Dimensionen der Strafgerechtigkeit, S. 124 f. (ihm zust. Murmann, Strafprozessrecht, Rn. 5; Radtke, Konzeptionen, S. 134); Trechsel, SchwZStR 2000, S. 3; Müller-Dietz, FS Ishikawa, S. 365 ff. 930 Trechsel, SchwZStR 2000, S. 6 (Zitat), 6 ff., 10 ff.; s. a. ders. IsLR 31 (1997), S. 103 ff., 111. 931 Trechsel, SchwZStR 2000, S. 14. 932 Paulus, FS Würzburger Juristenfakultät, S. 706; ähnl. ders. GS Karlheinz Mayer, S. 315.

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gibt es seines Erachtens nicht. „Die ,justizförmig‘ ordnungsgemäß ergangene Entscheidung ist nie ein ,Fehlurteil‘ (. . .)“.933 „Urteilswahrheit bedeutet Begründungsrichtigkeit“.934 bb) Das Verdienst des Gedankens einer Verfahrensgerechtigkeit liegt gerade darin, dass er den Blick für spezifisch prozessuale Dimensionen der Gerechtigkeit schärft, die unabhängig vom Ausgang des Prozesses von Bedeutung sein können. Die Stellungnahme wird differenziert ausfallen. (a) Zunächst zu den oben erwähnten radikalen prozeduralistischen Thesen, die am pointiertesten von Paulus vertreten worden sind, und die das Verfahren auf ein Unternehmen der Einhaltung von Verfahrensregeln reduzieren. Nur wenn die Bestrafung eines Unschuldigen gerecht genannt werden könnte, wäre es möglich, sich mit der Einhaltung der Verfahrensregeln für zufrieden zu erklären. Eine Ansicht, die nicht vor der Konsequenz scheut, prozessgemäß zustande gekommene Fehlurteile für begrifflich unmöglich zu erklären, ist auf der einen Seite von bewunderungswürdiger Konsequenz, auf der anderen führt sie sich selbst ad absurdum. Auch dann, wenn man dem Verfahren und seinen Regeln eigenständige Bedeutung zuspricht, belegt die Verurteilung des Unschuldigen, dass man nicht den Fehler begehen darf, das Strafverfahren allein daran zu messen, wie gut es die Verfahrensregeln einhält. Das Ergebnis des Verfahrens bleibt wichtig und seine Richtigkeit ist unabhängig davon, ob die Verfahrensregeln beachtet worden sind.935 (b) Die Tatsache, dass Paulus über das Ziel hinausschießt, soll aber nicht den Blick dafür verstellen, dass die Einhaltung von Regeln unabhängig von ihrem Ergebnis relevant sein kann. Zwar ist weder die Einhaltung von Regeln alles im Verfahren, noch haben alle Regeln denselben Status. Dennoch lässt sich kein gerechtfertigtes Strafverfahren denken ohne Regeln, deren Bedeutung über ihre Tauglichkeit zur Erreichung bestimmter außerprozessualer Zwecke hinausgeht. Es fragt sich aber noch warum. Worauf beruht diese nicht-instrumentelle Bedeutung bestimmter Verfahrensregeln? Liegt hier nicht ein Zirkelschluss vor, dass es Zweck des Verfahrens wäre, verfahrensgemäß vorzugehen? Strafverfahren sind Strafverfolgung (o. B. II. [S. 119]). Sie sollen die Verhängung der (abschreckungsgeneralpräventiv) gebotenen Strafe auf den tatsächlichen und nicht bloß vermeintlichen Schuldigen (materielle Wahrheit) ermöglichen 933

Paulus, FS Würzburger Juristenfakultät, S. 693. Paulus, FS Würzburger Juristenfakultät, S. 708. 935 Grdl. Rawls, A Theory of Justice, S. 74 f., mit der immer wieder zitierten Unterscheidung zwischen reiner und nicht reiner Verfahrensgerechtigkeit; ebenso Neumann, ZStW 101 (1989), S. 70; Arzt, FS Triffterer, S. 531: „Dem Unschuldigen ist die Gerechtigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe nicht mit der Begründung schmackhaft zu machen, daß die Strafe in einem fairen Verfahren verhängt worden sei“; Müller-Dietz, FS Ishikawa, S. 366; Duttge, ZStW 115 (2003), S. 549; Hörnle, Rechtstheorie 2004, S. 176 f.; Radtke, Konzeptionen, S. 134. 934

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(o. III. 2., 3., 6. [S. 167, 187, 197]). Strafen sind aber Akte der Gewalt, die nicht ungerechtfertigt sind, vor allem weil der zu Strafende durch seine Tat Schuld auf sich geladen hat.936 Weil die Strafverfolgung zur Vorbereitung dieses Akts der Gewalt dient, steht sie unter dem ständigen Druck, ihrerseits selbst zu einem Akt der Gewalt zu verkümmern, der aber im Unterschied zur Strafe nicht gerechtfertigt wäre, weil das Verfahren unabhängig davon initiiert werden kann, ob der Betroffene schuldig ist. Diese Gedankenführung liefert die Deutung des nicht-instrumentellen Sinns der Strafverfahrensregeln. Diese Regeln verhindern es, dass das Verfahren zu einem nicht gerechtfertigten Akt der Gewalt degeneriert. Nicht-instrumentelle Regeln bedeuten in diesem Zusammenhang, dass das Verfahren nicht nur die Arme und Hände des strafenden Staates darstellt, mit denen er faktisch sicherstellt, dass dem Schuldigen seine Strafe auch verhängt werden kann, sondern auch dessen Mund und Ohren, durch die er dem Betroffenen, ob schuldig oder unschuldig, Rechenschaft über die eigene Vorgehensweise ablegt, und die Bereitschaft signalisiert, auch die Sichtweise des Betroffenen in Berücksichtigung zu ziehen. Das Vorhandensein von Regeln ermöglicht, dass man nicht nur einander jagt (s. o. bb) [S. 247 f.]), sondern dass man ihre Einhaltung durch die Stellung von Anträgen und Rechtsmitteln abverlangt. Regeln verkörpern im Strafverfahren deshalb einen rechtsmoralischen Imperativ des Respekts vor dem anderen als einem Menschen, dass jede Interaktion mit ihm nach Möglichkeit auf der Ebene der Kommunikation erfolgt und nicht allein bei der der Gewalt verbleibt.937 Diese Funktion des Verfahrens, etwas, was ansonsten ein Gewaltakt wäre, zu Kommunikation zu sublimieren, äußert sich nach näherer Hinsicht noch auf einer weiteren Ebene. Bis jetzt war von der strafprozesstheoretischen Bedeutung der rechtlichen Verfahrensgerechtigkeit die Rede. Es zeigt sich aber, dass sie sich auch auf die Legitimität einer zu verhängenden Strafe auswirkt, dass man in diesem Sinne auch eine straftheoretische Bedeutung verfahrensgerechtigkeitsorientierter Regeln anerkennen muss.938

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Zum genauen Begriff der Strafe u. Teil 2 Kap. 3 C. (S. 640 ff.). Für eine Betrachtung des Strafverfahrens unter dem Blickwinkel der Kommunikation, wenn auch eher empirisch orientiert, Kühne, Strafverfahrensrecht als Kommunikationsproblem, S. 59 ff. 938 Ebenso Köhler, Inquisitionsprinzip, S. 41 ff., der in der „subjekthaften Mitkonstitution der Entscheidung“ (S. 43) den Sinn des Verfahrens erblickt; Marxen, Straftatsystem, S. 345, der den Prozess sogar als Existenzbedingung einer Straftat versteht (ihm wohl zust. Volk, ZStW 97 [1985], S. 906 f.; ähnl. auch Paulus, FS Würzburger Juristenfakultät, S. 694); Duff, Trials, S. 119 f.; und Bottke, Verfahrensgerechtigkeit, S. 33 ff., nach dessen Ansicht die „Verfahrensteilhabe“ das maßgebliche Kriterium für „formelle Verfahrensgerechtigkeit“ bildet; auch Schünemann, FS Baumann, S. 378; Samson, Fair trial, S. 529; ausf. vor allem Gaede, mit dem wir uns u. 5. c) (S. 299 ff.) näher beschäftigen werden. Davor, freilich aus völkisch-nationalsozialistischer Perspektive, H. Mayer, GS 104 (1934), S. 332 ff.; Hegler, Zur Strafprozeßerneuerung, S. 38. 937

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Denn die Verletzung von bestimmten grundlegenden Regeln der Verfahrensgerechtigkeit führt nicht nur zu einer Bemakelung des Verfahrens; der das Verfahren anhaftende Makel schlägt sich auch auf das materiellrechtliche Ergebnis nieder. Erst dann, wenn das Verfahren Kommunikation verkörpert, wird es auch möglich sein, dass die Strafe ebenfalls mehr als nackten (wenn auch schuldangemessenen) Zwang darstellt. Gerade die Existenz und Befolgung von Regeln, die von der Frage nach der Schuld des Betroffenen völlig unabhängig sind, erweist sich insofern als unerlässliche Voraussetzung einer legitimen Bestrafung. Nur dann wird die von den Regeln angestrebte kommunikative und nicht bloß gewaltorientierte Interaktion stattfinden. Weiß der Beschuldigte, dass über seine Beweisanträge sowieso in der Überzeugung entschieden wird, dass er schuldig ist, dass seine Vernehmung lediglich dem Zweck dient, ein Geständnis zu gewinnen, werden weder das Verfahren noch die eventuell erfolgende Bestrafung Kommunikation verkörpern. Der Eigenwert der Verfahrensregeln liegt also nicht darin, dass sie eine Ergebnisoffenheit des Verfahrens garantieren bzw. dass sie dem gejagten Fuchs eine Entkommenschance zusichern (s. o. bb) [S. 249]), vielmehr allein darin, dass alle Beschuldigten, unabhängig von ihrer Schuld oder Unschuld, bloß deshalb, weil sie Menschen sind, ein Recht darauf haben, dass man mit ihnen kommuniziert. Und erst diese kommunikationsorientierte Vorgehensweise führt dazu, dass die Strafe nicht mehr als reiner Gewaltakt auftritt. Besonders geeignet, diese Sachgesichtspunkte zu veranschaulichen, erscheint der Sachverhalt in der Sache Moore v. Dempsey, die vom amerikanischen Supreme Court 1923 entschieden wurde.939 Nach einer Vielzahl blutiger Rassenkonflikte wurden fünf Schwarze wegen des Verdachts, einen Weißen getötet zu haben, verhaftet. Eine wütende weiße Volksmasse versuchte wenige Tage später, das Gefängnis zu stürmen und die Verdächtigen zu lynchen; die Staatsbehörden schafften es, dies zu verhindern, vor allem durch das Versprechen, dass den Häftlingen Gerechtigkeit widerfahren würde. Zeugen wurden gefoltert, zur Jury wurden allein Weiße zugelassen. In der insgesamt bloß 45 Minuten dauernden Verhandlung wurde vom bestellten Verteidiger kein einziger Antrag oder Frage gestellt. Zudem erfolgte die Verhandlung unter dem Drängen einer Menschenmenge, die allen klar machte, dass „no juryman could have voted for an acquittal and continued to live in Phillips County and if any prisoner by any chance had been acquitted by a jury he could not have escaped the mob.“ 940 Das Problem hier ist weniger, dass „there never was a chance for the petitioners to be acquitted“,941 als dass ein solches Verfahren als reiner Gewaltakt empfunden werden kann, dem sich der Gewaltakt der Bestrafung nur anschließt. Ein Staat, der

939 940 941

U.S. Supreme Court, 261 U.S. 86 (1923). U.S. Supreme Court, Moore v. Dempsey, 261 U.S. 86, 89 f. (1923). So das Gericht, U.S. Supreme Court, 261 U.S. 86, 89 (1923).

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ein solches Verfahren durchführt, gibt weder über die eigene Vorgehensweise Rechenschaft, noch interessiert ihn das, was die Betroffenen zu sagen haben. Der Supreme Court erkannte auf eine Verletzung der due process-Klausel. In der Regel gibt es also zu lösende Erkenntnisprobleme, m. a. W. ist es unklar, ob und inwiefern der Beschuldigte der Richtige ist, so dass sowohl zur Wahrung der Legitimierung der Strafe der Gesellschaft (Abschreckungsgeneralprävention) als auch dem Beschuldigten gegenüber (Schuldprinzip) ein auf die Aufdeckung der materiellen Wahrheit gerichtetes Verfahren erforderlich ist (s. o. III. 3. [S. 186 ff.]). Der Fall des „Dachauer Schützen“ verdeutlicht, dass selbst wenn im Einzelfall keine Erkenntnisprobleme mehr zu lösen sind, das Verfahren dazu beitragen kann, dass allein die Vernunft und nicht Emotionen bei der Beurteilung des Beschuldigten eine Rolle spielen (o. IV. 3. [S. 207 f.]). Das Verfahren hilft hier nicht mehr bei der Lösung eines Erkenntnisproblems, sondern eines Motivationsproblems, und leistet insofern auch einen Beitrag zur Verhängung einer legitimen Strafe. Diese beschriebenen Leistungen des Verfahrens kennzeichnen indes empirische und deshalb auch kontingente Zusammenhänge. In diesem Zusammenhang geht es um eine These, die insofern um einiges anspruchsvoller als die bisher vertretenen ist: behauptet wird ein notwendiger und nicht mehr bloß empirisch-kontingenter Zusammenhang zwischen Verfahren und legitimer Strafe. M. a.W.: Dem Schuldigen, über den ohne ein vorheriges, korrektes Verfahren eine schuldangemessene Strafe verhängt wird, geschieht auch durch die Strafverhängung per se und nicht allein durch die Nichtgewährung des Verfahrens Unrecht. Dagegen wäre nach dem bisher Gesagten in dem Fall des Dachauer Schützen, dessen (nicht schuldübersteigende) Strafe unmittelbar nach Tatbegehung verhängt und vollstreckt wird, die Strafe gegenüber dem Bestraften legitim. Er könnte sich zwar beschweren, dass er vor ihrer Verhängung nicht gehört worden ist; dass sie aber verhängt wurde, würde ihn eigentlich nicht beschweren.942 942 Diese Ergebnisse im Sinne eines Eigenwerts des Verfahrens, das etwas, was ansonsten bloße Gewalt wäre, teilweise in die Ebene der Kommunikation erhebt, finden auch in kulturell und sogar religiös tief verwurzelten Intuitionen eine Untermauerung, vor allem in der Vorstellung des Jüngsten Gerichts. Denn ginge es nur um „Wahrheit und Gerechtigkeit“, ginge es um die Gewinnung und Verhängung der die Schuld nicht überschreitenden Strafe, dann wäre Gott, der per definitionem weder Erkenntnis- noch Motivationsprobleme zu lösen hat, auf kein Verfahren angewiesen. So in der Tat auch Zachariä, Gebrechen, S. 25: „Das göttliche Gericht bedarf keines Verfahrens, es kennt nur einen Richterspruch, welcher die Art und das Maß der Schuld mit Allwissenheit bestimmt“; ebenso Fenech, RDP 1957, S. 214. Der Sünder aber, der ohne vor Gericht gestanden zu haben, etwa bereits vor den Himmelstoren von Petrus zur Hölle oder zum Fegefeuer heruntergejagt wird, wird sich wohl beschweren können, dass er wie ein Hund behandelt wurde, und diese Beschwerde wird zum Teil auch dazu führen, dass seine wenn auch nicht unverdiente Bestrafung dennoch als reiner Gewaltakt angesehen wird. Das Jüngste Gericht verkörpert in dieser Deutung ein Gebot der Verfahrensgerechtigkeit.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

(c) Das Gesagte hat vier wichtige Implikationen. (a) Die erste bezieht sich auf den Inhalt der Regeln. Selbstverständlich kann nicht jede Prozessvorschrift schon per se ein intrinsisch wertvolles Gebot der Verfahrensgerechtigkeit begründen. Insofern wird an der Anerkennung einer Hierarchie der Verfahrensvorschriften kein Weg vorbeiführen.943 Wenigstens über den Kernbereich der Regeln, die aus Gewalt Kommunikation machen, lassen sich relativ klare Vorgaben machen. Als Leitlinie dient hier der Imperativ, das Strafverfahren nicht als Akt der Gewalt, sondern der Kommunikation zu führen, so dass sein Ergebnis auch nicht nur wegen der hinter ihr stehenden Macht Verbindlichkeit beanspruchen kann. Zu diesen Kernregeln, die man auch als Minimalia der Verfahrensgerechtigkeit bezeichnen könnte, dürfen nur solche gerechnet werden, die zu Recht einen Anspruch auf zwingende und universelle Geltung stellen können.944 Wohl die erste dieser Regeln („prozessuales Urrecht“ 945) ist die Gewährung rechtlichen Gehörs,946 wozu auch ein Recht gehören muss, sich bei Bedarf eines Dolmetschers947 und eines Verteidigers zu bedienen. Kommunikation ist nur gegeben, wenn beide sich austauschen können, und nicht nur einem das Recht zukommt, sich zu äußern. Auch das Verbot der Folter kann man in diesen Zusammenhang einordnen. Folter zerstört die Autonomie des Gefolterten und macht es deshalb unmöglich, dass die mit ihm erfolgende Interaktion sich über die Ebene der Gewalt erhebt. Weil Kommunikation keine ist, wenn eine Seite der anderen vorgibt, was sie sagen soll, darf es keinen Zwang zur Selbstbelastung geben; es 943

Siehe auch BGHSt 11, 213 (214): „natürliche Stufung der Verfahrensvorschrif-

ten“. 944 Siehe bereits Abegg, Beiträge zur Strafprocess-Gesetzgebung, S. 19 f., mit einer bis heute weitgehend zustimmungswürdigen Liste unabdingbarer prozessualer Rechte. In der angelsächsischen Tradition spricht man hier von „natural justice requirements“, zu denen die Grundsätze nemo iudex in causa sua und audiatur et altera pars gehören, beispielsweise Maher, FS Honoré, S. 105; Jaconelli, Trial, S. 20; Jung, FS Lüke, S. 326 f. 945 BVerfGE 55, 1 (6); 70, 180 (188); 107, 395 (408), alle drei mit der Wendung; s. a. BVerfGE 39, 156 (168). – s. davor BGHZ 3, 94 (107): unveräußerliches Recht. 946 Siehe bereits Feuerbach, Oeffentlichkeit und Mündlichkeit I, S. 295 f.; heute Bottke, Verfahrensgerechtigkeit, S. 37: „Urrecht“; Duff, Trials, S. 117: Das Gericht, das dem Beschuldigten dieses Recht verweigert, „commits the same kind of injustice as one who criticises another for an alleged moral offence but refuses to listen to his response to that criticism“; Tribe, American Constitutional Law, S. 666: „. . . to be a person, rather than a thing, is at least to be consulted about what is done with one . . .“, in seinen Erörterungen zur procedural due-process-Klausel des 14. Amendment amVerf; im angelsächsischen Raum spricht man auch von Regeln der „natural justice“ (s. Fn. 944); in Frankreich nennt man dies den Grundsatz des „contradictoire“, Article préliminaire I franzStPO (s. Hodgson, French Criminal Justice, S. 42 f.; Bouloc, Procédure pénale, Rn. 845; Pradel, Procédure pénale, Rn. 398. Interessant Maher, FS Honoré, S. 114 ff., der das rechtliche Gehör als respektorientierte Rechtfertigung der Anwendung einer allgemeinen Regel auf einen konkreten Fall deutet. 947 Positivrechtlich Art. 6 Abs. 3 e) EMRK; ausf. Gaede, Fairness, S. 287 ff.

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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gilt ein nemo tenetur-Grundsatz.948 Nicht nur müssen aber solche Regeln gegeben sein, sondern es müssen auch Garantien dafür vorgesehen werden, dass diese Regeln auch eingehalten werden. Mit anderen Worten muss ein Strafverfahren, das nicht allein als Gewalt oder Jagd auftreten will, Kontrollmöglichkeiten vorsehen und ein System des Rechtsschutzes anbieten. Glaubwürdige Kontrolle wird aber nur durch jemanden zu leisten sein, der nicht selbst an der Sache unmittelbar interessiert ist, was zum nemo iudex in causa sua-Grundsatz führt, also zum Gebot eines unabhängigen und unbefangenen, nur dem Gesetz unterworfenen Gerichts, und auch zu dem uns in erster Linie interessierenden Anklageprinzip führt. Die Konturierung der Einzelheiten muss anderen Gelegenheiten vorbehalten bleiben; hier wird uns allein das zuletzt genannte Anklageprinzip näher beschäftigen (u. Teil 2 Kap. 2 B. III. [S. 383 ff.]). An dieser Stelle kann man zum Charakter dieser Regeln noch sagen, dass sie allesamt unverzichtbar sind. Eine Verzichtserklärung setzt als Erklärung bereits voraus, dass man sich auf die Ebene der Kommunikation begeben hat, während die Einhaltung der oben genannten Regeln dasjenige ist, was die Erreichung dieser Ebene erst ermöglicht.949 Dies wird auch Folgen haben für die Reichweite des u. 3. (S. 280) zu untersuchenden Konsensprinzips und vor allem für die Wiederaufnahme zugunsten, deren Anerkennung sich auch bei bestimmten Verfahrensfehlern gebieten wird (u. Teil 2 Kap. 6 C. III., insb. 4. [S. 940 ff., 945 ff.]). (b) Damit wird der Zusammenhang zwischen Verfahren und Strafe in einer wichtigen Hinsicht vertieft und verfeinert. Anfänglich stellten wir fest, dass sich Strafverfahren und Strafe voneinander begrifflich unterscheiden (o. B. IV. [o. S. 124 f.]), und dass es keinen logisch-notwendigen Zusammenhang zwischen beiden gibt, in dem Sinne, dass nur ein Übel, das nach Vorschaltung eines Verfahrens zugefügt wird, Strafe genannt werden darf, so dass Strafen faktisch ohne Verfahren zugefügt werden können (o. B. III., S. 121). Die Ideen der Abschreckungsgeneralprävention und der materiellen Wahrheit erklärten, weshalb ein Verfahren für die Verhängung einer legitimen Strafe in der Regel erforderlich ist: Denn eine legitime Strafe straft den Schuldigen; man muss also wissen können, dass es bei der Person, die man zu strafen vorhat, um einen Schuldigen geht. Der Fall des Dachauer Schützen belegte aber, dass ein so begründeter Zusammenhang zwischen Strafverfahren und Strafe nicht so eng war, m. a. W.: Er zeigte, dass der 948 Mit ähnlicher Begründung Kahlo, KritV 1997, S. 205; Jahn, JuS 2005, S. 1057; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 25 Rn. 17. Krit. (teilw. aber hinsichtlich der positivrechtlichen Leistungsfähigkeit der Begründung, § 136a StPO zu erklären) Krack, NStZ 2002, S. 120. Das Schweigerecht als Recht, überhaupt nicht zu kommunizieren, sprengt diesen Begründungsrahmen (s. o. 2. d) bb) [S. 242, auch Fn. 884]); es ist ein Recht, das den Unschuldigen schützen soll, und bloß Schutzreflexe auf den Schuldigen ausstrahlt. 949 Ein solches Argument bereits bei Greco, GA 2006, S. 636 f.; ders. Lebendiges, S. 176; ders. Feindstrafrecht, S. 45 f.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

behauptete Zusammenhang ein empirisch-kontingenter ist. Erst das Aufsteigen auf die dritte Rechtfertigungsstufe gestattet es, die Sachen genauer zu erfassen, und den Zusammenhang von Strafverfahren und Strafe nicht bloß als empirischkontingent, sondern als apriorisch-notwendig zu begreifen. Ohne ein Strafverfahren, das gewisse Regeln kennt und beachtet, und insofern kein bloßer Akt der Gewalt ist, ist die Strafe ihrerseits selbst bloßer Akt der Gewalt. (g) Weil man nicht nur durch Gewalt einen Menschen überwältigt hat, sondern sich auf die Ebene der Kommunikation begeben hat, kommt dem gewonnenen Ergebnis eine nicht nur auf Gewalt, sondern auch auf Kommunikation gegründete Verbindlichkeit zu. Der Jäger, der das fliehende Tier ergreift, ist sich dessen bewusst, dass dieses verschwinden wird, sobald der Griff gelockert wird, sobald die Gewalt also aufhört. Anders verhält es sich beim Ergebnis einer auf der Ebene der Kommunikation erfolgenden Auseinandersetzung. Derjenige, der hier verliert, spürt, dass er sich mit dem Ergebnis abfinden muss. Wenn überhaupt, wird er es kommunikativ in Frage stellen müssen, was auch nur im Rahmen der für diese Infragestellung geltenden kommunikativen Regeln wird geschehen dürfen. Hieraus werden wichtige Aufschlüsse für die Rechtskraftlehre (u. Teil 2 Kap. 1 D. [S. 371 ff.]) und insbesondere für die Wiederaufnahmelehre abzuleiten sein (u. Teil 2 Kap. 6 C. III., insb. 4. [S. 940 ff., 945 ff.]). (d) Schuld allein legitimiert noch keine Strafe, wenn die Strafe mehr sein soll als ein bloßer Gewaltakt. Daraus folgt viertens, dass auch der Schuldige eine eigenständig begründete Rechtsposition im Strafverfahren innehat. Gerade bei dem Schuldigen, dem im Idealfall am Ende des Verfahrens eine Strafe zugefügt werden soll, ist die Gefahr am größten, dass das Verfahren zur vorweggenommenen Strafe, und die Strafe zur nackten Gewalt wird. Die Gewaltdimension der Strafe droht, das Verfahren zu infizieren, und dem können nur unverrückbare Minimalia der Verfahrensgerechtigkeit eine Schranke setzen. Entgegen einer zumindest unterschwellig sehr wirksamen, im Nationalsozialismus in aller Offenheit950 und heutzutage vor allem von Amar in den Vereinigten Staaten vertretenen Auffassung sind die Rechte des Schuldigen im Strafverfahren keine bloßen unvermeidbaren Reflexwirkungen aus dem Schutz der Unschuld: „The constitution seeks to protect the innocent. The guilty, in general, receive procedural protection only as an incidental und unavoidable byproduct of protecting the innocent because of their innocence“.951 Zwar verdient ein solcher Ansatz in seiner Bemühung, die in 950 Niederreuther, DJ 1936, S. 770: Die Rechte des Einzelnen seien durch die Ausrichtung des Verfahrens auf Wahrheit und Gerechtigkeit hinreichend geschützt. 951 So Amar, Constitution, S. 91, 154 (Zitat); ähnl. möchte Loewy, MichLR 81 (1983), S. 1229 ff. den im 4. Amendment der amerikanischen Verfassung vorgesehenen Schutz vor Beschlagnahmen als Maßnahme zum Schutze Unschuldiger begreifen; s. a. McCoy/Mirra, SLR 32 (1980), S. 916. Zu Amars verfassungsorientierter Prozesslehre Dripps, NorthCarLR 74 (1996), S. 1559 ff.; Seidmann, YLJ 107 (1998), 2287 ff.; S. Klein, L&SI 24 (1999), S. 535 ff.; Luna, BuffCLR 2 (1999), S. 420 ff., insb. 425 ff.

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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der Praxis des amerikanischen Verfahrens nicht sehr beachtete Wahrheit zu rehabilitieren, Anerkennung: Denn ein Verfahren, das zwischen Schuld und Unschuld scharf trennt, muss der Wahrheit einen zentralen Platz zuweisen.952 Auf der anderen Seite leuchtet ein, dass ein solcher Ansatz etwa das Folterverbot allein auf die Gefahr zurückführen muss, dass ein Unschuldiger gesteht, so dass dieses Verbot unter den Druck geraten würde, zu weichen, wenn diese Gefahr hinreichend abgeschirmt werden könnte; ebenso verhält es sich mit dem nemo tenetur-Grundsatz.953 Verfahrensgerechtigkeit ist also ein Recht, das Schuld und Unschuld nicht unterscheidet, denn ob schuldig oder unschuldig, man hat das Recht, nicht nur Gegenstand von Zwang, sondern auch Subjekt von Kommunikation zu sein. Aber gerade der Schuldige ist auf dieses Recht angewiesen, weil das gegen ihn geführte Verfahren unter der besonderen Gefahr geführt wird, dass der Zwang, den die Strafe verkörpert, sich bereits vorzeitigt in ihm äußert. (d) Aus dem Gesagten werden gleichzeitig bestimmte Grenzen klar, also dasjenige, was der Gedanke der Verfahrensgerechtigkeit, der die Anforderung verkörpert, es soll auf Grundlage von Regeln kommuniziert und nicht nur auf Grundlage von Gewalt eine Jagd gemacht werden, nicht mehr leisten kann. Denn ein Strafverfahren ist nicht nur Kommunikation, sondern auch Zwang. Man fragt den Betroffenen nicht, ob er überhaupt kommunizieren möchte. Man verdächtigt ihn einseitig und konfrontiert ihn mit den Folgen dieser Situation. Mit anderen Worten: Dass ein Strafverfahren auch Kommunikation sein soll, bedeutet noch lange nicht, dass es nur Kommunikation ist und sein darf. Dafür, dass der Betroffene ein Verfahren auch dann dulden muss, wenn er nicht kommunizieren will, fehlt noch eine eigentliche Begründung. Insofern hängt alles, was man zur Verfahrensgerechtigkeit ausgeführt hat, noch in der Luft. Denn von Kommunikation ist in einem Strafverfahren erst dann die Rede, wenn der Betroffene schon verdächtigt worden ist, wenn er also schon einen einseitigen Gewaltakt hat erdulden müssen. Verfahrensgerechtigkeit ist zwar willkommen, aber sie kommt etwas spät. dd) Zusammenfassung Das hier gezeichnete differenzierte Bild der Verfahrensgerechtigkeit lässt sich auf folgende Weise zusammenfassen. Die empirischen Theorien, die einen Zusammenhang zwischen fairer Behandlung und Akzeptanz des VerfahrensergebInsoweit ähnl. Gemma, RitDPP 1983, S. 58 ff., woraus er versucht, die Rechtfertigung der Wiederaufnahme zulasten propter nova abzuleiten (näher u. Teil 2 Kap. 6 D. V. 3. [S. 980]). 952 Amar, Constitution, S. 118 f.: „truth of course helps innocent defendants more than guilty ones“. 953 Ähnl. krit. Luna, BuffCLR 2 (1999), S. 439.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

nisses behaupten, beschäftigen sich mit einer Frage, die nicht diejenige ist, wofür man sich hier interessiert. Die These, dass das Strafverfahren als Wettkampf zu begreifen ist, ist als empirische Beschreibung schief, denn Verfahren gleichen viel mehr einer Jagd als einem Wettkampf; und normativ bedeutet sie eine abschreckungsgeneralpräventiv unangebrachte und gegen das Schuldprinzip verstoßende Überbewertung des Sieges auf Kosten der Wahrheit. Auch die verbreitete Behauptung, es sei dem Beschuldigten eine realistische Siegeschance zu geben, die in einem solchen normativen Modell bestens aufgehoben sei, ist sinnwidrig. Wegen der kaum vermeidbaren Evozierung dieser Zusammenhänge ist das Schlagwort der Waffengleicht zu vermeiden. Fruchtbar erscheint nur ein auf diesen ganzen Ballast verzichtendes Modell einer „rechtlichen Verfahrensgerechtigkeit“, deren Hauptgedanke es ist, dass ein Strafverfahren einen Rahmen für regelgeleitete Interaktionen bieten soll, die deshalb notwendig auch auf der Ebene der Kommunikation und nicht der bloßen Gewalt stattfinden. Ein Verfahren soll auch Kommunikation sein, weil man mit Menschen nach Möglichkeit auf der Ebene der Kommunikation und nicht bloß auf der Ebene der Gewalt umgehen soll. Jedes Verfahren muss deshalb einer Reihe von Minimalia genügen, zu denen vor allem das rechtliche Gehör und der nemo iudex in causa sua-Grundsatz gehören. Zugleich muss gerade dann, wenn das Ergebnis des Verfahrens eine Strafe ist, dafür gesorgt werden, dass die in ihr verkörperte Gewalt nicht auch das Verfahren infiziert. Was aber nach dem Ganzen immer noch offen bleibt, ist das Nicht-Kommunikative am Verfahren, also die Frage, warum der Betroffene überhaupt verdächtigt und deshalb auch gezwungen werden kann, an der Kommunikation teilzunehmen. e) Fazit zur Gerechtigkeit im Strafverfahren Zusammenfassend muss die Stellungnahme zu den Gerechtigkeitsansätzen unterschiedlich ausfallen. Bedeutet Gerechtigkeit einen Verweis auf die Straftheorie der Vergeltung, entstehen drei Schwierigkeiten, nämlich dass das Strafverfahren keine Strafe ist, ferner dass die Vergeltungstheorie schon als Straftheorie zweifelhaft ist, drittens dass der spezifische Beitrag des Verfahrens zur Verwirklichung dieses angeblichen Zwecks nicht beschrieben wird. Bedeutet Gerechtigkeit nur die richtige Anwendung des materiellen Rechts, dann wird zum einen auch an den wichtigen Gesichtspunkt erinnert, dass der Schuldige nicht seine Strafe, sondern auch sein Verfahren erdulden muss, und dass es insofern so etwas wie eine Verfahrenserduldungsschuld gibt. Das Unzulängliche an dem Ansatz ist aber, dass er dem Prozess eine dienende Rolle zuschreibt, die seiner Eigenbedeutung nicht immer gerecht wird. Fasst man die Gerechtigkeit aber spezifisch prozessual auf (sog. Verfahrensgerechtigkeit), dann gelangt man zu einem Gesichtspunkt, der im Unternehmen der Rechtfertigung des Verfahrens weiterführend sein kann. Denn der Gedanke, dass die Einhaltung bestimmter Regeln unabhängig von ih-

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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rem Beitrag zu dem Ergebnis des Verfahrens wichtig ist, verkörpert den kategorischen Imperativ, mit Mitmenschen nach Möglichkeit auch kommunikativ und nicht bloß mit Gewalt umzugehen. Die Ausgangsfrage der Legitimation der Verdächtigung dem Betroffenen gegenüber, insbesondere im Fall von dessen Unschuld, bleibt trotzdem unbeantwortet. Keiner der unter der Rubrik der Gerechtigkeit formulierten Gedanken vermag zu dieser Fragestellung eine überzeugende Antwort zu liefern. 3. Konsens a) aa) Begründungen auf der zweiten Stufe, die also auf die Interessen des Betroffenen Bezug nehmen, wurden deshalb abgelehnt, weil sie das Verfahren bevormundend als das Beste für den Beschuldigten zu verkaufen versuchen, ohne sich für seine Zustimmung zu interessieren (o. IV. 4., 5. [S. 209 ff., 213 ff.]). Daher liegt es nahe, die Zustimmung oder den Konsens des Betroffenen zum Angelpunkt einer Verfahrenstheorie zu machen. Volenti non fit iniuria: Demjenigen, der sich mit dem Verfahren und seinem Ergebnis einverstanden erklärt, geschieht kein Unrecht. Diese Ansätze werden umso verbreiteter, je mehr sich die Bereitschaft erhöht, zustimmungsabhängige Vereinfachungs- und Diversionsmaßnahmen zu bedienen. Seit der richterrechtlichen und legislativen (und inzwischen sogar verfassungsgerichtlichen954) Absegnung der Verfahrensabsprachen hat das Konsensprinzip in Deutschland Konjunktur.955 Auch im angelsächsischen Raum werden Absprachen als Ausdruck eines seinerseits auf die Autonomie des Betroffenen zurückführbaren Konsensprinzips gedeutet.956 954 Die Entscheidung BVerfG NJW 2013, 1058 erging, nachdem die folgenden Zeilen im Wesentlichen schon geschrieben waren. Die Entscheidung bleibt aber trotz der seitenlangen Zusammenfassung aller verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien so sehr an der Oberfläche, dass sie kaum zu irgendeinem der im Folgenden diskutierten Punkte Aussagen enthält. 955 Zwar haben sich der von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren (BT-Drucks. 16/ 11736, S. 7) und der von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf (BT-Drucks. 16/ 12310, S. 9) ausdrücklich vom Konsensprinzip distanziert und versucht, so zu tun, als würde die neue Regelung Grundprinzipien des deutschen Strafverfahrensrechts unangetastet lassen (zu Recht krit. Jahn, ZStW 118 [2006], S. 435 f.). Weniger euphemisierend war hier der Vorschlag des Strafrechtsausschusses der BRAK einer gesetzlichen Regelung der Urteilsabsprache im Strafverfahren, ZRP 2005, S. 235 ff., bei dem das Konsensprinzip eine zentrale Rolle als „spezifische Richtigkeitsgewähr“ des Verfahrensergebnisses spielt (S. 236) (zu diesem Vorschlag eher positiv Landau/Bünger, ZRP 2005, S. 270 ff.; Jahn, JA 2006, 683 f.; zwiespältig Meyer-Goßner, StV 2006, S. 485 ff.; Weßlau, StV 2006, S. 359 ff.; krit. Schünemann, ZRP 2006, S. 63 f.; Schünemann/Hauer, AnwBl 2006, S. 442 f.). S. a. das sog. Eckpunktepapier, StV 2001, S. 315, mit dem Vorschlag eines „Rechtsgesprächs“ im Ermittlungsverfahren und eines „Anhörungstermins“ im Zwischenverfahren. 956 Herrmann, Der amerikanische Strafprozeß, S. 148 ff.; R. Vogler, ZStW 116 (2004), S. 148 f.; ders. Sistema acusatorio, S. 184.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

bb) Für unsere Zwecke erscheint es angebracht, zwei Versionen des Konsensansatzes zu unterscheiden. Eine erste Version argumentiert aus philosophisch anspruchsvollen Prämissen, vor allem auf Grundlage der Diskurstheorie; eine zweite Version verzichtet auf ein vergleichbares philosophisches Rüstzeug und beruft sich auf eine in diesem Sinne unvermittelte Evidenz des volenti-Grundsatzes. (1) An Versuchen, die Diskurstheorie für das Verständnis des Strafverfahrens fruchtbar zu machen, hat es seit der Formulierung dieser Theorie nicht gefehlt. Dies liegt bereits auf den ersten Blick nahe: Die Diskursethik ist eine Lehre, die auf inhaltliche Kriterien zur Bestimmung des Richtigen bzw. Legitimen verzichtet, und stattdessen prozedural ansetzt: Richtig bzw. legitim ist das Ergebnis einer Prozedur, der sog. idealen Sprechsituation.957 Konstitutiv für die ideale Sprechsituation ist, dass freie und gleiche Subjekte sich im Rahmen einer zwangs- und herrschaftsfreien Diskussion, für die eine Reihe weiterer sog. Diskursregeln gelten, zu verständigen suchen. Ein unter solchen Bedingungen zustande gekommener Konsens ist für die Wahrheit bzw. Richtigkeit des Ergebnisses konstitutiv. Man spricht insofern von einer Konsenstheorie der Wahrheit bzw. der Richtigkeit.958 Diese Gedanken wurden ohne größeren Wiederhall in die deutsche strafverfahrensrechtliche Diskussion der 70er Jahre eingeführt.959 Seit dem Siegeszug der Prozessabsprachen haben sie eine bemerkenswerte Renaissance erfahren. Vor allem Jahn bedient sich der Diskurstheorie, um Konsensprinzip und Amtsermittlung miteinander zu versöhnen. „Konsens kann auch im Rahmen des § 244 Abs. 2 StPO Garant für die Richtigkeit der Entscheidung sein“.960 Die vor allem durch Verfahrensabsprachen beherrschte Praxis lasse Züge einer „anderen Kommunikationskultur“ erkennen.961 957 Etwa Habermas, Wahrheitstheorien, S. 174 ff.; ders. Diskursethik, S. 98 ff.; Alexy, Argumentation, S. 155 ff.; hierzu ausf. Scheit, Wahrheit, S. 86 ff. und passim. Nicht unähnl. die von Arthur Kaufmann vertretene „Konvergenztheorie“ der Wahrheit, Rechtsphilosophie, S. 284 f. 958 Im Text ist von Wahrheit bzw. Richtigkeit die Rede, weil die späteren Versionen der Konsenstheorie nur empirische Sätze am Wahrheitsbegriff messen, bei normativen Sätzen dagegen den Begriff der Richtigkeit verwenden (Habermas, Richtigkeit versus Wahrheit, S. 286 ff.). 959 Rottleuthner, KritJ 1971, S. 82 ff.; Winter/K. F. Schumann, JBRSozRTh 3 (1972), S. 529 ff.; Mikinovic/Stangl, Strafprozess und Herrschaft, S. 26 ff.; Wassermann, Justiz mit menschlichem Antlitz, S. 31 ff.; Bal, P&SC Bd. 20 H. 4 (1994), S. 71 ff.; Calliess, Theorie der Strafe, S. 99 ff.; Frohn, Rechtliches Gehör, S. 108 ff.; Christodoulis, Communication, S. 186 ff.; sympathisch Schlüchter, Wert der Form, S. 211; Rodrigues, RPCC 1996, S. 531 ff.; Popp, Fehlerkorrektur, S. 88 Fn. 130; w. Nachw. b. Weßlau, Konsensprinzip, S. 31 Fn. 95; krit. Schreiber, ZStW 88 (1976), 141 ff.; ders. Konsens, S. 80 f., 83 ff. 960 Jahn, ZStW 118 (2006), S. 457. 961 Jahn, GA 2004, 272, 285 ff.; ferner ders. ZStW 118 (2006), S. 455 f.; ders. FS Kirchhof, S. 1394 f., 1398 f. Er argumentiert auch historisch: Der konsensfeindliche Amtsermittlungsgrundsatz entstamme nicht der ursprünglichen RStPO, die von vornherein die Möglichkeit gekannt hat, beim Einverständnis von Staatsanwaltschaft und Ange-

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(2) Mehrheitlich verhalten sich die Konsenstheoretiker jedoch philosophisch zurückhaltend und berufen sich auf die unmittelbare Überzeugungskraft des volenti-Prinzips. Warum streiten, wenn man sich einigen kann und die Gegensätze überwindbar sind?962 Noch gemäßigt ist die Stellungnahme Cramers,963 der im Konsens ein „gewichtiges Indiz dafür, daß eine gerecht zu nennende Entscheidung entsteht“, erblickt: Konsens wird demnach nicht als originäre Quelle von Legitimation angesehen, sondern als Erkenntnisgrund der Gerechtigkeit, auf der allein wohl ihrerseits die Legitimation beruht. Radikaler sind Schild und Grasnick. Ersterer meint, die Vergangenheit lasse sich nicht mehr historisch durch den Richter rekonstruieren, sondern nur von Richter und Angeklagtem aushandeln; das Verfahren verfolge das „Ziel der – gemeinsamen – Übernahme der Verantwortung, des Schuldspruchs.“ 964 Grasnick setzt seinerseits am angeblichen Scheitern der korrespondenztheoretisch verstandenen materiellen Wahrheit an, die diejenigen, die nach Wahrheit suchen, bei der Frage ob sie in dieser Hinsicht Erfolg hatten, im Stich lasse. „Offenkundig bleibt nur eines: Man einigt sich darauf, was gelten soll“.965 Wahrheit wird also hergestellt, und dies erfolgt im Gespräch, Dialog oder Diskurs.966 „Gleichsam an die Stelle der Korrespondenz mit Tatsachen tritt der Konsens der Beteiligten“.967 Und neuerdings betrachtet Theile Verfahrensabsprachen als prozessualen Niederschlag einer Umorientierung des Strafrechts weg vom klassischen, individualistischen Vergeltungsstrafrecht hin zu einem modernen, sozialstaatlich-gesellschaftssteuernden Präventionsstrafrecht, die es strukturell überfordere, und plädiert zum Teil zwar im Sinne einer teilweisen Rücknahme dieser Steuerungsansprüche, gleichzeitig aber dafür, die klassischen Vorstellungen als unangemessene Idealisierungen zu betrachten, die durch prozedurale Gerechtigkeitsmaßstäbe, vor allem durch den Konsens, zu ersetzen seien.968, 969 Die wohl

klagtem die Beweisaufnahme nicht auf alle präsenten Beweismittel zu erstrecken (§ 244 Abs. 1 RStPO, heute § 245 Abs. 1 S. 2 StPO), sondern sei eine Schöpfung der Rechtsprechung des Reichsgerichts (Jahn, ZStW 118 [2006], S. 445 ff.). 962 Schmidt-Hieber, StV 1986, S. 357; Widmaier, StV 1986, S. 358; Meyer-Goßner, Domestikation, S. 237; ders. ZStW 119 (2007), S. 942. 963 Cramer, FS Rebmann, S. 148; ebenso Gallandi, NStZ 1987, S. 420; insofern ähnl. Marsch, ZRP 2007, S. 222. 964 Schild, ZStW 94 (1982), S. 40 f. (Zitat S. 40). 965 Grasnick, 140 Jahre GA, S. 66. 966 Grasnick, 140 Jahre GA, S. 69, 70; ders. GA 1990, 491; ders. JZ 1991, S. 290 ff.: „Die Rechtswirklichkeit fordert das Rechtsgespräch, den Dialog, den Diskurs, ohne den kein Recht wird“. 967 Grasnick, 140 Jahre GA, S. 74. Ob Grasnick an diesen Thesen noch festhält, erscheint zweifelhaft. Zu seiner Bekehrung s. bereits o. Fn. 631. Ähnlich wie der frühe Grasnick Ransiek, Rechte des Beschuldigten, S. 80: „Erst dann, wenn Konsens über Bedeutungszuschreibungen besteht, entsteht das wirkliche Geschehen als Übereinkunft“. 968 Theile, MSchrKrim 93 (2010), S. 147 ff.; ausf. ders. Wirtschaftskriminalität und Strafverfahren, insb. S. 285 ff.; ders. NStZ 2012, S. 670 ff.; s. a. ders. wistra 2012, S. 285 ff. (eher zum materiellen Recht).

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1. Teil: Strafprozesstheorie

elaboriertesten Ausarbeitungen eines „Konsensprinzips im Strafverfahren“ liefern aber Lüderssen und Weßlau. Lüderssen integriert die von den Prozessabsprachen verkörperte Hinwendung zum Konsens als vorläufigen Gipfel einer allmählichen Entwicklung hin zu einer Abschaffung des Strafrechts.970 Er greift auf seine philosophiegeschichtlich orientierte Kritik der Strafe zurück, deren Fazit es ist, dass ein aufgeklärtes, metaphysikfreies und entzaubertes Strafrecht nur Interessen von konkreten Individuen im Blickfeld haben dürfe.971 Diese konkreten Individuen seien bei einer Straftat allein der Täter und sein Opfer – womit nur die Zwecke der Resozialisierung (auf der Täterseite) und der Wiedergutmachung (auf der Opferseite) als legitimierbare Strafzwecke übrig blieben.972 Der vom Täter geäußerte Konsens, der in der Absprache seinen prozessualen Ausdruck finde, gerate zwar womöglich mit den klassischen Zwecken der Schuldvergeltung und der Generalprävention in ein Spannungsverhältnis. Die beiden aus der Sicht von Lüderssen allein zulässigen Zwecke stünden dagegen aber nicht im Widerstreit zum Konsens, sondern seien vielmehr für ihre optimale Verwirklichung auf ihn angewiesen.973 In einer neueren Veröffentlichung erklärt der Autor den Gedanken des Konsenses und die ihn verkörpernden strafprozessualen Absprachen zu einer Manifestation der Demokratisierung der richterlichen Gewalt.974 Weßlau tritt für ein „zweispuriges Verfahrensrecht“ bei Wahlmöglichkeit des Beschuldigten ein.975 Ihr Kerngedanke dürfte sein, dass „das Prinzip der materiellen Wahrheit nicht durch die Idee der Verfahrensgerechtigkeit zu ersetzen ist, aber das Prinzip der materiellen Wahrheit prozedural zu deuten ist“.976 Es gelte 969 Weitere Stellungnahmen: Schmidt-Hieber, Verständigung, S. 11: Kooperation mache das Verfahren „menschlicher“; Hoffmann, Verfahrensgerechtigkeit, S. 245 ff.; Behrendt, FS R. Schmitt, S. 28 ff. (aus psychoanalytischer Sicht, kooperativer Prozess als Überwindung rückständiger, ödipal fixierter Elemente des traditionellen Ansatzes); Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 416; Eser, ZStW 104 (1992), S. 383 f.; Gerlach, Absprachen, S. 28, 209 ff.; Hermann, JuS 1999, S. 1167 f.: Der Angeklagte sei nicht mehr auf die Rolle eines Untertans beschränkt; Weichbrodt, Konsensprinzip, S. 110 ff.; Krey, Deutsches Strafverfahrensrecht, Rn. 1044; Tscherwinka, Absprachen, S. 46 ff., der sich teilweise auch behutsam auf die Diskurstheorie beruft; Rosenau, FS Puppe, S. 1623. Sogar Schünemann liebäugelte ursprünglich mit einem „substantiell neuen Prozeßmodell“ nach amerikanischem Vorbild, „das nicht durch die Chimäre der materiellen Wahrheit, sondern durch Interaktion, Konsens und strikte Neutralität legitimiert wird“ (FS Pfeiffer, S. 481). 970 Lüderssen, StV 1990, S. 415 ff.; s. a. zu ihm Stübinger, Das idealisierte Strafrecht, S. 565 ff. 971 Etwa Lüderssen, Krise, S. 30 ff., 38 ff., 49; auch Lüderssen, StV 1990, S. 418: „heilsamer Vorgang“ einer „Entmythologisierung des materiellen Strafrechts“. 972 Lüderssen, StV 1990, S. 417. 973 Lüderssen, StV 1990, S. 417. 974 Lüderssen, FS Hamm, S. 427 f. 975 Weßlau, Konsensprinzip, S. 199, 250 (Zitat); s. a. dies. Strafo 2007, S. 3 ff. 976 Weßlau, Konsensprinzip, S. 185.

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zunächst das aus dem Prinzip der materiellen Wahrheit abgeleitete Gebot der vollen Sachverhaltsaufklärung. Dieses Gebot kenne indes kein Ende in sich. Der Richter müsse jedoch seine Aufklärungsbemühungen an einer bestimmten Stelle abbrechen, und die Entscheidung, gerade dort und nicht erst früher oder später abzubrechen, könne nur durch ein Konsensprinzip gerechtfertigt werden.977 Dies sei bereits de lege lata978 der Fall: Der Konsens des Beschuldigten mit dem Abbruch der Aufklärung äußere sich dadurch, dass er ab einem bestimmten Zeitpunkt darauf verzichtet, Beweisanträge zu stellen oder einen Zeugen zu befragen.979 Ein solches Modell liege auch dem Strafbefehlsverfahren zugrunde.980 Dem Konsensprinzip komme also eine „sekundäre Rolle innerhalb des Prinzips der materiellen Wahrheit“ zu.981 Ein so verstandenes Konsensprinzip vermöge es aber nicht, die Absprachenpraxis zu legitimieren, denn es beziehe sich allein auf die Frage nach der Gewinnung des Beweisstoffs, und nicht auf den Verfahrensgegenstand.982 In Amerika beriefen sich die ersten Entscheidungen des Supreme Court auf die beiderseitigen Vorteile („mutuality of advantage“) einer konsensualen Verfahrenserledigung.983 Obwohl in der Wissenschaft wohl kritische Stimmen überwiegen, gibt es zahlreiche Ansätze, das plea bargaining zu rechtfertigen. So verweist Vogler auf den Gedanken des Angeklagten als Prozesssubjekt, das über seine Verfahrensrechte autonom verfügen könne,984 und Scott/Stuntz schlagen vor, das plea bargaining schlicht als Vertrag aufzufassen, das wegen der privatautonomen Gestaltungsfreiheit der Parteien grundsätzlich zu respektieren sei.985 Auch Easterbrook, der die Vertragsmetapher ablehnt, argumentiert ähnlich: Plea bargains seien deshalb vorzuziehen, „because compromise is better than conflict“. Der Konsens zeige, dass alle Beteiligte besser gestellt werden: Die Beschuldigten verkaufen ihre prozessualen und materiellrechtlichen Rechtspositionen gegen andere Vorteile, die sie für wichtiger ansehen als diese Rechte; Staatsanwälte kaufen

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Weßlau, Konsensprinzip, S. 182 f., 198. Weßlau schrieb vor der Einführung des § 257c StPO. 979 Weßlau, Konsensprinzip, S. 183, 198. 980 Weßlau, Konsensprinzip, S. 200 ff. 981 Weßlau, Konsensprinzip, S. 197 ff., 253 (Zitat). 982 Weßlau, StraFo 2007, S. 5. 983 Brady v. U.S., 397 U.S. 742, 752 (1970); Bordenkircher v. Hayes, 434 U.S. 357, 363 (1978), in denen die zitierte Wendung auftaucht; s. a. McMann v. Richardson, 397 U.S. 759, 766 ff. (1970). 984 R. Vogler, ZStW 116 (2004), S. 148 f.; ders. Sistema acusatorio, S. 184. 985 Scott/Stuntz, YLJ 101 (1992), S. 1913 f. Die Autoren prüfen ausführlich, ob die für Verträge geltenden Wirksamkeitsbedingungen auch hier erfüllt sind und kommen zu einem bejahenden Ergebnis (S. 1915 ff., 1919 ff.). Davor bereits Westen/Westin, CalLRev 66 (1978), S. 528 ff., deren Anliegen eher darin besteht, die Bindung des Staates an das Versprechen zu begründen. Ähnl. Sit, ColLR 1987, S. 143. 978

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Zeit; und die Gesellschaft kaufe Generalprävention.986 Eine Reihe von aus deutscher Perspektive wohl verblüffenden Rechtsprechungsentscheidungen belegt, wie viel Legitimationskraft dem Konsens zugeschrieben wird, und wie gering die Anforderungen sind, die an die Freiwilligkeit eines solchen Konsenses gestellt werden. So soll ein nackter, nicht von einem Geständnis getragener Konsens ausreichen (sog. Alford-Plea).987 Es wird auch als zulässig angesehen, mit einer Anklage wegen einer mit fester Androhung lebenslanger Freiheitsstrafe belegten Straftat zu drohen, um eine Zustimmung zu einer Strafe von 5 Jahren zu erwirken,988 oder mit der Todesstrafe zu drohen.989 Gerade die Koppelung des Konsenses mit dem Opportunitätsprinzip führt dazu, dem Staatsanwalt besonders starke Druckmittel in die Hände zu geben: Dies gibt ihm die Möglichkeit des sog. overcharging990 oder sogar einer Drohung mit der Verfolgung von Verwandten.991 b) Zuerst sei die philosophisch anspruchsvolle Variante, die sich der Diskurstheorie bedient, einer Kritik unterzogen. aa) Zwar interessieren hier nicht so sehr die philosophischen Bedenken, die gegen die Diskurstheorie formuliert werden können. Dennoch sei es gestattet, auf zwei Schwierigkeiten hinzuweisen.992 (1) Erstens ist es schwer einzusehen, wie materielle Ergebnisse aus einem bloß formellen Diskurs entstehen können. Vielmehr liegt es nahe, dass ein Diskurs, der 986 Easterbrook, YLJ 101 (1992), S. 1975; s. davor ders. Journal of Legal Studies 12 (1983), S. 308 ff., 317: Dem amerikanischen plea bargaining unterliege der „autonomy value – the right to waive one’s rights as one method of exercising them“. 987 U.S. Supreme Court, North Carolina v. Alford, 400 U.S. 25 (1970). Nach der Beurteilung von Bock u. a., GA 2013, S. 342 Fn. 117 kommt die Konstellation auch in Deutschland vor. 988 U.S. Supreme Court, Bordenkircher v. Hayes 434 U.S. 357 (1978); Bordenkircher nahm das Angebot aber nicht an und wurde in der Hauptverhandlung auf Lebenslang verurteilt. Ähnlich verhielt es sich in dem Sachverhalt, der der Entscheidung Corbitt v. New Jersey, 439 U.S. 212 (1978) zugrunde lag. In Deutschland wären derartige „Sanktionsscheren“ nicht zulässig, s. BGH StV 2007, 619 (bei dem es um eine Sanktionsschere von 31/2 Jahren bei Geständnis und 7–8 Jahren bei streitiger Hauptverhandlung ging). 989 U.S. Supreme Court, Brady v. U.S., 397 U.S. 742 (1970). 990 Zum overcharging im Zusammenhang des plea bargaining s. etwa Burke, OhioStJCrimL 8 (2010–2011), S. 87; Langer, AmJCrimL 33 (2005–2006), S. 242; zu den äußerst mageren Grenzen der prosecutorial discretion, die selten praktisch relevant werden, Zalman, Criminal Procedure, S. 455 ff. Unten Teil 2 Kap. 2 B. IV. 3. (S. 413) werden wir sehen, dass dieses Problem ein Leitmotiv der gesamten amerikanischen Diskussion über den Tatbegriff ist. 991 U.S. v. Pollard, 959 f.2d 1011 (295 United States Court of Appeals, District of Columbia Circuit, 1992); Miles v. Dorsey, 61 f. 3d 1459 (United States Court of Appeals, Tenth Circuit, 1995). 992 Weitere Einwände bei Engländer, Diskurs, S. 41 ff.; Goldman, Knowledge, S. 11 f.; Taruffo, Verità, S. 129.

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Inhalte erzeugen soll, bereits mit Hinblick auf solche Inhalte strukturiert sein muss.993 Das bedeutet, dass die Berufung auf den Diskurs unter dem Verdacht eines Zirkelschlusses steht. Denn der Diskurs erzeugt keine neuen Werte, vielmehr verkörpert er selbst bestimmte Werte, insbesondere den der Achtung vor dem anderen als einem Vernünftigen, mit dem man auf der Ebene der Kommunikation, und nicht bloß der Gewalt umgehen sollte (s. o. 2. d) cc) [S. 252 ff.]). Diese Werte gehen dem Diskurs logisch voraus, und können nicht von ihm erzeugt werden. (2) Zweitens hat eine Theorie, die auf das Ergebnis eines Diskurses abstellt, also auf etwas, das erst nach Abschluss eines Diskurses vorhanden ist, demjenigen, der gerade dabei ist, am Diskurs teilzunehmen, nichts zu sagen. Wie kann der Diskursteilnehmer den Diskursregeln der Wahrhaftigkeit und des Täuschungsverbots folgen,994 wie kann er kommunikatives und strategisches Handeln voneinander unterscheiden, wenn er weiß, dass es die Wahrheit bzw. die Richtigkeit noch nicht gibt, sondern dass sie erst nachträglich entstehen sollen?995 Die Konsensustheorie der Wahrheit bzw. der Richtigkeit ist deshalb intrinsisch unstabil oder self-defeating: Sie kann nur funktionieren, solange die Diskursteilnehmer von einem anderen, vom Ergebnis des Diskurses unabhängigen Wahrheits- bzw. Richtigkeitsbegriff ausgehen. Sobald alle zu Anhängern der Konsenstheorie werden, kann es schon begrifflich nur noch darum gehen, die anderen zu überreden. bb) Gravierender sind die Schwierigkeiten, die auf Grundlage eines spezifisch strafprozessualen Erkenntnisinteresses deutlich werden. (1) An erster Stelle erscheint die von der Konsenstheorie vorgenommene Identifizierung von Konsens und Wahrheit bzw. Richtigkeit argumentativ unsauber. Dass Konsens nicht das Gleiche bedeuten kann wie Wahrheit oder Richtigkeit wird am deutlichsten daran ersichtlich, dass nach der Feststellung eines gleichgültig welchen idealen Bedingungen auch immer entsprechenden Konsenses noch logischer Raum für die Frage verbleibt, ob der Konsens das Wahre bzw. das Richtige getroffen habe. M. a.W.: Ob der Konsens der Wahrheit oder Gerechtigkeit entspricht, bleibt immer eine offene Frage.996 Deshalb mutet es wie ein dogmatischer Kunstgriff an, wenn Jahn das Gebot der Ermittlung der Wahrheit von Amts wegen (§ 244 Abs. 2 StPO) und das Konsensprinzip im Wege einer Neubestimmung des Wahrheitsbegriffs zu versöhnen versucht. Das normative Gewicht, 993 Art. Kaufmann, ARSP 72 (1986), S. 440; ders. Diskurs, S. 18; Hilgendorf, GA 1993, S. 554 (mit Bezug auf empirisches Wissen). 994 Diese Regeln bei Alexy, Argumentation, S. 234, 236; Habermas, Diskursethik, S. 98. 995 Ähnl. Lien, GA 2006, S. 142. 996 Goldman, Knowledge, S. 11; ähnl. Poscher, ARSP 2003, S. 205; s. a. Lien, GA 2006, S. 140.

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das der Hinweis auf den Konsens hat, scheint völlig unabhängig davon zu sein, ob dieser Konsens auch der Wahrheit bzw. Richtigkeit entspricht, was in umgekehrter Richtung genauso gilt. Es dürfte also angemessener sein, dieser Eigenständigkeit der zwei aufeinander nicht zurückführbaren normativen Erwägungen durch einen entsprechenden Sprachgebrauch Rechnung zu tragen. (2) Der augenfälligste Mangel eines jeden Versuchs, die Diskurstheorie für das Strafverfahren fruchtbar zu machen, ist jedoch die Tatsache, dass sie gar nicht zu ihm passt.997 Die ideale Sprechsituation findet nicht nach Verhängung einer Untersuchungshaft oder nach der Anordnung einer Beschlagnahme statt. Vor allem fängt eine ideale Sprechsituation nicht mit einer qualifizierten Verdächtigung an. Das führt automatisch dazu, dass gerichtliche Verhandlungen nicht einmal im Falle einer vermeintlichen konsensualen Erledigung998 ein freundschaftlicher Diskussionsabend sein können. Die Dimensionen des Übels, die jedem Strafverfahren eigen sind, und die den Ausgangspunkt für die Reflexionen über das Strafverfahren bilden sollen (s. o. B. III.–VII. [S. 119 ff.]), werden vom diskurstheoretischen Ansatz als solche unterschlagen.999 997 Ebenso Schreiber, ZStW 88 (1976), S. 141; ders. Konsens, S. 80 f., 84 f.; Schild, Strafrichter, S. 75; Rieß, FS Schäfer, S. 169 („Utopie“); Volk, Wahrheit, S. 15; MüllerDietz, ZStW 93 (1981), S. 1261; Figueiredo Dias, Reforma, S. 220; Schaper, Verfahren, S. 175; Neumann, Argumentationslehre, S. 85; Art. Kaufmann, ARSP 72 (1986), S. 437; ders. Diskurs, S. 22; Damaska, StV 1988, S. 401; Hassemer, JuS 1989, S. 894; ders. KritV 1990, S. 265: „Es geht in dieser Art von Verfahren nicht um die Herstellung eines Konsenses, sondern um die geregelte Verarbeitung von Dissens“; ders. Einführung, S. 132 ff.; Engländer, Diskurs, S. 155 f.; Stamp, Wahrheit, S. 48 Fn. 151; Wohlers, FS Trechsel, S. 825; Fernandes, Processo penal, S. 149 ff.; Radtke, FS Schreiber, S. 381; Salas, Kritik, S. 26; Weßlau, Konsensprinzip, S. 92; Schünemann, Wetterzeichen, S. 25 Fn. 63; Hauer, Geständnis, S. 210 f.; Fischer, StraFo 2009, S. 186; Malek, StV 2011, S. 560. Naivität kann man indessen den Diskurstheoretikern nicht immer attestieren: schon Rottleuthner war der Ansicht, dass sein ideales Verfahren ohne Asymmetrien gegenwärtig nicht realisierbar sei, KritJ 1970, S. 87 f. Vgl. auch die anfänglichen Bedenken von Habermas, Theorie der Gesellschaft, S. 200 f.; dem frühen Habermas zust. Neumann, Argumentationslehre, S. 85; Art. Kaufmann, Diskurs, S. 21 ff. 998 So aber Grasnick, JZ 1991, S. 291. Vgl. die beeindruckende Beschreibung der dieses Ergebnis vorbereitenden „Annäherungsphase“ bei Salditt, ZStW 115 (2003), S. 570 ff.; ebenso Schünemann, StV 1993, S. 662 f.; Lien, GA 2006, S. 142. 999 In der Diskussion sind eine Reihe weiterer, besserer oder schlechterer Einwände formuliert worden. Ein guter ist, dass es eine Reihe von prozessualen Rechten gebe, die eher diskurswidriges Verhalten gewährleisten, wie das Schweigerecht des Angeklagten, s. Volk, Wahrheit, S. 16; Arthur Kaufmann, Diskurs, S. 23; Neumann, Rechtstheorie 27 (1996), S. 420, 424; Radtke, FS Schreiber, S. 385; Weßlau, Konsensprinzip, S. 93 f., 153 f. („Wo es um strategisches, nicht um kommunikatives Handeln geht, wo das Postulat der Wahrhaftigkeit nicht gilt, findet aber ein Diskurs nicht statt“ [S. 94]); Arzt, FS Eser, S. 693. Auch lasse das Strafverfahren viel Raum für eher strategisches und nicht in erster Linie kommunikatives Verhalten zu, Müller-Dietz, ZStW 93 [1981], S. 1262; Weßlau, aaO. S. 94. Die Replik Jahns, den Verfahrensbeteiligten sei der Einfluss der ihnen zugewiesenen Rolle auf die Kommunikationsbeiträge bewusst, so dass sogar die Lüge des Angeklagten als Beitrag zu einem „rein prozeduralen Wahrheitsbegriff“ angesehen werden könne (GA 2004, S. 284), mutet – unabhängig von der Frage, ob der An-

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c) Auch die bescheidene Berufung auf den volenti-Grundsatz, die auf die fragwürdige Identifizierung von Wahrheit bzw. Richtigkeit und Konsens verzichtet,1000 und dadurch auch dem normativen Gewicht des Konsenses als solchem angemessen Rechnung trägt, vermag nicht zu überzeugen. Im vorliegenden Rahmen kann nicht erwartet werden, dass man vertieft in die damit verbundene uferlose Absprachendiskussion einsteigt.1001 Hier soll vielmehr nach der Leistungsfähigkeit des Konsensprinzips zur Rechtfertigung des Strafverfahrens, also der qualifizierten Verdächtigung dem Beschuldigten gegenüber gefragt werden. aa) Erste Zweifel entstehen schon dadurch, dass Strafverfahren unabhängig von jeglicher Zustimmung des Betroffenen initiiert werden. Dem wird der Konsenstheoretiker – freilich nur mit relativem Erfolg, s. u. S. 273 ff. – entgegnen, sein Konsensprinzip biete keine vollständige Erklärung des Verfahrens, aber durchaus eine partielle. So könne man hierdurch nicht erklären, warum das Verfahren anfange; viele anderen Verfahrensinstitute, von den Absprachen über den Strafbefehl bis hin zu der unter richterlicher Verantwortung erfolgenden Beweisaufnahme fänden aber erst mit einem Hinweis auf den Konsens eine überzeugende Rechtfertigung.1002 bb) Die hiergegen geläufig gerichtete Kritik zweifelt an der Beachtlichkeit des eventuell sogar ausdrücklich geäußerten Konsenses. Dieser sei eigentlich willensmängelbehaftet, weil Entscheidungen innerhalb eines Strafverfahrens immer unter Druck erfolgen würden. Es fehle somit an der Freiwilligkeit des Konsenses, und ein unfreier Konsens binde nicht.1003 Diese mangelnde Freiwilligkeit beruhe erstens darauf, dass zwischen dem Betroffenen und den Strafverfolgungsinstanzen ein großes Machtgefälle bestehe,1004 zweitens darauf, dass sich der Betrofgeklagte lügen darf – befremdlich an. Denn hiernach würden prototypische Instanzen strategischen Verhaltens in Instanzen kommunikativ-diskursiven Verhaltens umdefiniert, sobald alle Teilnehmer gerissen genug sind, dem anderen von vornherein zu misstrauen (krit. auch Lien, GA 2006, S. 145; Stübinger, Das idealisierte Strafrecht, S. 582 ff.). 1000 Was bei Grasnick nicht der Fall ist, bei Weßlau nur teilweise. 1001 Erschöpfende Literaturnachw. bei Roxin/Schüneman, Strafverfahrensrecht, § 17 D (S. 96 f.), § 44 G (S. 362 f.). 1002 So könnte vor allem Weßlau antworten, vgl. o. S. 265. 1003 Bzgl. der Absprachenpraxis bzw. des plea bargaining: Kipnis, Ethics 86 (1976), S. 97 ff.; Langbein, UChLR 46 (1978), S. 13: „Plea bargaining, like torture, is coercive“; Alschuler, CalLR 69 (1981), S. 695 ff.; Schünemann, NJW 1989, S. 1899 f.; ders. FS Fezer, S. 572: Konsens als „Euphemismus“; Tiedemann, ZRP 1992, S. 109; Weigend, ZStW 104 (1992), S. 500; Stuckenberg, Unschuldsvermutung, S. 566 Fn. 240; vorsichtig Weßlau, StraFo 2007, S. 7 („Verführung“); bzgl. § 153a Rudolphi, ZRP 1976, S. 168; Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 224 f.; Frister, Schuldprinzip, S. 96; Stuckenberg, Unschuldsvermutung, S. 565 f.; Hassemer, FS Hamm, S. 178; Salditt, FS E. Müller, S. 618. 1004 Schünemann, NJW 1989, S. 1902; ders. 58. DJT, S. B 48 f., 56, 65; ders. FS Baumann, S. 378; ders. Wetterzeichen, S. 18 (Konsens als „Farce“); Hassemer, JuS 1989, S. 894; ders. FS Hamm, S. 187; Kargl, JBRKSoz 1999, S. 111 f.; Rönnau, Ab-

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1. Teil: Strafprozesstheorie

fene nach der von ihm nicht beeinflussbaren Initiierung des Strafverfahrens immer vor einer Wahl zwischen zwei Übeln gestellt sehe.1005 Mit anderen Worten: Auch dann, wenn die in einem konkreten Verfahren geäußerten Einwilligungserklärungen auf der individuellen Ebene frei zu sein schienen, erfolgten sie innerhalb des Rahmens einer Zwangsstruktur, die sie automatisch unfrei machten. „Katze und Maus (können) nicht fair über die humanste bzw. musanste Tötungsart verhandeln“.1006 Die Verteidiger des Konsensprinzips bieten aber Gegeneinwände an. So argumentiert Lüderssen, dass bereits im Sozialleben überall ein vergleichbarer Zwang vorhanden sei.1007 Es wäre tatsächlich befremdlich, wenn man die Freiwilligkeit des Erwerbs eines Sandwichs deshalb in Zweifel ziehen würde, weil der Erwerber äußerst hungrig war. Ebenso hat sich fast jeder verpflichtet, zu arbeiten, obwohl fast keiner sich dazu verpflichtet hätte, wenn er seinen Lebensunterhalt ohne Arbeit gewährleisten könnte. Dennoch mutet diese Replik etwas zu pauschal an. Die Fälle des Alltags dürften sich in relevanten Hinsichten von einem Strafverfahren unterscheiden: Bei ihnen scheint man über einen größeren Handlungsspielraum zu verfügen (denn man kann regelmäßig selbst bestimmen, ob es ein Sandwich, eine Pizza oder Sushi sein wird, oder ob man den Hunger etwas länger aushält), zweitens beruht das Verfahren nicht auf einer sozio-biologischen Notwendigkeit, sondern auf einer gezielten Handlung eines anderen.1008

sprache, S. 184; Frommel, NK 1991, S. 17; Weigend, ZStW 104 (1992), S. 500; Dubber, Criminal Trial, S. 94 f.; Lien, GA 2006, S. 132; Steinberg, Richterliche Gewalt, S. 161 f., 184 f.; Fischer, FS Kühne, S. 208. 1005 Bzgl. § 153a StPO Dencker, JZ 1973, S. 149; Schmidhäuser, JZ 1973, S. 533 f.; Grünwald, StV 1987, S. 455, der den Vergleich zum Wucher und zu der Chantage zieht; bzgl. der Absprache Duff, Trials and Punishments, S. 141; Rönnau, Absprache, S. 183 ff.; Gössel, FS Meyer-Goßner, S. 199; Schünemann, ZStW 119 (2007), S. 952 f.; Steinberg, Richterliche Gewalt, S. 161, 177; Hassemer, FS Hamm, S. 187. 1006 Schünemann, ZStW 119 (2007), S. 953. 1007 Lüderssen, StV 1990, S. 419; ähnl. ders. FS Hamm, S. 425, 427 – es werde nur um einen „Konsens mittlerer Art und Güte“ gehen, was den Diskurstheoretiker zwar enttäuschen könne, für die demokratische Legitimierung einer Entscheidung aber ausreiche, wobei einige Seiten später vor Verständigungen, die nicht unter Bedingungen der Waffengleichheit entstehen, gewarnt wird und sogar mit dem amerikanischen akkusatorischen Verfahren geliebäugelt wird (S. 432 ff.). Ebenso Scott/Stuntz, YLJ 101 (1995), S. 1919 ff.; Rosenau, FS Puppe, S. 1623 f.; Rothwax, Guilty, S. 157; Theile, NStZ 2012, S. 670. Andere, ökonomisch orientierte Replik bei Easterbrook, JLS 12 (1983), S. 311 ff. Vergleichbar a. Brunk, L&SR 13 (1979), 542 ff.; Wertheimer, Ethics 89 (1979), S. 269 ff.; ders. Philosophy & Public Affairs 3 (1979), S. 219 ff. Letzterer argumentiert (vereinfacht) dass eine verantwortlichkeitsausschließende Nötigung (duress) nicht bloß eine psychische Zwangswirkung voraussetze, sondern auch unrechtmäßig (wrongful) sein müsse; eine Begründung für diese Unrechtmäßigkeit hält er aber für nicht gegeben. Diese Begründung wird u. S. 273 ff. aber geliefert. 1008 Ähnl. Kipnis, Ethics 86 (1976), S. 100; Weigend, ZStW 104 (1992), S. 500 Fn. 57.

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Man könnte sich auch fragen, ob das diagnostizierte Machtgefälle tatsächlich besteht. So spiegelt der Justiznotstand, der vom Großen Senat des Bundesgerichtshofs zur Rechtfertigung der (euphemisierend als Rechtsfortbildung praeter legem bezeichneten, richtigerweise eher offener Gesetzesbruch zu nennenden1009) Anerkennung von Verfahrensabsprachen beschworen wurde,1010 gerade eine Sicht der Dinge wider, nach der die Beschuldigten die Starken und die Justizpersonen die Genötigten seien.1011 Die Rechtsposition der Beschuldigten – die u. a. Aspekte beinhaltet wie ein Schweigerecht, eine Freiheit vom Selbstbezichtigungszwang und ein Beweisantragsrecht – gebe ihnen nicht weniger als die Macht, als Individuen das Leben der Justizpersonen zu erschweren,1012 und als Kollektiv die gesamte Justiz lahmzulegen.1013 Auch dieser Gegeneinwand erscheint zweifelhaft. Dies nicht nur, weil nur die wenigsten Beschuldigten faktisch dazu in der Lage sein werden, sich auf Augenhöhe mit dem Gericht und der Staatsanwaltschaft zu konfrontieren, sondern vor allem – wie schon bei der Kritik der Wettkampfansätze betont, o. 2. d) bb) (S. 246 ff.) – weil die Nachteile, mit denen beide Seiten zu rechnen haben, strukturell unterschiedlich verteilt sind. Wie gesagt, geht es dem Beschuldigten, wie man früher sagte, um seinen Hals. Dagegen stehen weder für den Richter noch

1009 Statt aller Schünemann, FS Rieß, S. 535, 546; Haas, GS Keller, S. 74; Fischer, NStZ 2007, S. 433 Fn. 6, 434. 1010 BGHSt (GrS) 50, 40 (53 f.); ebenso Wolfslast, NStZ 1990, S. 410; Behrendt, GA 1991, S. 344; Meyer-Goßner, NStZ 1992, S. 167; Rudolph, DRiZ 1992, S. 9 f.; B. Schmitt, GA 2001, S. 426; zu Recht krit. sogar zu dieser empirischen Einschätzung Schünemann, FS Pfeiffer, S. 463 ff.; Weigend, Bargain, S. 213; Fischer, NStZ 2007, S. 433 Fn. 5: „Es ist während der letzten 4 Jahrzehnte kein Zeitraum erinnerlich, in welchem sich die Strafjustiz nicht ,am Rand ihrer Belastbarkeit‘ wähnte“; ders. FS Kühne, S. 211; wohl ironisch auch Wagner/Rönnau, GA 1990, S. 392; s. a. Duttge, ZStW 115 (2003), S. 562 f., der zu Recht betont, dass der angebliche Justiznotstand höchstens vorübergehende Notmaßnahmen rechtfertigen könnte. Siehe auch Salditts plausible Hypothese einer „Entlastungsspirale“: Die durch den Konsens ermöglichte Entlastung beseitige Schwierigkeiten, deren Entstehung sie selbst gefördert habe (FS Bemmann, S. 615, 624). In Amerika s. U.S. Supreme Court, Santobello v. New York, 404 U.S. 256, 260 (1971). Zitate der maßgeblichen Passagen sowohl der Entscheidung des BGH als auch des amerikanischen Supreme Court u. Fn. 1030. 1011 Treffend Weßlau, Konsensprinzip, S. 138. Genauso B. Schmitt, GA 2001, S. 418 f.; Rothwax, Guilty, S. 158: „Indeed, it is the state that is coerced into plea bargaining, not the defendant“. Nach Jähnke, ZRP 2001, S. 575 sei die Machtstellung beider Seiten gleich; ebenso der amerikanische Supreme Court in der Grundsatzentscheidung: beide Parteien „arguably posses relative equal bargaining power“ (U.S. Supreme Court, Bodenkircher v. Hayes, 434 U.S. 357, 362 [1978], mit Verweis auf Parker v. North Carolina, 397 U.S. 790, 809 [1970]). 1012 Scott/Stuntz, YLJ 101 (1995), S. 1924. 1013 Schmidt-Hieber, StV 1986, S. 357; Hanack, StV 1987, S. 504; Wolflast, NStZ 1990, S. 410; Hörnle, Rechtstheorie 2004, S. 189. Siehe auch Weßlau, Konsensprinzip, S. 138 f., die sich über diesen Einwand Gedanken macht, ihn aber letztlich relativiert: Der Beschuldigte sei „in den meisten Fällen . . . relativ schwach“.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

für den Staatsanwalt vergleichbare individuelle Belange auf dem Spiel.1014 Die Nachteile, die ein ununterbrochen Beweisanträge stellender Beschuldigter verursachen kann, äußern sich eher auf der Makro- als auf der Mikroebene. Die Justiz bleibt als System überlastet, die einzelnen Richter und Staatsanwälte müssen regelmäßig aber nicht mehr Stunden am Tag arbeiten als zuvor. Im Jahr werden weniger Verfahren erledigt, nicht notwendig mehr Stunden gearbeitet. Und selbst dort, wo dies der Fall ist, oder wo der Richter einen indirekten Druck spürt, nicht geringere Quantitäten zu erledigen als die dealenden Kollegen, lassen sich einige und auch viele Stunden Arbeit oder eine verzögerte Beförderung nicht mit einigen Jahren im Gefängnis vergleichen. Der berüchtigte Satz, „der Beschuldigte nimmt mir meine Zeit, dafür nehme ich ihm seine“,1015 erregt auch deshalb Anstoß, weil er zwei völlig unterschiedliche Größen leichtfertig als kommensurabel behandelt.1016 Obwohl die zwei wohl wichtigsten gegen die Unfreiwilligkeitsthese gerichteten Einwände damit entkräftet sein dürften, zögere ich, mich dieser These anzuschließen. Denn konsequent führt sie dazu, dass alle innerhalb eines Verfahrens getroffenen Verzichtsentscheidungen des Beschuldigten als willensmängelbehaftet angesehen werden müssten.1017 So wäre sogar die Entscheidung, einen Beweisantrag zurückzunehmen oder nicht einmal zu erheben, oder die Entscheidung, auf Rechtsmittel zu verzichten,1018 als unbeachtlich anzusehen, was auch nicht richtig sein kann. Der Freiwilligkeitseinwand kann deshalb nicht richtig sein, weil er weit über das Ziel hinausschießt. Die Argumente, auf denen er beruht, sind aber durch die angeführte reductio ad absurdum nicht widerlegt worden. Dies deutet darauf hin, 1014 Übereinstimmend McGregor, PAQ 6 (1992), S. 394; Steinberg, Richterliche Gewalt, S. 185. Dies verkennt Church Jr., L&SR 13 (1979), S. 509 ff., dessen Hauptargument es ist, dass man aus dem Hinweis auf Machtunterschiede nicht das Gebot ableiten sollte, das plea bargaining abzuschaffen, sondern vielmehr das Gebot, diese Unterschiede zu beseitigen. Die Unterschiede sind aber, wie gesagt, nicht kontingent, sondern in der Sache selbst angelegt: Solange der „verlierende“ Staatsanwalt nicht ins Gefängnis muss, wird im Strafverfahren immer der Beschuldigte der Schwächere sein, einfach weil er derjenige ist, der mehr zu verlieren hat. Dies ist erst recht der Fall, wenn der Verhandlungspartner der mit der Entscheidung betraute Richter ist. 1015 Vgl. Schünemann, 58. DJT S. B 113. 1016 Das wird deutlich an folgender beiläufiger Bemerkung von Scott/Stuntz, YLJ 101 (1995), S. 935: „Criminal trials are costly for defendant, and even more so for prosecutors“. Auf Deutschland bezogen würde man nicht nur die Staatsanwälte, sondern vor allem die Richter miterwähnen müssen. 1017 Ebenso Weßlau, Konsensprinzip, S. 232 ff.; ähnl. bereits Schmidt-Hieber, StV 1986, S. 355. 1018 Man denke auch an das Einverständnis zu der Nichterstreckung der Beweisaufnahme auf präsente Beweismittel (§ 245 Abs. 1 S. 2 StPO), zu der Nachtragsanklage (§ 266 Abs. 1 StPO), zu der Verlesung bestimmter Urkunden, insb. Vernehmungsprotolle (§ 251 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 3 StPO), zu der Rücknahme eines Rechtsmittels (§ 303 StPO). Für weitere Vorschriften s. Tscherwinka, Absprachen, S. 51 ff.

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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dass man sich über eine differenzierende Lösung Gedanken machen sollte, eine Aufgabe, die monografischer Behandlung würdig ist, und die nicht en passant gelöst werden kann.1019 Deshalb werde ich mich einer definitiven Stellungnahme enthalten. Die im Anschluss zu entwickelnde Kritik am Konsensprinzip wird vom Freiwilligkeitseinwand logisch unabhängig sein. cc) Der entscheidende Mangel des Konsensprinzips ist vielmehr, dass er gerade dort scheitert, wo er weiter zu helfen verspricht. Denn selbst wenn man zugibt, den Anfang des Prozesses nicht durch den Konsens des Betroffenen rechtfertigen zu können, beansprucht das Konsensprinzip durchaus, das Ergebnis des Verfahrens wenigstens teilweise zu rechtfertigen. Der Konsens tritt insofern mit dem Anspruch auf, die Majestät der materiellen Wahrheit zu bestreiten. „Unsere Prozeßrechtsdoktrin neigt dazu, die Wahrheit als den Garanten der Gerechtigkeit zu überschätzen“.1020 Eine Entscheidung könne demnach auch deshalb als gerecht anerkannt werden, weil der Betroffene mit ihr einverstanden ist. Dem ist aber – so unmodern wie es sich anhören mag – entschieden zu widersprechen. Der Konsens führt vielmehr zu einem unentrinnbaren Dilemma. (1) Denn entweder ist der Betroffene nicht der „Richtige“, weil er die Tat, die Gegenstand des Vorwurfs ist, nicht begangen hat. Dann vermag sein Konsens auch keine Strafe zu legitimieren, solange man an einem Schuldprinzip festhält. „Den Unschuldigen, auch wenn er einwilligte, kann und darf keine Strafe treffen“.1021 Dem volenti non fit iniuria ist die nicht weniger traditionelle Maxime des nemo auditur perire volens entgegen zu stellen. Dies lässt sich auf zwei Wegen verdeutlichen, einem eher intuitiven, der sich auf spontane rechtsmoralische Anschauungen beruft, und einem eher theoretischen, der vom Begriff der Strafe ausgeht. Intuitiv dürfte es einsichtig sein, dass auch dann, wenn sich ein Unschuldiger mit seiner Bestrafung aus welchen Gründen auch immer für einverstanden 1019 Eventuell könnte die Unterscheidung zwischen gesetzesvertretender und eingriffsmildernder Einwilligung weiterführend sein (grdl. Amelung, Einwilligung, S. 105 ff.; s. a. ders. ZStW 95 [1983], S. 10 ff.; ders. Zulässigkeit und Freiwilligkeit der Einwilligung, S. 21 ff.), deren zentraler Gedanke es ist, dass eingriffsmildernde Einwilligungen zulässig sind, wenn die Zufügung des im Falle der Einwilligung einschlägigen Übels bereits für sich genommen legitim wäre. Eine Stellungnahme will ich aber nicht wagen. Ich registriere nur, dass Weigend, Freiwilligkeit, S. 152 eben diese Gedanken auf die Frage der Freiwilligkeit von Einwilligungsentscheidungen im Strafverfahren überträgt und daraus ein Ergebnis ableitet, das unserem (u. S. 280 f.) genau entspricht: dass die Ablehnung der Einwilligung nicht als Strafschärfungsgrund berücksichtigt werden darf. S. a. Hauer, Geständnis, S. 274, 281, die auf dieser Grundlage eine Strafmilderung für ein Geständnis als Eingriff in die Selbstbelastungsfreiheit qualifiziert, diese Freiheit aber nicht als abwägungsfest konzipiert (S. 282 ff.); Frister, Schuldprinzip, S. 96 f., der sich der Amelung’schen Unterscheidung bedient, und zum Ergebnis der Illegitimität von § 153a StPO wegen Verletzung der Unschuldsvermutung kommt. Auf anderer Grundlage, aber trotzdem aufschlussreich Brunk, L&SR13 (1979), S. 546 ff. 1020 Volk, FS Salger, S. 417; ähnl. Lüderssen, StV 1990, S. 416. 1021 Zachariä, Gebrechen, S. 26; ebenso Leue, Anklage-Prozeß, S. 21; Köstlin, Wendepunkt, S. 21.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

erklären sollte, eine solche Strafe Unrecht wäre. Das moralische Auge scheint dieses Unrecht sogar verorten zu können: Denn man kann quasi sehen, dass das Unrecht der konsentierten Bestrafung eines Unschuldigen trotz der Zustimmung nicht nur dem Staat oder der Gesellschaft geschieht,1022 sondern vor allem dem Bestraften selbst. Der volenti-Grundsatz lässt sich also nicht ohne Weiteres auf die Strafe anwenden. Diese Intuitionen sind zudem theoretisch begründbar und begründet. Denn – ohne die u. Teil 2 Kap. 3 C. (S. 640 ff.) näher zu diskutierenden Einzelheiten zum Begriff der Strafe vorwegzunehmen – Strafe bezieht sich immer auf ein Fehlverhalten. Strafe verkörpert immer die Erklärung, der Bestrafte habe sich falsch verhalten. Eine Strafe, die nicht auf einem wirklichen Fehlverhalten beruht, ist deshalb eine illegitime Strafe.1023 Ebenso wenig wie eine Universität jemanden, der bekanntermaßen seine Doktorarbeit nicht selbst geschrieben hat, zum Doktor erklären darf, nur weil alle damit einverstanden sind, kann man einen, der die Tat nicht begangen hat, nur deshalb strafen, weil alle mit der Strafe einverstanden sind.1024 Strafen wie Belohnungen sind nur gerechtfertigt, wenn sie verdient sind. Verdient werden sie durch schlechte oder gute Leistungen, nicht bloß durch Zustimmung. (2) Oder der Betroffene, der sein Einverständnis erklärt, ist doch der „Richtige“ – was man von den meisten Beschuldigten insgeheim wohl annimmt.1025 1022 So aber Weigend, FS Rissing-van Saan, S. 752: ein solches Urteil werde „als Mittel sozialer Gestaltung . . . nicht ernst genommen“ und könne keine „soziale Anerkennung erwarten“; ebenso Hauer, Geständnis, S. 317 f., die sich auf Rechtsgüterschutz und Generalprävention beruft (und noch schreibt, „dass der Schutz der Aussage- und Selbstbelastungsfreiheit nicht nur ein Gebot der Menschenwürde und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, sondern auch der Wahrheitsfindung im Interesse eines generalpräventiv wirksamen Strafens ist“ – kursiv von mir). Nach Hörnle, Rechtstheorie 2004, S. 187 geschieht bei bewusster Fälschung der Tatsachengrundlagen den Opfern Unrecht, weil ihnen zumindest bei schweren Delikten ein Recht auf zutreffende Festellung dessen, was ihnen geschehen sei, zustünde (ähnl. McConville, FS Waltos, S. 527). Dies setzt aber die starke These eines Rechts des Opfers auf Bestrafung (oder wenigstens Schuldigsprechung) des Täters voraus (insb. Hörnle, JZ 2006, S. 954 ff.; Weigend, RW 1 [2010], S. 51 f.), deren Richtigkeit hier aber nicht geprüft werden kann. 1023 Man kann sinnvollerweise von ungerechtfertigten Strafen sprechen – zwischen Begriff und Rechtfertigungsvoraussetzungen der Strafe ist daher streng zu trennen, vgl. ausf. Greco, Lebendiges, S. 275 ff., 278 m.w. Nachw. insb. in Fn. 323 und u. Teil 2 Kap. 3 III. (S. 643 f.). 1024 Sehr ähnl. Kipnis, Ethics 86 (1976), S. 104 f., der das Beispiel eines „grade bargaining“ in Schulen und Universitäten zeichnet: Studenten würden auf ihr Recht verzichten, dass ihre Klausuren sorgfältig gelesen und korrigiert werden, und als Gegenleistung Notenverbesserungen bekommen; dies würde die Dozenten entlasten und die Zufriedenheit aller Beteiligten erhöhen. Siehe auch H. Mayer, GS 99 (1930), S. 52; ders. GS 104 (1934), S. 322, der aber von der Vergeltungstheorie ausgeht und Begriff und Rechtfertigungsvoraussetzungen der Strafe nicht genau unterscheidet. 1025 Man merke, diese Annahme ist aus empirischer Perspektive nicht völlig irrational. Verdachtsgründe sind gegeben, nach einigen Rechtsordnungen (wie der deutschen) müssen regelmäßig sogar zwei Staatspersonen, die zur Objektivität verpflichtet sind, die überwiegende Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung gewissenhaft geprüft und bejaht

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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Dann scheint man gegen seine Bestrafung keine vergleichbaren Vorbehalte erheben zu können.1026 Vor allem geschieht ihm wenigstens im Ergebnis, also durch die Bestrafung, kein Unrecht.1027 Man könnte sich fragen, ob nicht der Gesellschaft Unrecht geschieht.1028 Die Gesellschaft bestraft den Schuldigen aber nicht in Ausführung eines Gebotes vergeltender Gerechtigkeit, sondern um der Prävention willen.1029 Diese Prävention verbraucht indes Ressourcen, die von vornherein begrenzt sind, und die es unmöglich gestatten, alle Schuldigen zu bestrafen. haben (§ 170 Abs. 1, § 203 StPO). „Der Strafrichter weiß aus beruflicher Erfahrung, daß unter 10 Angeklagten mindestens 9 schuldig sind“ (Grünhut, FS v. Weber, S. 360). Das ist auch gut so: Denn in einer Gesellschaft, in der Unschuldige leicht ins Visier der Strafverfolgung geraten, möchte man auch nicht leben (Dershowitz, Reasonable Doubts, S. 179). Gerade hierin zeigt sich die Bedeutsamkeit der Unschuldsvermutung: als normatives Verbot der Ziehung derartiger, an sich rationaler empirischer Schlussfolgerungen, als Verbot einer an sich nicht unvernünftigen Generalisierung, die es sich aber nicht leisten darf, im Einzelfall falsch zu liegen (grdl. Krauß, Unschuldsvermutung, S. 157 f.; s. a. Trechsel, SchwJZ 1981, S. 318 f.; zu ihr auch u. 6. d) [S. 316]). Daher wird nicht zu Unrecht die Unvereinbarkeit der Absprachenpraxis mit der Unschuldsvermutung moniert (so insb. Schünemann, 58. DJT, S. B 95 ff.; ders. StV 1993, S. 658; ferner Dencker/Hamm, Vergleich, S. 53; Hassemer, JuS 1989, S. 892; Nestler-Tremel, KritJ 1989, S. 453; Rönnau, Absprache, S. 174 ff.; Kühne, LR-StPO Einl. G Rn. 59 f.; wohl auch Stuckenberg, Unschuldsvermutung, S. 566 Fn. 240). 1026 Daraus leiten McCoy/Mirra, StLR 32 (1980), S. 925 f. ihre Legitimation des plea bargaining ab: Die vom plea bargaining bewirkte Verringerung der Genauigkeit der Prozessergebnisse benachteilige ihres Erachtens überwiegend Schuldige, die ihrerseits kein schutzwürdiges Interesse auf ein wahrheitsgemäßes Urteil haben soll, da ein solches Recht allein Unschuldigen zustehe (S. 916). Es sei deshalb zulässig, dieses Interesse aufzuopfern, um dadurch die Strafrechtspflege funktionsfähig zu halten (S. 917 ff.). Die These, Schuldige seien keine Träger von Verfahrensrechten, wurde bereits o. 2. d) cc) (S. 258 f.) kritisch besprochen. 1027 Auch gegen die Regeln der Verfahrensgerechtigkeit im o. 2. d) cc) (S. 252 ff.) entwickelten Sinne wird nicht verstoßen, solange – grob gesagt – Kommunikation und nicht Gewalt die Konsenserklärung prägt. Hierin liegt auch eine teilweise Erklärung dafür, dass Absprachen gerade bei Verteidigern freundliche Aufnahme gefunden haben, vgl. o. Fn. 955 und die Daten bei Schünemann, FS Pfeiffer, S. 483 (man beachte aber die mutigen Stellungnahmen des DAV, StraFo 2006, S. 89 ff.; Stellungnahme Nr. 46/ 2006; und zuletzt Stellungnahme Nr. 58/2012 [zur gegen das Verständigungsgesetz geführten Verfassungsbeschwerde]). Freilich nicht der einzige Grund: Die Rolle reiner berufskorporatistischer Gesichtspunkte der Arbeitserleichterung und der Erhöhung der Einsatzmöglichkeiten dürfen nicht unterschätzt werden (Schünemann, NJW 1989, S. 1900 f.; Nestler-Tremel, KritJ 1989, S. 450, 454: „Für diesen Typ der Verteidigung, der dem Mandanten zunächst engagiert alles Geld abknöpft und dann wenig Arbeit haben will, wird die ,dealende‘ Justiz zur Goldgrube“). 1028 So Schünemann, FS Rieß, S. 533; ders. FS Fezer, S. 567: die zum Rechtsgüterschutz generalpräventiv erforderliche Strafe werde nicht verhängt. Ebenso McGregor, PAQ 6 (1992), S. 388; Bottke, Verfahrensgerechtigkeit, S. 54; Lien, GA 2006, S. 137 ff.; Murmann, ZIS 2009, S. 532; und Weigend, HJLPP 26 (2003), S. 172 f., der meint, dass ein Verfahren, das auf Wahrheit verzichtet, seine Zuverlässigkeit einbüßt. Hauer, Geständnis, S. 221, 311, betont einerseits die generalpräventive Fragwürdigkeit einer zu milden Bestrafung, andererseits die Tatsache, dass die Strafrechtspflege auf eine hohe Geständnisquote angewiesen ist. 1029 Vgl. bereits o. 2. b) (S. 238 f.), m. Nachw.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

Wenn sich eine Gesellschaft also entscheidet, die Ressourcen anders zu verteilen, so dass weniger Schuldige ihre verdiente Strafe bekommen, stattdessen aber mehr Schuldige überhaupt eine Strafe abbüßen können,1030 ist das eine präventiv gut begründete Entscheidung, so dass die Gesellschaft auch nicht benachteiligt ist, vielmehr sogar Vorteile davon hat. Das Problem liegt an anderer Stelle.1031 Weder dem Schuldigen, der in die Strafe einwilligt, noch der Gesellschaft, die als Gegenleistung auf einen Teil der 1030 So ausdrücklich der frühe Schünemann, FS Pfeiffer, S. 483; Wolfslast, NStZ 1990, S. 413; Scott/Stuntz, YLJ 101 (1992), S. 1915; Easterbrook, YLJ 101 (1992), S. 1975; sehr nahestehend die Argumentation ökonomisch orientierter Autoren, etwa Easterbrook, JLS 12 (1983), S. 292 ff., 308 ff.; Posner, Economic Analysis of Law, S. 607 ff.; deskriptiv Dencker/Hamm, Vergleich, S. 57 f. In diesem Licht lassen sich auch maßgebliche Passage der Entscheidung des Großen Senats des BGH über die Urteilsabsprachen deuten (BGHSt 50, 40, 53 f.): „Der Rechtsstaat kann sich nur verwirklichen, wenn sichergestellt ist, daß Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden (. . .). Diesen Anforderungen könnten die Organe der Strafrechtsjustiz unter den gegebenen – rechtlichen wie tatsächlichen – Bedingungen der Strafrechtspflege ohne die Zulassung von Urteilsabsprachen durch richterrechtliche Rechtsfortbildung nicht mehr gerecht werden. Vor allem mit Blick auf die knappen Ressourcen der Justiz (. . .) könnte die Funktionstüchtigkeit der Strafjustiz nicht gewährleistet werden, wenn es den Gerichten generell untersagt wäre, sich über den Inhalt des zu verkündenden Urteils mit den Beteiligten abzusprechen.“ – Ebenso der amerikanische Supreme Court: „plea bargaining . . . is to be encouraged. If every criminal charge were subjected to a full-scale trial, the States and the Federal Government would need to multiply by many times the number of judges and court facilities.“ (U.S. Supreme Court, Santobello v. New York, 404 U.S. 256, 260 [1971]). Für eine Verfeinerung dieses Arguments McCoy/Mirra (s. o. Fn. 1026). 1031 Auf Grundlage der in meiner früheren Arbeit vertreten Gedanken (Greco, Lebendiges, S. 263 ff.) müsste ich insbesondere die Unverträglichkeit der Absprachenpraxis mit einem streng verstandenen Gesetzlichkeitsprinzip annehmen, denn Absprachen stellen die Geltung des materiellen Rechts letztlich zur Disposition der Verfahrensbeteiligten. Mir ist bewusst, dass ich gerade bei diesem Aspekt meiner Gedanken am wenigsten damit rechnen kann, auf Zustimmung zu stoßen (abl. Hörnle, RW 2010, S. 431); die im Text entwickelte Kritik ist aber zugegeben nicht völlig unabhängig von ihm. Ein ähnliches Argument taucht bei denjenigen auf, die in den Absprachen eine Verletzung des Legalitätsprinzips erblicken: Hassemer, JuS 1989, S. 892; Nestler-Tremel, KritJ 1989, S. 451; Rönnau, Absprache, S. 121 f.; wohl auch Steinberg, Richterliche Gewalt, S. 178 f. Eine Reihe weiterer, zum großen Teil auch berechtigter Einwände sind in der Diskussion geltend gemacht worden. So bestreitet man die Vereinbarkeit der Absprachen mit der Unschuldsvermutung (Nachw. o. Fn. 1025); mit der materiellen Wahrheit bzw. mit dem Amtsermittlungsgrundsatz (Eb. Schmidt, MDR 1967, S. 879; Jescheck, JZ 1970, S. 204; Hassemer, JuS 1989, S. 892; Nestler-Tremel, KritJ 1989, S. 452; Rönnau, Absprache, S. 145 ff.; Schünemann, FS Baumann, S. 372; ders. StV 1993, S. 658; J. Meyer, ZStW 119 [2007], S. 638 f.; Fischer, StraFo 2009, S. 181; Steinberg, Richterliche Gewalt, S. 179; Radtke, Konzeptionen, S. 142 f.); mit dem Schuldprinzip (Fischer, StraFo 2009, S. 182; Steinberg, Richterliche Gewalt, S. 180); mit dem Öffentlichkeitsgrundsatz (Nestler-Tremel, KritJ 1989, S. 451 f.; Langbein, HJLPP 15 [1992], S. 124; Rönnau, Absprache, S. 161 ff.; Schünemann, Wetterzeichen, S. 19 f.; ders. GA 2008, S. 318; Schünemann/Hauer, AnwBl 2006, S. 442; Murmann, ZIS 2009, S. 533; vorsichtig Wolfslast, NStZ 1990, S. 414; zu § 153a Schmidhäuser, JZ 1973, S. 535 [„Tuschelverfahren“]; and. Hanack, StV 1987, S. 503); mit den Prinzipien der Unmittelbarkeit

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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verdienten Strafe verzichtet, geschieht Unrecht. Problematisch ist also nicht der Vertrag zwischen Schuldigem und Gesellschaft, sondern die „Geschäftsgrundlage“ dieses Vertrags: Nämlich dass sowohl die Einwilligung des Schuldigen als auch der teilweise Strafverzicht durch die Gesellschaft nur deshalb einen Sinn haben, weil und solange es andere gibt, die auf die Wahrnehmung ihrer Prozessrechte bestehen können und dafür härter bestraft werden als der, der auf sie verzichtet. Mit anderen Worten: Das für alle Beteiligte vorteilhafte Ergebnis ergeht auf Rechnung aller derjenigen, die darauf bestehen, ihre Rechte auszuüben.1032 Das Konsensprinzip führt somit zu einer Entwertung der Rechtsposition aller Beschuldigten, weil es – nach der gebotenen pessimistischen und entgegen der herrschenden euphemisierenden Beschreibung1033 – nicht nur die Konsentierenden bevorzugt, sondern alle Nicht-Konsentierenden benachteiligt. Noch präziser: weil und Mündlichkeit des Verfahrens bzw. mit der in der StPO vorgegebenen Prozessstruktur (Rönnau, Absprache, S. 155 ff., 161; Schünemann, FS Baumann, S. 372; ders. ZStW 119 [2007], S. 954; Fischer, StraFo 2009, S. 185 f.); mit der Subjektstellung des Beschuldigten bzw. mit dem rechtlichen Gehör, weil die professionellen Prozessbeteiligten (Richter, Staatsanwalt, Verteidiger) regelmäßig allein unter sich über die Absprache entscheiden (Alschuler, YLJ 101 [1992], S. 1988 ff.; Nestler-Tremel, KritJ 1989, S. 451 f.; Schünemann, NJW 1989, S. 1901; ders. FS Baumann, S. 374 f.; ders. StV 1993, S. 663; ders. FS Rieß, S. 533 f. [„Interessensidentität der Gerichtssaalelite“; ebenso ders. Warnung vor Holzwegen, S. 276]; Bottke, Verfahrensgerechtigkeit, S. 54; Rönnau, Absprache, S. 202 f.; Steinberg, Richterliche Gewalt, S. 185; davor schon Schmidhäuser, JZ 1973, S. 533); mit dem nemo tenetur-Grundsatz (Dencker/Hamm, Vergleich, S. 54; Hassemer, JuS 1989, S. 892; Nestler-Tremel, KritJ 1989, S. 453; Langbein, HJLPP 15 [1992], S. 124; Rönnau, Absprache, S. 180 ff.; Schlüchter, Wert der Form, S. 223); mit § 136a StPO (Schünemann, 58. DJT, S. B 100 ff., B 106, 110; ders. FS Baumann, S. 372; Rönnau, Absprache, S. 182 ff.; Hauer, Geständnis, S. 319 ff., 340); mit dem Gleichbehandlungsgebot (bzgl. § 153a StPO Hanack, FS Gallas, S. 347 f.; Schmidhäuser, JZ 1973, S. 535, 536: „Wenn sich auch nur in einem begrenzten Bereich der Handel im staatlichen Strafen breit macht, so wird die strenge Bestrafung an anderer Stelle unehrlich“; bzgl. der Absprachen Hassemer, JuS 1989, S. 892; Rönnau, Absprache, S. 206; ähnl. diejenigen, die den Vorwurf der Klassenjustiz aussprechen: Gössel, FS Meyer-Goßner, S. 194; Fischer, StraFo 2009, S. 182; Achenbach, StraFo 2011, S. 427, der aber – inkonsequent – für eine Ersetzung des Legalitäts- durch das Opportunitätsprinzip eintritt [S. 428 f.]; bereits Hanack, FS Gallas, S. 349, 358 ff.; Schmidhäuser, JZ 1973, S. 535, 536). Es ist bemerkenswert, dass die Verfassungsgerichtsentscheidung zu diesen teilweise durchaus verfassungsbezogenen Einwänden kaum ein Wort enthält (BVerfG NJW 2013, 1058 [1061 ff., Rn. 64 ff.]). 1032 Damaska, StV 1988, S. 400; Nestler-Tremel, KritJ 1989, S. 453; Schünemann, NJW 1989, S. 1901 f.; ders. FS Fezer, S. 567. In der Sprache der Ökonomie: Es entsteht eine sog. Externalität (ebenso Lien, GA 2006, S. 138 f.; freilich meint er, dass die Gesellschaft, und nicht die anderen Beschuldigten den Schaden trägt). Wolfslast, NStZ 1990, S. 416 sieht ihrerseits dieses Problem, meint dennoch, die Absprachen seien trotzdem billigenswert. Gerade dieser Gesichtspunkt kommt im Vertragsmodell von Scott/ Stuntz, YLJ 101 (1992), (s. o. S. 265), zu kurz, die meinen, dass die Parteien die große Mehrheit der Vorteile und Kosten internalisieren (S. 1916 f.), und vorschlagen, den Druck, der auf Unschuldige ausgeübt wird, durch bestimmte Kautelen abzuschwächen (S. 1952 ff.). 1033 Auch eine Instanz des o. Teil 1 Kap. 2 B. I. (S. 119) angesprochenen „methodischen Pessimismus“ (erstmals Greco, Lebendiges, S. 287 ff.).

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1. Teil: Strafprozesstheorie

es die Konsentierenden gerade auf Kosten der Nicht-Konsentierenden bevorzugt, dadurch dass es für ein prozessuales Verhalten eine materiellrechtliche Schärfung in Aussicht stellt. Ein Konsensprinzip stellt deshalb nichts anderes dar als eine subtile Neubelebung der berüchtigten Ungehorsamsstrafen.1034 Man ist aber wohl zu empfindlich geworden, die Dinge beim Namen zu nennen. Die Milde gegenüber dem konsentierenden Schuldigen ist also nicht das Problem. Vielmehr ist es die Kehr- und Schattenseite dieser Milde, also die Härte gegenüber den nicht konsentierenden Schuldigen, die sich nicht rechtfertigen lässt. Versucht man aber, diese Ungerechtigkeit zu beseitigen, dann müsste man allen unterschiedslos Milde zugutekommen lassen. Damit würde aber dem Geschäft mit der Absprache jede Grundlage entzogen, da die Gesellschaft dem Schuldigen für seinen Konsens keinen Vorteil mehr anbieten könnte. Absprachen sind somit nur solange denkbar, wie es auch Personen gibt, die sich ihrer nicht bedienen und deshalb dafür härter bestraft werden. Die ganze Existenz dieses Instituts beruht auf der härteren Bestrafung desjenigen, der darauf besteht, seine prozessualen Rechte wahrzunehmen. Prozessuale Rechte werden damit pervertiert, weil das wenige, was sie ihrem Träger prozessual bringen, diesem durch die schärfere Strafe materiellrechtlich wieder weggenommen wird. dd) Gegen dieses Ergebnis ließe sich ein Gegeneinwand formulieren. Die bisher entwickelte Kritik richte ihren Blick auf diejenigen, die nicht gestehen wollen, und die deshalb härter bestraft werden. Damit blende sie aber die genauso relevante Perspektive desjenigen aus, der gestehen möchte. Könne man diesem einen Anspruch auf eine mildere Strafe deshalb absprechen, damit andere nicht unter dem Druck leiden, ihre Taten zu gestehen?1035 Dieser Gegeneinwand ist gewichtig. Vor allem verweist er auf einen zentralen Punkt, dem aber in der Diskussion nicht die Beachtung geschenkt wird, die er eigentlich verdient: dass Prozessabsprachen formell oder informell zulässig sein werden, solange man Geständnisse und sonstiges kooperatives Prozessverhalten mit Strafmilderungen zu belohnen bereit ist.1036 Eine abschließende Stellungnahme zum Konsensprinzip im Strafverfahren kann deshalb erst von der Strafzumessungslehre her kommen, denn dieser gebührt es, zu bestimmen, ob und inwiefern der Konsens strafmildernd berücksichtigt werden darf. Die Klärung 1034 Insofern haben diejenigen recht, die in der Anerkennung von Absprachen eine Rückkehr zum Inquisitionsprozess sehen, der durch die RStPO endgültig überwunden sein sollte (Schünemann, NJW 1989, S. 1901 f.; ders. FS Baumann, S. 373, 377; ders. FS Rieß, S. 541; Harms, FS Nehm, S. 297; ähnlich J. Meyer, ZStW 119 [2007], S. 638 f., der meint, die Fixierung der Absprache auf Geständnis und Akteninhalt verkörpere eine Wiederbelebung der gesetzlichen Beweistheorie). 1035 Weßlau, KJ 1993, S. 467; Verrel, Selbstbelastungsfreiheit, S. 103; Hauer, Geständnis, S. 304. 1036 Dencker, ZStW 102 (1990), S. 78; Weigend, NStZ 1999, S. 63.

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dieser Frage sprengt deshalb den bereits sehr breiten Rahmen der vorliegenden Untersuchung. Hier wird meine eigene Antwort bloß thesenartig skizziert werden können, um zu belegen, dass die bisher gewonnenen Ergebnisse nicht von diesem Einwand zertrümmert werden. Auf Grundlage der richtigen Strafzumessungstheorie wird man dem Konsens keine strafmildernde Wirkung zuzuerkennen vermögen. Die richtige Strafzumessungstheorie ist die Lehre von der sog. Tatproportionalität, verstanden als Theorie, die die Höhe der Strafe allein als Funktion der Schwere der Tat,1037 konkreter: ihres Unrechts- und Schuldgehalts bestimmt.1038 Diese Theorie ist deshalb richtig, weil nur sie den Anforderungen eines strengen Gesetzlichkeitsprinzips genügt.1039 Ein Geständnis wirkt sich weder unrecht-, noch schuldmindernd aus, weshalb es auch keine Strafmilderung zur Folge haben kann.1040 Es ist nicht ersichtlich, wie die Tatschuld von Entschlüssen beeinflusst werden kann, die erst nach der Tat gefasst werden. Das Geständnis dürfte höchstens als Indiz für geringere Einzeltatschuld angesehen werden; dies wird aber, wie mehrmals betont,1041 niemals bei einem durch das Versprechen einer Strafmilderung motivierten Geständnis der Fall sein, sondern allein bei einem Geständnis, das den Geständigen materiellrechtlich nicht besser stellt. Aus dieser Erwägung folgt, dass eine Strafmilderung erst dort am Platze ist, wo das Geständnis sogar dem auf den Täter bezogenen Anfangsverdacht zuvorkommt.

1037 v. Hirsch/Jareborg, Strafmaß und Strafgerechtigkeit, S. 9; v. Hirsch, Begründung, S. 66; Duff, Tatproportionalität, S. 23. 1038 Genauso Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung, S. 143 ff.; dies. Kriterien, S. 104 ff.; Peralta, Doxa 31 (2008), S. 614 ff.; ähnl. Schünemann, Theorie der Strafzumessung, S. 225 f. 1039 Greco, Lebendiges, S. 442 Fn. 990. Die Vertreter der Tatproportionalitätslehre bieten regelmäßig eine andere Begründung, s. Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung, S. 135 ff.; v. Hirsch/Jareborg, Strafmaß und Strafgerechtigkeit, S. 12 ff.; Duff, Tatproportionalität, S. 24 ff.; Peralta, Doxa 31 (2008), S. 610 ff. 1040 Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung, S. 182; Reichert, Strafzumessungsrichtlinien, S. 290 f.; i. Erg. a. Fischer, FS Kühne, S. 208. Anders versucht Hauer, dem Geständnis von der Grundlage der Tatproportionalitätstheorie aus dadurch strafmildernde Wirkung zuzuerkennen, dass sie in ihm „eine dem Unrecht entgegen zu setzende positive Leistung des Täters“ erblickt (Geständnis, S. 167). Implizit heißt das, dass das Unrecht losgelöst vom jeweils betroffenen Rechtsgut, d.h. als allgemeine Normverletzung bzw. Rechtsfriedensstörung gedeutet wird. Dem ist nicht zu folgen. Nicht nur ist die vorgenommene Vergeistigung des Unrechts und seines Gehalts für sich genommen fragwürdig; ein Konzept von Unrecht als Rechtsfriedensstörung bedeutet letztlich, dass der Grund, weshalb das Recht einen Totschlag verbietet, nicht das Leben des Opfers ist, sondern das Interesse anderer, sich nicht verunsichert zu fühlen. Zweitens verwässert eine solche Auffassung den Gedanken der Tatproportionalität bis zur Unerkenntlichkeit; die Tat ist nicht mehr das tatbestandsmäßig, rechtswidrig schuldhafte Verhalten, sondern das rechtsfriedensstörende Ereignis; einen Unterschied zur schlicht (positiv-)generalpräventiv orientierten Strafzumessung gibt es nicht mehr. 1041 Statt aller Schünemann, 58. DJT, S. B 112; s. a. Murmann, ZIS 2010, S. 533: dies sei „bis zur Peinlichkeit trivial“.

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(3) Ein Vorteil des hier formulierten Arguments im Vergleich zum Einwand der mangelnden Freiwilligkeit ist, dass es nicht der obigen reductio ad absurdum erliegt (o. S. 272). Denn es führt nicht dazu, jede Verfügung des Beschuldigten im Strafverfahren für unfreiwillig zu erklären, sondern lenkt vielmehr ohne Umwege zu der gebotenen Differenzierung. Diese muss nämlich darin bestehen, dass aus der Wahrnehmung prozessualer Rechte nur prozessrechtliche, niemals aber materiellrechtliche, geschweige denn strafzumessungsrechtliche Nachteile entstehen dürfen.1042 Insbesondere darf der Konsens weder Ersatz für das Vorhandensein von Schuld noch für hinreichend zuverlässige Ermittlungen im o. III. 3. (S. 183 ff.) ausgeführten Sinne sein. Konsens erfährt somit zwei wesentliche, unübersteigbare Schranken: Sein Bezugspunkt ist von vornherein nur das Prozessrecht, und niemals das materielle Recht; und auch nicht jedes Prozessrecht, sondern nur diejenigen Rechte, die nicht zu den unverzichtbaren Minimalia der Verfahrensgerechtigkeit gehören (s. o. 2. d) cc) [S. 258 ff.]). Damit lassen sich bereits einige der oben durch den Konsens legitimierten prozessualen Institute durchaus rechtfertigen. Die Nichtstellung oder die Rücknahme eines Beweisantrags, ebenso wie ein Rechtsmittelverzicht,1043 wirken sich nicht unmittelbar materiellstrafrechtlich aus. Die mit einer Strafmilderung belohnte prozessuale Absprache dagegen schon. Das Konsensprinzip spielt beim Strafbefehlsverfahren eine nur marginale Rolle. Hier liefert nicht der Konsens die Rechtfertigung für den Verzicht auf die überlegene Wahrheitsermittlungsmethode der Hauptverhandlung, sondern die nicht unvertretbare Erwartung des Gesetzgebers, dass die ohne Einspruch hingenommenen Ermittlungsergebnisse der Wahrheit entsprechen werden (s. o. III. 3. [S. 185 f.]). Eine solche Erwartung darf der Gesetzgeber vor allem auch unter der Bedingung hegen, dass er zu einer erleichterten Wiederaufnahme bereit ist (s. o. III. 3. [S. 186 f.], und u. Teil 2 Kap. 6 C. II. 3. b) aa), dd) [S. 921 f., 926 ff.]). Nicht unbedenklich erscheint dennoch, dass das positive Recht für den Fall des Einspruchs kein Verbot der reformatio in peius kennt (§ 411 Abs. 4 StPO), denn dadurch wird die Ausübung eines prozessualen Rechts unzulässigerweise mit der Möglichkeit einer materiell-strafrechtlichen Belastung verkoppelt. Konsens ist hier nur ein Indiz oder Bestätigung der Güte und insbesondere Vollständigkeit der Ermittlungen. Sind die Ermittlungen offensichtlich unzureichend, gibt es keinen Konsens, der daran etwas zu ändern vermag. Diese Erwägungen führen auch ohne Zwischenschritte zur einzig denkbaren legitimen Ausgestaltung von Prozessabsprachen. Sie dürften, entsprechend einem in der Literatur formulierten Reformvorschlag, als eine Art gegenständlicher Erweiterung des Strafbefehlsverfahrens geregelt werden, mit einem Verbot einer 1042 Im Erg. ähnlich Dencker/Hamm, Vergleich, S. 43 f.; Weßlau, Konsensprinzip, S. 261; Weigend, ZStW 104 (1992), S. 509. 1043 Gleiches gilt für die in Fn. 1018 erwähnten Beispiele.

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reformatio in peius für den Fall des Einspruchs und der vollen Durchführung der Hauptverhandlung.1044 Aus der hier eingenommenen Perspektive müsste man einen Schritt weiter gehen als der erwähnte Vorschlag und Strafrabatte für unzulässig halten, es sei denn, das Geständnis kommt sogar dem Anfangsverdacht zuvor. c) Zusammengefasst: auch das Konsensprinzip vermag seine Verheißungen nicht zu erfüllen. Die von der Diskurstheorie ausgehenden Versionen des Konsensprinzips haben mit einer Reihe von philosophischen Problemen zu kämpfen und sind letztlich keine Theorie über das Strafverfahren, sondern haben anders geartete Dinge zum Gegenstand, die nicht eine qualifizierte Verdächtigung verkörpern. Ein Konsensprinzip dagegen, das sich allein auf das unmittelbare normative Gewicht des volenti non fit iniuria-Satzes beruft, entgeht einigen dieser Bedenken. Es ist aber offensichtlich unfähig, den Anfang eines Strafverfahrens zu erklären, da dieser in keiner Weise vom Konsens des Betroffenen abhängt. Auch das Ergebnis des Verfahrens kann dadurch nicht gerechtfertigt werden. Zum einen darf der Unschuldige auch dann nicht bestraft werden, wenn er damit einverstanden ist. Zum anderen geschieht zwar weder dem Schuldigen noch der Gesellschaft Unrecht, wenn dieser wegen seiner Zustimmung zur Strafe gelinder behandelt wird. Unrecht geschieht aber allen, die ihre prozessualen Rechte nur unter erhöhten materiellrechtlichen Kosten wahrnehmen können. Das Konsensprinzip ist deshalb besonders perfide, weil es nicht bloß zufällig, sondern strukturell auf die materielle Benachteiligung – buchstäblich: auf die Bestrafung – derjenigen angewiesen ist, die ihren Konsens verweigern. Mir ist klar, dass das Gesagte sich in den Ohren der eher „praktisch“ orientierten Juristen als lebensfremdes, praxisfernes und zudem unzeitgemäßes Geschöpf aus dem Elfenbeinturm anhören wird. Es soll heißen, die Würfel seien bereits gefallen; der strafprozessuale Vergleich „läßt sich auch nicht verbieten“.1045 Die empirische Richtigkeit dieser Feststellung will ich nicht bestreiten, obwohl dies durchaus aussichtsreich sein könnte.1046 Im vorliegenden Zusammenhang be1044 Grdl. Schünemann, 58. DJT, S. B 162 f.: „Strafbescheidslösung“; ähnl. Weßlau, Konsensprinzip, S. 259 ff.; Weigend, ZStW 104 (1992), S. 508 f.; Satzger, 65. DJT, S. C 110 ff. 1045 Widmaier, StV 1986, S. 357 (Zitat); ähnl. ders. NJW 2005, S. 1985; ebenso Wolfslast, NStZ 1990, S. 416; B. Schmitt, GA 2001, S. 426; Vogel, JZ 2004, S. 829; Marsch, ZRP 2007, S. 220; Ignor, ZStW 119 (2007), S. 930; Meyer-Goßner, ZStW 119 (2007), S. 942; ders. Domestikation der Absprachen, S. 237, 243; Rosenau, FS Puppe, S. 1620. 1046 Gründe für Zweifel bietet aber das in Alaska zwischen 1975 und 1993 verhängte Verbot, das nach der Einschätzung autorisierter Beobachter einen teilweisen Erfolg hatte (Rubinstein/White, L&SR13 [1979], S. 367 ff.; Damaska, StV 1988, S. 401 Fn. 16; Alschuler, Guilty plea, S. 761; ausf. Carns/Kruse, AlaskaLR8 [1991], S. 27 ff.; dies. Judicature 75 [1992], S. 310 ff., die aber eine Rückkehr des plea bargaining 10 Jahre nach dem Verbot feststellen; Nachw. zu weiteren ähnlichen Versuchen bei R. Vogler, ZStW 116 (2004), S. 146); der strenge Standpunkt Österreichs, OGH ÖJZ 2005, 275, dessen höchstrichterliche Rechtsprechung Absprachen entschiedenen Widerspruch

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gnüge ich mich damit, das normative Gewicht des Hinweises auf nackte Tatsachen energisch zu bestreiten.1047 Lange Zeit dachte man auch, man käme ohne die Folter nicht aus, sie lasse sich deshalb nicht verbieten;1048 danach hieß es, ohne die Ungehorsamsstrafen läge die Strafrechtspflege lahm. Derjenige, der die Absprachen mit solchen „lebens- und praxisnahen“ bzw. dem Geist der Zeit entsprechenden Argumenten verteidigt, sollte sich bewusst machen, was alles durch solche Argumente bereits gerechtfertigt worden ist, und sich deshalb fragen, inwiefern sich dasjenige, was er vertritt, in Wahrheit von diesen früheren Instituten unterscheidet. Auch die nach dem Schreiben dieses Abschnitts ergangene Verfassungsgerichtsentscheidung verändert nichts an der Gültigkeit der Kritik. Es ist erstaunlich, dass das Verfassungsgericht nach einer mehrseitigen Ankündigung aller großen verfassungsrechtlichen Prinzipien des Strafverfahrens1049 sich dann keiner der vielen in der Diskussion hervorgehobenen grundsätzlichen und auch verfassungsrechtlich relevanten Problemkreise1050 zuwendet.1051 Weigend ist zuzustimmen, wenn er meint, das Gericht habe „sich wie ein önologischer Sachverständiger verhalten, dem eine Flasche Wein zur Überprüfung der Qualität vorgelegt wird und der unendlich viel Mühe darauf verwendet, die Qualität des Flaschenglases, die Ästhetik des Etiketts und die Haltbarkeit des Korkens zu prüfen“.1052 Mein Lehrer würde wohl sagen, „Wetterzeichen“. 1053 4. Legitimationswirkung des Verdachts? Zugleich: der Verdächtige als Störer a) „Es bleibt also zwar dabei, daß der Prozeß zulässig ist, auch wenn die Lebensführung des Betreffenden keinen Verbrechensfall bildet; aber die dem objektiven Beurteiler sich erschließende Möglichkeit, daß ein solcher vorliege (,Verdacht‘) ist rechtlich bedingend dafür, daß gegen das Individuum vorgegangen werde“.1054 „Daß die besondere Stellung des Beschuldigten ihm gegenüber entgegensetzte (ob die Praxis dem folgt, steht auf einem anderen Blatt; ich höre, dies soll nicht der Fall sein); und jüngst die Entscheidung des BVerfG NJW 2013, 1058, die gerade dadurch, dass sie die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes mittels einer Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Praxis feststellte, spätestens innerhalb der nächsten Jahre eine erneute verfassungsgerichtliche Überprüfung für geboten erklärt hat. 1047 Schünemann, FS Rieß, S. 531 f.; ders. Wetterzeichen, S. 20 („naturalistischer Fehlschluss“); ebenso Lien, GA 2006, S. 130 Fn. 6. 1048 Siehe die Auseinandersetzung mit diesem Argument beim frühen (1682) Folterkritiker A. Nicolas, Torture, S. 43; ausführlicher Vergleich des plea bargaining mit der Folter bei Langbein, UChLR 46 (1978), S. 12 ff. 1049 BVerfG NJW 2013, 1058 (Rn. 52–63). 1050 Siehe die Nachw. o. Fn. 1031. 1051 Ebenso sehr überzeugend Weigend, StV 2013, S. 425 ff. 1052 Weigend, StV 2013, S. 426. 1053 Schünemann, Wetterzeichen, passim. 1054 Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 5.

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besondere Eingriffe erlaubt, fordern die elementaren Bedürfnisse des Strafrechts“.1055 Die h. M. spricht deshalb von einer sog. Legitimationswirkung des Verdachts: der Verdacht legitimiere die Strafverfolgung auch gegenüber dem Unschuldigen.1056 Gelegentlich spricht man von einer allgemeinen staatsbürgerlichen Pflicht, die Strafverfolgung zu erdulden.1057 b) So einleuchtend wie sich diese Sätze nun anhören, vermögen sie nach näherer Betrachtung nicht zu überzeugen. aa) Erstens fehlt es bereits an einer Begründung. Die angebliche Legitimationswirkung erscheint fast durchgehend als eine Selbstverständlichkeit. Selten wird aber dargelegt, worauf sie eigentlich beruht.1058 (1) Das ist schon an der gründlichsten Untersuchung des Begriffs des Verdachts erkennbar, nämlich in der Habilitationsschrift von L. Schulz, in der die Legitimationswirkung als Ausnahme zur Regel der Unschuldsvermutung charakterisiert wird: „Die normative Regel liegt in der Fiktion der Unschuld. Als Ausnahme kommt die Tatvermutung in Betracht“.1059 Unabhängig davon, ob eine solche Deutung der Unschuldsvermutung als ausnahmefähige Regel zutrifft, ist anzumerken, dass dies aber eine bloß formale Beschreibung darstellt, die zu dem Grund, weshalb diese angebliche Ausnahme sein darf, nichts aussagt. Die Behauptung, dieser Tatverdacht müsse ein „begründeter“ sein, und dass er unter 1055

BVerfGE 16, 194 (200) – Liquorentnahme. Wach, FS Binding, S. 15 f.; Niese, ZStW 63 (1951), S. 219; Sax, Grundsätze, S. 986 (der meint, der Verdacht legitimiere die „Einleitung des Verfahrens mit seinen vielfältigen Persönlichkeitseingriffen“, aus der Unschuldsvermutung aber folgert, dass der Verdächtige nicht zur Erduldung intensiverer Eingriffe verpflichtet ist als ein Nichtverdächtiger); Welp, Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs, S. 71; Corts, JA 1976, S. 308, 379; E. Müller, NJW 1976, S. 1066; Mrozynski, JZ 1978, S. 256; Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 75; Rieß, FS Schäfer, S. 190; Hassemer, StV 1984, S. 40; Zielemann, Tatverdächtige, S. 82; Burmann, Sicherungshaft, S. 22; Zaczyk, StV 1993, S. 492; Sternberg-Lieben, ZStW 108 (1996), S. 731; Füßer/Viertel, NStZ 1999, S. 116; L. Schulz, Normiertes Misstrauen, S. 538 f.; Ackermann, FS Riklin, S. 322 f.; Bacigalupo, Proceso con todas las garantías, S. 497; Hassemer, Prozeduralisierung, S. 20 f.; Grünewald, ZStW 120 (2008), S. 568. 1057 Eb. Schmidt, Lehrkommentar I Rn. 67; Niese, Prozeßhandlungen, S. 130 (freilich im engeren Zusammenhang der Erscheinenspflicht des Beschuldigten, von der es heißt, sie „beruht auf dem status civitatis, der jedem Staatsbürger die Pflicht auferlegt, im Interesse der staatlichen Rechtspflege vor Gericht zum Zwecke der Vernehmung zu erscheinen“); Dominioni, EncGiur XX (1970), S. 794: „servitus iustitiae“, „Solidaritätspflicht“; Peters, Strafprozeß, S. 21 f.: „aus dem Staatsverhältnis oder bei Nichtstaatsbürgern aus dem Gastverhältnis“ ergäbe sich die „Pflicht des einzelnen zur Justizunterwerfung und Justizmitwirkung“; Grünewald, ZStW 120 (2008), S. 568: „bürgerliche Pflicht . . ., sich vor Gericht zu stellen“. 1058 Deshalb wird diese Lehre auch selten kritisiert. Zu den seltenen kritischen Äußerungen gehört Gropp, JZ 1991, S. 807: Der Verdacht legitimiere zwar die Wahrheitserforschung, nicht aber eine besondere Belastung des Beschuldigten. 1059 Schulz, GA 2001, S. 233 (Zitat); ders. Verdacht, S. 499. 1056

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dieser Voraussetzung „ein juristisch vertretbarer Verdacht“ sei,1060 reicht nicht aus. Denn offen bleibt, warum etwas, das aus der Perspektive des Betroffenen bloßer Zufall sein mag, die Pflicht, den Prozess zu dulden, hervorrufen kann. (2) Eine Begründung findet man aber bei Krauß. Der Verdacht bewirke eine „,Lähmung‘ der Rechtsordnung“.1061 Es sei deshalb erforderlich, bereits gegen den Verdacht vorzugehen, ansonsten würden die Rechtsordnung und der Rechtsfrieden einen Schaden erleiden.1062 Damit entpuppt sich die Legitimationswirkung des Verdachts als eine Spielart der interessenbezogenen Betrachtung, nämlich der o. III. 4. (S. 189 ff.) bereits kritisierten Lehre vom Rechtsfrieden als Verfahrenszweck. Insbesondere bewegt sich eine solche Begründung auf der ersten Rechtfertigungsstufe, so dass sie den Anforderungen des Instrumentalisierungsverbots – also des Grundes, weshalb diese Stufe überhaupt überwunden werden musste – nicht gerecht werden kann. (3) Auch das den vorliegenden Abschnitt eröffnende Zitat des Bundesverfassungsgerichts, das „elementare Bedürfnisse des Strafrechts“ beschwört, ist eine nicht näher spezifizierte Spielart einer Lehre vom Verfahrenszweck, die die erste Begründungsstufe nicht überwindet. (4) Bei Krauß findet man einen weiteren aufschlussreichen Gedanken: Die Heranziehung des aus dem öffentlichen Recht bekannten Störerprinzips, demnach Störungen auf Kosten des Störers zu beseitigen sind.1063 So meint Krauß, der Verdacht verkörpere „eine dem Verdächtigen zurechenbare Störung“:1064 Dem Verdächtigen „wird – dem Anschein folgend, an den sich der zum Handeln genötigte Staat allein halten kann – der Verdacht als störendes Ereignis zugerechnet; ihn trifft deshalb die Pflicht, alle zur Aufklärung des Verdachts und zur Durchführung des Verfahrens erforderlichen Maßnahmen zu dulden“.1065 Dafür, dass man den Störergedanken heranzieht, scheinen insbesondere drei Umstände zu sprechen. Erstens kann man den Verdacht als Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung beschreiben, was die Lehren, die in der Wiederherstel1060

L. Schulz, GA 2001, S. 233. Krauß, Unschuldsvermutung, S. 168. 1062 Krauß, Unschuldsvermutung, S. 167 f. 1063 Zum Störerprinzip statt aller Schenke/Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 143. 1064 Krauß, Unschuldsvermutung, S. 171. 1065 Krauß, Unschuldsvermutung, S. 171 (Hervorhebung im Original). Ähnliche Gedanken bei E. Müller, NJW 1976, S. 1066: „Den Beschuldigten trifft, weil ihm der Verdacht zugerechnet wird, die Pflicht, die erforderlichen Eingriffe bis zur Grenze des zumutbaren Sonderopfers zu dulden“; ebenso Schubarth, Unschuldsvermutung, S. 28 (bzgl. der Untersuchungshaft); Weigend, Deliktsopfer, S. 213 f.; Wolter, Aspekte, S. 42; Zielemann, Tatverdächtige, S. 82; Kondziela, MSchrKrim 1989, S. 182 (bzgl. des hinreichenden Tatverdachts). Dagegen taucht bei Niese, Prozeßhandlungen, S. 45 Fn. 23, 46 der Gedanke des Störers in einem anderen, nämlich materiellrechtlichen Zusammenhang auf. 1061

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lung des Rechtsfriedens den Zweck des Strafverfahrens erblicken (s. o. III. 4. [S. 187 ff.]), in der Sache auch tun. Zweitens geht es beim Verdacht ähnlich wie bei der polizeirechtlichen Beurteilung um Prognosen aus der ex ante Perspektive, die bereits Befugnisse und Pflichten begründen, unabhängig von der realiter, also sich ex post herausstellenden Sachlage.1066 Letztlich sind sowohl Tatverdacht und die Störereigenschaft verschuldensunabhängig.1067 (a) Nach näherer Betrachtung wird aber klar, dass der Hinweis auf den Störergedanken fehl geht.1068 Denn Störer ist derjenige, der eine Gefahr durch sein Verhalten verursacht (Verhaltensstörer) oder der die tatsächliche Gewalt über die Sache, von der die Gefahr ausgeht, innehat, oder deren Eigentümer ist (Zustandsstörer).1069 Der Verdächtigte kann aber weder als Verhaltens-, noch als Zustandsstörer angesehen werden. (a) Verhaltensstörer ist, wie gesagt, wer die Gefahr verursacht hat. Für eine Verursachung begnügt man sich hier nicht schon mit dem Setzen einer conditio sine qua non bzw. einer gesetzmäßigen Bedingung für einen Gefahrerfolg, sondern man verlangt ein wertendes Zusatzelement, das man überwiegend als „unmittelbare Verursachung“ bezeichnet.1070 Hinter diesem dunklen Begriff dürften aber normative Erwägungen stehen:1071 Unmittelbare Verursachung kann weder 1066

Statt aller Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 331. Zur Verschuldensunabhängigkeit der Störerhaftung etwa v. Mutius, Jura 1983, S. 300; Hollands, Gefahrenzurechnung, S. 26; Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 329; teilw. krit. aber Muckel, DöV 1998, S. 24 f. Die frühere Lehre war anderer Auffassung, s. Jellinek, Gesetz, S. 312; ders. Verwaltungsrecht, S. 444 (wenn auch etwas abgeschwächt); zur geschichtlichen Entwicklung Hurst, AöR 83 (1958), S. 46 ff.; ausf. Gantner, Verursachung, S. 30 ff. 1068 In der Literatur ist gelegentlich weitere Kritik am Störerprinzip angeführt worden: Insb. wurde behauptet, dass die Unschuldsvermutung der Störereingenschaft entgegenstehe (Köhler, ZStW 107 [1995], S. 21), was wohl neben der Sache liegt, denn von Schuld spricht in diesem Zusammenhang noch keiner; vielmehr wird die Störerhaftung gerade deshalb bemüht, weil sie vom Verschulden völlig unabhängig ist (s. letzte Fn.). Andere Einwände bei Frister, Schuldprinzip, S. 99 ff.; Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 75 Fn. 309, 222 Fn. 37; Burmann, Sicherungshaft, S. 27 ff. 1069 Vgl. die Definitionen in § 4 Abs. 1, § 5 Abs. 1, 2 VE ME PolG; Art. 7 Abs. 1; Art. 8 Abs. 1, 2 S. 1 BayPAG; § 6 Abs. 1; § 7 BWPolG; § 4 Abs. 1, § 5 Abs. 1, 2 PolG NRW; s. a. Würtenberger, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 200, 202; Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 329, 332, 349 f.; Schenke/Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 152, 171; Tettinger/Erbguth/Mann, Besonderes Verwaltungsrecht, Rn. 488, 502; zur geschichtlichen Entwicklung ausf. Pauls, Polizeipflicht, S. 27 ff., 113 ff. 1070 Etwa Wacke, DöV 1960, S. 94 f.; Selmer, JuS 1992, S. 99; Würtenberger, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 206 f.; wohl auch Schenke/Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 155 f.; und Tettinger/Erbguth/Mann, Besonderes Verwaltungsrecht, Rn. 490 ff.; aus der Rspr. grdl. PreußOVGE 103, 139 (141) und später BVerwG NJW 1986, 1626, 1627. 1071 Hurst, AöR 83 (1958), S. 54; Vollmuth, VerwArch 68 (1977), S. 51; v. Mutius, Jura 1983, S. 304; Pietzcker, DVwBl 1984, S. 460; Würtenberger, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 207; Schenke/Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 156; unklar, aber wohl im selben Sinne Selmer, JuS 1992, S. 97 f. 1067

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1. Teil: Strafprozesstheorie

eine räumliche und zeitliche Nähe zwischen dem Verhalten als Ursache und der Gefahr als Wirkung sein,1072 noch die Abwesenheit weiterer menschlicher Glieder in der Ursachenkette bis zum Verletzungserfolg,1073 sondern eine normative Größe, genauer: die Verletzung einer Pflicht, keine Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu begründen.1074 Eine solche Pflichtverletzung muss aber der Verdächtigte keineswegs begangen haben. Der Verdacht kann ohne jeglichen Beitrag des Verdächtigten entstanden sein, einfach dadurch, dass eine unglückliche Verkettung von Indizien zu ihm als möglichem Täter der den Rechtsfrieden gefährdenden Tat führt. Er muss deshalb nicht immer Verhaltensstörer sein. (b) Zustandsstörer ist derjenige, der Eigentümer der gefährlichen Sache oder Inhaber der Gewalt über sie ist.1075 Anders als der Verhaltensstörer muss der Zu1072 So aber wohl Kirchhof, JuS 1975, S. 238; Wacke, DöV 1960, S. 960; wie hier Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 335; Frister, Schuldprinzip, S. 36 Fn. 88. 1073 So aber v. Mutius, Jura 1983, S. 304; wohl auch Selmer, JuS 1992, S. 98. Dies wird belegt durch die Anerkennung des sog. Zweckveranlassers als Störer (richtig Hurst, AöR 83 [1958], S. 52; Schnur, DVwBl 1962, S. 7; Vieth, Polizei- und Ordnungspflicht, S. 50 ff.; Vollmuth, VerwArch 68 [1977], S. 49, 50; Pietzcker, DVwBl 1984, S. 458), die nahezu unbestritten ist (Ausnahmen: Erbel, JuS 1985, S. 257 ff., 263; Poscher, Jura 2007, S. 807; in der Begründung, nicht aber in der Sache Muckel, DöV 1998, S. 21 ff.). Nach dieser Figur soll derjenige, der eine Gefahr nicht unmittelbar verursacht, sondern andere dazu verleitet, Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu schaffen (klassisches Beispiel: unangemessene Schaufensterreklame führt zu einer verkehrsstörenden Menschenansammlung), auch ein Störer sein (grdl. Jellinek, Gesetz, S. 311; heute statt aller Würtenberger, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 209). Man siehe probeweise die Begründungsschwierigkeiten bei Wacke, DöV 1960, S. 96, der subjektive und objektive Kriterien miteinander vermengt; bei Selmer, JuS 1992, S. 100: das Unmittelbarkeitskriterium lasse es zu, „mittelbare Ursachen als polizeirechtliche unmittelbare auszuweisen“!; und v. Mutius, Jura 1983, S. 305, der von einer „scheinbaren Ausnahme“ des Kriteriums der unmittelbaren Ursache spricht, denn bei Zweckveranlassung würden beide Handlungen eine Einheit bilden. 1074 Überzeugend mit ausf. Hinweisen Hollands, Gefahrenzurechnung, S. 32 ff. m. v. w. N., auch zur Gegenmeinung, die die Unmittelbarkeit räumlich-zeitlich versteht; ebenso Pietzcker, DVwBl 1984, S. 459. Ähnl. auch diejenigen, die die Störereigenschaft aus der Rechtswidrigkeit des Verhaltens (Schnur, DVwBl 1962, S. 5; Erichsen, VVdStRL 35 [1977], 205 f.; Vollmuth, VerwArch 68 [1977], S. 52 f.; Poscher, Jura 2007, S. 803 ff.; Gantner, Verursachung, S. 123 ff., 234 f. [„Lehre von der polizeiwidrigen Verursachung“]; wohl auch Erbel, JuS 1985, S. 260) oder aus dessen Sozialinadäquanz (Hurst, AöR 83 [1958], S. 77 f.; Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 339) ableiten. Die vielzitierte Behauptung von Hurst, AöR 83 (1958), S. 65, die Störerbestimmungen würden nicht eine Verpflichtung des Bürgers aussprechen, sondern seine Verpflichtbarkeit, zusammen mit der von ihm unterstrichenen Unterscheidung zwischen Rechtswidrigkeit und Polizeiwidrigkeit (S. 65 ff.) bedeutet letztlich, dass die Polizeipflicht allein aus dem Interesse anderer ensteht, was eine instrumentalisierende Begründung ist (so ausdrücklich ders.: „Die Beurteilung einer Sachlage als polizeiwidriger Zustand folgt allein aus der Feststellung eines Mißverhältnisses zwischen den tatsächlichen Gegebenheiten und dem Interesse der Allgemeinheit an Sicherheit und Ordnung“, S. 66). 1075 Für Nachw. s. o. Fn. 1069; zur Begriffsgeschichte näher Sparwasser/Geisler, DVwBl 1995, S. 1317 ff.

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standsstörer unbestritten keine Pflicht verletzt haben; sein Verhalten ist irrelevant,1076 ausschlaggebend ist allein seine Beziehung zur gefährlichen Sache. Der Gedanke passt zur Situation des Verdächtigten nicht. Es mag schon sein, dass Blutflecken an der eigenen Kleidung oder der Besitz von Diebesgut die im Verdacht verkörperte Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung begründet; notwendig ist das indes nicht. Zum Verdächtigen kann auch ein obdachloser Anhänger der freien Körperkultur werden, der in der Nähe eines möglicherweise kriminellen Vorfalls erblickt worden ist. Es lohnt sich dennoch, bei dem Gedanken des Zustandsstörers etwas länger zu verweilen. Denn die besondere Verantwortlichkeit des Zustandsstörers beruht nach allgemeiner Auffassung nur vordergründig auf dem Eigentum oder Besitz an der Sache. Vielmehr beruft man sich überwiegend auf die Sozialbindung des Eigentums, auf die These, dass Eigentum verpflichtet.1077 Häufig geht man einen Schritt weiter und formuliert die einschlägige Regel als allgemeines und nicht bloß das Eigentum betreffendes Rechtsprinzip: Wer die Vorteile zieht, muss auch die Lasten tragen.1078 Damit ist man bei einem allgemeinen Rechtsprinzip, das als Synallagma zwischen Freiheit und Verantwortung bezeichnet werden kann.1079 Eventuell ließe sich aus diesem allgemeinen Rechtsprinzip etwas für die Bewältigung unseres Problems gewinnen. Das Argument könnte folgendermaßen aussehen. Jeder Bürger genießt auf Grundlage des Grundgesetzes eine Vielzahl von Freiheiten: Er darf auswählen, welchem Beruf er nachgeht (Art. 12 Abs. 1 GG), wo er hinfährt (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) und sich aufhält (Art. 11 Abs. 1 GG), wen und was er in seine Wohnung hineinlässt (Art. 13 Abs. 1 GG). Insbesondere ist er frei, die kleinen alltäglichen Entscheidungen seines Lebens zu treffen, wie Tauben füttern oder im Wald reiten,1080 ebenso wie die großen, nämlich die Ausrichtung seines Lebens nach 1076

Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 354. Quaritsch, DVwBl 74 (1959), S. 458; Friauf, FS Wacke, S. 299; Sparwasser/ Geisler, DVwBl 1995, S. 1319; Pischel, JA 1999, S. 44; Würtenberger, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 200; Tettinger/Erbguth/Mann, Besonderes Verwaltungsrecht, Rn. 511; BVerfGE 20 351 (361) – entschädigungslose Tötung tollwutkranker Hunde; ähnl. Pietzcker, DVwBl 1984, S. 462; allgemein zu Sozialbindung des Eigentums Papier, M/D GG Art. 14 Rn. 305 ff.; Pestalozza, NJW 1982, S. 2169 f. Gelegentlich sagt man, bereits die faktische Gefahrbeherrschung begründe die besondere Pflicht (Baur, JZ 1964, S. 356; Gantner, Verursachung, S. 13, 209). Die Unterschiede zwischen diesen Auffassungen können aber hier beiseite gelassen werden; zu ihnen Friauf, FS Wacke, S. 297 f.; Pietzcker, DVwBl 1984, S. 462; noch weitere Differenzierungen bei Lindner, Adressatenpflichten, S. 18 ff. 1078 Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 353. 1079 Vgl. insb. Hollands, Gefahrenzurechnung, S. 38 ff., 49 der hierin die gemeinsame Grundlage der Zustands- und auch der Verhaltenshaftung erblickt; in der Sache bereits Vollmuth, VerwArch 68 (1977), S. 46; nahestehend auch Friauf, FS Wacke, S. 301. 1080 BVerfGE 54, 143 (154); BVerfGE 80, 137 (152 f.). 1077

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1. Teil: Strafprozesstheorie

seinen eigenen Vorstellungen des Guten (Art. 2 Abs. 1 GG). Die Wahrnehmung dieser Freiheiten, grundrechtsdogmatisch gesprochen: die Vornahme von Verhaltensweisen, die sich innerhalb des Schutzbereichs solcher Grundrechte bewegen, wird in mehreren Hinsichten privilegiert. Denn Eingriffe in diese Freiheiten müssen besonderen Anforderungen genügen. Nicht die Freiheit, sondern ihre Einschränkung ist rechtfertigungsbedürftig. Deshalb muss man grundsätzlich nicht um Erlaubnis bitten, bevor man die meisten dieser Freiheiten wahrnimmt. Lückenlose Überwachung ist unzulässig. Das vom Synallagma von Freiheit und Verantwortung ausgehende Argument würde dann lauten, dass dieses umfassende System von Freiheiten ein ebenso umfassendes Netz von Verantwortung als Kehrseite haben müsse. Derjenige, der vor der Ausübung seiner Freiheiten nicht rechenschaftspflichtig war, müsse bei Bedarf – nämlich im Falle eines Verdachts – dazu verpflichtet sein, dies nachzuholen. Ansonsten könnte das System von Freiheiten nicht einmal bestehen, denn es wäre möglich, die Freiheit der anderen zu negieren, ohne Folgen zu befürchten. Die das Strafverfahren verkörpernde Verdächtigung wäre nach einer solchen Deutung nichts anderes als der gebotene Ausgleich dafür, dass man in einem freiheitlichen und nicht durchgehend kontrollierten System lebt. So könnte man die von Mittermaier aufgestellte Behauptung verstehen, „daß jeder Bürger durch seinen Eintritt in den Staat wieder zum Schutze seiner Freiheit auch in so fern Opfer seiner Freiheit bringt, als die Erhaltung der allgemeinen Sicherheit nötig macht.“ 1081 Gegen diesen naheliegenden Gedankengang, der soweit ersichtlich in der Form noch nirgendwo formuliert worden ist,1082 lassen sich indessen mehrere Bedenken geltend machen. Ein erster Einwand bewegt sich auf einer eher vordergründigen Ebene. Er verweist darauf, dass es eine Vielzahl überwachter Bereiche gibt, also Bereiche, in denen die Ausübung von Freiheit ihrerseits unfrei ist. Erst derjenige, der eine Erlaubnis hat, darf am Straßenverkehr teilnehmen (§ 2 StVG) oder bestimmte Waffen führen (§ 2 Abs. 2 WaffG). Soll dies heißen, dass in diesen Bereichen, wo die Wahrnehmung von Freiheit unter einen Vorbehalt gestellt wird, die Berechtigung entfällt, später über einen vermuteten Missbrauch Rechenschaft zu verlangen? Und wie wäre es, wenn man sich von vornherein in einem verbotenen Bereich bewegen würde, wenn man also ohne Fahrerlaubnis fährt oder mit erlaubnisunfähigen Waffen (§ 2 Abs. 3 WaffG) umgeht? Ist die Rechenschaftspflicht die Kehrseite der Freiheit, dann müsste Erstere dort entfallen, wo es Letztere nicht gibt. Das kann aber nicht richtig sein. 1081

Mittermaier, Das deutsche Strafverfahren I, § 21 (S. 91). Eine gewisse Nähe zu den Gedanken von Pawlik (näher o. V. 2. [S. 230 ff.]) ist zwar vorhanden; bei Pawlik sind aber Pflichten die primäre Größe (s. o. S. 233), hier wird bei Rechten angefangen. 1082

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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Der entscheidende Einwand bewegt sich auf einer fundamentaleren Ebene. Die Verallgemeinerung der These „Eigentum verpflichtet“ auf die These „Freiheit verpflichtet“ bzw. auf das „Synallagma von Verantwortung“ ist in einer bestimmten Hinsicht fragwürdig. Denn Eigentum verpflichtet, aber Eigentum kann man dadurch aufgeben, dass man die Sache übereignet.1083 Deshalb kann die Verpflichtung als frei übernommen angesehen werden und somit dem Einzelnen gegenüber als von ihm gewollt gerechtfertigt werden. Die Freiheiten aber, auf die das Argument abstellt, werden einem insoweit aufgedrängt. Denn der Bürger hat nicht die Wahl, auf diese Freiheiten dadurch zu verzichten, dass er vor ihrer Ausübung immer Rechenschaft ablegt und später nicht mehr zur Verantwortung gezogen wird. (b) Beim Störerbegriff geht es also – entgegen einem ersten Anschein1084 – nicht um eine Zuordnung von Verantwortung nach reinen Effektivitätsgesichtspunkten.1085 Deshalb wird der Inhaber des Gegenmittels anerkanntermaßen nicht allein dadurch zum Störer.1086 Das Strafverfahren richtet sich also gegen jemanden, den man in polizeirechtlichen Kategorien als einen sog. Nichtstörer bezeichnen würde.1087 Denn der Nichtstörer oder Notstandsverantwortliche ist derjenige, 1083 Man könnte auch an die Dereliktion denken. Damit wäre man aber beim Problem, dass sie nach der wohl herrschenden Auffassung nicht notwendig zum Verschwinden der Polizeipflicht führt. Überwiegend nimmt man an, dass der frühere Eigentümer einer dereliktierten Sache als Zustandsstörer in Anspruch genommen werden kann (§ 5 Abs. 3 VE ME PolG; § 8 Abs. 3 BayPAG; § 5 Abs. 3 PolG NRW; s. a. Würtenberger, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 203, m.w. Nachw. zu den Polizeigesetzen der Länder), so dass es sich empfiehlt, das obige Argument am Beispiel einer Eigentumsaufgabe durch Übereignung zu entwickeln. Das Argument könnte dennoch diesem Problem der Dereliktion gerecht werden, wenn man eine von zwei Verkomplizierungen einführen würde. Zum einen könnte man in solchen Fällen die Verantwortung nicht aus der Herrschaft über eine Sache, sondern aus einem Verhalten entstehen lassen: Das Dereliktionsverhalten (Aufgabe des Besitzes bei beweglichen Sachen, § 959 BGB; Verzichtserklärung und Eintragung bei unbeweglichen Sachen, § 928 BGB) begründe eine „latente Gefahr“, die es gestattet, den früheren Eigentümer als Verhaltensstörer anzusehen. Auf der anderen Seite könnte man meinen, die Zuweisung des Eigentums begründe eine Verantwortung, deren man sich nur dadurch entledigen könne, dass man einen Nachfolger findet, der diese Verantwortung übernimmt, also durch Übereignung. 1084 Dem gefährlich nahe aber diejenigen, die polizeirechtliche Verantwortlichkeit als Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (Mückel, DöV 1998, S. 22 ff.) bzw. als Funktion einer Abwägung (Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 325) begreifen. 1085 Richtig Lindner, Adressatenpflichten, S. 30 f. (i. S. eines von ihm entwickelten sog. Zwei-Ebenen-Modells); Hollands, Gefahrenzurechnung, S. 26. Siehe bereits O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, S. 220. 1086 Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 445; Wacke, DöV 1960, S. 97; Würtenberger, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 201; Tettinger/Erbguth/Mann, Besonderes Verwaltungsrecht, Rn. 495; Hollands, Gefahrenzurechnung, S. 46 m.w. Nachw. in Fn. 33. 1087 Richtig Grünwald, StV 1987, S. 457; Frister, Schuldprinzip, S. 99 f. Zum Verhältnis von Aufopferung und Nichtstörer Stödter, Öffentlich-rechtliche Entschädigung, S. 41.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

der in Anspruch genommen wird, obwohl er mit der Entstehung der Gefahr nichts zu tun hatte.1088 Die Ausgangsfrage, ob diese Beanspruchung eines Einzelnen, der nicht selbst einen Grund für diese Beanspruchung gesetzt hat, mehr als eine Instrumentalisierung im fremden Interesse darstellt, bleibt also offen.1089 bb) Dass eine Begründung Mangelware ist, kommt nicht von ungefähr. Dem Verdacht kann schon deshalb keine Legitimationswirkung zukommen, weil er selbst gerade dasjenige verkörpert, was das Verfahren legitimationsbedürftig macht. Er ist nicht die Lösung, sondern das Problem. Denn ein Verdacht ist eigentlich kein Zustand, sondern ein Urteil, eine Schlussfolgerung, die jemand aus dem Vorhandensein bestimmter Zustände zieht. Die rohe Tatsache des Verdachts gibt es nicht. Vielmehr ist es so, dass A, der sich wiederholt über Geldmangel beschwert hat, kurz danach mit einer Rolex desselben Modells auftaucht, das von B vor wenigen Tagen als gestohlen gemeldet worden war; oder dass die Haustyrannin Y, die ihren hörigen Ehemann X seit Jahren öffentlich gedemütigt und privat auch gelegentlich misshandelt hat, plötzlich vermisst wird, wobei die Nachbarn, die sich eines Nachts bei der Polizei wegen Geschreis beschwert hatten, X am nächsten Tag beim Hochtragen einer neuen Tiefkühltruhe gesehen haben. Diese Tatsachen sind nicht der Verdacht, dass A die Rolex-Uhr des B gestohlen oder gehehlt hat bzw. dass X seine Ehefrau Y getötet und eingefroren1090 hat, sondern sie begründen einen solchen Verdacht, sie lassen den Schluss auf die Möglichkeit der Begehung dieser Taten durch A oder X zu. Mit anderen Worten: Der Schluss auf den Verdacht ist eine Handlung des Verdächtigenden. Wie aber bereits eingangs bei der Formulierung des Problems der Rechtfertigung des Strafverfahrens als Rechtfertigung einer qualifizierten Verdächtigung (o. B. VI. [S. 131 f.]) betont, ist es schwer ersichtlich, wie die einseitige Handlung eines Dritten für jemand anderen eine Pflicht begründen kann. Die Verdächtigung ist nicht eine Handlung des Verdächtigten ist, sondern die eines anderen.1091 „Es giebt kein Verbrechen des sich verdächtig Benehmens und Niemandem ist bei Strafe geboten, den Schein eines Verbrechers zu vermeiden“.1092 Die Handlungsanweisung: Mache Dich nicht verdächtig! ist deshalb „erkennbar sinn-

1088 Näher m.w. Nachw. v. Mutius, Jura 1983, S. 302; Würtenberger, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 217; Schenke/Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 168 f., 190 ff.; Tettinger/Erbguth/Mann, Besonderes Verwaltungsrecht, Rn. 558; dogmengeschichtlich Pauls, Polizeipflicht, S. 155 ff. 1089 Immerhin enthält die Figur des Nichtstörers einen wertvollen Hinweis: Ihre Erwähnung führt zu dem Aufopferungsgedanken (zur Nähe beider Rechtsinstitute Schmitt-Kammler, JuS 1995, S. 475; Hollands, Gefahrenzurechnung, S. 32), den wir sogleich (u. 6. c) [S. 306 ff.]) ausführlicher untersuchen werden. 1090 Ein Verhalten, das vielleicht auch den Tatbestand des § 168 Abs. 1 Var. 2 StGB, Störung der Totenruhe durch Verübung von grobem Unfug mit der Leiche verwirklicht. 1091 Siehe das obige Zitat von Beling, bei Fn. 409. 1092 Geyer, Nord und Süd 18 (1881), S. 181; ähnl. ders. Entschädigung I, S. 523.

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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widrig“,1093 weil man sich nicht zum Verdächtigten macht, sondern gemacht wird. Der Begriff der Legitimationswirkung des Verdachts spielt eher an anderen Stellen eine Rolle – insbesondere um zu markieren, dass die Inanspruchnahme eines Nichtverdächtigen andere Probleme involviert und unter anderen, hier nicht zu untersuchenden Legitimitätsbedingungen zu erfolgen hat.1094 Das Verfahren selbst, das im Kern aus nichts anderem als einer Verdächtigung besteht, kann durch die beschworene Legitimationswirkung nicht legitimiert werden. c) Als Fazit lässt sich festhalten, dass die angebliche Legitimationswirkung des Verdachts als Begründung des Strafverfahrens nicht ausreicht, weil das Verdächtigungsurteil seinerseits legitimationsbedürftig ist. Die sog. Legitimationswirkung des Verdachts enthält keine Lösung, sondern ist Teil des Problems. 5. Neuere Ansätze auf der dritten Rechtfertigungsstufe In den letzten Jahrzehnten sind eine Reihe weiterer aufschlussreicher Ansätze formuliert worden, die sich dem Strafverfahren auf Grundlage von respektbezogenen Erwägungen bzw. von Rechten annähern wollen. Man hat insofern von einer „Renaissance der Strafprozesstheorie“ gesprochen.1095 Einige der interessantesten dieser Ansätze sollen noch kursorisch untersucht werden. Wie bisher steht für uns die Frage im Vordergrund, inwiefern diese Ansätze die noch bestehende Begründungslücke, insbesondere die Rechtfertigung der qualifizierten Verdächtigung des Unschuldigen, zu schließen vermögen. a) Die Neuauflagen des Prozessrechtsverhältnisses aa) Die ältere, begriffskonstruktivistisch orientierte Lehre vom Prozess als Rechtsverhältnis ist bereits o. C. II. 1. (S. 135 ff.) dargestellt und kritisiert worden. In der modernen Diskussion kursieren vor allem zwei neue Versionen dieser Gedanken: Eine, die sich des Gedankenguts der Philosophie des deutschen Idealismus bedient, und der jüngst von Steinberg vorgelegte rechtsstaatlich-liberale Entwurf. Charakteristisch für die neueren Versionen ist, dass sie im Gegensatz zu den älteren Theorien den normativen Charakter der Probleme, um die es in der 1093

Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 117. Zur Problematik der Inanspruchnahme Nichtverdächtiger bereits Wolter, GA 1999, S. 169 f. (der einen „prozessualen Notstand“ verlangt); ders. SK-StPO 4. Aufl. vor § 151 Rn. 56a, e. monografisch Eckstein, Ermittlungen zu Lasten Dritter, passim. Zu sog. fishing expeditions krit. Ackermann, FS Riklin, 2007, S. 323; dass sie kein neues Problem sind, belegen die Klagen bei Köstlin, Wendepunkt, S. 88. Zur Frage der sog. Vorermittlungen Wolter, FS Brauneck, S. 512 ff., mit einem Bericht über den AE„Reform des Ermittlungsverfahrens“; ders. Nichtverdächtige und Zufallsfunde, S. 49 ff. 1095 Haas, ZStW 125 (2013), S. 121; s. bereits o. Einleitung (S. 32). 1094

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1. Teil: Strafprozesstheorie

Prozessrechtswissenschaft geht, nicht übersehen. Sie sind keine konstruktivistischen Beschreibungen formeller Verfahrensstrukturen, sondern erheben den Anspruch, Maßstäbe für die Beurteilung der Legitimität von Verfahren anzubieten. (1) Die idealistisch orientierte Lehre vom Prozessrechtsverhältnis geht in erster Linie auf Arbeiten der sog. E. A. Wolff-Schule zurück. Das am besten ausgearbeitete Modell hat Michael Köhler vorgelegt. Köhlers Verfahrenskonzept ist eingebettet in eine Ablehnung bloß instrumenteller Verständnisse von Staat und Strafe.1096 Aufgabe des Strafrechts sei nicht die zweckmäßige Verbrechensbekämpfung, sondern „gerechter Ausgleich begangener Verbrechen nach dem Schuldprinzip“.1097 Dem entspreche ein Strafverfahren, das der „justizförmigen Verdachtsklärung“ verpflichtet sei, somit also vor allem vom „subjektrechtlichen Selbstverständnis freier Personen“ auszugehen habe, die nie zu bloßen Objekten degradiert werden dürften.1098 Nach einer Ablehnung des herrschenden Abwägungsmodells führt Köhler die Kategorie des Prozessrechtsverhältnisses ein.1099 Er postuliert eine „prozeßrechtliche Aufopferungspflicht“, die sich von der Störerhaftung grundlegend unterscheide, weil sie auf einer „allgemeinen Not-Wendigkeit für den gemeinsamen Staatsrechtszweck“ beruhe.1100 Diese Aufopferungspflicht sei verwandt mit dem Grundgedanken des rechtfertigenden Notstandes, der richtigerweise nicht in einer utilitaristischen Interessenabwägung, sondern in den Geboten einer existentiellen Notwendigkeit zu erblicken sei.1101 Praktisch folgt daraus, dass die für den rechtfertigenden Notstand geltenden Grenzen auch auf prozessuale Eingriffe übertragbar sind, so dass insbesondere schwerwiegende oder irreversible Eingriffe illegitim seien.1102 Von dieser allgemeinen Justizpflicht gedeckt sind deshalb die Anwesenheitspflicht, das Verbot, sich dem Verfahren zu entziehen oder die Pflicht, eine Durchsuchung oder Beschlagnahme zu dulden.1103 Eine Untersuchungshaft ist dagegen erst legitimierbar, wenn die allgemeine Prozesspflicht verletzt wird (z. B. bei Fluchtgefahr),1104 die Wohnraumüberwachung oder der verdeckte Ermittler („Unrechtsinstitut“) gar nicht.1105 (2) Steinberg bemüht sich um eine dem Liberalismus verpflichtete allgemeine Prozesstheorie, die in der Bedrohung individueller Freiheit durch die richterliche 1096 Köhler, ZStW 107 (1995), S. 11. Zu Köhlers Straftheorie s. noch Köhler, Strafrechtsbegründung, S. 33 ff., 37; ders. FS Lackner, S. 16 ff., 35 ff.; ders. AT, S. 48 ff. 1097 Köhler, ZStW 107 (1995), S. 12. 1098 Köhler, ZStW 107 (1995), S. 12. 1099 Köhler, ZStW 107 (1995), S. 14 ff., 19 ff. 1100 Köhler, ZStW 107 (1995), S. 20. 1101 Köhler, ZStW 107 (1995), S. 20. 1102 Köhler, ZStW 107 (1995), S. 21. 1103 Köhler, ZStW 107 (1995), S. 22, 23. 1104 Köhler, ZStW 107 (1995), S. 22. 1105 Köhler, ZStW 107 (1995), S. 23, 25 (Zitat), 39 f.

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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Gewalt ihren Ausgangspunkt nimmt.1106 Die Unterworfenheit des Bürgers unter das „Gewaltpotenzial der Judikative“ wird dogmatisch mit dem Begriff des Prozessrechtsverhältnisses beschrieben, als „unbestrittenes und evidentes Allgemeingut aller Verfahrenslehren“.1107 Aus einer verfassungsrechtlichen Perspektive, die bei der Postulation eines aus Art. 103 Abs. 3 GG und Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 20 Abs. 3 GG abgeleiteten „Grundrechts auf Freiheit von Prozessbeteiligung“ ansetzt,1108 entwirft er eine allgemeine Prozesstheorie, wobei diese Allgemeinheit nicht im Sinne einer übernationalen Geltung, sondern einer Geltung für alle in Deutschland vorhandenen Gerichtsprozesse verstanden wird.1109 Dem Strafverfahren komme aber ein über andere Verfahrensarten hinausgehendes Gefährdungspotenzial für die bürgerliche Freiheit zu.1110 Auf dieser Grundlage zieht Steinberg hier nicht zu thematisierende Konsequenzen für das Zivil- und Verwaltungsprozessrecht.1111 Im Strafprozess erfahren die Prozessvoraussetzungen eine neue Deutung als Schutz des Betroffenen vor einer ungebührenden Beanspruchung durch ein Strafverfahren.1112 Fälle vorzeitiger Verfahrensbeendigung werden unter dem Blickfeld eines Spannungsverhältnisses zwischen dem Interesse des Beschuldigten an frühestmöglicher Verfahrensbeendigung auf der einen und Rehabilitierung auf der anderen Seite diskutiert.1113 bb) Die neuen Lehren vom Prozessrechtsverhältnis sind belebt von einem zustimmungswürdigen Anliegen: Im Strafverfahren muss es um mehr gehen als bloße Interessen der Gesellschaft oder auch des Betroffenen. Strafverfahren sind nur dann legitim, wenn sie Ausdruck des Respekts vor den Rechten des Betroffenen sind. Das bedeutet, dass der Betroffene als einer behandelt werden soll, der Träger von Rechten ist, also als ein Rechtssubjekt, und dass das Verfahren als ein Rechtsverhältnis verstanden werden muss. Trotzdem erweisen sich die Ansätze in einigen Hinsichten als unzureichend. (1) Am wichtigsten dürfte sein, dass der wissenschaftliche Ertrag des „Prozessrechtsverhältnisses“ äußerst beschränkt bleibt. Der Begriff des Rechtsverhältnisses geht über die Umschreibung einer formellen Struktur nicht wesentlich 1106 Steinberg, Richterliche Gewalt, S. 10 und passim. Steinberg kritisiert das herrschende Verständnis der richterlichen Gewalt als einer allein dem Individualschutz verpflichteten Gewalt und stellt fest: „die für die historische Herausbildung des modernen Verständnisses ausgemachte Scheu vor der richterlichen Gewalt . . . [ist] in Theorie und Praxis des grundgesetzlichen Staates . . . so gut wie nicht präsent“ (S. 56). 1107 Steinberg, Richterliche Gewalt, S. 10, 12. 1108 Steinberg, Richterliche Gewalt, S. 17, 61 ff. 1109 Steinberg, Richterliche Gewalt, S. 1. 1110 Steinberg, Richterliche Gewalt, S. 16 f. 1111 Steinberg, Richterliche Gewalt, S. 67 ff., 127 ff. 1112 Steinberg, Richterliche Gewalt, S. 124, 194. 1113 Steinberg, Richterliche Gewalt, S. 102, 103 ff.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

hinaus. Dass bestimmte Personen zueinander in einem Verhältnis stehen und dass dieses Verhältnis ein rechtliches und kein bloßes Machtverhältnis ist, ist richtig und wichtig. Wie sich diese Personen zueinander verhalten und unter welchen Bedingungen das Verhältnis das Prädikat eines rechtlichen Verhältnisses verdient, wird dadurch aber nicht gesagt. Der formelle Charakter des Prozessrechtsverhältnisses wird nicht zuletzt darin klar, dass auch systemtheoretisch argumentierende Autoren sich mit dem Gedanken anfreunden konnten.1114 Die Notwendigkeit eines weiteren Schritts bleibt Köhler und Steinberg nicht unbemerkt: Ersterer bietet eine Analogie zum rechtfertigenden Notstand und greift auf den Aufopferungsgedanken zurück, Letzterer betont die Gebotenheit, richterliche Machtausübung einzuschränken. Die eigentlichen materiellen Theorien von Köhler und Steinberg fangen deshalb erst an, wenn vom Begriff des Prozessrechtsverhältnisses nicht mehr die Rede ist. Diese materiellen Theorien sind weitgehend zustimmungswürdig, wie u. 6. d) (S. 312 ff.) näher ausgeführt werden soll. Sie haben es aber nicht nötig, unter der Flagge des Prozessrechtsverhältnisses aufzutreten. (2) Spezifisch zu Köhler ist noch Folgendes anzumerken: (a) Aus methodischer Sicht ist zu begrüßen, dass Köhler nicht davor zurückscheut, sich auf eine fundamentale, vorpositive Begründungsebene zu begeben. Unabhängig davon, ob die durch diesen Weg gewonnenen Inhalte zu überzeugen vermögen (dazu insb. u. 6. c) [S. 309], d) [S. 312 ff.]), verdient die Bemühung, Recht nicht als Machterscheinung, sondern als Manifestation von Vernunft und Freiheit zu begreifen, höchste Anerkennung. (b) Die zentrale materielle These von Köhlers Lehre vom Prozessrechtsverhältnis, also die These, die die bloß formale Hülse dieses Verhältnisses mit Inhalt füllt, ist, dass das Strafverfahren nur als Sonderopfer des Betroffenen legitimiert werden kann. Wie u. 6. d) (S. 301 ff.) näher ausgeführt werden soll, zeigt diese These in die richtige Richtung. Dass nach der Auffassung von Köhler das Strafrecht auf dem Gedanken gerechter Vergeltung beruht, soll hier nicht näher kritisiert werden.1115 Vorliegend ist nur festzuhalten, dass kein notwendiger Zusammenhang zwischen dieser zweifelhaften straftheoretischen Annahme und der tendenziell zutreffenden These, dass das Strafverfahren auf den Aufopferungsgedanken angewiesen ist, besteht. (3) Die Reflexionen von Steinberg müssen noch in weiteren Hinsichten gewürdigt werden. (a) Ihr Anliegen, den Bürger vor der richterlichen Gewalt zu bewahren, ist zustimmungswürdig. Diesem Anliegen kann auch durch den Begriff einer qualifi1114

Lesch, ZStW 111 (1999), S. 638; Stuckenberg, Unschuldsvermutung, S. 536. Hierzu verweise ich auf Greco, Lebendiges, S. 474 ff.; ders. FS Tavares, S. 263 ff. 1115

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zierten Verdächtigung Rechnung getragen werden. Dieser Begriff hat aber den wichtigen Vorteil, dass er nicht von Anfang an zwischen dem Richter und dem Staatsanwalt unterscheidet. Vielmehr beruht die Qualifiziertheit der Verdächtigung in Hinsicht auf das die Verdächtigung äußernde Subjekt allein darauf, dass sie ein Träger von Staatsgewalt äußert, der nicht unbedingt ein Richter sein muss. Diese Beschreibung der Problemlage vermeidet zudem, dass der schiefe Eindruck entsteht, der Richter sei die größte Sorge des liberalen Juristen, als wäre ein Strafverfahren ohne Richter, ähnlich den früher bestehenden polizeilichen Strafverfügungen,1116 ein anstrebenswürdiges Ideal. Die herrschende Meinung sieht den Richter einseitig als Lösung, Steinberg aber einseitig als Problem. Allein der hier vertretene Ansatz wird der Komplexität der Lage gerecht, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der Richter zum Teil Probleme löst – u. a. dadurch dass er die verdächtigende Polizei und Staatsanwaltschaft kontrolliert – zum Teil aber eine Quelle neuer Probleme darstellt – indem er die Ergebnisse seines Handelns (etwa: Beweismittel, die von einem Untersuchungsrichter gewonnen werden) mit einem besonderen Hauch von Autorität umgibt. Die Probleme aber, die durch den Eintritt des Richters in das Verfahren gelöst werden, sind auf jeden Fall größer und dringender als die, die auf diesem Eintritt beruhen. (b) Zweitens und mit dem Gesagten eng verwandt ist, dass die Erwägungen von Steinberg an derselben deskriptiven Unzulänglichkeit der früheren Versionen der Theorie vom Prozessrechtsverhältnis leiden (s. o. III. 1. [S. 145 ff.]), also vor allem an ihrer Schwierigkeit, das Ermittlungsverfahren begrifflich zu erfassen. Denn das Prozessrechtsverhältnis entsteht erst nach Einbeziehung der drei Protagonisten Anklagebehörde, Gericht und Beschuldigter. So meint Steinberg, dass das Ermittlungsverfahren nicht zum eigentlichen Strafverfahren gehöre.1117 Das ist deshalb problematisch, weil – wie o. III. 1. (S. 146) bei der Stellungnahme zur alten, deskriptiven Theorie angemerkt wurde – damit die Neigung einhergeht, die Bedeutsamkeit des Ermittlungsverfahrens zu unterschätzen. Bereits das Ermittlungsverfahren verkörpert eine qualifizierte Verdächtigung, ist Ausdruck von Machtausübung und muss deshalb dem Betroffenen gegenüber gerechtfertigt werden können. Bei Steinberg führt dieser deskriptive Fehler noch zu der gerade gerügten normativen Verzerrung: Es entsteht der Eindruck, der Betroffene stünde nach der Ankunft des Richters schlechter da als zuvor, als allein die Exekutive die Verfolgung in der Hand hatte. (c) Ferner erscheinen aus der hier eingenommenen Perspektive die Erwägungen von Steinberg in eine Richtung zu anspruchsvoll, in eine andere hingegen zu bescheiden. Zu anspruchsvoll dürfte vor allem das Projekt sein, eine allgemeine, 1116 Endgültig abgeschafft durch das Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts v. 12.9.1950, BGBl. 1950 I, 455, Nr. 179 f. 1117 Steinberg, Richterliche Gewalt, S. 99.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

also auch den Zivil- und Verwaltungsprozess erfassende Prozesslehre zu entwickeln. Unabhängig davon, ob er seiner eigenen Zielsetzung gerecht wird,1118 wäre zu fragen, ob dies überhaupt ein berechtigtes Anliegen darstellt. Nicht nur ist das Bedrohungspotenzial des Strafverfahrens ein völlig anderes als das anderer Verfahrensarten. Es ist sogar zweifelhaft, ob das Verwaltungsprozessverfahren, das grundsätzlich ein vom Bürger initiiertes Rechtsschutzverfahren darstellt, richtigerweise im Lichte des Leitgesichtspunkts der Freiheitsgefährdung durch die Judikative gedeutet werden kann.1119 Die vorliegenden Erwägungen nehmen stattdessen im strafprozessspezifischen Gesichtspunkt der qualifizierten Verdächtigung ihren Ausgangspunkt und verzichten insofern auf jede über das Strafverfahren hinausgehende Gültigkeit. (d) Zu bescheiden erscheint es auf der anderen Seite, wenn Steinberg sich von vornherein auf eine verfassungsdogmatische Begründung festlegt und auch deshalb darauf verzichtet, für seine Theorie einen Anspruch übernationaler Gültigkeit zu formulieren.1120 Nichts hätte ihn daran gehindert, deutlicher zwischen dem universell gültigen Anliegen der Begrenzung richterlicher Macht und der positivrechtlich-verfassungsdogmatischen Übersetzung bzw. Operationalisierung dieses Anliegens zu unterscheiden (s. o. Teil 1 Kap. 1 C. [S. 104 f.]) und dadurch seinen Thesen die ihnen eigentlich zustehende Kraft zuzuerkennen. (e) Ob seine konkreteren dogmatischen Thesen überzeugen, muss einer den einzelnen Themen gewidmeten Untersuchung überlassen werden. Hier sei nur angemerkt, dass die individualschützende Deutung der Prozessvoraussetzungen, eine Kategorie, deren Auswirkungen auf die Rechtskraftlehre uns u. Teil 2 Kap. 4 F. II. 4. (S. 794 ff.) einige Schwierigkeiten bereiten wird, sehr gewagt anmutet.1121 Welches Individuum wird durch das Verfahrenshindernis des Todes1122 geschützt, wenn der Tote schon per se frei von jeder Prozessbeteiligung ist? Soll die Prozessvoraussetzung der deutschen Gerichtsbarkeit auch als Schutz des Individuums verstanden werden?1123

1118

Skeptisch Haas, ZStW 125 (2013), S. 133. Dies scheint Steinberg selbst einzusehen, etwa Richterliche Gewalt, S. 94, oder S. 189, wo die Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht im Lichte der Abwehr-, sondern der Leistungsfunktion von Grundrechten gedeutet wird. 1120 Allgemeine Kritik an dieser Bescheidenheit bei Greco, Verfassungskonformes oder legitimes Strafrecht, S. 13 ff. 1121 Zweifelnd auch Haas, ZStW 125 (2013), S. 130. 1122 Wenn man den Tod als Verfahrenshindernis begreift, in diesem Sinne BGHSt 45, 108; s. a. u. Fn. 3200. 1123 Selbes Beispiel Haas, ZStW 125 (2013), S. 130, der auch die Verjährung anführt. 1119

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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b) Die neuere Lehre von der Prozessrechtssubjektivität aa) Dass der Betroffene niemals nur Objekt des Strafverfahrens, sondern immer zugleich als Prozesssubjekt anzusehen ist,1124 wird soweit ersichtlich von niemandem bestritten. Der anspruchsvollste Versuch, diese vagen und abstrakten Behauptungen mit Inhalt zu erfüllen stammt von Kahlo, der in dieser Hinsicht den Begriff der Prozessrechtssubjektivität verwendet. Die Prozessrechtssubjektivität gründe auf der allgemeineren Rechtssubjektivität.1125 Diese beruhe wiederum nicht auf der positiven Verbürgung von Grundrechten durch eine Verfassung, denn eine solche Annahme impliziere die Vorordnung des Verfassungsrechts vor den Einzelnen.1126 Vielmehr bewege sich die Ableitungskette in umgekehrte Richtung: „weil menschliches Dasein überhaupt – also auch das jeden Beschuldigten – Dasein von Subjektivität ist, hat Staatlichkeit Rechts-Staatlichkeit zu sein und muß Rechtssubjektivität dann auch (gerade) im Strafprozeß bewahrt werden“.1127 Es gebe Elemente, die „schlechthin konstitutiv für Subjektivität im Strafprozeß und insofern freiheitsnotwendig“ seien,1128 die deshalb auch kategorisch seien und nicht relativiert werden dürften.1129 Aus diesen Grundlagen versucht Kahlo, bekannte Garantien des rechtsstaatlichen Strafverfahrens herzuleiten. So folge z. B. die Unschuldsvermutung daraus, dass sich das autonome Rechtssubjekt auf sittliche und rechtliche Praxis ausrichte.1130 Der nemo tenetur-Grundsatz beruhe darauf, dass der Beschuldigte aus eigenem Entschluss nach eigenen Richtigkeitskriterien entscheiden dürfe, ob er am Verfahren mitwirken will.1131 Aus unserer Sicht ist vor allem die Ableitung der Rechtskraft und des ne bis in idem-Grundsatzes von Bedeutung: weil der Mensch ein Selbstzweck sei, müsse Strafe als tatschuldgerechte Reaktion begründet und begrenzt werden, und daraus folge der ne bis in idemGrundsatz.1132

1124 Beispielsweise Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 144; Sax, Grundsätze, S. 971; Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Bd. I Rn. 98 ff.; Gössel, Strafverfahrensrecht, S. 149; Wolter, SK-StPO 4. Aufl. vor § 151 Rn. 25; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht § 18 Rn. 1; aus der Rspr. BVerfGE 46, 202 (210); 57, 250 (275); 63, 380 (390); 109, 279 (312, 322); BGHSt 38, 372 (374). 1125 Kahlo, KritV 1997, S. 193; vgl. auch ders. FS Wolff, S. 175 ff.; ihm weitgehend folgend Kargl, JBRKSoz 1999, S. 109 ff. 1126 Kahlo, KritV 1997, S. 195. 1127 Kahlo, KritV 1997, S. 199. 1128 Kahlo, KritV 1997, S. 201. 1129 Kahlo, KritV 1997, S. 201. 1130 Kahlo, KritV 1997, S. 201; ähnl., wenn auch etwas allgemeiner, ders. FS Wolff, S. 175 f. 1131 Kahlo, KritV 1997, S. 205. 1132 Kahlo, KritV 1997, S. 204.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

bb) Zwei kritische Bemerkungen dürften angebracht sein. (1) Der Gedanke, dass der Betroffene im Verfahren ein Subjekt ist, das eigenständige Rechte innehat, kann nicht ernsthaft in Frage gestellt werden.1133 Hierin liegt nichts anderes als ein prozessualer Niederschlag des auf Kant zurückgehenden Instrumentalisierungsverbots, also des Verbots, einen Menschen bloß als Mittel für fremde Zwecke zu missbrauchen.1134 Diese Gedanken sind also in keiner Weise falsch. Zu bemängeln ist jedoch, dass sie zu spät ansetzen. Behauptet wird nämlich: Wenn ein Verfahren besteht, dann ist der Betroffene als Subjekt und nicht bloß als Objekt des Verfahrens zu behandeln. Die Frage, ob der Betroffene überhaupt einem Verfahren ausgesetzt werden darf, die Frage also nach dem Recht zur qualifizierten Verdächtigung, wird aber nicht gestellt. (2) Ferner sind Zweifel anzumelden, ob der Ansatz wirklich über die konkretisierungsbedürftige Behauptung der Prozessrechtssubjektivität des Betroffenen hinausgeht. Er bleibt eine klare Bestimmung schuldig, welche Rechte für das Prozesssubjekt konstitutiv sind. Zwar wird man schwerlich bestreiten können, dass ein Aussagezwang mit der Anerkennung einer Prozessrechtssubjektivität inkompatibel ist. Wie gesehen, hat dies aber damit zu tun, dass ein Aussagezwang mit dem Sinn des Verfahrens, aus dem Gewaltakt der Strafe wenigstens in einer bestimmten Hinsicht einen Akt der Kommunikation zu machen, unverträglich ist (s. o. 2. d) cc) [S. 257]). Viele der weiteren von Kahlo angebotenen Ableitungen sind indes zweifelhaft. Wenn die Unschuldsvermutung darauf beruhen soll, dass das autonome Rechtssubjekt sich auf die sittliche und rechtliche Praxis ausrichte, dann fragt man sich, wieso das autonome Subjekt überhaupt dazu in der Lage ist, eine Straftat zu begehen.1135 Auch die Ableitung der Rechtskraft und des ne bis in idem-Grundsatzes führt in eine richtige Richtung, bleibt jedoch unzureichend.1136 Ähnlich wie die Figur des Prozessrechtsverhältnisses bedarf auch die Figur der Prozessrechtssubjektivität also erheblicher Konkretisierung. Die Maßstäbe für diese Konkretisierung werden vielfach von außen, also von anderen bzw. zusätzlichen Erwägungen kommen müssen. cc) Nahestehende Überlegungen stellt auch Zaczyk an.1137 Anlässlich einer Kritik an der Verabreichung von Vomitivmitteln als Ermittlungseingriff besteht er darauf, dass der Verdächtige immer als Prozesssubjekt, niemals als reines Objekt des Verfahrens anzusehen sei. Folge davon sei, dass alle gegen ihn gerichte1133

E contrario aus nationalsozialistischer Perspektive Peters, ZStW 56 (1935),

S. 38. 1134 1135

Hierzu bereits o. III. 3. (S. 192). Vgl. Frister, Schuldprinzip, S. 75, 89, gegen den ähnlichen Standpunkt von Kös-

ter. 1136 Konkret: sie erklärt nur den Strafklageverbrauch bei einer Verurteilung, aber nicht den bei einem Freispruch. 1137 Zaczyk, StV 1993, S. 490 ff.; ders. StV 2002, S. 125 ff.

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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ten Maßnahmen u. a. sich nur insoweit legitimieren lassen, als sie sich von ihm „als Vernunftsubjekt betrachtet – als Maßnahmen verstanden werden können, die jeder einzelne im Interesse einer staatlichen Strafverfolgung hinzunehmen hat“.1138 Hier wird ein Gesichtspunkt, der in die erste Rechtfertigungsstufe gehört – das Interesse einer staatlichen Strafverfolgung – durch einen begrifflichen Kunstgriff, nämlich die Bildung eines „Vernunftsubjekts“, in die dritte Rechtfertigungsstufe hineingeschmuggelt. Diese Vorgehensweise ist der in der vorliegenden Arbeit vielfach kritisierten gegensatzaufhebenden Methode zumindest verwandt (o. III. 3. [S. 179 f.], III. 5. [S. 194, 196 f.], IV. 1. [S. 228 f.], V. 2. [S. 232 f.]). Unter Benutzung dieser Argumentationsweise können alle nur erdenklichen Interessen der Gesellschaft als solche des Betroffenen ausgegeben und somit ihm gegenüber legitimiert werden. Zaczyks kompromisslose Ablehnung der Verabreichung von Vomitivmitteln lässt sich auf Grundlage der von ihm gesetzten Prämissen nicht mehr nachvollziehen. Sein Vernunftsubjekt fungiert damit als in die Festung der autonomen Person eingeschlichenes trojanisches Pferd.1139 c) Teilhabe am Verfahren als Legitimitätsvoraussetzung der Strafe aa) Die These, dass nur Strafen, die im Rahmen eines geregelten Strafverfahrens verhängt werden, legitimierbar sein können, lässt sich hören. Nulla poena sine processu, sagt man gelegentlich. Die beeindruckende Monografie von Gaede kann auch als Versuch verstanden werden, diese These, die zu den bereits behandelten Lehren von der Verfahrensgerechtigkeit ein nahes Verhältnis hat (o. 2. d) cc) [S. 251 ff.]), streng rechtsdogmatisch auszuarbeiten. Die Bemühungen von Gaede gelten der Auslegung und Konkretisierung des in Art. 6 EMRK niedergelegten Gedankens des fairen Verfahrens.1140 In einer umfassenden Untersuchung, die wohl die gesamte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aufarbeitet, versucht Gaede, das faire Verfahren, das als „integrales Menschenrecht“ 1141 und nicht bloß als Bündel einzelner Rechte verstanden wird, auf straftheoretische Überlegungen zurückzuführen: Nur die Strafe, die im Anschluss an ein derartiges Verfahren verhängt wird, könne dem Bestraften gegenüber legitim sein.1142 Das faire Verfahren sei „nicht primär 1138

Zaczyk, StV 2002, S. 126. Krit. zu einer solchen Argumentationsform bereits Greco, Lebendiges, S. 169 ff. 1140 Z. B. Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 336 f. – es gehe ihm „nicht um eine strikt rechtsphilosophisch gestellte Frage nach dem ,Wesen des fairen Verfahrens‘ schlechthin“, sondern um das, was „im Kontext des Art. 6 EMRK . . . das faire Verfahren dieses positiv geltenden Menschenrechts ausmacht“. 1141 Etwa Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 290, 383 ff. 1142 Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 357 ff.; s. a. knapp ders. EnzEuR Bd. 9 § 3 Rn. 71. 1139

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1. Teil: Strafprozesstheorie

gesellschaftlich über generalpräventive oder normstabilisierende Wirkungen der Gerichte begründet: Es handelt sich um ein Menschenrecht des Angeklagten, um sein Verfahren, in dem die Gerechtigkeit der Bestrafung ihm gegenüber zu rechtfertigen ist“.1143 „Es gilt der Satz nulla poena sine judicium“.1144 Vor allem fungiere das Verfahren als gebotener Ausgleich für die „Unzulänglichkeit der menschlichen Erkenntnis und Entscheidung“.1145 Die Einlösung dieser „herausragenden Ausgleichspflicht des strafenden Staates“ sei es, die „die Strafe überhaupt erst mitlegitimiert“.1146 Der Bestrafte habe die Strafe deshalb zu dulden, weil und insoweit er an dem Verfahren, das diese Strafverhängung ermöglicht hat, als sich effektiv verteidigendes Rechtssubjekt hat teilhaben können.1147 Erst dann, wenn gesagt werden kann, dass „das Urteil nicht nur ein Urteil über ihn [ist], sondern eines, das mit ihm entstanden ist“,1148 ist die Strafe dem Betroffenen gegenüber gerechtfertigt. bb) Eine umfassende Kritik der von Gaede vorgelegten inhaltlichen tour de force kann im vorliegenden Zusammenhang nicht geleistet werden. Vor allem müssen hier die vielen Fragen zum Verteidigungsrecht,1149 deren Lösung eigentliches Anliegen der Monografie ist und die den Anlass für sein Theorisieren liefern, außer Betracht bleiben. Hier soll nur angemerkt werden, dass obwohl Gaede nicht den Aufwand gescheut hat, die oben zusammenfassend dargestellte theoretische Untermauerung zu entwickeln, man bei der Lektüre den Eindruck hat, dass diese Theorie bei der Lösung der einzelnen Fragen eher eine sekundäre Rolle spielt. Denn Gaedes argumentativer Haupttrumpf dürfte in erster Linie der Gedanke sein, dass alle in der EMRK enthaltenen Rechte so auszulegen sind, dass sie konkret und wirksam sind.1150 Das gibt der ganzen Argumentation eine konsequentialistische Ausrichtung, die sich zulasten unverfügbarer Positionen auswirken könnte, auch wenn die sorgfältigen Ausführungen von Gaede dieser Versuchung soweit ersichtlich nicht erliegen. (1) Gaedes zentrale strafprozesstheoretische Thesen sind erstens, dass das Verfahren eine Voraussetzung für eine legitime Bestrafung darstellt; zweitens, dass das Verfahren diese Legitimierung dadurch bewirkt, dass es die Teilhabe des Beschuldigten an der Entscheidung über seine Bestrafung gewährleistet. Nur die erste These soll uns hier beschäftigen. Ihr kann im Wesentlichen zugestimmt 1143

Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 371. Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 374. 1145 Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 375 ff. (Zitat S. 375). 1146 Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 381. 1147 Gaede, Fairness als Teilhabe, insb. S. 339 ff., 383 ff., 389 ff. 1148 Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 390 f. 1149 Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 494 ff., 789 ff. 1150 Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 43 (das Zitat, das die Monografie eröffnet), 89 ff., 103 ff., 134 – die Maxime bewirke eine „Elektrifizierung“, 410 ff. 1144

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werden. Sie bestätigt die o. 2. d) cc) (S. 252 ff.) gewonnene Einsicht, nach der sich eine Strafverhängung ohne Strafverfahren in einem Akt der Gewalt erschöpfen würde, der insoweit einen Legitimitätsmangel aufweisen würde. (2) Die Reflexionen Gaedes bleiben dennoch einseitig. Denn wie alle Versuche, den Prozess auf straftheoretische Erwägungen zu stützen, haben sie dem Unschuldigen, über den allein schon wegen seiner Unschuld keine Strafe verhängt werden darf, nichts zu sagen. Für den Unschuldigen, der die qualifizierte Verdächtigung dulden muss, ist völlig belanglos, dass erst die Strafe, die nach einem Verfahren verhängt würde, legitim wäre. Denn als Unschuldiger darf er überhaupt nicht bestraft werden, punctum. Vergleichbare Probleme ergeben sich bei einem Verfahren, das durch eine Einstellung oder einen Freispruch endet: ist es der Sinn des Verfahrens, die Strafe zu legitimieren, scheinen die Verfahren, die ohne Strafe enden, sinnlos zu sein. Diese Probleme belasten den hier vorgezogenen Ansatz nicht. Denn ein Prozess, der ein bestimmtes Ergebnis ermöglicht, der es insofern vorbereitet, muss unabhängig davon, ob es zu diesem Ergebnis kommt, gewisse Qualitäten aufweisen. Der Arzt ist nicht deshalb davon entbunden, seinen Patienten vor einer riskanten und gebotenen Operation aufzuklären, bloß weil der Patient nachträglich stirbt. Ähnlich muss ein Strafverfahren unabhängig von seinem Ergebnis Kommunikation verkörpern, denn nur dadurch wird sichergestellt, dass die eventuelle Verhängung eines Gewaltakts gleichzeitig als Akt des Respekts vor der Persönlichkeit des Betroffenen als einem Vernünftigen angesehen werden kann. (3) Zuletzt scheitern Gaedes Erwägungen an derselben Grenze, vor der die oben entwickelten Gedanken Halt machen mussten (o. 2. d) cc) [S. 259]): Sie setzen zu spät an, denn sie erklären nicht, weshalb der Prozess gegen den Unschuldigen beginnen darf. cc) Zusammenfassend: Gaedes These, nach der ein (faires) Strafverfahren eine notwendige Voraussetzung für eine legitime Strafe darstellt, ist zum größten Teil richtig. Sie hat in unsere Überlegungen schon Eingang gefunden, als 2. d) cc) (S. 252 ff.) die Rolle des Verfahrens als Zivilisierung des ansonsten reinen Gewaltaktes der Bestrafung ausgearbeitet wurde. Die hier vertretene Formulierung vermeidet spezifische Schwierigkeiten, zu denen die von Gaede vorgeschlagene führt, und ist deshalb vorzuziehen. 6. Eigene Begründung auf der dritten Rechtfertigungsstufe a) Dritte Zwischenbilanz Es empfiehlt sich, eine dritte und letzte Zwischenbilanz zu ziehen. Auf der ersten Rechtfertigungsstufe ging es um die Rechtfertigung des Strafverfahrens der Gesellschaft gegenüber. Diese muss mit dem vom Strafverfolgungssystem

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1. Teil: Strafprozesstheorie

verkörperten Bedrohungspotenzial zurechtkommen. Endzweck des Strafverfahrens ist die Abschreckungsgeneralprävention, die gleichzeitig Zweck der Strafe ist, und Zwischenzweck ist die materielle Wahrheit, als spezifischer Beitrag des Verfahrens zur Verwirklichung des Endzwecks. Dass man sich erst im Strafverfahren auf die Suche nach der materiellen Wahrheit begibt, ist ein Ausdruck der Freiheitlichkeit einer Gesellschaft. Das Verfahren beugt also vor, dass diese Freiheitlichkeit zugunsten eines totalen Überwachungssystems aufgegeben wird. Am Ende der ersten Rechtfertigungsstufe bleibt die Rechtfertigung des Verfahrens gegenüber dem Individuum noch offen, insbesondere gegenüber dem Unschuldigen, der von einem Verfahren betroffen ist, das aus seiner Perspektive eine „qualifizierte“ Verdächtigung verkörpert; ferner bleibt ungeklärt, wieso die Gesellschaft auch bei Einzelfällen, in denen die Wahrheit auch ohne Etablierung eines totalen Überwachungssystems bekannt ist (Mord im Gerichtssaal, „Dachauer Schütze“), Strafverfahren durchführen muss. Auf der zweiten Rechtfertigungsstufe bewegen sich die Ansätze, die das Übel des Strafverfahrens mit Berufung auf Interessen des betroffenen Individuums zu rechtfertigen suchen. Das gesamte Unternehmen der Rechtfertigung auf dieser Stufe erweist sich indes als zweifelhaft, weil letztlich nicht die Interessen des Individuums, sondern sein Wille die normativ ausschlaggebende Größe darstellt. Eine Berufung auf Interessen, die am Willen des Interessenträgers vorbeigeht, ist autonomiemissachtender Paternalismus. Dennoch kann auf dieser Stufe die Problematik des Dachauer Schützen teilweise gelöst werden: Auch dann, wenn ein Verfahren zur Lösung eines Erkenntnisproblems nicht vonnöten erscheint, erhöht die verfahrensmäßige Aufarbeitung eines kriminellen Vorgangs die Wahrscheinlichkeit, dass über diesen allein nach sachlichen Kriterien und nicht auf der Grundlage von Emotionen geurteilt wird. Das Verfahren hilft also, ein Motivationsproblem zu lösen, und wird deshalb grundsätzlich dem Willen des Betroffenen entsprechen, wenn dieser schuldig ist und auch weiß, dass die anderen davon wissen. Offen bleibt die Rechtfertigung des Verfahrens dem Unschuldigen gegenüber und gegenüber dem bekannten Schuldigen, der mit dem Verfahren nicht einverstanden ist. Es erscheint deshalb geboten, die interessenbezogene zweite Rechtfertigungsstufe zu überwinden und die dritte, respektbezogene Rechtfertigungsstufe zu betreten. Auf dieser Stufe wurde zuerst ausgearbeitet, dass der Schuldige nicht bloß die Pflicht hat, Strafe zu erdulden, sondern auch das Verfahren, so dass von einer Verfahrenserduldungsschuld gesprochen werden kann. Unabhängig von Schuld und Unschuld verkörpert das Verfahren zudem einen Imperativ des kommunikativen und nicht bloß gewaltbasierten Umgangs mit Mitmenschen. Diese Erwägungen, die das Problem des Dachauer Schützen restlos lösen können, vermögen aber noch nicht, die Durchführung eines Verfahrens gegenüber dem Unschuldigen zu rechtfertigen. Das ist die Aufgabe, die am Ende dieser dritten Bilanz noch offen steht, und um deren Lösung es im Folgenden gehen wird.

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b) Die Beling’sche Herausforderung Die Frage ist nicht erst, wie das Verfahren dem Unschuldigen gegenüber gerechtfertigt werden kann, sondern vielmehr schon, ob das überhaupt geht. Einerseits ist die Berufung auf ein Interesse der Gesellschaft Instrumentalisierung – denn was geht es ihn an, der nichts getan hat, dass die Gesellschaft Generalprävention und materielle Wahrheit erreichen und sich nicht in eine totale Überwachungsanstalt verwandelt sehen will? Andererseits ist die Berufung auf ein Interesse des Unschuldigen Paternalisierung – ein Verfahren ermöglicht eine distanzierte Beurteilung der Tat, aber beim Unschuldigen gibt es keine Tat, weshalb es ihm wohl lieber wäre, in Ruhe gelassen zu werden. Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma zwischen Instrumentalisierung und Paternalisierung, oder bedeutet es, dass jedes gegen einen Unschuldigen durchgeführte Strafverfahren eigentlich rechtswidrig ist? Diese auf den ersten Blick verblüffende, nach dem Gesagten aber keineswegs theoretisch so fernliegende These wurde in der Tat vertreten. Fischer erklärte in seinem dogmengeschichtlich bedeutsamen Buch über „Die Rechtswidrigkeit“ die gegen einen Unschuldigen gerichtete Strafverfolgung für rechtswidrig, auch wenn sie aus Gründen der Rechtssicherheit Wirksamkeit entfalten könnte.1151 Derjenige, der wohl die scharfsinnigsten Reflexionen zum vorliegenden Problem entwickelte, war aber Beling. Beling nimmt Anstoß an der von Fischer vertretenen These, dass die Strafverfolgung gegen Unschuldige rechtswidrig sei. Denn dies hätte zu bedeuten, dass die Justiz als ein „fortgesetztes Verüben unerlaubter Handlungen“ anzusehen wäre.1152 Deshalb bemüht Beling die Rechtsfigur der „Rechtswidrigkeit von Ergebnissen vollrechtmäßiger Handlungen“.1153 Es gebe rechtswidrige Erfolge, die nicht auf rechtswidrigen, sondern vielmehr auf vollumfänglich rechtsgemäßen Handlungen beruhten, umgekehrt wie es auch rechtswidrige Handlungen gebe, die rechtskonforme Erfolge herbeiführen.1154 Die Verfolgungstätigkeit ist nach Beling für sich genommen rechtmäßig, solange sie prozessordnungsgemäß erfolgt. Das sei aber nicht das Ende der Geschichte: „Die Frage: Was darf die Behörde dem Individuum antun?, also die Frage nach der Rechtsgemässheit der Prozessleiden selber, ist scharf zu trennen von der Frage, was die Behörde tun darf, also der Frage nach der Rechtmässigkeit des eigenen Handelns der Be1151

H. A. Fischer, Rechtswidrigkeit, S. 103. Beling, Grenzlinien, S. 16. 1153 Beling, Lehre vom Verbrechen, S. 177; ders. Grenzlinien, S. 29 ff.; ders. Reichstrafprozeßrecht, S. 273; zust. Sax, ZZP 67 (1954), S. 38, 42. 1154 Als Beispiele führt er einerseits zu unwesentliche Immissionen nach § 906 Abs. 1 S. 1 BGB, andererseits die Verarbeitung einer fremden Sache an, § 950 BGB, die zum gesetzlichen Eigentumserwerb führt (Beling, Grenzlinien, S. 27; ausf. ders. Lehre vom Verbrechen, S. 170 ff.). 1152

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1. Teil: Strafprozesstheorie

hörde“.1155 „Deshalb ist dem Beschuldigten, und zwar einerlei, ob er schuldig ist oder nicht, von Rechts wegen nicht die Zumutung gestellt, dass er diese Leiden trage; er kann sich mit nicht unerlaubten Mitteln dagegen so schützen, wie der Nachbar eines rauchenden Schornsteins; er kann zur Beschwichtigung seiner Aufregung Baldriantropfen nehmen, kann sich in der Hauptverhandlung die Ohren verstopfen, soweit nicht der Ungebührgesichtspunkt platzgreift usw.“ 1156 Beling hat gesehen, dass die „Prozessleiden“ des Unschuldigen von keiner gesellschaftlichen Notwendigkeit gerechtfertigt werden können. Die Prozessordnung rechtfertigt zwar die Verfolgungshandlungen, und dies tut sie auf Grundlage von Interessenabwägungen; dies bedeutet aber noch nicht, dass dem Unschuldigen durch ein Strafverfahren nichts Schlimmes widerfährt. Die Rechnung des Strafverfahrens geht nicht ohne Rest auf. Diese wichtigen Gedanken Belings fanden in der nachfolgenden Diskussion so gut wie keine Berücksichtigung. Zu den wenigen Autoren, die sie aufgegriffen haben, gehörten Nagler, Kadecka und Sax. Jüngst hat auch Jakobs ähnliche Gedanken in die Diskussion eingeführt. Nagler beruft sich auf Beling, um den Eingriff und den daraus folgenden Zustand scharf voneinander zu trennen: Bei der prozessual einwandfreien Verhaftung eines Unschuldigen sei der Eingriff rechtmäßig, die daraus entstehenden Schädigungen aber nicht.1157 Kadecka widmet der von ihm sog. „Rechtspflicht, Unrecht zu leiden“ einen kurzen Beitrag: „Die Juristen wollen es nicht wahr haben, daß man unter Umständen von rechtswegen Unrecht leiden müsse, und hängen dem Unrecht, das man über sich ergehen lassen muß, ein Mäntelchen um, das seinen Unrechtscharakter verhüllt und ihm den Anschein des Rechts gibt.“ 1158 Als Beispiele führt er zunächst die pflichtgemäße Ausübung von Amtsrechten an, deren Voraussetzungen in Wahrheit aber nicht bestehen, den rechtswidrigen, aber bindenden Befehl, und auch den bürgerlich-rechtlichen Schutz des Besitzes sogar gegen den wahren Eigentümer.1159 Am interessantesten für uns ist aber, dass Kadecka diese Gedanken auf das Strafverfahren überträgt: Nicht nur die rechtskräftige Entscheidung, die materiell unrichtig ist, sondern auch „alle vorläufigen Eingriffe zur Sicherung eines noch ungewissen Rechtes“, wie etwa die an einen in Wahrheit Unschuldigen verhängte Untersuchungshaft,1160 seien Unrecht, das man als Bürger erleiden müsse. Kadecka bietet für diese auf den ersten Blick paradoxe Erscheinung auch eine Erklärung: Als „Friedensordnung“ müsse die 1155 1156 1157 1158 1159 1160

Beling, Grenzlinien, S. 31. Beling, Grenzlinien, S. 31. Nagler, FS Frank, S. 356 f. Kadecka, östRiZ 1937, S. 467. Kadecka, östRiZ 1937, S. 467, 468, 468 f. Kadecka, östRiZ 1937, S. 468 (Zitat), 467 (Beispiel der U-Haft).

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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Rechtsordnung vom Individuum verlangen, dass es bei unvermeidbar menschlichen Irrtümern der rechtsausführenden Organe auf den Kampf um sein Recht verzichte und widerstandslos Unrecht erleide.1161 Die Stellungnahme von Sax gilt dagegen eher dem Problem des materiellrechtlich unrichtigen Urteils, das von Beling aber nur als Zuspitzung des logisch und zeitlich vorrangigen Problems der Durchführung eines Verfahrens gegen einen Unschuldigen angesehen wird.1162 Sax sucht bei der Kategorie des rechtswidrigen Erfolges um Aushilfe: Er meint, bei der vorliegenden Frage gehe es um die „Existenz selbst der Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft, als Rechtsfriedensgemeinschaft“.1163 „Im Punkte des unrichtigen Urteils und seiner duldungspflichtigen Vollstreckung geraten Existenz der Gemeinschaft und Existenz des Einzelnen in tragischen Konflikt“.1164 Der Unschuldige müsse deshalb aufgeopfert werden; dies bleibt jedoch ein rechtswidriger Erfolg, der von keinen sonstigen Nutzen wegkompensiert werden könne. Vor Kurzem wurde dieser Gedanke von Jakobs neuentdeckt, der die Kategorie der „asymmetrischen Rechtfertigung“ eingeführt hat, also einer Rechtfertigung, die nicht den Anspruch erhebt, die einschlägige Maßnahme dem Betroffenen gegenüber zu rechtfertigen, und diesen insofern – in der Sprache von Jakobs – „exkludiert“.1165 Die Beispiele, die er vor Augen hat, sind vor allem der Abschuss eines von Terroristen gekaperten Flugzeugs und die auch von Nagler diskutierte Untersuchungshaft gegen einen materiell Unschuldigen. Es wäre also ein kleiner Schritt bis zur Erstreckung des Gedankens auf das ganze Verfahren. Diese Stellungnahmen sind aus mehreren Gründen aufschlussreich. Erstens zeugen sie von einem außerordentlich scharfen Problembewusstsein, das heute zum großen Teil abhanden gekommen ist. Dass Strafverfahren durchgeführt werden, ohne dass man sicher sein kann, dass nur Schuldige betroffen sind, wird allgemein als Selbstverständlichkeit hingenommen, die es aber keineswegs ist. Zweitens beruhen diese Stellungnahmen auf der Erkenntnis, dass nicht einmal die Existenz der Rechtsgemeinschaft dieser ein Recht gegen den Einzelnen und 1161

Kadecka, östRiZ 1937, S. 469. Beling, Grenzlinien, S. 31; ders. Reichstrafprozeßrecht, S. 273. 1163 Sax, ZZP 67 (1954), S. 43. And. später ders. Grundrechte, S. 970, der das Verfahren als notwehrähnliche „,erforderliche Verteidigung‘ gegenüber dem ,rechtswidrigen Angriff‘ durch ein bestimmtes Verbrechen“ begriff, das „nur legitimiert und daher mit der grundgesetzlichen Garantie der durch sie verletzenden Persönlichkeitswerte nur vereinbar (sei), soweit sie zur Erreichung des Zieles einer sachgerechten Strafrechtspflege unverzichtbar sind und unter grundsätzlicher Achtung der Menschenwürde des Betroffenen diese nur im unerläßlichen Maße beeinträchtigen“. Hier zieht Sax die Pointiertheit der früheren Thesen zurück und begnügt sich mit einem Notwendigkeitsargument, das letztlich nur Instrumentalisierung bedeutet. 1164 Sax, ZZP 67 (1954), S. 43. 1165 Jakobs, System, S. 51 f.; ähnlich wie Kadecka spricht Jakobs von der „Frage nach dem Recht zu dieser Rechtswidrigkeit“ (Begriff der Person, S. 80). 1162

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1. Teil: Strafprozesstheorie

seine Unschuld zu geben vermag. Ist man unschuldig, dann hat man die für Schuldige vorgesehene Behandlung nicht zu dulden, und dies auch dann nicht, wenn alle anderen ein starkes und nachvollziehbares Interesse daran haben, dass man dies tut. Drittens haben sie den Mut zur Unschönheit. Sie versuchen nicht, die Rechtfertigungslücke zu verdecken oder wegzukompensieren, sondern legen den Finger auf die Wunde und stellen fest, dass die Inanspruchnahme desjenigen, der nichts getan hat, etwas Rechtswidriges verwirklicht, solange man nur Interessen der Gesellschaft (und wir können hinzufügen: des Betroffenen) anführen kann. Not schafft per se noch kein Recht.1166 Man nenne diese These, nach der die „Strafleiden“ des Unschuldigen rechtswidrig sind, die Beling’sche Herausforderung. Es bleibt fraglich, ob es dabei sein Bewenden hat, oder ob diese Herausforderung ohne Instrumentalisierung oder Paternalisierung überwunden werden kann. c) Erster Versuch der Überwindung der Beling’schen Herausforderung: der Aufopferungsgedanke aa) An dieser Stelle liegt es nahe, eine aus dem öffentlichen Recht geläufige Rechtsfigur heranzuziehen, die auch in der strafprozessualen Diskussion eine wichtige Rolle spielt und die wir bereits bei der Auseinandersetzung mit Köhler (o. 5. a) [S. 292 f.]) und mit dem Gedanken des Störerprinzips (o. 4. [S. 289, insb. Fn. 1089]) kennengelernt haben, nämlich den Aufopferungsgedanken. Von der Erkenntnis ausgehend, dass Strafverfahren in erster Linie um der Gesellschaft willen durchgeführt werden, meint eine nicht geringe Anzahl von Autoren, dass betroffene Unschuldige deshalb ein „allgemeines Opfer für die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege“ aufbringen.1167 Das Strafverfahren stelle daher das „gerade noch zumutbare Sonderopfer eines Unschuldigen“ dar.1168 Es bestehe eine gewisse Nähe zum rechtfertigenden Notstand, der auch die Inanspruchnahme Unbeteiligter unter bestimmten, strengen Voraussetzungen gestattet.1169 1166 Man vergleiche demgegenüber Rocco, Cosa giudicata I, S. 226 Fn. 2, der seine Ablehnung der von anderen Autoren vorgenommenen Unterscheidung zwischen einer rechtlichen und einer sozialen Begründung der Rechtskraft folgendermaßen erklärt: „[W]as für das Leben des Staates notwendig ist, ist gerade deshalb, weil es notwendig ist, natürlich, physiologisch und deshalb auch rechtlich.“ 1167 Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 337; bereits ders. NJW 1979, S. 622. 1168 Krauß, Unschuldsvermutung, S. 176 (Zitat); ferner E. Müller, NJW 1976, S. 1066; Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), S. 1206, 1217, 1257, 1261; Rieß, FS Schäfer, S. 194; Zielemann, Tatverdächtige, S. 87; Grünwald, StV 1987, S. 457 (neben dem Güterabwägungsprinzip); Jung, GS H. Kaufmann, S. 904 f.; Frister, Schuldprinzip, S. 103, 120 ff.; Schünemann, 58. DJT, S. B 95; Bottke, Verfahrensgerechtigkeit, S. 57 f.; Köhler, ZStW 107 (1995), S. 20 f.; Bottke, FS Roxin I, S. 1247; Zaczyk, StV 2002, S. 126 Fn. 25; Satzger, 65. DJT, S. C 83; Eser, Beschuldigter, S. 150; Haas, ZStW 125 (2013), S. 127; teilw. Wolter, GA 1985, S. 52. 1169 Grünwald, StV 1987, S. 457; Köhler, ZStW 107 (1995), S. 20.

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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bb) Der Gedanke der Aufopferung hat eine lange Tradition.1170 Seinen bleibenden positivrechtlichen Ausdruck fand er in den bekannten §§ 74 und 75 der Einleitung zum Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR) von 1794. § 74 Einl ALR bestimmte: „einzelne Rechte und Vortheile der Mitglieder des Staates muessen den Rechten und Pflichten zur Befoerderung des gemeinschaftlichen Wohls, wenn zwischen beiden ein wirklicher Widerspruch (Collision) eintritt, weichen.“ 1171 § 75 Einl ALR sah für diese Beanspruchung aber einen Ausgleich vor: „Dagegen ist der Staat denjenigen, welcher seine besonderen Rechte und Vortheile dem Wohle des gemeinen Wesens aufzuopfern genötigt wird, zu entschädigen gehalten“. Grundsätzlich ist also das gemeine Wohl Sache aller Bürger.1172 Werden aber einem bestimmten Bürger höhere Lasten aufgebürdet als seinen Mitbürgern, leistet er also ein sog. „Sonderopfer“, dann tritt eine Situation der Ungleichheit ein, die ausgeglichen werden muss. Deshalb begründet eine Aufopferung einen Anspruch auf Ausgleich. Die Grundlage dieses Anspruchs wird in einem Prinzip der Lastengleichheit gesehen,1173 der heute positivrechtlich überwiegend auf Art. 3 Abs. 1 GG zurückgeführt wird.1174 cc) Es fragt sich aber, ob die im Strafverfahren verkörperte qualifizierte Verdächtigung eine solche Aufopferung im öffentlich-rechtlichen Sinne darstellt. Die Beurteilung wird dadurch erschwert, dass der Aufopferungsgedanke sich seit seinem positivrechtlichen Niederschlag in den Vorschriften des ALR erheblich weiterentwickelt und verändert hat. Es erscheint unklar, auf welche Gestalt der Aufopferung abgestellt werden soll, zumal einige der Entwicklungsschritte wohl nicht in der Sache geboten waren, sondern eher mit der Kontingenz zu tun hatten, dass das deutsche Staatshaftungsrecht verschiedene Lücken aufweist, die man unter anderem durch eine Ausdehnung des Aufopferungsgedankens auszufüllen versucht hat.1175 Zu ähnlichen Schwierigkeiten führt die Verselbständigung anderer Institute, die traditionell Teil der Aufopferung waren, insbesondere also der Enteignung, was dazu geführt hat, dass man heutzutage von einer Aufopferung 1170 Hierzu ausf. Stödter, Öffentlich-rechtliche Entschädigung, S. 52 ff., 78 ff.; ferner Kreft, JA 1975, S. 133 ff. 1171 Siehe auch Häberlin, Handbuch I, S. 381: „Es ist eine weise, unumstößliche Regel, daß das Wohl des Einzelnen dem Wohl des Ganzen weichen müsse.“ 1172 Vgl. ausdrücklich § 73 Einleitung zum ALR: „Ein jedes Mitglied des Staats ist, das Wohl und die Sicherheit des gemeinen Wesens, nach dem Verhältniß seines Standes und Vermögens, zu unterstützen verpflichtet.“ 1173 So etwa Krumbiegel, Sonderopferbegriff, S. 16 f.; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 125, 130; näher Stödter, Entschädigung, S. 79 f. 1174 Schenke, NJW 1991, S. 1782; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 130; Brüning, JuS 2003, S. 3; teilw. and. Krumbiegel, Sonderopferbegriff, S. 16 f. (Art. 20 III i.V. m. Art. 4 u. Art. 14 GG). 1175 So mit beachtlichen Argumenten Schmitt-Kammler, JuS 1995, insb. S. 479 f., der der Rspr. sogar Unehrlichkeit vorwirft.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

nur bei einem Eingriff in immaterielle Güter spricht.1176 Die vorliegende Beurteilung wird sich deshalb weniger um eine Subsumtion unter die heute anerkannten Tatbestandsvoraussetzungen einer Aufopferungsentschädigung1177 bemühen und mehr einen Versuch verkörpern, den für die Aufopferung tragenden Gedanken zu dem vorliegenden Problem in eine Beziehung zu setzen. (1) Die Nähe des Aufopferungsanspruchs zu unserer Problematik ist offensichtlich. Insbesondere die Tatsache, dass ein Sonderopfer nach ursprünglicher Bestimmung und nach heutiger Ansicht auch dann vorliegt, wenn die Beanspruchung des Individuums rechtmäßig ist,1178 schlägt die Brücke zur Beling’schen Herausforderung, die einen rechtswidrigen Erfolg trotz rechtmäßiger Handlung postulierte. Es ist kein Zufall, dass in der öffentlich-rechtlichen Literatur dasjenige, das bei einer Aufopferung ausgeglichen werden soll, häufig als ein Erfolgsunrecht bezeichnet wird, das aus einer rechtsgemäßen Handlung herrühre.1179 (2) Nach näherem Hinsehen treten aber erste Zweifel zu Tage. Denn ein Sonderopfer bedeutet immer eine ungleiche Behandlung.1180 Anhand welcher Kriterien diese Ungleichbehandlung zu messen ist, ist alles andere als klar. Hier bedient man sich diffuser Formeln: Von einem Sonderopfer könne nur dann die Rede sein, wenn die Inanspruchnahme bzw. ihre Folgen gesetzlich nicht mehr gewollt sind,1181 wenn es nicht mehr um „zwangstypische Folgen“ gehe.1182 Die Maßnahme müsse eine „abschließend festgelegte Zahl von Rechtsinhabern“ treffen;1183 eine die Allgemeinheit als Ganzes gleich treffende Inanspruchnahme ist kein Sonderopfer. Gerade an dieser Stelle sind hinsichtlich des Strafverfahrens Zweifel am Platze. Denn dass Unschuldige von Strafverfahren getroffen werden, entspricht durchaus dem Willen des Gesetzgebers, der diese Gefahr sehenden Auges hinnimmt, und bildet eine zwangstypische Folge des Strafverfahrens.1184 In diesem Sinne meint Paeffgen in diesem Zusammenhang: „man wird sogar . . . 1176

Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 135. Zu ihnen statt aller Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 135 ff. 1178 Dafür, dass von Aufopferung allein bei rechtmäßigen Eingriffen die Rede sein soll, Stödter, Öffentlich-rechtliche Entschädigung, S. 15; Schmitt-Kammler, JuS 1995, S. 476 f. And. die Rspr. spätestens seit RGZ 140, 276 (281 ff.); gerade in der Rechtswidrigkeit liege das Sonderopfer (BGHZ 32, 208 [211 f.]); ausf. Krumbiegel, Sonderopferbegriff, S. 59 ff., 117 ff. Gelegentlich spricht man bei Rechtswidrigkeit nur von aufopferungsgleichen Eingriffen, etwa Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 133; Papier, Staatshaftung, Rn. 74 1179 Krumbiegel, Sonderopferbegriff, S. 128 ff., 130; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 133; dies wird von Schmitt-Kammler, JuS 1995, S. 478 f. in Erwägung gezogen. 1180 Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 137. 1181 Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 138; w. N. b. Brüning, JuS 2003, S. 7. 1182 Krumbiegel, Sonderopferbegriff, S. 29, m. z. N.; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 137: „Zwangstypik“, „Eingriffsadäquanz“. 1183 Brüning, JuS 2003, S. 7. 1184 Ähnl. Tiedemann, MDR 1964, S. 974. 1177

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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sagen müssen, daß es zu den typischen Fährnissen des Lebens gehört, Subjekt eines behördlichen Straftatverdachtes zu werden“.1185 Mit anderen Worten: Die Verdächtigung dürfte ein allgemeines Lebensrisiko darstellen, das ein Sonderopfer begrifflich ausschließt.1186 Sie könne jedem passieren, und gerade hierin, in der Tatsache, dass jeder ein potentieller Betroffener sei, liege der Grund, weshalb man nur schwer von einem Sonderopfer im Sinne einer ungleichen Behandlung sprechen könne. Welchen Stellenwert diese Bedenken haben, ist mir persönlich aber unklar. Sie belegen zwar, dass die Aufopferung, so wie sie heute verstanden wird, mit dem Strafverfahren wenig zu tun hat. Dieses heutige Verständnis der Aufopferung, das finale Eingriffe in ein Recht ausschließt, ist aber erst nach der Aussonderung des wichtigsten Aufopferungsfalls überhaupt, nämlich der Enteignung, möglich geworden. Enteignungen sind nach dem sog. „klassischen“ Enteignungsbegriff, zu dem das BVerfG in der berühmten Nassauskiesungsentscheidung weitgehend zurückgekehrt ist,1187 bekanntlich finale Eingriffe in das Eigentum eines Bürgers.1188 Ob der Aufopferungsgedanke aus innerer Notwendigkeit nur ungewollte bzw. zwangsuntypische Folgen erfassen muss, oder ob diese Einschränkung entwicklungsgeschichtlicher Zufall war, soll und kann im vorliegenden Zusammenhang nicht geklärt werden. Ich stelle nur fest, dass diejenigen, die den Aufopferungsgedanken deshalb für fehlgehend erachten, weil sie das Strafverfahren zutreffend als gewollte Einbuße deuten, den Aufopferungsgedanken voreilig mit der gerade anerkannten Gestalt der Tatbestandsvoraussetzungen für den Aufopferungsanspruch identifizieren, ohne die gerade hervorgehobenen Schwierigkeiten zu beachten.1189 (3) Ausschlaggebend dürfte vielmehr ein anderer Gesichtspunkt sein. Der Sonderopfergedanke betrifft eigentlich eine logisch spätere Frage, nämlich die nach dem Gewähren eines Ausgleichs. Die Frage, die uns gerade beschäftigt, ist ihr logisch vorgelagert: Uns geht es um die Rechtmäßigkeit des Eingriffs überhaupt. Im Falle des Sonderopfers für rechtmäßige Eingriffe beruht die Rechtmäßigkeit gerade auf § 74 Einl ALR,1190 also auf der keineswegs über jeden Zweifel erha1185 Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 227; ebenso Tiedemann, MDR 1964, S. 974; Göller, ZRP 1981, S. 58; Rieß, Kostenrecht, S. 157. Im Erg. auch Pawlik, GA 1998, S. 381, der aber unrichtig (s. o. V. 2. [S. 233 f.]) meint, hier gehe es um eine Verantwortlichkeit für die Folgen der eigenen verdachtsbegründenden Organisation. 1186 Zu dieser Kategorie im Allgemeinen BGHZ 46, 327 (330 ff.) – Unfall im Turnunterricht; BGH NJW-RR 1994, 213 (214) – Unfall eines Feuerwehrmannes; Ossenbühl, JuS 1970, S. 276 ff.; ders. Staatshaftungsrecht, S. 138; Brüning, JuS 2003, S. 7. 1187 BVerfGE 58, 300 (332 ff.); hierzu Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14 Rn. 355. 1188 Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14 Rn. 356; ausf. Stödter, Entschädigung, S. 113 ff. Auf die Finalität des Eingriffs bei Aufopferungen besteht heute immer noch SchmittKammler, JuS 1995, S. 475 f. 1189 Sehr ähnlich Frister, Schuldprinzip, S. 120 f. Fn. 59. 1190 Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 127.

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benen Annahme, dass individuelle Rechtspositionen dem Gemeinwohl zu weichen haben.1191 Hierin zeigen sich die vorrechtsstaatlichen Wurzeln des Sonderopfergedankens, die in der Vorstellung eines sog. ius eminens liegen,1192 also eines allen (erworbenen) Rechten der Individuen übergeordneten Rechts des Staates, individuelle Rechtspositionen im Interesse des Gemeinwohls aufzulösen. Dass diese Vorstellung nicht unbedenklich ist, liegt auf der Hand. Der Ausgleich für Sonderopfer verkörpert zwar eine „Idee einer Konfliktlösung zwischen Allgemeinwohl und Individualrecht“,1193 die darin besteht, dass die Individuen dem Gemeinwohl ihre Rechte wenigstens nicht einseitig preisgeben müssen:1194 Heute dulden, morgen liquidieren.1195 Dass man aber dulden muss, gilt bereits als geklärt. Der Gedanke des ius eminens liefert dafür indes eine entweder unverhohlen instrumentalisierende, oder eine viel zu blasse Begründung. Es gilt deshalb, an dieser Stelle weiterzufragen. d) Eigener Weg: Rehabilitierung bzw. Verdachtstilgung als Ausgleich für die Verdächtigung aa) Der Aufopferungsgedanke betritt die Bühne zu spät. Er will einen Ausgleich für eine bereits für rechtmäßig erklärte Inanspruchnahme begründen. Die auf der Rechtsfigur des ius eminens beruhende Rechtmäßigkeit der Inanspruchnahme steht aber als geklärte Vorfrage bereits fest. Sobald die Idee eines intrinsischen, also von jedem Gesellschaftsinteresse unabhängigen Eigenwerts des Individuums erfasst wird, wird auch klar, dass die Dinge um einiges komplizierter liegen. Ab diesem Moment reicht ein Gesellschaftsinteresse nicht mehr aus, um eine Position des Einzelnen zu überspielen. Ab diesem Moment gilt „der einem Untertanenstaat ziemende Satz“ 1196 Dulde und Liquidiere nicht mehr; ob und unter welchen Voraussetzungen man dulden muss, wird zur zentralen Frage. M. a.W.: Es gilt ein Instrumentalisierungsverbot. bb) Die Verdächtigung erfolgt zunächst im Interesse der Gesellschaft. Die Behandlung des Einzelnen allein nach Interessen der Gesellschaft bedeutet aber 1191 Richtig Stödter, Entschädigung, S. 61: „§ 74 EinlALR ist Ausdruck polizeistaatlicher Auffassung“. 1192 Grdl. Grotius, De iure belli ac pacis, Liber I, Caput I § VI; ebenso Häberlin, Handbuch I, S. 381 ff.; näher insb. Stödter, Entschädigung, S. 57 ff. m. v. Nachw.; dazu im 19. Jahrhundert G. Meyer, Erworbene Rechte, S. 3; aus heutiger Sicht dazu Kreft, JA 1975, S. 457 f.; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 125, mit einem Zitat des Naturrechtlers Achenwall. 1193 Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 124. 1194 Stödter, Entschädigung, S. 59 spricht von einem „letzten Bollwerk“ des Individualismus. 1195 Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, S. 53 Fn. 27: „. . . so läuft alle Garantie der bürgerlichen Freiheit im Polizeistaate auf den Satz hinaus: dulde und liquidiere“. Diese Stelle zitiert auch Stödter, Entschädigung, S. 61. 1196 Treffende Kennzeichnung von Bottke, Verfahrensgerechtigkeit, S. 40.

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dessen Instrumentalisierung. Nur dann, wenn trotz der Beanspruchung des Einzelnen seine Rechtssphäre unvermindert bleibt, m. a. W., wenn und soweit dem Betroffenen nichts weggenommen wird, wird man den Verdacht der Instrumentalisierung verbannen können. Die Beanspruchung des Einzelnen verlangt deshalb nicht erst nach einem nachträglichen Ausgleich nach Vorbild des Duldens und Liquidierens, sondern nach einem durchgehenden Ausgleich. Der Ausgleich ist keine Rechtsfolge einer bereits rechtmäßigen Beanspruchung, sondern eine Voraussetzung ihrer Rechtmäßigkeit, die sie deshalb immer auch begleiten muss. Der Zusammenhang zwischen rechtmäßiger Beanspruchung und Ausgleich ist deshalb viel enger als ihn die Aufopferungslehre konzipiert hatte.1197 cc) Die Frage ist also, wie dieser Ausgleich näher beschaffen ist. Dies lässt sich aus der universell orientierten Perspektive nicht in aller Genauigkeit sagen. Man kann allgemein sagen, dass dem Betroffenen wenigsten so viele Rechte und Befugnisse eingeräumt werden müssen, dass man davon sprechen kann, dass seine Rechtssphäre aus rechtlicher Perspektive während des ganzen Verfahrens unvermindert fortbesteht. Zwei Ebenen lassen sich unterscheiden: (1) Zunächst eröffnen Strafverfahren den Verfolgungsinstanzen die Möglichkeit, dem Beschuldigten eine Vielzahl konkreter Maßnahmen und Belastungen aufzuerlegen. Jede dieser besonderen Belastungen muss durch die Gewährung besonderer Rechte ausgeglichen werden. Aus diesen Gedanken entsteht ein Modell eines auf einer direkten „Kompensation von Prozesslagen“ 1198 bedachten Strafverfahrens;1199 in diesem, aber auch nur in diesem Sinne wird man von ei1197 Vielleicht liegt in dieser Behauptung eine wenig wohlwollende Deutung der Aufopferungslehre. Denn gelegentlich ist die Aufopferungsidee so formuliert worden, dass sie Ausfluss des Gedankens sei, nach dem der Staat, der im Namen des Gemeinwohls dem Einzelnen die Funktion seines Rechts (konkreter: den Bestand seines Eigentums) entziehen müsse, dennoch dieses Recht seinem Wert nach unangetastetet lassen müsse, also einen Anspruch auf Entschädigung entstehen lassen müsse (Stodter, Entschädigung, S. 60; Kreft, JA 1975, S. 458; s. a. G. Meyer, Wohlerworbene Rechte, S. 20: Es gebe zwar keinen Grundsatz der Unverletzlichkeit des erworbenen Rechts, aber doch einen Grundsatz der Unverletzlichkeit des Vermögens in seinem Gesamtbestand; und Dürig: Das Sonderopfer sei deshalb zulässig, „weil der Staat von vornherein wollen muß“, dass es ausgeglichen werde, Dürig/Scholz, M/D-GG Art. 3 I Rn. 57). Es bleibt aber dabei, dass die Rechtmäßigkeit des Rechtsentzugs unabhängig von der Entstehung des Ausgleichsanspruchs zu sein scheint, da die Rechtmäßigkeit sogar zur Voraussetzung des den Ausgleichsanspruch begründenden Sonderopfers erklärt wird. Ist meine Deutung aber verfehlt, dann würden in der Tat nicht viele inhaltliche Unterschiede zwischen dem hier angefordeten Ausgleich und der Aufopferungslehre bestehen. Auf jeden Fall geht es um verwandte Gedanken. 1198 So Schünemann, Warnung vor Holzwegen, S. 268 f., der auch von einem „homöophatische[n] Prinzip“ spricht (S. 269). 1199 Siehe bereits Carrara, Del giudizio criminale, S. 41 ff., mit einer fragwürdigen naturphilosophisch-metaphysischen Begründung; heutzutage insb. Schünemann, etwa GA 2008, S. 331 ff.; ders. ZStW 119 (2007), S. 945; s. a. Schubarth, Unschuldsvermutung, S. 32 f.; und von einem sehr ähnlichen Ausgangspunkt wie hier Bottke, FS Roxin I, S. 1249. Bzgl. der Verteidigung Ortloff, GrünhutsZ 23 (1896), S. 521: Verteidigung

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1. Teil: Strafprozesstheorie

nem Prinzip der Waffengleichheit sprechen dürfen, wenn auch dieser Ausdruck wegen dessen Einbettung in eine wettkampforientierte Tradition eher gemieden werden sollte (s. o. 2. d) bb) [S. 250]). Um welche Rechte es dabei gehen wird, lässt sich aber noch nicht in allen Hinsichten von vornherein bestimmen, sondern hängt weitgehend von der Beschaffenheit der in einem Verfahrenssystem vorgesehenen besonderen Belastungen ab. Man kann bestimmte anerkannte menschenrechtliche Mindeststandards auf diesen Gedanken zurückführen: So muss das Recht der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts, den Betroffenen durch von ihnen herbeigeführte Zeugenaussagen zu belasten, einen Ausgleich finden, was durch die Zuerkennung eines Konfrontationsrechts (Art. 6 Abs. 3 d EMRK) geschieht; alle Zwangsmaßnahmen, die ohne Anhörung des Beschuldigten angeordnet werden können (und deshalb von dem Gesichtspunkt des Art. 103 Abs. 1 GG aus problematisch sind), müssen im Idealfall einem Richtervorbehalt unterstellt werden, oder (bei Gefahr im Verzug) wenigstens nachträglicher gerichtlicher Überprüfung zugänglich sein;1200 und das Recht der Verfolgungsinstanzen, den Betroffenen in Untersuchungshaft zu bringen, muss durch umfassende Kontrollrechte, unter anderem auch ein Rechtsmittel zu einem höheren Gericht kompensiert werden.1201 (2) Aber auch das Verfahren selbst stellt eine Belastung dar, die o. B. VI. (S. 131 ff.) als qualifizierte Verdächtigung beschrieben worden ist. Diese Belastung ist empirisch und vor allem logisch unabhängig vom Vorhandensein einzelner konkreter Belastungsakte im obigen Sinne. Für den Unschuldigen bleibt die Verdächtigung und die damit implizierte Duldung des Strafverfahrens eine Vorleistung. Will man sie nicht von vornherein als rechtswidrig ansehen, darf sie nur deshalb von ihm abverlangt werden, wenn der Prozess gleichzeitig die Möglichkeit gibt, die Verdächtigung aufzuheben, und den Verdacht zu tilgen. Die Verdächtigung ist aber eine reelle Einbuße; bloß die Aussicht darauf, dass sie irgendwann aufgehoben werden soll, ist keine äquivalente Gegenleistung zum Übel der Verdächtigung. Ein solches Äquivalent ist erst dann gefunden, wenn das Verfahren zugleich das Versprechen verkörpert, dass der Betroffene nicht nur für die nächste Zeit, sondern auf immer in Ruhe gelassen werden soll. Erst also die Aussicht auf eine Aufhebung der Verdächtigung, ergänzt um das Verbot, je wieder zu verdächtigen, vermag das Übel des Verfahrens so aufzuwiegen, dass man die Rechtssphäre des Betroffenen während des ganzen Verfahrens als unvermindert ansehen kann, so dass keine Instrumentalisierung vorliegt. Die Rechtssphäre des bereits Verfolgten ist wenigstens in einer Hinsicht stärker als die des von vorn-

als „organisch-mechanische Herstellung eines Gleichgewichts gegenüber der Staatsanwaltschaft“. 1200 Amelung, NJW 1979, S. 1688; Nelles, Kompetenzen, S. 53 f.; Fezer, Jura 1982, S. 129; Schnarr, NStZ 1991, S. 210. 1201 Näher mit Nachw. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 19 Rn. 67.

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herein Unbehelligten. Diese zwei Gegenleistungen sollen hier unter dem Begriff der Verdachtstilgung oder Rehabilitierung zusammengefasst werden.1202 Es liegt auf der Hand, dass eine Entschädigung in Geld keinen hinreichenden Ausgleich für das Dulden des Verfahrens darstellen würde. Das heißt noch lange nicht, dass eine solche nicht geschuldet ist; überwiegend wird sie sogar als Konkretisierung der Aufopferungsentschädigung begriffen,1203 also mit einem Gedanken in Verbindung gesetzt, dem die hier gebotene Begründung zumindest nahesteht.1204 Sie bewegt sich aber auf einer anderen Ebene als die der qualifizierten Verdächtigung, deren Kern nicht darin liegt, dass der Betroffene eine Vermögenseinbuße erleidet, sondern dass er zum Beschuldigten gemacht worden ist.1205 Auch dann, wenn die positivrechtlich vorgesehene Entschädigung nicht so geizig bemessen wäre,1206 wäre es unangemessene Monetarisierung dessen, was dem Betroffenen geschieht, wenn die Legitimation, jemanden zu verdächtigen, aus der Bereitschaft folgen würde, einen bestimmten Geldbetrag zu bezahlen. (3) Erst der Gedanke der Rehabilitierung bzw. der Verdachtstilgung bietet den Schlüssel, weshalb auch gegen den Unschuldigen ein Strafverfahren angestrengt 1202 Terminologische Bemerkung: Ein Vorteil des Wortes Verdachtstilgung ist, dass es nicht geläufig ist, so dass keine große Gefahr von Missverständnissen entsteht. Von Rehabilitierung bzw. Rehabilitation ist dagegen in einer Vielzahl von Zusammenhängen die Rede. Meistens geht es um die Beseitigung einer Verurteilung (so im Wesentlichen der Sprachgebrauch des StrRehaG) oder ihrer Eintragung im Strafregister; überwiegend geht es um mehr, um die Beseitigung der sozialen Folgen einer Verurteilung, s. etwa Peters, Strafprozeß, S. 703: „Rehabilitation des Verurteilten bedeutet seine Wiedereingliederung in die Rechtsgemeinschaft durch Beseitigung des Strafmakels“; mit ähnlicher Bedeutung sprachen nationalsozialistisch orientierte Autoren von „Reinigung“, s. etwa Henkel, DStR 1935, S. 402, 404; Hegler, Zur Strafprozeßerneuerung, S. 15. Ziemann, Rehabilitierungsgedanken, S. 663 ff. unterscheidet instruktiv drei Bedeutungen des Ausdrucks: Es gebe eine Rehabilitierung im finanziellen (Entschädigung, Wiedergutmachung), im formell-rechtlichen (Beseitigung der Verurteilung) und im materiellrechtlichen (Beseitigung des sozialethischen Unwerturteils) Sinne. Auf dies alles kommt es hier nicht an; unsere Rehabilitierung bezieht sich nicht auf soziale Folgen, sondern einfach auf die verfahrenskonstituierende Verdächtigung; sie bedeutet bloß die Aufhebung der qualifizierten Verdächtigung und das Verbot ihrer Erneuerung; in das Schema von Ziemann wäre also eine zusätzliche Form „formell-rechtlicher Rehabilitierung“ einzuordnen. Zur Geschichte des Begriffs Wachenfeld, GA 1907, S. 161 ff. 1203 Siehe D. Meyer, Strafrechtsentschädigung, Einl Rn. 11 f.; K.-H. Kunz, StREG Einl Rn. 31 beide m.w. Nachw.; s. bereits Geyer, Entschädigung I, S. 516 f., der von einer Analogie zur Enteignung spricht. 1204 Siehe oben Fn. 1197. 1205 Bereits Geyer, Nord und Süd 18 (1881), S. 179, der aber „Entschädigung an der Ehre“ fordert, was wohl materiellrechtliche Rehabilitierung i. S. Ziemanns bedeutet (s. o. Fn. 1202). 1206 Zur Kritik bereits Baumann, FS Heinitz, S. 709 und Naucke, Einführung, § 4 Rn. 45, beide bzgl. der Höhe der Entschädigung für jeden Tag Freiheitsentziehung, zur Zeit als Naucke schrieb 11 A, seit 2009 25 A (§ 7 Abs. 3 StREG); Ziemann, Rehabilitierungsgedanken, S. 665; billigend dagegen K.-H. Kunz, StREG § 7 Rn. 77.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

werden darf. Ihm gebührt deshalb eine prominente Stellung in der Strafprozesstheorie.1207 Die Strafverfahrenstheorie soll sich aber keine Illusionen machen. Zwar ist die Rehabilitierung Kehrseite der Verdächtigung, die garantieren soll, dass das Strafverfahren die Rechtssphäre des Betroffenen nicht vermindert. Immerhin erwächst ihm das den weiteren Mitbürgern nicht zustehende Recht, wegen der Sache nicht mehr verdächtigt zu werden. Selbstverständlich soll damit die Zumutung, ein Verfahren zu erdulden, nicht geleugnet oder bagatellisiert werden. Beim tatsächlich Unschuldigen erreicht diese Zumutung die Grenze des gerade noch Erträglichen, das durch keine Rehabilitierung vollumfänglich ausgeglichen werden kann. Es bleibt deshalb dabei, dass jedes Strafverfahren gegen einen Unschuldigen einen unüberwindbaren Rest an Ungerechtigkeit verkörpert. Diese Ungerechtigkeit kann nur dann erträglich sein, wenn sie der menschlichen Unvollkommenheit geschuldet bleibt, und solange sie noch als Mahnung empfunden wird, Strafverfahren äußerst vorsichtig und schonend zu führen, so dass Strafverfolgung auch und gerade im Falle der Unschuld verantwortbar bleibt. Gerade im Strafverfahrensrecht macht sich die von Radbruch für jeden Juristen hervorgehobene Bedeutung des schlechten Gewissens spürbar.1208 (4) Verdachtstilgung bzw. Rehabilitierung hat also im vorliegenden Zusammenhang schlicht die Verdächtigung als ihren Bezugspunkt.1209 War eine Verdächtigung ein Urteil des Inhalts, jemand habe möglicherweise etwas Schlechtes getan, und war die das Strafverfahren konstituierende Verdächtigung dadurch qualifiziert, dass sie vom Staat geäußert wurde und eine Straftat zum Gegenstand hatte (o. B. V., VI. [S. 129 ff.]), dann bedeutet Rehabilitierung zunächst – in ihrer 1207

Ähnliches wird von vereinzelten Autoren seit vielen Generationen behauptet, die sich um eine Erhebung der Rehabilitierung (freilich nicht immer in unserem Sinne, s. bereits o. Fn. 1202) auf den Status eines Prozesszwecks bemühen: Grolman, Grundsätze, § 576: „Endzweck“ des Verfahrens sei „kein anderer, als damit der Verbrecher mit der verdienten Strafe belegt, der Unschuldige aber öffentlich als solcher anerkannt werde“; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 88 f., der von einer „zweiseitigen Schutzaufgabe des Strafverfahrens“ spricht, nämlich Überführung des Schuldigen und dem „vielleicht Nichtschuldigen die Möglichkeit der Reinigung vom Verbrechensverdacht in angemessenem Umfang bietet“; Steinberg, Richterliche Gewalt, S. 34, 193: „Neben dem Prozesszweck der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs tritt derjenige der Rehabilitierung des unschuldig Angeklagten“. Siehe auch Peters, Strafprozeß, S. 503, demnach das freisprechende Urteil einen „Anspruch auf Rechtsruhe“ begründe. Nicht selten wird der Rehabilitierung der Status eines „Nebenzwecks“ des Strafverfahrens zuerkannt, wobei prozesstheoretisch unklar bleibt, was ein Nebenzweck genau bedeutet: Tiedemann FS Peters II, S. 142; Tiedemann, FS Peters II, S. 142; Kühl, Unschuldsvermutung, S. 50; Gössel, Strafverfahrensrecht, S. 166; Pflüger, GA 1992, S. 35; Pfeiffer, Grundzüge, Rn. 2; Meyer-Goßner, StPO Einl. Rn. 8. Siehe auch im 19. Jahrhundert Leue, Anklage-Prozeß, S. 256 ff., der aus dem Rehabilitierungsrecht des Anklagten ein weiteres Argument für die Öffentlichkeit des Verfahrens herleitet. 1208 Radbruch, Einführung, S. 105 Fn. 1; ders. Vorwort zu Kirchmann, S. 23. 1209 Siehe auch Fn. 1202.

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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Dimension als Aufhebung der Verdächtigung – den actus contrarius, also ein Urteil, das das Verdächtigungsurteil negiert: Ein Verdacht, der eine neue Verfolgung rechtfertigen könnte, besteht nicht mehr. Wer nicht bereit ist, diesen Satz auszusprechen, auch dann, wenn über seinen Wahrheitsgehalt noch letzte Zweifel fortbestehen, darf sich nicht das Recht zusprechen, jemanden zu verdächtigen. Ansonsten wird der Rechtssphäre des Betroffenen etwas weggenommen; die vom Verfahren in Anspruch genommene Unbescholtenheit geht endgültig verloren. Die Rehabilitierung des Unschuldigen und auch des möglicherweise Schuldigen ist also Bedingung der rechtlichen Möglichkeit einer Verdächtigung, die nicht zwischen Schuld und Unschuld unterscheidet. Wie gesagt begnügt sich das Instrumentalisierungsverbot nicht mit einem Dulden und Liquidieren. Dennoch liegt es in der Natur der Sache, dass faktisch zuerst verdächtigt wird; die rechtlich zwar eröffnete Aussicht auf Rehabilitierung gerät zunächst in den Hintergrund. Die Duldung der Verdächtigung bleibt deshalb in einer wichtigen Hinsicht eine Vorleistung. Es besteht aber ein wechselseitiger Zusammenhang zwischen dieser Vorleistung und der Gegenleistung der Rehabilitierung. Die Rehabilitierung muss gewährt werden, weil der Staat ansonsten keinen Anspruch auf die Erduldung der Verdächtigung erheben darf; und der Staat kann einen Anspruch auf die Erduldung der Verdächtigung erheben, solange er dem Betroffenen zu rehabilitieren verspricht und ihm insofern rechtlich nichts wegnimmt. Dieser Zusammenhang bedeutet insbesondere, dass das Rehabilitierungsrecht spiegelbildlich zur Verdächtigung sowohl in ihrer horizontalen als auch in ihrer vertikalen Dimension (s. o. B. VI. [S. 132]) zu konzipieren ist. Wie sich diese vorpositiven Vorgaben auf die Rechtskraftslehre auswirken werden, ist Gegenstand der nächsten Abschnitte (u. Teil 2, Kap. 3, 4). e) Der Schuldige in der Strafprozesstheorie Jetzt bietet es sich an, den Blick auf den Schuldigen zu richten und die an unterschiedlichen Passagen über seine Rechtsstellung entwickelten Gedanken zusammenhängend zu behandeln und weiter zu entwickeln. Es leuchtet schon intuitiv ein, dass die Legitimation des Strafverfahrens ihm gegenüber nicht so schwer sein kann wie beim Unschuldigen. Wir erklärten das damit, dass Schuld nicht nur eine Strafe, sondern auch die Duldung eines Verfahrens schuldet, dass es so etwas wie eine Verfahrenserduldungsschuld gibt (s. o. 2. c) [S. 240 f.]). Eine unmittelbare Berufung auf die Figur, bevor die Schuld verfahrensgemäß festgestellt wird, um Zumutungen an den Betroffenen zu begründen, verbietet sich aber aus zwei Gründen. Erstens strahlen einige Rechte, deren Sinn es ist, die Unschuld in Schutz zu nehmen, auf den Schuldigen reflexartig aus (o. 2. c) [S. 242 f.]); man muss den Schuldigen so behandeln, als wäre er nicht schuldig, denn nur unter dieser Voraussetzung lässt sich das Inakzeptable vermeiden, nämlich dass man den Unschuldigen behandelt, als wäre er schuldig. Das Beispiel eines solchen

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1. Teil: Strafprozesstheorie

Rechts war das Schweigerecht. Der Schuldige ist zudem teilweise eigenständiger Träger von Rechten, und nicht bloßer Trittbrettfahrer an den Rechten des Unschuldigen. Dies beruht auf dem Bestreben, den eventuell anschließenden Gewaltakt der Strafe durch einen vorherigen Kommunikationsakt zu läutern, ein Bestreben, das seinerseits auf einem Imperativ des Respekts vor der Menschlichkeit anderer Menschen beruht (s. o. 2. d) cc) [S. 258 ff.]). Diese zwei Gründe führen dazu, dass man bei der Bestimmung der Rechtsposition des Beschuldigten nicht zwischen Schuldigen und Unschuldigen unterscheiden darf. Daraus ergibt sich die von der vorliegenden Theorie angebotene Ableitung der Unschuldsvermutung: Die gerade noch zulässige Strafverfolgung des möglicherweise Schuldigen, aber in Wahrheit Unschuldigen, darf nur dann erfolgen, wenn man keinem Verfolgten etwas antut, was nicht einem Unschuldigen gegenüber verantwortet werden könnte. Deshalb ist trotz der Tatsache, dass die letzte Grundlage der Legitimierung des Verfahrens dem Schuldigen und Unschuldigen gegenüber eine verschiedene ist, nicht die offensichtlich absurde Folgerung zu ziehen, dass es eigentlich zweierlei Verfahren geben sollte, eins für Schuldige und eines für Unschuldige. Zum einen kommt der Schuldige in den Genuss der Rechte des Unschuldigen, zugegeben als Trittbrettfahrer. Zum anderen beruhen die wichtigsten Rechte jedes Beschuldigten auf Gründen der Verfahrensgerechtigkeit, die bloß damit zu tun haben, dass das Verfahren Kommunikation verkörpern soll, und sind somit von der Schuldfrage unabhängig. Beide Gründe zusammen führen dazu, dass auch dem Schuldigen wenigstens im Laufe des Verfahrens, genauer: wenigstens bis zur Entkräftung der Unschuldsvermutung alle Rechte, die ein Unschuldiger haben muss, gewährt werden. Insbesondere die oben genannten Ausgleichmechanismen müssen ebenfalls dem Schuldigen zugutekommen; mit dem Ergebnis, dass auch der Schuldige, bei dem die Entkräftung der Unschuldsvermutung nicht gelingt, am Ende des Verfahrens rehabilitiert werden muss. So widersinnig wie es sich vielleicht anhört: Das Strafverfahren rehabilitiert nicht nur den Unschuldigen, sondern auch den Schuldigen, dessen Schuld es nicht beweisen kann. Um den Unschuldigen verfolgen zu dürfen, und um überhaupt menschlich zu verfolgen, muss der Staat bereit sein, auch den Schuldigen, dessen Schuld sich nicht bestätigt, auf immer in Ruhe zu lassen. Beim überführten Schuldigen sind die Dinge einfach. Die Unschuldsvermutung ist widerlegt, so dass dieses Gebot der Gleichstellung mit dem Unschuldigen außer Kraft tritt. Das Strafübel darf verhängt werden. Von Rehabilitierung kann nicht die Rede sein. Trotzdem hat er ein Verfahren erduldet. Es stimmt zwar, dass bereits seine Schuld ihn dazu verpflichtete. Diese Pflicht hat er eigentlich erfüllt, so dass man sagen kann, dass seine (Prozesserduldungs-)Schuld getilgt ist (näher u. Teil 2 Kap. 3 B. [S. 637 ff.]). Im Ergebnis und in einer wichtigen Hinsicht steht er also genauso da wie der Rehabilitierte.

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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f) Weitere Implikationen Die angebotene theoretische Grundlegung soll sich insbesondere für die Klärung der Probleme der Rechtskraft, die den Gegenstand der nächsten Abschnitte dieser Arbeit bilden, als fruchtbar erweisen. Von einer allgemeinen Theorie, die sich mit der Legitimität des Strafverfahrens als Ganzes beschäftigt, wird man aber eine Vielzahl von Implikationen für andere Fragen erwarten müssen. Die wohl augenfälligsten unter diesen Implikationen sollen im vorliegenden Abschnitt wenigstens kurz angedeutet werden. Sie in aller Konkretheit auszuarbeiten wäre jedoch selbstverständlich eine Aufgabe, der man sich erst in eigenständigen Untersuchungen zuwenden könnte. In erster Linie wird aus dem Gesagten eine starke Relativierung des Unterschieds zwischen Freispruch und Einstellung folgen. Nicht so, dass der Freispruch der Einstellung,1210 sondern umgekehrt die Einstellung dem Freispruch angenähert wird. Denn auch eine Einstellung wird die Erklärung verkörpern, dass die Verdächtigung sich nicht bestätigt hat. Sie wird auch in einem bestimmten Umfang strafklageverbrauchende Wirkung entfalten müssen (näher u. Teil 2 Kap. 4 F. II. 3.–7. [S. 788 ff.]). Dies wird unter anderem dazu führen, dass die Diskussion über einen möglichen Anspruch des Beschuldigten auf Fortsetzung des Verfahrens, insbesondere der Beweisaufnahme bis zum Beweis der Unschuld an sich etwas deplatziert erscheint.1211 Der vorliegende Ansatz vermag auch gut zu erklären, warum es keine sog. Freisprüche zweiter Klasse geben darf, und warum nicht erst die Behauptung der Schuld,1212 sondern auch die Behauptung eines fortbestehenden Verdachts in Freisprüchen, Einstellungs- oder Kostenentscheidungen zumindest zweifelhaft sein dürfte:1213 solche Praktiken sind mit 1210 So wie im alten Inquisitionsverfahren (s. u. Teil 2 Kap. 1 C. IV. [S. 351], VII [S. 362 f.]), das die berüchtigte Figur der sog. absolutio ab instantia kannte (näher u. Teil 2 Kap. 1 C. VII. [S. 363 f.], Kap. 4 C. II. [S. 704 f.]), und heute noch in Österreich, vgl. Moos, Österreichisches Strafprozeßrecht, S. 66. 1211 Gegen einen solchen Anspruch BGHSt 7, 153; 16, 374 (378 ff.); OLG Stuttgart NJW 1968, 1296; Kühl, Unschuldsvermutung, S. 50 f.: jeder Freispruch als Bestätigung der „unwiderlegt gebliebenen Unschuldsvermutung“; ders. JR 1978, S. 97; Trechsel, SchwJZ 1981, S. 319: „überflüssig und sinnlos“; Gropp, JZ 1991, S. 807; krit. Kuckein, FS Keller, S. 140 ff. 1212 BVerfGE 74, 358 (369 ff., 373 f., 375 – aber nur bzgl. Schuldfeststellungen vor Schuldspruchreife, S. 374, 376); BVerfG NJW 1990, 2741 (2742 f.); EGMR EuGrZ 1983, 475 (Rn. 5, 37 ff.; Fall Minelli); s. a. BVerfGE 6, 7 (10); 28, 151 (160 ff.). 1213 So insb. Kühl, Unschuldsvermutung, S. 120 ff., 131 f.; ders. JR 1978, S. 98 f.; zust. Tiedemann, FS Peters II, S. 142; auch Steinberg, Richterliche Gewalt, S. 156 f.; und neuerdings Stuckenberg, FS Hilger, S. 51 ff. Der EGMR bejaht eine Verletzung der Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK) bei Verdachtsäußerungen trotz eines Freispruchs, s. Sekanina v. Österreich, Beschw. Nr. 13126/87 v. 25.8. 1993, Rn. 30 f.; Rushiti v. Österreich, Beschw. Nr. 28389/95, v. 21.3.2000 Rn. 31; Weixelbraun v. Österreich, Beschw. Nr. 33730/96, v. 20.12.2001, Rn. 25 ff.; and. BVerfG NJW 1990, 2741 (2742 f.; dagegen mit beachtlichen Argumenten das Sondervotum von Mahrenholz, ebda. S. 2743 f.).

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1. Teil: Strafprozesstheorie

dem Versprechen unverträglich, denjenigen, dessen Schuld man nicht im Strafverfahren nachweisen kann, zu rehabilitieren. Vielleicht könnte der vorliegende Ansatz auch für das Feld der Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen aufschlussreich sein. Insbesondere sollte man sich über eine allgemeine Entschädigungspflicht nicht bloß für Urteilsfolgen (§ 1 StrEG), einzelne Strafverfolgungsmaßnahmen (§ 2 StREG) oder Opportunitätseinstellungen (§ 3 StREG), sondern bereits für Strafverfolgungen, die nicht mit einer Verurteilung enden, ernsthaft Gedanken machen.1214 Möglicherweise bedenklich erscheint daher auch die Eintragung von Verfahren in das Bundeszentralregister, die wegen Schuldunfähigkeit ohne Verurteilung abgeschlossen werden (§ 11 Abs. 1 Nr. 1 BZRG),1215 und die Eintragung von Freisprüchen, bei denen sich nicht ergibt, dass der Betroffene die Tat nicht begangen oder nicht rechtswidrig begangen hat, in das Verfahrensregister der Staatsanwaltschaft (§ 484 Abs. 2 S. 2 StPO).1216

D. Gesamtfazit zur strafprozesstheoretischen Grundlegung Am Ende dieses grundlagenorientierten Kapitels sollen die bisherigen Ergebnisse zusammenfassend dargestellt werden und einige Punkte, die hervorgehoben zu werden verdienen, weil sie entweder offen geblieben sind oder weil gegen sie gerichtete Einwände zu erwarten sind, wenigstens andeutungsweise berührt werden. I. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse Die erste Aufgabe einer fruchtbaren Theorie des Strafverfahrens muss es sein, zu erklären, ob und warum das Strafverfahren gerechtfertigt werden kann. Ein Strafverfahren stellt in zweierlei Hinsichten ein malum dar, dessen absichtliche Zufügung deshalb einer Rechtfertigung bedarf. Auf einer institutionellen Ebene bedeutet das Vorhandensein von Strafverfahren eine ständige, latente Bedrohung für die ganze Gesellschaft; auf einer individuellen Ebene mutet das Strafverfahren dem Betroffenen zu, mit einer staatlich unterbreiteten Verdächtigung, dass er möglicherweise eine Straftat begangen habe (qualifizierte Verdächtigung), zurechtzukommen.

1214 In diesem Sinne bereits Geyer, Nord und Süd 18 (1881), S. 180, 184; ders. Entschädigung I, S. 498 f., 510 ff., 528 ff. Vorbildhaft könnte hier die Regelung des schweizerischen Rechts sein, Art. 429 schwStPO; s. in diesem Sinne bereits Geyer, Nord und Süd 18 (1881), S. 180, 184; ders. Entschädigung I, S. 498 f., 510 ff., 528 ff. 1215 Kuckein, GS Keller, S. 144 ff. führt die von ihm gebilligte Vorschrift (S. 147) als zusätzliches Argument gegen den von ihm kritisierten Grundsatz der Tenorbeschwer an. 1216 Bedenken auch bei Stuckenberg, FS Hilger, S. 53 f.; Weßlau, SK-StPO § 484 Rn. 18. Erst recht problematisch erscheint die Vorschrift des § 494 Abs. 2 S. 2–4 StPO, die sogar im Falle des Freispruchs Daten speichert (krit. a. Weßlau, SK-StPO § 494 Rn. 15 ff.; positiver Hilger, LR-StPO § 494 Rn. 28 ff.).

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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Zunächst sind Rechtfertigungsbemühungen durchgesehen worden, die das gesellschaftliche Interesse an der Durchführung von Strafverfahren in ihren Mittelpunkt stellen („erste Rechtfertigungsstufe“). Es hat sich ergeben, dass der Endzweck des Strafverfahrens der Zweck der Strafzufügung ist, also die abschreckungsgeneralpräventiv erforderliche Bestätigung der Wirklichkeit der Androhung. Das Verfahren darf aber diesen Zweck nicht direkt anstreben; vielmehr soll sich sein Beitrag zur Verwirklichung dieses Endzwecks darin erschöpfen, dass er den Zwischenzweck der Auffindung der materiellen Wahrheit anvisiert. Dadurch, dass nach der materiellen Wahrheit erst geforscht wird, nachdem sich etwas Auffälliges ereignet hat, bewahrt die Institution des Strafverfahrens die Gesellschaft vor der Versuchung, sich in eine totale Überwachungsgesellschaft zu verwandeln. Begründungen, die sich darin erschöpfen, gesellschaftliche Interessen heranzuziehen, vermögen aber allein die erste, institutionelle Dimension des Übels des Strafverfahrens zu rechtfertigen. Sie bedeuten aus der Perspektive des Individuums, das sich mit einer qualifizierten Verdächtigung konfrontiert sieht, eine Instrumentalisierung. Um dieser Unzulänglichkeit zu entgehen, könnte man zunächst versuchen, die Interessen des Individuums mitzuberücksichtigen („zweite Rechtfertigungsstufe“). Zwar wird der Schuldige, dessen Schuld auch bekannt ist („Dachauer Schütze“), ein Interesse daran haben, nicht sofort bestraft zu werden, sondern dass davor gegen ihn ein Verfahren durchgeführt wird. Die meisten Beschuldigten würden es dennoch vorziehen, sich erst gar nicht in ein Strafverfahren verwickelt zu sehen. Der Versuch, das Verfahren durch Interessen des Beschuldigten zu rechtfertigen, und zwar trotz der Tatsache, dass die Mehrheit der Beschuldigten sich von diesem Interesse ausdrücklich distanzieren, entpuppt sich – bestenfalls, d.h. wenn er noch aufrichtig ist – als autonomiemissachtende Paternalisierung. Nur eine Betrachtungsweise, die ihren Ausgangspunkt nicht mehr in Interessen, sondern in Rechten des Individuums sieht, wird dem sich ergebenden Dilemma zwischen Instrumentalisierung und Paternalisierung entgehen können („dritte Rechtfertigungsstufe“). Eine solche Betrachtungsweise erschließt zuerst den Eigenwert des Verfahrens, als Bemühung, aus der Bestrafung etwas zu machen, was sich nicht in einem Gewaltakt erschöpft, sondern auch Kommunikation verkörpert. Weil ein Strafverfahren aber kein freiwilliges Gespräch ist, sondern einseitige Verdächtigung, reicht dieser Gesichtspunkt für eine Rechtfertigung des Verfahrens, insbesondere dem Unschuldigen gegenüber, immer noch nicht aus. Der Staat, der in Wahrnehmung gesellschaftlicher Interessen, insbesondere der Prävention von Straftaten, ein Individuum besonders belastet, es m. a. W. aufopfert, darf dies nur tun, wenn er gegenüber diesem Individuum eine besondere Legitimationsgrundlage geltend machen kann. Beim Schuldigen ist diese Grundlage die Schuld des Individuums, also der Umstand, dass sich das Individuum in einer gewissen Hinsicht die Zufügung eines Übels selbst auferlegt; die Schuld

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1. Teil: Strafprozesstheorie

gestattet es nicht nur, ihn zu strafen, sondern auch, ihn zu verdächtigen. Der Unschuldige dagegen darf nur insoweit in Anspruch genommen werden, wie ihm wenigstens aus rechtlicher Perspektive „nichts weggenommen“ wird, wenn also seine Rechtssphäre als unvermindert fortbestehend angesehen werden kann. Dies ist erst dann der Fall, wenn die Belastung der Verdächtigung zugleich das Versprechen verkörpert, den Betroffenen in dem Fall, in dem sich der Verdacht nicht bestätigen lässt, auf immer in Ruhe zu lassen, ihn also zu rehabilitieren. II. Zusatzbemerkungen 1. Zur Komplexität der Theorie In der Tat ergab sich aus den vorstehenden Reflexionen keine einfache, aus einem einzigen Grundgedanken bestehende Theorie. Es ist zu erwarten, dass dies als Mangel empfunden wird, als Beleg dafür, dass man den letzten Gründen, die einfach sein müssen, noch nicht habhaft geworden ist.1217 Dies wäre aber ein Vorurteil. An sich sollte man vorsichtig sein, nicht ein zu heißes Eisen zu berühren. Man wird in der vorliegenden Arbeit die rechtsontologische Frage nach der Existenz einer Mehrzahl von (rechtlich relevanten) Gründen, die voneinander unterschiedlich und aufeinander irreduzierbar sind, und die rechtsepistemologische Frage der selbständigen Erkennbarkeit dieser Gründe offen lassen.1218 Hier wird man sich mit einem bescheidenen rechtsethischen Argument begnügen: Nämlich dass schon die unterschiedlichen Richtungen oder Dimensionen des hier behandelten Legitimationsproblems es äußerst unwahrscheinlich machen, dass es durch einen einzigen Gesichtspunkt gelöst werden kann. Denn die Existenz einer bedrohlichen Verfolgungsinstitution muss der Gesellschaft gegenüber gerechtfertigt werden; die qualifizierte Verdächtigung im Einzelfall muss dagegen dem Betroffenen gegenüber gerechtfertigt werden. Dass also ein einziger Gesichtspunkt die Brücke zwischen gesellschaftlicher und individueller Perspektive, zwischen Makro- und Mikroebene zu schlagen vermag, erscheint äußerst unwahrscheinlich. Dies würde vielmehr die Existenz und Erkennbarkeit einer bestimmten Stelle voraussetzen, in der sich alle diese höchst heterogenen Perspektiven und Ebenen miteinander in einer prästabilisierten Harmonie befinden. Bis zum Beweis des Gegenteils spricht alles eher dafür, dass solche Gesichtspunkte weitgehend inhaltsleer sein müssen, dass also die angestrebte Harmonie nur auf Kosten eines fast vollständigen Verzichts auf aussagekräftige 1217 Man erinnere sich an Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 538: „die systematische Einheit“ sei „dasjenige . . ., was gemeine Erkenntniß allererst zur Wissenschaft (. . .) macht (. . .). Ich verstehe aber unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee.“ Eindringlich in diesem Sinne mit z. T. eher dunklen Erwägungen Rath, FS Küper, S. 466 ff. 1218 Im Sinne dieser Thesen Nagel, The Fragmentation of Value, S. 128 ff.; Ch. Taylor, The Diversity of Goods, S. 129 ff., 142; Larmore, Patterns of Moral Complexity, S. 11 („heterogeneity of morality“).

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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Inhalte erkauft werden kann. Dies konnte man sogar an den untersuchten Beispielen der sog. „gegensatzaufhebenden Begriffsbildung“ belegen (o. III. 3. [S. 180 f.], III. 5. [S. 194, 196 f.], IV. 1. [S. 228 f.], V. 2. [S. 232 f.]). Vielmehr wurde eine Theorie gesucht, die der Komplexität ihres Gegenstandes und einiger erdachter Gedankenexperimente, vor allem dem Fall des Dachauer Schützen, gerecht werden konnte. Denn nur eine komplexe Theorie kann sicherstellen, dass es sich bei den vorliegenden Gedanken nicht nur um die nächste „prozessuale Rechtsphilosophie im Westentaschenformat“ handelt, die sich „immer wieder als fehlsam oder aber als unergiebig erweisen“.1219 Zu Recht kritisierte v. Hippel an den ihm bekannten Lehren über den Zweck des Verfahrens entweder die Einseitigkeit oder die Widersprüchlichkeit oder die Leerformelhaftigkeit.1220 Diesem „v. Hippel’schen Trilemma“ versucht die hier formulierte komplexe Theorie nicht zu erliegen. Es bleibt also dabei, dass die Rechtfertigung materiell vor allem zweipolig verläuft, zum einen konsequentialistisch, also zweckorientiert, zum anderen deontologisch, also respektorientiert. Insofern verhält es sich bei der Rechtfertigung des Strafverfahrens ähnlich wie bei der traditionelleren Diskussion über die Rechtfertigung der Strafe.1221 Wer einen gemeinsamen Nenner zwischen beiden Polen behauptet, muss einen solchen auffinden können, und solange dies nicht geschieht, muss man gegenüber jeder monolithischen Theorie skeptisch bleiben. Es gibt also keinen Grund, am Pluralismus zu zweifeln oder ihn als Mangel zu empfinden. Wenn auch die vorliegende Arbeit damit zögert, sich die genannten starken ontologischen oder epistemischen Thesen zum Aufbau und zur Erkennbarkeit der rechtsmoralischen Welt anzueignen, darf sie angesichts aller Umstände, die für sie sprechen, und in Anbetracht des Scheiterns aller Versuche, sie zu überwinden, wenigstens ihre Sympathie zu diesen Thesen bekunden und sie deshalb als richtig vermuten. 2. Zu den unterschiedlichen Rechtfertigungsstufen und dem Verhältnis zwischen ihnen Wenn die Welt der rechtsmoralischen Gründe so komplex aufgebaut ist, wie hier vermutet wird, wenn also Gründe unterschiedlicher Natur nebeneinander 1219 F. v. Hippel, ZZP 65 (1952), S. 432 (gegen Nieses ohne Begründung aufgestellte Behauptung, dass Wahrheit und Gerechtigkeit Ziele des Prozesses seien); früher und allgemeiner ders. Wahrheitspflicht, S. 171 Fn. 13. 1220 F. v. Hippel, ZZP 65 (1952), S. 432; davor bereits ders. Wahrheitspflicht, 1939, S. 171 ff.; skeptisch auch Gaul, AcP 168 (1968), S. 35; dem tendenziell zust. Schaper, Verfahren, S. 122; Figueiredo Dias, Direito processual penal, S. 41; Wohlers, GA 2005, S. 20. 1221 Gegen monolitische Theorien auch Greco, Lebendiges, S. 252; Hörnle, Straftheorien, S. 4; Neumann, Dimensionen der Strafgerechtigkeit, S. 134; Pérez-Barberá, GA 2014, S. 506 ff.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

existieren können, ohne dass man gemeinsame Nenner finden kann, dann stellen sich drei Fragen. Erstens: wie ist man gerade auf die oben erörterten drei Rechtfertigungsstufen gekommen? Zweitens: Wie verhalten sich Gründe unterschiedlicher Stufen zueinander? – womit gleichzeitig das Problem des Dezisionismus angesprochen wird. Und drittens: Gibt es nicht eine vierte oder sogar eine fünfte Rechtfertigungsstufe? a) Warum gerade (die) drei Rechtfertigungsstufen? Die erste Frage ist zumindest implizit bereits beantwortet worden. Die vorliegenden Reflexionen sind in Auseinandersetzung mit den in der Geschichte der Strafprozessrechtswissenschaft bereits vorhandenen Ansätzen entwickelt worden. Es fällt auf, dass die Mehrzahl der vorhandenen Ansätze ein gesellschaftliches Interesse anführt; deshalb hat es sich angeboten, bei diesen Begründungen anzufangen und hier von einer ersten Rechtfertigungsstufe zu sprechen. Weil das Individuum nicht von der einheitlichen Masse der Gesellschaft einverleibt werden darf, sondern Träger eigener Belange ist, muss man zusätzliche Rechtfertigungsstufen annehmen, in denen diesen Belangen Rechnung getragen wird. Und weil man noch zwischen Interessen des Einzelnen, die irgendwie mitzuzählen sind, und seinen Rechten, die zu respektieren sind, und sich gegen Quantifizierungen sträuben, unterscheiden muss, gelangt man zu einer Differenzierung zweier weiterer Stufen. Die übrigen in der Strafprozessrechtswissenschaft vorhandenen Ansätze lassen sich weitgehend diesen weiteren Stufen zuordnen. Warum hat man aber nicht mit der „dritten“ Stufe, also bei den Rechten des Individuums angefangen, und sie zur „ersten“ Stufe gemacht, um sich erst am Ende den Interessen der Gesellschaft zuzuwenden? Dies beruht auf Überlegungen, die an anderer Stelle ausformuliert worden sind,1222 und die mit dem Verhältnis von konsequentialistischen und deontologischen Erwägungen zu Handlungs- und Unterlassungspflichten zu tun haben. Konsequentialistische Erwägungen sind folgenbezogen; ob eine Folge auf einer Handlung oder einer Unterlassung beruht, ist nebensächlich. Konsequentialistische Erwägungen bieten deshalb Gründe sowohl zum Handeln als auch zum Unterlassen. Deontologische Erwägungen haben dagegen mit der inneren Qualität von Handlungen zu tun. Dass gewisse Handlungen (z. B. Folter; Genozid; Versklavung) an sich schlecht sind und von einem bestimmten Subjekt niemals begangen werden dürfen, bedeutet aber nicht, dass dieses Subjekt auch die Pflicht hat, andere Subjekte an der Vornahme dieser Handlungen zu hindern. Klar ist also zunächst nur, dass deontologische Erwägungen sogar zu absoluten (also keiner Ausnahme fähigen) Unterlassungspflichten führen können; ob sie auch zu Handlungspflichten führen, erscheint dagegen nicht so sicher, und wenn sie dies tun, begründen sie schwächere 1222

Näher Greco, Lebendiges, S. 130 ff.

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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Pflichten als die erwähnten Unterlassungspflichten, also Pflichten, die keinen Anspruch auf Absolutheit erheben können.1223 Deshalb bietet es sich an, konsequentialistisch anzufangen: Das Strafverfahren ist eine Handlung des Staates. Er wird erst handeln sollen, wenn ein Grund dafür besteht, und dieser Grund wird deshalb im Prinzip ein konsequentialistischer sein müssen. Diesen letzten Grund erblickten wir in dem abschreckungsgeneralpräventiven Anliegen, den Ernst verletzter Strafandrohungen zu bestätigen. Auf der anderen Seite ist unklar, ob deontologische Erwägungen überhaupt zu einem Handeln führen können; sicher ist nur, dass sie vom Handeln abhalten. Insofern funktionieren sie also nicht als Zwecke, sondern als Schranken (side constraints). Deshalb werden sie erst an späterer Stelle relevant: Wenn man schon handelt, sind Schranken zu beachten. Erst die Benennung eines Zwecks führt dazu, dass der zunächst in Ruhe verweilende Staat die Trägheit überwinden und handeln muss; er handelt nicht, um Schranken einzuhalten, vielmehr muss er bei einem Handeln, das um der Verfolgung eines Zwecks willen erfolgt, Schranken einhalten. Es entspricht also der Dynamik des Zusammenspiels von konsequentialistischen und deontologischen Gründen, dass man mit den ersten, die zum Handeln vorantreiben, anfängt, und erst an zweiter Stelle zu denen gelangt, die diesem Handeln Schranken setzen. b) Verhältnis der Rechtfertigungsstufen; das Problem des Dezisionismus Wenn die moralische Welt vermutlich komplex ist, und Gründe sich nicht ohne Weiteres auf einheitliche Nenner reduzieren lassen, sondern zueinander inkommensurabel sind, muss noch geklärt werden, wie sie sich zueinander verhalten. Führt nicht der Pluralismus dazu, dass man demselben Dezisionismus verfällt, von dem bei der Beurteilung der nicht-reduktionistischen Abwägungsansätze schon die Rede war (o. V. 1. [S. 220])? Zunächst sei angemerkt, dass eine derartige Inkommensurabilität nicht schon zwischen den beiden ersten Stufen, sondern erst zwischen diesen und der dritten Stufe besteht. Denn die beiden ersten Stufen sprechen die Sprache der Interessen, die grundsätzlich miteinander verrechenbar sind. Inkommensurabel sind aber durchaus konsequentialistische Erwägungen auf der einen, also (grob gesagt) Interessen oder Zwecke, und deontologische Erwägungen auf der anderen, also (auch grob gesagt) Rechte oder Schranken. Es bleibt fraglich, warum hier – und auch in meiner früheren Arbeit zu Feuerbachs Straftheorie – ohne eine klare Begründung vorausgesetzt wird, dass in dem Fall, in dem konsequentialistische Erwägungen ein Verhalten empfehlen, das von deontologischen Erwägungen untersagt wird, letztere Erwägungen die Oberhand 1223

Greco, Lebendiges, S. 136.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

gewinnen. Warum muss die Zweckverfolgung gewisse Schranken einhalten, warum müssen nicht vielmehr die Schranken ihrerseits zweckmäßig sein? Oder sollte nicht eher eine differenzierte Auffassung am Platze sein, etwa in dem Sinne, dass Schranken grundsätzlich Vorrang haben, spätestens im Fall einer ansonsten drohenden Katastrophe aber der Zweckmäßigkeit weichen müssen?1224 Es fällt in der Tat schwer, eine zirkelfreie Antwort auf diese Frage zu geben. Moralphilosophen diskutieren sie teilweise unter der Rubrik eines „paradox of deontology“,1225 die ihrerseits selbst einen Zirkel verkörpern dürfte, da sie die Konfliktlage aus konsequentialistischer Sicht beschreibt. Eine befriedigende Antwort werde ich meinem Leser auch hier noch schuldig bleiben. Ich muss mich hier damit begnügen, darauf hinzuweisen, dass eine Lösung des Konflikts zwischen Deontologie und Konsequentialismus im Sinne des Letzteren schwerlich mit gewissen Intuitionen über dasjenige verträgt, was einen Staat von einer Räuberbande und was Respekt vor der Würde von bloßer Mitberechnung eines Preises unterscheidet. Vielleicht ist aber bereits dieser Hinweis eine petitio principii. Vielleicht ist es auch nicht möglich, sich zirkelfrei auf einer derart fundamentalen Ebene zu bewegen. Wenn man dies als Dezisionismus kritisieren möchte, kann ich darauf replizieren, dass sich ein solcher Dezisionismus auf einer anderen Ebene bewegt als der, der o. V. 1. (S. 221) bei der Kritik der Abwägungsansätze diagnostiziert wurde. Denn hier wird als klare Regel der Vorrang deontologischer vor konsequentialistischen Erwägungen postuliert, während der Abwägungsansatz gerade diese Vorrangrelationen als offene Frage ansieht. c) Weitere Rechtfertigungsstufen? Zwar stimmt es, dass sich die Mehrzahl der o. III.–VI. (S. 157 ff.) ausdiskutierten Ansätze entweder als konsequentialistisch oder deontologisch einordnen ließ oder dass man sie als Versuche der Kombination von oder der Vermittlung zwischen konsequentialistischen und deontologischen Gesichtspunkten verstehen konnte. Gibt es aber nicht weitere Rechtfertigungsstufen als die obigen drei? 1224 In diesem Sinne Moore, Torture, S. 719 ff., der diesen Ansatz „threshold deontology“ nennt; offen gelassen von Nozick, Anarchy, State, Utopia, S. 30 Fn. 1225 Etwa Scheffler, The Rejection of Consequentialism, S. 80 ff.; McMahon, Philosophy & Public Affairs 20 (1991), S. 350 ff.; Kamm, Intricate Ethics, S. 26 ff. Bei dieser Problemkonstellation geht es darum, wieso es einem Deontologen, der eine Pflicht für begründet erachtet, gleichgültig sein kann, wie häufig diese Pflicht von anderen beachtet oder verletzt wird. Konkret: Wenn jemand die Folter für so abscheulich hält, dass er ein absolutes Folterverbot postuliert, wird er der Tatsache, dass andere foltern, nicht indifferent gegenüberstehen können. Wenn sein Problem wirklich die Folter ist, und nicht bloß die Sorge um die eigene moralische Reinheit, muss er deshalb irgendwann bereit sein, einmal selbst zu foltern, wenn dies das einzige Mittel ist zu verhindern, dass etwa 100- oder 1.000-mal gefoltert wird.

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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a) Schon aus logischen Gründen ließe sich fragen, weshalb man nicht auch bei deontologischen Theorien zwischen einem individual und einem überindividual orientierten Zweig unterschieden hat. Bei den konsequentialistischen Theorien hat man auf Grundlage einer solchen Unterscheidung zwei Rechtfertigungsstufen differenziert. Warum ist man bei deontologischen Theorien anders vorgegangen? Dies beruhte auf zwei Gründen: Erstens haben so gut wie alle der behandelten deontologischen Theorien allein Rechte des Individuums vor Augen.1226 Und das ist auch kein Zufall – womit man schon beim zweiten Grund ist –, denn der Gedanke eines Respekts vor Rechten eines überindividuellen Gebildes, die auf einem Eigenwert oder der Würde dieses Gebildes beruhen, ist äußerst zweifelhaft. Es fragt sich sogar, ob eine solche Argumentation überhaupt noch als Antwort auf eine Rechtfertigungsfrage angesehen werden könnte, und ob sie nicht vielmehr als legitimationsneutraler prozessualer Machiavellismus im o. C. II. 3. (S. 155 f.) festgelegten Sinne angesehen werden müsste. b) Es gibt aber in der Tat eine weitere Dimension von Gründen, auf die ich erst nach dem Abschluss der Reflexionen, die Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind, aufmerksam geworden bin: die Dimension der Tugenden, also des Charakters der Handelnden, hier also des strafverfolgenden Staates.1227 Genauso wie die Moralphilosophie erst spät die Eigenständigkeit der Tugend als einen dritten Weg neben dem konsequentialistischen und dem deontologischen anerkennen konnte, erzählt man die Geschichte der Strafprozessrechtswissenschaft traditionell durch die Brille dieser Dichotomie zwischen Zwecken und Schranken.1228 Nach näherem Hinsehen wird aber klar, dass es eine Vielzahl wichtiger Erwägungen gibt, die sich nur schwer als konsequentialistisch oder deontologisch einordnen lassen, weil sie in erster Linie mit einer weiteren wichtigen Größe zu tun haben, mit dem Wert eines anständigen und nicht niedrigen Charakters. So kann man etwa die Folter nicht nur deshalb ablehnen, weil sie zu unwahren Geständnissen führt, oder weil sie die Würde des Betroffenen verletzt, sondern auch, weil sie Ausdruck von Unempfindlichkeit, Grausamkeit und Sadismus ist. 1226 Hinsichtlich des Ansatzes, der das Strafverfahren als Gebot der Vergeltung deutet (s. o. 2. b) [S. 238 ff.]), könnte man anderer Meinung sein, aber selbst das dürfte nicht zweifelsfrei sein. Ein Verständnis des Verfahrens als Mittel der Verwirklichung des materiellen Rechts (s. o. 2. c) [S. 239 ff.]) lässt sich gerade wegen des Umstands, dass es ein Blankett darstellt, gut auf überindividuelle Belange zurückführen; es fragt sich dann nur, ob man nicht zur ersten Rechtfertigungsstufe zurückgekehrt ist. 1227 Näher Greco, FS Wolter, S. 61 ff. Sehr wichtig war für mich die Lektüre des wunderbaren Aufsatzes von Sherman Clark, Criminal Trial, S. 83 ff. 1228 Am prominentesten Eb. Schmidt, Geschichte, S. 7 (Vorwort). Die einigen „revisionistischen“ Entwürfen zugrunde liegende Sichtweise (z. B. Naucke, ARSP-Beiheft 87 [2003], 41 ff. [43: „Entidealisierung“]; Ignor, Geschichte, S. 154 ff., 191 ff., 290) betont nur, dass hinter der Berufung auf Gerechtigkeit und Rechte häufig bloße Zweckmäßigkeit stand, also dass es eine Instrumentalisierung der Rechte durch die Zweckmäßigkeit gab. Das bedeutet aber nur eine Umkehrung und nicht eine Überwindung der traditionellen Dichotomie.

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1. Teil: Strafprozesstheorie

Die tragenden Gedanken der vorliegenden Arbeit sind aber nicht nur unabhängig von dieser weiteren Dimension der Tugend entwickelt worden. Weil sie schwerpunktmäßig auf deontologischen, respektorientierten Erwägungen beruhen, ist auch nicht zu erwarten, dass tugendorientierte Erwägungen ihnen widersprechen würden. Denn der Respekt vor den Rechten anderer ist auch eine wichtige Tugend, während die rücksichtslose Nutzenmaximierung sich eher unschwer als Laster einordnen lässt. Es könnte höchstens sein, dass man wegen derartiger Erwägungen dem Staat noch weitere Verfolgungsbefugnisse absprechen müsste als die, die ihm die vorliegende Arbeit bereits abspricht. Die an sich vorhandene „vierte Rechtfertigungsstufe“, die in dieser Arbeit noch nicht die gebührende Anerkennung bekommt, wird sich also wohl auf die Gültigkeit der hier gewonnenen Ergebnisse nicht auswirken. c) An letzter Stelle dürften einige Worte zum großen blinden Fleck der hier entwickelten Strafprozesstheorie am Platz sein: dem Opfer. Das Opfer ist in aller Munde;1229 Rieß konnte 2006 sogar sagen, dass aus der Gesetzesgebungsperspektive eher der Verletzte, und nicht der Beschuldigte die Zentralfigur des Strafverfahrens zu sein scheine.1230 Auch in der Wissenschaft setzt man sich vermehrt für die Anerkennung eigenständiger Rechte des Opfers im Strafverfahren ein.1231 Ist es nicht befremdlich, dass meine früheren Gedanken zur Rechtfertigung der Strafe das Opfer völlig unberücksichtigt ließen,1232 und dass ich es hier noch einmal unterlasse, das Opfer und seine Interessen oder Rechte überhaupt in Erwägung zu ziehen? Vielleicht hätte das Opfer in der Tat größere Aufmerksamkeit verdient, nicht erst in dieser Arbeit, sondern bereits in der vorherigen. Dies soll bei Gelegenheit nachgeholt werden. Ich bezweifle aber ernsthaft, dass die in beiden Arbeiten gewonnenen Ergebnisse irgendwie auf dieser möglicherweise vorhandenen Unterlassung „beruhen“. Denn die Tatsache, dass man sich auf das Opfer eher beruft,

1229 Aus der Vielzahl der Strafverfahrensgesetze, die dem Anliegen des Opferschutzes oder der Opferrechte gewidmet sind, nur ORRG v. 24.6.2004, BGBl I, Nr. 31, S.1354; 2. ORRG v. 29.7.2009, BGBl. I, Nr. 48, S. 2280; StORMG vom 26.6.2013, BGBl I S. 1805; man siehe auch den Article préliminaire Abs. 2 franzStPO (hierzu Verges, FS Gassin, S. 327 ff.), der die Sorge um die „garantie des droits des victimes“ an prominenter Stelle zur Gerichtsaufgabe macht; auf europäischer Ebene s. den Rahmenbeschlus des Rates der EU v. 15.3.2001, ABl. L 82 v. 22.3.2001, S. 1–4, inzwischen ersetzt durch die Richtlinie 2012/29/EU v. 25.10.2012, ABl. L 315 v. 14.11.2012, S. 57–73. Ausf. zu diesen Tendenzen Weigend, Deliktsopfer, insb. S. 377 ff.; ders. ZStW 104 (1992), S. 492 f.; Cruz Santos, FS Figueiredo Dias III, S. 1133 ff.; Roxin/ Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 62 Rn. 1 ff.; Herrmann, ZIS 2010, S. 236 ff. 1230 Rieß, FS Miklau, S. 446. 1231 Walther, GA 2007, S. 615 ff.; dies. JR 2008, S. 406 ff., die dem Opfer sogar einen Anspruch auf rechtliches Gehör und auf ein faires Verfahren zuerkennen möchte; Jahn, FS Kirchhof, S. 1395, 1396. 1232 Gerügt von Hörnle, RW 2010, S. 431.

2. Kap.: Strafprozesstheoretische Grundlegung

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um die Rechtfertigung repressiv orientierter Maßnahmen gegen Täter und Beschuldigte zu erleichtern, als um die Stellung von tatsächlichen Opfern fühlbar zu verbessern,1233 erweckt Misstrauen und lässt vermuten, dass es bei dieser Diskussion zu einem großen Teil eher um politische Rhetorik als um Gründe geht.

1233 Gleiche Bedenken bei Schünemann, NStZ 1986, S. 198 ff.; ders. StV 1998, 392 f.; ders. Stellung des Opfers, S. 8 f.; ders. FS Hamm, S. 687 ff., 699 f.; s. a. Bung, StV 2009, S. 436 f.; tendenziell auch Herrmann, ZIS 2010, S. 245.

2. Teil

Materielle Rechtskraft 1. Kapitel

Die Begründung der materiellen Rechtskraft „Die Rechtskraft ist die Krönung des gesamten prozessualen Gebäudes; ihre Begründung ist deshalb zugleich die Begründung dieses Gebäudes . . .“ (Rocco, Cosa giudicata, S. 226).

Bisher beschäftigten wir uns eher mit gedanklichen bzw. theoretisch relevanten Konstellationen, wie etwa der totalen Überwachungsgesellschaft oder dem Mord im Gerichtssaal. In den anschließenden Kapiteln soll die praktische Ergiebigkeit der hier angebotenen Theorie auf den Prüfstand gestellt werden. Daraus wird sich hoffentlich ergeben, dass der Aufwand, bis zu den Grundlagen zurückzukehren, nicht nur Selbstzweck ist, sondern gleichzeitig Aufschlüsse zur Lösung pressierender Fragen bietet. Die entwickelte Rechtfertigung der qualifizierten Verdächtigung durch das Strafverfahren führt reibungslos zur Erklärung des Grundes, warum die Strafverfolgung enden muss. Das Verfahren darf vor allem insofern stattfinden, als es dem Betroffenen nichts „wegnimmt“, m. a. W.: sofern es den Betroffenen nicht nur verdächtigt, sondern auch zu rehabilitieren verspricht. Die fundamentalen Implikationen dieses Ansatzes für die Rechtskraftlehre sollen im vorliegenden Abschnitt gezogen werden. Davor werden kursorisch sonstige bisher formulierte Rechtskraftlehren angesprochen.

A. Einleitende Erwägungen I. Begriff der materiellen Rechtskraft 1. Über den Begriff der Rechtskraft ist viel geschrieben worden. In dieser Arbeit geht es allein um die Fragen, die normalerweise unter der Rubrik der sog. „materiellen Rechtskraft“ behandelt werden, welche wiederum der sog. „formellen Rechtskraft“ entgegengesetzt wird (s. bereits o. Einleitung [S. 36]).1234 In 1234 Zu dieser Dichotomie Barbarino, Rechtskraft, S. 24 ff.; Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 260, 265; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 384 f.; Tiedemann, Entwicklungstendenzen, S. 5; Grünwald, ZStW-Beiheft 1974, S. 94; Radtke, Strafklagever-

1. Kap.: Die Begründung der materiellen Rechtskraft

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einer groben ersten Annäherung kann man unter Rechtskraft die erschwerte (oder ausgeschlossene) Veränderbarkeit einer Entscheidung verstehen.1235 Die Entscheidung kann weder durch den Entscheider selbst abgeändert werden, und ist insofern unwiderruflich, noch durch die Parteien, ist also unanfechtbar.1236 Kann die Entscheidung nicht mehr innerhalb desselben Verfahrens verändert werden, heißt sie formell rechtskräftig; ist sie auch für künftige Verfahren nicht mehr veränderbar, spricht man von materieller Rechtskraft. Materiell rechtskräftig ist demnach eine Entscheidung, die in künftigen Verfahren nicht mehr ohne Weiteres revidiert werden kann. Die Rechtskraft ist hiermit eine Eigenschaft einer Entscheidung.1237 2. Diese Bestimmungen lassen sich ergänzen, sowohl was die Struktur als auch was die Wirkungen dieser Eigenschaft anbelangt. a) Zur Struktur: Rechtskraft ist ein Phänomen der Autorität; von Kraft ist nicht von ungefähr die Rede, und die Franzosen und Italiener nennen sie Autorität der abgeurteilten Sache, „autorité de la chose jugée“/“autorità del giudicato“,1238 im Anschluss an den lateinischen Ausdruck „auctoritas rei iudicatae“. Richterliche Entscheidungen beruhen auf Gründen, nach dem Modell des Justizsyllogismus auf einer rechtlichen und einer faktischen Prämisse. Die Rechtskraft zerschneidet dieses Band zwischen der Entscheidung und ihren rechtlichen und faktischen Grundlagen. Eine in Rechtskraft erwachsene Entscheidung bleibt auch dann gültig und unveränderbar, wenn die Prämissen, auf deren Grundlage sie gefällt worden ist, von vornherein unrichtig waren oder nachträglich wegfallen. Mit anderen Worten: Die Kraft der rechtskräftigen Entscheidung, ihre Autorität, besteht darin, dass sie von diesen Grundlagen unabhängig ist.1239 Natürlich heißt das nicht, brauch, S. 27 ff., 31 ff.; Pacelli, Processo penal, S. 650; ausf. m. Nachw. zu den vielen Nuancierungen Trepper, Rechtskraft, S. 7 ff., 12 ff.; krit. Binding, Strafurteil, S. 311 Fn. 11. 1235 Siehe auch v. Kries, Rechtsmittel, S. 417; Schanze, ZStW 4 (1884), S. 458; Kroschel, GS 52 (1896), S. 409; Barbarino, Rechtskraft, S. 4; Liebman, Sentenza, S. 40; Geppert, GA 1972, S. 171, die alle die Rechtskraft als „Unabänderlichkeit“ bestimmen; Peters, Strafprozeß, S. 476: „Rechtskraft bedeutet Endgültigkeit und Maßgeblichkeit einer Entscheidung“; s. a. Callari, Firmitas, S. 38 ff., der von einer „firmitas iudicati“ spricht. Krit. Binding, Strafurteil, S. 314; Nieva Fenoll, Cosa juzgada I, S. 85 ff. Genauer zu den von den verschiedenen Autoren vertretenen Formulierungen P. Herzog, Rechtskraft, S. 79 ff., 81 ff. 1236 Schanze, ZStW 4 (1884), S. 458 f.; Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 259: Rechtskraft als Unwiderruflichkeit und Unanfechtbarkeit. 1237 Liebman, Sentenza, S. 40 f.; Leone, Manuale, S. 730. 1238 Etwa Rocco, Cosa giudicata I, S. 193. 1239 Ähnl. E. Schumann, FS Bötticher, S. 307, m.w. Nachw. insb. aus dem zivilprozessrechtlichen Schrifttum. Siehe auch Schanze, ZStW 4 (1884), S. 467; Glaser, GrünhutsZ 12 (1885), S. 323: „[W]ie das Gesetz vom Gesetzgeber, so löst sich das Urtheil vom Richter ab, von den Gedanken und Gründen, die diesen bestimmten“; Barbarino, Rechtskraft, S. 3.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

dass Rechtskraft unbegründete Autorität, also Willkür ist (s. o. Teil 1 Kap. 1 A. I. [S. 44, 52 ff.]). Es wird andere Gründe geben müssen, um die Autorität der Rechtskraft zu stützen – damit werden wir uns anschließend beschäftigen (u. C., D. [S. 338 ff.]). Nur sind diese anderen Gründe nicht die Gründe, auf die sich die Entscheidung stützen musste. In ihrer Struktur verkörpert die Rechtskraft also Unabhängigkeit einer Entscheidung von ihren rechtlichen oder tatsächlichen Grundlagen. Die Entscheidung gilt, unabhängig von Güte und Schicksal ihrer Gründe. b) Die Wirkung der materiellen Rechtskraft, also dass die Entscheidung unveränderbar geworden ist, ist die Unzulässigkeit, sie durch eine erneute Entscheidung in Frage zu stellen. Man spricht vom ne bis in idem oder vom Strafklageverbrauch; diese Ausdrücke sind richtig, sie decken aber nur den ganzen Bereich dessen, was aus der Unveränderbarkeit folgt. Denn nicht nur ist es dem Staat untersagt, erneut zu verfolgen oder erneut Strafklage zu erheben; auch der Bürger muss mit der Entscheidung leben, auch dann, wenn sie ihm nicht gefällt, weil sie ihn etwa verurteilt. Am besten spricht man deshalb von Sperrwirkung, in dem Sinne, dass die materielle Rechtskraft es verhindert, dass über die bereits entschiedene Sache eine erneute Entscheidung getroffen wird. Ist die Entscheidung unveränderbar, dann hat es keinen Sinn, sich erneut damit zu beschäftigen. Bei der Sperrwirkung geht es um eine negative Wirkung, die erneute Entscheidungen schlichtweg verhindert. Ob aus der Unveränderbarkeit der Entscheidung weitere, sog. positive Wirkungen hervorgehen, die dem Treffen von Entscheidungen nicht entgegenstehen, ihnen aber einen bestimmten Inhalt vorschreiben, wird, wie o. Einleitung (S. 37 f.) schon gesagt, in der vorliegenden Arbeit nur am Rande untersucht (näher u. Kap. 5 A. [S. 838 f.]). 3. Die Probleme der Rechtskraft entstehen normalerweise erst, wenn zwischen der Entscheidung und ihren Grundlagen Unstimmigkeiten auftauchen, so dass Druck aufkommt, die Entscheidung zu verändern, ihre Sperrwirkung zu relativieren. Bereits an dieser Stelle empfiehlt es sich, zwei Intensitäten der Rechtskraft zu unterscheiden.1240 Es kann sein, dass die Entscheidung, wenn überhaupt, nur unter sehr restriktiven Bedingungen einer Veränderung zugänglich ist. Diese Bedingungen sind diejenigen einer hier sog. Wiederaufnahme im materiellen Sinne (s. u. Kap. 6 II. [S. 856 ff.]). Welche sie genau sind, und ob sie materieller oder prozessualer Natur sind, wird erst bei der Behandlung der Wiederaufnahme zu klären sein (u. Kap. 6). Für diese Intensität der Rechtskraft soll hier die Bezeichnung volle Rechtskraft eingeführt werden. Es gibt aber Entscheidungen, deren prinzipielle Unveränderbarkeit sich unter demgegenüber erleichterten Bedingungen wegräumen lässt. Welche diese Bedin1240

Nicht unähnl. Trepper, Rechtskraft, S. 61.

1. Kap.: Die Begründung der materiellen Rechtskraft

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gungen sind, kann man im vorliegenden, rein terminologischen Festlegungen gewidmeten Abschnitt noch nicht sagen. Diese schwächere Form der Rechtskraft bezeichnet man häufig als auflösend bedingte1241 oder beschränkte1242 Rechtskraft.1243 Genauer wäre es eigentlich, von schwächerer Rechtskraft sprechen. Denn „auflösend bedingte“ Rechtskraft bedeutet bereits, dass diese Form der Rechtskraft nur bezüglich ihrer faktischen, nicht aber ihrer rechtlichen Grundlage schwächer ist als die volle Rechtskraft. Auch dann, wenn dies der Fall sein sollte (s. u. Kap. 4 E. III. 3. b) [S. 767 ff., 773]), bedarf das einer eigenständigen Begründung, die nicht schon durch terminologische Festsetzungen überspielt werden darf. Und „beschränkte“ Rechtskraft erweckt den Eindruck, als wäre nicht die Entscheidung leichter abänderbar, sondern ihr Gegenstand weniger umfassend.1244 Dennoch wird diese Terminologie hier vorgezogen, weil sie keine inhaltlichen Fragen präjudiziert, und weil sie dem eingebürgerten Gebrauch entspricht. Dies dürfte wiederum die gerade erwähnte Missdeutungsgefahr weitgehend neutralisieren. Zuletzt könnte man sich fragen, ob es sich nicht empfiehlt, eine dritte Form der Rechtskraft zu postulieren, die die Fälle bezeichnen würde, in denen die Veränderbarkeit der Entscheidung unmöglich ist. Hier könnte man etwa von vollster oder unüberwindbarer Rechtskraft sprechen.1245 Was ihre Wirkungen anbelangt, wäre die unüberwindbar rechtskräftige Entscheidung durch nichts einschränkbar, und hinsichtlich ihrer Struktur von den Grundlagen völlig selbständig.1246 Ob es unüberwindbare Rechtskraft überhaupt in einzelnen empirischen Rechtsordnungen gibt, ist eine Frage für sich. Das deutsche Recht, das eine Wiederaufnahme sowohl zugunsten als auch zulasten des Angeklagten vorsieht, kennt sie 1241

Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 366; Eb. Schmidt Lehrkommentar I, Rn. 326; Guarneri, NovDigIt XV (1968), S. 230; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 320. 1242 Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 320; Gössel, Strafverfahrensrecht, S. 121; Peters, Strafprozeß, S. 467; Kühne, LR-StPO Einl. K Rn. 103; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 52 Rn. 19. 1243 Siehe auch Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 264: „einstweilige“ Rechtskraft; nicht sehr klar Neu-Berlitz, Rechtskraft, S. 7: „Rechtskraft i. w. S.“. And. Barbarino, Rechtskraft: bedingte Rechtskraft als Zustand, in dem die Einlegung von Rechtsmitteln noch möglich ist (S. 26 f.), relative Rechtskraft als Rechtskraft, die nur gegenüber einer der Parteien wirkt (S. 31 f.). 1244 Radtke, Strafklageverbrauch, S. 222 f. 1245 Trepper, Rechtskraft, S. 61 spricht von „Totalrechtskraft“. 1246 Ein passender Ausdruck wäre auch absolute Rechtskraft; dieser ist aber als terminus technicus schon belegt und bezeichnet den Fall, in dem die Entscheidung in ihrem Gesamtinhalt und für alle Prozessbeteiligten unveränderbar wird. Ihr Gegenbegriff ist die relative Rechtskraft, die sich etwa dann ergibt, wenn nur der Beschuldigte und nicht die Staatsanwaltschaft ein Rechtsmittel einlegt (subjektiv-relative Rechtskraft) oder wenn ein Rechtsmittel auf bestimmte Fragen eingeschränkt wird (objektiv-relative Rechtskraft bzw. Teilrechtskraft), s. statt aller Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 52 Rn. 3 f.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

nicht.1247 Man könnte vielleicht sagen, dass die Entscheidungen, bei denen die Voraussetzungen der §§ 359 ff. StPO nicht erfüllt sind, unüberwindbar rechtskräftig sind; dies wäre aber ein irreführender und unergiebiger Sprachgebrauch, weil nicht die Entscheidung per se, sondern das Nichtvorhandensein der einzelnen, an sich erforderlichen, im Wiederaufnahmerecht vorgesehenen Merkmale zur Unveränderbarkeit führt. Die Unveränderbarkeit beruht nicht darauf, dass die Entscheidung von ihren Grundlagen völlig unabhängig ist, sondern nur darauf, dass diese Grundlagen noch nicht so erschüttert worden sind, wie es das Wiederaufnahmerecht erfordert. Andere Rechtsordnungen, am prominentesten Frankreich, die keine Möglichkeit der Veränderung rechtskräftiger Freisprüche vorsehen,1248 scheinen demgegenüber Entscheidungen zu kennen, die man an sich als unüberwindbar rechtskräftig einordnen könnte. Ein französischer Freispruch, der nicht nichtig ist und einmal rechtskräftig wird, ist unveränderbar, gleichgültig welche Fehler später in seinen faktischen oder rechtlichen Prämissen erkannt werden. Man könnte aber fragen, ob es sich nicht genauso verhält wie vorhin; ob es nicht weniger am Freispruch als an der jeweiligen Gestalt des Wiederaufnahmerechts liegt, dass gerade diese Entscheidungen nicht mehr veränderbar sind. Hier wird von dieser Vermutung ausgegangen; sie wird sich auch unten bestätigen (Kap. 6 I 2 D [S. 957 f.]). 4. Der Gegenstand der weiteren Untersuchung ist somit präzise umschrieben. Im Folgenden soll es um die materielle Rechtskraft gehen, also um die Unveränderbarkeit einer Entscheidung auch in weiteren Prozessen als in dem, innerhalb dessen die Entscheidung gewonnen wurde. Strukturell beruht diese Unveränderbarkeit darauf, dass die Gültigkeit der Entscheidung von der Richtigkeit oder dem Fortbestehen ihrer Grundlage unabhängig ist; ihre Wirkung besteht darin, den Weg zum erneuten Treffen der Entscheidung zu sperren (Sperrwirkung). Hier lassen sich zwei Stärken unterscheiden, je nachdem, ob die Veränderung der Entscheidung, wenn überhaupt, nur unter strengen Voraussetzungen bewerkstelligt werden darf (volle Rechtskraft), oder ob dies schon unter relativ leichteren Voraussetzungen möglich ist (beschränkte Rechtskraft). II. Das Problem des materiellrechtlich unrichtigen Sachurteils 1. Nach diesen Begriffsbestimmungen können wir uns der Rechtskraft zuwenden. Warum soll es sie geben? In der Geschichte der Reflexionen über die Rechtskraft hat der Problemfall des materiellrechtlich unrichtigen Sachurteils als vorzüglichster Ausgangspunkt fun1247 Bereits Voss, GA 1907, S. 251; Gantzer, Rechtskraft, S. 206; Peters, Fehlerquellen III, S. 2. 1248 Näher u. Kap. 6 D. I. 4. b) (S. 968 ff.).

1. Kap.: Die Begründung der materiellen Rechtskraft

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giert. Man kam so weit, in dieser Frage das „Zentralproblem der allgemeinen Prozeßrechtslehre“ zu erkennen.1249 Gelegentlich wurde diese Problemstellung mit der Behauptung kritisiert, dass ein gesundes Theorisieren nicht vom pathologischen Grenzfall ausgehen solle.1250 Das ist aber unrichtig. Zunächst soll man bedenken – ohne dass man sich auf empirische Spekulationen darüber einlässt, wie zahlreich materiellrechtlich fehlerhafte Entscheidungen sind –, dass ein System, das sich keine vermeidbare Verletzung des Schuldprinzips leisten will, es vorziehen wird, auf der sicheren Seite zu irren (also im Zweifel nicht zu verurteilen), und dass es wegen der Anforderungen der Verfahrensgerechtigkeit (o. Teil 1 Kap. 2 VI. 2. dd) [S. 252 ff.]) keine Wahrheitsfindung um jeden Preis dulden wird. Deshalb ist ein solches System auf materiellrechtlich unrichtige Freisprüche vorprogrammiert. Zweitens und eigentlich entscheidend dürfte aber ein methodischer Gesichtspunkt sein: Erst das materiellrechtlich unrichtige Sachurteil bietet die Feuerprobe, die zu prüfen gestattet, was Rechtskraft für sich genommen bedeutet, wie ernst es also mit der Unabhängigkeit einer Entscheidung von der Richtigkeit ihrer Grundlagen gemeint ist. Denn bei den materiellrechtlich richtigen Entscheidungen könnte es immer noch sein, dass die der Rechtskraft zugeschriebenen Wirkungen letztlich schon auf der materiellrechtlichen Richtigkeit der Entscheidung beruhen, dass die Rechtskraft hier nur als Epiphänomen in Erscheinung tritt. Die Theorisierung auf Grundlage des Problems der materiellrechtlich unrichtigen Entscheidung ermöglicht also, dass man die Rechtskraft als rechtliches Institut von allen anderen „Interferenzen“ isoliert, dass also genau dasjenige unter die Lupe genommen wird, was oben als ausschlaggebend für die Struktur der materiellen Rechtskraft ausgearbeitet worden ist, nämlich die Unabhängigkeit einer Entscheidung von ihren rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen.1251 2. Das materiellrechtlich unrichtige, aber dennoch in Rechtskraft erwachsene Sachurteil kann zwei Sorten von Überlegungen veranlassen. Man kann es zunächst als logisches-konstruktivistisches Problem begreifen. Im Vordergrund steht dann die Frage, wie eine Rechtsordnung, die vom Satz des Widerspruchs ausgeht oder ausgehen muss, mit der prima facie fehlenden Übereinstimmung von materiellem Recht und Prozessrecht fertig wird. Wie kann es sein, dass ein Gegenstand gleichzeitig rechtswidrig und rechtsgemäß erscheint? Andererseits kann man das Rätsel als normatives Problem ansehen. Die Aufgabe wäre demnach nicht mehr, den logischen Widerspruch wegzuräumen, son-

1249 So die Überschrift einer Abhandlung von Sax, ZZP 67 (1954), S. 21 ff.; zust. Paulus, FS Würzburger Juristenfakultät, S. 688; s. a. Gilles, FS Schiedermair, S. 186 ff. 1250 Etwa Gaul, AcP 1968, S. 58; Vogler, Rechtskraft, S. 35 f.; Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 196 f.; Deml, Wiederaufnahme, S. 43; Schaper, Verfahren, S. 163 f.; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 35 Fn. 50, 41 f. Siehe auch Sauer, FS R. Schmidt, S. 324. 1251 Ähnl. E. Schumann, FS Bötticher, S. 316, 318.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

dern zu begründen, wie es sein kann, dass ein Prozess, der das materielle Recht verfehlt, und insofern mindestens einen Teil seiner Zwecke gerade nicht verwirklicht, trotzdem zu einem unabänderlichen Ergebnis führen kann. Je nachdem, ob man das logische oder das normative Problem zum Gegenstand seiner Reflexionen macht, kommt man zu begriffskonstruktivistischen oder zu normativen Rechtskraftlehren. Mit ihnen wird man sich anschließend befassen.

B. Begriffskonstruktivistische Rechtskrafttheorien Zu der Zeit des sog. begriffskonstruktivistischen Ansatzes (hierzu o. Teil 1 Kap. 2 C. I. 1. [S. 135 ff.]), die auch die Zeit der Bemühungen um eine allgemeine Prozessrechtslehre war, stand das Problem der Rechtskraft im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Diskussion.1252 Das Problem wurde aber eher unter einem ganz bestimmten Blickwinkel untersucht, nämlich unter dem logischen Aspekt des Satzes des Widerspruchs. Die normativen Begründungen, um die es sogleich gehen wird, sind gelegentlich sogar als meta-rechtliche, „politische“ Größen eingestuft worden.1253 I. Nach der sogenannten materiellrechtlichen Rechtskrafttheorie wird eine Entscheidung, die an sich materiellrechtlich falsch ist, durch die Rechtskraft in eine materiellrechtlich richtige Entscheidung verwandelt.1254 Der Widerspruch wird also dadurch weggeräumt, dass das materielle Recht seine Beurteilung dem Prozessrecht anpasst. „Das Urteil kann seinen Zweck nur erfüllen, wenn es stets die Wahrheit deklariert. Deshalb muss Vorsorge getroffen werden, dass unwahre Deklarationen nicht vorkommen können. Das kann nur dadurch geschehen, dass die Deklaration spätestens in dem Moment, in welchem sie wirksam wird, wahr wird“.1255 „Der auf Grund einer ,rechtsirrtümlichen‘ juristischen Qualifikation der Tat rechtskräftig Verurteilte ist, streng genommen, nicht das Opfer eines Jus1252 An dieser Diskussion beteiligte sich in erster Linie die Dogmatik des Zivilprozessrechts, deren Äußerungen im Folgenden äußerst bescheiden zur Kenntnis genommen werden. Für einen Überblick aus zivilprozessualer Perspektive Habscheid, Streitgegenstand, S. 20 ff.; Koussolis, Rechtskraftlehre, S. 29 ff. 1253 So etwa Leone, RDPP 1956, S. 173; ders. Manuale, S. 731 ff.; heute noch Callari, s. u. Teil 2 Kap. 6 B. IV. (S. 882). 1254 Pagenstecher, Rechtskraft, S. 302 ff.; ders. ZZP 37 (1908), S. 1 ff.; Kohler, GA 1918, S. 316; Merkl, ZStW 45 (1925), S. 459 ff.; Oetker, GS 108 (1936), S. 2; Cristiani, Revisione, S. 19 ff.; wohl auch Binding, Strafanspruch, S. 278 f.: „Sowie geurteilt ist, entspricht es den Tatsachen“ (S. 279), S. 284 ff. (deklaratorische Natur des Urteils; ebenso Binding, Strafurteil, S. 308 ff.); w. Nachw. b. Paulus, FS Würzburger Juristenfakultät, S. 697 f. Zu den Hintergründen ausf. Conde Correia, Caso julgado, S. 30 ff. Nahestehend die sog. Fiktionstheorie, von der sogleich näher die Rede sein wird (s. u. IV. [S. 352 f.]), und auch die Begründung von Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. S. 246 f. 1255 Pagenstecher, Rechtskraft, S. 304 f.

1. Kap.: Die Begründung der materiellen Rechtskraft

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tizirrtums, sondern wirklich der Täter der Handlung, die ihm das rechtskräftige Urteil zurechnet. (. . .) Nicht bloß der ist im Rechtssinne der Täter, in dessen Person die Merkmale einer deliktischen Handlung zutreffen, sondern auch der, den, obgleich diese Voraussetzung nicht zutrifft, das Gericht rechtskräftig zum Täter erklärt“.1256 Der unschuldig Bestrafte hat „das Strafübel . . . als Strafübel von Rechts wegen erdulden müssen“.1257 Dagegen führt man zu Recht an, hierdurch würde mittels eines „rechtswissenschaftlichen Kunstgriffs“ 1258 bzw. einer „unerklärlichen Transsubstantiation“ 1259 oder sogar eines Aktes „juristischer Magie“ 1260 die „Wahrheitsfälschung“ 1261 zur Wahrheit bzw. „aus Unrecht Recht“ 1262 gemacht.1263 II. Goldschmidt beseitigt das Spannungsverhältnis zwischen Prozesszweck und Rechtskraft dadurch, dass er beide miteinander identifiziert, also den Zweck des Prozess nicht mehr in der Durchsetzung des materiellen Rechts, sondern in der Herbeiführung einer rechtskräftigen Entscheidung erblickt.1264 Das logische Problem versucht er durch eine Radikalisierung seiner o. Teil 1 Kap. 2 C. 1. (S. 139) beschriebenen prozessualen Betrachtungsweise zu meistern: Es gebe keinen logischen Widerspruch, weil ein und derselbe Gegenstand nicht gleichzeitig von der Rechtsordnung für rechtswidrig und rechtsgemäß erklärt wird. Vielmehr gebe es eine doppelte Rechtsordnung, einerseits die Rechtsordnung des materiellen Rechts, andererseits die des Prozessrechts. Die Rechtskraft beruhe auf dieser zweiten, rein prozessualen Rechtsordnung und werde als „Gerichtskraft“ verstanden, die der materiellen Rechtsordnung „nach dem soziologischen Machtprinzip“ vorgehe.1265 An der Theorie Goldschmidts sieht man vorbildhaft, wie der konstruktivistische Ansatz Rechtfertigungsfragen entweder in Fragen der Begriffskonstruktion – man identifiziert Rechtskraft und Verfahrenszweck, so dass 1256 Merkl, ZStW 45 (1925), S. 462; ebenso Cristiani, Revisione, S. 27: „. . . der Begriff des Fehlurteils (sentenza ingiusta) ist eher ein praktisches oder geschichtliches Phänomen, kein rechtliches“, S. 103 f. (im Anschluss an Kelsen). 1257 Binding, Strafanspruch, S. 289 f. 1258 Neumann, ZStW 101 (1989), S. 63. 1259 Eb. Schmidt, Lehrkommentar I, Rn. 286. 1260 Conde Correia, Caso julgado, S. 19. 1261 Goldschmidt, Prozeß, S. 188; zust. Gaul, AcP 1968, S. 55; Schaper, Verfahren, S. 123. 1262 Gantzer, Rechtskraft, S. 118: „Unrecht bleibt Unrecht!“ 1263 Weitere Kritik bei Goldschmidt, Prozeß, S. 183 ff.; Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 273 Fn. 1; E. Wolter, Rechtskraft, S. 15; Niese, Prozeßhandlungen, S. 110 ff.; Sax ZZP 67 (1954), S. 32; Spinellis, Rechtskraft, S. 21; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 385; E. Schumann, FS Bötticher, S. 311; Schöneborn, Wiederaufnahmeproblematik, S. 11; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 33 f.; Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 77 f.; Ziemann, ARSP-Beiheft 103 (2005), S. 136. 1264 Vgl. o. Teil 1 Kap. 2 C. 1. (S. 139). 1265 Goldschmidt, Prozeß, S. 211 ff., 213, 246; auch ders. Teoría general del proceso, S. 825.

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es ein Problem des unrichtigen Sachurteils zum großen Teil nicht mehr gibt! – oder in soziologische Machtfragen aufzulösen neigt.1266 III. Die sog. prozessuale Gestaltungstheorie, die auch gelegentlich Schöpfungstheorie genannt worden ist,1267 schlägt einen anderen Ausweg aus dem prima facie Widerspruch vor.1268 „Rechtskraft ist Rechtsgestaltungskraft“.1269 Bemühte sich die Lehre der doppelten Rechtsordnung bzw. von der Gerichtskraft um eine horizontale Lösung des Problems, da sie materielles Recht und Rechtskraft isoliert nebeneinander stellte, setzt die prozessuale Gestaltungstheorie „vertikal“ an: Es werden zwei Stufen unterschieden, die generell-abstrakte Stufe des materiellen Rechts und die individuell-konkrete Stufe der Gerichtsentscheidung. Das materielle Recht enthält nur generelle Aussagen; es sagt für sich genommen über den im Prozess zu entscheidenden Einzelfall nichts aus. Die materiellrechtlich unrichtige Entscheidung befindet sich somit auf einer anderen Abstraktionsstufe als das materielle Recht, so dass es nicht mehr zu einem Widerspruch kommen kann.1270 Der wichtigste Vertreter dieser Lehre, Sauer, gliederte sie in seine „Kreationstheorie“ des Prozesses ein,1271 die im Prozess die „richterliche Gestaltung der Rechtsidee im Einzelfall“ erblickte.1272 Diese Theorie war dazu in der Lage, die Vollstreckung des unrichtigen Urteils als rechtmäßig zu charakterisieren.1273 Aber auch diese Gedanken erweisen sich nicht als tragfähig. Es ist nicht einzusehen, wie eine Entscheidung, die materiellrechtlich fehlerhaft ist, dennoch als Konkretisierung des materiellen Rechts angesehen werden kann. Von einer Kon1266 Krit. Sauer, ARSP 19 (1925–26), S. 276 f.; Niese, Prozeßhandlungen, S. 114 f.; Sax, ZZP 67 (1954), S. 34; Gaul, AcP 1968, S. 56: Unrecht werde als Recht deklariert; Eb. Schmidt, Lehrkommentar I, Rn. 275 ff.; Henckel, Prozeßrecht, S. 50; Schaper, Verfahren, S. 131: es „bleibt die Frage, was ein Prozeß noch soll, wenn es schließlich doch nur auf einen Machtspruch ankommt“; Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 86 f. 1267 Sauer, GS Rocco II, S. 482. 1268 Sauer, ARSP 19 (1925–26), S. 270, 277; ders. Grundlagen, S. 235 ff.; ders. FS R. Schmidt, S. 323 ff.; ders. Allgemeine Prozeßrechtslehre, S. 233 ff.: „Das rechtskräftige Urteil konkretisiert objektives Recht“ (S. 234); ders. GS Rocco II, S. 482 ff.; Siegert, DStR 1935, S. 287; E. Wolter, Rechtskraft, S. 16 f.; Peters, Strafprozeß, S. 503; Pickert, Strafklageverbrauch, S. 46; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 52 Rn. 9; vorsichtig Gössel, Strafverfahrensrecht, S. 290. W.Nachw.b. Paulus, FS Würzburger Juristenfakultät, S. 701 f. Die Nähe seiner Ansicht zur Theorie Goldschmidts stellt Sauer, ARSP 19 (1925–26), S. 270, 276 ff. selber fest. 1269 Sauer, Grundlagen, S. 235. 1270 Sauer, FS R. Schmidt, S. 322 f., 324, spricht auch davon, dass die Rechtskraft nur neues Prozessrecht, nicht neues materielles Recht schaffe. Es mutet etwas befremdlich an, wie eine bloße Konkretisierung zu einer Wesensänderung führen kann. 1271 Sauer, Allgemeine Prozeßrechtslehre, S. 2; ähnl. Pawlowski, ZZP 80 (1967), S. 363 ff., 368; krit. hierzu Henckel, Prozeßrecht, S. 52 ff.; Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 82 f., 90 f. 1272 Sauer, Allgemeine Prozeßrechtslehre, S. 3. 1273 Peters, Strafprozeß, S. 503.

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kretisierung des materiellen Rechts kann man nur sinnvoll sprechen, wenn die Grenzen des von ihm eröffneten Rahmens eingehalten werden. Das Konkrete ist eine Konkretisierung des Abstrakten, muss also auch dessen Grenzen beachten. Der Widerspruch wird demnach nicht immer behoben. IV. Von den konstruktivistisch orientierten Rechtskrafttheorien meint als einzige die rein prozessrechtliche Rechtskraftslehre,1274 mit dem Widerspruch leben zu müssen. Die prozessrechtlich richtige Entscheidung kann materiellrechtlich falsch, also rechtswidrig sein. Diese Theorie behauptet unverhohlen, dass die Vollstreckung des unrichtigen Urteils Unrecht verwirklicht, das aber geduldet werden müsse. Ihr wurde zwar vorgehalten, dies offenbare eine „zum Zynismus gesteigerte Offenheit“.1275 Das Zugeständnis, dass menschliche Gerechtigkeit notwendig unvollständig bleibt, dass man irren kann, und dass die Tatsache, dass Irren menschlich ist, den Irrtum nicht zur Wahrheit macht, ist aber die zutreffende Einsicht hinter der prozessualen Rechtskraftlehre, die nicht zum bloßen Zynismus herabgestempelt werden darf. Allein diese Theorie wird dem Ausgangsproblem des materiell unrichtigen Sachurteils gerecht. Denn solange man an einem Schuldprinzip festhält, wird keine für das Verfahrensrecht formulierte Theorie dazu in der Lage sein, die Rechtmäßigkeit der Bestrafung eines Unschuldigen darzulegen. In der Tatsache, dass sie dies auch nicht versucht, sondern dass sie für die Tragik des Fehlurteils empfindlich bleibt, liegt die Stärke der sog. rein prozessualen Rechtskrafttheorie, und der Grund, weshalb sie doch wenigstens in dieser Hinsicht als richtige Auffassung anzusehen ist. Ob die prozessrechtliche Rechtskraftlehre auch die weiteren in Rechtskraft erwachsenden Entscheidungen zu erklären vermag, insbesondere die materiellrechtlich richtige Verurteilung, soll an dieser Stelle noch offen bleiben.1276 Zwei Bemerkungen sind noch angebracht. Erstens ist die Tatsache, dass die prozessrechtliche Rechtskraftlehre den Widerspruch von materiellem Recht und Prozessrecht nicht zu umgehen versucht, theoretisch besonders anregend und fruchtbar.1277 Denn die Hinnahme des logischen Widerspruchs, der verblüffenden Tatsache, dass hier die Rechtsordnung etwas Rechtswidriges hinnimmt, verleitet von selbst dazu, nach einer Erklärung zu suchen, die sich nicht mehr auf 1274 Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 272 f.; ders. JW 1928, S. 2249; Niese, Prozeßhandlungen, S. 112 ff.; Nowakowski, ÖJZ 1950, S. 152; Busch, ZStW 68 (1956), S. 3; Eb. Schmidt, Lehrkommentar I, Rn. 275 ff.; ders. Kolleg, Rn. 330, 335; G. Schmidt, JZ 1966, S. 91; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 385 f.; Gantzer, Rechtskraft, S. 119; Geppert, GA 1972, S. 170; Ranft, Strafprozeßrecht, Rn. 1875; Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 504; ähnl. bereits A. Bauer, Grundsätze, § 202, mit der Entgegensetzung von „materialem, wirklichem Recht“ und „formalem“ Recht; ebenso Vogler, Rechtskraft, S. 34. W. Nachw. b. Paulus, FS Würzburger Juristenfakultät, S. 690 Fn. 50. 1275 Sax, ZZP 67 (1954), S. 35. 1276 Hierzu sogleich u. D. (S. 371 ff.). 1277 Ähnl. Gilles, FS Schiedermair, S. 195 f.

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der Ebene der Logik, sondern auf einer normativen Ebene bewegt. Es war deshalb kein Zufall, dass gerade die prominentesten Vertreter der prozessualen Rechtskrafttheorie die bis heute wichtigste normative Theorie formuliert haben, nämlich die Lehre von der Rechtskraft als Gewähr für die Rechtssicherheit, um die es sogleich (u. C. II. [S. 344 ff.]) gehen wird. Zweitens erscheint die am materiellrechtlich unzutreffenden Sachurteil entfaltete Diskussion aus der hier eingenommenen Perspektive als verlorene Gelegenheit, noch fundamentalere Vorfragen zu stellen. Denn, wie o. Teil 1 Kap. 2 B. IV., V., VI. (S. 122 ff.) gesehen, ist nicht erst die Bestrafung des Unschuldigen, sondern bereits seine Verfolgung legitimationstheoretisch heikel. Insofern kann der ganze prozesstheoretische Abschnitt dieser Monografie als Versuch verstanden werden, die sog. prozessuale Betrachtungsweise zunächst dadurch zu radikalisieren, dass nicht erst das Ende, sondern bereits die Entstehung eines Verfahrens zum Problem gemacht worden ist; und ferner dadurch zu vertiefen, dass man sich weigert, durch begriffslogische Festlegungen oder fragwürdige Soziologismen der eigentlichen Rechtfertigungsfragen verlustig zu werden.

C. Normative Rechtskrafttheorien Die prozessuale Rechtskrafttheorie legt wie gesagt den Stein für die Überwindung der begriffskonstruktivistischen zugunsten einer normativen Vorgehensweise. Die heute verbreitete Einstellung, die herkömmliche Diskussion über Rechtskrafttheorien sei praktisch unergiebig gewesen,1278 ist insofern berechtigt, als sie die Einsicht in die Unzulänglichkeiten einer im Bereich des Konstruktiven verbleibenden Betrachtungsweise verkörpert.1279 Nur der prozessualen Rechtskrafttheorie gelingt es, die Konstruktion dort auf den Punkt zu bringen, wo man sich nicht mehr mit ihr begnügen kann. Es geht dann nicht darum, den Widerspruch von materiellem Recht und Prozessrecht logisch aufzulösen, sondern vielmehr normativ zu rechtfertigen, warum man unter Umständen prinzipiell mit dem Widerspruch leben muss.1280 I. Ansehen des Staates und der Gerichte 1. Eine früher sehr verbreitet vertretene Ansicht sieht in der Rechtskraft ein Gebot der Wahrung der Autorität der Gerichte und deren Entscheidungen.1281 1278 Z. B. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 52 Rn. 9; Nieva Fenoll, Cosa juzgada I, S. 80; krit., aber aus zivilprozessualer Sicht Koussoulis, Rechtskraftlehre, S. 69 ff., 85 f. 1279 Bereits o. Teil 1 Kap. 2 C. II. 1. (S. 141 ff.). 1280 Ebenso E. Schumann, FS Bötticher, S. 311. 1281 Der Gesichtspunkt taucht allein oder in Verbindung mit anderen (insb. Rechtssicherheit) auf bei Mittermaier, NArchCrimR 1850, S. 510, 513; Hélie, Traité III, S. 534;

1. Kap.: Die Begründung der materiellen Rechtskraft

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Man meint, dass, wenn Gerichtsentscheidungen jederzeit ohne größere Schwierigkeiten verändert werden könnten, ihr Ansehen leiden würde. Darauf berief sich der sich noch im Rahmen der gemeinrechtlichen Tradition bewegende Kleinschrod, um die damals herrschende Auffassung, die dazu tendierte, Strafurteilen keinerlei Rechtskraft zuzuerkennen,1282 in Frage zu stellen: „[W]as würde aus dem Ansehen der Gerichte und der Justizverfassung werden . . .“, fragte er, wenn Verfahren kein Ende fänden?1283 Auch der italienische Faschismus, für den die Autorität des Staates im Mittelpunkt stand,1284 war deshalb im Unterschied zu den anderen Autoritarismen, von denen u. VIII. (S. 364 ff.) noch die Rede sein wird, äußerst rechtskraftfreundlich.1285 In der Literatur haben Arturo Rocco in Italien und Binding in Deutschland eine solche Begründung am klarsten vorgelegt. Für Rocco ist die Rechtskraft nichts anderes als Manifestation der Gesetze selbst: „[D]er im Sachurteil (sentenza definitiva) enthaltene Spruch repräsentiert das Gesetz selbst“.1286 „Die Stimme und der Wille des Staates in Bezug auf dieBerner, GA 1855, S. 474; Remeis, Wiederaufnahme, S. 69, 74; Hommey, Chose jugée, S. 6; Hirtz, Chose jugée, S. 187; Heinze, GA 1876, S. 283 Fn. 2; Glaser, GrünhutsZ 12 Remeis, Wiederaufnahme, S. 74; (1885), S. 305; Kohlrausch, Idealkonkurrenz, S. 57; Sevestre, Révision, S. 3; B. Ullmann, Wiederaufnahme, S. 1; Giehl, Wiederaufnahme, S. 1, 2; Wurzer, GA 1918, S. 281; Rosenfeld, 36. DJT Bd. I, S. 1143; H. Mayer, GS 99 (1930), S. 106 f. („staatsrechtliche Funktion des Urteils“); R. Neumann, Wiederaufnahme, S. 2; E. Mayer, Wiederaufnahme, S. 2, 3; Sauer, FS R. Schmidt, S. 316; Freisler, DJ 1937, S. 731; Rheingans, Rechtskraftlehre, S. 1 Fn. 2; Mittelbach, JW 1938, S. 3156; Niederreuther, GS 113 (1939), S. 328; ders. DJ 1942, S. 109; Mattil, DStR 1942, S. 163; Exner, Strafverfahrensrecht, S. 74; Maunoir, Revision, S. 32; Fenech, RDP 1955, S. 100; Jescheck, JZ 1957, S. 30; Vogler, Rechtskraft, S. 97; Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Bd. I Rn. 312; G. Schmidt, JZ 1966, S. 90; Gantzer, Rechtskraft, S. 65; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 384; Friedland, Double Jeopardy, S. 4; Najarian, Chose jugée, S. 3; Fliedner, AöR 99 (1974), S. 253; Achenbach, ZRP 1977, S. 90; Deml, Wiederaufnahme, S. 53; Peters, Strafprozeß, S. 84, 506; heute noch Kniebühler, Ne bis in idem, S. 6; Ziemann, ARSP-Beiheft 103 (2005), S. 135; Rudstein, SDiegoILJ 8 (2007), S. 257; Pradel, Procédure penal, Rn. 1024. Siehe auch Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 208, 209; Schietti M. Cruz, Dupla persecução, S. 28 ff. Nachw. von Stellungnahmen aus Klassikern bis zurück zu Cicero in Leone, RDPP 1956, S. 179. Aus der Rspr.: BGHSt 6, 122 (124). 1282 Näher u. IV., VIII. (S. 351 f., 362 ff.) m.w. Nachw. 1283 Kleinschrod, ArchCrimR Bd. 2 St. 3 (1800), S. 28 f. 1284 Siehe Dahm, Nationalsozialistisches und faschistisches Strafrecht, S. 6 ff., m.w. Nachw. aus dem zeitgenössischen Schrifttum; aus nachträglicher Sicht etwa Perticone, Enc. Dir. XVI (1967), S. 877 ff. 1285 Leone, RDPP 1956, S. 171 f.; J. Bosch, Wiederaufnahme, S. 349; Mancuso, Giudicato, S. 8 ff. Für einige Einzelheiten, die insbesondere mit dem Wiederaufnahmerecht zu tun haben, s. u. Teil 2 Kap. 6 B. II. (S. 868 Fn. 3496), III (S. 877). 1286 Rocco, Cosa giudicata I, S. 205. Wie sich diese Begründung zu derjenigen, die u. IV. (S. 351 f.) dargestellt wird, verhält, ist mir aus der Lektüre des Buches nicht klar geworden. Zu Roccos Rechtskraftlehre ausf. Conde Correia, Caso julgado, S. 45 ff. Um Missverständnisse zu vermeiden: Arturo Rocco, Strafrechtler und Strafprozessrechtler, war der Bruder von Alfredo Rocco, des Zivilprozessrechtlers, der später Justizminister von Mussolini gewesen ist und auf dessen politisches Wirken das Strafgesetzbuch und die Strafprozessordnung von 1930 zurückgehen, die deshalb beide Codici Rocco ge-

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

jenigen, die sich eines Verbrechens schuldig gemacht haben, die vom Gesetzgeber zunächst in den kalten und stummen Buchstaben des Gesetzes niedergeschrieben wurden, machen sich lebendig, laut, sichtbar und manifest mittels des Sachurteils, majestätisch und feierlich wie der Wille selbst, den es repräsentiert. Als gesprochenes Recht, als Spruch des Gesetzes, hat es letztlich dieselbe Autorität und Kraft, die den Gesetzen zukommt“.1287 Und für Binding beruht die Rechtskraft auf einem von ihm postulierten „Grundsatz der Einmaligkeit der Staatsakte“, dessen Geltungsbereich viel weiter als das Prozessrecht gehe.1288 Die Rechtskraft sei eine staatstheoretische Leistung, die „eines der großartigsten Probleme“ löst,1289 mit denen sich der moderne Staat konfrontiert sieht: Denn durch die Komplexität der Staates und seine Untergliederung in eine Vielzahl von Behörden werde „der Staatswille in Hunderten und Tausenden von Organen erzeugt“, womit die „große Gefahr“ der „Atomisierung“ dieses Willens entstehe.1290 Der Staat müsse deshalb in der Lage sein, „die Aufrechthaltung der äußeren wie der inneren Einheitlichkeit seiner Aktion“ zu sichern.1291 Wird der Staatsakt von der „in die höchst denkbare Unpartheilichkeit gestellten, mit allen möglichen Machtmitteln zur Erfüllung ihres schwierigen Berufs ausgestatteten Behörde des Gemeinwesens“, also von einem Gericht erlassen,1292 dann müsse die Entscheidung bis auf Weiteres hingenommen werden. „Der Staat geizt mit seiner Aktion, weil sie Akt höchster Autorität ist.“ 1293 In der Nachkriegszeit argumentierte Stock im Wesentlichen inhaltsgleich: Die Rechtskraft sei „um der Festigung und Erhaltung der Autorität des Urteils willen“ geboten.1294 Es gehe bei ihr um eine „alte und kluge Verwaltungstradition, einmal gefällte Entscheidungen nicht ohne zwingende Gründe aufzuheben . . .“.1295 Er erinnert an einen Rat von Friedrich II.: „. . . wenn Ihr Wille einmal erklärt ist, so gehen Sie um alles in der Welt willen nicht davon ab“.1296 Auch in der Gegenwart spielt diese Ansicht eine nicht unwichtige Rolle. Offene Fürsprecher im Rahmen der Rechtskraftlehre hat sie in Deutschland zwar

nannt werden (Pitarelli, Sintesi storica, S. 53 ff.). Inhaltlicher Autor der italienischen Strafprozessordnung soll Manzini gewesen sein (Pitarelli, Sintesi storica, S. 60). 1287 Rocco, Cosa giudicata I, S. 207. 1288 Binding, Strafanspruch, S. 272; ders. Strafurteil, S. 305, 316. Zust. Niederreuther, DJ 1938, S. 1752; Hall, DRW 1941, S. 307. 1289 Binding, Strafurteil, S. 304. 1290 Binding, Strafurteil, S. 303. 1291 Binding, Strafurteil, S. 304. 1292 Binding, Strafanspruch, S. 272. 1293 Binding, Strafurteil, S. 337. 1294 Stock, FS Mezger, S. 449. 1295 Stock, FS Mezger, S. 450. Vgl. zur Zeit des Nationalsozialismus Peters, ZStW 56 (1935), S. 54. 1296 Stock, FS Mezger, S. 450.

1. Kap.: Die Begründung der materiellen Rechtskraft

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kaum; sobald es aber um Leben und Tod der rechtskräftigen Entscheidung geht, also sobald man beim Wiederaufnahmerecht ankommt, verändert sich das schlagartig, wie wir u. Kap. 6 B. II. (S. 866 ff.) sehen werden. In der gegenwärtigen angelsächsischen Literatur meint Roberts, dass, wenn Strafverfahren nicht in Rechtskraft erwachsen würden, die Bevölkerung sie nicht mehr ernst nehmen, sondern als „sham trial of guilt“ ansehen würde.1297 Und wohl nichts anderes als ein Fortwirken des Autoritätsgedankens dürfte eine in der heutigen italienischen Lehre allgemein akzeptierte Rechtskraftbegründung verkörpern, die behauptet, Zweck der Rechtskraft sei die Verhinderung sog. praktischer Widersprüche, also einander widersprechender staatlicher Befehle (im Gegensatz zum sog. theoretischen Widerspruch, der sich nicht auf den in der Entscheidung enthaltenen Befehl, sondern auf ihre Begründung, insbesondere ihre Tatsachenfeststellungen bezieht).1298 2. Die Kritik fällt gar nicht schwer. a) Als empirische Aussage verfügt die These, dass leicht veränderbare Entscheidungen für die Autorität des Staates und seiner Gerichte schädlich sind, zwar über eine scheinbare Plausibilität. Sie wird aber erschüttert, sobald man an eine mindestens genauso plausible Gegenthese denkt, nämlich dass unrichtige Entscheidungen, die ohne Korrekturmöglichkeit hingenommen werden, dem Ansehen der Gerichte wohl auch nicht sehr dienlich sein können.1299 Nicht unplausibel dürfte sogar die extreme Gegenauffassung sein, die meint, dass „dem Ansehen der Rechtspflege und damit des Staates durch eine ungerechte Verurteilung weniger Abbruch getan wird als durch eine Unzahl ungerechtfertigter Freisprüche“.1300 Diese Stellungnahmen, die man nicht ohne Weiteres als neben der Sache liegend wegräumen kann, verdeutlichen, dass die Verknüpfung von Autorität der Gerichte bzw. ihrer Entscheidung und Unabänderlichkeit keineswegs so direkt ist, wie man meinen könnte. Vielmehr wird diese Verknüpfung durch eine Reihe empirischer, psychologisch-soziologischer Faktoren vermittelt, über deren Vorhandensein man seinerseits unterschiedlicher Meinung sein kann, weil sie 1297

Roberts, MLR 65 (2002), S. 410 f. (Zitat S. 411). Etwa Lozzi, GiurCost 1976, S. 1592; ders. Ne bis in idem, S. 61 ff.; ders. RitDPP 1981, S. 1242 ff., 1244; ders. Lezioni, S. 785; De Luca, Giudicato, S. 2; Bellora, RitDPP 1990, S. 1647; Rivello, RitDPP 1991, S. 482; Lucarelli, Giudicato, S. 3; Mancuso, Giudicato, S. 408; nur bezüglich Freisprüchen Jannelli, Cosa giudicata, S. 597. Praktische Widersprüche haben den im Urteil verkörperten Befehl zum Gegenstand, logische Widersprüche die im Urteil vorhandende Begründung, insbesondere ihre Festellung; zum Ganzen Mancuso, Giudicato, S. 414 ff. m.w. Nachw.; krit. Cristiani, Revisione, S. 84 ff. 1299 v. Hentig, Wiederaufnahmerecht, S. 11; Lampe, GA 1968, S. 34; Knoche, ZRP 1970, S. 288; Hanack, JZ 1973, S. 394; s. a. u. Kap. 6 B. II. (S. 895 mit Nachw. in Fn. 3645). 1300 Finke, Liberalismus und Strafverfahrensrecht, S. 65 (aus nationalsozialistischer Perspektive). 1298

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

wohl prinzipiell unaufklärbar sind.1301 Deshalb konnten die oben Genannten, die die Rechtskraft auf das Ansehen der Gerichte und ihrer Entscheidungen zurückführen, so unterschiedliche Verständnisse vom Ausmaß der Unabänderlichkeit haben. Der Faschismus war zum einen sehr rechtskraftfreundlich. Binding dagegen beklagte sich, dass „die logische Macht der Rechtskraft weit über Gebühr gewertet“ wurde.1302 Ein letztes Beispiel entstammt der jüngeren Vergangenheit: Die britische Law Commission schlug die Anerkennung einer Wiederaufnahme zuungunsten propter nova beim Mord vor, was u. a. damit begründet wurde, dass es um den einzigen Fall ginge, in dem „damage to the credibility of the criminal justice system by an apparently illegitimate acquittal is manifest, and so serious that it overrides the values implicit in the rule against double jeopardy“.1303 Auch dann, wenn man diese Beurteilungen in Frage stellt,1304 wird man auf Grundlage dieses Verständnisses von der Rechtskraft bloß empirische Gegenargumente anführen können, die bestenfalls plausible Spekulationen bleiben werden. b) Entscheidend dürfte aber ein weiterer Gesichtspunkt sei, der sich jenseits dieses letztlich nur empirisch und politisch zu entscheidenden Streits befindet. Dieser ist nämlich der obrigkeitsstaatliche Beigeschmack der Berufung auf die Autorität der Gerichte und des Staates, der am augenfälligsten am Beispiel des Faschismus dokumentiert wird. Ein Ansatz, der von Autorität allgemein wenig hält, wird sich auch nicht damit zufriedengeben können, sondern sich noch nach den Gründen, die diese Autorität tragen, erkundigen wollen. Wie o. Teil 1 Kap. 2 C. II. 3. (S. 155 f.) schon angemerkt, erreicht die Berufung auf Autorität nicht einmal die erste Rechtfertigungsstufe, sondern ist ein Ausdruck von prozessualistischem Machiavellismus. Auch die Räuberbande des Augustinus macht sich über ihr Ansehen und ihre Autorität Gedanken. Stützt sich die Rechtskraft nur auf Autorität, dann ist sie in der Tat nicht mehr als ein Ausfluss eines „machtpolitischen, persönlichkeitsfeindlichen Obrigkeitsgeistes“.1305 3. Trotz der Kritik sollte man dem Ansatz nicht völlig verständnislos gegenüberstehen. Seine Bedeutung ist vor allem eine geschichtliche gewesen.1306 Der Gedanke der Rechtskraft war in Frankreich ein Ergebnis des Kampfs gegen die sog. „justice retenue“, also die absolutistische Vorstellung, dass die Justiz eigentlich in den Händen des Königs liege, und dass die Gerichte nur in seinem Auftrag Recht sprechen. Folge dieses Konzepts war die Befugnis des Königs, Rechts-

1301 Ähnl. Swoboda, HRRS 2008, S. 196, die sich aber optimistischer nur über den Mangel empirischer Forschung beklagt. 1302 Binding, Strafanspruch, S. 293. Näher zu seiner Wiederaufnahmelehre u. Kap. 6 B. II. (S. 869). 1303 LAW COM Nr. 267 (2001), Rn. 4.22 (Zitat), 4.29. 1304 So Roberts, MLR 65 (2002), S. 413; Rudstein, SDiegoILJ 8 (2007), S. 272 ff. 1305 Bendix, Neuordnung, S. 274. 1306 Zum Ganzen Fazy, Revision, S. 1 f.

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pflege unmittelbar auszuüben, was er durch die königlichen Briefe (lettres royales) tat. Er durfte durch Briefe den Befehl erteilen, jemanden zu strafen (durch die o. Teil 1 Kap. 2 B. III. [S. 121]) bereits erwähnten lettres de cachet), und auch umgekehrt lettres de grace, de rémission und de revision erteilen. Die Berufung auf die Autorität der Gerichte war somit auch ein Mittel, die Idee der Gewaltenteilung zu etablieren. Die Strenge des nachrevolutionären französischen Wiederaufnahmerechts (näher u. Kap. 6 B. II., V. 2. [S. 867 f., 886]), die in ganz Europa ihren Einfluss verbreitet hat, kann somit als Reaktion1307 auf die in der Ordonnance v. 1670 vorgesehenen lettres de revision angesehen werden.1308 Die Wiederaufnahme wurde 1792 abgeschafft; die Rechtskraft der Strafurteile war somit absolut.1309 Problematisch an dem Ansatz ist aber die in ihm angelegte Tendenz, den Autoritätsgedanken zu verselbständigen und von diesem Zusammenhang zu entkoppeln. Genau das ist in Frankreich passiert: als die Wiederaufnahme bereits 1793 erneut eingeführt wurde, wurde der Justizminister zum alleinigen Antragsberechtigten erklärt;1310 ebenso verfuhr der Code d’Instruction Criminelle v. 1808.1311 Hier erkennt man, wie ein Gedanke, der als Bollwerk gegen die Exekutive propagiert wurde, wegen seiner Schiefheit leicht zur Rechtfertigung einer exekutivistischen Einmischung in Gerichtsbarkeitssachen umfunktioniert werden konnte. Diese Bestimmung wurde erst 1867 aufgelockert;1312 für die erst 1895 eingeführte Wiederaufnahme propter nova1313 wurde sie aber erst vor wenigen Jahrzehnten, nämlich 1989 beseitigt.1314 Aufschlussreich ist die Begründung in den Beratungen des Code d’Instruction Criminelle: „il ne faut pas ouvrir d’indiscrè-

1307 Fazy, Revision, S. 25; Bouzat/Pinatel, Traité II, S. 1459; Grebing, Wiederaufnahme, S. 304. 1308 Ausf. zu ihnen Fazy, Revision, S. 11 ff. 1309 In Deutschland verhielt es sich demgegenüber anders; die Rechtskraft hat sich hier nicht als Bollwerk gegen die Exekutive, sondern gegen die Richterschaft selbst entwickelt, die Verfahren mittels mehrerer Figuren, vor allem der absolutio ab instantia, von der gleich die Rede sein soll, nicht definitiv enden ließ (näher u. IV., VIII. [S. 351 f., 362 ff.]). 1310 Fazy, Revision, S. 27. 1311 Fazy, Revision, S. 36 f.; Grebing, Wiederaufnahme, S. 315. Das von Frankreich stark beeinflusste italienische Recht enthielt eine solche Regel noch in der itStPO von 1913, s. J. Bosch, Wiederaufnahme, S. 365. 1312 Grebing, Wiederaufnahme, S. 315. 1313 Siehe die Zeitgenossen Lemoine, Revision, S. 194 ff. und Orano, Revisione, S. 60 ff., beide sehr krit.; Prebois, Revision, S. 85 ff., wohlwollender; und Sevestre, Révision, S. 206, dezidiert zust.; aus deutscher Sicht und sehr krit. Ortloff, GS 23 (1871), S. 198 f.; später und auch äußerst krit. Fazy, Revision, S. 27, 36 ff., 75 ff. Es ist deshalb zu kondenszendent und relativistisch, wenn J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 42 sagt, dieses Modell widerspreche der in Deutschland geltenden Auffassung von der Gewaltenteilung. 1314 Pradel, Procédure pénale, Rn. 1014.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

tes issues aux réclamations“.1315 In der Literatur vertraten einige, dass die Wiederaufnahme nicht mit Rücksicht auf das beschwerte Individuum, sondern als eigenes Recht des Justizministers gewährt werde1316 – eine für eine autoritätsorientierte Begründung nicht inkonsequente Sichtweise. II. Triumph der Rechtssicherheit über die Gerechtigkeit 1. Wieder war es Beling, der die dogmengeschichtlich maßgeblichen Gedanken formulierte.1317 In einer klassischen Passage, die wie wenige andere von der nachfolgenden Literatur zustimmend zitiert worden ist, bezeichnet er zunächst die Wirkungen der Rechtskraft als „unzweifelhaft anstößig“.1318 Dennoch seien sie als „kleineres Übel“ anzusehen, das von der „irdischen Rechtsordnung . . . in den Kauf genommen“ werde, damit Rechtssicherheit herrsche.1319 Denn „eine ständige Prozeßerneuerung ohne Ende, wie sie ohne die materielle Rechtskraft zulässig wäre, verträgt das Rechtsleben nicht“.1320 Der von der prozessualen Rechtskrafttheorie ernstgenommene Widerspruch ist nicht nur ein logischer Widerspruch zwischen zwei Zweigen einer einzigen Rechtsordnung, sondern eine Kollision zwischen den fundamentalen Rechtswerten der Gerechtigkeit auf der einen und der Rechtssicherheit auf der anderen Seite.1321 Die Rechtskraft verkörpert somit den Sieg der Rechtssicherheit über die materielle Gerechtigkeit.1322 1315 Zit. nach Fazy, Revision, S. 31, der meint, dass „der ganze Opportunismus der, dem Rechts- und Billigkeitsgefühl widersprechend, die Grundlage des französischen Gesetzes über die Wiederaufnahme war und noch ist, sich durch diese Worte zusammenfassen lässt.“ 1316 Lucchini, Elementi, S. 395 f. 1317 Davor aber bereits Savigny, System VI, S. 260 f.; Berner, GA 1855, S. 474; Mariano, Chose jugée, S. 8, 9; Schanze, ZStW 4 (1884), S. 451 f. Savigny, Mariano und Schanze nehmen sogar die Charakterisierung der Rechtskraft als geringeres Übel vorweg. 1318 Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 268, 1319 Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 269; der Passus wird zust. zitiert von Niese, Prozeßhandlungen, S. 111; G. Schmidt, JZ 1966, S. 90; Eb. Schmidt, Kolleg, Rn. 339; ders. JZ 1968, S. 681; Ziemann, Rehabilitierungsgedanken, S. 662. Vor Beling sehr ähnlich Barbarino, Rechtskraft, S. 22 f. 1320 Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 269. 1321 Man kann sich hier an Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 69 ff. erinnern, der Gerechtigkeit und Sicherheit (neben der Zweckmäßigkeit) als Komponenten seiner „Rechtsidee“ konzipierte; auf ihn ausdrücklich bezugnehmend Dickersbach, Wiederaufnahme, S. 26 f.; Spinellis, Rechtskraft, S. 1 f.; Cristiani, Revisione, S. 7 f.; J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 39; Saliger, Radbruchsche Formel, S. 71 ff.; Ziemann, ARSP-Beiheft 103 (2005), S. 139 f. 1322 Hirtz, Chose jugée, S. 187; Ortolan/Desjardins, Éléments, S. 295; v. Kries, GA 1878, S. 169; Kroschel, GS 52 (1896), S. 409; Kohlrausch, Idealkonkurrenz, S. 52; Barbarino, Rechtskraft, S. 19 f.; Birckel, Identität der Tat, S. 2; B. Ullmann, Wiederaufnahme, S. 1; Oster, Rechtskraft, S. 8; Giehl, Wiederaufnahme, S. 2; Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 176; E. Mayer, Wiederaufnahme, S. 1; Dohna, DStR 1936, S. 17; Hegler,

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Zur Strafprozeßerneuerung, S. 12 f.; Pinatel, Fait nouveau, S. 1; Lobe, GS 110 (1938), S. 252 f.; Niederreuther, DJ 1938, S. 1752; E. Wolter, Rechtskraft, S. 12; Neubauer, DJ 1942, S. 11; Exner, Strafverfahrensrecht, S. 10, 754; Correia, Caso julgado, S. 302; Oehler, FS Rosenfeld, S. 139 f., 158 f.; Granata, GiustPen 1950/3, Sp. 55; Niese, Prozeßhandlungen, S. 111, 124 („zweckmäßigkeitsbedingte Notmaßnahme“); Potthoff, JR 1951, S. 681; Manzini, Trattato IV, S. 441; Stock, FS Mezger, S. 448; Fenech, RDP 1955, S. 96; Nowakowski, Strafprozeß, S. 252 f.; La Rocca, Fatto, S. 98; Leone, RDPP 1956, S. 175; ders. Trattato III, S. 321; Gavalda, JCP I 1957, Nr. 1372 Rn. 61 a. E.; Gianturco, Error juris, S. 41; Geerds, Konkurrenz, S. 397; Spinellis, Rechtskraft, S. 1 f.; De Luca, Limiti soggettivi, S. 91 ff.; ders. Giudicato, S. 2; Hellmer, JuS 1963, S. 313; Eb. Schmidt, Lehrkommentar I Rn. 283 (wobei an späterer Stelle [Rn. 312] der Schutz der persönlichen Freiheit neben der Rechtssicherheit genannt wird); ders. Kolleg, Rn. 334, 339; Noftz, Prozeßgegenstand, S. 86 f. (der aber den Gegensatz zur Gerechtigkeit abgemildert sehen möchtet); G. Schmidt, JZ 1966, S. 90; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 384; Gantzer, Rechtskraft, S. 64 f.; Stree, FS Engisch, S. 679; Schwarplies, Ne bis in idem, S. 1 f.; Dippel, GA 1972, S. 109; Najarian, Chose jugée, S. 2; Figueiredo Dias, Direito processual penal, S. 44; Fliedner, AöR 99 (1974), S. 252 f.; Cortés Domínguez, Cosa juzgada, S. 114 f.; Molière, Rechtskraft des Bußgeldbeschlusses, S. 29 ff.; Loos, JZ 1978, S. 593; Gössel, Strafverfahrensrecht, S. 286; Deml, Wiederaufnahme, S. 42; Gallantini, RitDPP 1981, S. 98; Neu-Berlitz, Rechtskraft, S. 7; Krauth, FS Kleinknecht, S. 228; Neuhaus, Tatbegriff, S. 159; Leone, Manuale, S. 731; Puppe, JR 1986, S. 206; J. Maier, GS Arm. Kaufmann, S. 793; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 69 f. (der aber das Spannungsverhältnis von Gerechtigkeit und Rechtssicherheit ablehnt und die Rechtskraft überwiegend auf eine als individuellen Vertrauensschutz konzipierte Rechtssicherheit zurückführt); Art. Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 191; Schroeder, JuS 1997, S. 228 (nur für das Verbot erneuter Verfolgung; das Verbot erneuter Bestrafung beruhe auf dem Schuldprinzip, s. o. Fn. 1448); Schlehofer, GA 1997, S. 106 f., 108; Muñoz Lorente, Non bis in idem, S. 51 ff.; Krack, Rehabilitierung, S. 43 f.; Lonati, CassPen 2002, S. 3181; Barja de Quiroga, Non bis in idem, S. 59 f.; Hanne, Rechtskraftdurchbrechungen, S. 174; Kniebühler, Ne bis in idem, S. 17; Tigre Maia, BCESMPU 16 (2005), S. 28, 59; Ziemann, ARSP-Beiheft 103 (2005), S. 140 f.; ders. HRRS 2008, S. 365 f.; Callari, IP 9 (2006), S. 244; ders. Firmitas, S. 4, 155 f., 173 ff., 207 ff.; ders. Revisione, S. 17 ff., 47; Lucarelli, Giudicato, S. 3; Nieva Fenoll, Cosa juzgada I, S. 82, 119; Della Monica, DDP-Agg IV (2008), S. 390; Grünewald, ZStW 120 (2008), S. 565; Schietti M. Cruz, Dupla persecução, S. 27; Pfeiffer/Hanich, KK-StPO Einl Rn. 165; Pradel, Procédure penale, Rn. 1024; Normando, Giudicato, S. 5; Armenta Deu, Lecciones, S. 250; Grinover, FS Figueiredo Dias III, S. 859; Steinberg/Stam, Jura 2010, S. 908; Cortés Domínguez, Derecho procesal penal, S. 572; Guinchard/Buisson, Procédure pénale, Rn. 2655. Ähnl. Sauer, FS R. Schmidt, S. 317 f. (neben dem Rechtsfrieden und der Autoritätswahrung); Valticos, Chose jugée, S. 45; Coppi, Reato continuato, S. 248; E. Schumann, FS Bötticher, S. 319; Wolter, GA 1986, S. 151; Fezer, Tatbegriff, S. 130; Schlüchter, Wert der Form, S. 215, wenn auch der individuellschützende Aspekt im Vordergrund stehen dürfte; Kühne, LR-StPO Einl. K Rn. 65: Wiederherstellung des Rechtsfriedens, Vertrauensschutz und Prozessökonomie, in Rn. 79 wird beim freisprechenden Urteil noch die Fairness herangezogen; Mancuso, Giudicato, S. 410 ff. (zu ihm u. Fn. 1370). Unklar Siegert, DStR 1935, der einerseits von Rechtssicherheit (S. 287), andererseits von Gerechtigkeit spricht (S. 288). Aus der deutschen Rspr.: BGHSt 3, 13 (15); 6, 122 (123, 124); 9, 324 (333); 17, 94 (95); 18, 141 (143); 45, 37 (38); 48, 153 (159); 48, 331 (337); 52, 213 (216); BVerfGE 56, 22 (31 f.); 65, 377 (380); aus der italienischen Rspr. Corte Costituzionale Giust. Cost 1969, 384 (392); GiurCost 1999, 3178 (3181); Cassazione Penale (Sez. Un.) CassPen 2002, 1952 (1967); im angelsächsischen Raum spricht man weitgehend gleichbedeutend

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

2. Diese Ansicht scheint auf den ersten Blick Richtiges zu enthalten. Die Gesellschaft dürfte ein berechtigtes Interesse daran haben, dass sich Streitigkeiten nicht verewigen, dass Prozesse ein Ende finden. Dieses Interesse kann eventuell höher zu veranschlagen sein, als das Interesse an der materiellen Richtigkeit der Entscheidung. Zweifelhaft ist aber, ob damit der Rechtskraft, so wie wir sie kennen, hinreichend Rechnung getragen wird. Dies ist insbesondere aus zwei Gründen zu verneinen.1323 a) Erstens ist die Berufung auf Rechtssicherheit eher kollektivistisch ausgerichtet.1324 Rechtssicherheit ist auf den ersten Blick – und so haben wir sie auch gerade gedeutet – ein Interesse der Gesellschaft, also eine Größe, die in die erste Stufe unserer Theorieeinteilung einzuordnen wäre. Die Perspektive des Individuums interessiert eher nicht.1325 Das ist nicht bloßer Zufall, sondern eigentlich begründungstheoretisch konsequent. Denn regelmäßig wird diese Begründung der Rechtskraft gerade von denjenigen vertreten, die in der Verwirklichung von eher sozial orientierten Gütern der Wahrheit und Gerechtigkeit das alleinige Ziel des Strafverfahrens erblicken.1326 Weil die Rechtskraft die grundsätzliche Unveränderbarkeit auch der auf Unwahrheit beruhenden und Ungerechtigkeit verkörpernden Entscheidung bedeutet, entsteht deshalb das Problem, dies der Gesellschaft gegenüber zu rechtfertigen. Und hierin liegt die Konsequenz des Rückgriffs auf die Rechtssicherheit: von der „finality of judgements“, s. Kirchheimer, YLJ 58 (1949), S. 515; Shalgi, IsLR 8 (1973), S. 37; Bouwen Poulin, VillLR 39 (1994), S. 638, 639 ff.; Rudstein, MoLR 65 (1995), S. 611; ders. SDiegoILJ 8 (2007), S. 242 ff.; Dennis, CLR 2000, S. 941; Roberts, IJEP 2002, S. 206 ff.; Coffey, JSIJ 5 (2005), S. 140; Crist v. Bretz, 437 U.S. 28, 33 (1978); Arizona v. Washington, 434 U.S. 497, 503 (1978); White, in: United States v. Dixon et al., 509 U.S. 688, 747 (1993). 1323 Interessant erscheint auch der dogmengeschichtliche Hinweis von Gassin, RSC 1963 S. 240 ff., nach dem der ne bis in idem-Grundsatz und die Rechtskraft des Strafurteils unterschiedlicher Herkunft seien und auf verschiedenen Grundlagen beruhen würden: Erster sei ein freiheitsverbürgendes Prinzip, dessen Höhepunkt im nachrevolutionären Frankreich erreicht wurde, Letztere ein erst Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem Zivilrecht entnommenes, dem kollektivistischen Rechtssicherheitsgedanken verpflichtetes Institut. Inwiefern diese Behauptungen richtig sind, und ferner ob sie auch in Bezug auf die deutsche Entwicklung aussagekräftig sind, lasse ich aber dahingestellt. 1324 Eindeutig Berner, GA 1855, S. 474; Mariano, Chose jugée, S. 8; Schanze, ZStW 4 (1884), S. 452 (über das unrichtige, aber rechtskräftige Urteil: „Für das Wohl des Ganzen darf aber billiger Weise dem einzelnen ein Opfer verlangt werden“); Barbarino, Rechtskraft, S. 20; Sotgiu, Revisione, S. 13; aus nationalsozialistischer Sicht Siegert, DStR 1935, S. 287; Lobe, GS 110 (1938), S. 252 („Gemeinnutz geht hier vor Eigennutz“); Mittelbach, JW 1938, S. 3156 („Für die Rechtssicherheit treten wir ein, um durch sie die Staatssicherheit zu gewährleisten“); H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 11, 14: „Erhaltung der Gemeinschaftsordnung“; später Gantzer, Rechtskraft, S. 66; Deml, Wiederaufnahme, S. 42: „Eher soll ein Einzelner gelegentlich Unrecht erleiden, als daß das Rechtsleben ständiger Verunsicherung preisgegeben wird“. 1325 Richtig erkannt von Leone, RDPP 1956, S. 175. 1326 Nachw. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 2. d) (S. 236 ff.).

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Denn die Rechtssicherheit ist ebenfalls ein in erster Linie gesellschaftlich orientiertes Gut.1327 Demnach hat auch die Gesellschaft überwiegende Vorteile dabei, die Sache nicht mehr anzufassen, und sich bei der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit auf gewisse Kompromisse einzulassen. Problematisch an einer solchen Perspektive ist aber, dass das Individuum somit zum Spielball ihm fremder Erwägungen wird. Pointiert: Ob ein Fehlurteil behoben werden muss, wird davon abhängen, wie wichtig uns die Sache erscheint. Dieses Verständnis wird gerade im Wiederaufnahmerecht die greifbarsten Folgen haben (näher u. Kap. 6 B. III. [S. 874 ff.]). Hier reicht es, in ihm eine Instrumentalisierung zu erkennen.1328 Dem könnte aber mit Peters repliziert werden, dass die Rechtssicherheit sowohl ein Interesse des Gerichts und der Allgemeinheit als auch ein Interesse des Individuums verkörpere.1329 Oder man könnte einen Schritt weiter gehen und den Begriff der Rechtssicherheit umformulieren bzw. (und wohlwollender gesagt) konkretisieren. So unterscheidet Radtke im Anschluss an die öffentlich-rechtliche Dogmatik bei der Rechtssicherheit einen kollektiven Aspekt, die sog. Rechtsfriedensfunktion der Rechtssicherheit,1330 und einen individuellen Aspekt, das Vertrauensschutzprinzip.1331 Bei der Rechtskraft gehe es seiner Auffassung nach schwerpunktmäßig um diese individuelle Schutzrichtung, also um Vertrauensschutz.1332 Verfassungsrechtler betonen, dass es bei der hier angesprochenen Rechtssicherheit um „materiellen Freiheitsschutz“ bzw. um „Rechtsfrieden der Person“ geht,1333 der amerikanische Supreme Court spricht gelegentlich von einer „finality for the defendant’s benefit“ 1334 und in Italien berufen sich viele auf eine „certezza del diritto in senso soggetivo“.1335

1327 Und auch auf weitere gesellschaftlich orientierte Größen, wie es bei dem Konzept der Rechtskraft als Wahrheit (s. u. IV. [S. 351 ff.]) der Fall ist. 1328 In der Sache ebenso Leone, RDPP 1956, S. 175, 181, der aber in eine Abwägungslösung verfällt (S. 175 f.), die belegt, dass er den Weg zur dritten Rechtfertigungsstufe noch nicht gefunden hat (dazu sogleich der weitere Text). 1329 Peters, Reform des Wiederaufnahmerechts, S. 110 f.; so auch Shalgi, IsLR 8 (1973), S. 37; Callari, Firmitas, S. 4. 1330 Radtke, Strafklageverbrauch, S. 50. 1331 Radtke, Strafklageverbrauch, S. 51 ff., 67. 1332 Radtke, Strafklageverbrauch, S. 70. Den Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes heben auch Spinellis, Rechtskraft, S. 13; Bertel, Identität der Tat, S. 120; Krauth, FS Kleinknecht, S. 229 ff.; und Neuhaus, Tatbegriff, S. 202; ders. MDR 1989, S. 221 f. hervor; in der Sache auch Büchner, Strafprozessuale Tat, S. 96. 1333 Schmidt-Aßmann, M/D-GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 260. 1334 United States Supreme Court, United States v. Jorn, 400 U.S. 470, 479 (1971); Brown v. Ohio, 432 U.S. 161, 165 (1977); Souter, in: United States v. Dixon et al., 509 U.S. 688, 747 (1993); s. a. Westen, MichLR 78 (1980), S. 1033; Dennis, CLR 2000, S. 941. 1335 Etwa Lozzi, Enc. Dir. XVIII (1969), S. 916; ders. Lezioni, S. 782, 785; Bellora, RitDPP 1990, S. 1646 f.; Vanni, Enc. Dir. XL (1991), S. 160; Jannelli, Cosa giudicata, S. 596 f.; Rafaraci, EncDir Annalli 3 (2010), S. 861; Lucarelli, Giudicato, S. 5; in der

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

b) Durch diese Erwägungen wäre also der Kollektivismusverdacht entkräftet. Sie leiten aber den Blick auf das eigentliche Grundproblem: Auch die Berufung auf eine individualistisch erweiterte Rechtssicherheit bleibt der interessenbezogenen Betrachtungsweise verhaftet. Mit einem Hinweis auf das Vertrauensinteresse der Individuen erreicht man bloß die o. Teil 1 Kap. 2 C. IV. 1. (S. 197 ff.) genannte zweite Rechtfertigungsstufe. Demnach wird die Rechtskraft als Ergebnis einer Abwägung zwischen zwei Übeln, dem der Ungerechtigkeit und dem der Rechtsunsicherheit, verstanden, also als ein Zusammenspiel zwischen Erwägungen der ersten und der zweiten Rechtfertigungsstufe, das aber in mehreren Hinsichten unbefriedigend erscheint. Denn in der Konsequenz eines solchen Ansatzes läge es, die Rechtskraft viel schwächer zu konzipieren als man sie eigentlich kennt. Ginge es wirklich um einen Ausgleich zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit, dann wäre die Rechtskraft in der Tat „nur ein aus der Notwendigkeit der Stabilität des Rechtes entstandenes Zweckmäßigkeitsgebot“,1336 ein „Notbehelf“,1337 so dass es etwa nahe läge, hinsichtlich der Rechtskraftwirkung zwischen schweren und weniger schweren Straftaten zu unterscheiden, da Fehler bei schweren Straftaten die Gerechtigkeit intensiver treffen. Dass diese keine bloß theoretische Gefahr ist, belegen nicht nur die heutigen Entscheidungen, die im Vertrauensschutzgedanken gerade eine Hauptstütze für ihre Bemühungen finden, die Rechtskraft einzuschränken.1338 Denn diese Entscheidungen werden sich im Ergebnis als richtig erweisen. Belege für die Unzulänglichkeit der rechtssicherheitsorientierten Begründung der Rechtskraft liefern eher eine Vielzahl von Stellungnahmen aus der Zeit des Nationalsozialismus, die deshalb besonders lehrreich sind, weil sie nicht zögerten, aus unzulänglichen Begründungen die Folgerungen zu ziehen, die man aus liberaler Sicht nie ziehen würde, womit sie die Fragwürdigkeit dieser Begründungen augenfällig belegen. Die wohl klarste Stellungnahme in dieser Hinsicht rührt vom berüchtigten Volksgerichtshof her, der in einem Fall einer bereits vorliegenden Bestrafung wegen des Vergehens des Unterhaltens landesverräterischer Beziehungen (§ 90c StGB a. F.) eine erneute Bestrafung derselben Tat unter dem Blickwinkel des Verbrechens des Landesverrats (§ 89 StGB a. F.) für zulässig hielt, mit einer Argumentation, die einräumte, dass die Lehre vom Strafklageverbrauch ein „Gebot der Rechtssicherheit“ sei, demgegenüber aber geltend machte: „Bei denjenigen Ver-

Sache auch Rivello, RitDPP 1991, S. 479; s. a. Callari, Firmitas, S. 176 f. (der sich aber gegen eine Verabsolutierung dieses Standpunkts wehrt, S. 179 ff.). 1336 Oster, Rechtskraft, S. 13. 1337 Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 268 Fn. 4 (das genaue Zitat lautet „notbehelfsmäßige Preisgabe des Prozeßziels“); ebenso Rosenfeld, 36. DJT Bd. I, S. 1143. 1338 Insb. BGHSt 29, 288 (296), die Leitentscheidung zur Problematik des Strafklageverbrauchs beim Organisationsdelikt – näher hierzu u. Teil 2 Kap. 2 E. III. 8. (S. 598 ff.); OLG Düsseldorf, NStZ-RR 1999, 1776 (178); Krauth, FS Kleinknecht, S. 229 ff.; zust. Neuhaus, MDR 1988, S. 1016 Fn. 57; MDR 1989, S. 221 f.

1. Kap.: Die Begründung der materiellen Rechtskraft

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brechen aber, die wie der Landesverrat an dem Bestand und den Grundlagen des Staates selbst rütteln, müssen jene Interessen zurücktreten“.1339 Wenn man gegen solche Bestrebungen anführen möchte, dass „die Prinzipien der Rechtssicherheit und der materiellen Gerechtigkeit sich in keinem Kompromiss zusammenführen lassen“,1340 dann geht man in Wahrheit von etwas aus, was stärker ist als das verrechenbare Interesse an Rechtssicherheit. Ebenso würde die Berufung auf den Schutz des Vertrauens des Individuums dazu führen, dass man für den Fall der Kenntnis der Rechtswidrigkeit der Entscheidung eine schwächere Rechtskraftwirkung annimmt. Es würde naheliegen, die Rechtskraft nach dem Vorbild der verwaltungsrechtlichen Vorschriften über die Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte (hier insb. § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 VwVfG) zu regeln, da diese allgemein als Ausfluss eines individualbezogenen Vertrauensschutzgedankens angesehen werden.1341 Praktische Folge davon wäre, dass der prozessrechtsgemäße Freispruch eines Schuldigen regelmäßig wertlos wäre, denn fast jeder Schuldige weiß von seiner Schuld und deshalb auch davon, dass die ihn freisprechende Entscheidung materiellrechtlich fehlerhaft ist.1342 1339 Volksgerichtshof DJ 1941, 1077; aus der Lit.: Thierack, GS 106 (1935), S. 12 (bei „ganz besonderen, das Staatswohl berührenden Ausnahmefällen“); ebenso Siegert, DStR 1935, S. 290; Mittelbach, JW 1938, S. 3156. Bei Siegert ist aber unklar ist, ob er auf Grundlage der Rechtssicherheit oder der Gerechtigkeit argumentiert (vgl. o. Fn. 1322). Augenfällig auch OLG München, DJ 1938, 724 f., das in einem Hochverratsfall eine Ausnahme des ne bis in idem-Grundsatzes u. a. unter Berufung auf „Interessen der Staatssicherheit“ postulierte: „Der Schutz des Staates und des Volkes sind wichtiger als die strikte Durchführung alter, bei ausnahmsloser Anwendung zum Widersinn führender Verfahrensgrundsätze“. Fast wortgleich Volksgerichtshof DJ 1938, 1193 im Falle eines ansonsten straflos bleibenden Landesverrats; und OLG Dresden, DJ 1940, 271, mit dem Leitsatz: „Stoßen sich die Grundsätze des Verfahrensrechts über den Verbrauch der Strafklage und die Rechtskraft in gröblicher Weise mit dem Gedanken der Gerechtigkeit und der Staatssicherheit, so müssen diese zurücktreten, um die Durchführung der Gerechtigkeit und der Staatssicherheit zu ermöglichen“. Zu diesen Entscheidungen noch u. VIII. (S. 365 f.). 1340 So Swoboda, HRRS 2008, S. 197 bezüglich der o. I. (S. 342 f.) erwähnten erfolgreichen Bemühungen zur Erweiterung der Wiederaufnahme zulasten in England. 1341 Zu ihnen statt aller Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG § 48 Rn. 112. 1342 Unzureichend der Ausweg von Radtke, Strafklageverbrauch, S. 56 f., der § 48 Abs. 2, 3 VwVfG nur deshalb für nicht einschlägig hält, weil dessen Rechtsfolge – Entschädigung bei Rücknahme eines begünstigenden Akts – auf die strafprozessuale Rechtskraftlehre nicht übertragbar sei. Das Problem ist aber nicht erst die Rechtsfolge, sondern die der Vorschrift zu entnehmende Wertung, dernach derjenige, der den Umstand kennt, der die Rechtswidrigkeit des rücknehmbaren Akts begründet, auf dessen Bestand nicht schutzwürdig vertrauen darf. Deshalb muss Radtke bei der Lösung konkreter Probleme den Rückgriff auf den Vertrauensschutzgedanken sogar meiden – s. beispielsweise seine Auseinandersetzung mit Neu-Berlitz, die mittels dieses Arguments eine beschränkte Rechtskraft der Einstellungsverfügung gem. § 170 Abs. 2 S. 1 StPO begründen wollte (näher u. Kap. 4 F. III. 1. [S. 818 f.]), der er entgegnet: „[D]erjenige Beschuldigte, der die verfahrensgegenständliche Tat tatsächlich begangen hat, wird nahezu immer um die Unrichtigkeit der Einstellungsverfügung wissen“ (Strafklageverbrauch, S. 279). Das gilt erst recht für den Freispruch!

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

3. Es kann folgendes Fazit gezogen werden: Trotz der Tatsache, dass zwischen Rechtskraft und Rechtssicherheit ein Verhältnis der Liebe auf den ersten Blick zu bestehen scheint, erweist sich nach näherem Hinsehen, dass beide wenig Gemeinsames haben. Die Berufung auf die Rechtssicherheit macht die Rechtskraft zum prekären Ergebnis einer Abwägung und schwächt sie somit bis zur Unkenntlichkeit. III. Gebot des Rechtsfriedens 1. Eine weitere Begründung versucht die Rechtskraft auf den Rechtsfriedensgedanken zurückzuführen.1343 Die rechtskräftige Entscheidung führe demnach zu einer Befriedung, die auch dann eintrete, wenn der Inhalt der Entscheidung materiellrechtlich unrichtig ist. 2. a) Gegen diesen Ansatz sind zuerst alle Einwände einschlägig, die o. Teil 1 Kap. 2 C. III. 4. (S. 189 ff.) bereits gegen den Prozesszweck des Rechtsfriedens formuliert worden sind. Gerade an der vorliegenden Stelle wird die vorhin gerügte Zweideutigkeit des Rechtsfriedensbegriffs am deutlichsten. Denn auf Grundlage des normativen Rechtsfriedensbegriffs ist der behauptete Zusammenhang zwischen Rechtskraft und Rechtsfrieden als begriffliche Festlegung zwar notwendig, aber ohne jeglichen Erklärungs- oder Begründungswert. Es ist nämlich undeutlich, ob die Befriedung wegen der Rechtskraft eintritt, oder ob die Rechtskraft wegen der Befriedung eintritt, oder ob Befriedung und Rechtskraft nicht vielmehr sogar dasselbe sind. Wenn man den Begriff des Rechtsfriedens dagegen empirisch fasst, dann ist der behauptete Zusammenhang kein notwendiger mehr. Denn ob die rechtskräftige Entscheidung tatsächlich befriedet, also ob Rechtsfrieden eine empirische Folge der Rechtskraft ist, ist eine kontingente Frage, die keineswegs immer zu bejahen sein wird. Hier sind die oben formulierten Bedenken zu wiederholen. b) Gravierender dürfte indes sein, dass die soeben gegen die Rechtssicherheitslehre formulierten Einwände (o. II. [S. 346 ff.]) auch hier einschlägig sind, mit dem Nachteil, dass die kollektivistische Färbung bei der Rechtsfriedenslehre noch schwieriger zu vermeiden ist, als dies bei der Rechtssicherheit der Fall war. Rechtsfrieden ist wie Rechtssicherheit zunächst nur ein gesellschaftsbezogenes 1343 Schmidhäuser, FS Eb. Schmidt, S. 518 ff., auch unter Bezugnahme auf die Äußerungen Belings; Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 222: „,Entstörung‘ der Rechtsordnung bereits vollzogen“. Vgl. auch E. Mayer, Wiederaufnahme, S. 1; Leone, Trattato III, S. 322 f.; ders. Manuale, S. 731; Dickersbach, Wiederaufnahme, S. 1; Correia, RLJ 99 (1966), S. 35 (neben der Vermeidung von widersprüchlichen Entscheidungen); Bouzat/ Pinatel, Traité II, S. 1472; Fliedner, AöR 99 (1974), S. 253; J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 37; Deml, Wiederaufnahme, S. 54; Rieß, FS Schäfer, S. 193; ders. JR 2006, S. 271; Dani, DDP XII (1997), S. 147; Müller-Dietz, FS Ishikawa, S. 364; Eisenberg, JR 2007, S. 360. Einiges davon auch bei Deml, Wiederaufnahme, S. 53 f. Ähnl. bereits Carrara, Della rejudicata, S. 506: „Ruhe“ (tranquilità) als Zweck der Strafe, des Strafverfahrens und der Rechtskraft.

1. Kap.: Die Begründung der materiellen Rechtskraft

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Interesse. Man kann aber versuchen, individualbezogene Interessen in seinen Begriff „gegensatzaufhebend“ zu integrieren (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. III. 4. [S. 188], 4. [S. 196 f.]). Um Interessen geht es aber allemal. Ist also Rechtskraft ein Ausfluss eines Interesses am Rechtsfrieden, dann ist nicht einzusehen, warum sie so kräftig ist, wie man sie kennt und wie sie vermutlich auch sein sollte. Auch diese Ansicht vermag deshalb nicht zu befriedigen. IV. Rechtskraft als Wahrheit oder als Fiktion der Wahrheit Autoren vor allem des 19. Jahrhunderts vertraten nicht selten die These, dass die Rechtskraft einer Entscheidung darauf beruhe, dass diese in einem Verfahren gewonnen werde, das die bestmöglichen Garantien für die Wahrheitsfindung vorsehe, so dass gute Gründe für die Annahme vorhanden seien, die Entscheidung entspreche auch der Wahrheit.1344 In der Morgenröte des 20. Jahrhunderts hat Rocco diesen Gedanken zu rehabilitieren versucht: Der Rechtsgrund der Rechtskraft sei, dass sie die Gewissheit der Erreichung des Prozesszwecks, nämlich der Wahrheitsfindung, verkörpert.1345 Diese Gewissheit sei zwar nicht unfehlbar; dennoch meint er, sie sei „die menschlich erreichbare und wahrscheinliche Wahrheit“,1346 denn „in der menschlichen Ordnung steht die Gewissheit (subjektive Wahrheit) der Wirklichkeit (objektive Wahrheit) gleich.“ 1347 Und in der Nachkriegszeit hat Arndt in einem bemerkenswerten Aufsatz, in dem es um die Begründung der damals noch nicht durchgesetzten ausschließlichen Kompetenz der Gerichte zur Verhängung von Strafen geht, das Wesen der Rechtsprechung in ihrem Vermögen, Wahrsprüche zu fällen, erkannt,1348 und daraus auch abgeleitet, dass sich die Einmaligkeit der rechtskraftfähigen Akte der rechtsprechenden Gewalt auf nichts weniger als auf die „Einmaligkeit der Wahrheit“ gründe.1349 Dies ist aber eine befremdliche Auffassung: Die allein der Wahrheit verpflichtete Wissenschaft kennt keine Rechtskraft, sondern lebt vielmehr davon, dass sie alle ihre Ergebnisse immer wieder zu hinterfragen bereit ist.1350 So zieht Rocco auch konsequent die Schlussfolgerung, dass der Wahrheit widersprechende Urteile nicht in Rechtskraft erwüchsen.1351 Das gemeinrechtliche Inquisitionsver1344 Heinze, GA 1876, S. 284; ähnl. Berner, GA 1855, S. 473; Hirtz, Chose jugée, S. 187; Carfora, DigIt VIII/4 (1900), S. 279; B. Ullmann, Wiederaufnahme, S. 1; La Rocca, Fatto, S. 98. 1345 Rocco, Cosa giudicata I, S. 236. 1346 Rocco, Cosa giudicata I, S. 238. 1347 Rocco, Cosa giudicata I, S. 237. 1348 Arndt, FS Schmid, S. 14 ff. 1349 Arndt, FS Schmid, S. 23. 1350 Dershowitz, Reasonable Doubts, S. 37. 1351 Rocco, Cosa giudicata I, S. 244 – eine rätselhafte These, deren Gehalt auch nicht konkretisiert wird (Nichtigkeit? Wiederaufnahmefähigkeit?), weil die Monografie trotz

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

fahren, das allein der Wahrheit und der Gerechtigkeit verpflichtet war, und dementsprechend den Grundsatz „ne delicta impunita remanerent“ aufstellte,1352 ging ebenfalls davon aus,1353 womit auch klar wird, dass eine solche Begründung der Rechtskraft den Boden entzieht.1354 Deshalb bot sich ein anderer Weg an: Die rechtskräftig Entscheidung mag nicht immer Ausdruck der Wahrheit sein, aber sie gilt, als wäre sie dies. In der Rechtskraft verkörpert sich nicht eine faktische, sondern eine rechtliche Wahrheit. „Res iudicata pro veritate accipitur“ 1355 – die Rechtskraft ist nicht die Wahrheit, ist aber als wahr zu akzeptieren.1356 Diese sog. Präsumptionstheorie ihrer verdienstvollen rechtsgeschichtlichen und rechtsphilosophischen Abschnitte keinen anschließenden dogmatischen Teil enthält; anstelle dessen wendet sich Rocco auf den letzten 20 Seiten seiner an sich der Rechtskraft gewidmeten Monografie, die der Ausführung dieser Thesen direkt folgen, einer Philippika gegen die zweite Tatsacheninstanz im Strafverfahren zu (S. 246 ff.). Auch der kurze zweite Band der Monografie, der sich mit den rechtskraftfähigen Entscheidungen beschäftigt, lässt diese Zweifel offen (Cosa giudicata II, S. 309 ff.). 1352 Dieser Ausdruck taucht bei Carpzov immer wieder auf, etwa, mit Bezug auf das Strafverfahren, Practica nova, Pars III Quaestio CIII, Rn. 42; Pars III Quaestio CXXVI Rn. 65. 1353 Tittmann, Grundlinien, § 523: „. . . weil die Pflicht, Schuldige zu bestrafen, unschuldig Bestraften aber Genugthuung zu geben, durch keinen Umstand aufgehoben werden kann“; A. Bauer, Lehrbuch des Strafprocesses, § 202; Henke, Handbuch IV, S. 763 f.; Martin/Temme, Criminal-Process, § 56: „die Grundsätze von Rechtskraft (sind) in dem peinlichen Verfahren völlig unanwendbar“; vorsichtig, aber im gleichen Sinne Mittermaier, Das deutsche Strafverfahren II, § 195 (S. 359); zu den letzten Vertretern dieses Standpunkts gehörte Ortloff, GS 23 (1871), S. 188. Krit. Kleinschrod, ArchCrimR Bd. 2 St. 3 (1800), S. 25 ff., der aber selbst meint, im Falle eines Freispruchs sei ein neuer Prozess bei neuen Beweisen möglich, außer in dem Fall des Reinigungseids (S. 30 f.). Ob die Praxis dem tatsächlich folgte, steht auf einem anderen Blatt; dies bestreiten Heffter, Non bis in idem, S. 12, und Glaser, GrünhutZ 12 (1885), S. 307 f., die aber keine Belege anführen. Zur Rechtskraft im späten Inquisitionsverfahren s. a. Planck, Mehrheit der Rechtsstreitigkeiten, S. 269 ff.; Esmein, Histoire, S. 552; Borgmann, Identität der That, S. 20 f.; Barbarino, Rechtskraft, S. 8 ff.; Rocco, Cosa giudicata I, S. 119 ff.; H. Mayer, GS 99 (1930), S. 301 f.; Rheingans, Rechtskraftlehre, S. 7 ff.; Peters, Individualgerechtigkeit, S. 194; Ziemba, Wiederaufnahme, S. 18 ff. 1354 Betont von H. Mayer, GS 99 (1930), S. 302; s. a. Valticos, Chose jugée, S. 47. Näher zur Rechtskraft im Inquisitionsverfahren u. VII. (S. 362 ff.). 1355 Dig. 1.5.25; die Passage, gelegentlich auch in der Variante „pro veritate habetur“, wird zust. zitiert von Hélie, Traité III, S. 632; Mariano, Chose jugée, S. 6, 9; Ortolan/Desjardins, Éléments, S. 295; Sevestre, Révision, S. 3; Hommey, Chose jugée, S. 5; Carfora, DigIt VIII/4 (1900), S. 279; Le Berte, Révision, S. 1; Prebois, Revision, S. 4 f.; Ravizza, DigIt XX/2 (1913), S. 125; Lacoste, Chose jugée, S. 320; Sotgiu, Revisione, S. 16; Berenini, NuDigIt XVIII (1939), S. 307, 526; Pfenninger, SchwJZ 1947, S. 165; und seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts von Manzini, Trattato IV, S. 412 (der die Präsumptionstheorie aber ablehnt); Le Clec’h, Chose jugée, S. 4; Bouzat/Pinatel, Traité II, S. 1472; Shalgi, IsLR 8 (1973), S. 38; Bouloc, Procédure pénale, Rn. 970; Callari, Firmitas, S. 181. Zur Geschichte s. Pugliese, RTDPC 21 (1967), S. 503 ff.; Wacke, GS Mayer-Maly, S. 489 ff. 1356 So Ravizza, DigIt XX/2 (1913), S. 125; Sotgiu, Revisione, S. 16; Vanni, EncDir XL (1991), S. 161 Fn. 16; Callari, IP 9 (2006), S. 239; ders. Firmitas, S. 184, 263.

1. Kap.: Die Begründung der materiellen Rechtskraft

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oder Fiktionstheorie der Rechtskraft hatte im 19. Jahrhundert namhafte Vertreter,1357 wie in Deutschland Savigny1358 und in Frankreich Hélie. Letzterer schrieb: „Die Rechtskraft ist souverän, sie ist stärker als die Wahrheit selbst“.1359 „Die Rechtspflege hat ihre Aufgabe erfüllt, wenn über den Beschuldigten abgeurteilt wird; alle später auftretenden Beweise sind keine Beweise mehr; die Entscheidung, welche sie auch sei, ist die Wahrheit“.1360 In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts spitzte Jèze die These um einiges zu: „Die Rechtskraft zu achten, das bedeutet zuerst, dass man davon absieht, die vom Richter getroffene Feststellung zu kritisieren; dass man sie offiziell für richtig erachtet, sich weigert, sie in Frage zu stellen, die Sache erneut aufzugreifen, schlicht und einfach, ohne Diskussion, auch wenn man glaubt, dass der Richter geirrt habe“.1361 Auch in der heutigen französischen und italienischen Strafprozesslehre ist diese Begründung verbreitet.1362 Die Figur der Fiktion oder der Präsumption mag höchstens eine Beschreibung liefern für das, was geschieht, wenn eine Entscheidung in Rechtskraft erwächst. Als Rechtfertigung taugt sie aber keineswegs. Wahrheit ist ein Wert, und zwar einer, für den sich das Strafverfahren aus mehreren Gründen interessieren muss (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. III. 3. [S. 181 ff.]). Eine Fiktion oder Präsumption ist als Wahrheitsverfehlung daher präsumptiv ein Unwert. Man bräuchte also eine eigenständige Begründung dafür, weshalb man sich hier mit einer Fiktion begnügen soll, weshalb hier auf die Findung des Wahren verzichtet werden muss. Und damit bricht die Fiktionstheorie in sich zusammen und verfällt in eine der anderen Begründungen – insbesondere in die Theorie der Rechtskraft als Ausdruck 1357 Griolet, Chose jugée, S. 180; Mariano, Chose jugée, S. 6; Audinet, Chose jugée, S. 120; Ortolan/Desjardins, Éléments, S. 295; Birkmeyer, Strafprozeßrecht, S. 95, 674; Carfora, DigIt VIII/4 (1900), S. 279; Le Berte, Révision, S. 1; Prebois, Revision, S. 4 f.; Richard, Chose jugée, S. 14 ff.; B. Ullmann, Wiederaufnahme, S. 1; Ravizza, DigIt XX/2 (1913), S. 125; Hebraud, Chose jugée, S. 14; Pinatel, Fait nouveau, S. 1; Leone, Trattato III, S. 326; ders. Manuale, S. 734; De la Oliva Santos, Conexion, S. 181; zugespitzt Berenini, NuDigIt XVIII (1939), S. 307, und Janitti Piromallo, Revisione, S. 18, die sogar von einer „presunzione juris et de jure“ sprechen (was beim zweiten zur Notwendigkeit führt, die Wiederaufnahme mittels der Figur des nichtigen Urteils zu deuten, näher u. Kap. 6 B I. [S. 865]); rückblickend Callari, Firmitas, S. 188. Vielleicht wäre es genauer, eine (deutsche) Fiktionstheorie, deren prominentester Vertreter Savigny war, von der (französischen) Präsumptionstheorie zu unterscheiden (so Callari, Firmitas, S. 191; wohl auch Valticos, Chose jugée, S. 32); eine weitere Bestätigung für die hier vorgezogene Darstellung ist, dass namhafte Vertreter dieser Lehren sie als gleichbedeutend verstanden (offensichtlich Leone, Manuale, S. 734). 1358 Savigny, System VI, S. 261. 1359 Hélie, Traité III, S. 524. 1360 Hélie, Traité III, S. 535. 1361 Jèze, Droit administratif I, S. 255. 1362 Le Clec’h, Chose jugée I, S. 4, 5; ders. Chose jugée II, S. 4; Bouzat/Pinatel, Traité II, S. 1472; Vanni, Enc. Dir. XL (1991), S. 157 f.; Guinchard/Buisson, Procédure pénale, Rn. 2651; Bouloc, Procédure pénale, Rn. 970; s. a. J.-F. Bohnert/Lagodny, NStZ 2000, S. 637.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

der Autorität1363 oder in die Theorie der Rechtskraft als Rechtssicherheit.1364 Viel deutet darauf hin, dass zwischen einer autoritätsorientierten Rechtskraftbegründung und dem Fiktionsgedanken eine große Affinität besteht; sie werden häufig von denselben Autoren vertreten und insbesondere die Autorität liefert eine sehr intuitive Erklärung, weshalb etwas, das womöglich unwahr ist, als wahr zu akzeptieren ist. Deshalb bietet es sich an, die Verbindung beider einander bereits nahestehender Gedanken als autoritätsorientierte Fiktionstheorie der Rechtskraft zu bezeichnen. Im Grunde genommen möchte diese Ansicht in erster Linie nicht die uns hier interessierende negative Dimension der materiellen Rechtskraft, nämlich die Sperrwirkung erklären, sondern die sog. Feststellungs- oder Tatbestandswirkung der rechtskräftigen Entscheidung, die in ausländischen Rechtsordnungen, insbesondere in der französischen in viel weiterem Umfang anerkannt ist als in der deutschen.1365 Ob der rechtskräftigen Entscheidung auch derartige positive Wirkungen zukommen sollen oder nicht, kann man im vorliegenden Zusammenhang nur beiläufig untersuchen (s. bereits o. Einleitung [S. 37 f.] und u. Kap. 5 A. [S. 838 f.]). V. Schutz des Angeklagten Die Berufung sowohl auf die Rechtssicherheit als auch auf den Rechtsfrieden stand unter dem Verdacht des Kollektivismus. Denn im Kern geht es bei beiden um gesellschaftsbezogene Interessen, also um Erwägungen, die der ersten Rechtfertigungsstufe angehören. Es liegt deshalb nahe, diese Unzulänglichkeit dadurch zu beheben, dass man sich auf die nächste Stufe begibt, nämlich die der individualbezogenen Interessen. Auf dieser Grundlage ließe sich sagen, dass jeder Betroffene ein Interesse daran habe, sich nur einmal den Belastungen des Verfahrens ausgesetzt zu sehen.1366 So schrieb Heffter 1873: „Wer als Uebertreter der 1363

Hélie, Traité III, S. 534; Sevestre, Révision, S. 3; Hebraud, Chose jugée, S. 13 f.,

93 f. 1364 Savigny, System VI, S. 263 f.; Mariano, Chose jugée, S. 8; Pinatel, Fait nouveau, S. 1; ähnl. Audinet, Chose jugée, S. 119 f. („soziales Bedürfnis“); Prebois, Revision, S. 4 („öffentliche Ordnung“); Janitti Piromallo, Revisione, S. 19. 1365 Zur Dogmengeschichte der positiven Rechtskraftdimension in der französischen und italienischen Lehre des 19. Jahrhunderts De Luca, Limiti soggettivi, S. 44 ff. 1366 Abegg, Entwurf, S. 215 („Billigkeit“, „Schonung“); Hélie, Traité III, S. 535 f.; Mittermaier, NArchCrimR 1850, S. 509; Arnold, GS 3/1 (1851), S. 50 f.; Glaser, Non bis in idem, S. 603 (wenn auch einschränkend); ders. GrünhutsZ 12 (1885), S. 306: es sei „eine Forderung der Billigkeit . . . dass die schrankenlose Möglichkeit, denselben Menschen wegen derselben Sache in die ohnehin gedrückte und bedauernswerthe Stellung eines peinlich Angeklagten nochmals zu versetzen und das so zum Spiele gewordene Verfahren etwa so lange zu erneuern, bis es einmal nach Wunsch des Verfolgers ausgeht . . .“; Berner, GA 1855, S. 474 ff.; Hommey, Chose jugée, S. 6 f.; Hirtz, Chose jugée, S. 187 f.; Heinze, GA 1876, S. 284; Eichhorn, GS 38 (1886), S. 406 (der ne bis in idem-Grundsatz habe seine Grundlage „nicht sowohl im jus als in der aequitas“); Pfizer, GS 40 (1888), S. 340; Kohlrausch, Idealkonkurrenz, S. 52; Carfora, DigIt VIII/4

1. Kap.: Die Begründung der materiellen Rechtskraft

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Gesetze und Ordnung dem obrigkeitlichen Richteramt in glaubhafter Weise angezeigt wird, ist schuldig, sich darüber zu rechtfertigen und zu verantworten; aber es kann diese Pflicht der Verantwortung nicht als eine stets fortdauernde gelten, ohne zur Qual, zu einem Damoclesschwert zu werden, geeignet, jeden Lebenszweck zu zerstören; es hat daher bei der einmaligen Verantwortung des vermeintlichen oder wirklichen Missthäters zu bewenden, was immerhin die Folge des Rechtfertigungsverfahrens gewesen sein mag, ob Verurtheilung oder Freisprechung“.1367 Heute findet man eine solche Begründung insbesondere bei Stellungnahmen zum angelsächsischen Rechtsinstitut des sog. double jeopardy und in Staaten, in denen eine autoritätsorientierte Rechtskraftlehre lange Zeit herrschend war. Laut den Theoretikern des double jeopardy beruhe das Verbot, gegen einen Betroffenen ein zweites Strafverfahren durchzuführen, darauf, dass man ihm die Unannehmlichkeiten eines zweiten Verfahrens ersparen sollte. So drückte es in einer vielzitierten Passage der amerikanische Supreme Court in der Sache Green v. United States (Justice Black) aus: „. . . the State, with all its resources and power, should not be allowed to make repeated attempts to convict an individual for an alleged offense, thereby subjecting him to embarrassment, expense and ordeal and compelling him to live in a continuing state of anxiety and insecurity, as well as enhancing the possibility that, even though innocent, he may be found guilty.“ 1368 Und in romanischsprachigen Ländern, in denen tradi(1900), S. 279; Ravizza, DigIt XX/2 (1913), S. 125; Maunoir, Revision, S. 32; Fenech, RDP 1955, S. 98; La Rocca, Fatto, S. 99; Allorio, Giudicato, S. 69 ff.; Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Bd. I Rn. 312; Anonym, YLJ 75 (1965), S. 266 f.; G. Schmidt, JZ 1966, S. 91; Stree, FS Engisch, S. 680; English Jr., LouisLR 32 (1971), S. 88; Shalgi, IsLR 8 (1973), S. 34 ff.; Grünwald, ZStW-Beiheft 1974, S. 106; ders. FS Bockelmann, S. 775 ff.; Schöneborn, MDR 1974, S. 530; J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 50; Vestal/Gilbert, MoLR 47 (1982), S. 43; De Luca, Giudicato, S. 1, 2; Rivello, RitDPP 1991, S. 479; Binder, Revisión, S. 303; Schmidt-Aßmann, M/D-GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 258; Moore, Act and Crime, S. 313 (bzgl. eines Teilaspekts des double jeopardyVerbots); Bouwen Poulin, VillLR 39 (1994), S. 633 f., 638 f., 649 ff.; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 52; Amar/Marcus, ColLR 95 (1995), S. 9 f.; Trepper, Rechtskraft, S. 20 f.; Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 31 ff.; Ashworth, Human Rights, S. 37 f.; Bertelotti, Ne bis in idem, S. 127; Tigre Maia, BCESMPU 16 (2005), S. 27 f.; Rudstein, SDiegoILJ 8 (2007), S. 246 ff., 255 ff.; Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck-GG, Art. 103 Abs. 3 Rn. 179; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 52 Rn. 8; Velten, SK-StPO § 264 Rn. 18. Ähnlich J. Maier, GS Arm. Kaufmann, S. 793: Rechtskraft diene dem Rechtsfrieden, der ne bis in idem-Grundsatz dem Schutz des Verfolgten. Aus der Rspr. RGSt 3, 406 (408); 4, 243 (245); BGHSt 3, 13 (15); BVerfGE 56, 22 (31 f.). Von vielen wird diese Ansicht als „Billigkeitstheorie“ bezeichnet (etwa Barbarino, Rechtskraft, S. 13 ff.; Vogler, Rechtskraft, S. 36). Ebenso LAW COM Nr. 267 (2001), Rn. 4.11 ff.; nahestehend auch die Autoren, die Rechtskraft als Forderung der Rechtssicherheit verstehen, diese aber als Schutz des individuellen Vertrauens deuten (Nachw. o. II. [S. 347 f.]). 1367 Heffter, Non bis in idem, S. 15, der auch den ne bis in idem als „Satz der aequitas“ bezeichnet. 1368 United States Supreme Court, Green v. United States, 355 U.S. 184, 187 f. (1957); die Passage wird zitiert in Benton v. Maryland, 395 U.S. 784, 795 (1969);

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

tionell eine autoritätsorientierte Überhöhung der Rechtskraft gegolten hat, die sich vor allem im Wiederaufnahmerecht äußerte (insb. u. Kap. 6 B. II. [S. 867 ff.]), und die später als „Mythos der Rechtskraft“ abgelehnt wurde,1369 wird der Gedanke des Beschuldigtenschutzes als neues Motto im Rahmen einer Neuorientierung der Rechtskraftlehre hochstilisiert.1370 Es ist richtig, dass man die Aufmerksamkeit auf das Individuum lenkt, und zu begrüßen, dass die kollektivistischen Tendenzen der bisher geschilderten Auffassungen nicht mehr im Vordergrund stehen. Es gibt eine grundsätzliche Ungleichheit zwischen Individuum und Staat, die intuitiv nach Berücksichtigung verlangt: Das Individuum hat nur ein Leben, der Staat dagegen unendlich viele Ressourcen. Das bedeutet, dass in jedem Prozess das Individuum unendlich mehr zu verlieren hat als der Staat. Der Staat ist zufrieden, wenn er erst im fünften Versuch gelingt, den Schuldigen zu überführen; als mächtiges Gebilde kann der Staat vier

United States v. Jorn, 400 U.S. 470, 479 (1971); United States v. Wilson, 420 U.S. 332, 343 (1975); United States v. Jenkins, 420 U.S. 358, 370 (1975); Burks v. United States, 437 U.S. 1, 11 (1978); Crist v. Bretz, 437 U.S. 28, 35 (1978); Arizona v. Washington, 434 U.S. 497, 503 f. (1978); Missouri v. Hunter, 459 U.S. 359, 365 (1983); Justices of Boston Mun. Ct. v. Lydow, 466 U.S. 294, 307 (1984); Ohio v. Johnson, 467 U.S. 493, 499 (1984); Grady v. Corbin, 495 U.S. 508, 518 (1990); Monge v. California, 524 U.S. 721, 732 (1998); Douglas, in: North Carolina v. Pearce, 395 U.S. 711, 727 (1969); Brennan, in: Ashe v. Swenson, 397 U.S. 436, 468 (1970); Stevens, in: Illinois v. Vitale, 447 U.S. 410, 427 (1980); Brennan, in: Justices of Boston Mun. Ct. v. Lydow, 466 U.S. 294, 320 (1984); ders. in: Richardson v. United States, 468 U.S. 317, 328 (1984); Souter, in: United States v. Dixon et al., 509 U.S. 688, 747 (1993); Stevens, in: Hudson v. United States, 522 U.S. 93, 111 ff. (1997); aus der Literatur Friedland, Double Jeopardy, S. 4; Bouwen Poulin, VillLR 39 (1994), S. 649; Amar/Marcus, ColLR 95 (1995), S. 9 f.; Rudstein, MoLR 65 (1995), S. 611; Muñoz Lorente, Non bis in idem, S. 52 Fn. 130 (mit Verweis auf Vives Antón). 1369 Grdl. Leone, RDPP 1956, S. 167 ff. („mito del giudicato“); s. a. ders. Trattato III, S. 384 ff.; die Wendung wird zust. aufgenommen etwa von Coppi, Reato continuato, S. 211; Galli, GiurCost 1969, S. 395; Normando, RitDPP 1986, S. 804; Callari, Firmitas, S. 217; Conde Correia, Caso julgado, S. 52 f. und passim; Troisi, Errore giudiziario, S. 96; Mancuso, Giudicato, S. 11; Furfaro, ArchPen 2013, S. 1 ff., in der Sache auch Conso/Guariniello, RitDPP 1975, S. 47 und Orano, Revisione, S. 77 f., der bereits 1888 schrieb; s. a. Dalia, RitDPP 1965, S. 805; Fletzer, IP 1970, S. 122 ff. insb. 133 (rechtsvergleichend). In Deutschland beschwerte sich F. Bauer, JZ 1952, S. 211, über eine „Vergötzung der Rechtskraft“; und Knoche, DRiZ 1972, S.302 warnte davor, die Rechtssicherheit und die Rechtskraft zu „heiligen Kühen“ zu machen. 1370 Etwa Lozzi, Enc. Dir. XVIII (1969), S. 916; De Luca, Giudicato, S. 1, 2; Bellora, RitDPP 1990, S. 1647, die beide zugleich den Zweck der Vermeidung sog. praktischer Widersprüche zwischen Entscheidungen erwähnen (s. o. I. [S. 341 f.]); Della Monica, DDP-Agg IV (2008), S. 390; Rafaraci, EncDir Annalli 3 (2010), S. 858, 861; Troisi, Errore giudiziario, S. 97 ff.; Mancuso, Giudicato, S. 15 ff., 19, 406 ff. (wenig konsequent dennoch S. 408: Rechtskraft als Garantie der „Verbindlichkeit [imperatività] und Unveränderbarkeit der Entscheidung“ und der Verhinderung von widersprüchlichen, an dieselbe Person gerichteten Befehlen; offenbar wirkt die autoritätsorientierte Begründung, die man zu überwinden trachtet, unbemerkt nach (s. o. I. [S. 341 f.]); und S. 410 ff., Rechtskraft als Rechtssicherheit im traditionellen Sinne).

1. Kap.: Die Begründung der materiellen Rechtskraft

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fehlgehende Strafverfahren ohne weiteres verkraften. Diesen Gedanken könnte man mittels einer wettkampforientierten Metapher ausdrücken: „Government should not structure the adjudication game so that it is ,heads we win; tails let’s play again until you lose; then let’s quit (unless we want to play again)‘“.1371 Man könnte auch sagen, bereits der Prozess sei eine sühnende Strafe;1372 auch der freigesprochene Schuldige komme nicht unversehrt aus der Sache heraus, so dass es unfair sei, ihn noch einmal zu verfolgen. Nach näherem Hinsehen merkt man aber, dass diese Begründungen noch nicht den Kern der Sache treffen. Die gerade ausgeführte Begründung aus der Ungleichheit von Staat und Individuum dürfte ein Ausfluss aus dem Modell vom Prozess als Wettkampf oder Spiel sein, das aber wegen der o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. d) bb) ([S. 246 ff.) ausgeführten Bedenken abzulehnen ist. Und die These von Prozess als Strafe vermengt die Begriffe von Prozess und Strafe, die voneinander geschieden werden sollten (o. Teil 1 Kap. 2 B. IV. [S. 124 f.]; Teil 2 Kap. 3 C. [S. 640 ff.], insb. IV. 2. [S. 659]). Der tiefere Grund für die Unzulänglichkeit des beschuldigtenschützenden Ansatzes ist, dass auf der zweiten Rechtfertigungsstufe verbleibende Gesichtspunkte normativ betrachtet selten ausschlaggebend sein können (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. IV. 5. [S. 213 ff.]). Wenn die Berufung auf ein Interesse des Betroffenen ausreichend wäre, um einem Zweitverfahren entgegenzustehen, dann versteht man nicht mehr, warum überhaupt ein erstes Verfahren zulässig sein kann.1373 Denn die meisten dürften auch daran ein Interesse haben, sich nicht einmal in ein erstes Verfahren verwickelt zu sehen. Lässt man die Replik gelten, dieses Interesse sei nicht berechtigt – was man tun muss, wenn man nicht Strafverfahren schlechterdings für unzulässig erklären möchte – dann hat man eine Konzession gemacht, die dem eigenen Standpunkt den Boden entzieht. Denn mit gleichem Recht könnte man behauptet, dass das Schutzinteresse im Fall des freigesprochenen Schuldigen nicht schutzwürdig sei.1374 In der Tat: Geht es um (individualbezogene) Interessen, dann ist nicht einzusehen, wieso sie nicht hinter gegenläufige (jetzt gesellschaftsbezogene) Interessen zurückgesetzt werden können, wieso das Interesse, nicht ein zweites Mal verfolgt zu werden, automatisch dem Interesse der Gesellschaft an Wahrheit und Abschreckungsgeneralprävention vorzuziehen ist. Alle gerade genannten Schwierigkeiten, die den interessenbezogenen Erklärungen der Rechtskraft anhaften (insb. o. II. [S. 346 ff.]), machen sich in der ebenfalls interessenbezogenen zwei1371

Amar, YLJ 106 (1997), S. 1812. Hélie, Traité III, S. 535. 1373 Ähnl. Moore, Act and Crime, S. 352 f.; Thomas III, Double Jeopardy, S. 52; Roberts, IJEP 2002, S. 209 f.; McEwan, Trial, S. 66 f. 1374 So etwa Herzberg, JuS 1972, S. 116; und diejenigen, die sich für eine Wiederaufnahme zulasten propter nova einsetzen, näher u. Kap. 6 D. V. 2., 3. (S. 979 ff.). 1372

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ten Rechtfertigungsstufe bemerkbar.1375 Die Rechtskraft wird somit zum „Billigkeitsanspruch“, der „nie die Höhe einer kategorischen Forderung“ erreiche, sondern „überall durch höhere und gewichtigere Rücksichten überboten werden“ könne;1376 modern gesprochen, sie gerät in den Sog der Abwägung1377 und wird dadurch entschieden geschwächt. Es sind Fälle denkbar, in denen das Interesse des Beschuldigten an der Vermeidung einer zweiten Bestrafung eindeutig geringer ist als die entgegenstehenden Interessen der Gesellschaft,1378 so dass ein nur auf Interessen basierter Ansatz keinen Grund hat, nicht Letztere für maßgeblich zu erklären. Zudem wäre diese Ansicht, selbst wenn sie richtig wäre, ergänzungsbedürftig. Denn sie vermag nicht die gesamte negative Dimension der materiellen Rechtskraft, ihre gesamte Sperrwirkung, zu erklären, sondern allein die beschuldigtenfreundlichen Aspekte, das, was man traditionell als ne bis in idem versteht. Die Sperrwirkung wirkt sich auch gegen den Betroffenen aus, der die Entscheidung nicht einer erneuten Prüfung unterziehen darf.1379 Auf dieser Grundlage müssten für den Beschuldigten unendlich viele Rechtsmittel zur Verfügung stehen,1380 und man müsste bei einer Einwilligung des Beschuldigten eine doppelte Verfolgung gestatten.1381 VI. Rechtskraft als Sanktionierung der Strafverfolgungsbehörden Dem besonders nahestehend ist die Position derjenigen, die die Rechtskraft zumindest zum Teil auf den Gedanken der Sanktionierung der Strafverfolgungs1375 Tendenziell ähnlich Grünewald, ZStW 120 (2008), S. 567 f. („Psychologisierung“); krit. a. Binding, Strafurteil, S. 316 f., diesmal aber mit kaum mehr als Schmähworten („dilettantenhafte“, „schwächliche Rechtfertigung“ der Rechtskraft als „Billigkeitsmaßregel“), S. 337 („schwächliche überlieferte Sentimentalität gegenüber dem Delinquenten“). 1376 So der Anhänger dieses Ansatzes Heinze, GA 1876, S. 284 – womit sich ironischerweise gerade Binding, Strafurteil, S. 337 für einverstanden erklärte, der die Passage auch wörtlich wiedergibt. Ähnliche Passagen auch bei Eichhorn, GS 38 (1886), S. 452. Von Billigkeit sprachen neben einigen der o. Fn. 1366 Angeführten auch das RG, in einer Entscheidung, die die ratio der Rechtskraft im Beschuldigtenschutz erblickte (RGSt 4, 243 [245]), unter anderem gerade in der Absicht, für die schwächere Rechtskraft des Strafbefehls eine Begründung zu finden. 1377 Dafür ausdrücklich Westen, MichLR 78 (1980), S. 1036; Mancuso, Giudicato, S. 25. 1378 So mit Entschiedenheit Eichhorn, GS 38 (1886), S. 452. 1379 v. Kries, Lehrbuch, S. 594; Rocco, Cosa giudicata I, S. 152; ebenso Liu, Identität der Tat, S. 90; Vogler, Rechtskraft, S. 37; Barthel, Begriff der Tat, S. 77; Büchner, Strafprozessuale Tat, S. 107. 1380 Barbarino, Rechtskraft, S. 17; Arzt, FS Triffterer, S. 536. 1381 v. Kries, Lehrbuch, S. 594; Barbarino, Rechtskraft, S. 17; Rocco, Cosa giudicata I, S. 212; Spinellis, Rechtskraft, S. 10; Barthel, Begriff der Tat, S. 707; Büchner, Strafprozessuale Tat, S. 107.

1. Kap.: Die Begründung der materiellen Rechtskraft

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instanzen zurückzuführen versuchen.1382 So spricht insbesondere Achenbach von einer von ihm sogenannten „strafprozessualen Sphärentheorie“: Als Kehrseite des staatlichen Strafverfolgungsmonopols, das alle zu Aufgabenerfüllung erforderlichen Machtmittel impliziere, müsse man bestimmte Lasten anerkennen, unter anderem die, dass nach einer nicht erfolgreichen Verfolgung einer Straftat kein zweiter Durchgang gestattet ist.1383 Dieser Gedanke muss aber entschieden zurückgewiesen werden. Oben Teil 1 Kap. 1 II. 6. (S. 83 f.) war bereits beiläufig davon die Rede, dass die Strafverfolgungsbehörden eigentlich nichts verlieren, wenn sie einen bestimmten Menschen nicht mehr verfolgen oder ein Beweismittel nicht mehr verwerten oder verwenden dürfen. Es ist deshalb verfehlt, in solchen Zusammenhängen von einer Sanktionierung zu sprechen. Vielmehr gibt es in solchen Fällen nur eine Besserstellung des Beschuldigten, und gerade für sie kann der Sanktionierungsgedanke keinerlei Erklärung bieten. Inzwischen wissen wir genauer, was an dieser Argumentationsweise eigentlich verfehlt ist: Sie ist Ausdruck einer Auffassung des Verfahrens als Wettkampf oder Spiel (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. d) bb) [S. 246 ff.]). Von einer Sanktionierung kann man sinnvollerweise nur unter der Voraussetzung sprechen, dass es für die Verfolgungsorgane ein Vorteil sein soll, den Beschuldigten zu überführen. Der Gedanke wird aber im Zusammenhang der Rechtskraftlehre umso fragwürdiger, sobald man bedenkt, dass von einer Sanktion richtigerweise nur dann die Rede sein kann, wenn es ein Fehlverhalten gibt (was im Zusammenhang der unselbständigen Beweisverbote, wo das Argument herangezogen wird, immerhin der Fall war). Es dürfte aber nicht nur schief sein, die Rechtskraft immer als Fehlverhalten zu konzipieren. Vor allem birgt diese Annahme praktisch bedenkliche Konsequenzen, nämlich dass dort, wo die Wahrheit trotz aller Aufklärungsbemühungen immer noch verfehlt und das freisprechende Urteil deshalb unvermeidbar wird, konsequenterweise keine Rechtskraft entstehen dürfte.1384 Die in 1382 Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 269; G. Schmidt, JZ 1966, S. 91; Eb. Schmidt, Kolleg Rn. 339; Schöneborn, MDR 1974, S. 530; Achenbach, ZStW 87 (1975), S. 87 ff.; ders. ZRP 1977, S. 88, 89; J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 50 f.; Krauth, FS Kleinknecht, S. 228; Wolter, GA 1986, S. 153; Neuhaus, Tatbegriff, S. 122, 165 f.; Detmer, Begriff der Tat, S. 95; Trepper, Rechtskraft, S. 21 f.; Moore, Act and Crime, S. 313 f. (bzgl. eines Teilaspekts des double jeopardy-Verbots); Jackson, Trial, S. 125; Paeffgen, GS Heinze, S. 632, 633; Rudstein, SDiegoILJ 8 (2007), S. 253 ff.; Correia, Caso julgado, S. 302 Fn. 4; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 52 Rn. 8; Velten, SK-StPO § 264 Rn. 18; krit. Loos, JZ 1978, S. 593 Fn. 9; Ziemann, ARSP-Beiheft 103 (2005), S. 135 Fn. 39. 1383 Achenbach, ZStW 87 (1975), S. 88 f.; zust. Detmer, Begriff der Tat, S. 101; ähnlich Pacelli, Processo penal, S. 650: „Kontrolle über die staatliche Verfolgungstätigkeit“. 1384 Ähnl. Radtke, Strafklageverbrauch, S. 68 f.; Dennis, CLR 2000, S. 942 (nicht krit.).

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

England vor wenigen Jahren erfolgende Einführung der (illegitimen, s. u. Kap. 6 D. V. 2., 3. [S. 979 ff.]) Wiederaufnahme zuungunsten des Beschuldigten wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel (näher u. Kap. 6 D. I. 4. b) [S. 968]) beruhte zum Teil genau auf dieser Argumentation.1385 Zuletzt vermag der Sanktionierungsgedanke ebenso wenig wie der vorher untersuchte Ansatz (s. o. VI. [S. 358 f.]) die nicht beschuldigtenfreundlichen Wirkungen der materiellen Rechtskraft zu erklären. VII. Rechtskraft als Gerechtigkeit 1. Es liegt deshalb nahe, die zwei ersten Rechtfertigungsstufen zu überwinden und auf die dritte Stufe, also die Stufe des Respekts zu gelangen. Ausgangspunkt wäre hier die plausible Beobachtung, dass eine Durchbrechung der Rechtskraft nicht ohne Weiteres zu einer der Gerechtigkeit (bzw. der Wahrheit und der Gerechtigkeit1386) besser entsprechenden Entscheidung führt.1387 Die Unabänderlichkeit einer Entscheidung sei deshalb nicht bloß eine Konzession, die die Gerechtigkeit der Rechtssicherheit bzw. dem Rechtsfrieden macht, sondern in der Regel ein Gebot der Gerechtigkeit selbst. Die Tatsache, dass die h. M. das materiellrechtlich unrichtige Sachurteil als Ausgangspunkt ihrer Reflexion ansieht, verleite sie dazu, den Konflikt zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit zu überschätzen. „Beim materiellrechtlich richtigen Urteil fallen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit zusammen“.1388 Andere erkennen der Gerechtigkeit eine Nebenrolle, aber immerhin eine Rolle, im Rahmen der Rechtskraftlehre zu. Seit Generationen sind Proteste gegen die 1385 LAW COM Nr. 267 (2001), Rn. 4.11 ff., 4.20 ff.; ebenso Dennis, CLR 2000, S. 945. 1386 Zur Unselbständigkeit der Berufung auf die Wahrheit im vorliegenden Zusammenhang bereits o. Teil 1 Kap. 2 C. III. 2. a) (S. 237). 1387 Dieses Argument bei Berner, GA 1855, S. 473; Remeis, Wiederaufnahme, S. 74 f.; Schwarze, GS 25 (1873), S. 410; Heinze, GA 1876, S. 284; Glaser, GrünhutsZ 12 (1885), S. 305 f.; Eichhorn, GS 38 (1886), S. 406; v. Kries, Lehrbuch, S. 702; Barbarino, Rechtskraft, S. 21; v. Lilienthal, DStrZ 1914, Sp. 164; Dohna, Strafprozeßrecht, S. 197; Thierack, GS 106 (1935), S. 9 f.; Spinellis, Rechtskraft, S. 13; Eb. Schmidt, JZ 1968, S. 684; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 383 f.; Grünwald, ZStW-Beiheft 1974, S. 104 ff. (in Grünwald, ZStW 76 [1964], S. 257 f. wird das Argument gegen die Lehre von der Urteilsnichtigkeit eingesetzt); Najarian, Chose jugée, S. 3; Peters, Reform des Wiederaufnahmerechts, S. 111; Deml, Wiederaufnahme, S. 43 f., 56 f.; Neu-Berlitz, Rechtskraft, S. 7 Fn. 26; Loos, AK-StPO vor § 359 Rn. 1; Pfeiffer, FS Graßhoff, S. 272; Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 50 f.; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 42 ff., 45; Eisenberg, JR 2007, S. 361; Conde Correia, Caso julgado, S. 152; Velten, SK-StPO § 264 Rn. 18. Krit. aber Grünewald, ZStW 120 (2008), S. 556: Das Argument treffe auch die Wiederaufnahme zugunsten des Beschuldigten und die Berufung. 1388 Radtke, Strafklageverbrauch, S. 41 ff., 45 (Zitat); früher bereits Deml, Wiederaufnahme, S. 43 f.; s. a. Grünwald, ZStW-Beiheft 1974, S. 106: nur im Falle der Wiederaufnahme zuungusten des Beschuldigten bei Auftreten neuer Beweismittel tritt der von der h. M. erwähnte Konflikt auf.

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„Anstößigkeit“ der Rechtskraftlehre zu vernehmen: Gegenüber der h. M., die damit leben kann, dass die Rechtskraft mit „unabdingbarer Starrheit“ bestimmt und geachtet wird,1389 die in der „Rücksichtslosigkeit . . . das Hauptcharakteristikum der Rechtskraft“ erblickt1390 und deshalb der Ansicht ist, dass es deren „eigentliches Wesen [sei] . . . ja gerade sozusagen das Gefühlsmäßige totzuschlagen“,1391 gibt es zahlreiche Versuche, sie im Namen der Gerechtigkeit einzuengen.1392 1389

So Eb. Schmidt, Lehrkommentar I Rn. 312 (zust. zit. in BGHSt 6, 122 [124]); ders. Lehrkommentar II, § 264 Rn. 19; ebenso Pfizer, GS 40 (1888), S. 341; Potthoff, JR 1951, S. 681; G. Schmidt, JZ 1966, S. 90 f.; Gantzer, Rechtskraft, S. 122 f., der die Passage auch zitiert; Grünwald, JZ 1970, S. 331; ders. FS Bockelmann, S. 758; ders. StV 1986, S. 245; Fliedner, AöR 99 (1974), S. 253 Fn. 45; Molière, Rechtskraft des Bußgeldbeschlusses, S. 46; Werle, JR 1979, S. 98; ders. NJW 1980, S. 2673; Neuhaus, Tatbegriff, S. 101; Puppe, JR 1986, S. 206; Wolter, GA 1986, S. 151, 153; Detmer, Begriff der Tat, S. 84, 146; Cording, Strafklageverbrauch, S. 198 f.; Fürstenau, StV 1998, S. 484; Swoboda, HRRS 2008, S. 197; ebenso BVerfGE 56, 22 (32). Viele der zitierten Autoren lassen aber die Gerechtigkeit nicht unberücksichtigt, sondern lassen sie nur hinter die Rechtssicherheit zurücktreten. 1390 Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 261. Siehe auch ders. JW 1925, S. 1010: „Solange das Prinzip der materiellen Rechtskraft gilt (und es wird wohl immer – als notwendiges Übel – gelten), müssen wir uns eben seufzend darein schicken, daß durch sie die Beseitigung von Irrtumsfolgen vereitelt wird“. 1391 Beling, JW 1931, S. 218. 1392 Binding, Strafurteil, S. 337 ff.; Berufungen auf die Gerechtigkeit bei Exner, Strafverfahrensrecht, S. 75; Coenders, JW 1925, S. 1003; Busch, ZStW 68 (1956), S. 4; Geerds, Konkurrenz, S. 400, 408; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 388, 389; Vogler, Rechtskraft, S. 91; Verdier, JCP II 1954, Nr. 8272 IV; Gavalda, JCP I 1957, Nr. 1372 Rn. 32, 32 bis; Barthel, Begriff der Tat, S. 89; Herzberg, JuS 1972, S. 113, 114; Gössel, Strafverfahrensrecht, S. 268; Behrendt, ZStW 94 (1982), S. 910; Peters, Strafprozeß, S. 506; Helmken, MDR 1982, S. 717 f.; Marxen, StV 1985, S. 476; Neuhaus, Tatbegriff, S. 20, 58; ders. MDR 1989, S. 218; Roxin, JZ 1988, S. 261; Maatz, FS MeyerGoßner, S. 257 f., 273; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 643; Pradel, Procédure penal, Rn. 1036. Auch die Rspr. berief sich bei einigen den Tatbegriff einschränkenden Entscheidungen auf die Gerechtigkeit, s. BGHSt 29, 288 (296); 35, 14 (19); 36, 151 (155); 43, 252 (255); das OLG Hamm, JR 1986, 203 (204 f.) überspitzt dieses Argument zu einer Berufung auf die Belange des Opfers (ebenso Neuhaus, MDR 1989, S. 218). Nationalsozialistisch orientierte Autoren bemühten sich im Rahmen der damaligen Bewegung im Sinne einer „Auflockerung der Rechtskraft“ (s. u. S. 364 f.) auch um eine Einschränkung des Tatbegriffs: Nagler, ZAkdR 6 (1939), S. 372 (Rechtskraft als „erstarrter Formalismus“, „Phantom“, „lebensfremde scholastische Konstruktion“, die zur „Brüskierung jedes gesunden Rechtsempfindens“ führe), 373, 375 („Verdiente Strafe darf grundsätzlich nicht an prozessualen Hindernissen scheitern!“); Preiser, ZStW 58 (1939), S. 753 f., 771 ff.; Niederreuther, DJ 1938, S. 1753 ff., der die Auflockerung der Rechtskraft in den größeren Zusammenhang der Aufhebung des Analogieverbots, der unbeschränkten Zulassung der Wahlfeststellung und der reformatio in peius einordnete (S. 1756) und vorschlug, die Rechtskraft in den Fällen zu durchbrechen, in denen ein „krasses Mißverhältnis“ zwischen dem, was abgeurteilt und dem, was später entdeckt worden ist, besteht, so dass ein „Ausschluß einer nachträglichen Verfolgung und Bestrafung des Täters dem gesunden Rechtsempfinden widersprechen würde“ (S. 1757; s. a. ders. GS 113 (1939), S. 325; insoweit ähnl. Hall, DRW 1941, S. 327); Schwarz, DStR 1939, S. 97 ff. (der sich in einem Aufsatz mit der Überschrift „Gefahren der Rechtskraft im Strafrecht“ auf das „gesunde Rechtsempfinden“ [S. 97] bzw. auf „Staatsinteresse und Gerechtigkeitsgefühl“ beruft; er meint, entscheidend sei „die mehr oder min-

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Binding meinte noch, die Rechtskraft habe zwar die „Logik“ an ihrer Seite, rebelliere aber gegen die Logik und auch gegen die Rechtskraft mit Berufung auf die Gerechtigkeit;1393 die späteren Autoren haben einen weniger frontalen Weg vorgezogen und versucht, nicht mehr Rechtskraft und Gerechtigkeit gegeneinander antreten zu lassen, sondern die Rechtskraft in ihrer Reichweite, insbesondere die von ihr erfasste prozessuale Tat, bereits unter Berücksichtigung der Gerechtigkeit begrifflich einzuengen (näher u. Kap. 2 B. IV. 5. [Bd. 2, 416 ff.]). 2. Das unbestreitbare Verdienst des Ansatzes ist seine Betonung, dass eine Theorie der Rechtskraft nicht nur den pathologischen Fall im Blick haben kann. In der Tat muss man sich fragen, ob die rein prozessuale Rechtskrafttheorie nicht nur dem unrichtigen, sondern auch dem materiellrechtlich zutreffenden Urteil Rechnung zu tragen vermag. Es kann sein, dass der Grund, weshalb die richtige Verurteilung nicht revidiert werden darf, nicht bloß darin liegt, dass sie als Ergebnis eines Strafprozesses zustande gekommen ist, sondern auch darin, dass sie bestimmte materiellrechtliche Effekte zeitigt, die einem erneuten Verfahren entgegenstehen. Auf diesen Gedanken wird später zurückzukommen sein (u. D. [S. 371 ff.]). 3. Dennoch gibt es hinreichend Gründe, an diesem Ansatz zu zweifeln. a) Erstens liefert die Dogmengeschichte ein wichtiges Indiz dafür, dass die behauptete Harmonie von Gerechtigkeit und Rechtskraft eher prekär ist. Man kann sich kaum der Evidenz entziehen, dass die Rechtskraft immer dort eine Legitimitätskrise erlebte, wo die materiellrechtliche Richtigkeit des Prozessergebnisses über prozessuale Erwägungen die klare Oberhand gewonnen hat. aa) So verhielt es sich im gemeinrechtlichen Inquisitionsprozess, von dem richtigerweise gesagt wurde, dass die Rechtskraft in ihm ein „Fremdkörper“ war.1394 Der Inquisitionsprozess, der sich völlig dem Dienst des materiellen Rechts, also der Verwirklichung der Gerechtigkeit verpflichtete und vor allem dem Grundsatz verpflichtet war, dass kein Straftäter ungestraft bleiben dürfe,1395 war, wie o. IV. der unerträgliche Auswirkung des Grundsatzes ne bis in idem“ bzw. „die mehr oder minder unbilligenden Auswirkungen des Grundsatzes“ [S. 98]); Hall, DRW 1941, S. 326 f.; Schwinge, DJ 1941, S. 1065; Henkel, Strafverfahren, S. 441 ff.; Mattil, DStR 1942, S. 162 f.; Niederreuther, DJ 1942, S. 109; Peters, FS Kohlrausch, S. 204; s. a. das obiter dictum in RGSt 70, 26 (31). Zu den Bemühungen, eine umfassende Wiederaufnahme propter nova zulasten des Beschuldigten einzuführen, s. u. Kap. 6 D. V. 2., 3. (S. 979 ff.). 1393 Insb. Binding, Strafurteil, S. 340 f. 1394 Grünewald, ZStW 120 (2008), S. 551. Ebenso H. Mayer, GS 99, 301 ff.; Deml, Wiederaufnahme, S. 5; s. a. Heinze, GA 1876, S. 283 f.: der ne bis in idem-Grundsatz sei in einem Verfahren, das vom Offizialprinzip ausgeht (woraus er den Untersuchungsgrundsatz ableitet, S. 276, 278), Ausfluss der Billigkeit (s. das Zitat o. Fn. 1375); s. a. Schöneborn, Wiederaufnahmeproblematik, S. 58 ff., mit einem anderem Erklärungsansatz (dazu Kap. 6 B VI 2 [S. 888]). 1395 Nachw. o. Fn. 1352.

1. Kap.: Die Begründung der materiellen Rechtskraft

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(S. 351 f.) bereits hervorgehoben, mit der Anerkennung von Rechtskraft äußerst zurückhaltend. Viele Autoren meinten, der gemeinrechtliche Inquisitionsprozess kenne die Rechtskraft schlichtweg nicht.1396 Bezüglich der Verurteilung bedeutete das die ständige Bereitschaft, sie auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen, was zweifelsohne einen zu billigenden Zug dieses Verfahrens darstellt (weshalb genau: u. Kap. 6 C. 2. [S. 898 f.]). Die Kehrseite hiervon war aber eine zweifelhafte Behandlung des Nichtverurteilten. Nicht nur waren alle freisprechenden Urteile in viel weiterem Maße als heute wiederaufnahmefähig.1397 Der gemeinrechtliche Inquisitionsprozess kannte auch die berüchtigte Figur der sog. absolutio ab instantia, die die erneute Verfolgung noch leichter machte: In Fällen fehlenden Beweises der Schuld trotz Fortbestehens eines erheblichen Verdachts wurde nicht endgültig freigesprochen, sondern eine Art Einstellungsurteil gefällt, das einem Neuanfang des Verfahrens im Falle des Bekanntwerdens neuer Tatsachen oder Beweise nicht entgegenstand.1398 Zu ihrer Rechtfertigung führte man an: Im Strafverfahren „kommt es auf die Ausmittelung der materiellen Wahrheit an, und daher kann und darf von einem definitiven Urtheile nicht eher die Rede seyn, als bis die überhaupt erreichbare Gewißheit der Schuld oder Nichtschuld begründet ist“.1399 Dieses Rechtsinstitut war eine der Hauptzielscheiben der Kritik der Vertreter des Anklageprinzips und der Reform des Strafverfahrens:1400 Sie 1396

Nachw. bereits o. Fn. 1353. Siehe Elben, Entbindung von der Instanz, S. 52 ff.; Ziemba, Wiederaufnahme, S. 14 ff. 1398 Aus der gemeinrechtlichen Literatur Boehmer, Meditationes, Art. XCIX § I ff.; aus den Prozessgesetzen des frühen 19. Jahrhunderts Preußische Criminal-Ordnung v. 1805, insb. § 409 („Die vorläufige Lossprechung findet statt, wenn der eigentliche Hergang der Sache gar nicht hat aufgeklärt werden, und der Verdächtige den gegen ihn streitenden Verdacht nicht hat ablehnen können.“) und § 411 („Die Untersuchung kann in einem solchen Falle jederzeit wieder eröffnet werden, wenn erhebliche Umstände oder Beweismittel bekannt werden, die in der bisherigen Untersuchung nicht vorgekommen sind“); Bayerisches Strafgesetzbuch v. 1813, 2. Teil, Art. 356; w. Nachw. bei Elben, Entbindung von der Instanz, S. 43 ff.; das Institut billigend Carmignani, KritZRGA 1 (1829), S. 361 (auf Grundlage des Strafgesetzbuchs von Toscania v. 1786, der sog. Leopoldina); A. Bauer, Lossprechung von der Instanz, S. 299 ff., der das Institut zu rechtfertigen und daran geübte Kritik zurückzuweisen versuchte (S. 303, 318 f., 325 ff., 328 ff.); umf. Elben, Entbindung von der Instanz, S. 11 ff., 41 ff.; aus späterer Sicht Rheingans, Rechtskraftlehre, S. 15 ff., 60 ff., 72 ff.; Sotgiu, Revisione, S. 51 f.; Dahm, Freisprechendes Urteil, S. 6 ff.; Lampe, GA 1968, S. 37; Schwarplies, Ne bis in idem, S. 22 ff.; Paulus, FS Trusen, S. 294 ff.; näher zu diesem Institut auch u. Kap. 4 C. II. 2. (S. 704 ff., 82 ff.). Zu ähnlichen Instituten im französischen Strafprozess (sog. jugement de plus ample informé) vgl. Esmein, Histoire, S. 244 f. (zur Ordonnance Criminelle von 1670); Hélie, Traité III, S. 531; Griolet, Chose jugée, S. 205; Lemoine, Revision, S. 18 f.; Rocco, Cosa giudicata I, S. 125 ff.; Najarian, Chose jugée, S. 42 f.; Callari, Firmitas, S. 91 ff. 1399 Henke, Handbuch IV, S. 737. 1400 Etwa Zachariä, NArchCrimR 1839, S. 371 ff.; ders. Gebrechen, S. 51 ff., 60 f., 93, 285 ff.; Hepp, Anklageschaft, S. 137 ff.; rückblickend Rheingans, Rechtskraftlehre, S. 53 ff.; Schwarplies, Ne bis in idem, S. 86 ff.; zur vergleichbaren Kritik in Italien und 1397

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

nannten es ein „zwitterartiges Geschöpf“,1401 eine „Art von außerordentlicher Strafe“,1402 ein „Ueberrest der Tortur“,1403 das mit dem von ihnen postulierten „Recht des Angeschuldigten, eine vollständige und wirklich definitive Entscheidung über das Schuldig oder Nichtschuldig zu verlangen“ 1404, unverträglich sei. bb) Auch im 20. Jahrhundert haben Staaten, die die gesamte Rechtsordnung unter eine starke Vorstellung materieller Gerechtigkeit stellten,1405 oder dem Verfahren eine ausschließlich dienende Rolle bezüglich des materiellen Rechts zuerkannten, die Rechtskraft fühlbar relativiert. (1) Dies war insbesondere im Nationalsozialismus der Fall. Auf einer allgemeinen Ebene, im Banne des Mottos der sog. „Auflockerung des Strafverfahrens“,1406 bekannte man sich leidenschaftlich zur Gerechtigkeit: „In jedem deutschen Richter glüht als heiliges Feuer das Streben nach höchsterreichbarer Gerechtigkeit“.1407 Diese Einstellung hatte auf einer konkreteren Ebene das Motto der „Auflockerung der Rechtskraft“ zur Folge,1408 das sich an unterschiedlichen Stellen manifestierte. Es gab zunächst Versuche, den Tatbegriff einzuschränken1409 und die Wiederaufnahme zuungunsten des Beschuldigten zu erweitern.1410 Am augenfälligsten waren zum einen einzelne Entscheidungen höherer Gerichte, von denen teilweise bereits o. II. (S. 348 f.) die Rede war, die unter Berufung auf das „gesunde Volks- und Rechtsempfinden“, auf den „Schutz des Frankreich Callari, Firmitas, S. 94 ff. m.w. Nachw.; näher m.w. Nachw. u. Kap. 4 C. II. 2. (S. 704 ff.). 1401 Zachariä, Gebrechen, S. 12; ähnl. S. 295. 1402 Leue, Anklage-Prozeß, S. 169. 1403 Hepp, Anklageschaft, S. 145; krit. Müller, ZdStV 1 (1844), S. 54 Fn. 54. 1404 Zachariä, Gebrechen, S. 298. 1405 Dieselbe Beurteilung über die beiden sogleich zu erwähnenden Rechtsordnungen des 3. Reichs und der DDR bei Hanne, Rechtskraftdurchbrechungen, S. 96 f. (die von einer „Maxime ,Gerechtigkeit statt Formalismus‘“ spricht), 110 ff., 175; zum Rechtsverständnis der Sowjetunion David, Droit soviétique, S. 12 ff.; Schroeder, 74 Jahre Sowjetrecht, S. 10 ff.; David/Jauffret-Spinosi, Grands systèmes, S. 136 ff. (Rn. 123 ff.). 1406 Statt aller E. Schäfer, DStR 1935, S. 247 ff.; Hegler, Zur Strafprozeßerneuerung, S. 14 m.w. Nachw. in Fn. 26; die Begründungen der von den amtlichen Strafprozeßkommissionen des Reichsjustizministeriums vorgelegten (vertraulichen!) Entwürfe einer Strafverfahrensordnung pp., v. 1936, S. 8; v. 1939, S. 4; beide abgedruckt in Schubert (Hrsg.), Quellen, Abt. III, S. 8, 375; zu dieser Parole aus heutiger Sicht Rüping, ARSPBeiheft 18 (1983), S. 65 ff. 1407 Freisler, DJ 1937, S. 730; rückblickend zu solchen Tendenzen Hanne, Rechtskraftdurchbrechungen, S. 94 ff. 1408 Freisler, DStR 1935, S. 236; ebenso E. Schäfer, DStR 1935, S. 253 ff.; Peters, ZStW 56 (1935), S. 57; E. Wolter, Rechtskraft, S. 10; Mittelbach, JW 1938, S. 3155; s. a. Siegert, DStR 1935, S. 283 ff.; zusammenfassend Niederreuther, GS 113 (1939), S. 305 ff. Aus späterer Sicht Lampe, GA 1968, S. 36; Kniebühler, Ne bis in idem, S. 18 ff. (ausf.); Conde Correia, Caso julgado, S. 406. 1409 Nachw. o. Fn. 1392. 1410 Siehe Kap. 6 D. V. 2. (S. 979 ff.).

1. Kap.: Die Begründung der materiellen Rechtskraft

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Staates und des Volkes“, die „materielle Gerechtigkeit“ und auf den angeblichen Grundsatz „kein Verbrechen ohne Sühne“ eine Ausnahme vom ne bis in idemGrundsatz postulierten,1411 zum anderen die Einführung des sog. außerordentlichen Einspruchs1412 und der sog. Nichtigkeitsbeschwerde.1413 Der außerordentliche Einspruch, der vom Oberreichsanwalt „im Auftrag des Führers“ erhoben werden konnte, richtete sich gegen mit „schwerwiegenden Bedenken“ behaftete rechtskräftige Urteile aller Gerichte und ermöglichte eine Neuverhandlung der Sache vor den neu eingerichteten „Besonderen Senaten“ des Reichsgerichts, des Reichskriegsgerichts oder des Volksgerichtshofs.1414 Der Einspruch sollte laut Gesetz innerhalb eines Jahres nach Eintritt der Rechtskraft erhoben werden; man war aber der Auffassung, dass das Gesetz der Gewalt des Führers, deren Manifestation der außerordentliche Einspruch letztlich verkörperte, keine äußeren Schranken setzten könne.1415 Auch die Nichtigkeitsbeschwerde, die in erster Linie vom Oberreichsanwalt erhoben werden konnte, hatte rechtskräftige verfahrensabschließende Gerichtsentscheidungen zum Gegenstand, aber nur der unteren Gerichte.1416 Diese Entscheidungen mussten „wegen eines Fehlers bei der Anwendung des Rechts auf die festgestellten Tatsachen ungerecht sein“ (Art. V § 34 der Zuständigkeits-VO v. 1940).1417 Es galt eine Jahresfrist, die aber anders als beim außerordentlichen Einspruch ernst zu nehmen war.1418 1411 Alle Zitate aus OLG München, DJ 1938, 724 f. – freilich hört sich alles schlechter an, als es im konkreten Ergebnis war: In der Entscheidung ging es um eine Fortsetzungstat, bei der man auch heute keinen Strafklageverbrauch bejahen würde (s. u. Kap. 2 E. III. 7. [S. 591 ff.]). Siehe auch Volksgerichtshof, DJ 1938, 1193, der die erneute Bestrafung desselben geschichtlichen Vorgangs und derselben Tat mit nahezu wortgleichen Formeln zulässt; OLG Stuttgart, DJ 1939, 1698 (1699); OLG Dresden, DJ 1940, 271; s. a. die Auflistung dieser und weiterer „fortschrittlicher Entscheidungen“ bei Niederreuther, DJ 1938, S. 1754 f. (Zitat S. 1755); ihnen auch zust. Mittelbach, JW 1938, S. 3155. Das beste Beispiel bietet Volksgerichtshof, DJ 1941, 1077, eine Entscheidung, in der es um eine zweite Bestrafung als Verbrechen des Hochverrats ging (§ 89 StGB a. F.) trotz einer Erstbestrafung wegen Vergehens des Unterhaltens landesverräterischer Beziehungen (§ 90c StGB a. F.), also um eine Sachverhaltskonstellation, bei der auch nach dem hier vorgeschlagenen engeren Tatbegriff (u. Kap. 2 F. III. 7. [S. 591 ff.]) von Tatidentität auszugehen wäre. Zur lehrreichen Begründung dieser Entscheidung s. bereits o. II. (S. 348 f.). 1412 I. Müller, Rechtsstaat und Strafverfahren, S. 87; Conde Correia, Caso julgado, p. 406; ausf. Hanne, Rechtskraftdurchbrechungen, S. 71 ff. 1413 Näher auch m.w. Nachw. zu den einzelnen Rechtsgrundlagen Eb. Schmidt, Geschichte, § 354; Lampe, GA 1968, S. 36; I. Müller, Rechtsstaat und Strafverfahren, S. 85 f.; Paeffgen, GS Heinze, S. 617; ausf. Hanne, Rechtskraftdurchbrechungen, S. 83 ff. 1414 Hanne, Rechtskraftdurchbrechungen, S. 72 m. Nachw. 1415 Hanne, Rechtskraftdurchbrechungen, S. 72, 73. 1416 Hanne, Rechtskraftdurchbrechungen, S. 84 f. 1417 Entnommen aus Hanne, Rechtskraftdurchbrechungen, S. 86. Die anfänglich vorhandenen Beschränkungen (keine Nichtigkeitsbeschwerde bei Verfahrensfehlern und Fehlern bezüglich Tatsachenfeststellungen) sind wenig später, 1942, beseitigt worden (Hanne, Rechtskraftdurchbrechungen, S. 87). 1418 Hanne, Rechtskraftdurchbrechungen, S. 85.

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(2) Auch sozialistische Staaten hatten wenig Bedenken, die Rechtskraft aufzulösen. Ähnlich wie die gerade erwähnte Nichtigkeitsbeschwerde war das in der DDR vorhandene Rechtsinstitut der sog. Kassation.1419 Grob gesagt sollte dieser Rechtsbehelf vom Generalstaatsanwalt binnen eines Jahres gegen rechtskräftige Entscheidungen erhoben werden, die der Gerechtigkeit gröblich widersprachen.1420 Und von der Sowjetunion hieß es, „daß der Grundsatz ,ne bis in idem‘ zu einer Ausnahme und seine Widerlegung zur Regel wurde“.1421 Insbesondere kannte sie eine aufsichtliche Prüfung rechtskräftiger Strafurteile, den sog. „Protest“.1422 Dieses Rechtsinstitut lebte auch im nachkommunistischen Russland fort, und war vor wenigen Jahren Gegenstand einer Entscheidung des EGMR.1423 (3) Auch die Anhänger der verschiedenen Richtungen der Sozialverteidigung, die das Strafverfahren in den Dienst einer materiellrechtlichen Straftheorie, nämlich der Resozialisierung (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. IV. 2. [S. 198 ff.]) und auch der im straftheoretischen Abschnitt nicht angesprochenen Unschädlichmachung1424 stellen wollten, konnten für die Idee unabänderlicher Entscheidungen wenig Verständnis aufbringen.1425 Schon Ferri, der prominenteste Vertreter der italienischen Scuola Positiva, setzte sich dafür ein, „im gerichtlichen Strafurteil nicht mehr ein abschließendes und unwiderrufliches Moment zu erblicken, denn an die Stelle der in der Rechtskraft verkörperten Vermutung soll das Prinzip der periodischen Überprüfung/Wiederaufnahme der Urteile (revisione periodica delle sentenze) treten.“ 1426 Einige Generationen später plädierte Carnelutti, der eine vergeistigte Version der Lehre vom Verbrecher als Krankem1427 und von der

1419 Hierzu Lampe, GA 1968, S. 36 f.; Schroeder, JuS 1997, S. 228 m.w. Nachw.; ausf. Hanne, Rechtskraftdurchbrechungen, S. 98 ff. 1420 Hanne, Rechtskraftdurchbrechungen, S. 103, 106, 115, 117 ff. (zum Antragsberechtigten), 124 f. (Frist), 131 ff. m. entspr. Nachw. 1421 Bilinsky, JbOR 3 (1962), S. 136. 1422 Bilinsky, JbOR 3 (1962), S. 136 ff.; ausf. Fincke, Überprüfung, S. 119 ff., 122 ff. 1423 Gegenstand von EGMR Nikitin v. Russland, Beschw. Nr. 50178/99, v. 20.7.2004, Rn. 44 ff., der das Institut für konventionskonform und insb. für vereinbar mit Art. 4 Abs. 1 EMRK-ZP. 7 erklärt hat. 1424 Zur Kritik s. Greco, Lebendiges, S. 449 ff. 1425 Zu diesen Tendenzen auch Gavalda, JCP I 1957, Nr. 1372 Rn. 4; Gassin, RSC 1963, S. 243 ff. 1426 Ferri, Sociologia criminale II, S. 383. Es ist unklar, ob er hier das Wort revisione im technischen Sinne, also als Wiederaufnahme des Verfahrens gebraucht. Denn für eine Anerkennung der im italienischen Recht damals in keiner Form vorhandenen Wiederaufnahme zulasten des Beschuldigten (s. u. Kap. 6 D. I. 4. b) [S. 969 f.]) hat er sich ebenfalls eingesetzt, S. 319 f. 1427 Carnelutti, RDP 1951, S. 291: „Die gemeinsame Wurzel zwischen dem Denken von Enrico Ferri und meinem, der auch unsere Abneigung zur Rechtskraft des Strafurteils entspringt . . ., ist die Überzeugung, dass der Verbrecher ein kranker ist. Die differentia specifica . . . betrifft die sedes morbi, die er . . . im Leib, ich aber in der Seele (spirito) erblicke.“

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Strafe als Heilmittel1428 vertrat, dafür, jede prozessabschließende Entscheidung im Strafprozess als eine unter dem Vorbehalt besserer Tatsachenkenntnisse getroffene, rein innerprozessual wirkende Prozessentscheidung zu begreifen.1429 Er benutzte starke Metaphern: „Wenn ein Leprakranker, der einer ersten Diagnose entkommt, frei durch die Gesellschaft verkehrt, genügt der Verdacht des Irrtums, dass man ihn wieder in Gewahrsam nimmt und einer erneuten Untersuchung unterzieht; und wenn man umgekehrt entdeckt, dass derjenige, der im Leprosorium unterbracht wurde, kein Leprakranker ist, besteht kein Hindernis gegen seine Entlassung; wo liegt aber ein Unterschied was Leib einerseits, Seele andererseits anbelangt, zwischen Leprakrankem und Delinquenten?“ 1430 Und in Frankreich schlug Gassin vor, die Rechtskraft durch eine täterorientierte restriktive Bestimmung der prozessualen Tat einzuschränken: Eine verschiedene prozessuale Tat sei bei „jeder neuen Straftat [gegeben], die geeignet ist, ein anderes Licht auf die Gefährlichkeit des Delinquenten zu werfen.“ 1431 cc) Zwar soll man sich davor hüten, zwei Annahmen, die irgendwann historisch nebeneinander auftreten, automatisch als logisch zusammenhängend anzusehen (s. o. Teil 1 Kap. 1 C. [S. 112 f.]). Die Hochachtung einer Auffassung materieller Gerechtigkeit und die Missachtung der Rechtskraft treten aber nicht nur häufig nebeneinander auf, sondern das Eine wird zur Begründung des Zweiten herangezogen. Wer also die Rechtskraft als Ausdruck der Gerechtigkeit begreifen möchte, muss darlegen, dass sich diese unterschiedlichen Richtungen eines argumentativen Irrtums schuldig gemacht haben. b) Aber auch auf der Ebene der reinen Theorie lassen sich Bedenken geltend machen. aa) Die jetzt untersuchte Lehre macht sich aber derselben Einseitigkeit schuldig, die sie ihren Konkurrentinnen vorwirft, nur mit umgekehrtem Vorzeichen. Wenn auch sie bezüglich des richtigen Urteils Wichtiges betont, vermag sie zum unrichtigen Urteil auf den ersten Blick wenig zu sagen. Diese Unzulänglichkeit kann nicht bloß mit dem Hinweis minimiert werden, es gehe beim unrichtigen Urteil um einen pathologischen Sonderfall, um den man sich nicht zu kümmern habe (s. o. A. II. [S. 333]). 1428

Carnelutti, RDP 1951, S. 292. Carnelutti, RDP 1951, S. 293: anstelle von cosa giudicata sollte man im Strafverfahren auch bei Freispruch und Verurteilung von preclusione sprechen. 1430 Carnelutti, RDP 1951, S. 294; dazu krit. Fenech, RDP 1955, S. 90 ff., mit einer Replik von Carnelutti, ebda. S. 91 ff., Treplik von Fenech, RDP 1957, S. 203 ff., und Quadruplik von Carnelutti, ebda., S. 217 ff. (der sich in den von ihm herausgegebenen Zeitschriften anscheinend gerne das letzte Wort vorbehielt [s. a. o. Fn. 385, 439]); krit. a. Allorio, Giudicato, S. 69 ff. (sehr überzeugend); Guarneri, NovDigIt XV (1968), S. 233 f.; aus heutiger Sicht Callari, Firmitas, S. 199 f. 1431 Gassin, RSC 1963, S. 277. Direkt im Anschluss scheint er Gewissensbisse zu spüren und warnt vor einer Preisgabe des ne bis in idem-Grundsatzes (S. 277 f.). 1429

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

bb) Eine Replik steht dem Vertreter der Gerechtigkeitstheorie der Rechtskraft noch offen. Er könnte seine These abschwächen (würde man aus kritischer Perspektive sagen) bzw. präzisieren (wohlwollend gesagt). Anstatt der Ausgangsthese, die Rechtskraft verkörpere eine Anforderung der Gerechtigkeit, würde es heißen: Die Änderung bereits gefällter Sachurteile führt regelmäßig, d.h. aus einer Makroperspektive, zu noch weniger gerechten Urteilen. Denn entweder sind diese Urteile richtig, so dass man von ihnen die Finger lassen sollte. Oder die zu verändernden Urteile sind falsch, und auch in diesem Fall gibt es keine Gewähr dafür, dass die zu erzielenden neuen Urteile richtiger sein werden. Allgemein betrachtet ist deshalb anzunehmen, dass der Versuch, unrichtige Urteile zu korrigieren, zu mehr Ungerechtigkeit führen wird als deren Hinnahme. „Sonst würde man, über dem Streben nach einer unerreichbaren absoluten Gerechtigkeit, die Verwirklichung der einzig möglichen, endlichen und beschränkten Gerechtigkeit aufgeben“.1432 Die Rechtsordnung müsse deshalb um der Gerechtigkeit willen verhindern, dass Urteile ohne Weiteres verändert werden können, und dies unabhängig davon, ob sie richtig oder falsch sind. cc) Aber auch diese abgeschwächte bzw. präzisierte These erscheint zweifelhaft. Denn es ist keineswegs evident, dass es aus einer Makro-Perspektive weniger Gerechtigkeit geben würde, wenn prozessbeendende Entscheidungen ohne Weiteres verändert werden könnten.1433 Keiner kann wissen, wie viele Entscheidungen falsch sind. Und selbst wenn diese allgemeine Vorhersage unhinterfragt akzeptiert würde, wäre damit die Brücke zum Einzelfall noch nicht geschlagen. Gerade im Strafprozess, der nur mit einzelnen Fällen zu tun hat, wird es so sein, dass nie das Allgemeine im Blickfeld steht, sondern immer nur der Einzelfall. Das Argument ist inkonklusiv, wenn man die für die Perspektive des Rechtsanwenders charakteristische Frage stellt: Was soll gelten, wenn man hinsichtlich des Einzelfalles annimmt, dass eine Veränderung der Entscheidung zu mehr Gerechtigkeit führen würde als ihr Beibehalten? Das Gerechtigkeitsargument hat in dieser präzisierten Version somit eine regelkonsequentialistische Struktur. Der Druck, unter den er hier gerät, ist letztlich nur eine Folgeerscheinung des bekanntlich gegen diese Position formulierten Haupteinwands:1434 dass die regelkonsequentialistische Position in dem Moment, in dem die auf der Makro-Ebene formulierte Prognose (hier: dass die Unveränderlichkeit prozessbeendender Entscheidungen im Allgemeinen zu mehr Gerechtigkeit führe) nicht mehr zu dem Einzelfall passt, sich mit dem Dilemma konfrontiert sieht, entweder auf die Einhaltung der allgemeinen Regel zu pochen, womit sie unter den Verdacht des Regelfetischismus gerät; oder im Einzelfall 1432

Berner, GA 1855, S. 473. Roberts, MLR 65 (2002), S. 401 f. 1434 Grdl. Lyons, Utilitarianism, S. 115 ff., 118; zust. Maher, FS Honoré, S. 108 ff.; s. a. Greco, Lebendiges, S. 132 Fn. 87 m.w. Nachw. 1433

1. Kap.: Die Begründung der materiellen Rechtskraft

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von der Einhaltung der Regel abzusehen, was aber dazu führt, dass die Position ihren regelbezogenen Charakter aufgibt und eine handlungs- bzw. aktkonsequentialistische Struktur aufnimmt. Damit setzt sie sich dem Einwand aus, dass von der Rechtskraft kaum mehr etwas übrig bleibt. VIII. Rechtskraft als individuelles Recht a) Keine der bisher untersuchten Begründungen war dazu in der Lage, für die Rechtskraft eine befriedigende Rechtfertigung anzubieten. Der Gedanke, dass es bei der Rechtskraft um das Ansehen der Gerichte geht, ist obrigkeitsstaatlich, und letztlich Ausdruck eines inakzeptablen prozessualen Machiavellismus (dazu Teil 1 Kap. 2 C. II. 3. [S. 155 f.]). Das Schlagwort des Rechtsfriedens ist aus mehreren Gründen auch hier nicht weiterführend. Die Berufung auf die Gerechtigkeit bewegt sich auf der Makroebene und kann über Einzelfälle, um die es in Strafverfahren immer gehen wird, wenig aussagen. Die Gesichtspunkte, die bisher am besten abschneiden, sind auf der einen Seite die von der herrschenden Meinung bemühte Rechtssicherheit, auf der anderen Seite der Gedanke des Schutzes des Einzelnen. Unbefriedigend ist dennoch, dass diese Argumente sich noch auf den interessenbezogenen ersten zwei Rechtfertigungsstufen bewegen und somit nicht dazu in der Lage sind, für die Kraft der Rechtskraft eine tragfähige Grundlage zubieten. Deshalb bietet es sich an, dass man auf die dritte Rechtfertigungsstufe vordringt, also sich nicht bloß mit interessenbezogenen Gesichtspunkten zufriedengibt, sondern vielmehr die Rechtskraft als Sache des Respekts vor Rechten des Einzelnen zu begreifen versucht. b) Das liegt besonders nahe, wenn man seinen Ausgangspunkt im Verfassungsrecht nimmt. So kennt das deutsche Grundgesetz, ähnlich wie andere moderne Verfassungen,1435 ein Verbot der doppelten Bestrafung derselben Tat (Art. 103 Abs. 3 GG). War man früher der Ansicht, dass die genannte Vorschrift „keine verfassungsrechtliche Problematik“ barg,1436 hat sich inzwischen die Auffassung durchgesetzt, die in der erwähnten Vorschrift ein sog. Prozessgrundrecht erblickt.1437 Über diese verfassungsrechtsdogmatische Einordnung soll hier nicht 1435 Etwa 5. Amendment der amerikanischen Bundesverfassung („nor shall any person be subject for the same offense to be twice put in jeopardy of life or limb“); Art. 29 Abs. V der portugiesischen Verfassung; Art. 23 S. 2 der mexikanischen Verfassung; Nachw. anderer Staatsverfassungen bei BVerfGE 75, 1 (21); Schietti M. Cruz, Dupla persecução, S. 93 ff. 1436 Sax, Grundsätze, S. 972. 1437 BVerfGE 56, 22 (32); Fliedner, AöR 99 (1974), S. 246, 254 f.; Puppe, JR 1986, S. 206; Detmer, Begriff der Tat, S. 3; Neuhaus, MDR 1989, S. 221; Schmidt-Aßmann, M/D-GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 271; Schulze-Fielitz, in: Dreier-GG, Art 103 Abs. 3 Rn. 14; Degenhart, in: Sachs-GG, Art. 103 Rn. 76; Kunig, in: v. Münch/Kunig-GG, Art. 103 Rn. 35; präzisierend Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck-GG, Art. 103 Abs. 3 Rn. 183; ähnl. auch Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 52 Rn. 8. Noch zurückhaltend BVerfGE 3, 248 (252): „grundrechtsähnlicher Charakter“.

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gestritten werden. Angemerkt sei hier nur, dass diese Kategorisierung inhaltlich blass bleibt. Im Kern besagt sie nur, dass der Verfassungsgesetzgeber sich für einen ne bis in idem-Grundsatz entschieden hat, ohne dass sie zu den Gründen, die diese Entscheidung tragen, nähere Auskunft zu geben vermag. Man geht einen Schritt weiter, wenn man der Kategorisierung durch Heranziehung der Menschenwürde Inhalt gibt. So schrieb Dürig in seiner einflussreichen Grundgesetzkommentierung: „wenn der Freigesprochene oder Bestrafte ständig damit rechnen müßte, erneut strafgerichtlich belangt zu werden“, würde er „zum Objekt staatlicher Gewalt und staatlichen Geschehens herabgewürdigt“.1438 Der Vorzug dieser Begründung ist, dass sie die Rechtskraft und ihre Stärke nicht mehr von immer ungesicherten und instrumentalisierungsverdächtigen Abwägungen (s. o. II. [S. 346 ff.]) abhängig macht.1439 Die schlichte Heranziehung der Menschenwürde führt aber gleichzeitig dazu, dass die Rechtskraft äußerst stark gedeutet wird, da jedes zweite Verfahren wegen derselben Taten unter den Verdacht gerät, die Menschenwürde anzutasten. Konkret bedeutet das vor allem, dass für eine Wiederaufnahme zulasten schon von vornherein kein Raum bleibt. Zwar kann man das an dieser Stelle noch nicht als Einwand geltend machen, denn es ist immer noch offen, ob dieses Ergebnis nicht auch richtig ist.1440 Man kann aber bereits festhalten, dass diese Implikation es unwahrscheinlich macht, dass die Heranziehung der Menschenwürde eine ausreichende Grundlage für die weitere Arbeit liefert. Der entscheidende Vorbehalt gegen die unvermittelte Berufung auf die Menschenwürde ist aber ihre mangelnde Spezifizität. Auch dann, wenn es stimmt, dass ein zweites Verfahren den Betroffenen zum bloßen Objekt des Verfahrens degradiert, ist man gehalten, diese Instrumentalisierung näher zu beschreiben. Wird dies getan, dann wird sich das gerade genannte Problem wohl von selbst lösen. Im Grunde genommen sind die in den weiteren Kapiteln dieser Arbeit anzustellenden Überlegungen nichts anderes als ein Versuch, dies zu tun. Erst so werden die Gesichtspunkte ersichtlich, auf die es für die Lösung der Rechtskraftfragen ankommen wird. 1438 Dürig, zit. nach der Neubearbeitung von Schmidt-Aßmann, M/D-GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 260, der die Passage unverändert beibehalten hat; s. a. Oehler, FS Rosenfeld, S. 141 (im Zusammenhang mit seiner Kritik des dynamischen-inkongruenten Tatbegriffs, s. u. Kap. 2 D. IV. 1. [S. 484 ff.]); fast gleich Fliedner, AöR 99 (1974), S. 254; ähnl. Gantzer, Rechtskraft, S. 67; Neuhaus, MDR 1989, S. 221; Wolter, GS K. Meyer, S. 498 Fn. 41, 513 (Bezug zu Art. 1 Abs. 1 GG); Schmidt-Aßmann, M/D-GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 258; Velten, SK-StPO § 264 Rn. 21. 1439 Wenig konsequent Schmidt-Aßmann, M/D-GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 261, der Art. 103 Abs. 3 GG zugleich auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zurückführt, mit der Folge (Rn. 266), dass der Gehalt des Grundsatzes im Wege von Abwägungen festgelegt wird. 1440 Näher zur Begründbarkeit der Wiederaufnahme zulasten des Beschuldigten u. Kap. 6 D. I. 2. (S. 957 f.).

1. Kap.: Die Begründung der materiellen Rechtskraft

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D. Der eigene Ansatz: Schuldtilgung, Rehabilitierung und Verfahrensgerechtigkeit („dreisäulige“ Rechtskraftlehre) Nach dem Gesagten dürfte bereits einleuchten, dass nur ein Ansatz, der die interessenbezogene Betrachtungsweise überwindet, der Aufgabe gewachsen sein wird. Die zwei bisher genannten Versuche auf der dritten Rechtfertigungsstufe konnten indes die eigentlich ausschlaggebenden Erwägungen noch nicht treffen. Wohl wird man erst dann zu einer Lösung kommen, wenn es gelingt, an die Erwägungen zur Rechtfertigung des Strafverfahrens anzuknüpfen. Denn ein Grund dafür, weshalb man sich hier derart ausführlich mit diesen allgemeineren Fragen beschäftigt hat, war die Vermutung, dass die Frage nach dem Ende des Strafverfahrens ein enges Verhältnis zu der Frage aufweisen würde, warum ein Strafverfahren überhaupt beginnen darf (o. Einl. [S. 31], Teil 1 Kap. 2 A. [S. 118 f.]). Ein zentrales Ergebnis des strafprozesstheoretischen Abschnittes war, dass es für die Rechtfertigung eines Strafverfahrens, das als qualifizierte Verdächtigung immer eine Inanspruchnahme eines Individuums darstellt, weder ausreicht, dass man ein gesellschaftsbezogenes Interesse geltend macht, weil dies eine unzulässige Instrumentalisierung wäre, noch, dass man ein Interesse des Individuums anführt, was eine inakzeptable (weil seinen verantwortlichen Willen missachtende) Paternalisierung wäre. Erst auf der dritten Rechtfertigungsstufe gelingt die Rechtfertigung des Verfahrens gegenüber dem Betroffenen: Ist er schuldig, dann liegt in eben dieser Schuld der erste Grund, weshalb er auch das Verfahren dulden muss, das seinerseits – und hierin liegt der zweite Grund – sicherstellen soll, dass sich eine später zu verhängende Strafe nicht bloß in einem Akt der Gewalt erschöpft (Verfahrensgerechtigkeit); ist er aber unschuldig, dann wird man nur solange von ihm verlangen können, dass er das Verfahren duldet, wie er rechtlich betrachtet nichts verliert, mit anderen Worten, solange das Verfahren ihn zu rehabilitieren verspricht und dieses Versprechen am Ende einlöst. Bereits hieraus lässt sich die überzeugende Begründung der Rechtskraft herleiten. Grob gesagt – der Feinschliff der jetzt vorzutragenden Hauptthesen soll Gegenstand späterer Abschnitte sein (u. Kap. 2–6) – muss man hier auch dreigeteilt vorgehen. Im Falle der Verurteilung beruht die Rechtskraft darauf, dass die Schuld des Betroffenen durch die Bestrafung getilgt wird. Der Gedanke der Schuldtilgung, auf den sich bereits das Reichsgericht zur Erklärung der materiellen Rechtskraft berufen hat,1441 bedeutet, dass der Betroffene deshalb kein zwei-

1441 RGSt 7, 356 (357); 13, 146; 35, 367 (370); 43, 60 (62); in anderen, eher späteren Entscheidungen hat das Reichsgericht es vorgezogen, von einem Erlöschen des materiellen Strafanspruchs zu sprechen, so etwa RGSt 41, 152 (153); 43, 60 (61 f.); 49, 170; 66, 419 (423 f.); die Formel einer Tilgung bzw. Komsumption der Tat oder der Handlung erscheint in RGSt 3, 132; 7, 32 (35); 9, 14 (22); 15, 23 (27).

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

tes Mal bestraft werden darf, weil es nach der ersten Strafe nichts mehr gibt, was bestraft werden könnte.1442 Dagegen beruht die Rechtskraft bei demjenigen, der nach Duldung eines Verfahrens nicht verurteilt wird, offensichtlich nicht auf der Tilgung einer nicht einmal bejahten Schuld,1443 sondern auf dem oben entwickelten Gedanken der Rehabilitierung.1444 Die rechtliche Bedingung dafür, dass man auch Unschuldige in Strafverfahren verwickeln darf, ist das Gebot, die Verdächtigung, die sich am Ende des Verfahrens nicht bestätigen kann, fallen zu lassen, und dies grundsätzlich auf immer. Man kann bei diesen zwei Gedanken der Schuldtilgung und Rehabilitierung nicht stehen bleiben. Denn wie bereits gegen die insofern ähnliche o. VI. (S. 354 ff.), zugleich aus anderen Gründen abgelehnte Theorie der Rechtskraft als Beschuldigtenschutz hervorgehoben wurde, wäre es auf einer solchen Grundlage, die allein auf die Perspektive des Beschuldigten abstellt, nicht möglich, dass sich die Rechtskraft auch gegen den Beschuldigten auswirkte. Den Grund, weshalb der Beschuldigte die Entscheidung akzeptieren muss, auch wenn sie ihm nicht gefällt, liefert, wie oben ausführlich dargelegt, erst der Gedanke der Verfahrensgerechtigkeit.1445 Zwar wirkt sich die Verfahrensgerechtigkeit auch gegen den Verdächtiger aus, da dieser erst recht an der Entstehung der letztlich zustande kommenden Entscheidung mitgewirkt hat; er ist aber in der Regel bereits aus anderen Gründen gehalten, die Entscheidung zu respektieren, so dass die Verfahrensgerechtigkeit in erster Linie den Betroffenen an das Ergebnis bindet. Daraus ergibt sich eine differenzierte Position zur Frage nach der Rechtsnatur der Rechtskraft, über die die konstruktivistischen Rechtskrafttheorien so viel diskutierten (s. o. B. [S. 337 ff.]).1446 Die Rechtskraft ist weder ein rein prozessrechtliches noch ein rein materiellrechtliches Gebilde. Insofern sie vorhandene Schuld tilgt, ist sie materiellrechtlich; 1447 insofern sie den Betroffenen, dessen

1442 Schlosky, GA 1927, S. 285; Peters, ZStW 68 (1956), S. 389 (and. später ders. FS Kern, S. 340); heute auch Kahlo, KritV 1997, S. 204 f.; Schroeder, JuS 1997, S. 227 f.; Kunig, in: v. Münch/Kunig-GG, Art. 103 Rn. 35; BVerfGE 3, 248 (251); in der Sache ähnl. Anonym, StLR 11 (1959), S. 736 f.; Moore, Act and Crime, S. 309 f. und Vogel, FS Schroeder, S. 884; strikt abl. Scalia, in: United States Supreme Court, Department of Revenue of Montana v. Kurth Ranch et al., 511 U.S. 767, 798 ff. (1994); ders. in: United States v. Ursery, 517 U.S. 267, 297 (1996), demzufolge das double jeopardy des 5. Amendment amVerf sich allein gegen die Mehrheit von Verfahren, nicht gegen die Mehrheit von Strafen richtet. 1443 Siehe bereits Griolet, Chose jugée, S. 180. 1444 Teil 1 Kap. 2 C. VI. 6. d) (S. 312 ff.). Nahestehend die Rechtskraftbegründung von Roberts, CLR 2000, S. 954, derzufolge der Freigesprochene dem Staat sagen dürfe: „My citizen’s duty is done, and I am beyond your reach.“ 1445 Teil 1 Kap. 2 C. VI. 2. d) dd) (S. 251). 1446 Zusätzlich zu oben vgl. noch Nieva Fenoll, Cosa juzgada I, S. 128 ff. 1447 Es wird behauptet, dass in dieser Annahme die Wurzel der Bezeichnung „materielle“ Rechtskraft liege, Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 266; Henkel, Strafverfah-

1. Kap.: Die Begründung der materiellen Rechtskraft

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Schuld nicht vorhanden ist oder sich nicht erweisen lässt, rehabilitiert, und insofern sie ein Ergebnis aus Gründen der Verfahrensgerechtigkeit für unveränderbar erklärt, ist sie auch prozessrechtlich. Die Rechtskraft hat also eine doppelte Natur.1448 Die Richtigkeit der These von der doppelten Rechtsnatur der Rechtskraft ist deshalb unabhängig von irgendwelchen Kontingenzen des Revisionsrechts.1449 Wie gesagt, wird man sich erst in den anschließenden Abschnitten mit den Details beschäftigen. Dennoch erscheint es angebracht, einen dogmengeschichtlich bedeutsamen Einwand gegen die These der Schuldtilgung wenigstens zu erwähnen, nämlich die Behauptung, dass Schuld erst durch die Vollstreckung der Strafe getilgt werde und nicht schon durch die bloße Entscheidung.1450 Die Behauptung ist richtig; sie vermag aber nicht den hier dargelegten Zusammenhang in Frage zu stellen, sondern zwingt nur zu einer Präzisierung des Verhältnisses zwischen Schuldtilgung, Schuldspruch und Strafvollstreckung, die u. Kap. 3 (S. 636 ff.) nachgeholt werden soll.1451

rensrecht, S. 385; klar bei Oster, Rechtskraft, S. 7: materielle Rechtskraft als „endgültige Erledigung des staatlichen Strafanspruchs“. 1448 Eine doppelte Rechtsnatur der Rechtskraft vertraten auch Hasenbalg, Öffentliche Klage, S. 204; Schlosky, GA 1927, S. 285; Peters, ZStW 68 (1956), S. 388 f.; ders. Strafprozeß, S. 11 und insb. das Reichsgericht (RGSt 13, 146; 25, 27 [29]; 35, 367 [370]; 41, 152 [153]; 43, 60 [61 f.]; 49, 170; 62, 153 [154]; 72, 99 [102]); auch der BGH in frühen Entscheidungen, etwa BGHSt 5, 323 (328); 20, 292 (293); BGH NJW 1952, 432; heute vor allem Pfeiffer/Hanich, KK-StPO Einl Rn. 170; und Schroeder, JuS 1997, S. 229, der von einer „gespaltenen Natur“ des ne bis in idem-Grundsatzes spricht: Er sei materiellrechtlich, was das Verbot der Verhängung einer neuen Strafe anbelangt, und prozessrechtlich, wenn es um ein neues Verfahren nach Freispruch geht (ihm zust. Birklbauer, Prozessgegenstand, S. 85 f.). In der italienischen Lit. meint D’Orazi, Revisione, S. 125 ff., die Rechtskraft sei bei Verurteilungen materiellrechtlich, bei anderen Urteilen prozessrechtlich (zust. Lucarelli, Giudicato, S. 7); s. a. Manzini, Trattato IV, S. 442, in der Sache eigentlich abw. Nahestehend auch Anonym, StLR 11 (1959), S. 736 ff.; Spencer Bower/Kingcome Turner, Res Judicata, S. 393 f. (über die unterschiedlichen Fundamente der sog. pleas of autrefois acquit und autrefois convict); und Barja de Quiroga, Tratado, S. 205 (Schuldprinzip und Rechtssicherheit als Grundlagen des ne bis in idem-Grundsatzes). 1449 Denn als man noch nicht über die Kategorie der Verfahrenshindernisse verfügte, diente die materiellrechtliche Rechtsnatur der materiellen Rechtskraft dem Reichsgericht als Begründung, weshalb es ohne die für Verfahrensrügen geltenden Beschränkungen (heute § 344 Abs. 2 StPO) auf die Frage eingehen dürfe, s. RGSt 35, 367 (370); 49, 170. Dies lud zu dem Einwand ein, diese Konstruktion sei wegen der Lehre der Verfahrenshindernisse nicht mehr erforderlich, etwa Eb. Schmidt, Lehrkommentar I Rn. 279; Gantzer, Rechtskraft, S. 117; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 33. 1450 Rocco, Cosa giudicata I, S. 221; Binding, Strafurteil, S. 327 (zust. Liu, Identität der Tat, S. 92 Fn. 11); Spinellis, Rechtskraft, S. 38 f.; Eb. Schmidt, Lehrkommentar I Rn. 277. 1451 In der Sache ähnl. Peters, ZStW 68 (1956), S. 389.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

E. Fazit I. Zusammenfassung An erster Stelle sind begriffliche Präzisierungen vorgenommen worden. Materielle Rechtskraft ist die Unveränderbarkeit einer Entscheidung auch in weiteren Prozessen. Strukturell lässt sich die rechtskräftige Entscheidung beschreiben als Unabhängigkeit der Entscheidung von ihren faktischen und rechtlichen Grundlagen; ihre anfängliche Unrichtigkeit oder ihr nachträglicher Wegfall ändert nichts an der Gültigkeit und dem Bestand der Entscheidung. Die Wirkung der materiellen Rechtskraft ist das Verbot, erneut eine Entscheidung über die Sache zu fällen (sog. Sperrwirkung). Es lassen sich zwei Stärken der Sperrwirkung unterscheiden, je nachdem, unter welchen Bedingungen die Veränderung der an sich unveränderbaren Entscheidung erfolgen darf: Bei der vollen oder normalen Rechtskraft darf dies, wenn überhaupt, nur unter strengeren Bedingungen erfolgen, bei der beschränkten Rechtskraft ist das hingegen bereits unter relativ leichteren Bedingungen möglich. Die einzelnen in Lehre und Rechtsprechung kursierenden Theorien zur Rechtskraft sind kritisch untersucht worden. Begriffskonstruktivistischen Theorien geht es darum, den prima facie Widerspruch zwischen materiellem Recht und materiell-rechtswidriger rechtskräftiger Entscheidung zu überwinden. Die materiellrechtliche Rechtskrafttheorie erblickt in der Rechtskraft eine Veränderung des materiellen Rechts; der wegen Mordes Verurteilte ist juristisch ein Mörder, auch dann, wenn er realiter nichts dergleichen getan hat. Die Lehre Goldschmidts versteht die Rechtskraft als sog. Gerichtskraft, die faktisch mächtiger sei als das, was das materielle Recht befohlen hat. Nach der prozessualen Gestaltungstheorie ist die rechtskräftige Entscheidung eine Konkretisierung des abstrakten materiellrechtlichen Programms. Diese Theorien verkürzen das Problem der materiellrechtlich unrichtigen, jedoch unveränderbaren Entscheidung, das im Fehlurteil seine tragische Zuspitzung findet, zu einer Frage logisch widerspruchsfreier Begriffsbildung. Wenigstens in dieser Hinsicht scheint die prozessuale Rechtskrafttheorie überlegen zu sein, die, weil sie die Rechtskraft rein prozessrechtlich deutet, dies nicht versucht und von der Möglichkeit eines Widerstreits zwischen materiellem Recht und Prozessrecht ausgeht. Die autoritätsorientierte Rechtskraftbegründung ist ein nackter Ausdruck eines prozessualen Machiavellismus. Unbefriedigend ist auch das Verständnis der Rechtskraft als Wahrheit, das letztlich zu einer Preisgabe der Rechtskraft führen sollte, oder als Fiktion der Wahrheit, das eigentlich keine Legitimation liefert, sondern einer solchen erst recht bedarf. Das herrschende Verständnis der Rechtskraft als Sieg der Rechtssicherheit über die Gerechtigkeit ist deshalb unbefriedigend, weil es mit einer kollektivistischen Betrachtung verwandt ist und insbesondere, weil in seiner Konsequenz eine weitgehende Schwächung der Rechtskraft liegt, je nachdem, wie stark man die Gerechtigkeitsbelange auf der Gegenseite

1. Kap.: Die Begründung der materiellen Rechtskraft

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einschätzt. Vergleichbare Probleme hat die Deutung der Rechtskraft als Gebot des Rechtsfriedens, zusätzlich zu den Schwierigkeiten, die man bereits im straftheoretischen Abschnitt beim Begriff des Rechtsfriedens ausgemacht hat. Der Gedanke, dass die Rechtskraft dem Schutz des Beschuldigten dienen soll, lässt nicht nur unerklärt, wieso sich die Sperrwirkung auch gegen ihn richtet, sondern vor allem und fundamentaler, weshalb sein Interesse, nicht erneut gestört zu werden, stärker sein soll als das Interesse der Gesellschaft daran, einen möglichen Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. Der Gedanke der Sanktionierung der Verfolgungsinstanzen verkennt, dass diese nichts verlieren, wenn ein Schuldiger nicht mehr verfolgt und bestraft werden darf. Eine in allen Hinsichten befriedigende Legitimierung der Rechtskraft folgt ungezwungen aus der o. Teil 1 Kap. 2 entwickelten Strafprozesstheorie. Die Gründe, weshalb das Ergebnis des Verfahrens unveränderbar ist, sind direkte Ausflüsse der Gründe, weshalb es ein Strafverfahren geben darf. Verfahren dürfen anfangen, unter der Bedingung, dass sie enden sollen, und dies auf immer. Es ergibt sich hieraus eine dreisäulige Rechtskraftlehre: Beim Verurteilten ergibt sich die Rechtskraft aus dem Gedanken der Schuldtilgung; beim nicht Verurteilten aus dem Gedanken der Rehabilitierung. Der Grund aber, weshalb sich auch der Beschuldigte mit dem Ergebnis des Verfahrens abfinden muss, ist die Verfahrensgerechtigkeit. II. Abschließende Bemerkungen zur Begründung der Rechtskraft im Strafverfahren Am Ende des vorliegenden Abschnitts sei das Zeichnen einiger Entwicklungslinien gestattet. Die wissenschaftlich gebotene Darstellung bringt gerade wegen der Fülle des Materials, das darin Berücksichtigung findet, die Gefahr mit sich, dass man, wie es umgangssprachlich heißt, vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht. Jetzt soll es darum gehen, in gewagten, groben Pinselstrichen eine Art impressionistischen Gesamteindruck zu gewinnen. Das Problem der Rechtskraft wurde in der Geschichte der Prozessrechtswissenschaft in erster Linie als Problem eines prima facie Widerspruchs zu den eigentlichen Prozesszwecken gedeutet. In erster Linie ging es darum, zu erklären, wieso man sich mit einer suboptimalen Erreichung von Wahrheit und Gerechtigkeit begnügt. Kann es sein, dass ein Verfahren, das im Dienst des materiellen Rechtes steht, dagegen rebelliert? Unter der Prämisse der dienenden Rolle des Verfahrens wird die Rechtskraft rechtfertigungsbedürftig, sie gerät in die Defensive. Folgerichtig kannte das gemeinrechtliche Inquistionsverfahren, das sich kompromisslos der Verwirklichung der Gerechtigkeit verpflichtete, so gut wie keine Rechtskraft. So lässt sich auch das Bedürfnis deuten, das hinter dem ganz herrschenden Konzept der Rechtskraft als Gebot der Rechtssicherheit steht. Gerade weil es bei

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

der Rechtskraft darum geht, zu erklären, wieso man auf Wahrheit und Gerechtigkeit verzichtet, die beide in erster Linie1452 gesellschaftsorientierte Zwecke oder Güter sind, musste man nach einem weiteren gesellschaftsorientierten Gut suchen. Man bemühte sich also darum, der Gesellschaft gegenüber zu erklären, weshalb sie sich mit der wahrheitswidrigen oder ungerechten Entscheidung zu begnügen habe. Ähnlich verhält es sich mit der Zurückführung der Rechtskraft auf die Idee des Rechtsfriedens, die materiell keine großen Unterschiede zur vorherigen Begründung aufweist, sondern eher einen neuen „gegensatzaufhebenden“ Dachbegriff anbietet, um die widerstreitenden Zwecksetzungen wenigstens verbal zu versöhnen. Aus einer solchen Perspektive ist es auch nur folgerichtig, wenn die erste wichtige Ansicht, die die Perspektive des Individuums zu ihrem Ausgangspunkt zu machen suchte, nämlich die Lehre von der Rechtskraft als Beschuldigtenschutz, sich selbst als Ausdruck der Billigkeit einstuft. Denn das strenge Recht kennt nur sozialbezogene Belange. Die Berücksichtigung dessen, was ein Individuum möchte, beruht auf Wohlwollen. Gerade weil diese Ansätze Antworten auf eine Frage sind, die bereits durch die Art und Weise ihrer Stellung die Rechtskraft in die Defensive drängt, müssen sie die Rechtskraft resignierend als kleineres Übel, als Notbehelf (so die Verteidiger des Konzepts der Rechtskraft als Rechtssicherheit) hinnehmen oder bestenfalls als Sache der Billigkeit begreifen. In ihrer Konsequenz läge es deshalb, die Rechtskraft viel flexibler zu deuten, als man es tut und wohl auch tun sollte, was man im Laufe der Geschichte des Strafprozessrechts mit genau dieser Argumentation immer wieder auch vertreten hat. Die Rechtsfriedenslehre versucht diese Spannung dadurch aufzuheben, dass sie sich einer argumentativ unsauberen Methode bedient. Konkret äußerte sich diese Einstellung in den immer wieder bestehenden Bestrebungen, den Tatbegriff einzuengen, die Wiederaufnahme zuungunsten des Beschuldigten unter erleichterten Bedingungen zuzulassen, oder, wie einige nationalsozialistisch orientierte Gerichtsentscheidungen es unverhohlen getan haben, darin, dass man eine zweite Verfolgung derselben Tat wegen eines überwiegenden sozialen oder staatlichen Interesses schlicht für zulässig erklärte. Hier wurde dagegen versucht, diese miteinander eng verbundenen Unzulänglichkeiten der herrschenden Auffassung zu überwinden. Zunächst ging es darum, ein Verfahrensverständnis zu gewinnen, das zwar die Verbindung zum materiellen Recht nicht zerschneidet, aber das Verfahren zum Teil als eigenständig relevante Größe betrachtet. Das Spannungsverhältnis zwischen Rechtskraft und Prozesszwecken relativiert sich, wenn nicht nur Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern auch Verfahrensgerechtigkeit und Rehabilitierung von Bedeutung sind. Dadurch gerät zugleich das Individuum als eigenständiger Rechtsträger in das Blickfeld. 1452 Weil beide auch eine Beziehung zum individualbezogenen Schuldprinzip aufweisen, s. o. Teil 1 Kap. 2 C. III. 3. (S. 181 f.), VI. 2. c) (S. 240 f.).

1. Kap.: Die Begründung der materiellen Rechtskraft

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Es geht nicht mehr darum, zu erklären, welchen Nutzen die Gesellschaft davon hat, dass sie rechtskräftige Entscheidungen unverändert lässt, sondern darum, ob sie nicht dem Individuum gegenüber dazu verpflichtet ist, etwa weil sie versprochen hat, ihn nach Abschluss des Verfahrens zu rehabilitieren. Zuletzt gelingt es auch, die Rechtskraft weder als Notbehelf noch als Billigkeitssache, sondern als Figur strengen Rechts zu begreifen, die wegen ihrer Fundierung insbesondere auf Rechte des Individuums auch nicht einer relativierenden Abwägung zugänglich sein darf. Es wird sich zeigen, dass nur ein solcher Ansatz der Rechtskraft diejenige Kraft zuerkennen kann, die wir der Rechtskraft zumessen wollen und auch sollen, und dass allein er dazu in der Lage sein wird, eine tragfähige, vor allem nicht instrumentalisierende Basis für die Bewältigung der einzelnen Probleme der materiellen Rechtskraft zu bieten. III. Überleitung zu den nächsten Kapiteln Die angebotene strafprozesstheoretische Grundlegung, auf deren Grundlage eine dreisäulige Theorie der Rechtskraft entwickelt wurde, ermöglicht eine fundierte Behandlung der o. (Einleitung, S. 33) genannten klassischen Fragen der materiellen Rechtskraft im Strafverfahren. Im Anschluss soll die Sperrwirkung der materiellen Rechtskraft einer eingehenden Untersuchung unterzogen werden. An erster Stelle geht es um die die Tatbestandsseite betreffenden Fragen, also um die Bestimmung der strafprozessualen Tat (2. Kapitel) und anschließend um die Frage nach dem, was dieser Tat passiert sein muss, damit die Sperrwirkung eintritt, also die Frage nach dem Strafbegriff und den rechtskraftfähigen prozessabschließenden Entscheidungen (3. und 4. Kapitel). Es ergibt sich die bereits o. (Einleitung, S. 39 f.) angemerkte Schwierigkeit, dass je nachdem, wie man den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sprachlich bestimmt, sich andere Tatbestandsmerkmale anbieten. So ist es für denjenigen, der über den ne bis in idem-Grundsatz schreibt, und diesen im Anschluss an Art. 103 Abs. 3 GG als Verbot versteht, dieselbe Tat aufgrund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals zu bestrafen, naheliegend, drei Merkmale zu untersuchen, die prozessuale Tat bzw. seine Identität, die Bestrafung und die allgemeinen Strafgesetze.1453 Andere sprachen von einer materiellen und einer formellen Voraussetzung für das Eingreifen der ne bis in idem-Rechtsfolge, und meinten damit einen Gegenstand, die prozessuale Tat, und eine bestimmten Anforderungen genügende prozessuale Entscheidung.1454 Diese Umschreibung, die nicht nur für den den Beschuldigten begünstigenden ne bis in idem-Grundsatz, sondern auch für die insofern doppelrelevante 1453 Genauso einige GG-Kommentare, etwa Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck-GG, Art. 103 Rn. 202 ff.; Kunig, v. Münch/Kunig-GG Art. 103 Rn. 38 ff.; ähnl. Schmidt-Aßmann, M/D-GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 281 ff. (Tatbegriff, Allgemeine Strafgesetze, Doppelbestrafung, Deutsche Gerichtsbarkeit). 1454 So M. Berner, Ne bis in idem, S. 4, 48; Zitzlaff, GA 1894, S. 208.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

materielle Rechtskraft passt,1455 wird hier vorgezogen, mit der Verkomplizierung, dass wir auch untersuchen müssen, wann Schuld getilgt ist, also was Strafe ist. Es wird sich auch zeigen, dass das Merkmal der „allgemeinen Strafgesetze“, von dem Art. 103 Abs. 3 GG ausgeht, eher klarstellende Bedeutung auf der positivrechtlichen Ebene hat, so dass für dieses Merkmal nichts verbleibt, was Gegenstand besonderer Untersuchung sein müsste. In einem weiteren Schritt wird man sich der Rechtsfolgenseite des Instituts der materiellen Rechtskraft zuwenden, also der näheren Bestimmung der Sperrwirkung, um somit zu klären zu versuchen, was genau gesperrt wird (5. Kapitel). An letzter Stelle ist zu untersuchen, ob und unter welchen Bedingungen die eingetretene Rechtsfolge durch gegenläufige Erwägungen außer Kraft gesetzt werden kann, m. a. W. unter welchen Bedingungen eine Wiederaufnahme des Verfahrens möglich ist (6. Kapitel). In den folgenden Kapiteln wird das Anliegen, eine universelle Theorie zu entwickeln, die aber einen Beitrag zur Lösung der Fragen des deutschen positiven Rechts liefert, auf die Probe gestellt. Ab jetzt wird man also an bestimmten Stellen von den Höhen der theoretischen Reflexion zu den nicht weniger anregenden Fragen des Umgangs mit der in Deutschland geltenden Rechtslage umsteigen müssen, m. a. W. die vorpositive Theorie ins positive Recht zu übersetzen. 2. Kapitel

Der Begriff der strafprozessualen Tat „Der alte Spezialinquirent mit seiner absolut freien ungebundenen Marschroute will nicht sterben. Er muß aber schließlich doch umgebracht werden! Diese Pflicht haben wir ihm gegenüber überkommen!“ (Binding, Strafurteil, S. 332).

A. Einleitende Erwägungen Die erste der „klassischen“ Fragen der materiellen Rechtskraft, die oben angesprochen wurden (Einleitung [S. 33 f.]), betrifft also den Bezugspunkt der Sperrwirkung. Worüber darf keine zweite Entscheidung gefällt werden? Präziser: Worüber ist bereits eine Erstentscheidung oder sogar eine Strafe gefällt worden? Es liegt auf der Hand, dass die Verurteilung und Vollstreckung wegen eines Raubes dem Betroffenen noch lange nicht die Freiheit davor bietet, für eine viele Jahre später begangene Tötung zur Verantwortung gezogen zu werden. Die der materiellen Rechtskraft entspringende Sperrwirkung hat nur die Tat zum Gegenstand, um die es im Erstverfahren ging. 1455

Rocco, Cosa giudicata I, S. 14; ders. Decisione giudiziaria penale, S. 67 f.

2. Kap.: Der Begriff der strafprozessualen Tat

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Das vorliegende Kapitel fängt mit einer theoretischen Grundlegung an, deren Sinn es ist, den Tatbegriff als Ausfluss des Anklageprinzips zu kennzeichnen (u. B.). Vor allem soll aus der im 1. Teil entwickelten Strafprozesstheorie eine neue, vertiefte Begründung des Anklageprinzips gewonnen werden, aus der unmittelbare Zwänge für die äußersten Grenzen des prozessualen Tatbegriffs folgen werden. Nach einer Darstellung und Kritik der zur Bestimmung des Tatbegriffs vorhandenen Ansätze (u. C. [S. 427 ff.]) wird der eigene Tatbegriff entwickelt (u. D. [S. 468 ff.]) und an den einzelnen Fallgruppen, um die in der deutschen Diskussion gerungen wird, erprobt (u. E. [S. 545 ff.]).

B. Theoretische Grundlegung I. Die strafprozessuale Tat als Gegenstand des Strafverfahrens; Prozessgegenstand und Prozessstoff Der Begriff der Tat im prozessualen Sinne bzw. des Prozessgegenstands dürfte „eines der meist diskutierten Probleme des Strafverfahrensrechts“ sein.1456 Anzumerken ist zugleich die bedauerliche Unklarheit über die Fragestellung, die mit dem Begriff des Prozessgegenstands überhaupt bezeichnet wird. Selten gibt man sich die Mühe, zu bestimmen, was für eine Fragestellung mit der Bezeichnung „Prozessgegenstand“ gemeint ist;1457 meistens geht es bereits um die Antworten. Denn Gegenstand des Verfahrens im vorliegenden Sinne kann nicht alles sein, was im Verfahren zur Sprache kommt. Zum Beispiel kann es sein, dass A in einem Verfahren über Körperverletzungen, die er B zugefügt haben soll, wegen Notwehr freigesprochen wird. Später führt man ein Verfahren gegen B, der sich auch auf Notwehr beruft; es sieht nicht so aus, als würde man sagen können, dass das nicht gehe, weil die Frage bereits Gegenstand des Erstverfahrens gewesen sei, das sie abgelehnt haben muss (denn es gibt keine Notwehr gegen Notwehr). Ähnlich wird man über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Beschuldigten und sein Verhalten nach der Tat (§ 46 Abs. 2 StGB) im Verfahren diskutieren und eventuell Beweise erheben müssen; sie sind nicht Gegenstand des Strafverfahrens im hier gemeinten Sinne. M. a.W.: Der Verfahrensgegenstand muss einen Ausschnitt dessen sein, was im Verfahren thematisiert wird. Die Summe der Fragen, die in einem Verfahren zur Sprache kommen, soll hier als Verfahrensstoff bezeichnet werden. Was meint man demgegenüber mit dem Verfahrensgegenstand? Zu den wenigen, die eine saubere Bestimmung des Verfahrensgegenstands vorgeschlagen haben, gehört Bertel: Prozessgegenstand ist seiner Auffassung nach das „Thema, über das in diesem Verfahren eine Entscheidung ergehen soll, des1456 1457

det.

Neuhaus, Tatbegriff, S. 143. Vgl. auch Grünwald, Teilrechtskraft, S. 52 ff., der vier Bedeutungen unterschei-

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

sen Entscheidung das Ziel des Verfahrens ist“.1458 Der Vorteil dieser Definition ist ihre inhaltliche Neutralität, also ihr Vermögen, die durch das Wort Prozessgegenstand gemeinte Fragestellung zu bezeichnen, ohne zugleich eine Antwort darauf anzubieten. Ihr wollen wir uns deshalb anschließen. Denn Antworten gibt es bekanntlich viele. Zu den Zeiten des begriffskonstruktivistischen Ansatzes und der allgemeinen Prozessrechtslehre (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. II. 1. [S. 135 ff.]) gediehen Kontroversen über den Prozessgegenstand,1459 den man entweder eher normativ oder eher faktisch verstand. Zu den eher normativen gehören etwa die Bestimmungen, die ihn als ein „Strafrechtsverhältnis“,1460 einen „Strafanspruch“,1461 einen „Komplex hypothetischer Strafrechte“,1462 eine „problematische Strafpflicht“,1463 ein „anklägerisches Verlangen nach Untersuchung eines Tatverdachts“ 1464 bzw. ein „Verlangen . . ., daß die staatliche Justiz ihre Strafpflicht erfülle“ deuteten.1465 Zu den eher faktischen Ansätzen gehören diejenigen, die den Prozessgegenstand als eine „Lebensangelegenheit (,Sache‘, causa, res), um die sich der Prozeß dreht“,1466 eine „Strafsache“,1467 oder eine 1458 Bertel, Identität der Tat, S. 1; man soll hier unter Ziel des Verfahrens nicht dieselbe Fragestellung verstehen, von der o. Teil 1 Kap. 2 C. III. (Bd. 1 S. 133 ff.) ausführlich die Rede war. Ähnlich, aber etwas ungenauer Beling, ArchMilR 2 (1911), S. 337: „Strafssache, mit der sich das Gericht in dem konkreten Prozeß zu befassen hat, und über die hinaus sich das Gericht der prozessualen Tätigkeit zu enthalten hat“; and. und schlechter ders. Reichstrafprozeßrecht, S. 104 f.: „Lebensangelegenheit (,Sache‘, causa, res), um die sich der Prozeß dreht, deren Erledigung (durch ,Sachentscheidung‘) die eigentliche Aufgabe des Prozesses ist“ – denn mit der Erwähnung einer Lebensangelegenheit möchte sich Beling der herrschenden Meinung, die die strafprozessuale Tat als einen geschichtlichen Vorgang versteht, anschließen (Nachw. u. C. IV. [S. 431 ff.]); 27. Etwas and. Barthel, Begriff der Tat, S. 25, 28: „Gegenstand von Untersuchung und Sperrwirkung“; Birklbauer, Prozessgegenstand, S. 27: „Sachverhalt (jene ,Straftat‘) sein, der (die) auf seine (ihre) materiellrechtliche Strafbarkeit hin beurteilt wird“. 1459 Vgl. zusätzlich zu den in den folgenden Fn. Zitierten Liu, Identität der Tat, S. 53 ff., mit akribischen begriffsjuristischen Unterscheidungen; Gantzer, Rechtskraft, S. 93 ff.; H. Zimmermann, Anklageerhebung, S. 109 ff.; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 82 ff. 1460 Binding, Strafurteil, S. 329. 1461 Schanze, ZStW 4 (1884), S. 446; Birkmeyer, Strafprozeßrecht, S. 3, 63; Asencio Mellado, Principio acusatorio, S. 31; Cortés Domínguez, Derecho procesal penal, S. 157, 159. 1462 Bertel, Identität der Tat, S. 1 ff., insb. 3; ähnl. Gantzer, Rechtskraft, S. 107: „Behauptung eines staatlichen Strafanspruchs“; Baumann, ZZP 69 (1956), S. 369, aus der Sicht der allgemeinen Prozessrechtslehre: „Behauptung eines Rechts aufgrund eines bestimmten Tatsachenkomplexes“ (ihm folgend Molière, Rechtskraft des Bußgeldbeschlusses, S. 47 f.); s. a. Bettiol, Correlazione, S. 16: „hypothetischer Strafanspruch“, zugleich auch die „Tat“ (S. 17 f.). 1463 Gerland, Strafprozeß, S. 10. 1464 Noftz, Prozeßgegenstand, S. 37 f. 1465 Vogler, Rechtskraft, S. 81; s. a. S. 82. 1466 Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 104. 1467 Spinellis, Rechtskraft, S. 58.

2. Kap.: Der Begriff der strafprozessualen Tat

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„Tat“ 1468 bzw. einen „bestimmten Sachverhalt (Lebensvorgang, historisches Ereignis) unter dem Gesichtspunkt, ob und inwieweit in ihm strafbare Handlungen bestimmter Personen enthalten sind“, verstanden.1469 Man diskutierte, wie es überhaupt logisch zum Freispruch kommen könne, ob ein Freispruch nicht bedeute, dass ein Verfahren ohne Gegenstand erfolgt sei.1470 In Ländern, in denen der konstruktivistische Ansatz und die allgemeine Prozessrechtslehre prominent sind, wird diese Diskussion immer noch eifrig geführt.1471 Die vorliegende Arbeit, die materielle Gründe und nicht formale Konstruktionen in den Vordergrund stellt (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. II. 1. [S. 141 ff.]), soll indes diese Diskussionen weitgehend außer Betracht lassen. Unser Ausgangspunkt sollen also nicht begriffskonstruktivistische, sondern inhaltliche Überlegungen sein, vor allem die, die im Rahmen der vorherigen Abschnitte dieser Arbeit entwickelt worden sind. Strafverfahren werden geführt, damit Straftaten nicht ungestraft bleiben. Missachtete Strafandrohungen müssen durch Strafzufügung in ihrem Ernst bestätigt werden (s. o. Teil 1 Kap. 2 III. 2. [S. 167 f.]). Das bedeutet, dass es in jedem Strafverfahren um Straftaten gehen wird. Ob Straftaten realiter vorliegen, wird sich – wenn überhaupt – erst am Ende des Verfahrens herausstellen. Im Verfahren geht es um mögliche Straftaten – also um einen Verdacht. Die qualifizierte Verdächtigung, die das Strafverfahren konstituiert, hat also die mögliche Begehung von Straftaten zum Gegenstand.1472 Die Sperrwirkung hat notwendig diese Straftaten, die Gegenstand der qualifizierten Verdächtigung waren, zum Bezugspunkt. Nur über diese Straftaten wird 1468 E. Wolter, Rechtskraft, S. 27; Barthel, Begriff der Tat, S. 13, 25, 29; Souto de Moura, Objecto do processo, S. 21; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 89; wohl auch Barja de Quiroga, Tratado, S. 96. Siehe auch Barbarino, Rechtskraft, S. 83: Tat und Strafanspruch als Prozessgegenstand. 1469 Eb. Schmidt, Lehrkommentar I, Rn. 58. 1470 Diesen Einwand spielen Liu, Identität der Tat, S. 9 ff.; Vogler, Rechtskraft, S. 77; Noftz, Prozeßgegenstand, S. 37 gegen bestimmte Definitionen des Verfahrensgegenstandes aus. Es mag sein, dass im Hintergrund dieser konstruktivistischen Diskussion eine reichsgerichtliche These über die inzwischen in Deutschland obsolete fortgesetzte Handlung stand (deutlich bei F. Frank, Identität der Tat, S. 9 ff.): weil ein Freispruch besage, dass kein Fortsetzungszusammenhang vorliege, und die Strafklage nur bezüglich der ausdrücklich angeklagten Teilakte des fortgesetzten Delikts verbraucht sei (s. u. F. III. 7. [S. 593, m. Nachw. Fn. 2349]). 1471 Vgl. z. B. die 2006 erschienene Monografie von Nieva Fenoll, Cosa juzgada I, S. 92 ff.; und die 2013 in dritter Auflage erschiene Monografie von Badaró, Correlação, S. 64 ff. (die zudem die Diskussion über den Gegenstand des Zivilprozessrechts auf 20 Seiten aufarbeitet, S. 44–63). In Deutschland bemühte man sich dagegen selten um eine prozessübergreifende Bestimmung des Prozessgegenstands; in diesem Sinne insb. Baumann, ZZP 69 (1956), S. 356 ff. (zu ihm krit. o. Fn. 469); Bruns, FS SchmidtRimpler, S. 237 ff. (der sich freilich eher am Rande mit dem Strafprozess beschäftigt, z. B. Fn. 2, 4, 11). 1472 Ähnl. Paulus, FS Würzburger Juristenfakultät, S. 699, unter Ablehnung früherer konstruktivistischer Theorien über den Prozessgegenstand.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

eine Verurteilung ergehen können, die zusammen mit ihrer Vollstreckung schuldtilgende Wirkung haben kann; und nur über diese Straftaten wird ein Verfahren durchgeführt. Die Prozessduldungspflicht sowohl des Schuldigen (wegen seiner Schuld) als auch des Unschuldigen (wegen des Versprechens von Rehabilitierung) wird also nur in Bezug auf diese Straftaten erfüllt, und nur zu diesen Straftaten ist er auch gehört worden (Verfahrensgerechtigkeit). Nur in dieser Hinsicht hat er ein Strafleiden bzw. ein Verfahren dulden müssen, so dass seine Schuld nur in dieser Hinsicht getilgt werden kann bzw. seine Unbescholtenheit nur in dieser Hinsicht der Rehabilitierung bedarf und er auch nur in dieser Hinsicht das Ergebnis des Verfahrens hinzunehmen hat. II. Tatbegriff und Tatstrafrecht Die qualifizierte Verdächtigung, so unser Ausgangspunkt, bezieht sich auf die Begehung einer Straftat. Diese scheinbar selbstverständliche Behauptung beruht ihrerseits auf anspruchsvollen Prämissen. Denn logisch wäre es an sich möglich, jemanden unter den Verdacht zu stellen, nicht bloß eine Straftat begangen zu haben, sondern ein Krimineller zu sein. Man könnte Prozesse führen, nicht um zu erfahren, was für Taten jemand begangen hat, sondern was für ein Mensch er ist. Dass wir dies nicht tun, obwohl es immer wieder gefordert worden ist,1473 beruht darauf, dass unser materielles Strafrecht ein Tatstrafrecht ist. Nur ein Tatstrafrecht kann beanspruchen, legitimes Strafrecht zu verkörpern.1474 Deshalb muss sich die universelle Strafverfahrenswissenschaft, als Wissenschaft der Unterscheidung von Recht und Macht (s. o. Teil 1 Kap. 1 D. [S. 116]), nur mit Verdächtigungen beschäftigen, die Taten zum Gegenstand haben. Eine Verdächtigung, die sich auf einen Charakterzug oder -eigenschaft bezieht,1475 ist von vornherein illegitim.1476 1473 Etwa Behrendt, FS R. Schmitt, S. 21, 31: Verfahrensgegenstand soll anstelle der Tat der „spezifische seelische Strukturdefekt des Probanden“ sein (S. 21)! Siehe auch die Rechtskraftkonzeptionen der Anhänger von täterstrafrechtlichen Lehren o. Kap. 1 C. VII. (S. 366 ff.). 1474 Greco, Lebendiges, S. 190. 1475 Das mittelalterliche Phänomen der sog. Leumundsverfahren gegen „schädliche Leute“ (insb. Art. 6 CCC), war aber kein auf den Charakter gerichteter Prozess, sondern hatte konkrete Taten zum Gegenstand, vgl. zum Ganzen Biener, Beiträge, S. 138 ff.; Esmein, Histoire, S. 306 f.; Eb. Schmidt, FS Siber, S. 141 ff.; ders. Vom Juristenstande, S. 15; Jerouscheck, ZStW 104 (1992), S. 357 f. m.w. Nachw.; in dem Sinne, dass das Inquisitionsverfahren aus dem sog. Infamationsverfahren entstanden sei, ausf. Trusen, ZRG 105 (1988), S. 179 ff., 208, 210, 229 f. Nach dem gemeinrechtlichen Verfahren war der Ruf einer schlechten Lebensführung (infamia) aber durchaus ein Grund, gegen jemanden eine Untersuchung zu eröffnen (etwa Clarus, Receptarum sententiarum, Liber V, § Fin., Quaestio VI Nr. 1, Quaestio XXI Nr. 1; s. a. Eb. Schmidt, FS Siber, S. 143 bzgl. der Carolina). 1476 Insofern ist Naucke, Tatverdacht, S. 304 recht zu geben, wenn er sagt, dass der Begriff des Verdachts einen Begriff des Tatstrafrechts darstellt. Einen Beleg e contrario

2. Kap.: Der Begriff der strafprozessualen Tat

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III. Tatbegriff und Anklageprinzip 1. Erste Annäherung: Die Unbestimmtheit des Verfahrensgegenstands als Komponente der Allmacht des Inquirenten Im Tatstrafrecht geht es um Straftaten; das einem Tatstrafrecht zugeordnete Strafverfahren verdächtigt jemanden der Begehung von Straftaten. Dass sich das Verfahren nicht nur für Straftaten, sondern für bestimmte Straftaten interessiert, ist auch keine Selbstverständlichkeit. Das ist nicht immer so gewesen. Eine Komponente der von den Kritikern des Inquisitionsverfahrens denunzierten Allmacht des Untersuchungsrichters bestand gerade darin, dass dieser aus eigener Initiative weitgehend ungebunden nach allen möglichen Straftaten eines Beschuldigten forschen durfte.1477 Repräsentativ ist die von Mittermaier, Zachariä und Savigny an dieser Praxis formulierte Kritik. Mittermaier fing einen dem Thema gewidmeten Beitrag mit der Klage an: „Zu den mit Recht gerügten Gebrechen unseres deutschen Strafprozesses gehört auch die große Ausdehnung, welche die Inquirenten häufig den Untersuchungen geben“. Es entstehe der Eindruck, „daß unsere Inquirenten jeden Inkulpaten, den irgend eine Veranlassung einmal in ihr Netz liefert, als einen Menschen betrachten, mit welchem sie ungehindert Experimente des Inquirierens machen dürften. Dadurch wird der Strafprozeß . . . zu einer wahren Plage, indem er ohne Noth und ohne Recht die Summe der Leiden der Angeklagten vermehrt“.1478 Diese Ausdehnung sei unter anderem deshalb bedenklich, weil sie „der wahren Beschaffenheit des Strafprozesses widerstreitet“: Denn „auch im Untersuchungsprozesse muß man annehmen, daß eine Anklage wegen des begangenen Verbrechens vorliege (. . .). Dehnt man aber willkürlich die Untersuchung auf jedes neue Verbrechen aus, dessen Spur sich irgendwo zeigt, so verliert der Strafprozeß seine Haltung und Grundlage, und ohne Schranke macht sich der Inquirent zu dem gefähr-

liefert auch Baumann, Grundbegriffe, S. 171, der versucht, aus seinem Bekenntnis zum Täterstrafrecht bedenkliche Aufschlüsse für den Tatbegriff zu ziehen. In diesem Sinne kann man von einer Täterneutralität der Verdächtigung sprechen (Lüttger, GA 1957, S. 201 f.). 1477 Zwar erinnert Paulus, FS Trusen, S. 310 an Art. 20 S. 1 CCC, der es nicht gestattete, einen über Delikte zu befragen, für die es an „redlich anzeygen“ fehlte. Wie u. 2. (S. 385 ff.) gezeigt werden soll, bestand der Kern der von der Reformbewegung formulierten Kritik nicht in der Erforderlichkeit oder Entbehrlichkeit von Anzeigen, in der heutigen Sprache: eines Anfangs- oder hinreichenden Verdachts, sondern in der Tatsache, dass der Richter aus eigener Initiative zu untersuchen beginnen durfte. 1478 Mittermaier, NArchCrimR 1819, S. 541 f.; s. a. ders. Mündlichkeit, S. 292 f., 298, der deshalb fordert, dass „wenn im Laufe der Untersuchung die Spur eines andern Vergehens sich ergibt, der Untersuchungsrichter die Akten dem Staatsanwalt mittheilen muß, und von diesem es abhängt, ob er auch auf die Verfolgung des neuen Vergehens seinen Antrag richtet“ (S. 293).

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

lichen Mittel der Unterdrückung bürgerlicher Freiheit“.1479 „Eine solche Jagd nach Verbrechen ist gefährlicher als die ehemalige Ketzerriecherei“.1480 Auch bei Zachariä ließen sich ähnliche Klagen vernehmen: „[D]urch die Formlosigkeit des deutschen Inquisition-Processes in der hervorgehobenen Beziehung begründeten Möglichkeit des willkührlichen Wechsels und der beliebigen Ausdehnung des Gegenstandes der Untersuchung“ komme es zu einer „Jagd nach Verbrechen“.1481 „Für den Anklageproceß gilt die, aus der Natur des accusatorischen Prinzips abzuleitende, sowie durch die Gleichheit der Partheirechte und durch die Stellung des Anklägers zum Angeklagten von selbst gegebene, auch durch das von der Funktion des Anklägers geschiedene richterliche Amt der Proceßleitung hinreichend gesicherte, Regel, daß die Verhandlung nicht über den ursprünglichen Gegenstand der Anklage nach ihrer faktischen und rechtlichen Begründung ausgedehnt werden darf, weder vom Richter, der ja dadurch in die Rolle des Anklägers eingreifen und sich zur Parthei machen würde, noch vom Ankläger, insofern er dadurch gewisse wesentliche Voraussetzungen in der gerichtlichen Verhandlung überspringen würde.“ 1482 Deshalb fordert Zachariä die Anerkennung der Regel: „daß die Verhandlung auf die in der Anklage enthaltenen Verbrechen beschränkt bleiben muß“.1483 Auch Savigny, der als Justizminister Preußens eine geschichtlich bedeutsame Denkschrift über „Die Prinzipienfragen in Beziehung auf eine neue StrafprozeßOrdnung“ vorlegte, nannte als wichtigen Vorzug eines Strafverfahrens mit einer die Rolle des Klägers übernehmenden Staatsanwaltschaft, „daß die Untersuchung durch die Anträge des öffentlichen Ministeriums eine bestimmte Richtung und Grenze erhält. Es ist bekannt, daß im reinen Inquisitionsprozesse die Inquirenten oft genug umhertasten, ohne selbst zu wissen, worauf sie eigentlich inquirieren sollen, oder die Untersuchung ohne Maaß auf ein Verbrechen ausdehnen, wozu sich nur der entfernteste Anschein ergiebt.“ 1484 1479

Mittermaier, NArchCrimR 1819, S. 543 f. Mittermaier, NArchCrimR 1819, S. 552. 1481 Zachariä, Gebrechen, S. 133. 1482 Zachariä, Gebrechen, S. 130. Selbe Kritik bei Biener, ZfgRW 12 (1844), S. 94 Fn. 52; ders. GS 7 (1855), S. 424; Köstlin, Wendepunkt, S. 71; Savigny, GA 1859, S. 585; später Binding, Strafprozeßprinzipien, S. 194. implizit auch Feuerbach, Geschwornen-Gericht, S. 226 ff. Dieser Zustand hatte freilich Verteidiger, etwa Abegg. Sein Hauptargument ist, dass der Beschuldigte nicht beschwert ist, und auch in seiner Verteidigung nicht beeinträchtigt wird: „In der Regel erfährt er (der Beschuldigte, L.G.) es ganz bestimmt und vornehmlich wird es ihm sein Gewissen – wenn er schuldig ist – sagen“ (Abegg, Beiträge zur Strafprocess-Gesetzgebung, S. 100 f., 101 Fn. 127 (Zitat). 1483 Zachariä, Gebrechen, S. 135. Für die Fallkonstellation der „Connexität“, also von Verbrechen, über die in einem einzigen Urteil entschieden werden muss, möchte er eine Ausnahme machen (S. 135 f.). In früheren Zeiten wurde sogar gefoltert, damit andere Taten gestanden wurden (Esmein, Histoire, S. 126 f.: „la liste des vols et des meurtres s’allonge indéfinement sous la plume du greffier“ [S. 127]). 1484 Savigny, GA 1859, S. 585. 1480

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2. Zur Begründung des Anklageprinzips In Deutschland hat sich insbesondere seit der Mitte des 19. Jahrhunderts allmählich die Überzeugung durchgesetzt, dass diese Zustände nicht akzeptabel seien. Eine Lösung wurde darin erblickt, dass man im Verfahren nicht eine einzige Person mit potentiell einander widerstreitenden Rollen überfrachtet. Das Individuum, das die Verdächtigung formuliert, darf nicht auch dasjenige sein, das über ihre Bestätigung urteilt. Mit anderen Worten: Nemo iudex sine actore; ne procedat ex officio. Derjenige, der die Verdächtigung äußert, ist judex inabilis, unfähig, über die Verdächtigung zu richten. Ankläger und Richter müssen unterschiedliche Personen sein. Jedes Strafverfahren muss also zusätzlich zu dem Beschuldigten mindestens zwei Teilnehmer kennen. Diese zwei Teilnehmer müssen unterschiedliche Aufgaben haben. Was die Initiierung des Verfahrens anbelangt, kann gesagt werden, dass der Erste eine aktive, der andere eine reaktive Rolle spielt. Insofern kann man von einem Anklageprinzip sprechen: „Wo kein Kläger, da kein Richter“. Dass diese Arbeitsteilung zwischen Ankläger und Richter vor allem seit dem 19. Jahrhundert zunehmend Anerkennung finden konnte, und dass das Fehlen dieser Arbeitsteilung im Inquisitionsverfahren als Gebrechen angesehen wurde, sind zunächst nur Tatsachen. Es fragt sich, warum diese Arbeitsteilung auch sein muss. Auf Grundlage der in den vorherigen Abschnitten entwickelten Theorie erschließt sich die Antwort ohne größere Schwierigkeit. a) Die traditionelle Auffassung Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hat man immer wieder darauf hingewiesen, dass die Identifikation von Ankläger und Richter eine psychologische Gefahr für die Findung der materiell wahren und der Gerechtigkeit entsprechenden Entscheidung verkörpert. Das Inquisitionsverfahren beruhe auf einer „unnatürlichen Stellung des Richters“,1485 es verlange von diesem die übermenschliche Fähigkeit, distanziert und objektiv über die eigenen Leistungen zu urteilen.1486 „Wird 1485

Zachariä, Gebrechen, S. 264; wörtlich Mittermaier, Mündlichkeit, S. 284, 295. Leue, Anklage-Prozeß, S. 110 ff.; Abegg, Beiträge zur Strafprocess-Gesetzgebung, S. 64 f.; Köstlin, Wendepunkt, S. 78; Savigny, GA 1859, S. 584 f.; Wach, FS Binding, S. 6 f.; Kohler, GA 1918, S. 311; Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 86; Hegler, Zur Strafprozeßerneuerung, S. 37; Niederreuther, DJ 1936, S. 772; Oetker, GS 108 (1936), S. 8; Exner, ZStW 54 (1935), S. 6; ders. Strafverfahrensrecht, S. 11; Gallas, ZStW 58 (1939), S. 627; Eb. Schmidt, ZStW 61 (1942), S. 436 f., 448 f.; ders. FS Kohlrausch, S. 278 f.; ders. MDR 1951, S. 3; ders. Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit, S. 87; Niese, ZStW 70 (1958), S. 343; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 85; Schneider, DRiZ 1964, S. 153; Habscheid, MDR 1966, S. 4; Bertel, Identität der Tat, S. 77 f.: „allgemeine menschliche Schwäche, daß man ungern einen Gedanken als haltlos aufgibt, den man als sein eigenes Werk erlebt“ (S. 78); Figueiredo Dias, Direito processual pe1486

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

der Angeschuldigte verurtheilt, so fällt vom guten Erfolg ein Schein auf ihn (den Richter, L.G.) zurück; wird er freigesprochen, so bleibt es zweifelhaft, ob Mangel an Beweis oder Mangel an Geschichklichkeit die Ursache war. Die Ehre des Richters vor ihm selbst, vor seiner Oberbehörde und vor seinen Mitbürgern ist dabei interessiert, daß der Erfolg ihn rechtfertige und zu keinen Zweifeln gegen ihn die Möglichkeit übrig lasse. Darum ist sein Sinn, sein geheimer Wunsch und seine ganze geistige Thätigkeit in Verarbeitung des vorhandenen Stoffes immer auf die Seite der Schuld gerichtet . . .“ 1487 Diese Gefahren dürften intuitiv einleuchten. Man kennt das Phänomen auch aus sonstigen Zusammenhängen des Alltags. So ist man bekanntlich nicht der beste Korrektor seiner eigenen Texte und nicht der beste Kritiker seiner eigenen Ideen. Auch bei banaleren Sachen machen sich diese Phänomene ersichtlich: Man fragt einen Freund, ob das Auto, das man sich ausgesucht hat, auch gut ist. Aus der menschlich allzu menschlichen „Eigenliebe“ folge „ein Festhalten eines Jeden an seinen eigenen Ideen, Urteilen und Handlungen“,1488 und der Richter ist bloß ein Mensch. Die mangelnde Arbeitsteilung zwischen Ankläger und Richter verkörpert also ein schweres Motivationsproblem, da es beim Richter an der Distanz fehlen wird, die erst gestattet, dass er die objektive Wahrheit bzw. die objektive Rechtslage unbefangen erkennt und sich nicht nur die ihm gerade passende Wahrheit bzw. Rechtslage zurecht schmiedet.1489 Diese im höchsten Maße plausiblen empirischen Alltagserfahrungen sind auch legitime Orientierungslinien für jemanden, der gut funktionierende Institutionen entwerfen soll. Es verkörpert gerade eine der Grundüberzeugungen der liberalen Tradition, dass die Menschen so hinzunehmen sind, wie sie halt sind.1490 Zur liberalen Bescheidenheit gehört der Abschied von utopischen Entwürfen, von Platons Politeia zu Marxens klassenloser Gesellschaft, also der Verzicht sowohl darauf, eine Gesellschaft für bessere Menschen zu entwerfen, als auch darauf, die Menschen bessern zu wollen. Vielmehr bemüht sich der Liberalismus darum, individuelle Unzulänglichkeiten auf der institutionellen Ebene unschädlich zu manal, S. 247; Gössel, GA 1980, S. 327; Rieß, NStZ 1981, S. 10; Peters, Strafprozeß, S. 49; Weigend, KrimJ 1984, S. 13; Sellert, FS Scupin, S. 178; H. Zimmermann, Anklageerhebung, S. 57 ff.; Pfeiffer, FS Rebmann, S. 359; Roxin, DRiZ 1997, S. 112; Velten, SK-StPO § 264 Rn. 16. Zu den wenigen Autoren, die anders argumentieren, gehört Köstlin, Wendepunkt, S. 49, 77: Dem Wesen des Prozesses als Organismus entspreche es, jede Funktion einem besonderen Organ zuzuweisen; das Inquisitionsverfahren kenne „Monstra von Richtern“ (S. 77). Abl. Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 403. 1487 Leue, Anklage-Prozeß, S. 112. 1488 So Pagano, Considerazione, 18. Kap. (S. 106). „Unsere eigenen Ideen und Schlussfolgerungen, insbesondere unsere Erfindungen werden von uns sozusagen als Teile unseres Geistes verstanden“. 1489 Zum Begriff des Motivationsproblems vgl. o. Teil 1 Kap. 2 C. IV. 3. (S. 208). 1490 Vgl. Rawls, Law of the Peoples, S. 6 f., 10 ff., der von einer „realistischen Utopie“ spricht.

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chen.1491 Gute Institutionen sind gerade deshalb gut, weil sie nicht auf die Güte der Menschen angewiesen sind, die in ihnen mitwirken. So kann man das bekannte Diktum von Kant, ein guter Staat funktioniere auch bei einem Volk von Teufeln, verstehen.1492 Strafprozessual schlug sich diese Kritik auch in der Reformliteratur der Mitte des 19. Jahrhunderts nieder. Dem Selbstverständnis des Inquisitionsprozesses entsprach es, auf die individuelle Güte und Milde der Richter zu vertrauen:1493 Man forderte die Richter dazu auf, „auß lieb der gerechtigkeyt, vnd vmb gemeynes nutz willen“ (Art. 104 CCC; auch Art. 125 CCB) zu handeln, so dass etwa die Folter nur „nach ermessung eyns guten vernünfftigen Richters“ (Art. 58 CCC) verhängt werden durfte.1494 Gerade dieses Vertrauen auf den guten Charakter der Machthaber fanden die Anhänger der Reform unerträglich. So verglich Zachariä den alten Inquisitionsprozess mit einer „unbeschränkten Monarchie“, da beide in der Persönlichkeit des alleinigen Machtbefugten, „in seinem Gewissen und seinen moralischen Eigenschaften die einzige Schutzwehr gegen Unrecht“ erblickten.1495 Leue meinte, die Sicherheit der Rechte der Bürger könne „niemals in der Persönlichkeit der Beamten gefunden werden . . ., und wenn sie selbst für die Gegenwart zu dem vollkommensten Vertrauen berechtigen, so genügt dies noch nicht einmal für den folgenden Tag; denn die Personen wechseln und die Umstände verändern sich.“ 1496 „Wenn also Sicherheit nicht in den Personen zu finden ist, so kann sie nirgendwo anders gesucht werden, als in der Sache, das heißt in solchen Einrichtungen, welche dem Gesetze Selbstständigkeit geben, dem Rechte die Gewalt unterthan machen, und auf diese Weise eben so sicher gegen Irrthum als bösen Willen der Gewalthaber schützen“.1497 In Italien klagte Pagano bereits 1787, also gut 50 Jahre bevor die deutsche Kritik lauter wurde, darüber, dass „das Wohl des Angeklagten oder die Unterdrückung des Unschuldigen in den Händen des Inquirenten sind; von seiner Gütigkeit, und nicht von den Vorsorgen des Gesetzes, hängt das Heil der Unschuld ab.“ 1498 Insofern weist die Arbeitsteilung zwischen Ankläger und Richter den Charakter einer institutionellen Absicherung der Wahrheit und Gerechtigkeit des Urteils auf, die durch eine individuell-psychologische Unzulänglichkeit gefährdet sind. 1491 Siehe Montesquieu, De l’esprit des lois, Buch XI Kap. 4: „Qui le dirait! la vertu même a besoin des limites“; Popper, Open Society II, S. 131. 1492 Kant, Zum ewigen Frieden, S. B 61. 1493 Reichliche Nachw. b. Paulus, FS Trusen, S. 286 f., der hier sogar eine Anerkennung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erblickt – eine insbesondere deshalb interessante Feststellung, weil sie auf die heutige Allherrschaft der Verhältnismäßigkeit ein fragwürdiges Licht wirft. 1494 Die Stelle zitiert auch Paulus, FS Trusen, S. 288 f. 1495 Zachariä, Gebrechen, S. 139. 1496 Leue, Anklage-Prozeß, S. 9. 1497 Leue, Anklage-Prozeß, S. 10. 1498 Pagano, Considerazioni, Kap. 18, S. 107.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

b) Vertiefung Es fragt sich, ob man durch diese gewiss nicht unrichtige und prozessgeschichtlich wirkungsmächtige These eines im Inquisitionsprozess verkörperten Motivationsproblems den Kern dessen, was die Identifikation von Ankläger und Richter bedenklich macht, wirklich erfasst hat. Denn nach näherem Hinsehen offenbaren sich Zweifel, die darauf hindeuten, dass hier anspruchsvollere Prämissen vorausgesetzt werden als die Annahme einer individualpsychologischen Schwierigkeit. aa) Erstens birgt nicht nur die Identifizierung von Ankläger und Richter individualpsychologische Probleme; auch die Unterscheidung führt ihrerseits zu Schwierigkeiten, nur zu unterschiedlichen, die in verschiedenen Zusammenhängen auch erkannt worden sind, aber in der Diskussion noch nicht zu einer allgemeinen These zusammengebündelt worden sind. Diese Schwierigkeiten sollen hier unter der Bezeichnung Problem der Verantwortlichkeitszersplitterung zusammengefasst werden. Arbeitsteilung führt dazu, dass jeder sich bestenfalls für seinen eigenen Aufgabenkreis verantwortlich fühlt. Eine Verantwortung für das Gesamtergebnis trägt auch dann, wenn die Struktur perfekt funktioniert, keiner mehr. Und weil Menschen so sind, wie sie sind, gibt die Arbeitsteilung jedem eine bequeme Gelegenheit, sich seiner Verantwortung dadurch zu entziehen, dass er blindlings darauf vertraut, die anderen würden ihre Aufgabe gewissenhaft erfüllen. Genau dieses Argument tauchte im Rahmen der Diskussion über die Strafgewalt der Finanzämter auf,1499 das dieselbe Struktur aufwies wie das Inquisitionsverfahren:1500 Zur Verteidigung dieses später (aus anderen Gründen, insb. wegen eines Verstoßes gegen Art. 92 GG) für verfassungswidrig erklärten Prozesses malte man ein Schreckensbild, wie es denn wäre, wenn das Finanzamt nicht mehr selbst Strafbescheide erlassen dürfte, sondern auf das Normalverfahren angewiesen wäre. Das Finanzamt würde wissen, dass die Staatsanwaltschaft seinen Bericht vor Anklageerhebung überprüfen müsste; diese wiederum könnte darauf vertrauen, das Finanzamt, das auch über die überlegene Sachkenntnis verfüge, habe alles richtig gemacht, und wäre deshalb geneigter, Anklage zu erheben, auch wegen des Vertrauens darauf, dass ein Gericht alles nochmals prüfen müsste; seinerseits verlässt sich das Gericht darauf, dass das, was die zwei anderen Behörden ermittelt und beantragt haben, nicht Wahrheit und Gerechtigkeit widersprechen werde. Das Argument taucht heutzutage im Zusammenhang mit der Diskussion über den Richtervorbehalt auf, über dessen Ineffizienz allgemein geklagt wird („Wachhund, der weder bellt noch beißt“;1501 „zahnloser Ti1499 1500 1501

Etwa Haver, NJW 1957, S. 89. Angemerkt von Niese, ZStW 70 (1958), S. 340; Habscheid, MDR 1966, S. 2. E. Müller, AnwBl 1992, 349 (351).

2. Kap.: Der Begriff der strafprozessualen Tat

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ger“ 1502): Die Ermittlungsrichter, die mit der Überprüfung der häufig von spezialisierten Staatsanwaltschaften gestellten Anträge sowieso überfordert seien, zögen es vor, dem Antrag zu entsprechen, was nicht selten durch wortwörtliche Übernahme von Passagen aus dem Antrag geschieht.1503 Man könnte deshalb eine plausible Gegenthese aufstellen: Auch dann, wenn die Vereinigung verschiedener Funktionen in einer einzigen natürlichen Person deren Unbefangenheit gefährden möge, ist diese Gefahr der Preis, den man gelegentlich dafür zahlen muss, dass die Bereitschaft der Person, Verantwortung für Ablauf und Ergebnis des Verfahren zu übernehmen, erhöht werden kann. Stünde das Anklageprinzip bloß auf einer empirischen, individual-psychologischen Grundlage, dann läge es nahe, in diesen ebenfalls empirisch-individualpsychologischen Erwägungen einen Anlass zu erblicken, das Anklageprinzip wenigstens unter gewissen Umständen zu relativieren. bb) Es sei denn, die Berufung der Vertreter des Anklageprinzips auf Empirie und Psychologie war eigentlich eine Chiffre für tiefere, eigentlich apriorische Erwägungen. Es gilt jetzt, diesen Erwägungen auf die Spur zu kommen. Diese erschließen sich vielleicht, wenn man sich eine Gesellschaft vorstellt, deren Mitglieder gerade die moralische Perfektion erreicht haben, die derjenige, der liberale Institutionen entwirft, bei den Menschen nicht voraussetzen würde. Gesetzt den Fall, die Menschen dieser einen Gesellschaft sind so selbstlos, dass sich das gerade angesprochene Motivationsproblem nicht mehr ergibt (geschweige denn ein Verantwortungslosigkeitsproblem, das wir aber zunächst beiseitelassen können). Man stelle sich noch vor, diese Gesellschaft verfügt über mustergültige kriminologische und psychologische Institute, deren Forschung wiederholt den Nachweis erbringt, dass in der Tat die fehlende Arbeitsteilung zwischen Ankläger und Richter nicht zu einer Verfehlung der Wahrheit und Gerechtigkeit führt. Dürfte eine solche Gesellschaft auf das Anklageprinzip verzichten? Man könnte zunächst erwidern, die Frage sei fehl am Platze. Eine derartige Gesellschaft ist nicht von dieser Welt, und die soeben erwähnte liberale Utopieskepsis lebt gerade davon, dass man allein für Gesellschaften, die von dieser Welt sind, Regeln entwirft. Eine solche Replik würde aber den Sinn der Fragestellung verkennen. Mit ihr möchte ich nicht Regeln für utopische Gesellschaften entwerfen, sondern nur ein Gedankenexperiment durchführen. Ich möchte testen, ob die traditionelle Begründung des Anklageprinzips dem intuitiv erfassten Sinn der Arbeitsteilung zwischen Ankläger und Richter vollumfänglich gerecht zu werden 1502

Brüning, ZIS 2006, S. 29 ff. Lilie, ZStW 111 (1999), S. 814 ff.; Schünemann, ZStW 114 (2002), S. 37: Ermittlungsrichter als „Urkundsbeamter der Staatsanwaltschaft“; Backes/Gusy, StV 2003, S. 250; dies. Telefonüberwachung, S. 44 ff. (die eine empirische Erhebung vorgenommen haben); Brüning, ZIS 2006, S. 32 f. 1503

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vermag, oder ob nicht vielmehr eine Lücke besteht, die durch ein zusätzliches, tieferes Argument geschlossen werden muss. Es bleibt also die Frage, ob diese gedachte Gesellschaft auf ein Anklageprinzip verzichten dürfte. Man spürt ein intuitives Unbehagen vor der Bejahung dieser Frage. Das deutet darauf hin, dass es beim Anklageprinzip nicht nur um eine technische Absicherung der Wahrheitsfindung vor empirischen Gefahren geht, sondern dass es um eine empirieunabhängige und deshalb nicht mehr nach gesellschaftlichen Kontingenzen variierbare Größe gehen muss. Wenn man sich fragt, um welche Größe es gehen könnte, kommt man fast von selbst auf ein apriorisches Prinzip der Verfahrensgerechtigkeit, nämlich auf das o. Teil 1 Kap. 2 VI. 2. d) cc) (S. 257) bereits eingeführte Prinzip des nemo iudex in causa sua, niemand darf Richter in eigener Sache sein. Auch perfekte Menschen dürfen nicht über die eigene Sache entscheiden. cc) Die Bedeutung des nemo iudex-Prinzips im vorliegenden Zusammenhang lässt sich konkreter beschreiben. Es geht also nicht um die psychologische Frage, ob der Richter die Formulierung der Anklagehypothese „als sein Werk erleben“ muss.1504 Denn unser Gedankenexperiment geht davon aus, dass psychologisch reifere Menschen gegen diese Gefahr weitgehend immun sein könnten. Ausschlaggebend ist vielmehr ein Faktor, der nicht auf der psychologischen Beschaffenheit der meisten Menschen beruht, sondern der mit der „Natur“ des Menschen als vernünftiges Subjekt zu tun hat. Trotz der sich stark altmodisch anhörenden Wortwahl meine ich damit bloß die weitgehend banale und in so gut wie allen Zusammenhängen vorausgesetzte Tatsache, dass Menschen für Gründe empfindlich sind. Ein vernünftiges Subjekt im vorliegenden Sinne ist also nicht mehr als ein Subjekt, das Gründen Gewicht zuerkennt. Nicht, weil man als homo phaenomenon die Neigung hat, zugunsten der eigenen Person befangen zu sein, also sich selbst zulasten anderer zu bevorzugen, ist ein Anklageprinzip bzw. nemo iudex-Prinzip von Bedeutung. Vielmehr ist es so, dass man sogar als ein Vernünftiger, d.h. als Wesen, das für Gründe empfindlich ist, also als homo noumenon einer Gefahr ausgesetzt ist, die sich unabhängig von einer individuell-psychologischen Befangenheit ergibt, sondern ihrerseits rational und deshalb universalisierbar begründet ist, so dass jeder andere Vernünftige, der sich in dieser Position befinden würde, sich unabhängig von der eigenen Charakterstärke oder -schwäche mit der exakt gleichen Gefahr konfrontiert sähe. Diese Gefahr beruht darauf, dass die Verdächtigung aus den o. Teil 1 Kap. 2 B. VI. (S. 130 ff.) ausgearbeiteten Gründen ein schwerwiegender Akt ist. Nur, wenn der Verdächtigte schuldig ist, wird sich das Verfahren abwickeln, ohne dass ein Rest an Ungerechtigkeit besteht; die Verdächtigung des Unschuldigen lässt sich juristisch nicht ohne Rest legitimieren (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 6. d) [S. 314]). 1504

Formulierung von Bertel, Identität der Tat, S. 90.

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Deshalb besteht für jedes vernünftige Subjekt ein Grund zu wünschen, dass sich die von ihm verdächtigte Person am Ende als schuldig erweist, denn ansonsten wird sie dem Verdächtigten zwar nicht sehr großes, aber immerhin spürbares Unrecht angetan haben. Ein Vernünftiger hat per definitionem einen Grund, anderen kein Unrecht anzutun. Diese Zusammenhänge werden verkannt, wenn gemeint wird, der Staatsanwalt stelle „nur eine Tat zur Untersuchung“: „die Anklage verlangt von vornherein nicht Verurteilung, sondern Untersuchung eines Verdachts“; „der Staatsanwalt will nicht eine Anklage beweisen, sondern einen Sachverhalt ergründen“.1505 Der Staatsanwalt ist nicht eine Art Professor, der einem Doktoranden ein Promotionsthema aufgibt, sondern jemand, der gegen einen möglicherweise Unschuldigen einen losschickt, der diesen zu strafen befugt ist. Dass er dafür auch Verantwortung übernehmen muss, dürfte einleuchten. Am klarsten wird das, wenn der bearbeitende Staatsanwaltschaft von der Unschuld des Beschuldigten, gegen den er gerade ermittelt, erfährt, obwohl immer noch genug vorhanden ist, um von einem genügenden Anlass zur Anklageerhebung i. S. v. § 170 Abs. 1 StPO auszugehen.1506 Man würde es wohl als bedenklich empfinden, falls er hier mit dem schlichten Verweis, er sei dazu vom Gesetz verpflichtet, doch Anklage erheben würde. Nahezu zynisch wäre es, wenn der Staatsanwalt behaupten würde, dass er dem Beschuldigten hiermit eine Gelegenheit geben wollte, sich öffentlich zu reinigen. Von einem Staatsanwalt, der von der Unschuld des Beschuldigten weiß, erwartet man vielmehr, dass er diesen in Ruhe lässt; auch ein Gesetz, das ein Legalitätsprinzip kennt, verlangt von ihm nichts anderes, da es diesem Staatsanwalt immer noch offen steht, nach Auswegen suchen, den genügenden Anlass, der sowieso ein geschmeidiger Begriff ist, abzulehnen. Kein vernünftiger, gewissenhafter Ankläger möchte einen Unschuldigen belästigen. Das ist gut so, so soll es sein. Dies birgt aber auch Gefahren, die sich anders als die individual-psychologischen nicht unterschiedlich manifestieren, je nachdem, ob es um den engagierten, ehrgeizigen Staatsanwaltschaft A oder um seinen faulen bzw. „liberalen“ Kollegen B geht, sondern die bereits bei dem ideellen Ankläger auftreten, der mit seiner Macht, Menschen mit qualifizierten Verdächtigungen zu beflecken, vernünftig und gewissenhaft umgehen soll. Die Neutralisierung genau dieser apriorischen Gefahren ist der tiefere Sinn des Anklageprinzips. 1505 H. Mayer, GS 99 (1930), S. 77 f. für weitere ähnliche Stellungnahmen u. C. IV. (S. 436 f.). 1506 Einen ähnlichen Test schlug bereits Geyer, Entschädigung II, S. 536 vor, um zu belegen, dass die Untersuchungshaft eine Strafe sei: Wenn der Beamte „durch eine prophetische Erleuchtung“ erfahren würde, dass derjenige, den er verhaften wolle, unschuldig sei, würde er dies nicht mehr tun dürfen. M. E. belegt der Test eher, dass das Strafverfahren nicht im Glauben durchgeführt werden kann, dass der Betroffene unschuldig ist.

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3. Gehalt des Anklageprinzips Die entwickelte Begründung führt ohne Zwischenschritte zum Kerngehalt oder Minimalgehalt des Anklageprinzips. Jeder Vernünftige, der jemanden verdächtigt hat, hat einen Grund zu wollen, dass sich seine Verdächtigung bestätigt. Der tiefere Sinn, m. a. W. der unverfügbare Kern des Anklageprinzips besteht darin, durch Arbeitsteilung die Wirkweise dieses Grundes zu neutralisieren. a) Was genau zur Verdächtigung gehört, soll erst u. D. V.–VII. (S. 510 ff.) näher geklärt werden. Im vorliegenden Zusammenhang muss nur zweierlei betont werden. Erstens und positiv muss die Verdächtigung nicht nur bestimmte Tatsachen, genauer: Verhaltensweisen, Taten beinhalten, die der Betroffene möglicherweise begangen haben muss, sondern auch eine Wertdimension, genauer: einen Strafrechtsbezug aufweisen. Ginge es bei der Verdächtigung nur um eine Vermutung, jemand habe möglicherweise etwas getan, was aber von vornherein keinerlei strafrechtliche Relevanz haben könnte – „ich glaube, A ist gestern spazieren gegangen“, „B war wohl vor einer Woche in der Eisdiele“ – würden die Gefahren, die das Anklageprinzip und der nemo iudex in causa sua-Grundsatz bekämpfen sollen, nicht einmal entstehen. Erst eine Vermutung, die jemand der Gefahr der Strafverfolgung aussetzen kann – „ich glaube, A hat bei dem gestrigen Spaziergang jemanden getötet“, „B hat wohl vor einer Woche in der Eisdiele den Geldbeutel eines Kunden weggenommen“ –, löst den Mechanismus aus, der dazu führt, dass ein Vernünftiger die Bewahrheitung der Vermutung wollen wird, um durch die Unterbreitung seiner Vermutung niemandem Unrecht angetan zu haben. b) Erst der hier vorgelegte Ansatz liefert auch eine überzeugende Erklärung dafür, weshalb das Anklageprinzip nur im Strafrecht unabdingbar ist und nicht im Recht der Ordnungswidrigkeiten gilt, bei dem die Verwaltungsbehörde zur Verfolgung und Ahndung für zuständig erklärt wird (§ 35 OWiG), oder im Disziplinarrecht, in dem dem Dienstherrn die Disziplinargewalt zusteht.1507 Auf Grundlage der herrschenden individualpsychologischen Begründung würde man sagen müssen, die Gefahren für Wahrheit und Gerechtigkeit seien bei der Ahndung von Ordnungswidrigkeiten und Disziplinarverstößen ebenso groß, wie sie es auch im Inquisitionsverfahren waren; weil die Sanktionen hier nicht so schwer oder nicht dieselbe Qualität haben wie Kriminalstrafen, können diese Gefahren aber hingenommen werden. Verstärkend könnte man noch auf das Problem der Verantwortlichkeitszersplitterung (o. 2. b) [S. 388]) hinweisen, das man gerade in technisch undurchsichtigen Bereichen erst recht versuchen sollte, auszuschalten.

1507 Vgl. beispielsweise §§ 17 Abs. 1, 33 Abs. 2 BDG; § 15 Abs. 2 WDO; Art. 27, 30 BayDO: Ein Vorgesetzter oder die oberste Dienstbehörde werden sowohl mit der Initiative und den Ermittlungen als auch mit der Entscheidung über die Sanktionsverhängung betraut.

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Wir würden dem im Wesentlichen zustimmen, aber eine wichtige Zusatzbemerkung machen, die erst sicherzustellen vermag, dass diese Begründung nicht auch im Strafrecht nach Gehör verlangt, etwa in Bereichen, in denen es um weniger gravierende Strafen oder um speziellere Vorschriften für bestimmte Berufsgruppen geht. Diese Bemerkung würde darauf hinweisen, dass die Behauptung, jemand habe eine Ordnungswidrigkeit oder einen Disziplinarverstoß begangen, keine qualifizierte Verdächtigung im o. Teil 1 Kap. 2 B. VI. (S. 131 ff.) ausgeführten Sinn darstellt. Sie traut dem Betroffenen weder zu, seine elementaren Bürgerpflichten verletzt zu haben, noch setzt sie ihn der Gefahr einer Kriminalstrafe aus. Deshalb muss der, der sie äußert, nicht notwendig wollen, dass der Betroffene auch schuldig ist. c) Drittens lässt sich auch bereits an dieser Stelle bestimmen, was von vornherein nicht zu diesem Kerngehalt des Anklageprinzips gehören kann. Zwar meinen Autoren, die unter amerikanischem Einfluss stehen, dass ein richtiges Verständnis des Anklageprinzips nach einem Richter verlange, der weder Beweise selbst aufnimmt noch die Grenzen der von den Parteien gestellten Anträge überschreitet. Eine derartige Bestimmung des Kerngehalts des Anklageprinzips schießt über das Ziel hinaus, denn sie vermengt Ebenen, die besser getrennt bleiben sollten. Oben wurde schon aus dem umfassenden Begriff des Verfahrensstoffs ein Ausschnitt ausgeschieden und als Verfahrensgegenstand bezeichnet. Jetzt ergibt sich ein Anlass, weitere Präzisierungen einzuführen. Man sollte rein logisch zwischen dem Gegenstand des Verfahrens, d.h. der Verdächtigung, also dem, über dessen Wahrheit und Richtigkeit das Sachurteil erkennt, einerseits, und dem Material, das dieser Entscheidung zugrunde liegt, andererseits, unterscheiden.1508 Dieses Material besteht aus rechtlichen und faktischen Prämissen. Zu den rechtlichen Prämissen gehören grob gesagt Fragen, die man allgemein als „Rechtsfragen“ einordnet, also die einschlägigen Gesetzesvorschriften, ihre Auslegung und Subsumtion. Zu den faktischen Prämissen gehören die für wahr angesehenen Tatsachen, die im Wege vorbereitender Ermittlungen oder einer Beweisaufnahme erhellt werden müssen. Kern der Verdächtigung ist immer die Behauptung, „A hat sich durch Vornahme dieses einen Verhaltens gem. dieser einen Vorschrift strafbar gemacht“. Die rechtliche Prämisse besteht aus der Behauptung: „Dieses eine Verhalten verletzt diese eine Vorschrift“, und aus der Vielzahl der Auslegungser1508 Sehr ähnlich bereits Glaser, GS 36 (1884), S. 111: „Sonderung von Beweismaterial und Anklagestoff“, mit ähnlichen Beispielen wie das hier Genannte (S. 112); Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 133, mit seiner Unterscheidung dreier Dimensionen der Prozessherrschaft: Es gebe eine Herrschaft über den Prozeßgegenstand, über das Material, das der Entscheidung zugrunde liegt, und über das Vorwärtsschreiten des Verfahrens. Belings „Material, das der Entscheidung zugrunde liegt“, erfasst etwas mehr als unser Prozessstoff, weil auch die rechtlichen Prämissen der Entscheidung davon umfasst werden. Vgl. auch Cordero, RitDPP 1958, S. 945; Velten, SK-StPO § 264 Rn. 5, die zwischen Gegenstand der Kognition und Gegenstand der Aufklärung unterscheidet.

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gebnisse, die diese Behauptung tragen. Die faktische Prämisse dagegen lautet: „A hat dieses Verhalten vorgenommen“, und zu ihr gehören auch sämtliche die richterliche Überzeugung tragenden Beweise. Dass diese Fragen voneinander logisch verschieden sind, wird nicht immer mit Klarheit erkannt. Bereits o. I. (S. 379 f.) haben wir vor der Neigung gewarnt, alles, was innerhalb eines Strafverfahrens thematisiert wird, zum Verfahrensgegenstand zu erklären. Ein solches Verständnis des Verfahrensgegenstands ist untechnisch und irreführend. Der Unterschied wird am besten anhand einiger Beispiele verdeutlicht. Um wieder ein Notwehrbeispiel zu gebrauchen: Falls der des Totschlags angeklagte A sich auf Notwehr beruft, wird das möglicherweise strafbare Angriffsverhalten seines Opfers B im Verfahren thematisiert werden müssen, ohne dass gegen B eine qualifizierte Verdächtigung ausgesprochen wird, weil der sowieso schon tote B nicht am Ende des Verfahrens verurteilt und bestraft werden kann. Falls sich der Anschein ergibt, der tote B sei von einer Beleidigung des A zum Angriff provoziert worden, so dass Letzterem keine Tötung in Trutzwehr, sondern höchstens Ausweichen oder Schutzwehr erlaubt waren,1509 wird auch diese Beleidigung des A im Prozess erörtert werden müssen. Ist aber der erforderliche Strafantrag nicht gestellt worden (§ 194 Abs. 1 S. 1 StGB), wird man in Bezug auf die Beleidigung von keiner qualifizierten Verdächtigung sprechen können, weil dieses Verfahren nicht zu einer Verurteilung und Bestrafung wegen der Beleidigung führen kann.1510 Sie gehört nicht zum Gegenstand des Verfahrens, aber durchaus zum Material, das der Entscheidung über diesen Gegenstand zugrunde liegt. d) Diese Unterscheidung ist deshalb wichtig, weil sich die Gefahren für die Wahrheit und Gerechtigkeit des Urteils unterscheiden können, je nachdem, ob man es mit den Prämissen, die dem Urteil über die Verdächtigung zugrunde liegen, oder mit der Verdächtigung selbst zu tun hat. 1509 Zu dieser sog. Dreistufentheorie bei der Notwehrprovokation statt aller Roxin, AT I § 15 Rn. 69 ff. 1510 Ähnl. Beispiel bei BGHSt 32, 215 (221): Falschaussage eines Zeugen über eine vor Jahren begangene Straftat; s. a. RGSt 5, 249 (251 a. E.). Vieles von dem, was in der Hauptverhandlung thematisiert wird, sprengt sogar diese Zweiteilung zwischen Gegenstand des Verfahrens und Material, das bei der Entscheidung über den Gegenstand des Verfahrens Berücksichtigung findet, weil es nur für die Strafzumessung von Relevanz ist. Am klarsten wird das, wenn sich das Gericht mit nicht angeklagten anderen Delikten konfrontiert sieht, die es für die Entscheidung der Straffrage aufklären muss, ohne dass es befugt ist, ihretwegen eine Verurteilung zu fällen (BGH NJW 1951, S. 769 [770]; BGHSt 31, 302; Bruns, NStZ 1981, S. 83; s. a. Velten, SK-StPO § 264 Rn. 51), oder wenn diese Delikte sogar im Wege der §§ 154, 154a StPO ausgeschieden sind (BGHSt 30, 147; 30, 165 [165 f.]; BGH StV 2011, 399; näher Beulke/Stoffer, StV 2011, S. 442 ff.). Oben I. (S. 379 f.) wurde deshalb vorgeschlagen, die Summe dessen, was in einem Verfahren thematisiert werden muss – also Prozessgegenstand, Material, das dem Urteil über diesen Gegenstand zugrunde liegt, strafzumessungsrelevantes Material usw. – unter der vereinfachenden Bezeichung Prozessstoff zusammenzufassen.

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aa) Zwar möchte ein Vernünftiger, der die Verdächtigung formuliert, dass sie sich sowohl rechtlich als auch faktisch bestätigen lässt; das Aufstellen einer rechtlichen oder faktischen Prämisse, die für die Richtigkeit einer von einem anderen formulierten Verdächtigung spricht, führt noch nicht dazu, dass man ein vergleichbares vernunftbasiertes Interesse an der Bestätigung dieser Prämissen hat. Höchstens die individual-psychologische Gefahr, die auf der Vorliebe für die eigenen Gedanken beruht, könnte hier eine Rolle spielen. Weil man aber nicht derjenige war, der dem Betroffenen die mögliche Ungerechtigkeit der unschuldigen Duldung eines Strafverfahrens auferlegte, hat man keinen Grund, als Vernünftiger die Bestätigung der Richtigkeit der Verdächtigung zu wollen. Die Verdächtigung ist also in einer bestimmten Hinsicht fundamentaler als das Material, anhand dessen ihre Berechtigung beurteilt wird. Im Einzelnen: (1) Bezüglich der faktischen Prämissen leuchtet ein, dass jemand, der eine faktische Vermutung ausspricht, nicht per se einen Grund hat, zu wollen, dass sich diese Vermutung bewahrheitet. Er mag zwar aus Selbstliebe Gefallen daran finden, immer richtig zu liegen; das ist aber ein psychologischer Zufall. Weder im Alltag noch in der Wissenschaft bestehen grundsätzliche Bedenken dagegen, dass man die Wahrheit der von einem selbst aufgestellten Hypothesen überprüft. Wenn man ein Geschäft betritt, auf dessen Schaufenster die Ankündigung „Mega-Schlussverkauf. Alles bis zu 50% ermäßigt!!“ steht, traut man es sich selbst zu, hineinzugehen und zu prüfen, ob sich die eigene Vermutung, die erwünschte Ware sei in der Tat für den halben Preis zu erwerben, bewahrheitet oder nicht. Auch Naturwissenschaftler formulieren Hypothesen, die sie selbst durch Experimente testen, ohne dass derjenige, der eine Hypothese formuliert hat, automatisch als befangen gilt und die Tests jemandem anderen überlassen muss.1511 Man mag dem entgegenhalten, das Schlussverkauf-Beispiel beziehe sich auf eine Trivialität, und dass dort, wo es nicht mehr um Trivialitäten gehe, wie in den Naturwissenschaften, durchaus Gefahren vorhanden seien. Dies kann man ruhig einräumen. Entscheidend für das vorliegende Argument ist nur, dass diese Gefahren eine andere Qualität haben als die oben beschriebenen, die dem nemo iudex in causa sua-Grundsatz und dem Anklageprinzip zugrunde liegen. Zwar wird ein Naturwissenschaftler qua Mensch, qua homo phaenomenon, sich freuen, eine bahnbrechende Entdeckung zu machen. Als Vernünftiger hat er aber nur einen Grund, die Wahrheit anzustreben; als Vernünftiger weiß er, dass die Wissenschaft durch trial and error fortschreitet,1512 so dass auch der in gutem Glauben gemachte Irrtum, der später als solcher erkannt wird, einen Schritt nach vorn verkörpern kann. Anders als bei der qualifizierten Verdächtigung bedeuten Irr1511 Taruffo, Verità, S. 175; s. a. Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 402 f., dessen Kritik aber etwas über das Ziel hinausschießt. 1512 Insb. Popper, Science, S. 46 und passim.

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tümer in Bezug auf faktische Hypothesen nicht, dass einer konkreten anderen Person Unrecht angetan wird. Deshalb muss ein Subjekt, das faktische Hypothesen formuliert und überprüft, nicht notwendig, d.h. aus allgemein-vernünftigen Gründen und nicht rein individual-psychologischen Motiven, als befangen gelten, solange es nicht selbst verdächtigt, sondern sich darauf beschränkt, die faktischen Implikationen einer von einem anderen Subjekt unterbreiteten Verdächtigung zu testen. (2) Umso mehr gilt das Gesagte bezüglich der rechtlichen Prämissen der Entscheidung über die Verdächtigung. Das Auffinden der einschlägigen Rechtsnormen, ihre Auslegung und Anwendung auf den konkreten Fall ist ein Vorgang, der im Vergleich zur Lösung von Tatsachenfragen etwas technischer ist. Tatsachenfragen lösen wir alle jeden Tag. Ähnliches geschieht nur bei einfachsten Rechtsfragen, und selbst bei diesen wird der Laie seine Lösung nicht gebührend zu begründen vermögen (wer denkt denn, „der Bäcker schuldet mir das Brötchen, weil ein Anspruch aus § 433 Abs. 1 BGB auf Übergabe und Übereignung dieser Sache besteht“?), wozu er bei der Lösung einer Tatsachenfrage ohne Weiteres in der Lage wäre (A hat x getan, „weil ich es gesehen habe“; „weil B, der zuverlässig ist, mir davon erzählt hat“ usw.). Die Kehrseite des technischeren Charakters von Rechtsfragen ist, dass ihre Lösung in einem ungleich höheren Maße intersubjektiv überprüfbar ist. Deshalb ist die Überprüfung der eigenen Hypothesen durch die Person, die sie aufgestellt hat, im Bereich von Rechtsfragen mit noch geringer zu veranschlagenden Gefahren verbunden, als es bei Tatsachenfragen der Fall war.1513 Die radikale These, nach der jedes Gericht, das sich nicht darauf beschränkt, die Subsumtion des Anklägers zu überprüfen, zum Ankläger würde und deshalb befangen sei, verwischt also wichtige Unterschiede. Das heißt aber noch lange nicht, dass die Rechtsfrage ein „rein“ technischer Vorgang sei, was immer dies auch bedeuten soll, so dass das Anklageprinzip bei ihr von keinerlei Bedeutung sei.1514 Denn der Verdächtigung ist ein Strafrechtsbezug eigen, der auch erklärt, was an ihr so schwerwiegend ist, dass die soeben beschriebene Gefahr auch entstehen muss. Dies wird indes von dem in Deutschland herrschenden geschichtlich-orientierten Tatbegriff der h. M., womit man sich u. C. IV. (S. 431 ff.) näher beschäftigen wird, nicht hinreichend beachtet. Ohne viel vorwegzunehmen darf schon gesagt werden, dass dieser Begriff auf der falschen Annahme beruht, dass ein Richter, der einen ihm unterbreiteten geschichtlichen Vorgang in eine völlig andere Richtung untersucht, der also aus dem „Besuch einer Eisdiele“ einen „Diebstahl in einer Eisdiele“ macht, dem Untersuchungsgegenstand nichts hinzufügt, was ihn als Unbeteiligten kompromittiert. Es wird sich also erweisen, dass es nicht richtig sein kein, dass das Gericht „den ihm 1513 Siehe auch Bertel, Identität der Tat, S. 88 ff.: „abgeschwächte Bedeutung“ (S. 89) des Anklageprinzips in dem Bereich. 1514 Bertel, Identität der Tat, S. 88; Prado, Sistema acusatório, S. 150.

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unterbreiteten Sachverhalt unter allen rechtlichen Gesichtspunkten würdigen“ soll.1515 bb) Die beschriebene vernünftig begründete Gefahr kann also allein mit der Frage nach dem Prozessgegenstand zu tun haben, d.h. mit der Behauptung, „A hat sich durch Vornahme dieses einen Verhaltens gem. dieser einen Vorschrift strafbar gemacht“. Jemand, der durch diese Unterbreitung A einer Bestrafungsgefahr aussetzen kann, weiß, dass er für die Belastungen, die A im Kampf gegen diese Gefahr erleiden muss, verantwortlich ist, und muss deshalb wollen, dass A sie nicht als Unschuldiger hinnimmt. Es fragt sich aber, ob sich diese Verantwortung allein auf die in diesem Satz ausdrücklich formulierte Behauptung beschränkt, oder ob sie nicht nur „dieses eine“, sondern auch ein hinreichend ähnliches Verhalten, und nicht nur „diese eine“, sondern auch eine hinreichend nahestehende Vorschrift erfasst. Von der Klärung dieser Frage hängen die äußersten Grenzen eines verbindlichen Tatbegriffs für jedes Strafverfahren ab, das ein Anklageprinzip beachtet; sie kann deshalb erst u. D. V.–VII. (S. 510 ff.) abschließend behandelt werden. An dieser Stelle muss nur dargelegt werden, dass nicht jede Abweichung vom ausdrücklichen Gehalt der Verdächtigung bereits als etwas völlig Neuartiges verstanden werden muss, dem der ursprüngliche Ankläger als ein völlig Unbeteiligter gegenübersteht, so dass allein derjenige, der diese Erweiterung vornimmt, selbst zum Verdächtigen wird, der deshalb der Gefahr ausgesetzt wird, die Bestätigung seiner Verdächtigung als ein Vernünftiger wollen zu müssen. Dies lässt sich wieder an Beispielen aus dem Alltag erkennen. Wenn X seinem Freund Y erzählt, er glaube, die Frau von Y gehe fremd, weil sie sich regelmäßig mit A treffe, und es ergibt sich, dass die verdächtigte Dame in der Tat fremd geht, aber nicht mit A, sondern mit B, würde man es für unvernünftig halten, wenn X das Gefühl hätte, der Dame durch seine Verdächtigung Unrecht angetan zu haben. Man fände es auch frech von ihr, würde sie sich über diese Verdächtigung beschweren, und (zumindest) undankbar von ihrem Mann Y, wenn er darüber klagen würde, X habe seine Frau einer Unwahrheit bezichtigt. Nicht wesentlich anders dürfte unsere Beurteilung ausfallen, wenn sich ergibt, dass die Frau von Y mit A nicht im vollen Sinne des Wortes fremdgegangen ist, weil sie mit ihm noch nicht den Beischlaf vollzogen hat, sondern „nur“ Oralverkehr gehabt hat. Ab einem bestimmten Punkt unterscheidet sich aber das reelle Verhalten von dem, was ausdrücklicher Gegenstand der Verdächtigung war, so sehr, dass es fast Zufall ist, dass es zu der Entdeckung des reellen Verhaltens kommen konnte. Man nehme an, dass der Ehemann Y, der durch die Hinweise von X zu Ermitt-

1515 So aber (stellvertretend für die die ganz h. A.) Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 357.

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lungen motiviert wurde, herausfindet, dass seine Frau ihn nicht betrügt, sondern ihrem Arbeitgeber Gelder veruntreut. Hier hat derjenige, der die Verdächtigung formuliert, keinen Anteil daran, dass es zu der Entdeckung gekommen ist, auch dann, wenn er für die Ermittlungen, die zu diesen Entdeckungen geführt haben, kausal (im Sinne der conditio sine qua non) war. X war in einem solchen Fall – wie auch u. C. IV. (S. 436 ff.) näher ausgeführt werden soll – blindes Werkzeug poetischer Gerechtigkeit. Er mag zwar erleichtert sein, dass die Frau von Y wenigstens nicht völlig unschuldig war, dass wenigstens „etwas an ihr faul war“; diese Schuld hatte aber mit dem, was X über sie ihr verbreitete, so wenig zu tun, dass sowohl Y als auch seine Frau nicht unvernünftig wären, wenn sie gegenüber X eine gewisse Irritation zeigen würden. Diese Intuitionen scheinen darauf hinzudeuten, dass das Anklageprinzip es nicht gebietet, dass sich der Urteilende allein innerhalb des ausdrücklichen Gehalts der Verdächtigung bewegt. Die Verdächtigung darf weiter reichen als ihr ausdrücklicher Inhalt. Wie weit, das ist die Kernfrage, die u. D. V.–VII. (S. 510 ff.) geklärt werden muss. 4. Gebotene begriffliche Klarstellungen a) Anklageprinzip, akkusatorisches und inquisitorisches Strafverfahren Die oben eingeführten Unterscheidungen gestatten eine präzisere Differenzierung zwischen den heutzutage noch vorhandenen zwei großen Strafprozessstrukturen, also dem sog. akkusatorischen und inquisitorischen Verfahren, von denen schon im methodischen Kapitel dieser Arbeit die Rede war (s. o. Teil 1 Kap. 1 A. II. 6. [S. 69 ff.]). Kern des Anklageprinzips, so wie es hier verstanden wird, ist allein, dass die Verdächtigung nicht von derselben Person überprüft werden darf, die sie auch formuliert hat, denn allein in dieser Hinsicht besteht die Gefahr, dass ein Vernünftiger die Bewahrheitung der von ihm formulierten Hypothesen wollen muss. Mit anderen Worten, eine bestimmte Herrschaft über den Prozessgegenstand steht nach dem Anklageprinzip immer dem Ankläger zu. Ein solches Anklageprinzip steht nicht zur Disposition des Gesetzesgebers, weil es ein auf der „Natur“ des Menschen als vernünftiges (d.h.: für Gründe empfindliches) Wesen beruhendes Prinzip der Verfahrensgerechtigkeit darstellt, das sich unmittelbar auf den nemo iudex in causa sua-Grundsatz zurückführen lässt. Die verschiedenen Prozesssysteme, von denen schon o. Teil 1 Kap. 1 A. II. 6. (S. 69 ff.) die Rede war, müssen sich also hinsichtlich anderer Aspekte unterscheiden. Am besten führt man die Unterscheidung auf eine verschieden starke Bewertung der nicht allgemein-vernunftbegründeten, sondern individuell-psychologischen Gefahren für die Findung der richtigen Entscheidung zurück. Bei den Auswirkungen dieser Gefahr kann man wieder die zwei Ebenen des Prozessge-

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genstandes, d.h. der Verdächtigung und des der Beurteilung dieses Gegenstandes zugrunde liegenden (faktischen und rechtlichen) Materials unterscheiden. Wie weit darf sich der Beurteiler vom ausdrücklichen Gehalt der Verdächtigung entfernen? Wer bestimmt darüber, welches faktische und auch rechtliche Material auf dem Weg zu der Entscheidung verarbeitet werden darf? Ein Prozess soll hier akkusatorisch genannt werden, wenn der Beurteiler eher eng an diesen ausdrücklichen Gehalt gebunden ist, und wenn die Parteien über das zu verarbeitende Material bestimmen dürfen; inquisitorisch, wenn der Beurteiler lockerer an den ausdrücklichen Gehalt der Verdächtigung gebunden ist, und wenn ihm auch die Aufgabe zusteht, sich das für die Entscheidung erforderliche rechtliche und faktische Material selbst zu beschaffen. Bezüglich des Materials, das der Entscheidung zugrunde liegt, können sich zwar Gefahren ergeben, die aber höchstens individuell-psychologisch und nicht allgemein-vernünftiger Natur sind. Bezüglich der Verdächtigung selbst sind diese Gefahren zum Teil vernünftig-allgemein, aber nur zum Teil. Man kann deshalb beim Anklageprinzip einen unverfügbaren Kern und einen mehr oder weniger weit bemessbaren Rand unterscheiden. Beim ganzen Bereich, in dem es nur um individuell-psychologische Gefahren geht, wird man es mit Ungewissheit oder Unbestimmtheit im o. Teil 1 Kap. 1 A. I. (S. 49 ff.) genannten Sinne zu tun haben, und damit zugleich mit einem den einzelnen Rechtsordnungen zuzuerkennenden Ermessensspielraum. Eine Rechtsordnung kann es deshalb vorziehen, diese Gefahren durch Arbeitsteilung einzudämmen, oder sie bis zu einem gewissen Grad hinzunehmen. Wie weit der unverfügbare Kern reicht, soll u. D. V.–VII. (S. 510 ff.) näher bestimmt werden. Das bedeutet, dass man ein kleines Spektrum bilden kann, je nachdem, wie stark das Gericht an den ausdrücklichen Gehalt der in der Anklage formulierten Verdächtigung gebunden ist, und auch je nachdem, ob die Parteien oder das Gericht die Verantwortung nur für die Tatsachenfrage, nur für die Rechtsfrage oder für beide tragen. In einem extrem akkusatorischen Verfahren sind die Parteien gehalten, den Stoff zur Lösung sowohl der Tatsachen- als auch der Rechtsfrage darzubringen, und der Richter ist weitgehend an den expliziten Gehalt der Anklage gebunden. Ein solches System kennt möglicherweise nicht einmal die Regel jura novit curia.1516 Auf der anderen Seite kann man von einem extrem inquisitorischen Verfahren sprechen, bei dem das Gericht die Tatsachen selbständig erforscht, die zu lösenden Rechtsfragen selbständig und unabhängig vom Input der Parteien klärt, und sich von der in der Anklage geäußerten Verdächtigung eher weit entfernen kann.1517 Auf einer mittleren Position bleiben die Verfah1516

Für das amerikanische Verfahren Damaska, ZStW 90 (1978), S. 838 f. Um Missverständnisse zu vermeiden: Das hier sog. extrem inquisitorische Verfahren deckt sich nicht mit der Prozessstruktur des gemeinrechtlichen Inquisitionspro1517

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renssysteme, die nur eine dieser Aufgaben dem Richter (meistens die Lösung der Rechtsfragen), die andere aber den Parteien (meistens die Wahrheitsfindung) aufbürden, und die dem Richter das Recht einer gewissen, aber beschränkten Umwandlung der Verdächtigung zusprechen. Man sieht also, dass die Unterscheidung der zwei Prozesssysteme eher die zwei Endpunkte einer kontinuierlichen Skala bezeichnet.1518 Man könnte die hier vorgeschlagene Bestimmung in die Sprache der sogenannten Prozessprinzipien oder -maximen zu übersetzen versuchen: In einem inquisitorischen Verfahren herrschen die Untersuchungsmaxime und die Offizialmaxime,1519 im akkusatorischen Verfahren die Verhandlungs- und die Dispositionsmaxime.1520 Damit würde aber ein Verlust an Präzision einhergehen. Erstens bezeichnet der Begriff der Offizialmaxime an sich nur die ex officio, also amtswegige Verfolgung durch den Staat; wörtlich genommen würde man auch bei einem von einer nicht-richterlichen staatlichen Stelle wie der Staats-

zesses, denn diese beruht in ihrer Identifikation von Ankläger und Richter auf einer Ablehnung des Anklageprinzips. 1518 In der Literatur werden diese drei Ebenen – Prozessgegenstand, faktisches Material und rechtliches Material – nicht so eindeutig auseinandergehalten; je nach Autor wird eine (oder eventuell mehrere) von ihnen zum Anknüpfungspunkt der Unterscheidung erklärt. Am verbreitesten dürfte es sein, allein auf die Herrschaft über das faktische Material abzustellen, so etwa Grünhut, FS v. Weber, S. 356; Jung, FS Waltos, S. 31: „spezifische Struktur des Prozesses der Wahrheitsfindung“ als unterscheidendes Merkmal; Schünemann, FS Fezer, S. 557 f.; Langbein, Adversary Trial, S. 1; zumind. nahestehend Köhler, Inquisitionsprinzip, S. 15 f., 25 f.; Herrmann, Der amerikanische Strafprozeß, S. 134; Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 27; wohl auch Zuckerman, Evidence, S. 3. Seltener wird auch die Herrschaft über das rechtliche Material angeführt, für eine Ausnahme s. Langbein, der sie zusammen mit der Herrschaft über das faktische Material erwähnt: „The crux of the difference between common law and Continental can be simply stated. It is the contrast between adversarial and nonadversarial factfinding and law-applying. In Anglo-American criminal (and civil) procedure the court takes virtually no responsibility for producing evidence and shaping legal issues“ (Comparative Criminal Procedure, S. 1). Andere wiederum beziehen die Unterscheidung auf den Prozessgegenstand, etwa Figueiredo Dias, Direito processual penal, S. 251. In der deutschen Prozesswissenschaft gibt es auch eine völlig andere Bestimmung, derzufolge es ein Parteiverfahren nur dort gebe, „wo man im Hinblick auf Waffengleichheit oder wenigstens annähernde Waffengleichheit, Staatsanwalt und Angeklagten auf einer Ebene miteinander streiten sieht“ (Eb. Schmidt, ZStW 61 [1942], S. 456 Fn. 41 [kursiv von mir]: ebenso früher Gallas, ZStW 58 [1939], S. 630, auf den Eb. Schmidt Bezug nimmt; und Peters, ZStW 56 [1935], S. 35). Häufig versucht man auch die Unterscheidung anhand der sog. Prozessmaximen zu bestimmen, dazu sogleich den weiteren Text. 1519 Ähnlich z. B. Eb. Schmidt, FS Siber, S. 105, 106, 151 f.; das Inquisitionsverfahren bestehe aus einer Verbindung von Offizialprinzip und Untersuchungsprinzip (zust. Gössel, ZStW 94 [1982], S. 9; Sellert, FS Scupin, S. 164); in der Sache auch Goldstein, SLR 26 (1974), S. 1018; völlig anders Trusen, ZRG 105 (1988), S. 171. 1520 Mit einer solchen Definition Goldschmidt, Problemas jurídicos y políticos, S. 780; implizit v. Stackelberg, GS Cüppers, S. 125, der von einem „materiellen Parteiprozeß“ spricht.

2. Kap.: Der Begriff der strafprozessualen Tat

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anwaltschaft initiierten Verfahren von einem Verfahren nach dem Offizialprinzip sprechen können.1521 Die Offizialmaxime hat also nur den untersuchenden und verfolgenden Staat vor Augen, Ankläger und Richter unterscheidet sie nicht, solange beide staatliche Stellen sind. Zweitens, und noch wichtiger, bleibt bei diesen Entgegensetzungen häufig unklar, ob sie sich auf die Tatsachen-, auf die Rechtsfrage oder auf den Prozessgegenstand beziehen. Zwar dürfte es bei der Verhandlungs- bzw. Untersuchungsmaxime eher um die Tatsachen gehen, bei der Dispositions- bzw. Offizialmaxime dagegen um das Recht.1522 Was Recht hier bedeutet, ob Prozessgegenstand oder Rechtsfrage, bleibt etwas unklar, obwohl sich beide Fragen nicht decken, sondern unterschiedliche Ebenen betreffen. b) Anklageprinzip und Anklageform Eine letzte Klärung terminologischer Art erscheint angebracht. In der früheren deutschen Literatur und sogar in der Begründung des Entwurfs zur RStPO unterschied man nicht selten das anspruchsvollere Anklageprinzip von der bescheidenen Anklageform.1523 Unter der „bloßen“ Anklageform verstand man das Verbot, dass das Strafverfahren von derselben Person initiiert wird, die über dessen Ergebnis entscheiden soll. Das Anklageprinzip bezeichnete dagegen eine bestimmte Verfahrensstruktur, die den Parteien die Herrschaft über das der Entscheidung zugrunde liegende Material verleiht. Bereits aus diesen Bestimmungen wird klar, dass in der vorliegenden Abhandlung eine andere Terminologie vorgezogen wurde. Unser Anklageprinzip deckt sich mit der „Anklageform“ des

1521 So Ortloff, AöR 1897, S. 89. Rieß, FS Rebmann, S. 390 möchte sogar die Offizialmaxime auf die staatsanwaltschaftliche Tätigkeit beschränken. 1522 Ebenso Lüke, JuS 1961, S. 41 f., der ebenfalls die Unklarheit der Verwendung dieser Begriffe rügt; wohl auch K. Schreiber, Jura 1988, S. 191; tendenziell Facilides, GS 50 (1895), S. 401 ff., trotz vieler Unklarheiten (insbesondere der Ineinssetzung von Verhandlung und Hauptverhandlung). In der klassischen, für die weitere Diskussion grundlegenden Abhandlung von Heinze werden indes die Offizial- und Dispositionsmaxime zunächst auf den Prozessgegenstand bezogen (GA 1876, S. 267), aber auf die Verfügung über die Tatsachen erstreckt (S. 277; zust. Ortloff, AöR 1897, S. 93). 1523 Motive, in: Mugdan, Materialien, S. 152; Abegg, Beiträge zur Strafprocess-Gesetzgebung, S. 42, 45; Biener, ZfgRW 12 (1844), S. 87 Fn. 32; ders. GS 7 (1855), S. 410, 427, 437; Mittermaier, Mündlichkeit, S. 282; Zachariä, Gebrechen, S. 31; Köstlin, Wendepunkt, S. 39 ff., 141; Savigny, GA 1859, S. 583 f.; Heinze, GA 1876, S. 278; Ortloff, GrünhutsZ 23 (1896), S. 521 Fn.; Wach, FS Binding, S. 7; Binding, Strafprozeßprinzipien, S. 174 f. (m.v.Nachw.); Beling, Enzyklopädie, § 22 (S. 151); ders. Reichstrafprozeßrecht, S. 32; Eb. Schmidt, ZStW 61 (1942), S. 456 f.; ders. FS Kohlrausch, S. 281; Exner, Strafverfahrensrecht, S. 11; H. Zimmermann, Anklageerhebung, S. 115; Wolter, GA 1986, S. 152; Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 31 ff.; Velten, SK-StPO § 264 Rn. 16; ähnl. Ortloff, AöR 1897, S. 87 („kontradiktorischer Untersuchungsprozeß nach der Offizialmaxime“). Rückblickend Küper, Richteridee, S. 194 ff.; H. Zimmermann, Anklageerhebung, S. 16 ff. (zur Diskussion zwischen Zachariä und Köstlin), 61 ff. (Begründung des Entwurfs der RStPO).

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19. Jahrhunderts,1524 und das Anklageprinzip des 19. Jahrhunderts ist eine Spielart des hier sog. akkusatorischen Verfahrens. Über terminologische Fragen kann man immer unterschiedlicher Meinung sein. Ich hoffe, dass der Respekt, der die vorliegende Arbeit den großen deutschen Strafprozessrechtlern des 19. Jahrhunderts zollt, dem Leser nicht unbemerkt geblieben ist. Die hier getroffene Entscheidung, deren Terminologie dennoch nicht zu folgen, beruht darauf, dass sie in einer Hinsicht missverständlich erscheint, und dass die Gründe, die für sie sprechen, nicht ausschlaggebend sind. Denn zum einen wollten die Reformer zu erkennen geben, dass mit der Trennung von Ankläger und Richter, für die sie sich einsetzten, nicht notwendig eine Hinwendung zum reinen akkusatorischen Verfahren impliziert war. Das ist ein berechtigtes Anliegen, das auch hier Berücksichtigung gefunden hat, nämlich dadurch, dass man zwischen der Herrschaft über den Gegenstand des Verfahrens und der Herrschaft über das Material unterscheidet, das der Beurteilung dieses Gegenstands zugrundegelegt werden darf. Erstere muss immer dem Ankläger zustehen, Letztere darf sowohl den Parteien als auch dem Gericht zugewiesen werden. Das Problem ist also nicht die Unterscheidung, die in den Phänomenen selbst angelegt ist, sondern die Wortwahl. Denn die Entgegensetzung von „Prinzip“ und „Form“ weckt irreführende Assoziationen: hier Wesen, Gehalt, Materie, dort Modus, Ordnung, Form, hier Natur, Inneres, dort Stil, Äußeres. Unvermeidbar erfolgt durch diese Terminologie eine Abwertung und Bagatellisierung dessen, was man als Form bezeichnet. Man möchte fast von selbst schreiben: „bloße“ Form, und sie dem „eigentlichen“ Prinzip entgegensetzen.1525 Dies wird wohl kein Zufall gewesen sein, sondern eine Instanz verbalen Machtkampfes.1526 Man hat damit das politisch verständliche Anliegen verfolgt, die Unterscheidung von Ankläger und Richter zu entpolitisieren, zu einer quasi technischen Frage zweckmäßiger staatlicher Arbeitsteilung herabzumindern und damit akzeptabler zu machen. Es mag sein, dass diese Wortwahl zur Erfolgsgeschichte des Reformierten Strafverfahrens im 19. Jahrhundert beigetragen hat. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass diese Terminologie gleichzeitig irreführend ist. Denn sie be1524 Wie hier Glaser, Handbuch I, S. 217; Armenta Deu, Principio acusatorio II, S. 127; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 13 Rn. 4: „Im geltenden Recht gilt lückenlos der Anklagegrundsatz (Akkusationsprinzip, Klageformprinzip) . . .“; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 311 ff.; und auch § 4 östStPO, mit der Überschrift „Anklagegrundsatz“, der u. a. bestimmt: „Einleitung und Durchführung eines Hauptverfahrens setzen eine rechtswirksame Anklage voraus“ (Abs. 2 HS. 1); näher Seiler, Strafprozessrecht, Rn. 42 ff. 1525 Ausdrücklich dagegen Biener, GS 7 (1855), S. 426; ebenso, auch im Zusammenhang mit der Bestimmung des Prozessgegenstandes, Cunha, Ne bis in idem, S. 556. 1526 Nicht unähnlich dem heutigen Streit zwischen Apologeten der „Verständigung“ und Kritikern der „Absprache“ oder des „Deals“.

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schwört die Gefahr herauf, dass man dasjenige, was man aus politisch-diplomatischen Gründen für nicht so bedeutend erklärt hat, später selbst unterschätzt. Auf dieser Grundlage konnte etwa Eberhard Schmidt schreiben: „Das Erfordernis der Klage ist ein Formerfordernis, um einen Übergang zu einer Verhandlung vor einem erkennenden Gericht zu schaffen“.1527 Dass diese Einstellung verhängnisvoll ist, dass es wohl auch an ihr liegt, dass der alte Inquirent noch nicht tot ist,1528 soll vor allem bei der näheren Bestimmung des Tatbegriffs deutlich werden (s. u. C. IV. [S. 436 ff.]). Dem traditionellen Sprachgebrauch ist also nicht zu folgen. Man hat hier versucht, darzulegen, dass die sog. Anklageform kein bloßes Formerfordernis darstellt, was dies auch immer zu bedeuten hat, sondern in ihrem Kern Ausdruck eines materiellen Prinzips ist, des nemo iudex in causa sua-Grundsatzes. Die vorliegende Arbeit spricht also vom Anklageprinzip, um den materiellen und nicht bloß formalen Charakter der Unterscheidung von Ankläger und Richter zu betonen, und damit gleichzeitig hervorzuheben, dass diese Unterscheidung ernst genommen werden muss. Der Terminus der Anklageform entwertet die grundlegende verfahrensgerechtigkeitstheoretische Dimension der Arbeitsteilung. 5. Anklageprinzip und Tatbegriff a) Nach dem Gesagten kann man die Brücke zum Begriff der strafprozessualen Tat zurückschlagen. Von den Implikationen des Anklageprinzips für den Prozessgegenstand war an sich im Laufe der zurückliegenden Ausführungen vielfach die Rede. Jetzt gilt es, diese Implikationen explizit und klar zu ziehen. In einem Verfahren, in dem niemand Richter in eigener Sache sein kann, m. a. W.: in einem das Anklageprinzip beachtenden Verfahren, ist es Aufgabe des Anklägers, die Verdächtigung zu formulieren, und Aufgabe des Richters, zu beurteilen, ob sich die Verdächtigung bestätigt.1529 Oder, wie man auch sagt, es ist 1527 Eb. Schmidt, ZStW 61 (1942), S. 457; ähnl. Büchner, Strafprozessuale Tat, S. 126: die sog. thematische Bindung des Gerichts durch die Anklage sei „rein formaler Natur“; Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 45: „[D]er zum Prinzip aufgeladene Begriff der Akkusation bezeichnet materialiter nur den Verfahrensübergang von einer Stelle an eine andere“. 1528 Vgl. die am Anfang dieses Kapitels zitierte Klage von Binding; näher u. C. IV. (S. 436 f.). 1529 Auch in dem Sinne, dass der Gehalt der prozessualen Tat (zumindest auch) aus dem Anklageprinzip folgt: Mittermaier, NarchCrimR 1850, S. 504; Geyer, Lehrbuch, S. 5; Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 111; Niederreuther, DStR 1936, S. 168; Nagler, ZAkDR 6 (1939), S. 374 f.; Correia, Caso julgado, S. 305, 317; v. Stackelberg, GS Cüppers, S. 125; Gavalda, JCP I 1957, Nr. 1372 Rn. 28; Cordero, RitDPP 1958, S. 936 f.; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 97 f., 317; Noftz, Prozeßgegenstand, S. 56 f., 62; Tiedemann, Entwicklungstendenzen, S. 33; Figueiredo Dias, Direito processual penal, S. 144 f.; Gössel, Strafverfahrensrecht, S. 107 f.; ders. GA 1980, S. 340; ders. JR 1982, S. 113; ders. GS H. Kaufmann, S. 988; Geppert, Jura 1982, S. 140; Wolter, GA

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„Sache des Klägers“, den Prozessgegenstand zu bestimmen,1530 Sache des Richters, über den ihm vorgelegten Gegenstand zu urteilen. Es besteht also keine Möglichkeit des Richters, selbständig, d.h. aus eigener Initiative über die Anklage hinauszugehen, denn dies würde bedeuten, dass er sich die Stellung eines Anklägers anmaßt.1531 Somit ist die strafprozessuale Tat Ausfluss einer Arbeitsteilung zwischen Ankläger und Urteilendem, deren Kern vom Anklageprinzip festgelegt wird. Wie aber die Arbeitsteilung zwischen diesen beiden Teilnehmern jenseits dieses Kerns gestaltet ist, bleibt zunächst noch offen. Über den Gehalt des oben ausgearbeiteten apriorischen und vorpositiven Anklageprinzips kann sich kein legitimes Prozesssystem hinwegsetzen, ohne ein grundlegendes Prinzip der Verfahrensgerechtigkeit, den nemo iudex-Grundsatz, zu verletzen. Wie die einzelnen positivrechtlichen Strafprozesssysteme darüber hinaus das Anklageprinzip jenseits dieses Kerns bestimmen, mit anderen Worten, wie sie die Arbeit zwischen Ankläger und Richter verteilen, um die individuell-psychologischen Gefahren für die Arbeitsfindung zu bewältigen, dürfen sie weitgehend selbst festlegen. Der Anklagegrundsatz ist also nur in seinem Kern nicht disponibel und weist in sich selbst weitere Momente auf, die durch die einzelnen Rechtsordnungen mit unterschiedlichem Gehalt ausgefüllt werden können. Je nachdem, wie man sich hier festlegt, wird das jeweilige Strafverfahren eher akkusatorisch oder inquisitorisch strukturiert sein. Der letzte Gehalt des Tatbegriffs wird deshalb von der näheren Gestaltung der Arbeitsteilung zwischen Ankläger und Richter abhängig sein. Der Tatbegriff fun1986, S. 150; Roxin, JZ 1988, S. 261; Zimmermann, Anklageerhebung, S. 108 f.; Detmer, Begriff der Tat, S. 42 ff.; W. Bauer, wistra 1991, S. 57; Cording, Strafklageverbrauch, S. 195; Souto de Moura, Objecto do processo, S. 26; Armenta Deu, Lecciones, S. 41, 43; Badaró, Correlação, S. 31; Birklbauer, Prozessgegenstand, S. 97 f.; Velten, SK-StPO § 264 Rn. 1. Siehe auch Bertel, Identität der Tat, S. 77 ff., der wegen seiner psychologistischen Deutung des Anklageprinzips nur von einem „gewissen Zusammenhang“ zwischen beiden Erwägungen spricht (S. 80); Velten, SK-StPO § 264 Rn. 15 ff., die aber ohne klare Begründung das Anklageprinzip mit den die Rechtskraft tragenden Erwägungen abwägen möchte; Barthel, Begriff der Tat, S. 69, der in der Sache der hier vertretenen Auffassung sehr nahesteht; und Ziethen, KansURLP 31 (2010), S. 35; und die zivilprozessrechtlichen Erwägungen von Jauernig, Verhandlungsmaxime, S. 1 ff., die mutatis mutandis auf das Strafprozessrecht übertragen werden können. 1530 Eb. Schmidt, Lehrkommentar I Rn. 57. Davor bereits Zachariä, Gebrechen, S. 53 f.: „das accusatorische Prinzip (führt) . . . nothwendig zur Aufstellung dreier verschiedener Subjecte des Processes hin . . ., während das Inquisitions-Prinzip in der That nur ein Subject des Verfahrens – den s.g. Untersuchungsrichter – kennt. (. . .) Dabei muß sich nothwendig die ganze Verhandlung auf ihren ursprünglichen Gegenstand beschränken und kann vom Richter nicht darüber hinaus auf andere, neue Puncte geleitet werden“. 1531 And. aus nationalsozialistischer Sicht E. Schäfer, DStR 1935, S. 252: „. . . so muß das in der Lage sein, die Hauptverhandlung über die Anklage hinaus auf weitere nachträglich bekannt gewordene Straftaten des Angeklagten, soweit sie verhandlungsreif sind und seine Zuständigkeit nicht überschreiten, zu erstrecken“.

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giert also als prozessdogmatische Operationalisierung der auf dem Anklagegrundsatz beruhenden Arbeitsteilung zwischen Ankläger und Richter. Mit diesen konkreten Fragen wird man sich u. D. V.–VII. (S. 510 ff.) näher beschäftigen. b) Einige Einwände verdienen bereits an dieser Stelle eine Replik. aa) Gegen die hier behauptete Abhängigkeit des Tatbegriffs von der Gestaltung der Arbeitsteilung zwischen Ankläger und Richter ist schon im 19. Jahrhundert behauptet worden, dass auch ein Prozess ohne Trennung von Ankläger und Richter einen Gegenstand brauche.1532 Als Belege könnte man hier die Verfahren anführen, die kein Anklageprinzip kennen (wie das Disziplinarverfahren, s. o. B. 3. [S. 392]), von denen man aber nicht sagen kann, dass sie keinen Gegenstand haben. Zwei Repliken wären denkbar. Die erste würde den Sinn des Einwands bestreiten. Ein Prozess ohne Trennung von Ankläger und Richter kann es aus den oben beschrieben verfahrensgerechtigkeitstheoretischen Gründen nicht geben; ist diese Trennung vorhanden, dann muss sie sich auf den Gehalt des Tatbegriffs auswirken, weil Tat nur dasjenige sein wird, was angeklagt worden ist. Diese Replik macht sich indes die Sache zu einfach. Denn der Einwand stellt nicht das Anklageprinzip an sich in Frage, sondern nur das behauptete Abhängigkeitsverhältnis von Tatbegriff und Anklageprinzip. Man wird deshalb eine zweite Replik bemühen müssen. Sie besteht schlicht darin, dass man sich fragt, wie es einem Verfahren ohne Anklageprinzip möglich sein soll, sich auf einen bestimmten und nicht nur diffusen Gegenstand zu fixieren. Wenn Ankläger und Richter dieselbe Person wären, könnte jede neuentdeckte Tatsache sofort in die Anklage einbezogen und jede widerlegte Tatsache sofort ausgeschieden werden. Es wird erst dann möglich, die prozessuale Tat einigermaßen zu fixieren, wenn man anstelle der vom Anklageprinzip gebotenen Zuweisung der Rollen von Ankläger und Richter an verschiedene Personen eine Bindung des Ankläger-Richters an eigene frühere Entscheidungen postuliert. Dass auch dies aber keine befriedigende Lösung ist, erkennt man am besten an den Versuchen des frühen 19. Jahrhunderts, das damals sog. Problem der „Ausdehnung der Criminaluntersuchung“ innerhalb des Rahmens des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens zu bewältigen. So meinte Mittermaier, es ergebe sich aus der diesem Verfahren zugrunde liegenden Unterscheidung zwischen Voruntersuchung und Spezialinquisition die „Regel . . ., daß der Inquirent die Untersuchung nur auf Verbrechen richten dürfe, worauf der Veranlassungsgrund der Inquisition führte, und wegen welches der Inkulpat in den Stand der Anschuldigung versetzt worden ist“.1533 Er möchte deshalb unterscheiden, ob die Indizien 1532 1533

Glaser, GS 36 (1884), S. 97. Mittermaier, NArchCrimR 1819, S. 549.

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bereits in der Frühphase oder erst in der Spezialinquisition auftreten. Im ersten Fall besteht gegen eine Ausdehnung des Untersuchungsgegenstands ohnehin keine Schranke. Allein für den zweiten Fall soll es die Regel geben, dass eine Ausdehnung nicht erlaubt ist. Weil aber klar ist, dass der Inquirent sofort aus eigener Initiative eine Generalinquisition eröffnen darf, und weil er schon hinreichende Indizien über die Schuld des Betroffenen kennt, um gegen diesen auch die Spezialinquisition zu eröffnen, kann er die Generalinquisition uno acto in die Spezialinquisition übergehen lassen. Daher verkümmert das Verbot der Ausdehnung der Untersuchung in solchen Fällen zu einem leicht überwindbaren Formalismus. Dies erkennt Mittermaier selbst, der deshalb bereit ist, dieses Verbot mit vielen Ausnahmen zu durchlöchern. Unter anderem sei die Ausdehnung zu billigen, wenn aus ihr „irgend ein Gewinn für die Strafgerechtigkeit“ zu erwarten sei.1534 Sogar die Möglichkeit der Durchsetzung von Ansprüchen des Opfers auf Entschädigung soll bei der Entscheidung, die Untersuchung auszudehnen, Berücksichtigung finden.1535 Ähnlich verhält es sich im Disziplinarverfahren. Der Dienstvorgesetzte ermittelt aus bestimmten Anlässen, aber von Amts wegen, ohne Anregung durch einen anderen.1536 Falls er im Laufe der Ermittlungen auf andere Dienstvergehen stößt, besteht kein Hindernis, das Verfahren auf sie zu erstrecken.1537 Dies wird noch dadurch erleichtert, dass man im Disziplinarrecht einen sog. Grundsatz der Einheit des Dienstvergehens kennt.1538 Bereits das materielle Recht, das zum Teil „täterstrafrechtliche“ Züge aufweist (s. o. B. II. [S. 382 f.]),1539 lockert also den Gegenstand des Verfahrens auf. Damit wird klar, dass die Unterscheidung von Ankläger und Richter eine ernst zu nehmende Fixierung des Verfahrens auf einen bestimmten Gegenstand überhaupt erst möglich macht. Ohne Anklageprinzip bleibt jede Fixierung bestenfalls provisorisch und stellt einen leicht überwindbaren Formalismus dar. Der Gegenstand eines Verfahrens, das kein Anklageprinzip kennt, ist konstitutionell unbeständig. bb) Zweitens könnte man meinen, hier würde die Bedeutung des Anklageprinzips überschätzt. Das deutsche Strafverfahren sei bloß ein „gemischtes Strafver1534

Mittermaier, NArchCrimR 1819, S. 550. Mittermaier, NArchCrimR 1819, S. 556, 557: Die Mittellosigkeit des Täters spreche deshalb gegen eine Ausdehnung der Untersuchung. 1536 § 17 Abs. 1 S. 1 BDG; hierzu etwa Leppek, Beamtenrecht, Rn. 192. 1537 Siehe insb. § 19 Abs. 1 BDG; näher Bauschke/Weber, BDG § 19 Rn. 1 ff. 1538 Etwa § 18 Abs. 2 WDO; Leppek, Beamtenrecht, Rn. 191d; ausf. Behnke, BDO, S. 63 ff.; aus der Rspr. BVerwG NVwZ-RR 1992, 571; OVG Koblenz NVwZ-RR 2002, 206. 1539 Es wäre genauer, „täterorientierte Züge“ zu sagen, weil es nicht um Strafrecht geht; ich möchte hiermit nur die o. B. II. (S. 382 f.) erwähnten Zusammenhänge zwischen Tatstrafrecht und Anklageprinzip in Erinnerung bringen. 1535

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fahren“ 1540 bzw. ein Verfahren nach „Klageformprinzip.“ 1541 Das Anklageprinzip werde „durch die Pflicht des Gerichts ergänzt, die Anklage erschöpfend zu behandeln“.1542 Das ist ein terminologischer Einwand. Die Pflicht, die Anklage erschöpfend zu behandeln, muss jedes Strafverfahren kennen.1543 Die Frage ist nur, was „Anklage“ und was „erschöpfend“ bedeuten. Auch extrem akkusatorische Verfahren1544 kennen eine solche Pflicht. Nur ist das, was sie unter Anklage verstehen, nicht viel mehr als die in der Anklageschrift ausdrücklich formulierten faktischen und rechtlichen Hypothesen. 6. Zusammenfassung Die Bindung des Verfahrens an eine bestimmte Tat ist ein Bollwerk gegen die noch im Inquisitionsverfahren vorhandene Allmacht des Inquirenten, die sich auch in der Befugnis äußerte, das Strafverfahren beliebig auszuweiten. Man sah ein, dass ein Richter, der gleichzeitig anklagt, sich in eine psychologisch unnatürliche Lage begibt, und forderte deshalb die Institutionalisierung der Trennung von Ankläger und Richter, also des Anklageprinzips. Die Bindung des Richters an eine bestimmte Tat lässt sich erst verwirklichen, wenn nicht er, sondern ein anderer, nämlich der Ankläger, mit der Aufgabe betraut wird, die Reichweite der Tat zu bestimmen. Nur dann wird es ihm möglich sein, ohne psychologische Überforderungen allein richterliche Aufgaben wahrzunehmen. Es hat sich aber ergeben, dass zusätzlich zu dieser individualpsychologisch begründeten Gefahr für die Unbefangenheit der Richter ein weiteres Risiko vorhanden ist, dessen Erfassung erst zu erklären vermag, warum das Anklageprinzip sogar in einer Gesellschaft perfekter Verfolgungsbeamter gelten müsste. Derjenige, der einem anderen die Duldung eines Verfahrens auferlegt, bürdet diesem eine schwere Last auf, die sich nur dann restlos rechtfertigen lässt, wenn der Betroffene auch schuldig ist. Weil man als Vernünftiger per definitionem einen Grund hat, anderen kein Unrecht anzutun, muss man, wenn auch nicht als Individuum aus Fleisch und Blut, als Vernünftiger wollen, dass der, den man beschuldigt hat, auch schuldig ist. Hieraus erschließt sich der tiefere, apriorische Sinn des Anklageprinzips, der von jeder empirisch-psychologischen Gegebenheit unabhängig ist, und auch sein unverfügbarer, apriorischer Kern: Die qualifizierte Verdächtigung ist Sache des Anklägers, nur über sie darf der Richter urteilen. 1540

Neuhaus, Tatbegriff, S. 27. Büchner, Strafprozessuale Tat, S. 124. 1542 Neuhaus, Tatbegriff, S. 150; ebenso Büchner, Strafprozessuale Tat, S. 125. 1543 Näher u. D. IV. 1. (S. 484 ff.) (statisch-kongruenter oder dynamisch-inkongruenter Tatbegriff). 1544 Zu dem Begriff s. o. 4. a) (S. 399 f.). 1541

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Dass eine Bindung an die Anklage erfolgen muss, steht also nicht zur Disposition. Wie weit aber der Richter an die ausdrückliche Gestalt der Verdächtigung gebunden ist, dürfen die verschiedenen Systeme auf Grundlage ihrer unterschiedlichen Beurteilung der individualpsychologischen Gefahren selbst bestimmen. Um über die qualifizierte Verdächtigung zu urteilen, muss der Richter zudem andere Tatsachen- und Rechtsfragen klären. Auch hier ist denkbar, dass der Richter eigene Hypothesen aufstellt und prüft, oder dass man ihn auf die Prüfung von Hypothesen beschränkt, die von einem anderen aufgestellt worden sind. Wichtig ist nur, dass die Gefahren, die die Zuweisung beider Aufgaben an den Richter begründen, keine im obigen Sinne vernünftig begründete sind, sondern nur individualpsychologische. Deshalb darf jedes Verfahrenssystem je nachdem, wie gewichtig es diese Gefahren einschätzt, dem Richter mehr oder weniger Freiheit zuerkennen, m. a. W., inquisitorischer oder akkusatorischer ausgestaltet sein. Diese Freiheit muss dennoch gewisse Grenzen einhalten, deren genauere Bestimmung erst u. D. V.–VII. (S. 510 ff.) erfolgen soll. An dieser Stelle konnte dennoch schon festgestellt werden, dass ein rein faktischer Tatbegriff, der nur einen strafrechtsneutralen Vorgang wie eine Autofahrt oder einen Besuch einer Eisdiele zum Gegenstand hat, nicht zu erklären vermag, wieso die beschriebenen, vernünftig begründeten Gefahren überhaupt entstehen, und ebenso wenig, wieso man Ankläger und Richter nicht in einer Person vereinen kann. Denn die Aufstellung der Hypothese, jemand habe gestern eine Eisdiele besucht, führt noch nicht dazu, dass man als Vernünftiger die Bewahrheitung dieser Hypothese wollen muss. Die Initiierung des Verfahrens, die eine durch das Anklageprinzip zu neutralisierende Gefahr begründet, muss deshalb auf einen näher zu bestimmenden Unwert verweisen. Die strafprozessuale Tat hat sich also als Operationalisierung einer Arbeitsteilung zwischen Ankläger und Richter erwiesen, die in ihrem Kern (um es altmodisch zu sagen) auf der menschlichen Natur als einem vernünftigen Wesen beruht, das keinem anderen Unrecht antun möchte, oder (in modernerer Sprache) darauf beruht, dass ein gewissenhafter Ankläger keinen Unschuldigen verfolgen möchte. Wer die Verdächtigung formuliert, muss als Vernünftiger ihre Bewahrheitung wollen; deshalb muss jemand anderes darüber urteilen, ob sich die Dinge wirklich so verhalten. IV. Unwesentliche Gesichtspunkte Der hier in Erinnerung gerufene Zusammenhang zwischen Tatbegriff, Anklageprinzip und Arbeitsteilung von Ankläger und Richter, der der Strafprozesswissenschaft des 19. Jahrhunderts, die sich um die Überwindung des aus eigener Initiative verdächtigenden Richters bzw. des über die Verdächtigung entschei-

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denden Anklägers bemühte, sonnenklar war, ist zwar nicht vergessen worden.1545 Dennoch ist er weitgehend in den Hintergrund geraten:1546 Auch dann, wenn man in abstracto die Bedeutsamkeit des Anklageprinzips für den Tatbegriff hervorhebt, erinnert man sich selten an ihn, wenn es darum geht, die Konturen der prozessualen Tat näher zu bestimmen. Nicht selten ist aber dieser Begründungszusammenhang bereits auf der abstrakten Ebene hinter andere Gesichtspunkte zurückgetreten. Dass diese aber bestenfalls nur teilweise ausschlaggebend sein dürften, und dies auch nur innerhalb der Grenzen des vom vorpositiven Kern des Anklagegrundsatzes gesteckten Rahmens, soll im vorliegenden Abschnitt kurz dargelegt werden. 1. Die alte Lehre von der sog. dreifachen Identität Kaum der Rede wert ist die begriffskonstruktivistische Lehre von der „dreifachen Identität“, die meint, der Prozessgegenstand und insbesondere die Frage, ob zwei Verfahren sich diesbezüglich decken, bestimme sich auf Grundlage von drei Merkmalen: Eadem personam, eadem re, eadem causa petendi, also gleiche Person, gleiche Sache, gleicher Klagegrund. Gegen diese These, die ihren Ursprung in einer Bestimmung des französischen Code Civil hat (Art. 1351),1547 und die in Ländern, in denen die konstruktivistisch orientierte Strafprozesswissenschaft stark vertreten ist, viele Anhänger hat,1548 lassen sich nicht nur alle o. Teil 1 Kap. 2. C. II. 1. (S. 141 ff.) gegen den prozessualen Konstruktivismus und gegen die allgemeine Prozessrechtslehre entwickelten Einwände richten; sie ist nicht einmal erhellend, weil alles andere als klar ist, was hier „Sache“ und „Klage-

1545

Zu den Vertretern s. o. Fn. 1529. Ebenso Bertel, Identität der Tat, S. 81. 1547 Die Vorschrift wird von Gavalda, JCP I 1957, Nr. 1372 Rn. 2 Fn. 6 als „gemeines Recht zur Theorie der Rechtskraft“ bezeichnet. 1548 In Frankreich ist es heutzutage die Standardmeinung: Gavalda, JCP I 1957, Nr. 1372 Rn. 14 ff.; Bouzat/Pinatel, Traité II, S. 1476; Bouloc, Procédure pénale, Rn. 971; Pradel, Procédure pénale, Rn. 1029 ff.; Guinchard/Buisson, Procédure pénale, Rn. 2655 ff.; vorsichtig, aber im gleichen Sinne Ortolan/Desjardins, Éléments, S. 297; früher Lacoste, Chose jugée, S. 360; in Spanien ist die Formel auch häufig zu lesen, insbesondere in der Rspr. und in der Anmerkungsliteratur: Tribunal Constitucional STC 2/1981, II.4; 177/1999, II.2; 152/2001, II.2; Corcoy Bidasolo/Gallego Soler, AP 8 (2000), S. 163 ff.; Muñoz Lorente, Non bis in idem, S. 52; Barja de Quiroga, Non bis in idem, S. 61; ders. Tratado, S. 191, 207; Iglesias Machado/Moreno y Bravo, CPC 89 (2006), S. 75 ff. m.w. Nachw. aus der Rspr.; Cubero Marcos, Non bis in idem, S. 49 ff.; in Italien ist die Formel aus den neueren Abhandlungen verschwunden; zu den letzten, die sie benutzten, gehören Tuozzi, Giudicato penale, S. 4 ff. (der aber beachtliche Überlegungen entwickelt); Berenini, NuDigIt XVIII (1939), S. 308 f.; Manzini, Trattato IV, S. 452 ff.; s. noch für Kolumbien: Castro Bernal Acevedo, Sistema acusatorio, S. 136 und für Brasilien: Tigre Maia, BCESMPU 16 (2005), S. 39; Grinover, FS Figueiredo Dias III, S. 858. 1546

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

grund“ bedeuten soll.1549 Sie ist bestenfalls ein Darstellungsschema, woraus keinerlei Sachgesichtspunkte zur Lösung konkreter Fragen abgeleitet werden dürfen. 2. Verteidigungsrecht bzw. rechtliches Gehör Sehr verbreitet ist die Behauptung, die Bestimmung des Prozessgegenstands diene in erster Linie der Wahrung des Verteidigungsrechts oder des rechtlichen Gehörs des Beschuldigten.1550 Bereits Mittermaier hielt es für „bedenklich“, „wenn die Anklage auf Diebstahl ging und nun das Gericht bei seiner Berathung Unterschlagung annehmen wollte; denn auch in solchen Fällen könnte leicht das Recht des Angeklagten auf Vertheidigung leiden . . .“.1551 Auf diesen Gedanken berief sich auch das Reichsgericht in einer seiner ersten Entscheidungen zum Problem der strafprozessualen Tat.1552 Heute wird in vielen Staaten der Tatbegriff in erster Linie unter diesem Gesichtspunkt diskutiert,1553 und in Spanien, wo das Verbot der sog. indefensión verfassungsrechtlich verankert ist (s. o. Teil 1 Kap. 1 C. [Bd. 1, S. 107 f.]), erkennen viele in ihm die eigentliche Grundlage für die Bestimmung des Tatbegriffs.1554 In der Tat kommt dieser Gesichtspunkt den hier als entscheidend ausgearbeiteten Gedanken des Anklageprinzips und der Arbeitsteilung zwischen Ankläger 1549 Krit. bereits Hélie, Traité III, S. 569; Berner, GA 1855, S. 496: „Verkünstelung“ des Problems „durch civilrechtliche Analogien“; Griolet, Chose jugée, S. 181 f.; Hommey, Chose jugée, S. 46; Hirtz, Chose jugée, S. 214; Tuozzi, Giudicato penale, S. 20. Bemerkenswert, dass diese Bedenken in der französischen Literatur des 20. Jahrhunderts keine Erwähnung mehr finden. 1550 Im 19. Jahrhundert Mittermaier, Mündlichkeit, S. 306 f.; Hélie, Traité IX, S. 54; Hasenbalg, Öffentliche Klage, S. 85; Savigny, GA 1859, S. 585; Carrara, Del giudizio criminale, § 894 Fn. 1 (S. 158), § 918 Fn. 1 (S. 185); Zachariä, Handbuch II, S. 511; Heinze, GA 1876, S. 283; im 20. Jahrhundert Correia, Caso julgado, S. 307; La Rocca, Fatto, S. 39; Spinellis, Rechtskraft, S. 62; Figueiredo Dias, Direito processual penal, S. 145; Stein, JR 1980, S. 448; Marxen, StV 1985, S. 476; Neuhaus, MDR 1988, S. 1012; ders. MDR 1989, S. 214; W. Bauer, wistra 1991, S. 57; Grau, Defensa del imputado, S. 119 ff. (m. v. Nachw. aus der span. Rspr.); Ruiz Vadillo, Principio acusatorio, S. 39; J. Maier, Derecho procesal penal I, S. 568 ff.; Armenta Deu, Lecciones, S. 246; Badaró, Correlação, S. 32 f., 40 ff.; Prado, Sistema acusatório, S. 117; Birklbauer, Prozessgegenstand, S. 99: Velten, SK-StPO § 264 Rn. 16. 1551 Mittermaier, Mündlichkeit, S. 306 f. 1552 RGSt 3, 406 (408, 409 f.). 1553 Für Italien Cassazione RIDP 1949, 733 (736); Cassazione RIDP 1953, 79; Bettiol, RIDP 1949, S. 737, der unter Aufgabe seiner früheren eher rechtsgutsbezogenen Auffassung (S. 736; s. u. C. VIII., S. 466) im Verteidigungsrecht das alleinige Kriterium zur Bestimmung des Tatbegriffs erblickt; Guarneri, RIDP 1953, S. 79 f.; Souto de Moura, Objecto do processo, S. 26 f.; für Argentinien J. Maier, Derecho procesal penal I, S. 568 ff.; Rusconi, BolGLIPGö 5 (2013), S. 9, 13 f. 1554 Ruiz Vadillo, Principio acusatorio, S. 27; ebenso J. Maier, Derecho procesal penal I, S. 569 (aus argentinischer Sicht); Prado, Sistema acusatório, S. 146 (aus brasilianischer Sicht); abl. Cordon Moreno, Garantías constitucionales, S. 183.

2. Kap.: Der Begriff der strafprozessualen Tat

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und Richter sehr nahe. Dies ergibt sich nicht von ungefähr: Ein zweifelsohne wichtiger Nebeneffekt des Anklagegrundsatzes besteht darin, das rechtliche Gehör und die Verteidigungsrechte des Beschuldigten zu wahren;1555 man spricht auch von der „Informationsfunktion“ des Anklageprinzips.1556 Denn erst die Unterscheidung von Ankläger und Richter wird den Beschuldigten in die Lage versetzen, die vom Ankläger ausgehenden Impulse wahrnehmen und ihnen somit Widerstand leisten zu können. Wären Ankläger und Richter eine einzige Person, würde dieser Vorgang regelmäßig als reines internum ablaufen, das erst zu einem wohl zu späten Zeitpunkt zur Kenntnis des Beschuldigten gelangen würde. Dass sich aber Anklageprinzip und Verteidigungsrecht bzw. rechtliches Gehör nicht begriffsnotwendig decken, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass es möglich ist, diese zu respektieren, ohne dem Anklageprinzip Folge zu leisten. Für die Wahrung des Verteidigungsrechts bzw. des rechtlichen Gehörs würde es genügen, dass die Veränderung des Prozessgegenstands nicht als überraschendes internum verläuft, m. a. W.: dass der Beschuldigte bei einer eventuellen Veränderung des Prozessgegenstands davon unterrichtet wird und ihm die Gelegenheit gegeben wird, sich gegen den neugerichteten Vorwurf zu verteidigen bzw. sich zu ihm zu äußern.1557 Nicht erforderlich wäre es aber, dass die Erweiterung auf die Initiative einer vom Gericht unterschiedlichen Person zurückgeht.1558 Die in der StPO sorgfältig durchgeführte Unterscheidung zwischen einer Hinweispflicht wegen 1555

Siehe auch Bertel, Identität der Tat, S. 94. Etwa Detmer, Begriff der Tat, S. 108 m.w. Nachw. Fn. 5. Die Nähe zwischen Anklagegrundsatz und Verteidigungsrecht bzw. rechtlichem Gehör stellt Armenta Deu, Sistemas, S. 37 zutreffend fest. 1557 Bereits Glaser, GS 36 (1884), S. 98 ff., 126 f.; F. Frank, Identität der Tat, S. 26; Gutierrez de Cabiedes, Correlacion, S. 521; Barthel, Begriff der Tat, S. 72 Fn. 2; Armenta Deu, Principio acusatorio II, S. 130 f.; dies. Sistemas, S. 37; in der Sache auch Soto Nieto, Correlación, S. 38 ff. (in seiner Auslegung des Art. 733 spanStPO, eine dem deutschen § 265 StPO – wenn auch nur z. T. [ebda. S. 185 ff.] – vergleichbare Vorschrift); nicht überzeugende Replik bei Zachariä, Handbuch II, S. 511 Fn. 7. Auch in umgekehrte Richtung lässt sich Entsprechendes sagen: Die bloße Einhaltung des Anklageprinzips garantiert noch nicht vollumfänglich das Recht, sich gegen den Vorwurf zu verteidigen (Asencio Mellado, Principio acusatorio, S. 13). 1558 Dafür in der Tat zur Zeit des Nationalsozialismus E. Schäfer, DStR 1935, S. 253; Henkel, DStR 1935, S. 408 f.; in Portugal Correia, Caso julgado, S. 315 f., 330 f., 359 ff., 366, der aus Gründen der Prozessökonomie und in offener Ausnahme vom Anklagegrundsatz (S. 361) alle Straftaten, die das Gericht in der Verhandlung auch nur als Teil des nicht angeklagten Prozessstoffs (zu diesem Begriff o. Fn. B I [S. 379 ff.]) thematisiert, zum Teil des Verfahrensgegenstands erheben möchte; und in Italien vor der Herrschaft der vorherigen itStPO La Rocca, Fatto, S. 70 f. (der von einer Heilung der Anfechtbarkeit [nullità] der Veränderung des Prozessgegenstands spricht, und eine noch weitergehende Rspr. der Cassazione abl. erwähnt, die solche Änderungen auch ohne direkten Hinweis für zulässig erachtete, solange die Verteidigung implizit auf die Änderungen eingehen konnte, s. ebda. S. 78 f. [contestazione implicita]). Krit. v. Weber, GS 100 (1931), S. 233: „Damit wird aber die Begrenzung des Strafverfahrens durch die Anklage in entscheidender Weise illusorisch gemacht.“ 1556

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Veränderung des rechtlichen Gesichtspunkts (§ 265 Abs. 1 StPO) und einer Nachtragsanklage (§ 266 StPO), zwischen Informationsfunktion und Umgrenzungsfunktion der Anklageschrift1559 spiegelt den Unterschied zwischen dem Fall, in dem bloß das Verteidigungsrecht bzw. das rechtliche Gehör von Belang ist, und dem Fall wider, in dem das Anklageprinzip betroffen ist. Gerade dieser einleuchtende und sachlich gebotene Unterschied wird in vielen Staaten nicht gemacht.1560 Damit wird auch klar, dass die Bestimmung der prozessualen Tat von etwas anderem abhängt als dem Anliegen, dem Betroffenen Gelegenheit zur Verteidigung zu geben. Derjenige, der das Problem der strafprozessualen Tat als ein solches des Verteidigungsrechts behandelt, verkürzt das Sachproblem, denn er betrachtet es, um es positivrechtlich auszudrücken, nur unter dem Blickwinkel des § 265 StPO. Zu dem in Spanien beliebten Hinweis auf das Verbot der indefensión lässt sich dasjenige anführen, was bereits o. Teil 1 Kap. 1 C. (S. 107 f.) hervorgehoben wurde: Er beruht letztlich auf einer Verwechselung von Rechtsschutzperspektive und Perspektive der Gründe. 3. Beschuldigtenschutz Dem nahestehend, aber nicht gleichbedeutend ist die im vorliegenden Zusammenhang häufige Heranziehung des Beschuldigtenschutzes. So wollte Schwinge bei der Bestimmung des Tatbegriffs das „Interesse des Beschuldigten an Verschonung von einem nochmaligen Zugriff der staatlichen Strafgewalt“ berücksichtigt sehen;1561 heute schreibt H. Jung: „Dem Begriff der Tat kommt im Prozeßrecht eine Garantiefunktion für den Beschuldigten zu“.1562 Vor allem im angelsächsischen Raum wird der o. Kap. 1 C. V. (S. 355) bereits zitierte Satz aus Green v. United States erwähnt, um zu sagen, dass „harassing“ bzw. „vexatious“ 1559

BGHSt 57, 88 (90 f.). Augenfällig die Entscheidung IAGMR Fermín Ramírez vs. Guatemala v. 20.6. 2005, Rn. 54.9, 54.18, 73 ff., die einen Sachverhalt zum Gegenstand hatte, bei dem bei einer Anklage wegen einer Sexualstraftat ohne Hinweis auf Mord erkannt wurde. Das Gericht beanstandet, dass nicht bloß eine Änderung des rechtlichen Gesichtspunkts, sondern auch der faktischen Umstände der Anklage vorliege, was das Prinzip der Entsprechung von Anklage und Urteil („principio de congruencia“) verletze (Rn. 75) – als wäre eine unangekündigte Änderung des rechtlichen Gesichtspunkts in Ordnung, und umgekehrt jede, auch eine angekündigte Änderung eines faktischen Umstands unzulässig. Auch in der Literatur werden beide Dimensionen vermengt, sehr deutlich etwa Grau, Defensa del imputado, S. 142; J. Maier, Derecho procesal penal I, S. 568 ff.; Rusconi, BolGLIPGö 5 (2013), S. 13 ff.; krit. genau hierzu Gutierrez de Cabiedes, Correlacion, S. 521; Cortés Domínguez, Cosa juzgada, S. 64; Armenta Deu, Principio acusatorio II, S. 130 f. Siehe auch u. Fn. 1978 und Fn. 2146. 1561 Schwinge, ZStW 52 (1932), S. 231 – neben der Verfahrensöknomie, s. u. Fn. 1573. 1562 Jung, JZ 1984, S. 536; ebenso Schwinge, ZStW 52 (1932), S. 231; Bertel, Identität der Tat, S. 120; Wolter, GA 1986, S. 150; Velten, SK-StPO § 264 Rn. 9, 18 („Schutzfunktion der Rechtskraft“); s. a. Spinellis, Rechtskraft, S. 89. 1560

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prosecutions verboten werden sollten.1563 Diese wohlklingende These hält aber einer näheren Prüfung kaum stand. Erstens scheint es zumindest erwähnenswert zu sein, dass man mit vergleichbarer Sorglosigkeit die diametral entgegengesetzte These vertreten konnte: „Der prozessuale Tatbegriff dient weniger den Interessen des Angeklagten als denen der Strafrechtspflege“.1564 „Der Austausch oder das Nachschieben von Tatbeständen beim Wechsel des rechtlichen Gesichtspunkts hat kein anderes Ziel als die Verurteilung des Angeklagten, dem so die Chance des Freispruchs oder einer milderen Bestrafung genommen wird.“ 1565 Die scheinbare Paradoxie löst sich auf, sobald man merkt, dass beide Thesen sich auf verschiedene Verfahrenszeitpunkte beziehen. Der Tatbegriff weist eine dialektische Struktur auf, die ihm eine Sonderstellung in der Dogmatik des Strafund Strafprozesses verleiht. Denn während man etwa bei Verwertbarkeitsfragen „beschuldigtenfreundliche“ und „strafverfolgungsfreundliche“ Positionen unterscheiden kann (ob man dies tun sollte, ist eine weitere Frage), verhält es sich beim Tatbegriff anders. Hier ist es vielmehr so, dass „über die Vorteile jeweils ein und desselben Tatbegriffs . . . Prozeßstadium und Art der Entscheidung“ bestimmen.1566 Denn ein weiter Tatbegriff wird zwar im Laufe des Verfahrens die Verfolgung erleichtern; im Gegenzug führt er nach Abschluss des Verfahrens zu einer umfassenden Sperrwirkung, die sich regelmäßig zugunsten des Betroffenen auswirken wird. Umgekehrt macht ein enger Tatbegriff die Strafverfolgung umständlicher; Kehrseite davon ist ein enger bemessener Strafklageverbrauch, der den Beschuldigten in einem viel weiteren Umfang neuen Verfolgungen wegen anderer Delikte aussetzt. Daraus wird ersichtlich, dass der Schutz des Beschuldigten bei der Bestimmung des Umfangs der prozessualen Tat völlig irrelevant sein muss.1567

1563 U.S. Supreme Court, Brown v. Ohio, 432 U.S. 161, 169 (1977); Grady v. Corbin, 495 U.S. 508, 518 (1990); Douglas, in: Ciucci v. Illinois, 356 U.S. 571, 573 (1958); Brennan, in: Ashe v. Swenson, 397 U.S. 436, 454 (1970); White, in: United States v. Dixon et al., 509 U.S. 688, 735 (1993); Anonym, StLR 11 (1959), S. 738, 740; Anonym, WULR 1960, S. 100, demzufolge der Blockburger-Test (s. u. VI. 3. [S. 453 f.]) diesen Anforderungen nicht genüge (S. 102 ff.); R. Brown, UCLALR 19 (1972), S. 811; Thomas III, IoLR 71 (1986), S. 397; Klein/Chiarello, TexLR 77 (1998), S. 384 f., deren auf eine einzige Straftatkategorie (sog. compound offenses, die dem deutschen Organisationsdelikt nahesteht) gemünztes Identitätskriterium deshalb aus nichts anderem besteht als einer widerlegbaren Vermutung, dass die getrennte Verfolgung dieser Straftaten und weiterer Einzeltaten missbräuchlich und deshalb von der double jeopardy-Klausel untersagt sei; s. a. Fletzer, IP 1970, S. 124. 1564 Bindokat, GA 1967, S. 365. 1565 Bindokat, GA 1967, S. 366. 1566 Wolter, GA 1986, S. 150; ähnl. Gillmeister, NStZ 1989, S. 5; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 119; wohl auch Cordero, RitDPP 1958, S. 941 f. 1567 Es sei denn, man vertritt einen „dynamisch-inkongruenten“ Tatbegriff, dessen Reichweite im Laufe des Verfahrens nicht konstant bleibt; dazu krit. u. D. IV. 1. (S. 484 ff.).

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Man könnte trotzdem meinen, ein enger Tatbegriff führe häufiger zu Freisprüchen; auch dann, wenn ein neues Strafverfahren in weitgehenderem Umfang möglich bleibt, werde bereits die Verzögerung dazu führen, dass es nicht dazu kommt. Beweise gehen verloren, das Verfolgungsinteresse der Staatsanwälte lässt nach (sogar dort, wo ein Legalitätsprinzip herrscht), und insbesondere können die nicht vom Tatbegriff erfassten Strafansprüche zwischenzeitlich verjähren. Das mag aus der praktischen Perspektive eines konkret verfolgten Beschuldigten durchaus nachvollziehbar sein. Ein Grund, den Tatbegriff enger zu fassen, ist das aber nicht. Bei diesen Umständen geht es um Kontingenzen niedrigster Art, die strategisch handelnde Beschuldigte und insbesondere Verteidiger durchaus einkalkulieren sollen, die aber für eine grundlagenorientierte Bestimmung des Gegenstands eines Verfahrens nicht von Relevanz sein können. Ansonsten wäre der Tatbegriff weiter oder enger zu bemessen, je nachdem, ob die Verjährungsfristen lang oder kurz sind. Ein Interesse des Beschuldigten, durch Strafverfahren nicht belästigt zu werden, ist rechtlich unbeachtlich (s. o. Kap. 1 C. V. [S. 357 f.]). Was beachtlich ist, ist sein starkes Recht, nicht ein zweites Mal wegen einer bereits getilgten Schuld oder eines bereits getilgten Verdachts belästigt zu werden (s. o. Kap. 1 D. [S. 371 ff.]); ob dies aber vorliegt, ist gerade die Frage. Zuerst muss man also klären, was der Gegenstand des Erstverfahrens gewesen ist; handelt das zweite Verfahren von einem anderen Gegenstand, dann wird der Beschuldigte die Belästigungen hinzunehmen haben.1568 Damit soll das Problem der „harassing prosecutions“, das in Amerika ein Leitmotiv der Auseinandersetzung über das double jeopardy verkörpert, nicht bagatellisiert werden. Bezeichnend dürfte der Sachverhalt der Entscheidung Ciucci v. Illinois sein: Hier stand der Beschuldigte unter dem Verdacht, seine Ehefrau und seine drei Kinder getötet zu haben. Die Staatsanwaltschaft wollte die Todesstrafe erreichen; um dies sicherzustellen, führte sie für jedes Opfer ein getrenntes Verfahren durch, und erst beim dritten Durchgang konnte sie ihr Ziel erreichen.1569 Der Supreme Court hat diese Vorgehensweise allein an der due process-Klausel gemessen und die Klausel für nicht verletzt erachtet.1570 In einem späteren Fall (Ashe v. Swenson), der mit einem Raub an sechs Poker-Spielern zu tun hatte, erhob die Staatsanwaltschaft nur wegen des ersten Raubs Anklage, und gab zu, die erste Verhandlung als Probe für die weiteren Verfahren benutzen zu wollen.1571 Trotzdem können diese Probleme, deren Wurzel in der unbeschränkten prosecutorial discretion bzw. in einem völlig ungebundenen Opportunitätsprinzip 1568 Richtig Moore, Act and Crime, S. 353; Thomas III, Double Jeopardy, S. 56 ff. (der diese Argumentationsweise zurecht als „category mistake“ bezeichnet, S. 59); Burger, in: U.S. Supreme Court, Ashe v. Swenson, 397 U.S. 436, 465 (1970). 1569 U.S. Supreme Court, Ciucci v. Illinois, 356 U.S. 571 (1958). 1570 U.S. Supreme Court, Ciucci v. Illinois, 356 U.S. 571, 573 (1958). 1571 U.S. Supreme Court, Ashe v. Swenson, 397 U.S. 436, 447 (1970).

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liegt, nicht direkt durch den ne bis in dem-Grundsatz oder den Tatbegriff gelöst werden.1572 Zum Teil werden sie schon durch ein richtiges Verständnis des Anklageprinzips gelöst, das als Prinzip, dem es um die Beseitigung vernunftnotwendiger Gefahren geht (s. o. III. 2. b) [S. 390 ff.]), sich schon von vornherein dagegen sträuben muss, dem konkreten Individuum freien Lauf bei der Bestimmung des anzuklagenden Gegenstands zu gewähren (näher u. D. V., VI. [S. 510 ff.], auch mit einer Reihe weiterer Beispiele). 4. Prozessökonomie Entsprechendes lässt sich zur ebenso häufig herangezogenen Prozessökonomie geltend machen.1573 Auch das Reichsgericht hat sich auf „die praktischen Gesichtspunkte, welche zur Vermeidung unnützer Vervielfältigung der Proceduren für eine möglichste Ausdehnung der Grenzen zulässiger Klageänderung zu sprechen scheinen“ berufen, um nachträglich einige frühere Entscheidungen im Sinne eines weiten Tatbegriffs zu erklären.1574 Während ein Prozess noch läuft, ist ein weiter Tatbegriff in der Tat ökonomisch, weil er es gestattet, ohne erneute Anklage abzuurteilen, und deshalb auch sicherstellen kann, dann nicht in zwei verschiedenen Verhandlungen über die gleichen Fragen Beweise erheben zu müssen. Nach Abschluss des Verfahrens verwandelt sich die Ökonomie paradoxerweise in Verschwendung, wenn alles, was nach dem weiten Tatbegriff abgeurteilt werden durfte, nicht mehr in einem zweiten Verfahren abgehandelt werden kann.1575 Die 1572 Ebenso Burger, in: Ashe v. Swenson, 397 U.S. 436, 465 (1970), der die Mehrheitsentscheidung als „decision by slogan“ kritisiert; Amar/Marcus, ColLR 95 (1995), S. 36; N. King, UPennLR 144 (1995), S. 130 ff. Auch aus unserer Perspektive würde man hier in beiden Fällen keine Verletzung des double jeopardy erkennen können (s. u. E. III. 10. [S. 620 ff.]). 1573 Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 114; Schwinge, ZStW 52 (1932), S. 231: „Gründe staatlicher Verfahrensökonomie“; F. Frank, Identität der Tat, S. 17 f.; Niederreuther, DStR 1936, S. 174; ders. DJ 1942, S. 112; Correia, Caso julgado, S. 318, 330 f., der in aller Offenheit im Namen der Prozessökonomie Ausnahmen vom Anklageprinzip postuliert (s. o. Fn. 1558); Spinellis, Rechtskraft, S. 62, 89, 97 f.; Figueiredo Dias, Direito processual penal, S. 145; Schöneborn, MDR 1974, S. 529; Peters, Strafprozeß, S. 460; Neuhaus, Tatbegriff, S. 162 ff.; Wolter, GA 1986, S. 150; Souto de Moura, Objecto do processo, S. 27; Birklbauer, Prozessgegenstand, S. 100; aus der amerikanischen Rspr. Brennan, in: Ashe v. Swenson, 397 U.S. 436, 454 (1970). Noch weiter geht Bindokat, GA 1967, S. 365 der sogar Kostenerwägungen als Zusatzargumente für einen weiten Tatbegriff anführt; zu Recht krit. Barthel, Begriff der Tat, S. 45. Büchner, Strafprozessuale Tat, S. 138 ff. möchte nur den Prozessgegenstand anhand der Prozessökonomie bestimmen, den er nicht als kongruent zum Gegenstand des Strafklageverbrauchs versteht (krit. zu diesem „dynamisch-inkongruenten“ Tatverständnis u. D IV. 1. [S. 484 ff.]). 1574 RGSt 28, 321 (323). 1575 Zu Recht abl. Bertel, Identität der Tat, S. 113; Nieva Fenoll, Cosa juzgada I, S. 121: Reflex der Rechtssicherheit. Diese Argumente sind unabhängig davon, ob man die Prozessökonomie überhaupt als einen gewichtigen Grund einschätzt; krit. bereits hierzu Oehler, FS Rosenfeld, S. 159.

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Prozessökonomie schneidet hier also in beide Richtungen und kann genauso wenig wie der Beschuldigtenschutz für einen engeren oder weiteren Tatbegriff herangezogen werden.1576 Es besteht auch ein Weg, alle prozessökonomischen Vorteile zu erzielen, die man sich vom weiten Tatbegriff erhofft, ohne dessen Nachteile in Kauf nehmen zu müssen: nämlich die in den meisten Verfahrensordnungen vorgesehene Möglichkeit der Verbindung von zusammenhängenden Prozessen.1577 5. Rechtskraftlehre, Gerechtigkeit bzw. Gerechtigkeit und Rechtssicherheit Häufig möchte man den Tatbegriff im Lichte der ratio bzw. rationes bestimmen, die man der Rechtskraft zugeordnet hat. Dies tun vor allem Autoren, die die Rolle der Gerechtigkeit als Begründung der Rechtskraft betonen,1578 aber auch diejenigen, die im Sinne der h. M. die Rechtskraft als Sieg der Rechtssicherheit über die Gerechtigkeit deuten.1579 „In dem Tatbegriff muß sich die Lösung der Antinomie niederschlagen, die hier zwischen den Idealen der Rechtssicherheit und der Gerechtigkeit besteht“.1580 „Die Lösung der Identitätsfrage kann nur unter abgewogenem Ausgleich von Rechtssicherheit und Rechtsruhe einerseits und Gerechtigkeit und Rechtsautorität andererseits gefunden werden“.1581 Bereits o. Kap. 1 C. VII. (S. 361 f.) wurde angemerkt, dass Autoren, die die Rechtskraft auf die Rechtssicherheit gründeten, daraus einen unflexiblen und weiten Tatbegriff ableiten wollten,1582 während es umgekehrt nicht an Autoren gefehlt hat, die den Tatbegriff auf Grundlage von Erwägungen materieller Ge-

1576 Detmer, Begriff der Tat, S. 122. Hier gilt auch derselbe Vorbehalt, der o. Fn. 1567 gemacht worden ist. 1577 Ähnl. Detmer, Begriff der Tat, S. 56. 1578 Nachw. bereits o. Bd. 1, Fn. 1392. 1579 Nachw. o. Bd. 1, Fn. 1322. 1580 Bertel, Identität der Tat, S. 11 (Zitat), S. 120, der Rechtssicherheit im Sinne des Beschuldigtenschutzes versteht. 1581 Peters, Strafprozeß, S. 506; ähnl. ders. JZ 1966, S. 70. Siehe auch Kohlrausch, Idealkonkurrenz, S. 59: „Wie der Satz ne bis in idem seine Grundlage einzig und allein in der Zweckmäßigkeit und in der Billigkeit hat, so kann auch die Frage, in welchem Umfange die Strafklage durch ein Urtheil verbraucht ist . . . nur nach den Grundsätzen der Zweckmässigkeit und der Billigkeit beantwortet werden“; Busch, ZStW 68 (1956), S. 3; Geerds, Konkurrenz, S. 399; Vogler, Rechtskraft, S. 96; Spinellis, Rechtskraft, S. 97 f.; Neuhaus, Tatbegriff, S. 153 ff., 156 ff.; ders. NStZ 1987, S. 140; ders. MDR 1989, S. 218; Maatz, FS Meyer-Goßner, S. 257; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 642 f. Noch weiter geht Barthel, Begriff der Tat, S. 88 f., der alle Komponenten der Rechtsidee (s. E. Rechtssicherheit, Zweckmäßigkeit, Gerechtigkeit und Billigkeit) heranzieht; und Wolter, GA 1986, S. 150 ff., der eine Vielzahl weiterer Gesichtspunkte, u. a. die Prozessökonomie und sogar Erfordernisse einer gerechter Strafzumessung (S. 152) mitberücksichtigen möchte. 1582 Nachw. o. Fn. 1389.

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rechtigkeit einzuengen suchten.1583 Vertreter vermittelnder Auffassungen wollen auf eine Abwägung abstellen. Alledem muss man mit Entschiedenheit entgegengetreten. Und dies nicht einmal, weil die angeführten rationes per se genommen fragwürdig sind,1584 sondern wegen eines rein logischen und deshalb auch neutralen Gesichtspunkts: In Rechtskraft erwächst das Ergebnis eines Verfahrens über einen bestimmten Gegenstand. Ob dies aus Gründen der Gerechtigkeit, der Rechtssicherheit oder, wie hier vertreten (o. Kap. 1 D. [S. 371 ff.]), der Schuldtilgung, Rehabilitierung und Verfahrensgerechtigkeit erfolgt, kann außer Betracht bleiben. Ausschlaggebend ist allein, dass alle diese rationes das Vorhandensein eines ersten Verfahrens voraussetzen, das seinerseits einen Gegenstand gehabt haben muss. Von der Bestimmung des Gegenstands des Prozesses hängt es deshalb ab, an welcher Stelle Ungerechtigkeit, Rechtsunsicherheit oder Bestrafung bereits getilgter Schuld bzw. Verletzung eines Rehabilitierungsrechts oder Verfahrensungerechtigkeit bestehen würden, falls man ein neues Verfahren wegen desselben Gegenstands in Gang setzt. Die Reichweite des Tatbegriffs ist deshalb eine für die Reichweite der Rechtskraft logisch präjudizielle Frage, die nicht durch ihre rationes entschieden werden kann. Diese logisch vorrangige Frage wird allein unter Heranziehung des Anklageprinzips zu lösen sein.1585 Die rationes der Rechtskraft werden erst die Bühne betreten müssen, um zu bestimmen, ob dieser allein durch das Anklageprinzip festzulegende Gegenstand der Anklage auch dem Gegenstand der Rechtskraft entsprechen soll. Mit dieser Frage werden wir uns u. D. IV. 1. (S. 484 ff.) näher beschäftigen. 6. Wiederaufnahmevorschriften Ein Argument, worauf man sich auch gelegentlich bei der Kritik einzelner Tatbegriffe beruft,1586 und das sogar vom Bundesverfassungsgericht bei seiner Ablehnung der Möglichkeit eines zweiten Verfahrens wegen eines nachträglichen Eintritts eines schwereren Erfolgs bemüht wurde,1587 sind die Wiederaufnahmevorschriften. So beweise die Wiederaufnahme propter nova sowohl zugunsten 1583

Siehe die Nachw. o. Bd. 1, Fn. 1392. Siehe oben C. II., VIII. (S. 346 ff., 362 ff.). 1585 In der Sache auch Mitsch, JR 1990, S. 162 f., sofern er sich über die „immanente Zirkularität“ von Berufungen auf auf Vertrauensschutz oder Gerechtigkeit beklagt, der sich aber im Anschluss desselben Fehlers schuldig macht (S. 163). 1586 Z. B. RGSt 2, 347 (348); Gantzer, Rechtskraft, S. 122; Grünwald, ZStW-Beiheft 1974, S. 114; ders. FS Bockelmann, S. 743; Puppe, JR 1986, S. 206 Fn. 3; Wolter, GA 1986, S. 154 (gegen zu enge Tatbegriffe), 155, 160; Mitsch, MDR 1988, S. 1010; Cording, Strafklageverbrauch, S. 183 f.; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 130 (gegen alle normativ orientierten Tatbegriffe); Detmer, Begriff der Tat, S. 63 ff.; Velten, SK-StPO § 264 Rn. 21 (a. E.). 1587 BVerfGE 65, 377 (382). Zu dieser Konstellation u. E. III. 4. c) aa) (S. 572 ff.). 1584

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

(§ 359 Nr. 5 StPO) als auch zulasten (§ 362 Nr. 4 StPO) des Beschuldigten, dass auch Tatsachen, die im ersten Verfahren überhaupt nicht zur Sprache gekommen sind (und insofern „neu“ sind1588), zur strafprozessualen Tat, die von der Rechtskraft umfasst ist, gehören müssen. Als systematisches Argument im Rahmen der Auslegung des positiven Rechts kommt einem solchen Hinweis durchaus Gewicht zu. Aus unserer Perspektive wäre es indes verfehlt, dem Gesichtspunkt mehr als heuristisch-indizielle Bedeutung zuzuerkennen. Denn die Begründung verläuft in umgekehrte Richtung: Eine Wiederaufnahme ist erforderlich, wo eine rechtskräftige Entscheidung vorliegt. Diese deckt sich mit dem Gegenstand des Verfahrens, der wiederum dem Gegenstand der Anklage entspricht. Insofern ist auf dasselbe hinzuweisen, was bei den Bemühungen, die Rechtskraftlehre im vorliegenden Zusammenhang heranzuziehen, gesagt worden ist: Der Gehalt des Tatbegriffs ist eine begründungslogisch vorrangige Frage.1589 7. Vermeidung einander widersprechender Entscheidungen Insbesondere bei der u. E. III. 9. (S. 611 ff.) näher zu untersuchenden Fallgruppe der sog. Alternativität wird ein Gesichtspunkt geltend gemacht, dem bei der Bestimmung der prozessualen Tat angeblich wenigstens ein Mitspracherecht zukommen soll: Die prozessuale Tat soll so formuliert werden, dass nicht zwei einander widersprechende Entscheidungen entstehen können.1590 Konkret: wenn gegen einen, der mit einer fremden gestohlenen Sache gefunden worden ist, einmal wegen Diebstahls, ein anderes Mal wegen Hehlerei verfahren wird, oder wenn der, in dessen Garten die Leiche eines Ermordeten ausgegraben wurde, in einem Verfahren wegen Mordes, in einem anderen wegen Strafvereitelung zur Verantwortung gezogen wird, kann man nicht ausschließen, dass in beiden Fällen Freisprüche oder sogar Verurteilungen ergehen. Das kann nicht richtig sein. Es empfiehlt sich, über die Berechtigung dieses intuitiv einleuchtenden Gesichtspunkts erst später, bei der Behandlung der Alternativität, abschließend zu urteilen (u. E. III. 9. [S. 611 ff.]). Bereits hier sollen nur grundsätzlichere Zweifel gemeldet werden. Dass Entscheidungen einander widersprechen, ist etwas, was die Rechtsordnung immer wieder hinzunehmen bereit ist.1591 Man denke nur an den Fall, in 1588

Näher zu diesem Begriff u. Kap. 6 II. 3. b) cc) (S. 935 ff.). Im Erg. ähnl. Ramm, DStR 1939, S. 45; s. a. Oehler, GS Schroeder, S. 442; Paeffgen, NStZ 2002, S. 287 Fn. 66. 1590 Correia, Caso julgado, S. 318; Velten, SK-StPO § 264 Rn. 18; und insb. Schöneborn, s. a. u. E., III., 9. (S. 614 ff.). In Italien erblicken viele in der Vermeidung von praktischen Widersprüchen eine oder sogar die ratio der Rechtskraft, s. o. Kap. 1 C. I. (S. 341). 1589

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dem zwei Personen, die sich gegenseitig ohne Erfolg zu töten versucht haben, beide wegen Notwehr freigesprochen werden, weil man den Angreifer nicht ermitteln kann. Bei unterschiedlichen Betroffenen hat man also nichts dagegen, widersprüchliche Entscheidungen zuzulassen. So hat bereits das Reichsgericht eine Verurteilung wegen Beihilfe1592 und wegen Begünstigung1593 für möglich erachtet, obwohl der Haupt- bzw. der Vortäter in einem früheren Verfahren freigesprochen worden war.1594 Die Frage ist nur, wieso dies bei einem einzigen Betroffenen anders sein sollte. Implizit oder explizit beruft man sich bei dieser Begründung auf die rationes aus der Rechtskraftlehre. Das ist schon für sich genommen bedenklich, da, wie o. 5. (S. 417) gesehen, die Frage nach dem Tatbegriff eine logisch vorrangige Frage im Verhältnis zu der Reichweite der Rechtskraft ist. Aber selbst wenn man hiervon absieht, stehen die Idee der Vermeidung widersprüchlicher Entscheidungen und ihr Verhältnis zum Tatbegriff auf schwachen Füßen. So könnte man anführen, dass bei widersprüchlichen Entscheidungen mindestens eine unrichtig sein müsse. Rechtskraft beruht aber nicht auf Richtigkeit (s. o. Kap. 1 C. IV., VIII. [Bd. 1, S. 351 ff., 360 ff.]). Ein weiterer Grund könnte sein, der Widerspruch schade dem Ansehen der Entscheidung. Deshalb erblickten autoritätsorientierte Autoren in den gerade genannten Fällen einen unerträglichen Zustand1595 und traten für eine positive Bindungswirkung der Rechtskraft ein. Ähnlich argumentierten ältere französische und italienische Autoren, die unter dem Einfluss der Präsumptions- oder Fiktionstheorie der Rechtskraft standen: Bei einem nicht beschuldigtenbezogenen, sondern tatbezogenen Freispruch, also insbesondere im Falle eines Freispruchs wegen erwiesenen Nichtvorhandenseins der Straftat könne kein anderer als Teilnehmer daran verfolgt werden.1596 Ob es einen solchen tatsächlich geben sollte, kann die vorlie1591 Ebenso Hall, DRW 1941, S. 315; Stein, JR 1980, S. 448; Fezer, Strafprozeßrecht, Fall 18 Rn. 41; Callari, Firmitas, S. 26 Fn. 52, S. 29 f.; s. a. BGHSt 32, 146 (149); BGH wistra 1991, 30 (31); umf. De Luca, Limiti soggettivi, S. 36 ff., 73 ff., 124 ff. und die schöne Gegenüberstellung von Valticos, Chose jugé, S. 49 ff. Zugegeben von Velten, SK-StPO § 264 Rn. 18, die aber glaubt, Fälle wie die im Folgenden Genannten seien Randerscheinungen. 1592 RGSt 33, 319 (320). 1593 RGSt 58, 290 (291). 1594 Weitere Beispiele bei Glaser, GrünhutsZ 12 (1885), S. 324 f., Fn. 33 und 34. 1595 Binding, Strafurteil, S. 354: „Hohn auf die Gerechtigkeit“ (zu ihm krit. Beling, ZStW 36 [1915], 660); Henkel, Strafverfahrensrecht 1. Aufl., S. 448 (aufgegeben in der 2. Aufl., S. 392); aus nationalsozialistischer Sicht Siegert, DStR 1935, S. 295 f. und E. Wolter, Rechtskraft, S. 41. Siehe auch Planck, Systematische Darstellung, S. 138 Fn. 1; und Schanze, ZStW 4 (1884), S. 479, beide gegen die Möglichkeit einer strafbaren Beihilfe bzw. Teilnahme an der Tat eines freisgesprochenen Haupttäters. 1596 Insb. Hélie, Traité III, S. 571 ff.; ebenso Hirtz, Chose jugée, S. 215 f.; nahestehend Hommey, Chose jugée, S. 50 ff.; Ortolan/Desjardins, Éléments, S. 308 ff.; nach dem 2. Weltkrieg Manzini, Trattato IV, S. 457; Angioni, RevPen 1954, S. 517 f.;

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gende Arbeit, die sich allein den negativen Dimensionen der Rechtskraft zuwendet (o. Einleitung, S. 37), nicht klären. Dennoch soll hier festgehalten werden, dass dieses Anliegen, Autorität zu wahren, eigentlich prozessrechtlichen Machiavellismus verkörpert (o. Teil 1 Kap. 2 C. II. 3. [S. 155 f.]), und deshalb bei der Rechtskraftlehre nicht anzuerkennen ist (s. o. Kap. 1 C. I. [S. 338]). Die natürlichste Begründung für die positive Feststellungswirkung der rechtskräftigen Entscheidung für andere Verfahren ist aber, wie o. (o. Kap. 1 C. IV. [S. 354 f.]) gesagt, der Gedanke der Rechtskraft als Wahrheit oder wenigstens als Wahrheitsfiktion. Dieser ist aber aus den ausgeführten Gründen ebenfalls abzulehnen (o. Kap. 1 C. IV. [S. 352 ff.]). Zuletzt erscheint alles andere als klar, warum die Vermeidung widersprüchlicher Entscheidungen gerade vom Tatbegriff garantiert werden muss, und nicht ein Problem darstellt, das allein durch das Institut der Verbindung von Prozessen bewältigt werden sollte.1597 Denn eine vom Anklageprinzip losgelöste, aus diesem Grund erfolgende Erweiterung des Tatbegriffs würde bedeuten, dass die Verhinderung eines Widerspruchs so bedeutsam ist, dass man bereit ist, die Gefahr eines Richters hinzunehmen, der über eine zur Hälfte von ihm selbst formulierte Verdächtigung urteilt und deshalb auch zur Hälfte befangen ist.1598

Santoro, Manuale, S. 397; De la Oliva Santos, Conexion, S. 153 ff., 159 f.; w. Nachw. bei Callari, Firmitas, S. 25 Fn. 51, S. 26 Fn. 52, der die These ablehnt. Warum dies nicht umgekehrt auch im Falle der Verurteilung gelten soll, ist eine vielfach gestellte Frage (etwa Griolet, Chose jugée, S. 292), auf die man nie eine überzeugende Antwort hat geben können; nur selten hat man die Folgerung gezogen (für ein Beispiel Santoro, Manuale, S. 397; zw. auch Carnelutti, RDP 3 [1948], S. 5). Die gegenwärtige italienische Lehre steht indes ganz auf einer Linie mit der auch in Deutschland allgemein akzeptierten Auffassung, grdl. De Luca, Limiti soggettivi, insb. S. 111 ff.; ders. Giudicato, S. 7 f.; (vor ihm aber schon Tuozzi, Giudicato penale, S. 8 f.); Guarneri, NovDigIt XV (1968), S. 232; Lozzi, Ne bis in idem, S. 10 ff.; der. Lezioni, S. 781 f., 789 f.; Conso/ Guariniello, RitDPP 1975, S. 46 f.; Leone, Manuale, S. 71; Rivello, RitDPP 1991, S. 484; ebenso die Rspr., Cassazione Penale CassPen 1999, 2229 (2230); 1999, 3489; 2007, 1190; in Frankreich lässt sich auch eine Abkehr von diesem traditionellen Standpunkt verzeichnen, s. Bouzat/Pinatel, Traité II, S. 1478 (sehr vorsichtig); Guinchard/ Buisson, Procédure pénal, Rn. 1424, 2657, ebenso in Spanien, s. Cortés Domínguez, Cosa juzgada, S. 183 ff.; ders. Derecho procesal penal, S. 438 ff. Noch weiter geht die angelsächsische Lehre vom issue estoppel, Nachw. hierzu o. Bd. 1, Fn. 31; gegen sie wären vergleichbare Zweifel anzumelden. 1597 Bereits Hall, RW 1941, S. 315. Nicht zu verkennen ist, dass sich Schwierigkeiten ergeben können, wenn diese Verbindung nicht mehr möglich ist (ausf. Beulke/Fahl, Jura 1998, S. 267 ff.) – wie in dem von BayObLG, NJW 1965, 2211 entschiedenen Fall –, was aber höchstens ein Grund sein kann, die Regeln der Verbindung von Prozessen und nicht die Reichweite des Tatbegriffs zu überdenken (ebenso Stein, JR 1980, S. 449). 1598 In einzelnen Fällen wird es möglich sein, eine der Entscheidungen im Wege der Wiederaufnahme aufzuheben; nicht immer, weil die neue Entscheidung nicht schon per se ein novum i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO darstellt (s. u. Kap. 6 C. II. 3. c) cc) (2) [S. 935 ff.]). Es kann aber sein, dass im zweiten Verfahren sich nova herausstellen, die einen Anlass zur Auflösung der Erstentscheidung bieten.

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8. Verfassungsrecht Weil der ne bis in idem-Grundsatz in den deutschen Verfassungstext Eingang gefunden hat (Art. 103 Abs. 3 GG) und man allgemein von einem Prozessgrundrecht spricht,1599 könnte man versuchen, auch aus dem bereits formell höherrangigen Verfassungsrecht Aufschlüsse über den Inhalt des Tatbegriffs zu gewinnen. Auch außerhalb Deutschlands sind vergleichbare Ansätze vorhanden.1600 a) Die Stellungnahmen aus der Rechtsprechung sind wenig eindeutig. In einer frühen Entscheidung meinte der BGH, die Aufnahme des Prinzips in das Grundgesetz führe dazu, dass man dem Grundsatz keine andere Deutung verleihen dürfte als die, von der die Gerichte vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes auszugehen pflegten.1601 Das BVerfG äußerte sich in einem ähnlichen, wenn auch nicht so radikalen Sinne. Auch dieses Gericht deutete Art. 103 Abs. 3 GG als Bezugnahme auf das „vorverfassungsrechtliche Gesamtbild des Prozeßrechts“,1602 meinte aber gleichzeitig, dass dieses Bild „inhaltlich auf die objektive Wertordnung des Grundgesetzes ausgerichtet“ werden sollte.1603 Daraus folgerte das Verfassungsgericht den Gedanken, dass die Tat im prozessualen Sinne ein geschichtlicher Vorgang sein müsse,1604 und insbesondere auch – was uns u. D. VII. 1. (S. 531 f.) noch beschäftigen wird – dass natürliche Handlungseinheiten von Verfassungs wegen eine einheitliche prozessuale Tat darzustellen hätten.1605 Derartige verfassungsrechtlich orientierte Stellungnahmen leiten aber von der Verfassung nur wenig ab. Sie behaupten vielmehr gerade umgekehrt die primäre Zuständigkeit des Strafprozesses zur Bestimmung des Tatbegriffs. Das Verfassungsrecht solle sich damit begnügen, an diesem originär vom Prozessrecht bestimmten Begriff Randkorrekturen auf Grundlage der Wertordnung des Grundgesetzes vorzunehmen. Im Wesentlichen sei der Stand des Strafprozessrechts bis 1949 für diese Frage maßgeblich. Art. 103 Abs. 3 GG habe insofern nur „dekla1599

Nachw. o. Bd. 1, Fn. 1437. Insb. in den USA, s. o. 3. (S. 412 ff.), Nachw. Fn. 1563. Mit der spanischen Ableitung des ne bis in idem-Grundsatzes aus dem Gesetzlichkeitsprinzip haben wir uns o. Teil 1 Kap. 1 C. (S. 109 f.) knapp kritisch auseinandergesetzt. Konkrete Aufschlüsse für den Tatbegriff werden soweit ersichtlich daraus nicht gezogen. 1601 BGHSt 6, 122 (125): Änderungen seien nur unter Beachtung der Voraussetzungen des Art. 79 Abs. 1, 2 GG möglich! Noch nicht so zugespitzt BGHSt 3, 13 (16); s. a. BGHSt 18, 141 (146). 1602 BVerfGE 56, 22 (28). Davor BVerfGE 2, 248 (252); 9, 89 (96); 12, 62 (66); 23, 191 (202 f.). 1603 BVerfGE 23, 191 (202). 1604 BVerfGE 56, 22 (28); 23, 191 (202); ebenso Mann/Mann, ZStW 75 (1963), S. 262; G. Schmidt, JZ 1966, S. 91; Grünwald, FS Bockelmann, S. 750; ders. 50. DJT, S. C 23 ff.; Lemke, ZRP 1980, S. 141, 143, der aber in zweifelhafter Konsequenz dafür plädiert, den Strafklageverbrauch bei fortgesetzten Handlungen und Dauerstraftaten de lege ferenda einzuschränken (S. 143 f.); Schmidt-Aßmann, M/D-GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 281; ähnl. Rieß, ZRP 1977, S. 73. 1605 BVerfGE 56, 22 (32). 1600

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ratorische Bedeutung“.1606 Nach dieser These ergibt sich aus der Verfassung, dass an dem Tatbegriff, der bis 1949 allgemein anerkannt war, nicht gerüttelt werden darf. An einer solchen These wäre zum einen zu loben, dass man bei der Frage nach dem strafprozessualen Tatbegriff nicht der Mode einer verfassungsrechtlichen „Kolonialisierung“ erliegt.1607 Hat man aber akzeptiert, dass der Begriff der Tat kein originär verfassungsrechtlicher ist, dann stellt sich zwangsläufig die Frage, weshalb man „mit Art. 103 Abs. 3 GG einen bestimmten Tatbegriff versteinern“ soll.1608 Die Behauptung, dies habe der Verfassungsgesetzgeber gewollt, ist wohl eine bloße Unterstellung.1609 Denn die aus den Verhandlungen durchaus ersichtliche negative Tatsache, dass er nicht vorhatte, etwas zu verändern,1610 bedeutet noch lange nicht das Gleiche wie die positive Tatsache, dass er alles unverändert lassen wollte. Und selbst wenn diese logisch und empirisch fehlerhafte Gleichsetzung stimmen würde, wäre sie nicht mehr als ein Hinweis auf Autorität, der uns nicht von der Aufgabe entlasten würde, nach den Gründen, die den Willen des Verfassungsgesetzgebers tragen sollen, zu fragen. b) Gelegentlich geht man einen Schritt weiter und bestreitet wenigstens teilweise die von der Rechtsprechung ohne Weiteres eingeräumte primäre Zuständigkeit des Strafprozessrechts bei der Bestimmung des Tatbegriffs. Nicht (oder nicht nur) das Strafprozessrecht, sondern (auch) das Verfassungsrecht solle den Gehalt der strafprozessualen Tat unmittelbar bestimmen. So hat das Bundesverfassungsgericht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet, dass die Gewissensentscheidung der Zeugen Jehovas, den Wehrdienst und den Zivildienst auf immer zu verweigern und somit eine Dienstflucht zu verwirklichen (§ 53 ZDG), eine einheitliche Tat im Sinne des Art. 103 Abs. 3 GG darstellt, so dass bei der Verweigerung, einer erneuten Einberufung Folge zu leisten, eine zweite Bestrafung nicht zulässig sei.1611 Und in der Lehre meinen viele, Art. 103 Abs. 3 zwinge dazu, einen weiten Tatbegriff vorzuziehen.1612 1606

Spinellis, Rechtskraft, S. 8. Ausdruck von Arzt, GS Armin Kaufmann, S. 847 f. 1608 Oehler, GS Schröder, S. 441 (Zitat); ebenso Jescheck, JZ 1957, S. 30; Vogler, Rechtskraft, S. 94; Noftz, Prozeßgegenstand, S. 90; Büchner, Strafprozessuale Tat, S. 10 f.; Behrendt, ZStW 94 (1982), S. 909, der aber Art. 103 Abs. 3 GG die Bedeutung zuschreibt, einen Kernbestand des Tatbegriffs zu garantieren; Neuhaus, Tatbegriff, S. 25; ders. NStZ 1987, S. 140; Paeffgen, NStZ 2002, S. 286 f. m. Fn. 57. 1609 So Vogler, Rechtskraft, S. 94; Geerds, Konkurrenz, S. 403 f.; Noftz, Prozeßgegenstand, S. 89. 1610 Man lese nur JöR 1951, S. 741 ff. und finde dort einen einzigen Hinweis auf den Tatbegriff! 1611 BVerfGE 23, 191. 1612 Neuhaus, Tatbegriff, S. 155; ähnl. Velten, SK-StPO § 264 Rn. 19: der „weite Tatbegriff“ sei verfassungsrechtlich geschützt. Siehe auch Eb. Schmidt, Lehrkommentar II, § 264 Rn. 19. 1607

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Indes ist auch dies eine unbegründete These.1613 Lassen wir das spezifische Problem der Zivildienstverweigerer zunächst beiseite (hierzu näher u. E. III. 4. c) bb) [S. 576 ff.]) und wenden wir uns allein der These zu, man könne durch unmittelbare Auslegung des Art. 103 Abs. 3 GG Rückschlüsse auf die Reichweite des strafprozessualen Tatbegriffs ableiten. Die Tatsache, dass ein bestimmtes Recht verfassungsrechtlich verankert ist, ist zwar für die Bestimmung seines Inhalts nicht ohne jegliche Relevanz. Sie verkörpert die Anerkennung der besonderen Bedeutung dieses Rechts. Diese Anerkennung wird ihrerseits auf Gründen beruhen müssen, und mit dem Gewicht dieser Gründe wäre es nicht verträglich, wenn man die verfassungsrechtlich anerkannte Position so restriktiv auslegen würde, dass ihr jede praktische Bedeutung weggenommen wird. Davon ist aber die vorliegend untersuchte Auffassung ein großes Stück entfernt. Denn sie beruht auf der nicht überzeugenden Prämisse, verfassungsrechtlich anerkannte Rechte seien allein schon wegen ihres Ranges möglichst weit auszulegen. Dies verführt zu einer punktuellen ad hoc Deutung der auszulegenden Rechtsposition; diese wird aus dem Zusammenhang, in den sie eingebettet ist, gerissen, was unvermeidbar Widersprüche und Friktionen zur Folge hat. Konkret: Es hört sich leicht an, zu behaupten, als Prozessgrundrecht müsste Art. 103 Abs. 3 GG und sein Tatbegriff extensiv ausgelegt werden; dass aber die daraus entstehende Rechtsfolge des Strafklageverbrauchs einen Zusammenhang zur Reichweite der richterlichen Kognition aufweisen könnte, diese wiederum einen Zusammenhang zur Reichweite der Anklage, und dass diese letztlich ein inneres Verhältnis zu einem bestimmten Verständnis des Anklageprinzips haben könnte – alle diese Implikationen werden ausgeblendet, wenn man glaubt, unmittelbar aus Art. 103 Abs. 3 GG eine solche Behauptung herleiten zu dürfen.1614 Die verfassungsrechtliche Orientierung führt also zur Gefahr der Oberflächlichkeit, und Oberflächlichkeit rächt sich. Sie führt bestenfalls zu Scheinlösungen, die wegen ihrer mangelnden Verallgemeinerungsfähigkeit mehr Probleme schaffen als sie lösen. Im vorliegenden Bereich können eine Reihe von Spannungen entstehen, zu denen man u. D. IV. 1. (S. 484 ff.), 4. a) (S. 502 ff.) gleich zurückkehren wird. c) Eine dritte mögliche Position bestünde darin, nur bestimmte äußerste Eckpunkte für verfassungsrechtlich geschützt zu halten. Nicht der ganze corpus der von der Rechtsprechung anerkannten Sätze über den Tatbegriff, sondern der Kern dieses vorverfassungsrechtlichen Gesamtbildes sei unveränderbar.1615 Was zu 1613 Krit. auch Vogler, Rechtskraft, S. 99 („Rückfall in eine reine Wortlautinterpretation“); Schmidt-Aßmann, M/D-GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 266 (mit der etwas dunklen Behauptung, Art. 103 Abs. 3 GG sei eine sog. „Basisgarantie“). 1614 Was hiermit genau gemeint ist, soll erst im Anschluss deutlich werden (u. D. IV. 1. [S. 484 ff.], 4. a) [S. 502 ff.]). 1615 Repräsentativ BVerfGE 56, 22 (34 f.): „Grenzkorrekturen“ in den „offenen Randbereichen“ seien nicht verfassungsrechtlich unzulässig; ebenso Mann/Mann, ZStW 75 (1963), S. 262; Grünwald, 50. DJT, S. C 24; Schmidt-Aßmann, M/D-GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 264.

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diesem Kern gehört, wird freilich unterschiedlich beurteilt: Das Verfassungsgericht rechnet dazu wie gesagt die Bestimmung der Tat als geschichtliches Ereignis und die Tatidentität bei Identität von Handlungen im natürlichen Sinne.1616 Laut Fliedner verkörpern Versuche, idealkonkurrierende Straftaten als unterschiedliche prozessuale Taten anzusehen, eine Verkennung der „Bedeutung des Art. 103 Abs. 3 GG . . ., der der Rechtssicherheit gegenüber der Gerechtigkeit den Vorrang gibt“,1617 und Grünwald geht einen Schritt weiter und meint, dass die „mehrmalige Bestrafung derselben fortgesetzten Handlung . . . [sogar] einen Einbruch in den Kernbereich des Verbots der Doppelbestrafung“ darstelle,1618 so dass er in der später erfolgenden Aufgabe der fortgesetzten Handlung durch BGHSt (GrS) 40, 138 eine Verletzung von Art. 103 Abs. 3 GG hätte erblicken müssen. Die Tatsache, dass dieser Kernbereich unterschiedlich bestimmt wird, lenkt den Blick auf das Dilemma dieser Auffassung: Sie muss Rechenschaft darüber geben können, weshalb nur bestimmte Annahmen über die Reichweite des Tatbegriffs zu diesem Kernbereich gehören, andere aber nicht. Da sie allein mit den Mitteln einer am Wortlaut oder an der Entstehungsgeschichte orientierten Auslegung nicht auskommen kann, hat sie nur zwei Alternativen, die den eigenen Standpunkt entweder als unhaltbar oder als ungenügend belegen. Denn entweder verweist sie auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts, was mit dem ursprünglichen Anliegen, nur einen Kernbereich für verfassungsrechtlich geschützt zu erklären, nicht mehr verträglich ist; oder, falls sie aus diesen Entscheidungen eine Auslese zu treffen sucht, wird sie eine Theorie anbieten müssen, die den die Auslese leitenden Gesichtspunkt bezeichnet. Hier hat man in Gestalt des Anklageprinzips gerade versucht, eine solche Theorie anzubieten. Ein verfassungsrechtlich vorgegebener prozessualer Tatbegriff ergäbe sich erst, wenn der Nachweis erbracht würde, dass das Grundgesetz allein für ein bestimmtes Verständnis des Anklageprinzips Raum biete. Dies dürfte aber schwerlich gelingen. d) Abschließend lässt sich noch Folgendes hervorheben. Der tiefere Grund, weshalb man vom Verfassungsrecht für die Bestimmung des prozessualen Tatbegriffs nicht viel erwarten sollte, ist, dass die Zuordnung zum Verfassungsrecht oder zum Strafprozessrecht in erster Linie eine Frage der Rubrizierung ist, die insbesondere für die Lösung von Normwidersprüchen nach dem lex superiorGrundsatz oder für die Bestimmung des Prüfungsmaßstabs von höheren Gerichten eine Rolle spielt. Uns geht es aber um eine Erschließung der hinter diesen Rubrizierungen liegenden normativen Sachlage, also um die Gründe, und nicht nur um ihre positivrechtliche Einkleidung (s. o. Teil 1 Kap. 1 C. [S. 107 ff.]). Ob 1616

Siehe oben Fn. 1604, 1605. Fliedner, AöR 99 (1974), S. 246 Fn. 14; ebenso Puppe, JR 1986, S. 206; Grünwald, StV 1981, S. 326; ders. StV 1986, S. 243; Detmer, Begriff der Tat, S. 75. 1618 Grünwald, 50. DJT, S. C 24. 1617

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das o. B. III. 2. (S. 385 ff.) ausgearbeitete und begründete Anklageprinzip dem Verfassungsrecht oder dem Strafprozessrecht angehört, oder sogar beiden,1619 lässt sich nicht ohne Weiteres sagen und muss in der vorliegenden Arbeit nicht gesagt werden. Die Zuordnung zum Verfassungsrecht oder zum Prozessrecht ist für die Richtigkeit dieses Prinzips nicht von Belang. Insofern ist die von Verfassungsrechtlern geäußerte Befürchtung, es dürfe keine „Verfassung nach Gesetz“ geben,1620 im jetzigen Zusammenhang zwar nicht völlig unberechtigt, aber trotzdem in erster Linie eine formelle Zuordnungsfrage und keine der Inhalte. 9. Europarecht Inzwischen hat ein neuer Akteur die Bühne betreten, der ähnlich wie das Verfassungsrecht seine Annahmen mit den Weihen einer formellen Höherrangigkeit versehen darf, wenn auch in Deutschland in der geschwächten Form eines sog. Anwendungsvorrangs.1621 Auch das Europastrafrecht kennt Bestimmungen zum ne bis idem-Grundsatz (Art. 4 EMRK-ZP 7; Art. 54 SDÜ; Art. 50 EU-GRCh), die den Großteil der hier behandelten Fragen der Sperrwirkung abdecken. Zwar verlaufen beide Diskussionen, die über den Tatbegriff nach der StPO und die über den Tatbegriff nach den europäischen Bestimmungen, bemerkenswert voneinander abgeschottet. Langsam erheben sich Stimmen, die sich dagegen wehren, und die eine Berücksichtigung der europäischen Impulse fordern. Insbesondere Kühne meint, es würde zu einer „eigentümlichen Konstellation“ führen, wenn der europäische Strafklageverbrauch weiter reichen würde als der innerstaatliche.1622 Dass es einen Zusammenhang zwischen innerstaatlichem und europarechtlichem Tatbegriff geben muss, lässt sich nicht bestreiten. Es stellen sich aber zwei Fragen, eine normative nach der richtigen Begründungsrichtung, und eine pragmatische nach dem eigenen Selbstverständnis als Wissenschaftler. Dass Zusammenhänge nicht mit Begründungen verwechselt werden dürfen, ist o. Teil 1 Kap. 1 A. II. 1. (S. 59 f.) schon hervorgehoben worden. In der Tat entstehen Ungereimtheiten, wenn das Europarecht eine zweite Verfolgung in ganz Europa verbietet, der Erstverfolgerstaat sich aber nach dem eigenen Recht eine Befugnis dazu vorbehält. Es ist aber fraglich, ob diese Ungereimtheit damit zu lösen ist, dass die Einzelstaaten alle auf dasjenige hören, was die europäischen Instanzen EuGH und EGMR bestimmen, oder ob nicht vielmehr diese Instanzen dazu angehalten wären, sich bei der Bestimmung des Tatbegriffs näher mit dem Prozessrecht der Einzelstaaten zu beschäftigen. Hat man erkannt, dass die Frage nach dem Gehalt der Tat, die Bezugspunkt des ne bis in idem-Grundsatzes ist, 1619 1620 1621 1622

So Gössel, JR 1982, S. 113. Degenhart, in: Sachs-GG, Art. 103 Rn. 76. Ausf. hierzu Ruffert, in: Calliess/Ruffert-EUV/AEUV, Art. 1 AEUV Rn. 16 ff. Kühne, JZ 2004, S. 744.

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nicht nur ein Problem der Auslegung des Wortlauts einer bestimmten Vorschrift ist, sondern auf dem Gehalt der Anklage beruht, und dass diese ihrerseits unmittelbar auf dem jeweiligen Verständnis des Anklageprinzips und der vom einzelnen Staat vorgezogenen Arbeitsteilung zwischen Ankläger und Richter beruht, dann erkennt man, dass jede Bestimmung der prozessualen Tat von der hohen Warte des Europarechts aus einen potentiellen Eingriff in die mehr akkusatorische oder mehr inquisitorische Verfahrensstruktur der Einzelstaaten darstellt. Wenn schon die rein verfassungsrechtlich orientierte Bestimmung des Tatbegriffs die Gefahr des Herausreißens der prozessualen Tat aus dem Begründungszusammenhang, in den sie hineingehört, birgt (s. o. 8. [S. 423 f.]), ist sie bei einer blinden Berücksichtigung des Europarechts umso größer. Wir werden u. D. IV. 4. b) (S. 503 ff.) zu diesen Punkten zurückkehren. Die zweite Frage ist die wissenschaftspragmatische nach dem, was man angesichts dieser Entwicklungen als Wissenschaftler tun sollte. Denn es bleibt dabei, dass die von Kühne angesprochene Ungereimtheit an sich nicht sein dürfte; ferner besteht wenig Aussicht, dass die europäischen Instanzen sich mit der Struktur der einzelnen Verfahrensrechte vertraut machen. Es ist viel bequemer, Begriffe „autonom“ zu bilden. Daraus aber zu schließen, dass man als Wissenschaftler versuchen sollte, das eigene Recht an die Machtsprüche des EuGH oder EGMR anzupassen, wäre eine Verkennung des o. Teil 1 Kap. 1 C., D. (S. 101) beschriebenen Auftrags der Rechtswissenschaft. Auch als Stimme in der Wüste wird der Wissenschaftler darauf bestehen, dass das Europarecht bei der Bestimmung des innerstaatlichen Tatbegriffs erst dann ein Sagen hat, wenn ihm das Recht zuerkannt wird, eine einzige Gestalt der Arbeitsteilung von Ankläger und Richter bei der Bestimmung des Prozessgegenstands als europarechtlich geboten zu erklären. Wenn nicht einmal das Verfassungsrecht der einzelnen Staaten so etwas wagt, ist ernsthaft zu bezweifeln, ob das Europarecht dies tun darf. 10. Fazit Die Ausgangsvermutung, nach der allein die Aufgabenverteilung zwischen Ankläger und Richter, deren Kern vom Anklageprinzip bestimmt wird, für die Bestimmung der Reichweite der Tat als Prozessgegenstand von Bedeutung ist, hat sich bestätigt. Die meisten weiteren Gesichtspunkte haben sich sogar als völlig irrelevant erwiesen (dreifache Identität, Beschuldigtenschutz, Verfahrensökonomie, Vermeidung widersprüchlicher Entscheidungen). Andere stellen ein Epiphänomen dar, dem schon durch das Anklageprinzip Rechnung getragen wird (Verteidigungsrecht des Beschuldigten), oder sie verkörpern einen Gesichtspunkt, der erst nach der Bestimmung der prozessualen Tat zu Wort kommen kann (rationes der Rechtskraft, Wiederaufnahmerecht). Die Versuche, aus höherrangigem Recht (Verfassungsrecht, Europarecht) Aufschlüsse für den prozessualen Tatbegriff zu gewinnen, zerschneiden die Verbindung der prozessualen Tat

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mit ihrem Begründungszusammenhang, nämlich der jeweiligen Ausgestaltung des Anklageprinzips und somit der Prozessstruktur des einzelnen Staates.

C. Die Diskussion um den Tatbegriff I. Einleitendes Als kurze Bilanz: Die prozessuale Tat ist der Gegenstand des Verfahrens und somit der Gegenstand der Verdächtigung. In einem Strafprozess, der im Dienste eines Tatstrafrechts steht, wird wegen Taten und nicht wegen Seinsweisen verdächtigt. Es ist Sache des Anklägers, zu verdächtigen, Sache des Richters, zu beurteilen, ob die Verdächtigung sich bestätigt. Es gilt das Anklageprinzip. Die Reichweite der Verdächtigung hat mit der näheren Aufteilung der Arbeit zwischen Ankläger und Richter zu tun. Nach der Darlegung dieser Prämissen sind wir dazu in der Lage, uns mit der umfangreichen Auseinandersetzung über den strafprozessualen Tatbegriff zu beschäftigten. Das Urteil, das Roxin vor knapp drei Jahrzehnten gefällt hat, erscheint trotz der inzwischen eher ruhig gewordenen Diskussionslage immer noch angemessen: „Obwohl der Begriff der ,Tat‘ eine zentrale prozessuale Kategorie ist, haben Wissenschaft und Rechtsprechung ihn bisher nicht eindeutig und befriedigend bestimmen können . . .“.1623 Man kann noch heute Wolter beipflichten, wenn er meint, dass der Tatbegriff „sicher nach wie vor unabgeklärt“ ist.1624 In der deutschen Diskussion hat eine Reihe von Beispielen eine große Rolle gespielt. Die Struktur dieser Beispiele besteht immer darin, dass der Betroffene wegen einer Bagatelltat freigesprochen oder sogar verurteilt wird, es sich nachträglich aber ergibt, dass er bei der Gelegenheit womöglich auch eine gravierende Straftat begangen hat. In den früheren Erörterungen des Problems war die Bagatelltat in der Regel die Übertretung des Schießens an bewohnten Orten (§ 367 Nr. 8 a. F. StGB), die auch Gegenstand einer frühen Reichsgerichtsentscheidung war;1625 heute erwähnt man eher die Wilderei (§ 292 StGB)1626 oder 1623

Roxin, JR 1984, S. 346. Wolter, GA 1986, S. 147 f.; ebenso Beulke, FS 50 Jahre BGH, S. 806; Verrel, JR 2002, S. 214. 1625 RGSt 4, 243 (freilich ging es um einen Strafbefehl, so dass der Beschuldigte im Einzelfall wegen der zweiten Tat nicht ungestraft blieb [s. a. Bindokat, GA 1967, S. 368 f.] was, wie u. F. II. (S. 630 f.) ausgeführt werden soll, entwicklungsgeschichtlich nicht ohne Auswirkungen war; um einen „Phantasiefall“ ging es also nicht, so aber J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 73); vgl. noch RGSt 71, 26 (30 f.). Mit diesem Beispiel leiten z. B. Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 267 Fn. 2; Siegert, DStR 1935, S. 293; Ramm, DStR 1939, S. 41; Hall, DRW 1941, S. Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 387 (aber gegen Tatidentität); Schöneborn, MDR 1974, S. 531; Büchner, Strafprozessuale Tat, S. 4 f.; ihre Darstellungen ein; s. a. die Begründung in RGSt 70, 26 (30 f.); Pfenninger, Rechtsmittel, S. 334 („Professorenschimmel“). Man nehme auch RGSt 57, 1624

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das Fahren ohne Fahrerlaubnis (§ 21 StVG).1627 Regelmäßig stellt man sich vor, dass einige Zeit nach dem Abschluss des Erstverfahrens eine Leiche entdeckt wird, die möglicherweise in einem engen Zusammenhang mit dem steht, was früher thematisiert worden ist: Häufig geht es sogar um denselben Schuss oder um dieselbe Fahrt. In der Tat mutet es befremdlich an, dass ein abgeschlossenes Verfahren wegen eines dieser Vorwürfe der Ermittlung und Ahndung eines eventuell begangenen Mordes entgegensteht. Ob diese Intuition berechtigt ist oder nicht, wird sich im Verlauf dieses Abschnitts herausstellen.1628 Nach einer methodischen Vorüberlegung (u. II.) soll der Diskussionsstand kritisch dargestellt werden (u. III.–VIII. [S. 427 ff.]). Anschließend wird die hier vertretenene Ansicht entwickelt (u. D. [S. 468 ff.]) und an den wichtigsten streitigen Fallgruppen erprobt (u. E. [S. 545 ff.]). II. Methodische Vorüberlegung. Universelle vs. lokale Perspektive Eine universell ausgerichtete Strafprozessrechtswissenschaft (o. Teil 1 Kap. 1 C. [S. 101 ff.]) steht jetzt vor einer besonderen, dreifachen Schwierigkeit. Dies ist aber kein Grund, am Sinn dieses gewagten Unternehmens zu zweifeln. 1. Erstens stammt der Löwenanteil an den unten berücksichtigten Beiträgen zur Klärung des vorliegenden Problems von Autoren deutscher Herkunft, die ihre Argumentation nicht selten in enger Anlehnung an das positive Recht entwickeln. Es versteht sich aber von selbst, dass es aus universell ausgerichteter Sicht auf die Stichhaltigkeit der Gründe, die für eine bestimmte Ansicht sprechen, und nicht auf die positivrechtliche Verträglichkeit dieser Argumente ankommen muss. Dies ist aber nicht erst beim Problem des Tatbegriffs der Fall, sondern auch bei jeder anderen strafprozessrechtlichen Fragestellung. Nicht nur in Deutschland entwickelte Auffassungen sollen deshalb in der folgenden Darstellung Berücksichtigung findet. Die Tatsache aber, dass der Löwenanteil an Theorien doch deutscher Herkunft ist, hat zum Teil damit zu tun, dass die erste Aufgabe auch der universell orientierten Arbeit darin besteht, hauseige-

51: Während der Begehung eines Diebstahls, wofür der Beschuldigte schon abgeurteilt worden war, beging er einen Totschlag. Das Gericht leugnete aber mit fragwürdigen Argumenten (s. u. F. II. [S. 631 f.]) die Identität der Tat. 1626 Schwinge, DJ 1941, S. 1064; Eb. Schmidt, ZStW 65 (1953), S. 167; ders. Kolleg, Rn. 338; Gössel, Strafverfahrensrecht, S. 290; Roxin, JR 1984, S. 348; Marxen, StV 1985, S. 477; Neuhaus, MDR 1988, S. 1013; Schroeder, JuS 1997, S. 228; Ziemann, ARSP-Beiheft 103 (2005), S. 132; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 52 Rn. 13. Für mehrere Taten Peters, Strafprozeß, S. 509. 1627 Fezer, Tatbegriff, S. 126 ff. 1628 Wobei sich ein unmittelbarer Rückgriff auf Anforderungen der Gerechtigkeit verbietet, s. o. IV. 5. (S. 416 ff.).

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ne Literatur nicht unberücksichtigt zu lassen (s. o. Teil 1 Kap. 1 C. [S. 102 f.]). Weil die universelle Perspektive sich keine Illusion der Voraussetzungslosigkeit machen muss (Teil 1 Kap. 1 C. [S. 104 f.]), spricht alles dafür, dass man mit einer Skizzierung der herrschenden Auffassung beginnt, wie sie sich in Deutschland gerade darstellt. 2. Die größere Schwierigkeit liegt aber anderswo. Als Operationalisierung des Anklagegrundsatzes und der Arbeitsteilung zwischen Ankläger und Richter befindet sich der Tatbegriff schon von vornherein an der Schnittstelle zwischen den unterschiedlichen Prozesssystemen. Akkusatorische und inquisitorische Strafverfahren werden von unterschiedlich weiten Tatbegriffen ausgehen (s. o. B. III. 5. [S. 403 ff.]). Die Herausforderung für die universelle Strafprozessrechtswissenschaft liegt deshalb darin, die leitenden Gesichtspunkte auszuarbeiten, die sich hinter dieser Trennung befinden, und die also unabhängig von ihr Geltung beanspruchen. Mit anderen Worten: Die aus der Perspektive eines bestimmten Prozesssystems vorgetragenen Argumente werden vielfach als bloße Teilgründe angesehen, die zu vollständigen Gründen entwickelt werden sollen (s. o. Teil 1 Kap. 1 A. II. 1., C. [S. 56 ff., 103 ff.]). Gelingt das, dann wird das Projekt einer universellen Rechtswissenschaft eine wichtige Feuerprobe bestanden haben. 3. Zuletzt muss man auch in einer weiteren Hinsicht Vorsicht walten lassen. Wie auch sonst hat sich hier die Diskussion weitgehend parallel zur Veröffentlichung höchstrichterlicher Entscheidungen entwickelt. Ein Großteil der gebotenen Argumente ist deshalb mit dem Zweck formuliert worden, sich mit der jeweils in den Blick genommenen Entscheidung auseinanderzusetzen, und dabei hat man sich häufig des früheren Fundus an Entscheidungen als feste Orientierungspunkte bedient. Auch die Kenntnis dieser Entscheidungen prägt mehr oder weniger bewusst viele der Intuitionen, auf die man sich später beruft, um einen bestimmten Tatbegriff als „zu weit“ oder „zu restriktiv“ abzulehnen. Häufig ist es aber nichts anderes als der eigene Tatbegriff, der für solche Urteile eine Grundlage liefert, womit sich die ganze Kritik als petitio principii entpuppt. Obwohl Intuitionen bei der Formulierung der vorpositiven Theorie nicht vernachlässigt werden sollten (s. o. Teil 1 Kap. 1 C. [S. 104]), sind sie im vorliegenden Zusammenhang der Formulierung des prozessualen Tatbegriffs etwas suspekt. Sinn der aufwändigen Rückkehr zu den Grundlagen und insbesondere der mühsamen Ausarbeitung des Zusammenhangs des Tatbegriffs mit dem im obigen Sinne neubegründeten Anklageprinzip ist es gerade, einen sowohl von der Rechtsprechungstradition als auch vom eigenen, für richtig gehaltenen Tatbegriff unabhängigen Fixpunkt zu gewinnen, der es gestattet, zirkelfreie Kritik zu formulieren. Hier sollen also die einzelnen bisher vorgeschlagenen Tatbegriffe erstens anhand allgemein-formeller Maßstäbe wie Widerspruchsfreiheit, Klarheit, Einfachheit und Praktikabilität gemessen werden; die einzige materielle Anforderung, die man an sie stellen kann, ist, dass sie nicht mit dem Anklageprinzip in

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Widerspruch geraten dürfen. Eine Ansicht darf deshalb niemals als zu eng oder zu weitgehend abgelehnt werden, sondern alle derartigen intuitiven Urteile dürfen nur als vorläufige, „schwebend unwirksame“ Thesen eingeführt werden, die erst nach der Genehmigung durch das Anklageprinzip in normativ erhebliche Gründen transformiert werden. III. Unproblematisches: der Verdächtigte als Komponente der prozessualen Tat Dass es für die Tatidentität auf die Person des Beschuldigten ankommt, ist eine Selbstverständlichkeit. Solange Strafprozesse nur gegen natürliche Personen gerichtet werden, und solange sich bei diesen keine Probleme personaler Identität stellen, ähnlich denjenigen, die von Philosophen gerne zur Diskussion gebracht werden,1629 entstehen hier keine weiteren Fragen wissenschaftlicher Natur.1630 Diese Selbstverständlichkeit beruht ihrerseits auf sachlichen Gründen: Die Verurteilung tilgt die Schuld allein desjenigen, der verurteilt wird, das Verfahren begründet nur einen Rehabilitierungsanspruch für denjenigen, der es erduldet hat, und allein derjenige, der vom Verfahren als mitwirkungsfähiges Rechtssubjekt anerkannt wird, muss dessen Ergebnis hinnehmen. Aus praktischer Perspektive könnte man höchstens mit den Konstellationen der Personen- und Namensverwechselungen Probleme haben;1631 solange wir daran festhalten, dass eine Person auch unter einem anderen Namen dieselbe Person bleibt, und dass zwei Personen, die gleich heißen, nicht dieselbe Person sind, wird das Strafverfahren „nicht den Namen, sondern die wirklich physische oder moralische Person“ im Visier haben,1632 so dass alle diese Probleme bloß tatsächlicher und nicht theoretischer Natur sind. Nun verhält es sich so, dass Strafverfahren anderswo auch gegen juristische Personen geführt werden und in Deutschland das Ordnungswidrigkeitenrecht juristische Personen sanktionieren kann (§ 30 OWiG). In solchen Fällen können äußerst komplizierte Identitätsprobleme entstehen (Konzerne, Auflösung, Teilung, Übernahme durch eine andere juristische Person, Teilung und Übernahme 1629 So diskutiert man das sog. Problem der personalen Identität an Gedankenexperimenten wie etwa dem Fall der Person, deren Gehirn in den Körper einer anderen Person hineintransplantantiert wird; zum Ganzen ausf. M. Nida-Rümelin, Blick von innen, S. 15 ff. und passim. 1630 So auch Schwinge, ZStW 52 (1932), S. 217; Neuhaus, Tatbegriff, S. 8; Kahlo/ Zabel, HRRS-FG Fezer, S. 92; Pacelli, Processo penal, S. 653; Mancuso, Giudicato, S. 436. Nur in der Formulierung abw. Binding, Strafurteil, S. 328 f., der eine „Gleichheit der drei Prozeßsubjekte“ anfordert. 1631 Siehe Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 386; ausf. Eb. Schmidt, Lehrkommentar I, Rn. 289 ff.; aus der Rspr. BGH NStZ 1990, 290; NStZ-RR 1996, 9. 1632 So bereits das Preußische Obertribunal, GA 1855, 385 (388); ebenso BGH NStZ-RR 1996, 9.

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durch unterschiedliche juristische Personen usw.), die man aber in der vorliegenden Arbeit weder zu stellen noch zu lösen versuchen wird.1633 IV. Die (überwiegend) faktisch orientierte Theorie der deutschen herrschenden Meinung 1. An erster Stelle soll, wie o. II. (S. 429) gesagt, der in Deutschland herrschende Meinungsstand skizziert werden. Kernaussage der über hundertjährigen Rechtsprechung ist eine Deutung der prozessualen Tat als geschichtlicher Vorgang.1634 Eine Tat im prozessualen Sinn ist „der geschichtliche – und damit zeitlich und sachverhaltlich begrenzte – Vorgang, auf welchen Anklage und Eröffnungsbeschluss hinweisen und innerhalb dessen der Angeklagte als Täter oder Teilnehmer einen Straftatbestand verwirklicht haben soll“.1635 Die Literatur stimmt dem weitgehend zu.1636 Ausgangs1633 Ausf. Göhler, wistra 1991, S. 131 ff. (zum Recht der Ordnungswidrigkeiten); Schlüter, Strafbarkeit von Unternehmen, S. 266 ff., 276 ff.; Drope, Verbandsstrafe, S. 348 ff.; zur Lage in Belgien Kniebühler, Ne bis in idem, S. 44. Aus der jüngeren Rspr. BGHSt 57, 193. 1634 Zusätzlich zu den in den folgenden Fn. Zit. s. noch die von Büchner, Strafprozessuale Tat, S. 16 ff., Neuhaus, Tatbegriff, S. 33 ff.; Detmer, Begriff der Tat, S. 151 ff. und Radtke, Strafklageverbrauch, S. 91 ff. gebotenen Darstellungen. 1635 Diese Formulierung entnehme ich BVerfGE 56, 22 (28). Ähnliche Formulierungen in: Preußisches Obertribunal GA 1858, 114 (115: „ein Ganzes“); GA 1859, 546 (548: „zusammenhängendes, nicht trennbares Ganzes“); RGSt 2, 347 (349: „äußerer Vorgang“); 5, 249 („konkreter Vorgang“); 8, 135 (139: „historisches Vorkommnis“); 9, 421; 12, 187 (188 f.: „zur Last gelegte strafbare Handlung in ihrer Totalität“); 12, 409 (411: „konkreter oder geschichtlicher Vorgang“); 15, 133 (136); 28, 321 (324); 46, 218 (220); 51, 127 (128); 56, 324; 70, 396 (398); 72, 339 (340); BVerfGE 23, 191 (202); 45, 434 (435); BGHSt 6, 92 (95); 10, 396 (397); 22, 307 (308); 23, 141 (145); 23, 270 (273); 25, 388 (389); 27, 170 (172); 28, 288 (292); 32, 215 (216); 35, 60 (61); 35, 80 (81); 41, 292 (297); 43, 252 (255); 45, 211 (212 f.); 47, 68 (82); BGH NJW 1981, 997; NStZ-RR 2003, 82; BGH NStZ 2006, 350; NStZ 2009, 705; 2009, 286; wistra 2013, 202; BayObLG NJW 1991, 2360 (2361); OLG Jena NStZ 1999, 516; OLG Celle NStZRR 2010, 248. Ebenso die österreichische Rspr., s. die Nachw. in Tauschmann, S/MöstStPO § 4 Rn. 14 f.; Wiederin, WK-östStPO § 4 Rn. 82. 1636 Meves, GA 1888, S. 107; Borgmann, Identität der That, S. 48; Birkmeyer, Deutsches Strafprozeßrecht, S. 684; Schlosky, GA 1927, S. 289; Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 112 f.; Oetker, JW 1929, S. 1080 f.; ders. GS 108 (1936), S. 16; Gelbert, JW 1934, S. 2892; v. Hippel, Strafprozess, S. 369 f.; Rippich, Idealkonkurrenz, S. 25 f.; Niederreuther, DJ 1942, S. 110; Exner, Strafverfahrensrecht, S. 72; G. Schmidt, JZ 1966, S. 89; Eb. Schmidt, Kolleg, Rn. 337; Gantzer, Rechtskraft, S. 121, 125; Schlüchter, Das Strafverfahren, Rn. 363; Peters, Strafprozeß, S. 510; Kröpil, DRiZ 1986, S. 451; Neuhaus, Tatbegriff, S. 173; Arthur Kaufmann, Diskurs, S. 18; H. Zimmermann, Anklageerhebung, S. 108; Beulke/Fahl, Jura 1998, S. 262; Neuefeind, JA 2000, S. 792; Roxin/ Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 52 Rn. 11; Beulke, Strafverfahrensrecht, Rn. 513; Steinberg/Stam, Jura 2010, S. 909; Kunig, in: v. Münch/Kunig-GG, Art. 103 Rn. 39; ähnlich Dedes, GA 1962, S. 113 („Identität der in der Anklage enthaltenen Tatsachen“); ders. GA 1965, S. 103 f. Nachw. zum früheren Schrifttum bei Neuhaus, Tatbegriff,

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punkt ist zunächst der in der Anklage beschriebene Vorgang. Miterfasst werden aber auch Tatbestandsverwirklichungen, die in der Anklage keine ausdrückliche Erwähnung finden, solange sie sich noch innerhalb des von ihr beschriebenen Vorgangs ereignet haben sollen.1637 Diese zugegebenermaßen unscharfen Leitlinien versucht die Rechtsprechung dadurch zu konkretisieren, dass zahlreiche Zusatz- oder Hilfserwägungen herangezogen werden. So heißt es insbesondere, dass eine „unnatürliche Aufspaltung“ eines „einheitlichen Vorgangs“ ein entscheidendes Kriterium für die Bestimmung der Reichweite der prozessualen Tat darstellt.1638 Man bedient sich auch der materiellrechtlichen Kriterien zur Unterscheidung von Tateinheit und -mehrheit (§§ 52, 53 StGB), und meint, dass bei materiellrechtlicher Tateinheit grundsätzlich (früher hieß es sogar: immer) von einer prozessualen Tat auszugehen sei, und umgekehrt, dass bei materiellrechtlicher Tatmehrheit mehrere prozessuale Taten vorliegen können.1639 Ferner wird gesagt, dass Veränderungen des Geschehens innerhalb eines Verfahrens so lange zulässig seien, wie sie noch „unwesentlich“ bleiben. Dabei sollen „Ort und Zeit des Vorgangs, das Täterverhalten, die ihm innewohnende Zielrichtung und das Objekt, auf das sich der Vorgang bezieht“, die für die Wesentlichkeit der Veränderung maßgeblichen Kriterien sein.1640 Es erfolgen auch fallgruppenspezifische Konkretisierungen, bei denen der Bezug zu den einheitlichen allgemeineren Richtlinien etwas gelockert wird. So soll bei einer einem Verkehrsunfall unmittelbar nachfolgenden Verkehrsunfallflucht trotz materiellrechtlicher Tatmehrheit eine einzige Tat im prozessualen Sinne bestehen.1641 Umgekehrt soll die Aburteilung wegen eines Organisationsdelikts nicht der Verfolgung der konkreten Straftaten entgegenstehen, die einen ZusamS. 44 f. Fn. 2, 3. In Italien La Rocca, Fatto, S. 32; Cordero, RitDPP 1958, S. 940 f.; in Österreich Birklbauer, FS Miklau, S. 59; ders. Prozessgegenstand, S. 33 ff., 74 f.; Tauschmann, S/M-östStPO § 4 Rn. 14 f.; Seiler, Strafprozessrecht, Rn. 46 („Gesamtverhalten des Angeklagten“); Wiederin, WK-östStPO § 4 Rn. 83. In Frankreich hört man die Wendung „le juge est saisi in rem“ (etwa Seerloten, RSC 1973, S. 75). In Brasilien Greco Filho, Processo penal, S. 323. 1637 BGHSt 32, 215 (216); 41, 292 (298); 45, 211 (212 f.). 1638 Die Wendung der „unnatürlichen Aufspaltung“ taucht auf in: BGHSt 13, 21 (26); 13, 320 (322); 23, 141 (143); 23, 270 (273); 29, 288 (293); 35, 14 (17); 41, 292 (300); 41, 385 (388); 43, 96 (99); 252 (255); 47, 68 (82); 49, 359 (362); OLG Jena NStZ 1999, 516; BGH NStZ-RR 2003, 82; BayObLG NJW 1991, 2360 (2361). Von der „Einheitlichkeit des Vorgangs“ sprechen u. a.: RGSt 51, 127 (128); 56, 324 (325); 62, 130 (131); 66, 19 (21); BGHSt 13, 21 (26); 13, 320 (321); 23, 270 (273); 29, 288 (293); 32, 215 (216); 35, 14 (17); 35, 80 (82); 41, 292 (298); 41, 385 (388); 43, 96 (99); 43, 252 (255); 45, 211 (213); 47, 68 (82); BGH NJW 1989, 726; NStZ-RR 2003, 82; NStZ 2006, 350; BayObLG NJW 1991, 2360 (2361); OLG Jena NStZ 1999, 516. 1639 Nachw. u. Fn. 2293 und 2294; näher u. E. III. 5., 6. (S. 581 ff., S. 585 ff.). 1640 BGHSt 32, 215 (218); davor etwa RGSt 5, 249 (250); 9, 421 (421 f.). 1641 Nachw. u. Fn. 2317; näher u. E. III. 6. (S. 587 ff.).

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menhang zu der Organisationszugehörigkeit aufweisen und mit ihr materiellrechtlich tateinheitlich konkurrieren.1642 Gelegentlich, aber wohl eher am Rande spielen auch normative Gesichtspunkte eine Rolle, insbesondere Aspekte des Vertrauensschutzes und der Gerechtigkeit.1643 Manchmal heißt es auch, dass die Richtung des Täterverhaltens1644 oder das betroffene Rechtsgut1645 von besonderer Relevanz sei. In Einzelfällen wurde die Reichweite der prozessualen Tat zu einer irrevisiblen Tatfrage erklärt.1646 Zuletzt heißt es noch, dass es auf den Verfolgungswillen des Anklägers nicht ankommen könne.1647 Dieser sei nur bei nicht identischen prozessualen Taten von Relevanz.1648 2. Die gegen dieses Verständnis schon seit Generationen gerichtete Kritik ist bekannt – und ihr muss man im Ergebnis zustimmen. Die Vorwürfe lassen sich genauer betrachtet in epistemische, methodische und normative untergliedern.1649 a) Epistemischer Natur ist insbesondere die Rüge, die Auffassung der prozessualen Tat als geschichtlicher Vorgang sei zu ungenau.1650 „Wer in Rechtsfragen auf ,die Auffassung des Lebens‘ verweist, vertraut im Grunde wohl immer die 1642

Grdl. BGHSt 29, 288; näher u. E. III. 8. (S. 598 ff.). BGHSt 29, 288 (296); 35, 14 (19); 36, 151 (155); 43, 252 (255); OLG Düsseldorf, NStZ-RR 1999, 1776 (177); OLG Celle NStZ-RR 2010, 248 (249). 1644 BGHSt 13, 320 (322); 32, 215 (219); OLG Celle NJW 1985, 393. 1645 BGHSt 35, 60 (64). 1646 BGHSt 35, 14 (17); ebenso RGSt 2, 347 (349); 9, 14 (16 f.); 12, 409 (414); 49, 272. 1647 BGHSt 16, 200 (202); zust. Hanack, JZ 1972, S. 356; Wolter, GA 1986, S. 149; Schlüchter/Duttge, NStZ 1994, S. 463; Velten, SK-StPO § 264 Rn. 53; and. BGH NJW 1959, 898 (nur Leitsatz). 1648 BGHSt 16, 200 (202); ebenso BGHSt 23, 271 (275). 1649 Neben der Sache aber der Einwand von Liu, Identität der Tat, S. 9, nach dem das Abstellen auf einen geschichtlichen Vorgang nicht den Fall erklären könne, in dem keine Straftat begangen worden sei. Auch eine Aussage, dass etwas sich nicht ereignet haben soll, kann man als geschichtliche Aussage bezeichnen. 1650 Kohlrausch, Idealkonkurrenz, S. 56; W. Mittermaier, ZStW 21 (1901), S. 231; Schwinge, ZStW 52 (1932), S. 205, 217; ders. DJ 1941, S. 1063; Niederreuther, DStR 1936, S. 170; Nagler, ZAkDR 6 (1939), S. 375; Jescheck, JZ 1957, S. 30; Hruschka, JZ 1966, S. 703; Bertel, Identität der Tat, S. 35: „Man kann den Zweiten Weltkrieg in seiner Gesamtheit als ein historisches Ereignis betrachten, ebenso gut auch eine einzelne Schlacht, so daß sich dann der Weltkrieg aus einer Mehrheit historischer Ereignisse zusammensetzen würde. Es ist aber auch möglich, jede einzelne Tötungshandlung, die in dieser Zeit gesetzt wurde, als historisches Ereignis aufzufassen“, S. 36 (diese Passage wird auch von Schöneborn, MDR 1974, S. 529 Fn. 7 und von Detmer, Begriff der Tat, S. 5 Fn. 5 zust. zit.); Gutierrez de Cabiedes, Correlación, S. 524; Barthel, Begriff der Tat, S. 88; Herzberg, JuS 1972, S. 114, 115 f.; Büchner, Strafprozessuale Tat, S. 46 ff. (der dies aber nur bedingt für einen Nachteil hält, vgl. S. 52 f.); Stein, JR 1980, S. 445; Bottke, JA 1982, S. 219 („kaum mehr als eine Leerformel“); Jung, JZ 1984, S. 536; Roxin, JR 1984, S. 348; Wolter, GA 1986, S. 146; Detmer, Begriff der Tat, S. 1, 5; Gillmeister, NStZ 1989, S. 2; Schlehofer, GA 1997, S. 103; W. Bauer, NStZ 2003, S. 174; 1643

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Entscheidung dem Rechtsgefühl des zur Entscheidung Berufenen an“.1651 Der von der Rechtsprechung verwendete Tatbegriff sei „völlig inhaltsleer, in Wahrheit nur eine Scheinlösung“,1652 „unergiebig“,1653 es handle sich um einen „gemischten naturalistisch-normativen Tatbegriff . . . ohne rechte Konturen“,1654 im Grunde genommen „nicht wirklich um einen Begriff“,1655 da er sich in einem „vordogmatischen Zustand“ befinde.1656 Sogar die Rechtsprechung hat in vorbildhafter Bescheidenheit eingeräumt, dass ihr Tatbegriff nicht immer eine zweifelsfreie Anwendung im Einzelfall gestatte.1657 b) Methodischer Natur ist der Einwand, dass der Verweis auf geschichtliche Vorgänge einem naiven Ontologizismus verhaftet bleibt.1658 Die Ansicht der Rechtsprechung stelle einen „naturalistischen und wenig weiterführenden Ansatz“ dar.1659 In der Wirklichkeit gebe es keine voneinander getrennten, quasimonadisch nebeneinander stehenden Vorgänge. Dies erkenne auch die Rechtsprechung, da sie vermehrt auf normative Elemente verweise.1660 ders. wistra 2008, S. 374; Paeffgen, GS Heinze, S. 620 f.; Salas, Kritik, S. 260; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 654. 1651 Herzberg, JuS 1972, S. 115; ebenso Jescheck, JZ 1957, S. 30; Hruschka, JZ 1966, S. 703; der Sache nach Roxin, JR 1984, S. 348. 1652 Bertel, Identität der Tat, S. 36; davor bereits Ramm, DStR 1939, S. 42. 1653 Roxin, JR 1984, S. 347. 1654 Wolter, GA 1986, S. 145 bezogen auf die Rspr. vor der Entscheidung BGHSt 32, 146. 1655 Ranft, JuS 2003, S. 418. 1656 Marxen, StV 1985, S. 473. 1657 BGHSt 11, 130 (133): „Darüber aber, ob die Vorgänge ,nach der Auffassung des Lebens ein einheitliches geschichtliches Ereignis‘ sind, können oft sehr verschiedene Auffassungen vertreten werden“; 13, 21 (25): Es sei „keine Begriffsbestimmung gefunden (worden), die eine zweifelsfreie Anwendung in jedem Einzelfall ermöglichte“; 35, 14 (19); 43, 253 (255): „gewisse Unschärfe“; BGH NStZ 1984, 469; NJW 1999, 1413 (1414); OLG Celle NStZ-RR 2010, 248 (249). Siehe bereits RGSt 2, 347 (349); 3, 406 (408); 8, 135 (139); 9, 420 (421); 12, 187 (189). Siehe auch Hanack, JZ 1972, S. 355: „schöne Offenheit“. 1658 Niederreuther, DStR 1936, S. 170; ders. DJ 1942, S. 110; Correia, Caso julgado, S. 326 ff.; Jescheck, JZ 1957, S. 30; Noftz, Prozeßgegenstand, S. 28 ff.; Barthel, Begriff der Tat, S. 47, 55 f.; Büchner, Strafprozessuale Tat, S. 47 f.; Salas, Kritik, S. 260; wohl auch W. Bauer, NStZ 2003, S. 174, der unglücklich von einem „Relikt ,naturrechtlichen‘ Denkens“ spricht, eine Bezeichnung, deren Fragwürdigkeit auch nicht durch die Anführungszeichen vermindert wird. 1659 Roxin, 40 Jahre BGH, S. 74 (Zitat); ebenso Schwinge, ZStW 52 (1932), S. 205, 220 f.; Achenbach, ZStW 87 (1975), S. 91; Wolter, GA 1986, S. 144 Fn. 7. Unklar Gössel, Strafverfahrensrecht, S. 268, der meint, dieser Tatbegriff beruhe „auf bekannter positivistischer Täuschung“. 1660 Bereits Schwinge, ZStW 52 (1932), S. 214 f., 229; Oehler, FS Rosenfeld, S. 147; Bindokat, GA 1967, S. 368 f.; Jung, JZ 1984, S. 535; Marxen, StV 1985, S. 475; Wolter, GA 1986, S. 143, 145; Roxin, 40 Jahre BGH, S. 74 f.; Fezer, Tatbegriff, S. 126; Schlüchter, JZ 1991, S. 1060; Geppert, GS Schlüchter, S. 50 f.; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 102 f. Für Beispiele s. die o. Fn. 1643 erwähnten Entscheidungen, die auf

2. Kap.: Der Begriff der strafprozessualen Tat

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Die Schlagkraft dieses Einwands wird durch die soeben (o. B. III. 5. [S. 403 ff.]) gewonnenen Einsichten über das Verhältnis zwischen Tatbegriff und Anklagegrundsatz erhöht. Ist der Tatbegriff zum Teil eine Frage der Arbeitsteilung zwischen Ankläger und Richter, dann kann er schon von vornherein kein rein ontologischer sein, denn er wird sich irgendwie auf die Verdächtigung zurückführen lassen müssen. Der unvermittelte Rückgriff auf eine angebliche geschichtliche Wirklichkeit führt dazu, diese Zusammenhänge zu verdecken. Dies ist kein bloßer Schönheitsfehler, sondern eine höchst praktische Angelegenheit, die sich unmittelbar auf den Inhalt des Tatbegriffs auswirken wird (näher u. S. 436 ff.). c) Zuletzt gibt es Einwände, die man als normativ einstufen könnte: einen häufig wiederholten, wenn auch unzutreffenden Einwand, der sich über die Ungerechtigkeit der Ergebnisse dieses Begriffs beklagt, und einen weitgehend vergessenen, dennoch richtigen Einwand, der die Unvereinbarkeit dieses Tatbegriffs mit dem Anklageprinzip rügt. aa) Immer wieder hört man, dass das herrschende faktische Konzept zu nicht mehr hinnehmbaren, weil eklatant ungerechten Ergebnissen führe.1661 Insbesondere sei die strafklageverbrauchende Wirkung nach einem solchen Tatbegriff unangemessen weit. Zwar ist es nicht völlig klar, zu welchen Ergebnissen der wenig präzise Tatbegriff der herrschenden Meinung führt. Nicht zu bestreiten ist aber, dass der Begriff den Anspruch aufstellt, eher zu viel als zu wenig zu erfassen, und dass er auch seit jeher in diesem Sinne verstanden und gehandhabt wird. Immerhin lässt sich zur Unterstützung des Einwandes geltend machen, dass zahlreiche von der Rechtsprechung anerkannte Präzisierungen des Tatbegriffs auch als extern begründete Korrekturen bzw. Ausnahmen von ihrem angeblich bloß faktisch-geschichtlichen Ausgangspunkt angesehen werden können, also als Zugeständnisse im Sinne der Richtigkeit des formulierten Einwands. Man denke insbesondere an die Behandlung des Organisationsdelikts: Zum geschichtlichen Vorgang der Mitgliedschaft von A in der RAF gehören (wohl) die konkreten Straftaten, die A in dieser Eigenschaft verübt hat, die aber nach der Rechtsprechung gerade keine einheitliche prozessuale Tat mit der Mitgliedschaft in der terroristischen Organisation bilden sollen.1662 Würde A etwa ein Buch schreiben mit dem Titel „Meine Zeit in der RAF“ und dabei einige dieser Taten verschweigen, dann würde man das Buch als unvollständig oder sogar als entstellend empfinden.

Vertrauensschutz- oder Gerechtigkeitserwägungen verweisen; die o. Fn. 1644, 1645 zitierten Entscheidungen, die auf die Angriffsrichtung oder das Rechtsgut abstellen; und die Umschreibung des Kriteriums der „inneren Verknüpfung“, u. Fn. 2309. 1661 Siehe die o. Fn. 1392 zitierten Stellungnahmen. 1662 And. insb. BVerfGE 56, 22 (28 f.). Näher u. E. III. 8. (S. 598 ff.).

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Dieser Einwand ist dennoch unbeachtlich. Gerechtigkeitsargumente sind, wie schon dargelegt, nicht nur im Zusammenhang mit der Rechtskraft (o. Kap. 1 C. VII. [S. 360 ff.]), sondern auch bei der Frage nach der Bestimmung der prozessualen Tat (o. B. IV. 5. [S. 416 ff.]) von keinerlei Gewicht. Das Unbehagen, das man bei einer weiten Bestimmung der Rechtskraft zweifelsohne spürt, muss nicht notwendigerweise darauf beruhen, dass eine Verletzung der materiellen Gerechtigkeit vorliegt. Es wird sich vielmehr erweisen, dass das Anklageprinzip den hinter diesem Unbehagen stehenden Intuitionen vollumfänglich gerecht werden kann. bb) Und damit ist man bei dem eigentlichen normativen Problem des geschichtlich orientierten Tatbegriffs der h. M. Er trägt seine Herkunft, das alte Inquisitionsverfahren ohne Unterscheidung von Ankläger und Richter, auf der Stirn, und ist mit dem oben ausgearbeiteten Anklageprinzip nach näherem Hinsehen unvereinbar. Dass diese Unzulänglichkeit heute kaum mehr gesehen wird, ist teilweise auch ein Armutszeugnis. Dem großen Binding ist sie aber nicht entgangen: „Das Gericht . . . ist in unserem akkusatorischen Prozeß, in einem gleich näher zu untersuchenden Maße freilich, durchaus von der Anklage abhängig. Aus einer Reihe von Entscheidungsgründen des Reichsgerichts klingt es, als ob der alte Inquisitionsprozeß noch in Kraft stünde, und das Gericht nicht nur in der Lage, sondern verpflichtet wäre, ganz in der Weise des alten Inquirenten diese Episode aus dem Leben des Angeklagten nach dem ganzen darin vielleicht enthaltenen Verbrechensstoff zu durchforschen“.1663 Der geschichtlich-orientierte Tatbegriff des BGH beruht wie schon der Tatbegriff des Reichsgerichts auf dem Gedanken, dass der Ankläger den Richter nur aus seinem Schlummer weckt. Alles weitere erledigt der jetzt wach gewordene Inquirent von selbst. Der Ankläger klagt nicht im vollen Sinne des Wortes an, er ist lediglich ein promovens inquisitionem.1664 Im eigentlichen Sinne gibt es keinen festen Gegenstand, der einem Gericht zur Entscheidung vorgelegt wird.1665 Es werden nur in gröbster Form eine Richtung und ein Mensch vorgegeben. „Der unterbreitete Prozeßstoff ist also lediglich eine Anregung für das Gericht, was es in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht aufklären soll“.1666 „Es wird in der Anklage überhaupt keine Rechtsbehauptung aufgestellt.“ 1667 „Wenn der Staatsanwalt die öffentliche Klage erhebt, so macht er nicht etwa einen bestimmten Straf1663

Binding, Strafurteil, S. 330. So für das alte Recht Biener, ZfgRW 12 (1844), S. 95. 1665 Heinze, GA 1876, S. 283. 1666 So ausdrücklich Neuhaus, Tatbegriff, S. 151; fast wortgleich bereits G. Schmidt, JZ 1966, S. 89, wo statt „Anregung“ „unverbindlicher Hinweis“ zu lesen ist. Ebenso früher Schanze, ZStW 4 (1884), S. 448; Kohler, GA 1918, S. 311 f.; Spinellis, Rechtskraft, S. 55. Im Ergebnis richtig dagegen Gantzer, Rechtskraft, S. 104: „Verniedlichung“; Cunha, Ne bis in idem, S. 556. 1667 Noftz, Prozeßgegenstand, S. 14 (freilich kritisch); ähnlich Geerds, Konkurrenz, S. 360. 1664

2. Kap.: Der Begriff der strafprozessualen Tat

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anspruch geltend, etwa wie der Zivilkläger einen bestimmten Klageantrag zur Entscheidung stellt. Er stellt vielmehr eine Tat zur Untersuchung“.1668 Die Anklage ist „weniger eine Willenserklärung als eine Wissenserklärung“.1669 Auf dieser Grundlage vertrat man vor dem Inkrafttreten der RStPO sogar, dass die Anklage nicht einmal eine rechtliche Beurteilung der vorgetragenen Tatsachen enthalten müsse.1670 Gegen all dies sollte man wieder Binding zu Wort kommen lassen. Ich wiederhole das Zitat, das das vorliegende Kapitel eröffnet: „Der alte Spezialinquirent mit seiner absolut freien ungebundenen Marschroute will nicht sterben. Er muß aber schließlich doch umgebracht werden! Diese Pflicht haben wir ihm gegenüber überkommen!“ 1671 Die Unterscheidung von Ankläger und Richter soll nicht nur eine individualpsychologische, sondern auch und vor allem eine vernünftig begründete Gefahr bekämpfen (s. o. B. III. 3. b) [S. 390 ff.]), die darin besteht, dass jeder Vernünftige, der einen anderen verdächtigt und zur Duldung eines Strafverfahrens nötigt, wollen muss, dass die betroffene Person schuldig ist. Dass aber die Verdächtigung eines Menschen wegen Schießens an bewohnten Orten bzw. Wilderei eine solche Gefahr bezüglich eines Mordes begründet, ist sehr zu bezweifeln. In einem gewissen Sinne wird man es natürlich willkommen heißen, wenn der, der einen Prozess erdulden musste, kein Engel war. Das ist aber nicht die spezifische Gefahr, die der Tatbegriff und das ihm zugrunde liegende Anklageprinzip bekämpfen sollen, denn diese Gefahr ist vom Gehalt des Vorwurfs völlig unabhängig. Die meisten Menschen wären auch etwas erleichtert, zu hören, dass der, der unschuldig einen Prozess wegen Diebstahls erleiden musste, vor 10 Jahren zwei ungesühnte Morde begangen hatte. Wie o. B. III. 3. b) (S. 398) bereits angedeutet, soll durch das Strafverfahren keine poetische Gerechtigkeit verwirklicht werden, die über verschlungene Wege dem Schuldigen irgendwie noch eine Strafe zukommen lässt. Das, wozu die meisten Menschen geneigt sind, ist noch nicht das, was der vernünftige, gewissenhafte Mensch, auf den es für die o. B. III. 2. b) (S. 388 ff., 390 f.) angebotene Begründung des Anklageprinzips ankommt, wollen würde. Sein Wille beruht per definitionem allein auf Gründen. Die Gefahr, dass er die Bewahrheitung seiner Verdächtigung will, besteht nur, insofern ein Zusammenhang zwischen dem besteht, was er dem Richter mitteilt und beantragt, und dem, was der Richter für richtig und wahr erachtet. Wie dieser Zusammenhang näher zu bestimmen ist, wird erst u. D. V.–VII. (S. 510 ff.) definitiv zu klären sein. An dieser Stelle kann aber bereits festgehalten werden, dass ein bloß äußerlicher 1668

H. Mayer, GS 99 (1930), S. 77. Cortés Domínguez, Cosa juzgada, S. 32. 1670 Hasenbalg, Öffentliche Klage, S. 41, 70; so auch für Spanien Cortés Domínguez, Cosa juzgada, S. 30, 34. 1671 Binding, Strafurteil, S. 332. 1669

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

räumlich-zeitlicher Zusammenhang, von dem der geschichtlich-orientierte Tatbegriff (in erster Linie) ausgeht, keineswegs ausreichen kann, wenn man die Verdächtigung nicht zu einer rechtsmoralisch blassen Größe oder zur Maßnahme poetischer Gerechtigkeit degradiert. M. a.W.: Es bestätigt sich die bereits o. B. III. 3. (S. 396 f.) aufgestellte These, dass man ohne wie auch immer geartete normative Kriterien bei der Bestimmung des Tatbegriffs nicht auskommen kann. An einem weiteren Beispiel: Ein Richter, der befugt ist, bei einer Anklage wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis auf Vergewaltigung zu verurteilen, kann unmöglich sagen, er habe über eine ihm von einem anderen zur Entscheidung vorgelegte Verdächtigung entschieden. Was ihm vorgelegt wurde, war ein Lebensvorgang, eine Autofahrt; ein Verdacht, jemand sei Auto gefahren, ist aber keine im obigen Sinne qualifizierte Verdächtigung (o. Teil 1 Kap. 2 B. VI. [S. 131 ff.]), die irgendwelche vernünftig begründeten Gefahren für die Unbefangenheit ihres Aussprechers schafft. Freut sich der Staatsanwalt im Nachhinein, dass ein Vergewaltiger nicht unbestraft bleibt, wird er trotzdem wissen, dass er hiermit wenig zu tun hatte, dass er nur blindes Vehikel poetischer Gerechtigkeit gewesen ist (s. o. B. III. 3. [S. 398]), ähnlich dem Blitz oder dem Wolf, der am Ende eines amerikanischen Films den Bösen erschlägt. Die qualifizierte Verdächtigung beruht hier auf einer Tätigkeit des Richters selbst. Er allein initiiert den sehenden, rechtsmoralisch relevanten Vorgang der Zurverantwortungziehung des Beschuldigten. Sinn eines Anklageprinzips ist es gerade, den Richter daran zu hindern, über die Bewahrheitung dieser von ihm selbst aufgestellten Verdächtigung zu entscheiden. V. Weitere faktisch orientierte Stellungnahmen Wie gesagt sind diese Einwände zum großen Teil nicht neu. Es ist also zu erwarten, dass die herrschende Meinung nicht auf ihre faktische Stärke vertraut, sondern sich auch die Mühe gibt, die Einwände durch Verfeinerungen und Neuformulierungen des faktischen Standpunkts zu entkräften. Einige dieser Versuche sollen kurz angesprochen werden. 1. Identität der Handlungssubstanz (Oehler) Oehler versucht, die Handlung, wie sie sich nach der Anklage darstellt, als seinen Ausgangspunkt zu nehmen.1672 In Ablehnung jeder materiellrechtlichen 1672 Oehler, FS Rosenfeld, S. 148. Oehler wohl zust. Heinitz, JZ 1952, S. 103 Fn. 28. Zur Einordnung sei noch Folgendes gesagt: Überwiegend wird Oehler wegen seines Abstellens auf die Identität der Handlungssubstanz als Anhänger des materiellrechtlichen Tatbegriffs angesehen (zu dieser Auffassung u. VI. 1. [S. 445 ff.]). Dies erscheint mir wegen Passagen, wie die, die in der nächsten Fn. zitiert werden, zweifelhaft; vielleicht hat hier nur Detmer, Begriff der Tat, S. 184 Recht, wenn er meint, dass Oehler in diesem Punkt „vollends unklar“ bleibt.

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Betrachtungsweise1673 beruft er sich in erster Linie auf § 264 Abs. 2 StPO, um daraus abzuleiten, dass es auf eine Identität der „Handlungssubstanz“ ankomme.1674 „Immer muß die Ausführungshandlung der beiden konkreten Tatbestände ein idem enthalten“.1675 Dies sei etwa beim Verhältnis von Hehlerei und Diebstahl nicht der Fall,1676 beim Verhältnis der Beteiligungsformen häufig auch nicht.1677 „Nur die Deckung eines Teiles der realen Substanz der Handlung oder die völlig unselbständige Tat, wie bei der fortgesetzten Handlung, vermag prozessuale Identität zu begründen“.1678 Dass der Begriff der Handlungssubstanz den Stein der Weisen bilden soll, der die drei Arten der oben angezeigten Unzulänglichkeiten zu überwinden vermag, ist ernsthaft zu bezweifeln. Die epistemischen Schwierigkeiten werden zwar teilweise gelöst, wenn die Handlungssubstanz insbesondere als Überschneidung von Ausführungshandlungen verstanden wird. Wenn das die angemessene Deutung seiner Ansicht ist, dann vertritt er in Wahrheit eine andere Theorie, die die prozessuale Tat anhand des Begriffs der materiellrechtlichen Handlungseinheit versteht; darauf wird u. VI. 1. (S. 445 ff.) noch einzugehen sein. Eine Berufung auf die Substanz einer Handlung überwindet aber nicht das methodische Problem des naiven Ontologismus, sondern dürfte es vielmehr noch zuspitzen. Und eine Gewähr dafür, dass die Zuhilfenahme der Substanz die Brücke zum Anklageprinzip zu schlagen vermag, besteht auch nicht, insbesondere deshalb, weil der vom Anklageprinzip gebotene Rückgriff auf normative Erwägungen noch nirgendwo zu sehen ist. 2. Laienorientierter Intuitionismus (Achenbach) Einen weiteren Versuch hat Achenbach unternommen: Er präzisiert die herrschende Ansicht durch den Hinweis, dass es bei ihr nicht nur um einen naturalistisch zu ermittelnden Vorgang gehe, sondern um den „sozialen Sinngehalt“ eines Vorganges. Achenbach bedient sich der „Modellfigur eines juristisch unverbildeten, aber im Leben stehenden Beobachters“, und meint, es gebe eine einheitliche Tat dort, wo dieser gesagt hätte: „Das ist ein Vorgang“.1679 Als weitere Kriterien würden seiner Ansicht nach der Sprachgebrauch und die Lebenserfahrung

1673 Oehler, FS Rosenfeld, S. 147, 157: „Jede materiellrechtliche Betrachtungsweise ist von Übel und führt zu unmöglichen Ergebnissen“. Abgeschwächt später ders. GS Schröder, S. 444, 446, 450: „Annäherung“ an den materiellrechtlichen Begriff der Handlungseinheit. 1674 Oehler, FS Rosenfeld, S. 150 f. 1675 Oehler, FS Rosenfeld, S. 152. 1676 Oehler, FS Rosenfeld, S. 150. 1677 Oehler, FS Rosenfeld, S. 149. 1678 Oehler, FS Rosenfeld, S. 157 f. 1679 Achenbach, ZStW 87 (1975), S. 91.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

in Betracht kommen.1680 Wird dennoch kein klares Ergebnis erlangt – was freilich nur selten der Fall sein werde –, bedient er sich der Kriterien des materiellen Rechts.1681 Dieser Rettungsversuch scheitert indes. Weder die epistemischen noch die methodischen noch die normativen Probleme des herrschenden Ansatzes werden dadurch gelöst. Wann die vorgestellte Modellfigur sagen würde, „das ist ein Vorgang“, bleibt genauso offen wie vorhin.1682 Die Klarstellung, dass es nicht um naturalistische Vorgänge, sondern um Sinndeutung und Interpretation geht, ist nur ein scheinbarer Fortschritt und bedeutet noch keine Überwindung des Ontologizismus. Naturalismus ist nämlich nicht gleichbedeutend mit Ontologizismus, sondern, genauer gesagt, nur eine besondere Spielart davon.1683 Eine Ansicht heißt deshalb ontologistisch, wenn sie glaubt, aus einer Beschreibung der Wirklichkeit, d.h. ohne sich auf eine normative Ebene zu begeben, die Lösung rechtlicher Fragen ableiten zu können. Ob zur Wirklichkeit nur physikalisch-biologische Tatsachen gehören, oder ob sie auch die Dimensionen der Kommunikation und des Sinns erfasst, ist demgegenüber zweitrangig. Und die normative Unzulänglichkeit dieser Ansicht beruht darauf, dass in ihr der Bezug zum Anklageprinzip vollständig verschwindet. 3. Gesamtschau (Neuhaus) Für Neuhaus geht es bei der Frage nach der Bestimmung des Tatbegriffs „weniger um ein rechtliches als um ein psychologisches Problem“.1684 Sein Leitgedanke ist also, „ob dem Betrachter die Unterschiede zwischen Tatschilderung und ermittelter Wirklichkeit eher bewußt werden als die übrig gebliebenen Ge1680

Achenbach, ZStW 87 (1975), S. 91. Achenbach, ZStW 87 (1975), S. 92. 1682 Ähnl. Wolter, GA 1986, S. 159 Fn. 105; Detmer, Begriff der Tat, S. 172. 1683 Man könnte Ontologizismus (bzw. Essenzialimus oder Ontologismus) in dem Sinne, wie diese Worte hier und in der strafrechtlichen Diskussion gebraucht werden, als die Kombination zweier Thesen definieren: (1) Es gibt letztendlich eine einzige richtige Beschreibung der Wirklichkeit; (2) Diese Beschreibung ist für die Lösung normativer Fragen präjudiziell. Der Naturalismus ist eine Präzisierung von (1): (1’): Die richtige Beschreibung der Wirklichkeit bedient sich ausschließlich der Sprache der Naturwissenschaften (etwa der Physik, Chemie, Biologie). Denkbar ist auch ein geisteswissenschaftlicher Ontologizismus, der statt (1’) die These (1”) vertritt: Die richtige Beschreibung der Wirklichkeit enthält auch Elemente, die nicht allein durch die Naturwissenschaften, sondern nur durch die sog. Geisteswissenschaften (Soziologie, Psychologie, Volkswirtschaftslehre) erfasst werden können (etwa Kommunikation, Sprache, Sinn, Präferenzen . . .). Die o. Teil 1 Kap. 2 C. II. 2. (S. 151 ff.) kritisierten systemtheoretischen Ansätze sind eine Spielart eines solchen geisteswissenschaftlichen Ontologizismus, und ebenso verhält es sich bei Achenbachs Versuch, den Tatbegriff der h. M. zu retten. 1684 Neuhaus, Tatbegriff, S. 11. Siehe auch ders. NStZ 1987, S. 139 f.; ders. MDR 1989, S. 218 ff. 1681

2. Kap.: Der Begriff der strafprozessualen Tat

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meinsamkeiten“.1685 Er führt als Vergleichsmetapher das „Auto (an), dessen Teile nach und nach ersetzt werden“.1686 Ebenso wenig wie man im Voraus die Identität des späteren Autos zu dem früheren bestimmen könne, sei dies beim strafprozessualen Tatbegriff möglich.1687 Auf der einen Seiten sprächen die Auslegungskanons für einen weiten Tatbegriff,1688 dessen Ausgangspunkt die „natürliche Betrachtungsweise“ der Rechtsprechung sein solle.1689 Die Unbestimmtheit dieses Tatbegriffs wird eingeräumt, aber alexandrinisch mit einem gesetzespositivistischen Argument vom Tisch geräumt: „Über diese methodologische Kritik an einem natürlichen Tatbegriff setzt sich die StPO jedoch hinweg“.1690 Neuhaus meint dennoch, die Unschärfen bestünden bloß an den Rändern, denn über mehrere Jahrzehnte sei eine hinreichend detaillierte Kasuistik entstanden, die auf die meisten zu erwartenden Fragen bereits eine Antwort parat habe.1691 Am Ende beruft er sich auf eine „vergleichende Gesamtschau“ aller von den anderen Lösungen vorgeschlagenen Kriterien,1692 woraus er eine Art „quasi mathematisches Punkteverfahren“ zu gewinnen glaubt.1693 Ergibt die Anwendung dieses Verfahrens kein klares Ergebnis, dann – weil Neuhaus die Einheitlichkeit des Tatbegriffs für die Prozessumgestaltung und den Strafklageverbrauch ablehnt1694 – sollte man bezüglich der Prozessumgestaltung die Identitätsfrage „eher großzügig“ lösen, d.h. eher im Sinne eines weiten Tatbegriffs, dagegen beim Strafklageverbrauch eher restriktiv vorgehen.1695 Für die Bestimmung der Reichweite des Strafklageverbrauchs möchte er noch einen Zusatztest vorschlagen, der in der Anwendung des Vertrauensschutzgedankens besteht: Es ist zu fragen, ob der Betroffene „nach seiner verständigen Parallelwertung in der Laiensphäre damit rechnen (konnte), für das nicht abgeurteile Delikt in einem späteren Strafverfahren nicht mehr belangt zu werden“.1696 Wichtig ist noch, dass Neuhaus trotz Heranziehung dieser Prinzipien, die teilweise normativ sind, darauf besteht, „mit der natürlichen Betrachtungsweise . . .

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Neuhaus, Tatbegriff, S. 10. Neuhaus, Tatbegriff, S. 11. 1687 Neuhaus, Tatbegriff, S. 11. 1688 Neuhaus, Tatbegriff, S. 148 ff., 169. 1689 Neuhaus, Tatbegriff, S. 169. 1690 Neuhaus, Tatbegriff, S. 170. 1691 Neuhaus, Tatbegriff, S. 174. 1692 Neuhaus, Tatbegriff, S. 180 f., 187 (wo von der contradictio in adjecto einer „analytischen Gesamtschau“ gesprochen wird); ders. NStZ 1987, S. 139 f.; ders. MDR 1989, S. 221. 1693 Neuhaus, Tatbegriff, S. 190. 1694 Näher u. Fn. 1888. 1695 Neuhaus, Tatbegriff, S. 190 (Zitat); genau umgekehrt aber ders. MDR 1989, S. 221. 1696 Neuhaus, Tatbegriff, S. 200 ff. (Zitat S. 203); s. a. ders. MDR 1989, S. 221 f. 1686

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Ernst zu machen“, woraus er folgert, dass die Formel, nach der Idealkonkurrenz stets zur Tatidentität führe, „ganz aufzugeben“ sei.1697 Man könnte sogar einräumen, dass die epistemischen Probleme durch die Präzisierungen von Neuhaus, wenn nicht vollständig behoben, doch in beachtlichem Maße verringert werden.1698 Die Tatsache, dass die Bestimmung des Tatbegriffs nicht mehr als Frage der richtigen Beschreibung der Wirklichkeit, sondern im Auge des Betrachters loziert wird, überwindet zum Teil auch das oben gerügte methodische Problem des naiven Ontologizismus. Es entsteht aber ein anderes, vergleichbar schweres methodisches Problem: Der Tatbegriff wird zu einer psychologischen Größe, die deshalb keine regelgeleitete, allgemeingültige Antwort mehr gestattet. Im Grunde führt das Abstellen auf das Psychische dazu, dass es nicht einmal um den Einzelfall, sondern um den Einzelurteiler geht. Problematisch ist aus der hier vertretenen Perspektive auch, dass der o. B III. 5. (S. 403 ff.) ausgearbeitete Zusammenhang zwischen Tatbegriff und Anklageprinzip völlig unberücksichtigt bleibt.1699 4. Zeit- und Ortsgleichheit (Schlehofer) Ein weiterer Versuch, den faktischen Tatbegriff zu retten, stammt von Schlehofer. Bei der Bestimmung der Tatidentität verweist er nicht bloß auf die nackte Intuition, sondern auf die Zeit- und Ortsgleichheit. Sein Hauptargument entwickelte er insbesondere aus § 200 Abs. 1 S. 1 StPO, d.h. aus dem Erfordernis, dass die Anklageschrift unter anderem Zeit und Ort der Tat bezeichnet.1700 Es ist einzuräumen, dass Schlehofers Ansatz sowohl die epistemischen als auch die methodischen Schwierigkeiten der herrschenden Ansicht überwindet. Nach seiner Theorie lässt sich regelmäßig eindeutig bestimmen, ob man mit einer neuen Tat im prozessualen Sinne zu tun hat. Er begeht auch nicht den Fehler, eine bestimmte Beschreibung des Vorganges zu seinem angeblichen Wesen zu überhöhen, sondern bestimmt präzise, anhand welcher Kriterien Vorgänge zu beschreiben und zu identifizieren sind. Die Zusammenhänge zwischen dem Tatbegriff und dem Anklagegrundsatz werden auch nicht völlig verkannt, da die Anklageschrift Schlehofer als Ausgangsgröße dient. 1697 Neuhaus, Tatbegriff, S. 198; die Übereinstimmung sei nur für einen „Kernbereich“ der Idealkonkurrenz vorhanden. In einer späteren Publikation präzisiert er diese Behauptung, dadurch dass expressis verbis von der Handlung im natürlichen Sinne gesprochen wird, MDR 1988, S. 1013 f. (s. bereits Tatbegriff, S. 181 ff.); zu dieser These vgl. krit. u. D. VII. 1. (S. 531 f.). 1698 Dies wird von Cording, Strafklageverbrauch, S. 192 f. nicht hinreichend gewürdigt. 1699 Was von Neuhaus, Tatbegriff, S. 127, 134 sogar explizit gesagt wird. Weitere Kritik bei Detmer, Begriff der Tat, S. 172 f. 1700 Schlehofer, GA 1997, S. 109 ff., 118; implizit wohl auch Steinberg/Stam, Jura 2010, S. 908.

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Dennoch vermag der Vorschlag nicht zu überzeugen. Dies beruht darauf, dass Schlehofer sich zwar darum bemüht, den Tatbegriff auf das Anklageprinzip zurückzuführen, sich andererseits über den Sinn und Gehalt des Anklageprinzips nicht die nötige Klarheit verschafft hat. Dies wird zunächst schon auf einer intuitiven Ebene deutlich: Es leuchtet nicht ein, dass eine Anklageschrift, in der von einem Diebstahl eines Autos die Rede ist, der am 25.11.2012 gegen 22 Uhr erfolgt sein soll, nicht eine Verurteilung wegen des Diebstahls desselben Autos ermöglichen soll, falls sich nach der Beweisaufnahme ergibt, dass der Diebstahl erst am 26.11.2012 um 1 Uhr morgens begangen worden ist. Umso weniger leuchtet es ein, dass der ergangene Freispruch wegen der ersten Tat keinerlei Wirkungen bezüglich der erst am nächsten Tag erfolgten und deshalb zweiten Tat zeitigen soll. Wäre Schlehofers Ansicht richtig, dürfte die Anklagebehörde sich beliebig viele Versuche zusichern, den Betroffenen zu überführen, allein dadurch, dass sie bei Unsicherheit Orts- und Zeitangaben ins Blaue hinein benennt. Nach dem Scheitern dieser Klage stünde ihr dann die Möglichkeit offen, allein dadurch eine neue prozessuale Tat zu kreieren, dass sie die Orts- oder Zeitangaben verändert. Dieses intuitive Unbehagen lässt sich auch theoretisch begründen. Denn Ort und Zeit einer Straftat weisen keinen inneren Bezug zu dem auf, was im Strafverfahren thematisiert wird und deshalb seinen Gegenstand darstellt: der Verdächtigung. Schlehofers implizites Verständnis des Anklagegrundsatzes ist normativ blass. Es besteht in nichts anderem als in der Annahme, dass schon allein und nur die Behauptung, der Beschuldigte habe um eine bestimmte Uhrzeit an einem bestimmten Ort etwas Schlechtes getan, die o. III. 2. b) (S. 390) beschriebene Gefahr auslöst. Ohne viel vorwegzunehmen (näher u. V., VI., VII. [S. 510 ff.]), sei an dieser Stelle nur gesagt, dass dies eine auf den ersten Blick äußerst unplausible Annahme ist. 5. Same transaction Ebenfalls faktisch orientiert ist der in den USA in der Literatur1701 und in der Rechtsprechung einiger Bundesstaaten1702 vertretene same transaction-Test.1703 Demzufolge sollte über alle Straftaten, die sich innerhalb eines gleichen Vorfalls eventuell verwirklicht haben können, ein einziges Verfahren durchgeführt werden. Im Supreme Court selbst fand der Test keinen Erfolg;1704 vor allem die Son1701 M. Jones, JCLC 38 (1947), S. 390 (unter der Voraussetzung der Zulassung von Rechtsmitteln der Staatsanwaltschaft; zu dieser Frage u. Kap. 5 E. II. [S. 848 ff.]); Anonym, StLR 11 (1959), S. 741; R. Brown, UCLALR 19 (1972), S. 817 f. 1702 Nachw. in Anonym, StLR 11 (1959), S. 744 Fn. 39. 1703 Zum Ganzen auch Herrmann, Wiederaufnahme, S. 680 f.; Stuckenberg, Double Jeopardy, S. 28 ff. 1704 U.S. Supreme Court, Garrett v. United States, 471 U.S. 773, 790 (1985).

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dervoten von Justice Brennan schlossen sich ihm an.1705 Brennan berief sich gerne auf die vielzitierte Passage aus United States v. Green1706 und auch auf die Notwendigkeit, das staatsanwaltschaftliche Ermessen zu unterbinden.1707 Diese Sichtweise weist aber genau dieselben Probleme auf, die beim deutschen Begriff diagnostiziert worden sind. Erstens ist es unmöglich, genau anzugeben, wie weit die transaction reicht.1708 Zweitens ist schon die Vorstellung, es gebe so etwas wie einzelne, voneinander unterscheidbare Vorgänge, ein zweifelhafter Ontologismus. Drittens und vor allem setzt der Test an der falschen Stelle an. Wenn man das staatsanwaltschaftliche Ermessen beschränken möchte, sollte man Regeln einführen, die zur Anklage weiterer Straftatverwirklichungen zwingen. Darauf wird u. D. V., VI. (S. 510 ff.) zurückzukommen sein. 6. Zwischenfazit zu der faktisch orientierten Bestimmung des Tatbegriffs Der geschichtlich orientierte Tatbegriff der h. M. leidet also erstens daran, dass er unbestimmt ist (epistemisches Problem), und ferner daran, dass er von einem naiven Ontologismus ausgeht (methodisches Problem). Der Hauptfehler dieses Begriffs ist aber, dass er ein Fortleben des spätmittelalterlichen-frühneuzeitlichen Inquirenten verkörpert, das mit der vom Anklageprinzip gebotenen Teilung der Aufgaben zwischen Ankläger und Richter nicht verträglich ist (normatives Problem). Die Versuche, diese Unzulänglichkeiten zu beheben, sind zwar in gewissen Hinsichten weiterführend; sie bleiben aber allesamt auf der Strecke und belegen somit das Bedürfnis, diesen Tatbegriff zu überwinden. VI. Normative Theorien Es verwundert deshalb nicht, dass seit Generationen versucht wird, die prozessuale Tat anhand normativer Kriterien näher zu bestimmen, eine Tendenz, der, wie bemerkt, sich nicht einmal die Rechtsprechung verschließen konnte.1709 Man erwartet aus der Überwindung des methodisch naiven Essenzialismus, dass auch 1705 U.S. Supreme Court, Ashe v. Swenson, 397 U.S. 436, 453 f. (1970); Waller v. Florida, 397 U.S. 387, 396 (1970); Brown v. Ohio, 432 U.S. 161, 170 (1977); Harris v. Oklahoma, 433 U.S. 682, 683 (1977); auch das Sondervotum v. Douglas, in: Gore v. United States, 357 U.S. 386, 395 (1958); Kirchheimer, YLJ 58 (1949), S. 534 ff. 1706 U.S. Supreme Court Ashe v. Swenson, 397 U.S. 436, 450 (1970). 1707 U.S. Supreme Court Ashe v. Swenson, 397 U.S. 436, 456 f. (1970). 1708 English Jr., LouisLR 32 (1971), S. 92, 101; Thomas III, IoLR 71 (1986), S. 380; zugegeben von Brennan selbst, U.S. Supreme Court, Ashe v. Swenson, 397 U.S. 436, 454 Fn. 8 (1970). 1709 Siehe oben C. IV. (S. 434). Daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, dass die Entgegensetzung von faktischen und normativen Theorien überholt sei (Neuhaus, MDR 1989, S. 219), erscheint mir etwas überspitzt, zumal eine bessere Einteilung für Darstellungszwecke nicht ersichtlich ist.

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das oben genannte epistemische Problem, also die Ungenauigkeit des Tatbegriffs gelöst wird. Zum Teil sind es auch offen ausgesprochene Gerechtigkeitserwägungen, die zur Formulierung eines solchen normativen Tatbegriffs führen, was, wie o. B. IV. 5. (S. 416 ff.) schon dargelegt, im vorliegenden Zusammenhang keinen guten Grund darstellt. 1. Materiellrechtlicher Tatbegriff a) Besonders verbreitet ist der Vorschlag, beim materiellen Strafrecht um Hilfe zu bitten. „Welche Einzelthatsachen zusammengehörend den ,historischen Vorgang‘ bilden, beantwortet sich an Hand des materiellen Strafrechts“.1710 „Der Richter würde mit sich selbst in Widerspruch treten, wenn er prozessualisch erklärte, es handle sich nur um eine That, materiellrechtlich aber, es seien zwei selbständige Handlungen“.1711 Das materielle Strafrecht kennt eine hoch entwikkelte und raffinierte Dogmatik der Unterscheidung zwischen Einheit und Mehrheit von Handlungen, die die Grundlage für die Unterscheidung zwischen Idealund Realkonkurrenz bildet.1712 Man könnte deshalb auf die materiellrechtliche Konkurrenzlehre zurückgreifen und behaupten, dass im Falle der Idealkonkurrenz (und erst recht bei Handlungseinheit) auch eine einheitliche Tat im prozessualen Sinne vorhanden sei, während dagegen bei realiter miteinander konkurrierenden Straftaten von mehreren Taten im prozessualen Sinne auszugehen sei.1713 1710 Bennecke/Beling, Reichs-Strafprozeßrecht, S. 212; die Stelle wird zust. von Schwinge, ZStW 52 (1932), S. 206 zitiert. 1711 v. Kries, Lehrbuch, S. 569. 1712 Zu ihr statt aller Roxin, AT II, § 33 Rn. 10 ff. 1713 Hélie, Traité III, S. 591 f.; Waser, GS 3/2 (1851), S. 385; Goltdammer, GA 1862, S. 460, 463; Glaser, GS 36 (1884), S. 108 f., 115, 117; Eichhorn, GS 38 (1886), S. 426, 441 (wenn auch wohl inkonsequent, vgl. die Beispiele auf S. 417 Fn. 33 und S. 418, wo zwischen Abgabe eines Schusses und Aufschlagen des Geschosses Tatidentität verneint wird); M. Berner, Ne bis in idem, S. 52 f. (der aber meint, die Tat bestehe aus objektiven und subjektiven Momenten [S. 55], wobei Letzteres maßgeblich sei [S. 56, S. 64: „so entspricht je einem Willen auch je eine That; und die Einheit des Willens hat über die Einheit der That zu entscheiden“]; so dass er sich auch unter die Vertreter der Lehre von der Richtung des Tätigkeitsakts einordnen ließe, s. u. 4. (S. 455 ff.); ihm weitgehend zust. Barbarino, Rechtskraft, S. 106 ff.); v. Kries, Lehrbuch, S. 569; W. Mittermaier, ZStW 21 (1901), S. 232; Birckel, Identität der Tat, S. 11 ff., 16 ff.; Ehrhardt, Handlungseinheit, S. 50 f.; Grünhut, Begriffsbildung, S. 13 f.; Liu, Identität der Tat, S. 16 f., der „substantivistische“ und „adjektivistische“ Tatumstände unterscheidet, Tatidentität bei Zusammentreffen substantivistischer Umstände, also bei Idealkonkurrenz, bejaht (S. 16 f., 19 ff., 30 f., 58 ff.), aber bereit ist, (weitgehend zustimmungswürdige) Einschränkungen für eine Reihe von Fällen anzuerkennen (S. 67 ff.); Niederreuther, Realkonkurrenz, S. 12 f.; v. Weber, GS 100 (1931), S. 229; Dohna, Strafprozeßrecht, S. 205 f.; Gerland, Strafprozess, S. 376; v. Hippel, Strafprozess, S. 373; Exner, Strafverfahrensrecht, S. 74 („grundsätzlich“); Busch, ZStW 68 (1956), S. 7 f. (wenn auch etwas unklar, vgl. S. 9); Herzberg, JuS 1972, S. 117 ff.; Behrendt, ZStW 94 (1982), S. 899 ff., 910 ff.; Gössel, JR 1982, S. 113 f. (der für materiellrechtliche Tateinheit Identität der Rechtsgüter verlangt); Puppe, JR 1986, S. 205 ff.; Klesczewski, HRRS-FG Fezer,

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Häufig beruft man sich auf § 55 StGB, der die nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe nur bei der Real- und nicht bei der Idealkonkurrenz vorsieht, als Beleg dafür, dass nach dem § 52 StGB zugrunde liegenden Gesetzeskonzept idealkonkurrierende Straftaten notwendigerweise im gleichen Verfahren abzuurteilen seien.1714 Verbreitet ist auch ein Verweis auf § 264 Abs. 2 StPO, der das Gericht dazu verpflichtet, das Geschehen rechtlich umfassend zu würdigen,1715 und auf den Wortlaut von § 154a StPO.1716 Sehr nahestehend vertreten viele italienische Autoren, dass eine Handlung (condotta) immer eine Tat im prozessualen Sinne darstellt.1717 Ein ausdrücklicher Hinweis auf die materiellrechtliche Konkurrenzlehre findet sich aber bei ihnen regelmäßig nicht.1718 Auch in der amerikanischen Lehre sprechen sich einige Autoren für einen sog. same conduct-test aus.1719 b) Die Hauptvorteile dieser Ansicht liegen zweifelsohne auf der epistemischen und methodischen Ebene. Nicht nur liefert die materiell-strafrechtliche Konkurrenzlehre relativ eindeutige Ergebnisse,1720 sondern sie hat es auch vermocht, sich von zweifelhaften Ontologismen wenn auch nicht völlig, immerhin doch zu einem größeren Teil zu befreien.1721 S. 120 f.; nur im Ergebnis Achenbach, ZStW 87 (1975), S. 95; J. Maier, Derecho procesal penal I, S. 613. Wohl auch Hasenbalg, Öffentliche Klage, S. 75, 201 f.; Berner, GA 1855, S. 491 f. 1714 RGSt 7, 437 (440); aus der Literatur Eichhorn, GS 38 (1886), S. 427 (mit Hinweis auf § 73 StGB a. F.); v. Kries, Lehrbuch, S. 597; Wurzer, GA 1918, S. 270 f.: „Wie die eine Tat des § 73 unteilbar ist, so muß auch die Entscheidung über die Tat unteilbar sein“; heute Grünwald, StV 1981, S. 327; ders. StV 1986, S. 243, der in beiden Publikationen schreibt, dass prozessuale Tatidentität bei materieller Tateinheit „eine notwendige Folgerung aus dem materiellen Recht“ sei; Werle, NJW 1980, S. 2673; Puppe, JR 1986, S. 205; Wolter, GA 1986, S. 160; Detmer, Begriff der Tat, S. 67 ff.; Bohnert, GA 1994, S. 99 f. 1715 Etwa RGSt 7, 437 (440); 56, 324 (325); 72, 99 (105); Eichhorn, GS 38 (1886), S. 426; heute Fezer, Tatbegriff, S. 129 f.; Schlüchter, JZ 1991, S. 1059. 1716 So Roxin, JR 1984, S. 348; Wolter, GA 1986, S. 159 f., 164; Cording, Strafklageverbrauch, S. 183; Detmer, Begriff der Tat, S. 23, 212. 1717 Battaglini, RIDP 1932, S. 551; Leone, Trattato III, S. 342; ders. Manuale, S. 736; Pagliaro, EncDir XVI (1967), S. 964; Lozzi, EncDir XVIII (1969), S. 921 f.; Cristiani, Revisione, S. 70; Conso/Guariniello, RitDPP 1975, S. 51; Bellora, RitDPP 1990, S. 1636; Rivello, RitDPP 1991, S. 491; De Luca, Giudicato, S. 9; Jannelli, Cosa giudicata, S. 633 (der aber sofort die „Präzisierung“ einführt, dass es auch auf den Erfolg ankomme, S. 633 f.); nahestehend auch Angioni, RevPen 1954, S. 525. Die ausländische Beobachterin Jeangey, Ne bis in idem, S. 191 (m.w. Nachw.) stuft diese Ansicht als herrschende Lehre ein. 1718 Vielmehr ist die Behandlung der Idealkonkurrenz ein zentraler Streitpunkt, näher u. D. IV. 3. a) (S. 495 f.). 1719 Thomas III, IoLR 71 (1986), S. 398 f. (später aufgegeben, s. u. Fn. 1813); Klein, CalLR 88 (2000), S. 1030 ff. 1720 Ebenso Neuhaus, Tatbegriff, S. 119; Detmer, Begriff der Tat, S. 190; and. Barthel, Begriff der Tat, S. 92; Peters, Strafprozeß, S. 507.

2. Kap.: Der Begriff der strafprozessualen Tat

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c) Hingegen erscheint es zweifelhaft, ob die Ansicht auf der normativen Ebene überzeugt. aa) Es sei zunächst registriert – ein Argument ist das, wie o. II. (S. 429) bereits hervorgehoben, aber noch nicht – dass das Abstellen auf die Kriterien des materiellen Rechts einerseits als zu restriktiv, andererseits als zu weitgehend empfunden wird.1722 (1) Es gibt erstens eine Reihe von Fällen, bei denen es intuitiv sehr schwer fällt, die prozessuale Tatidentität abzulehnen, obwohl von Idealkonkurrenz nicht die Rede sein kann. Die materiellrechtliche Lehre verfährt hier wohl unangemessen restriktiv. Man denke an den in diesem Zusammenhang häufig angeführten Wechsel der Beteiligungsrolle (man will den freigesprochenen Gehilfen jetzt wegen Täterschaft verklagen oder umgekehrt).1723 Noch klarer sind Fälle, in denen bei derselben Beteiligungsrolle unterschiedliche Taten im materiellrechtlichen Sinne in Betracht kommen: Es ist etwa unklar, ob der Gehilfe dem Haupttäter das Messer besorgt hat, oder ob er dieses dem Täter schon von Anfang an gehörende Messer geschliffen hat; der Täter soll sein Opfer nicht erwürgt, sondern erschossen haben.1724 Es erschiene befremdlich, wenn jede Variierung der Körperbewegung, die materiellrechtlich betrachtet die Grenzen der Idealkonkurrenz überschreitet, automatisch zu einer anderen Tat im prozessualen Sinne führen würde. Man denke auch an einen Wechsel der Tatzeit: ein Schlag um 16:00 kann (wohl?) nicht derselbe Schlag sein, der um 18:00 stattgefunden haben soll.1725 Damit wäre es in vielen Fällen möglich, durch geschicktes Anklagen die Entste1721 Vgl. die Darstellungen bei Roxin, AT II § 33 Rn. 17 ff.; Jakobs, AT § 32 Rn. 1 ff.; noch weiter in eine normative Richtung geht Puppe, s. u. Fn. 1722. Der wunde Punkt bleibt die Figur der natürlichen Handlungseinheit, zu ihr ausf. Roxin AT II § 33 Rn. 29 ff. 1722 Ebenso Bertel, Identität der Tat, S. 110 f.; Peters, Strafprozeß, S. 507 („unbillige Ergebnisse“); Neuhaus, Tatidentität, S. 102, 120 ff.; Wolter, GA 1986, S. 153 f., 157 f. Ob diese Einwände auch Puppes Konzept treffen, die die Idealkonkurrenz anhand des Kriteriums der Unrechtsverwandschaft bestimmen möchte (Puppe, Idealkonkurrenz, S. 125 ff., 170 ff.; dies. GA 1982, S. 143 ff.; zu den strafprozessualen Implikationen etwa dies. JR 1986, S. 205 ff.), lasse ich hier offen. Krit. zu Puppe Werle, Konkurrenz, S. 119 ff.; Jakobs, AT § 31 Rn. 16 Fn. 18; Roxin, AT II § 33 Rn. 75 ff. 1723 Selbes Beispiel bei Neuhaus, Tatbegriff, S. 123. Dafür, dass in diesen Fällen eine einheitliche prozessuale Tat vorliegt, s. u. F. III. 2. d) (S. 554 f.). Für unterschiedliche Taten konsequent Liu, Identität der Tat, S. 88; Busch, ZStW 68 (1956), S. 8. Oehler, GS Schröder, S. 448, der dem materiellrechtlichen Kriterium sehr nahesteht (s. o. Fn. 1672), repliziert, dass Beihilfe, Anstiftung und Täterschaft regelmäßig eine Tat seien, „weil der Tod des Opfers alle Teilnahmehandlungen zusammenfaßt“. In der Regel werden aber den unterschiedlichen Beteiligungsrollen auch unterschiedliche materiellrechtliche Handlungen, etwa Besorgung der Tatwaffe, Überredung des Haupttäters, Abdrücken der Pistole, entsprechen (krit. zu Recht Wolter, GA 1986, S. 157). 1724 Siehe Büchner, Strafprozessuale Tat, S. 66 f.; und auch Bettiol, Correlazione, S. 61. 1725 Wolter, GA 1986, S. 157; Detmer, Begriff der Tat, S. 34 f., 117, 182 ff.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

hung von Rechtskraft praktisch zu verhindern.1726 Materiellrechtliche Handlungseinheit und Idealkonkurrenz scheint also wohl keine notwendige Bedingung für prozessrechtliche Tateinheit zu sein. bb) Umgekehrt ist hinreichend bekannt, zu welchen Schwierigkeiten die Identifikation materiellrechtlicher und prozessrechtlicher Tatbegriffe bei Dauerdelikten und Organisationsdelikten führt – so dass man bereits an dieser Stelle die Vermutung äußern darf, dass die Ansicht andererseits wohl zu weit geht. Ob sich diese Vermutung bezüglich dieser zwei Fallgruppen bestätigt, wird aber erst u. F. III. 8. (S. 598 ff.) näher zu klären sein. Deshalb dürfte das beste Vehikel zur Darstellung der jetzigen Intuition ein Gedankenexperiment liefern, das zugegeben konstruiert ist, aber im Grunde genommen nur die zugespitze Amalgamierung einiger in der Diskussion immer wieder angeführter Beispiele darstellt. Bei diesen Beispielen geht es manchmal um die in der Wirklichkeit vorkommende problematische Konstellation, in der eine Vielzahl von Opfern in einer einzigen Publikation beleidigt wird,1727 manchmal um die als reductio ad absurdum gedachte Konstellation eines Straftäters, der die gerade untersuchte Ansicht kennt und sich deshalb dafür entscheidet, durch eine Handlung eine leichte und eine Vielzahl schwerer Straftaten zu begehen, sich wegen der leichten Straftat ertappen und verurteilen lässt und sich dadurch Straffreiheit wegen aller sonstigen Straftaten zusichert.1728 Mein Gedankenexperiment: Man stelle sich einen kriminellen Supercomputer vor, der mittels eines einzigen Mouseclicks nicht nur mehrere Raketen auf unterschiedliche inländische Ziele abfeuert, sondern gleichzeitig eine Vielzahl von E-Mails mit Viren losschickt, die alle vom Absender unterschrieben und mit seiner Adresse versehen sind. Diese E-Mails werden unter anderem auch an Polizisten und Staatsanwälte adressiert, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass wenigstens ein Opfer entweder den für die Verfolgung wegen Computersabotage (§ 303 b StGB) erforderlichen Strafantrag stellt oder dass die Staatsanwaltschaft das öffentliche Interesse an der Verfolgung bejaht (§ 303c).1729 Man kann wohl nicht ernsthaft bestreiten, dass an einer Theorie, die dem Nutzer des verbrecherischen Supercomputers wegen der Morde, Sachbeschädigungen, gemeingefährlichen Delikte, Waffendelikte usw. Straffreiheit zuspricht, sobald er wegen des Vergehens der Computersabotage gegen ein einziges

1726

Siehe die o. V. 4. (S. 442 f.) formulierte Kritik an Schlehofer. Diese Fallkonstellation hat die Rechtsprechung seit jeher beschäftigt, s. RGSt 7, 347; 10, 149; 24, 269. 1728 Siehe bereits Ortloff, GA 1878, S. 188; Glaser, GS 36 (1884), S. 123 („schlaue Berechnung des Verbrechers“); Eichhorn, GS 38 (1886), S. 412 Fn. 21; fünfzig Jahre später Mattil, DStR 1942, S. 170; hundert Jahre später Mitsch, JR 1990, S. 163; ders. MDR 1988, S. 1011 (bzgl. unerlaubten Waffenbesitzes). 1729 Falls dies durch Strafbefehl geschieht, dann soll der Bediener unseres Supercomputers Einspruch erheben, um somit die Anwendbarkeit von § 373a Abs. 1 StPO auszuschalten. 1727

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Opfer verurteilt oder freigesprochen wird, etwas faul sein muss.1730 Es bestehen also starke Zweifel, dass materiellrechtliche Tateinheit eine hinreichende Bedingung für die prozessuale Tatidentität darstellen kann. bb) Diese auf der intuitiven Ebene formulierten Bedenken lassen sich theoretisch untermauern. Diese Intuitionen sollen nicht als gefühlsmäßige Erfassung von Anforderungen der materiellen Gerechtigkeit gedeutet werden. Wie o. Kap. 1 VIII. (S. 360 ff.), Kap. 2 B. IV. 5. (S. 416 ff.) ausgeführt, hat die Gerechtigkeit weder bei der Rechtskraft noch bei der Bestimmung des Tatbegriffs etwas zu suchen. Sie sind aber insofern berechtigt, als sie sich als spontane Erfassung des Gehalts des Anklagegrundsatzes verstehen lassen. Ohne nähere Einzelheiten vorwegzunehmen (s. u. D. VII. [S. 520 ff.]), lässt sich bereits hier festhalten, dass derjenige, der eine Anklage wegen der Übertragung eines Computervirus erhebt, nicht zugleich wollen muss, dass die der Computersabotage verdächtigte Person auch tödliche Raketen abgefeuert habe. Es fällt auf, dass die Vertreter der materiellrechtlichen Bestimmung des Tatbegriffs wenig mehr als epistemische oder methodische Argumente anbieten können,1731 während die selten angeführten normativen Argumente äußerst blass bleiben. Bis zu den RAF-Fällen (zu ihnen u. E. III. 8. [S. 598 ff.]) berief man sich auf die materiellrechtliche Richtigkeit (also auf eine Form der Gerechtigkeit, s. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 2. c) [S. 239 ff.]), da die Benutzung der Konkurrenzlehre den Tatbegriff in vielen Hinsichten einschränkte.1732 Später kam es zu den politisch brisanten Fällen, bei denen das schlichte Abstellen auf die herkömmlichen Kriterien Terroristen Freiheit von Strafverfolgung gerade wegen ihrer schlimmsten Straftaten zusichern würde; man berief sich dann auf die Rechtssicherheit1733 oder sogar auf Art. 103 Abs. 3 GG.1734 Diese argumentative Karg1730 Der Vorschlag von Eb. Schmidt, JZ 1951, S. 22, in einigen solchen Fällen (am Beispiel des Bombenwurfs) mit Berufung auf den sozialen Handlungssinn unterschiedliche Handlungen anzunehmen, könnte die Schwierigkeiten abmildern, hat aber keine Gefolgschaft gefunden. 1731 Z. B. W. Mittermaier, ZStW 21 (1901), S. 232: „wirklich juristische, klare Art der Abgrenzung, wofür jeder Beteiligte im Strafgesetz einen objektiven Anhalt hat.“; Hall, RW 1941, S. 315: „der zuverlässigste Maßstab zur Bestimmung des verfahrensrechtlichen Tatbegriffs.“ 1732 So eindeutig Herzberg, JuS 1972, S. 119, bei dem man liest, es sei eine unangemessene Deutung der Rechtssicherheit, wenn aus ihr abgeleitet wird, „daß ein rechtskräftig Verurteilter sich darauf verlassen können müsse, für strafbare Handlungen, die noch gar nicht in den Blick der Justiz geraten sind, nicht belangt zu werden“. Als Beispiel für die „Wende“ s. Klesczewski, HRRS-FG Fezer, S. 120 f., der in seiner Diskussion des Strafklageverbrauchs beim Organisationsdelikt die materiellrechtliche Lösung mit Berufung auf den Rechtsfrieden verteidigt. 1733 Insb. Grünwald, FS Bockelmann, S. 758; ders. StV 1986, S. 245. 1734 Beispielsweise Grünwald, FS Bockelmann, S. 743, 750, der sich sogar auf Art. 103 Abs. 3 GG beruft; hierzu krit. o. B. IV. 8. (S. 421 ff.) und u. D. IV. 4. a) (S. 502 ff.). Interessanterweise ist die Vorschrift genau eines der Hauptargumente von Neuhaus, Tatbegriff, S. 124 – das aber gegen und nicht für die materiellrechtliche Lö-

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heit ist kein bloßer Schönheitsfehler, sondern eine in der Sache liegende Unzulänglichkeit: Denn die Hinwendung zum materiellen Strafrecht ist hier nicht viel mehr als ein Verlegenheitsakt. Man möchte den herrschenden Begriff bestimmter und kontrollierbarer machen, weiß nicht wie, und greift deshalb auf die materiellrechtliche Konkurrenzlehre zurück. Die Verknüpfung von Anklageprinzip und Tatbegriff, auf die es eigentlich ankommen sollte, wird dabei völlig außer Acht gelassen.1735 Dies lässt sich wohl am klarsten durch ein Beispiel von Schlehofer1736 belegen: Der Täter dringt gewaltsam in ein Haus ein und verwüstet es; das Opfer stellt keinen Antrag bzgl. § 123 StGB, die Staatsanwaltschaft bejaht aber das öffentliche Interesse an der Verfolgung der Sachbeschädigung, § 303c StGB. Es leuchtet nicht ein, dass man auch den Hausfriedensbruch als Gegenstand des Strafverfahrens ansieht, mit der Folge, dass seine spätere eigenständige Thematisierung – falls sich das Opfer später entscheidet, einen Strafantrag zu stellen – vom ne bis in idem-Grundsatz untersagt wäre. Dies beruht darauf, dass wegen Hausfriedensbruchs gerade keine Anklage erhoben worden ist, so dass das Gericht nicht von selbst nach dieser Vorschrift verurteilen kann. In diesem und in ähnlichen Fällen, in denen über bestimmte Tatbestandsverwirklichungen von Anfang an kein Sachurteil gefällt werden darf („normative Kupierungen“), ist allgemein akzeptiert, dass auch idealkonkurrierende Straftatbestände nicht zum Gegenstand des Verfahrens gehören können und dass sich die Rechtskraft nicht auf sie erstreckt. Wir werden hierüber gleich näher sprechen (u. E. III. 4. [S. 560 ff.]). Aus dem Gesagten wird klar, dass die materiellrechtliche Konkurrenzlehre auf Erwägungen beruht, die mit dem Anklageprinzip nichts Näheres zu tun haben.1737 Aus ihr lassen sich also nicht ohne Weiteres Rückschlüsse auf die Reichweite des Gegenstands der Anklage ableiten. sung eingesetzt wird, was einen deutlichen Beleg für die mangelnde Aussagekraft des unvermittelten Verweises auf die Verfassung liefert. 1735 Insofern auch Kadecka, Handlungseinheit, S. 181 f. 1736 Schlehofer, GA 1997, S. 113; fast identisches Beispiel bei Reiffel, GA 1894, S. 90 f.; ähnl. auch Kadecka, Handlungseinheit, S. 178. Ein vergleichbares Beispiel bei Binding, Strafurteil, S. 324, das ich nur deshalb nicht im Text zitiere, weil es zugleich die Problematik der Privatklage (dazu u. E. III. 4. b) dd) [S. 565 ff.]) berührt: „Wenn also eine große Volksversammlung von einem fanatischen Redner schwer beschimpft wird, so würden durch das Urteil über eine Privatklage alle andern konsumiert“. Ähnliche Erwägungen bei J. Maier, Derecho procesal penal I, S. 628, der – dogmatisch unbefriedigend – von einer Ausnahme vom ne bis in idem-Grundsatz spricht. 1737 Kritisch gegen den Versuch, die prozessuale Frage mittels materiellrechtlicher Theorien zu lösen, auch Kadecka, Handlungseinheit, S. 181; F. Frank, Identität der Tat, S. 7 f.; Gelbert, JW 1934, S. 2892; Ramm, DStR 1939, S. 44 f.; Niederreuther, DJ 1942, S. 110; Oehler, FS Rosenfeld, S. 147; Geerds, Konkurrenz, S. 358 f., 400; Mann/ Mann, ZStW 75 (1963), S. 256; Noftz, Prozeßgegenstand, S. 38 ff., 143; Daskalakis, Unité et pluralité, S. 429 f.; Barthel, Begriff der Tat, S. 91; Neuhaus, Tatbegriff, S. 123; Rieß, NStZ 1981, S. 75; Jung, JZ 1984, S. 536; Kröpil, DRiZ 1986, S. 451; W. Bauer,

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Die o. S. 446 genannten, für diese Ansicht angeführten positivrechtlichen Argumente sind ebenfalls unzureichend. Sie belegen auch nur, wie wenig das positive Recht von sich aus alle maßgeblichen Gesichtspunkte bereitstellt, wie sehr man gewollt oder ungewollt auf eine vorpositive Theorie angewiesen ist. Besonders unbefriedigend ist der Verweis auf § 264 Abs. 2 StPO, der das Gericht dazu verpflichtet, das Geschehen rechtlich umfassend zu würdigen. Denn die Frage, was das Geschehen ist, ist gerade die, die es zu klären gilt. Auch der Hinweis auf § 55 StGB kann kein letztes Wort sein, weil immer noch die Möglichkeit besteht, den Rechtsgedanken der Vorschrift auf Fälle der Idealkonkurrenz anzuwenden, so dass für idealkonkurrierende Taten, die in verschiedenen Verfahren abgeurteilt werden, keine höhere Strafe verhängt wird, als die, auf die man in einem einzigen Verfahren gekommen wäre1738 – was übrigens in Fällen der gerade angesprochenen „normativen Kupierungen“ wie eines fehlenden Strafantrags (näher u. E. III. 4. b) cc) [S. 568 ff.]) sogar weitgehend anerkannt ist.1739 2. Identität der Normverletzung (Binding) Aus unserer Perspektive erscheint es geboten, die Gedanken von Binding, dem scharfsinnigsten Kritiker der herrschenden Auffassung, dessen Einwände wir uns wistra 1991, S. 58; Erb, GA 1994, S. 273; Krauth, FS Kleinknecht, S. 231; Neuhaus, NStZ 1987, S. 139; ders. MDR 1989, S. 218; Jakobs, AT § 32 Rn. 15 Fn. 22; Badaró, Correlação, S. 108; Velten, SK-StPO § 264 Rn. 23; Lozzi, Lezioni, S. 794 f. Aus der Rspr.: RGSt 8, 135 (140); RGSt 61, 314 (317): „Dieser verfahrensrechtliche Begriff der ,Tat‘ hat mit dem sachlich-rechtlichen der ,Handlung‘ im Sinn der §§ 73, 74 StGB nichts gemein“; 62, 112 (die die gerade zitierte Passage auch zitiert); 72, 339 (340); BGHSt 6, 92 (96); 11, 130 (133); 23, 141 (145); 48, 153 (161); BGH NJW 1989, 726; NJW 2001, 2643 (2645); NStZ-RR 2003, 82; KG NStZ-RR 2008, 48 (49); BVerfGE 56, 22 (29 ff.). 1738 Ebenso Beling, Lehre vom Verbrechen, S. 389; Liu, Identität der Tat, S. 89 Fn. 12; Noftz, Prozeßgegenstand, S. 156 (bzgl. § 79 StGB a. F.); Neuhaus, Tatbegriff, S. 207; ders. MDR 1989, S. 217; in der Sache auch Werder, KritV 1928, S. 299. 1739 In diesem Sinne z. B. RGSt 49, 272 (274); 56, 161 (167 f.); BGHSt 15, 259 (262 f.); sinngemäß (Anrechnung) auch RGSt 52, 183 (184); RG DStR 1938, 55. Für andere Fälle RGSt 9, 321 (324); 46, 53 (55); BGHSt 29, 288 (297); OLG Hamm JR 1986, 203 (205); s. a. L. Martin, JZ 1963, S. 248 f. Bemerkenswert ist, dass Grünwald, StV 1986, S. 244, der dieses Unternehmen der getrennten Aburteilung idealiter konkurrierender Delikte als „Quadratur des Zirkels“ bezeichnet, der Konstellation normativer Kupierungen aber kein Wort widmet. Ähnliches lässt sich zu Detmer, Begriff der Tat, S. 71 f. sagen, der das Problem sogar sieht (S. 72 Fn. 1), aber ungelöst lässt. – Auch der Hinweis auf § 154a StPO (s. o. S. 446) ist ein fragwürdiges Argument; von der methodischen Fragwürdigkeit der Bestimmung eines für die Prozessstruktur grundlegenden Begriffs anhand einer nachträglich eingeführten, prozessökonomisch bedingten Vorschrift abgesehen, sei noch hervorgehoben, dass die Vorschrift höchstens den Schluss zulässt, dass eine prozessuale Tat mehrere Gesetzesverletzungen verkörpern kann (im Erg. ähnl. Bertel, Identität der Tat, S. 200 f.). Das bedeutet keineswegs das Gleiche wie die These, dass nicht nur einige, sondern alle Gesetzesverletzungen, die durch eine einheitliche Handung verwirklicht werden, eine prozessuale Einheit bilden. Zur näheren Deutung der Vorschrift s. u. E. III. 4. b) ff) (S. 572 f.).

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o. C. IV. (S. 436 f.) uneingeschränkt angeeignet haben, nicht unerwähnt zu lassen. Nicht nur seine Kritik, auch seine Thesen zur prozessualen Tat sind weitgehend in Vergessenheit geraten; die wenigsten Darstellungen gehen überhaupt auf sie ein.1740 Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die hier wiederholt zitierte Kritik am geschichtlich orientierten Tatbegriff der herrschenden Meinung als Relikt des zu überwindenden Inquisitionsverfahrens.1741 Binding leitet sein Kriterium wohl implizit aus seiner Normentheorie ab: Es komme auf die „Identität des Rechtsverhältnisses“ an,1742 wohl unter der zugegeben nicht so klar ausgesprochenen Annahme, dass ein Strafverfahren eine Normverletzung zum Gegenstand haben müsse. So postuliert er einen Zusammenhang von Klageänderungsbefugnis und Rechtskraft1743 und insbesondere eine strenge Bindung an die Anklage:1744 „[W]eder auf Grund der vagen Empfindung eines gewissen Zusammenhangs zweier Strafklagen, noch vom Standpunkt des alten Inquirenten aus darf die Frage nach der Zulässigkeit der konkreten Klagänderung in Angriff genommen werden, sondern lediglich von der eingeklagten Handlung, ihrem Wachstum und ihrer Abminderung der eingeklagten Handlung aus.“ 1745 M. a.W.: Identische Taten sind Versuch und Vollendung; Qualifikation, Grunddelikt und Privilegierung. Schon bei Idealkonkurrenz liegen regelmäßig mehrere Taten vor,1746 ebenso beim Zusammentreffen von Verletzungsdelikt und „Polizeiübertretungen“,1747 Handlungen und Unterlassungen.1748 Zunächst muss hervorgehoben werden, dass Binding sich einen uneingeschränkt zustimmungswürdigen Ausgangspunkt ausgesucht hat. Nur der tiefere Sinn des Anklageprinzips (o. B. II. 2. b) [S. 388 ff.]) ist von ihm nicht erschlossen worden, so dass seine Ergebnisse in beide Richtungen ungesichert erscheinen, also sowohl hinsichtlich dessen, was sie positiv zur prozessualen Tat rechnen, als auch dessen, was sie negativ von ihr ausschließen. Dass die Umgestaltung der Anklage vom Grundtatbestand auf die Qualifikation oder auf die Privilegierung mit dem Anklageprinzip vereinbar sein muss, scheint für jemanden, der in der Tradition des deutschen Strafverfahrens heimisch ist, intuitiv einzuleuchten. Es fehlt aber die überzeugende Begründung dafür: Wieso gibt es hier nur ein Rechtsverhältnis? Wie zählt man Normen und ihre Verletzungen? Umgekehrt wird man eher daran zweifeln, ob Veränderungen, die kein Wachstum mehr 1740 Eine Ausnahme ist Büchner, Strafprozessuale Tat, S. 70 ff.; s. a. die Rezension von Beling, ZStW 36 (1915), S. 657 ff. 1741 Binding, Strafurteil, S. 330, 332. 1742 Binding, Strafurteil, S. 329. 1743 Binding, Strafurteil, S. 332 f. 1744 Binding, Strafurteil, S. 330. 1745 Binding, Strafurteil, S. 335. 1746 Binding, Strafurteil, S. 325. 1747 Binding, Strafurteil, S. 335 f. 1748 Binding, Strafurteil, S. 336.

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sind, bildlich: Veränderungen „zur Seite“, vom Diebstahl auf die Hehlerei, bereits eine Überschreitung der Grenzen der prozessualen Tat zu bedeuten haben. Damit ist man beim eigentlichen Problem. Der Begriff der Norm bleibt zunächst eine formale Hülse. Die Ansicht ist insofern formalistisch, als sie abstrakt-formelle Konstrukte wie Normen und ihre Verletzungen zählt, ohne eine inhaltliche Theorie zu bieten, die es gestattet, die Normen voneinander zu unterscheiden.1749 Eine endgültige Stellungnahme wird erst bei der Entwicklung des eigenen Standpunkts (u. D. [S. 468 ff.], insb. VII. [S. 528 ff.]) möglich sein. Ohne viel vorwegzunehmen sei dennoch bereits jetzt gesagt, dass Bindings Gedanken sich als erstaunlich anschlussfähig erweisen werden. Die hier vertretene Theorie kann zu einem guten Teil als Wiederanknüpfung an den von ihm gestrickten Faden, der von der weiteren Entwicklung eher unbeachtet geblieben ist, verstanden werden, konkreter als ein Versuch, die vermisste inhaltliche Theorie nachzuliefern. 3. Der sog. Blockburger-Test Das in der amerikanischen Rechtsprechung verbreiteteste Kriterium1750 zur Bestimmung der Tatidentität ist eine rein normative Prüfung, die sich in dem Vergleich von Tatbestandsmerkmalen der in Frage kommenden Vorschriften erschöpft. Die immer wieder zitierte Formulierung dieses sog. Blockburger-Tests lautet: „[T]he test to be applied to determine whether there are two offenses or only one is whether each provision requires proof of an additional fact which the other does not.“ 1751 In dem Ausgangsfall ging es um die Frage, ob die Straftaten 1749

Wenigstens ausdrücklich; ich schließe nicht aus, dass im weiteren Werk von Binding Überlegungen in diesem Sinne vorhanden sein könnten. 1750 U.S. Supreme Court, American Tobacco Co. v. United States, 328 U.S. 781, 788 (1946); Gore v. United States, 357 U.S. 386, 388 ff. (1958); Iannelli v. United States, 420 U.S. 770, 785 Fn. 17 (1975); Brown v. Ohio, 432 U.S. 161 (1977); Illinois v. Vitale, 447 U.S. 410, 416 (1980); Whalen v. United States, 445 U.S. 684, 691 f. (1980); Albernaz v. United States, 450 U.S. 333, 337 (1981) (freilich zugleich mit einer rechtsgutsorientierten Argumentation, S. 389); United States v. Woodward, 469 U.S. 105, 108 (1985) (auch mit einem rechtsgutsorientierten Argument ergänzt, S. 109); United States v. Felix, 503 U.S. 378, 385 (1992); United States v. Dixon et al., 509 U.S. 688, 696 f., 701 f. (1993); Rutledge v. United States, 517 U. S. 292, 297 (1996); Texas v. Cobb, 532 U. S. 162, 173 (2001); Scalia, in: Grady v. Corbin, 495 U.S. 508, 543 f. (1990); Stevens, Souter, in: Hudson v. United States, 522 U.S. 93, 107 f., 113 (1997). 1751 U.S. Supreme Court, Blockburger v. United States, 284 U.S. 299, 304 (1932); davor Burton v. United States, 202 U.S. 344, 380f. (1906), „same evidence“; Morgan v. Devine, 237 U.S. 632, 641 (1915); Albrecht v. United States, 273 U.S. 1 (1927), dernach Besitz und Verkauf unterschiedliche Taten seien; wortgleich wie die im Text zitierte Formulierung Gavieres v. United, 220 U.S. 338, 339, 344 (1911): „Each offense required proof of a fact which the other did not“ (S. 344), deshalb unterschiedliche Taten; zu den Vorgängern von Blockburger beeindruckend Scalia, in: Grady v. Corbin, 495 U.S. 508, 532 ff. (1990). Weitere Nachw. bei Stuckenberg, Double Jeopardy, S. 24.

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des Verkaufs von Morphin nicht in der Originalverpackung und des Verkaufs von Morphin ohne schriftlichen Antrag des Käufers identisch waren; in Anwendung des Tests wurde das abgelehnt.1752 Abstrakt gesprochen:1753 Zwei Tatbestände sind gleich, wenn der Erste etwa aus den Merkmalen A + B, und der Zweite aus A + B + C, oder A + B + D, oder nur A, oder nur B besteht; aber A + B ist nicht identisch zu A + C oder A + D. Und jetzt wieder konkret: Demzufolge sind etwa Totschlag und Mord identisch, weil der Mord ein Merkmal mehr enthält als der Totschlag. Mord und Tötung auf Verlangen sind es dagegen nicht, denn beide enthalten zusätzliche Merkmale im Vergleich zu dem jeweils anderen. Nach dem Blockburger-Test sind also grundsätzlich nur Vorschriften identisch, die in einem Verhältnis als including und lesser included offense zueinander stehen.1754 Aus unserer Perspektive fällt es nicht leicht, diesen Begriff präzise zu beschreiben; hier reicht es wohl zu sagen, dass die Figur der uns vertrauten Spezialität sehr nahe kommt.1755 Die gängige Kritik an dem Blockburger-Test bemängelt seine Enge. Vor allem biete er keinen Schutz gegen harassment durch die Staatsanwaltschaft, was angesichts der Fülle an bei so gut wie jeder kriminellen Betätigung gleichzeitig anwendbaren Vorschriften dringend nötig sei.1756 Es könne nicht sein, dass zwei Taten vorliegen und deshalb zwei Verfahren gemacht werden können, wenn das Gesetz in einer Vorschrift den Raub am Sonntag, in einer anderen den Raub mit weißem Hemd unter Strafe stellt, und der mit weißem Hemd gekleidete Täter am Sonntag einen Raub begeht.1757 Ein solcher Einwand ist so nachvollziehbar wie fehl am Platze. Weder ist es der Sinn des ne bis in idem-Grundsatzes, die Ruhe des Beschuldigten sicherzustellen (s. o. Kap. 1 C. V. [S. 354 ff.]), noch kann diese Erwägung bei der Bestim1752 U.S. Supreme Court, Blockburger v. United States, 284 U.S. 299, 304 (1932); s. den ähnlichen Sachverhalt in Gore v. United States, 357 U.S. 386 (1958). 1753 Ähnliche Erläuterungen in Worrall, Criminal Procedure, S. 426. 1754 Ausdrücklich U.S. Supreme Court, Blockburger v. United States, In Re Nielsen, 131 U.S. 176, 189 (1889), trotz fragwürdiger Anwendung im Einzelfall. Zum Begriff der lesser included offense Kielwein, ZStW 68 (1956), S. 168 ff.; Vestal/Gilbert, MoLR 47 (1982), S. 4 f.; Blair, ACLR 21 (1984), S. 445 ff.; Stuckenberg, Double Jeopardy, S. 10, 16 ff.; Coffey, JSIJ 5 (2005), S. 162 f.; Swoboda, HRRS 2009, S. 194; Sprack, Criminal Procedure, Rn. 21.23 ff.; s. a. ModelPenC, Section 1.07 (4). 1755 Siehe auch Stuckenberg, Double Jeopardy, S. 17 ff. m.w. Nachw., insb. S. 18. Ich sage, es komme ihr nahe, weil zu der lesser included offense auch Straftaten gerechnet werden, die „in the normal course of events“ die Verwirklichung der schwereren Straftat begleiten (so Sprack, Criminal procedure, Rn. 21.25 b, m. Nachw.), was schon unserer Subsidiarität oder sogar Konsumption entsprechen dürfte. 1756 Anonym, WULR 1960, S. 102 ff.; R. Brown, UCLALR 19 (1972), S. 811: „the same evidence test effectively destroys a criminal defendant’s protection from multiple prosecutions“; Bouwen Poulin, RutgLR 43 (1991), S. 893. 1757 Thomas III, Double Jeopardy, S. 99; ähnl. Gegenbeispiel in Souter, in: United States v. Dixon et al., 509 U.S. 688, 748 (1993); Amar, YLJ 106 (1997), S. 1820.

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mung der prozessualen Tat eine Rolle spielen (s. o. B. IV. 3. [S. 412 ff.]). Was diesen Einwänden fehlt, ist die Rückanbindung an das allein maßgebliche Anklageprinzip (s. o. B. III. 5. [S. 403 ff.]). Wenn man sich darum bemüht, erkennt man sowohl, dass der Blockburger-Test wenigstens im Grundsatz nicht unrichtig ist (u. D. III. [S. 472], IV. 3. b) [S. 497 ff.]), als auch, dass die zu Recht erkannten Probleme nicht erst durch die „Hintertür“ einer Erweiterung des Strafklageverbrauchs, sondern schon durch die Vordertür einer nicht auf freiem Ermessen beruhenden Erweiterung des Anklagegehalts bewältigt werden müssen. Konkret: Hat das Anklageprinzip mit der Bekämpfung einer vernünftig begründeten Befangenheitsgefahr zu tun (o. B. IV. 2. b) [S. 390 ff.]), dann kann es schon von Anfang an nicht allein auf den Willen des Individuums ankommen; vielmehr müssen innerhalb bestimmter Grenzen einige Vorgänge auch dann als implizit mitangeklagt gelten, wenn der individuelle Ankläger sie nicht erwähnt oder sich von ihnen sogar ausdrücklich zu distanzieren versucht. Darauf wird u. D. V., VI. (S. 510 ff.) zurückzukommen sein. 4. Richtung des Tätigkeitsakts bzw. „Zielrichtung des Handelns“ Eine weitere normative Ansicht will auf die Richtung des Tätigkeitsakts1758 bzw. „Zielrichtung des Handelns“ 1759 abstellen: Alle Handlungen, die dieselbe Angriffsrichtung aufweisen, sind prozessual betrachtet eine einheitliche Tat. So sagt Peters:1760 „Es ist etwas anderes, ob ich in die Luft, auf einen Hasen oder auf einen Menschen schieße“. Allein auf den äußeren Vorgang des Schusses abzustellen wäre „reine Oberflächenschau“, der Rechtsordnung als „bewertenden Ordnung“ nicht angemessen.

1758 Peters, Strafprozeß, S. 508 f.; zust. Jescheck, JZ 1957, S. 30; sympathisch Tiedemann, JZ 2000, S. 143. Man beachte, dass die Gedanken von Peters sich auf die Reichweite des Strafklageverbrauchs beziehen, die er nicht einheitlich mit der Reichweite der Anklage bestimmt (s. u. D. IV. 1. [S. 484 ff.]). 1759 Im 19. Jahrhundert Planck, Systematische Darstellung, S. 322; Griolet, Chose jugée, S. 256; M. Berner, Ne bis in idem, S. 64, 65: „Es kommt also bei der Frage, ob Verschiedenes zu einer Handlung gehört oder nicht, darauf an, ob eine Absicht oder mehrere Absichten vorliegen“; zu ihm bereits o. Fn. 1713; Eichhorn, GS 38 (1886), S. 416 ff.; F. Lang, Rechtshängigkeit, S. 43 („Identität des Willens“); Carfora, DigIt XIII/4 (1900), S. 283; im 20. Jahrhundert wird die Ansicht eher selten vertreten: Daskalakis, Unité et pluralité, S. 425, der sogar einheitliche Handlungen im natürlichen Sinne, wie das Werfen einer Granate, bei verschiedenen Willensrichtungen in unterschiedliche prozessuale Taten zerlegen möchte; Gillmeister, NStZ 1989, S. 2; s. a. Glaser, GS 36 (1884), S. 113; Ramm, DStR 1939, S. 43 f.; und Velten, SK-StPO § 264 Rn. 28, die zwar vom geschichtlich orientierten Tatbegriff der h. M. ausgeht, aber bei materieller Handlungseinheit immer eine prozessual einheitliche Tat bejaht, bei Handlungsmehrheit auf die Einheitlichkeit der Motivation abstellt. In den USA wendeten Gerichte gelegentlich einen sog. „single intent test“ an, s. die Nachw. in M. Jones, JCLC 38 (1947), S. 383. 1760 Peters, Strafprozeß, S. 508.

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Diese Ansicht ist aus mehreren Gründen unbefriedigend. In der von Peters vertretenen Version ist sie epistemisch unbefriedigend, da der Begriff der Richtung des Handelns seinerseits unbestimmt bleibt und auf weitere Konkretisierungskriterien angewiesen ist.1761 Vor allem weiß man nicht, ob mit diesem Begriff schwerpunktmäßig eine subjektive Größe, eine Art Absicht des Täters gemeint ist, wie es bei den früheren Autoren der Fall war und auch in dem oben genannten Satz über den Schuss angedeutet wird, oder ob Richtung nicht eine eher objektivierte Tendenz bedeutet, wie wenige Sätze weiter sogar ausdrücklich behauptet wird.1762 Sie ist methodisch unbefriedigend, da sie trotz ihres normativen Selbstbildes weitgehend dem o. C. IV. (S. 434 f.) gerügten naiven Essenzialismus verhaftet bleibt.1763 Dasselbe, was die herrschende Ansicht von einzelnen geschichtlichen Vorgängen hält – dass sie sich voneinander wie fensterlose Monaden unterscheiden lassen –, scheint die vorliegende Ansicht von Zielen, Absichten und dergleichen anzunehmen. Sie ist letztlich auch normativ unbefriedigend. Nicht nur scheint sie kaum dazu in der Lage zu sein, Unterlassungsdelikte1764 und Fahrlässigkeitsdelikte zu erfassen.1765 Das Abstellen auf ein eher subjektives und nicht der Außenwelt gehörendes Merkmal, das häufig erst innerhalb eines Verfahrens nachweisbar sein wird, hat auch zu bedeuten, dass man kaum ein zweites Verfahren wird verhindern können; es wird regelmäßig erst im Rahmen des zweiten Verfahrens geklärt werden müssen, ob Tatidentität besteht oder nicht.1766 Das eigentliche materielle normative Problem ist aber, dass diese Ansicht sich nicht um eine Rückanknüpfung an das Anklageprinzip bemüht. Warum eine Anklage in einer bestimmten Zielrichtung des Handelns des Beschuldigten ihre Grenze finden muss, wird nirgendwo dargelegt. 5. Sozialer Sinngehalt Geerds möchte auf den sozialen Sinnzusammenhang abstellen: die prozessuale Tat sei nicht bloß ein naturalistisches Gebilde, eine Körperbewegung, sondern eine soziale Sinneinheit.1767 Es fragt sich aber nicht nur, ob diese Lehre über1761

Vgl. die Liste bei Peters, Strafprozeß, S. 509 ff. Peters, Strafprozeß, S. 509: „Die Bestimmung der Richtung ergibt sich regelmäßig aus dem Geschehensablauf in seiner äußeren Form“. 1763 Ähnlich Bertel, Identität der Tat, S. 46. 1764 Achenbach, ZStW 87 (1975), S. 90. 1765 In der Sache Décima, Identité des faits, S. 103. 1766 Ähnlich Bettiol, Correlazione, S. 64; Spinellis, Rechtskraft, S. 83 f.; Gutierrez de Cabiedes, Correlacion, S. 525 f.; Neuhaus, Tatbegriff, S. 104. 1767 Geerds, Konkurrenz, S. 362 ff.; ähnlich Noftz, Prozeßgegenstand, S. 32, 72 ff.: „Die prozessuale Tat umfaßt den in der Anklage dargestellten Sachverhalt in Verbindung mit Sinn und Zweck der durch ihn implizierten materiellen Rechtsnormen“ 1762

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haupt als normative Theorie einzuordnen ist, und nicht vielmehr eine weitere Spielart eines (geisteswissenschaftlich orientierten) Ontologizismus darstellt.1768 Zweifelhaft erscheint insbesondere, ob dieses Kriterium Besseres anbietet als die h. M.,1769 da es weder präzisieren kann, was ein sozialer Sinngehalt ist und wie weit er reicht,1770 noch zu erklären vermag, in welchem Zusammenhang dieser Sinngehalt mit dem Anklageprinzip steht. 6. Übereinstimmung des rechtlichen Unwertgehalts Die Identität der Normverletzung war wohl ein formalistisches Kriterium. Die Versuche, ein materielles Kriterium zu formulieren, sind aber auch gescheitert: Das Abstellen auf die Angriffsrichtung war nur scheinbar normativ, in Wahrheit aber essenzialistisch; eine ähnliche Vermutung ist bezüglich des Kriteriums des sozialen Sinngehalts entstanden. Man braucht also normative Kriterien, die nicht bloß formal, sondern material beschaffen sind; es liegt also nahe, statt im sozialen Leben nach ihnen zu suchen, beim Recht selbst nachzuforschen, ob es diese Kriterien nicht eigenständig bestimmen kann. Aus einer solchen Perspektive würde die Identität der Tat nichts anderes als Identität des rechtlichen Unwertgehalts der einzelnen Handlungen bedeuten. Der Verweis auf den Unwertgehalt erscheint seinerseits noch präzisierungsbedürftig, und deshalb machen diejenigen, die diese Ansicht vertreten, Konkretisierungsvorschläge. Insbesondere bieten sich zwei Kriterien an, die am besten von Bertel und von Hruschka vertreten worden sind: einerseits die Identität des betroffenen Rechtsguts, andererseits die Maßstäbe, die über die Zulässigkeit einer Wahlfeststellung entscheiden. a) Identität der beeinträchtigten Rechtsgüter Vielfach ist vorgeschlagen worden, auf die Identität der beeinträchtigten Rechtsgüter abzustellen.1771 In der Sache gleichbedeutend hat man im angelsäch(S. 74). Siehe auch auf Grundlage der sozialen Handlungslehre Eb. Schmidt, JZ 1951, S. 22 f., in einer freilich die materiellrechtliche Konkurrenzlehre behandenden Entscheidungsanmerkung. Ähnlich auch Velten, SK-StPO § 264 Rn. 6. Vielleicht tut meine Kritik Geerds Unrecht, da er an späterer Stelle Ausführungen macht, die weitgehend zustimmungswürdig sind (S. 407). 1768 Siehe bereits o. Fn. 1683. 1769 Insb. in der von Achenbach vorgeschlagenen Weiterentwicklung, hierzu o. V. 2. (S. 439 ff.). 1770 Ebenso Bertel, Identität der Tat, S. 47; Barthel, Begriff der Tat, S. 71; Neuhaus, Tatbegriff, S. 134; Detmer, Begriff der Tat, S. 173 Fn. 9. 1771 Glaser, GS 36 (1884), S. 113; Niederreuther, DStR 1936, S. 172 (and. später ders. DJ 1942, S. 111, der später auch Fälle der Gleichheit von Handlungen und von Erfolgen einbeziehen möchte); Roeder, Lehrbuch, S. 20; Bertel/Venier, Strafprozessrecht, Rn. 72; wohl auch Schmoller, Alternative Tatsachenklärung, S. 145; nur bzgl. des

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sischen Raum früher einen „injury to the state“-Test vertreten.1772 Am besten ist dieser Standpunkt von Bertel entwickelt worden. Bertel gehört zu den wenigen modernen Autoren, die ausdrücklich das Anklageprinzip als Angelpunkt ihrer Überlegungen anerkennen.1773 Nur deutet er dieses Prinzip psychologisch, mit Bezug auf den homo phaenomenon, und nicht wie o. V. III. b) (S. 390 ff.) mit Bezug auf den homo noumenon: Der Richter soll die in der Anklage nicht enthaltenen Hypothesen nicht als „sein Werk erleben“.1774 Auf dieses Argument beruft er sich, um die materiellrechtliche Unterscheidung (die er „Handlungstheorie“ nennt) abzulehnen.1775 Seine Rückführung des Identitätskriteriums des Rechtsgutsbezugs auf das individualpsychologisch gedeutete Anklageprinzip vollzieht er in drei Argumentationsschritten.1776 Gegenstände seien identisch, wenn sie einander nach dem „Rechtsgefühl des einzelnen Menschen“ entsprechen. Mit diesem Rechtsgefühl „stimmen die Wertungen des Gesetzgebers mehr oder weniger überein“; diese Wertungen finden in der Einteilung nach Rechtsgütern ihren Niederschlag.1777 „Da jedes Rechtsgut Ausdruck einer ganz bestimmten, spezifischen Wertentscheidung des Gesetzgebers ist, müssen Delikte, denen verschiedene Rechtsgutsverletzungen zugrunde liegen, sich in ihrer Wertung durch den Gesetzgeber durchaus unterscheiden und werden in der Regel auch unser Rechtsgefühl in verschiedener Weise ansprechen“.1778 Er betont, dass der Schutz des Anklageprinzips umso geringer sein wird, je umfangreicher der Prozessgegenstand bestimmt wird.1779 Genau umgekehrt verGegenstands der Rechtskraft, der s. E. nicht die gleiche Reichweite wie der Gegenstand der Kognitionspflicht haben soll, Büchner, Strafprozessuale Tat, S. 163 ff.; dem Rechtsgutsansatz zust., aber zugleich auf die materiellrechtlichen Konkurrenzverhältnisse abstellend Gössel, JR 1982, S. 113 f. Ähnlich Kohlrausch, Idealkonkurrenz, S. 62 f.; und Kadecka, Handlungseinheit, S. 181 f.; ders. DJ 1942, S. 210 f., die nicht auf die Identität der Rechtsgüter, sondern der äußeren Erfolge abstellen (Kadecka folgend Schwinge, DJ 1941, S. 1064 f.); ähnl. a. Schwinge und Bettiol, die faktische und normative Kriterien kombinieren, näher u. VIII. 1. (S. 465). Eine Verfeinerung bzw. Auflockerung, die viele der sogleich zu erhebenden Einwände entkräftet, bei Barthel, Begriff der Tat, S. 93 ff. Siehe auch den Systematisierungsversuch von Wolter, GA 1986, S. 159 Fn. 105, der vier Versionen der „Rechtsgutsverletzungstheorien“ unterscheidet. 1772 Anonym, HarvLR 20 (1907), S. 642; Anonym, HarvLR 51 (1938), S. 926; z. T. a. ModelPenC, Section 1.09 (1) (c) (i). 1773 Bertel, Identität der Tat, S. 77 ff. Zu einigen seiner Vorgänger ebda., S. 53 ff.; zur Rezeption von Bertel im österreichischen Schrifttum Birklbauer, Prozessgegenstand, S. 54 ff. 1774 Bertel, Identität der Tat, S. 90 f. (Zitat), S. 134 f. 1775 Bertel, Identität der Tat, S. 91. 1776 Bertel, Identität der Tat, S. 92. 1777 Bertel, Identität der Tat, S. 92 f. 1778 Bertel, Identität der Tat, S. 93. 1779 Bertel, Identität der Tat, S. 134 f.

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halte es sich bei der Bestimmung des Gegenstands der Sperrwirkung. Hier gehe es um die Sicherheit des Beschuldigten,1780 die umso stärker gefördert werde, desto mehr vom Tatbegriff erfasst wird.1781 Die Theorie der Rechtsgutsverletzung bietet nach Bertel den „optimalen Ausgleich“ zwischen beiden Anforderungen.1782 Eine darüber hinausgehende Erweiterung der Sperrwirkung sei gefährlich; sie bedeute nämlich, dass man dem Richter eine weite Befugnis zuerkennt, Hypothesen selbst zu formulieren, die er später als sein Werk erleben wird, so dass sie nur zum Preis einer Aufopferung der Unbefangenheit des Richters zu erkaufen sei.1783 Das von Bertel immer wieder genannte Beispiel für fehlende Tatidentität ist ein von der österreichischen Praxis entschiedener Fall eines angeklagten Abtreibungsversuchs, der in Wahrheit ein Betrug war.1784 Am Ende präzisiert Bertel seine Auffassung mit dem Hinweis, dass es ihm selbstverständlich um die Identität des Rechtsguts und der Verletzung geht.1785 Es lassen sich aber mehrere Einwände formulieren. Es wird niemanden überraschen, wenn hier in erster Linie die psychologische Deutung des Anklageprinzips kritisiert wird. Sie führt, wie jede psychologisch orientierte Auffassung, in letzter Konsequenz sogar zur Unmöglichkeit der Formulierung allgemeiner Kriterien.1786 Aber selbst wenn dies nicht der Fall wäre, oder wenn man auf einen psychologischen Regelfall abstellen würde, dürfte es äußerst unplausibel sein, dass die psychologische Vergleichbarkeit von den betroffenen Rechtsgütern abhängen soll. Dass Bertel selbst sich genötigt sieht, Konzessionen zu machen, wird daran klar, dass für ihn z. B. Eigentum und Befriedigungsinteresse der Gläubiger, nicht aber Eigentum und Vermögen unterschiedliche prozessuale Taten begründen.1787 Nach Bertel sollen auch Qualifikationen zur selben Tat gehören,1788 und dies selbst dann, wenn sie andere Rechtsgüter betreffen

1780

Bertel, Identität der Tat, S. 119 f. Bertel, Identität der Tat, S. 136. 1782 Bertel, Identität der Tat, S. 136. Es sei nebenbei bemerkt, dass nach Bertel Prozessgegenstand und Rechtskraft sich nicht notwendig entsprechen müssen, sondern dass dies nur eine Kontingenz des von ihm untersuchten österreichischen Strafprozessrechts darstelle (näher u. IV. 1. [S. 484 ff.]). 1783 Bertel, Identität der Tat, S. 120 ff., 137. 1784 Bertel, Identität der Tat, S. 41 f., 59, 92 f., 145. 1785 Bertel, Identität der Tat, S. 140 ff. In ähnlicher Hinsicht wollte schon Schwinge, DJ 1941, S. 1064 f., Kadeckas Ansicht verbessern („Identität der Tat = Identität der Handlung + Identität des Erfolges“), was von diesem aber nicht begrüßt wurde (Kadecka, DJ 1942, S. 210 f.). Damit erledigt sich das deshalb nicht angemessene Gegenbeispiel von Neuhaus, Tatbegriff, S. 128, in dem jemand, der irrtümlich wegen einer noch nicht erfolgten Rechtsgutsverletzung verurteilt worden ist, sich später entscheidet, sie doch herbeizuführen (das noch lebende vermeintliche Opfer zu töten). 1786 Siehe bereits die o. V. 3. (S. 442) gegen Neuhaus formulierte Kritik. 1787 Bertel, Identität der Tat, S. 139 f. 1788 Bertel, Identität der Tat, S. 143. 1781

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(wie beispielsweise bei einem Wohnungseinbruchsdiebstahl, § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB).1789 Es fragt sich deshalb, ob man damit das Wesentliche getroffen haben kann. Eine ausführliche Kritik ist an dieser Stelle aber ohne Vorwegnahme der eigenen Überlegungen nicht möglich. Es sei deshalb nur gesagt, dass der psychologistisch orientierte Ausgangpunkt den Zugang zu den maßgeblichen normativen Erwägungen nicht mehr finden kann. Auch wenn die von Bertel unternommene Rückanbindung an das Anklageprinzip zu loben ist, so hat er doch den Gehalt dieses Prinzips nicht tief genug gedeutet und sich dadurch den Weg zu einer fundierten und überzeugenden Lösung der Probleme versperrt. b) Identität des Unrechtskerns Seinerseits bemerkt Hruschka, dass die Bildung von Taten aus der rohen Masse des Wirklichen nur im Lichte einer wertenden Leitidee erfolgen könne. Seine Bemühungen gelten also der Lösung des epistemischen und des methodischen Problems im o. C. IV. (S. 433 ff.) ausgeführten Sinn. „Eine Tatsachenfeststellung ohne eine wertende Perspektive ist gar nicht möglich“.1790 Diese wertende Leitidee werde im Strafverfahrensrecht von den Tatbeständen des materiellen Strafrechts dargestellt.1791 Maßgeblich ist für Hruschka deshalb der „rechtliche Kern eines auch nach Raum, Zeit und Tatgegenstand festlegbaren Vorganges“. Diesen rechtlichen Kern will er anhand der für die Wahlfeststellung anerkannten Kriterien bestimmen.1792

1789 Bertel, Identität der Tat, S. 152 f. Deshalb meinen Büchner, Prozessuale Tat, S. 77, und Neuhaus, Tatbegriff, S. 127, Bertel müsste bei einem Wohnungseinbruchsdiebstahl konsequenterweise drei prozessuale Taten annehmen; diese Schlussfolgerung hat Schwinge, DJ 1941, S. 1065 tatsächlich zur Hälfte gezogen. Selbst wenn man mit Bertel akzeptieren würde, dass die Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit keine unterschiedlichen Taten begründen, weil die körperliche Unversehrtheit von den Tatbeständen zum Schutze des Lebens immer mitgeschützt werde (Bertel, Identität der Tat, S. 147), könnte man sich fragen, warum ein ähnliches Argument nicht bezüglich der Notzucht und der unbefugten Einschränkung der persönlichen Freiheit (§§ 93, 125 östStGB) gelten sollte (so aber Bertel, S. 148). 1790 Hruschka, JZ 1966, S. 702. 1791 Hruschka, JZ 1966, S. 702. 1792 Hruschka, JZ 1966, S. 703; s. a. Otto, JR 1988, S. 29 f.; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 654 (Ähnlichkeit oder Vergleichbarkeit des Unwertgehalts); und bereits Hall, RW 1941, S. 317; in der Sache sehr ähnl. a. Mattil, DStR 1942, S. 164, 166, der von ihm sog. „Grundelemente eines Straftatbestandes“ miteinander vergleichen möchte. (Die zwei zuletzt genannten Autoren vertraten einen dynamisch-inkongruenten Tatbegriff, d.h. einen Tatbegriff, der für die Reichweite der Kognition anders [nämlich umfassender] bestimmt wird als derjenige, der für die Reichweite des Strafklageverbrauchs maßgeblich sein soll [näher u. D IV. 1. [S. 484 ff.]). – Insofern läuft der Einwand, Hruschka arbeite mit einer Leerformel (Neuhaus, Tatbegriff, S. 135), leer.

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Wieder wird man eine ausführliche Stellungnahme verschieben müssen. Auch Hruschka bemüht sich nicht darum, den Weg zum Anklageprinzip zu finden. Dennoch wird sich u. VII. 1. (S. 528 f.) erweisen – diese kleine Vorwegnahme sei hier gestattet –, dass seine Intuition zu einem guten Teil richtig war, dass also die Anerkennung eines Anklageprinzips in der Tat zumindest teilweise zu der Frage der Zulässigkeitskriterien einer Wahlfeststellung führt. VII. Kognitionsorientierte Kriterien Zuletzt gibt es eine Gruppe von Theorien, die sich weder als faktisch noch als normativ einordnen lässt, sondern die nach einem völlig anderen Ansatzpunkt sucht: die Perspektive des erkennenden Gerichts. 1. Konkrete Möglichkeit der Sachverhaltsfeststellung Die bekannteste Version derartiger Ansätze ist die von Henkel vorgeschlagene, die bereits eine Vielzahl von Vorgängern hatte.1793 Zur strafprozessualen Tat gehört demnach alles, was das Gericht im konkreten Einzelfall (und nicht bloß abstrakt, wie die Rspr. meint1794) zu untersuchen in der Lage war. Hatte das Gericht deshalb im konkreten Verfahren keinen Anlass, nach einem bestimmten Umstand zu fragen, der über eine weitere, in derselben Situation vom selben Angeklagten möglicherweise begangene Straftat Aufschluss gegeben hätte, dann ist diese weitere Straftat nicht Gegenstand des ersten Verfahrens geworden, so dass sie zum Gegenstand eines künftigen Verfahrens gemacht werden darf. Vogler konkretisiert diesen Gedanken durch Einführung eines im Anschluss an Liu gewonnenen 1793 Henkel, Deutsches Strafverfahren, S. 442; ders. Strafverfahrensrecht, S. 387, 389 f.; Stock, Strafprozeßrecht, 1952, S. 136 f.; zumindest ähnl. M. Berner, Ne bis in idem, S. 3; Beling, ZStW 36 (1915), S. 660; ders. Reichstrafprozeßrecht, S. 269; ders. NJW 1931, S. 932; Liu, Identität der Tat, S. 68 ff.; Werder, KritV 1928, S. 296 f.; Coenders, JW 1925, S. 1003; Niederreuther, DJ 1938, S. 1757 f., der aber die Bekanntwerdung neuer Tatsachen verlangte (S. 1758); Preiser, ZStW 58 (1939), S. 756 f.; Sauer, Allgemeine Prozeßrechtslehre, S. 241; Vogler, Rechtskraft, S. 91 ff.; Spinellis, Rechtskraft, S. 124, 126 ff.; Maatz, FS Meyer-Goßner, S. 265 ff.; aus der Rspr. LG Memmingen, NStZ-RR 1997, 140, in der ein Gebrauch eines verfälschten Führerscheins, der mit dem bereits abgeurteilten Vergehen des Fahrens ohne Fahrerlaubnis idealiter konkurrierte, für eine unterschiedliche prozessuale Tat erklärt wurde, weil im ersten Verfahren „keinerlei Erkenntnisse dahingehend vorlagen, daß der Angekl. auch eine verfälschte Fahrerlaubnis verwendet hatte“; nahestehend auch Dedes, GA 1962, S. 114; de lege ferenda Sack, ZRP 1976, S. 259. Noch weitergehend die, die auf die positive Kenntnis des Gerichts abstellen, und nur dasjenige zur prozessualen Tat zählen, was das Gericht tatsächlich gekannt hat: Mattil, DStR 1942, S. 162 ff. (zu ihm näher u. F. III. 5. [S. 583 f.]); Peters, FS Kohlrausch, S. 204 f. und Mann/Mann, ZStW 75 (1963), S. 257 f., beide bzgl. der fortgesetzen Tat; BGHSt 29, 288 (295 f.) und Krauth, FS Kleinknecht, S. 299 ff., beide bzgl. der Konstellation des Organisationsdelikts. Zu beiden Problemkreisen näher u. F. III. 7. (S. 591 ff.), 8. (S. 598 ff.). 1794 Siehe auch Preiser, ZStW 58 (1939), S. 764 f.

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konkreteren Maßstabs: Alles, was selbst dem „sorgfältigsten Richter“ verborgen geblieben wäre, könne nicht zum Prozessgegenstand gehören.1795 Diese Gedanken leuchten auf den ersten Blick ein. Denn wie kann dasjenige, was das Gericht nicht aufdecken konnte, Gegenstand des Verfahrens gewesen sein? Zu loben ist insbesondere, dass diese Ansicht das Problem als ein solches der Reichweite der richterlichen Befugnisse versteht, also als Frage der Arbeitsteilung zwischen Anklagebehörde und Gericht. Damit kommt man dem hier für maßgeblich erklärten Ausgangspunkt sehr nahe. Nach näherem Hinsehen machen sich aber Schwierigkeiten bemerkbar.1796 Zunächst setzt die Ansicht schon falsch an. Sie versucht, die Frage nach dem Tatbegriff auf Grundlage der Befugnisse des Gerichts zu beantworten, statt, wie es nahe gelegen hätte, bei der Anklage anzusetzen.1797 Damit zeigt sie, dass sie das gemeinrechtliche Inquisitionsverfahren nicht voll überwinden konnte. Sie fragt nur, wie viel Raum der Richter hat, und nicht – was richtiger und nicht gleichbedeutend ist – wie viel Raum der Ankläger dem Richter übrig lässt. Ferner haftet dem Begriff der Aufklärungsmöglichkeiten eine grundlegende Zweideutigkeit an: Er kann faktisch, als Aufklären-Können, oder normativ, als Aufklären-Dürfen verstanden werden. Es erscheint unklar, in welchem Sinne der Begriff gebraucht wird.

1795 Vogler, Rechtskraft, S. 95; Liu, Identität der Tat, S. 68 ff.; s. ferner Kohlrausch, Idealkonkurrenz, S. 60 f.; Ehrhardt, Handlungseinheit, S. 58 f.; Preiser, ZStW 58 (1939), S. 757, 764 f.; in Frankreich Gavalda, JCP I 1957, Nr. 1372 Rn. 28. 1796 In der Literatur kursiert eine Reihe weiterer Einwände: Die Ansicht sei mit dem positiven Recht, insbesondere mit der Abwesenheit einer allgemeinen Wiederaufnahme zu Ungunsten propter nova unvereinbar (Busch, ZStW 68 [1956], S. 6 f.; Büchner, Strafprozessuale Tat, S. 63; Wolter, GA 1986, S. 155; Detmer, Begriff der Tat, S. 81; Ranft, JuS 2003, S. 424); das ist nicht unrichtig, sondern zirkelverdächtig; die o. B. IV. 6. (S. 417 f.) geäußerten Vorbehalte gegen eine Argumentation mit dem Wiederaufnahmerecht sind in Erinnerung zu bringen. Die Ansicht sei zu ungenau (Schöneborn, MDR 1974, S. 530 Fn. 530; Wolter, GA 1986, S. 155; Detmer, Begriff der Tat, S. 81), deshalb mit der Idee der Rechtssicherheit (Baumann, Grundbegriffe, S. 173; Barthel, Begriff der Tat, S. 96; Mannheim, ZStW 49 [1929], S. 708 gegen die ähnl. Ansicht von Coenders; Büchner, Strafprozessuale Tat, S. 63; Cording, Strafklageverbrauch, S. 189 f.; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 121) oder sogar mit Art. 103 Abs. 3 GG unvereinbar (Busch, ZStW 68 [1956], S. 7). In der Tat; wer aber sich dieses Einwands bedient, sollte Besseres bieten können, was bei denjenigen, die der h. M. anhängen, nicht der Fall ist. Ablehnend auch Achenbach, ZStW 87 (1975), S. 90; Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 144 ff.; J. Maier, Derecho procesal penal I, S. 622; Velten, SK-StPO § 264 Rn. 26. Speziell zu Vogler Noftz, Prozeßgegenstand, S. 85. 1797 Deutlich Vogler, Rechtskraft, S. 96: Der richtige Weg bestehe „in der Verwertung der richterlichen Kognitionspflicht als desjenigen Elements, aus dem sich die Grenzen des anklägerischen Verlangens, also des Prozeßgegenstandes ergeben“. Ein Strafverfahren mit Anklageprinzip macht umgekehrt das anklägerische Verlangen zum Maßstab der Grenzen der Kognitionspflicht (s. u. D. III. [S. 469 f.]; richtig Barthel, Begriff der Tat, S. 48 f.).

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In ihrer faktischen Version, die von Henkel zur Zeit des dritten Reichs vertreten wurde,1798 ist die Ansicht aber nicht vertretbar.1799 Denn das, was das Gericht aufklären darf, aber nicht aufklären kann, muss zuvor Gegenstand einer Anklage gewesen sein. Ist es aber Gegenstand einer Anklage gewesen, dann kann man nicht mehr sagen, dass hierüber kein Prozess gemacht worden ist. Das faktische Unvermögen des Gerichts ist kein Problem des Betroffenen.1800 Seine Prozessduldungsschuld ist getilgt bzw. sein Rehabilitierungsrecht darf nicht davon abhängig gemacht. Die Aufklärungsmöglichkeiten des Gerichts müssen deshalb normativ-rechtlich als Aufklären-Dürfen bzw. Müssen verstanden werden, was Henkel später auch vertreten hat.1801 Dies führt aber zu einem anderen Problem: Es droht ein Zirkelschluss, weil die Frage, worüber das Gericht entscheiden darf, gerade diejenige ist, die man unter Zuhilfenahme des Begriffs der prozessualen Tat zu beantworten versucht.1802 Man braucht also einen externen Bezugspunkt, um die rechtlichen Entscheidungsmöglichkeiten des Gerichts zu bestimmen. Worin er liegt, wird unten D. III. (S. 469 f.) zu klären sein. Hiermit ist man beim dritten Problem angelangt, das zugleich erklärt, wieso der Zirkel von den scharfsinnigen Vertretern dieser Ansicht nicht bemerkt worden ist. Die Ansicht verwechselt nämlich die o. (B. III. 3. [S. 393 f.]) sorgfältig unterschiedenen Fragen nach dem Prozessgegenstand einerseits und dem Material, das der Entscheidung über diesen Gegenstand zugrunde liegt, andererseits.1803 Die Aufklärungspflicht hat mit der zweiten Frage zu tun, also im deutschen Verfahren damit, ob die dem Gericht bekannten Tatsachen es nahelegen, ein Beweismittel zur Aufklärung des Sachverhalts heranzuziehen.1804 Um das obige Beispiel zu wiederholen: Beruft sich der Angeklagte auf Notwehr und muss sich das Gericht mit der Frage beschäftigen, ob sein Notwehrrecht nicht wegen Vorliegens einer den Angriff provozierenden Beleidigung eingeschränkt

1798 Eindeutig Henkel, Deutsches Strafverfahren, S. 442; so auch Niederreuther, DJ 1938, S. 1757; wohl Hall, DRW 1941, S. 326; Sauer, Allgemeine Prozeßrechtslehre, S. 241; z. T. auch Ramm, DStR 1939, S. 44; sehr ähnl. Nagler, ZAkDR 6 (1939), S. 376 (der auf den „wirklichen Inhalt des früheren Prozesses“ abstellt); unklar Preiser, ZStW 58 (1939), S. 756, 759 f., 782 einerseits, S. 757, 764 f. andererseits. 1799 Im Erg. ebenso Busch, ZStW 68 (1956), S. 6; Neuhaus, Tatbegriff, S. 88 f., 108 ff. 1800 Ähnl. Grünwald, ZStW-Beiheft 1974, S. 110; Schöneborn, MDR 1974, S. 530 Fn. 20; Achenbach, ZStW 87 (1975), S. 90. 1801 In diesem Sinne ausdrücklich Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 388. 1802 Geerds, Konkurrenz, S. 362; Noftz, Prozeßgegenstand, S. 33; Bertel, Identität der Tat, S. 34. Ähnlich der vom Bundesgerichtshof formulierte Einwand, dass die Reichweite der Aufklärungspflicht nach dem Tatbegriff zu bestimmen sei und nicht umgekehrt (BGHSt 32, 215 [221]). 1803 Nahestehend Geerds, Konkurrenz, S. 361 f. 1804 BGHSt 3, 169 (175).

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ist, wird sich die richterliche Aufklärungspflicht auf das Vorliegen einer Beleidigung beziehen müssen. Fehlt aber der für die Verfolgung der Beleidigung erforderliche Strafantrag, wird die Beleidigung kein Gegenstand dieses Verfahrens sein. Die jetzt untersuchte Ansicht vermengt beide Ebenen und merkt deshalb nicht, dass es einen Unterschied machen kann, ob der Richter aus eigener Initiative Tatsachen erforscht und entdeckt, oder ob er aus eigener Initiative jemanden der Begehung weiterer Straftaten verdächtigt. 2. Untersuchungsrichtung Zu den wenigen neueren Ansätzen, die in der eher ruhiger gewordenen Diskussion formuliert worden sind, gehört Paeffgens Versuch, einen Tatbegriff aus einer von ihm sog. „funktionalistisch-prozeduralen Betrachtungsweise“ 1805 zu gewinnen. Sein Ausgangspunkt ist eine postulierte „erzieherische Funktion“ des Tatbegriffs:1806 Der Tatbegriff, der auch nicht ausdrücklich in der Anklage und in der Gerichtsverhandlung thematisierte Tatbestandsverwirklichungen erfassen soll, habe den Sinn, Staatsanwaltschaft und Gericht unter Druck zu setzten. Erstere soll die weiteren Tatbestandsverwirklichungen mitanklagen, und das Gericht soll sie im Eröffnungsbeschluss (§ 207 Abs. 2 Nr. 3 StPO) oder in der Hauptverhandlung zulassen. Tun sie dies nicht, liege „doppelt evidentes Verschulden im Prozeduralen“ vor.1807 Der Tatbegriff und die Sperrwirkung bezüglich all dieser Tatbestandsverwirklichungen, die mittels des § 265 StPO bereits in das Erstverfahren hätten einbezogen werden können, dienten also der Verhinderung von Missbräuchen. Würde man hier anders entscheiden und Abstriche bei der Sperrwirkung machen, käme dies der Behauptung gleich: „Das ist zwar alles nicht im Sinne der StPO gelaufen. Aber das macht alles nichts. Gegen Dich können wir jetzt erneut vorgehen!“ 1808 Bis zu diesem Punkt bewegen sich Paeffgens Gedanken weitgehend innerhalb akzeptierter Bahnen, wenn er auch eine neue Begründung anbietet, die sich wohl auf den Gedanken der Rechtskraft als Sanktionierung der Strafverfolgungsbehörden zurückführen lässt (s. o. Kap. 1 C. VI. [S. 358 ff.]) und die eine gewisse Ähnlichkeit zu den amerikanischen Ansätzen aufweist, die den Beschuldigten vor harassing prosecutions schützen wollen (s. o. B. IV. 3. [S. 412 ff.]). Aus ihr folgert er sein neues Kriterium der Untersuchungsrichtung: Wenn man keinen Anlass hatte, etwas im Erstverfahren zu untersuchen, wird es von der prozessualen Tat nicht erfasst.1809 Er führt folgendes Beispiel an: Wenn es in einem Verfahren um 1805

Paeffgen, GS Heinze, S. 630. Paeffgen, GS Heinze, S. 633. 1807 Paeffgen, GS Heinze, S. 633 f. 1808 Paeffgen, GS Heinze, S. 634. 1809 Paeffgen, GS Heinze, S. 633; früher sprach er von einer „fachgerechten Ermittlungsrichtung“, Paeffgen, NStZ 2002, S. 287. 1806

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Straftaten der Zuhälterei gehe, könnten eine Reihe anderer Straftaten, wie Freiheitsberaubungen, Nötigungen oder Geiselnahmen typischerweise mitverwirklicht sein, so dass die Richtung der Untersuchung sie alle zu erfassen habe.1810 Anders sei es bezüglich des Verhältnisses von Waffenbesitz und Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation.1811 „Der schiere unerlaubte Waffenbesitz veranlaßt die Strafverfolgungsorgane noch nicht dazu, den Garten nach Leichen umzugraben etc.“ 1812 Paeffgens Kriterium verbessert in einer entscheidenden Hinsicht die Überlegungen von Henkel, weil er nicht mehr allein auf das Gericht abstellt, sondern auf alle untersuchenden Verfolgungsbehörden, d.h. Staatsanwaltschaft und Gericht. Die vom nemo iudex sine actore-Grundsatz gebotene Abhängigkeit des Richters vom Impuls des Anklägers spielt trotzdem keine Rolle. Dem Sanktionierungsgedanken ist hier ebenso wenig zu folgen wie auch sonst wo (s. o. Teil 1 Kap. 1 II. 6. [S. 83 f.], Teil 2 Kap. 1 C. VI. [S. 358 ff.]). Weitere Kritik soll nicht geübt werden, um nicht zu viel vorzugreifen; es sei bereits gesagt, dass ein Aspekt der hier vorgeschlagenen Lösung große Ähnlichkeiten zu dem Vorschlag Paeffgens aufweist (näher u. VII. 2. [S. 533 ff., 537 ff.]). VIII. Vermittelnde (normativ-faktische) Theorien Allmählich entstand die Vermutung, dass die vielen Schwierigkeiten der faktischen und normativen Ansätze möglicherweise auf ihrer Einseitigkeit beruhen. Einer solchen Diagnose entspricht als Behandlung, dass man die Identität der prozessualen Tat weder allein faktisch noch ausschließlich normativ zu bestimmen versucht, sondern dass man vielmehr beide Betrachtungsweisen miteinander kombiniert.1813 1. Vor gut achtzig Jahren hat Schwinge vorgeschlagen, die Identität der prozessualen Tat anhand von zwei Kriterien zu bestimmen: Eine einheitliche prozessuale Tat gibt es erstens bei identischen Handlungen, also bei Handlungen, die miteinander idealiter konkurrieren, und zweitens bei einer Identität des materiellen Unrechtsgehalts.1814 Letztere ist gegeben bei Gleichheit der Rechtsgüter oder 1810

Paeffgen, GS Heinze, S. 634. Paeffgen, GS Heinze, S. 634 f. 1812 Paeffgen, GS Heinze, S. 635. 1813 Im Sinne einer Kombination normativer und faktischer Theorien auch Platzgummer, Grundzüge, S. 75; Souto de Moura, Objecto do processo, S. 34 ff. 1814 Schwinge, ZStW 52 (1932), S. 215 f., 236 (Zusammenfassung); sehr ähnl. Niederreuther, DJ 1942, S. 111; Gutierrez de Cabiedes, Correlacion, S. 527 ff.; Gómez Colomer, Derecho jurisdicional III, S. 108; Cortés Domínguez, Derecho procesal penal, S. 161 (der aber komischerweise bei der Idealkonkurrenz von unterschiedlichen Taten ausgehen möchte, S. 438, obwohl von der Identität der Ausführungsakte oder des Rechtsguts gesprochen wurde); und die von Spinellis vertretene Theorie, die man ver1811

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der Handlungsobjekte und insbesondere im Falle der fortgesetzten Handlung.1815 Als zusammenfassende Formel spricht Schwinge vom Kriterium der „Gleichheit des tatbestandsmäßigen Geschehens“.1816 Es ist erstaunlich, dass in Italien fast zur gleichen Zeit von Bettiol eine weitgehend übereinstimmende Auffassung vertreten wurde.1817 2. Eine neuere vermittelnde Theorie liefern Roxin und Wolter. Ersterer hat eine Art Skizze entworfen,1818 die anschließend von Letzterem verfeinert worden ist.1819 Wolters Kurzformel für die prozessuale Tatidentität ist die der „Identität des Handelns oder Identität des Unrechts bei Kontinuität“.1820 Die erste, eher faktisch orientierte Komponente dieser Definition, also die Identität des Handelns, wird zunächst anhand der Kriterien der Idealkonkurrenz bestimmt,1821 ferner – bei mehreren Handlungen – anhand des Erfordernisses eines engen zeitlichen und sachlichen Zusammenhanges.1822 Wolter präzisiert diesen Zusammenhang, indem er verlangt, dass die unterschiedlichen Handlungen ohne zeitlichen Zwischenraum ineinander übergehen, also „übergangslos miteinander verbunden sein“ müssen (beispielsweise: die Weiterfahrt nach dem Verkehrsunfall).1823 Er spricht von „unabtrennbaren Verhaltensweisen.“ 1824 Es gibt aber Konstellation, in denen die einzelnen Handlungen abgrenzbar und abtrennbar sind. Klassisches Beispiel ist hier der Fall, in dem es unklar ist, ob es um Diebstahl oder Hehlerei geht. Bei diesen Konstellationen soll es für die prozessuale Tatidentität auf die rechtliche Vergleichbarkeit ankommen. Diese zweite Komponente der Definition, also die Identität des Unrechts, soll anhand der Grundsätze der Wahlfeststellung und des normativ-ethischen Stufenverhältnisses bestimmt werden.1825 einfachend als eine Zusammensetzung der Ansichten von Schwinge und Henkel beschreiben könnte (Rechtskraft, S. 98 ff., 123 f., 126 ff.), noch mit einem Zusatz (S. 130). Schwinge hat einige Jahre später seine Ansicht ausdrücklich aufgegeben und sich mit einer Modifizierung der Ansicht von Kadecka angeschlossen, DJ 1941, S. 1064 Fn. 11: „Identität der Tat = Identität der Handlung + Identität des Erfolgs“ (S. 1065); s. o. Fn. 1785. 1815 Schwinge, ZStW 52 (1932), S. 228 ff., 236. 1816 Schwinge, ZStW 52 (1932), S. 221. 1817 Bettiol, Correlazione, S. 71 f. – freilich nur für den Prozessgegenstand, der s. E. mit dem Gegenstand der Rechtskraft nicht identisch sein soll (näher u. D. IV. 3. a) [S. 493 ff.]); aufgegeben in Bettiol, RIDP 1949, S. 736 f.). 1818 Roxin, JR 1984, S. 348 f.; s. a. ders. JZ 1988, S. 261 f. 1819 Wolter, GA 1986, S. 164 ff.; s. a. ders. NStZ 1988, S. 457. 1820 Wolter, GA 1986, S. 176. 1821 Roxin, JR 1984, S. 348; Wolter, GA 1986, S. 164. 1822 Roxin, JR 1984, S. 348 f. 1823 Wolter, GA 1986, S. 165. 1824 Wolter, GA 1986, S. 164. 1825 Wolter, GA 1986, S. 166; s. a. Roxin, JR 1984, S. 349.

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Der dritte Gedanke in der obigen Definition, der der Kontinuität, ist auch nur für die Konstellation von trennbaren Handlungsmehrheiten von Relevanz.1826 Allgemeine Kriterien ließen sich hier nicht formulieren;1827 entscheidend sei vielmehr, dass eine Verwechselungsgefahr ausgeschlossen werden müsse.1828 Wolters Theorie versteht sich somit als Kombination der These, die Tatidentität bei der materiellen Handlungseinheit bejaht, mit einer verfeinerten, besser: gelockerten Version der Rechtsgutsverletzungstheorie, die er aber erst für die Konstellation der Handlungsmehrheit heranzieht.1829 3. Eine äußerst komplexe Kombinationstheorie entwickelt auch Detmer; sie soll hier nur in gröbster Vereinfachung dargestellt werden. Seine Kernidee ist die These, dass es bei der Diskussion über den Tatbegriff immer um zwei unterschiedliche Probleme gegangen sei. Die erste Gruppe von Fällen („Vervollständigungsfälle“) wird dadurch charakterisiert, dass der Ankläger nicht alles anklagt, was der Beschuldigte anscheinend getan haben soll, es geht also darum, die Anklage nur zu vervollständigen; bei der zweiten Gruppe geht es darum, dass der Beschuldigte anscheinend etwas anderes getan hat als das Verhalten, das in der Anklage beschrieben ist („Abweichungsfälle“). Es gebe einen „sachlogischen Unterschied“ 1830 zwischen dem ersten Problem, das er das des Tatumfangs nennt, und dem zweiten Problem der Tatumgestaltung.1831 Das erste Problem löst Detmer mittels eines strengen Rückgriffs auf die materiellrechtliche Konkurrenzlehre: Vervollständigung ist in allen Hinsichten möglich, solange es um eine Handlungseinheit geht.1832 Für die Tatumgestaltung schlägt er eine kompliziertere Formel vor, deren Kern die Identität des Unrechtskerns ist.1833 4. Die Kritik kann an der Stelle knapp gehalten werden, zumal diese Ansichten weitgehend auf bereits untersuchte Gesichtspunkte abstellen. Dass die Idealkonkurrenz nicht immer zur Tatidentität führt, ist o. VI. 1. (S. 448 ff.) bereits dargelegt worden. Das weitere Kriterium der Identität der verletzten Güter oder Handlungsobjekte, auf das im Wesentlichen auch Bertel abstellt, hat uns auch schon beschäftigt (o. VI. 6. a) [S. 459 ff.]). In Bezug auf die Wahlfeststellung (bzw. das normativ-ethische Stufenverhältnis) lässt sich ebenfalls nach oben verweisen (o. VI. 6. b) [S. 460 f.]). Die wichtigste Schwäche ist aber, dass sich diese Ansichten nicht darum bemühen, an das Anklageprinzip zu knüpfen.

1826 1827 1828 1829 1830 1831 1832 1833

Wolter, GA 1986, S. 167 ff. Wolter, GA 1986, S. 168 f. Wolter, GA 1986, S. 169, 174. Wolter, GA 1986, S. 160, 164. Detmer, Begriff der Tat, S. 154. Detmer, Begriff der Tat, S. 37, 120 f., 210 ff. Detmer, Begriff der Tat, insb. S. 222 ff. Detmer, Begriff der Tat, S. 285 ff. (endgültige Formel).

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D. Der eigene Lösungsweg I. Ausgangsprämissen 1. Am Ende dieser kursorischen Darstellung des Diskussionsstandes erweisen sich die eingangs zitierten Einschätzungen, denen zufolge das Problem der Tatidentität ungelöst sei, als richtig (o. C. I. [S. 427 f.]). Kein Tatbegriff vermochte den zu Recht gestellten drei Anforderungen – nämlich epistemisch, dass er klar ist; methodisch, dass er keinen naiven Ontologismus verkörpert; und normativ, dass er sich auf ein (richtig verstandenes) Anklageprinzip zurückführen lässt – zu genügen. Daraus soll aber nicht der Schluss gezogen werden, man habe beim Problem der strafprozessualen Tat mit einer Frage des Einzelfalls zu tun.1834 Der Lösungsvorschlag, den es jetzt zu entwickeln gilt, soll darüber hinaus an einem vierten Anspruch gemessen werden, nämlich – dem hier vertretenen universalistischen Ansatz entsprechend, s. o. Teil 1 Kap. 1 C. (S. 101 ff.) – an seiner Fähigkeit, universelle Geltung zu beanspruchen. 2. Den Ausgangspunkt muss der o. B. III. 5. (S. 403 ff.) ausgearbeitete normative Gesichtspunkt bilden, dass es beim prozessualen Tatbegriff um eine Operationalisierung des Anklageprinzips geht, also um die Bestimmung der Arbeitsteilung zwischen Ankläger und Richter. Der Ankläger verdächtigt; der Richter urteilt, ob sich die ihm vorgelegte Verdächtigung bestätigt. O. B. III. 3., 4. (S. 392 ff.) haben wir die unterschiedlichen Versionen des Anklageprinzips und die auf ihnen beruhenden unterschiedlichen Prozessstrukturen differenziert. Zum Minimalgehalt des Anklageprinzips gehört allein das Erfordernis, dass das Gericht nicht aus eigener Initiative verdächtigen darf, und dass eine Verdächtigung hinreichend Substanz enthalten muss, um die ausführlich beschriebene normativbegründete Gefahr für die Findung einer richtigen Entscheidung hervorzurufen, falls derjenige, der die Verdächtigung ausspricht, auch derjenige ist, der über sie urteilt. II. Implikationen Daraus folgt, wie zum Teil bereits hervorgehoben (o. B. III. 3. [S. 392 ff.]), dreierlei. 1. Erstens werden sowohl faktische als auch normative Erwägungen bei der Bestimmung der Tat eine Rolle spielen müssen. Denn von einer Verdächtigung lässt sich nur sprechen, wenn erstens der Betroffene möglicherweise überhaupt 1834 So bereits Motive, in: Mudgan, Materialien, S. 205; s. a. das Zugeständnis der Rspr., nicht immer eine zweifelsfreie Abgrenzung gewinnen zu können o. Fn. 1657; in der Lit. Schanze, ZStW 4 (1884), S. 4; Werder, KritV 1928, S. 294; E. Wolter, Rechtskraft, S. 27 f.; M. Jones, JCLC 38 (1947), S. 384; Bettiol, RIDP 1949, S. 737; Guarneri, RIDP 1953, S. 82; Bertel, Identität der Tat, S. 17 ff., für die Frage der Tatidentität, die er von der Frage nach dem Tatbegriff unterscheidet.

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etwas getan hat (faktische Dimension), und zweitens wenn dieses, was er möglicherweise getan hat, in einer Hinsicht schlecht ist (normative Dimension).1835 Ein rein faktischer Begriff vermag nicht zu erklären, warum man Ankläger und Richter trennen muss, denn die Vermutung, jemand habe etwas Unbedenkliches getan, z. B. eine Eisdiele besucht, löst nicht die o. B. III. 2. b) (S. 390 ff.) beschriebenen Gefahren aus, deren Eindämmung der eigentliche Sinn des Anklageprinzips ist. Der vorliegende Vorschlag wird sich also auf der von den vermittelnden Lösungen eröffneten Spur bewegen und kann somit als Weiterführung der Gedanken von Roxin und Wolter verstanden werden. 2. Zweitens ist die Anklage der Angelpunkt für die Bestimmung der strafprozessualen Tat.1836 In einem Verfahren, das das Anklageprinzip beachtet, muss der Gegenstand des Strafverfahrens der Gegenstand der Anklage sein. Freilich muss sich der Gegenstand der Anklage nicht mit dem, was in der Anklage expressis verbis genannt wird, decken. Allein die Anklage liefert den sicheren Hafen, von dem jede Bestimmung der strafprozessualen Tat ihren Ausgang wird nehmen müssen.1837 Die Frage nach dem Tatbegriff muss deshalb notwendig von der Anklage her, also prospektiv gestellt werden (s. a. u. III. [S. 474 f.]). 3. Drittens führt die Abhängigkeit des Tatbegriffs vom Anklageprinzip, das seinerseits nur in seinem Kern apriorisch und indisponibel ist, dazu, dass die prozessuale Tat von der näheren Ausgestaltung des Anklageprinzips abhängig ist, das dem jeweiligen Strafverfahrenssystem zugrunde liegt. Je höher die psychologischen Gefahren richterlicher Initiative eingeschätzt werden, desto akkusatorischer wird das Verfahrenssystem sein, d. h. desto strenger wird die Bindung des 1835

Vgl. o. Teil 1 Kap. 2 B. V. (S. 129). Richtig Barbarino, Rechtskraft, S. 92; Gelbert, JW 1934, S. 2890; Ludwig, SchwZStR 59 (1945), S. 221, 222 f.; Barthel, Begriff der Tat, S. 48 f., 57, 62 – freilich psychologistisch („Der in der Anklage zum Ausdruck kommende individuelle Verfolgungswille des Staatsanwalts ist maßgebend“ [S. 72]); Spinellis, Rechtskraft, S. 71; Detmer, Begriff der Tat, S. 109; Cunha, Ne bis in idem, S. 563. Ebenso auch Motive, in: Hahn/Mudgan, Materialien, S. 205; RGSt 44, 28 (29 f.); Devlin, in: House of Lords, Connelly v. DPP AC 1964, 1254 (1356): „Autrefois applies to offences that are charged and not to those that could have been.“; § 4 Abs. 3 S. 1 östStPO: „Die Entscheidung des Gerichts . . . darf sie (die Anklage, L.G.) jedoch nicht überschreiten.“ 1837 Kennt das jeweilige Verfahren einen Filtermechanismus, wie den deutschen Eröffnungsbeschluss, dann wäre es an sich möglich, dass dieser das Hauptverfahren nur für bestimmte Dimensionen der angeklagten Tat eröffnet. Die StPO hat sich aus bestimmten Gründen gegen Teilzwischenurteile entschieden (s. u. VIII. [S. 540 f.]). Die Tat wird deshalb von der Anklage bestimmt und vom Eröffnungsbeschluss nur bestätigt (s. bereits RGSt 3, 406 [407 f.]; 44, 28 [30]); der Eröffnungsbeschluss darf die Tat nicht in tatsächlicher (RGSt 23, 392 [394 ff.]) und umso weniger in rechtlicher Hinsicht einengen (RGSt 46, 218); nur bei einer Anklage, die mehrere Taten zusammenfasst, kann der Eröffnungsbeschluss an dem in diesem Sinne zusammengesetzten Prozessgegenstand etwas, nämlich eine ganze Tat, von der Verfolgung ausschließen (RGSt 46, 218 [221]). Auch eine Entscheidung, den Beschuldigten wegen bestimmter Vorwürfe außer Verfolgung zu setzen, ist unwirksam (RGSt 28, 12 [14]). 1836

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Richters an den Anstoß des Anklägers sein und deshalb wird auch der Tatbegriff enger sein. Je weniger diese Gefahren gefürchtet werden, desto inquisitorischer wird das Verfahrenssystem sein, so dass der Richter eher locker an die Anklage gebunden ist und der Tatbegriff eher weit ist. Das heißt auch, dass ein universeller Tatbegriff unmöglich ist. Universell ist nur das Abhängigkeitsverhältnis von Tatbegriff und Anklageprinzip. Universell sind auch bestimmte Teile des Tatbegriffs, die auf den indisponiblen Teil des Anklageprinzips zurückführbar sind, also den Teil, in dem es um die Bekämpfung der beschriebenen vernünftig begründeten Gefahren geht. Bei der Bewältigung der bloß psychologisch begründeten Gefahren sind unterschiedliche Herangehensweisen vertretbar, die von einzelnen Verfahrensordnungen tatsächlich auch verkörpert werden. In jeder dieser Rechtsordnungen finden deshalb Strafverfahren über andere Gegenstände statt. III. Die Grundregel: Prozessgegenstand und Strafklageverbrauch als Funktionen des Verhältnisses von Anklage, richterlichen Klageänderungsmöglichkeiten und Urteil 1. Eine einleuchtende Konsequenz aus dem Gesagten ist die folgende Grundregel, die mit verblüffender Deutlichkeit wiederholt vom Reichsgericht ausgesprochen wurde und für alle Strafverfahrensrechte Gültigkeit beanspruchen kann: Die Reichweite der Rechtskraft entspricht der Reichweite des Prozessgegenstands, und die Reichweite des Prozessgegenstands geht so weit wie Klageänderung durch den Richter zulässig ist.1838 „Eben der Zusammenhang zwischen der 1838 RGSt 2, 347 (349); 3, 132 (133); 7, 32 (34); 7, 229 (230); 8, 135 (138); 9, 321 (323); 9, 344 (347 f.); 15, 9 (11); 15, 23 (27); 15, 133 (136); 21, 78 (80); 24, 419 (419); 32, 57 (58); 37, 88 (91); 49, 272 (274); 51, 241 (241, 242 f.); 51, 253 (254); 52, 241 (242); 56, 161 (166); 56, 324 (325); 66, 19 (20); 72, 99 (105); RG GA 1908, 431 (431 f.); BGHSt 6, 92 (95); 13, 21 (22); 15, 259 (259 f.); 25, 388 (389 f.); BGH NJW 1953, 393; BayObLG NJW 1965, 2211 (2212). Aus den Fundstellen kann abgelesen werden, dass die Formel in der heutigen Rechtsprechung immer seltener auftaucht. Sie ist inzwischen hinter der inquisitorischen Formel des geschichtlichen Vorgangs, die in kaum einer Entscheidung fehlt (Nachw. o. Fn. 1635), weitgehend verschwunden. Aus der Lit.: Hasenbalg, Öffentliche Klage, S. 123, 160; Berner, GA 1855, S. 493; Glaser, Non bis in idem, S. 613, 635: „Die Möglichkeit der Wiederverfolgung (oder vielmehr Weiterverfolgung) ist abhängig von der Unzulässigkeit der entsprechenden Modification der ursprünglichen Anklage“; Pfizer, GS 40 (1888), S. 341 f.; Borgmann, Identität der That, S. 51 f.; Eichhorn, GS 38 (1886), S. 402 f.; Birckel, Identität der Tat, S. 125; Binding, Strafurteil, S. 332; Schlosky, GA 1927, S. 290, 292; Liu, Identität der Tat, S. 75; Oster, Rechtskraft, S. 16, 59; F. Frank, Identität der Tat, S. 27 f.; E. Wolter, Rechtskraft, S. 29; v. Hippel, Der deutsche Strafprozess, S. 373; Mann/Mann, ZStW 75 (1963), S. 256 f.; Spinellis, Rechtskraft, S. 7, 8, 67; Eb. Schmidt, Lehrkommentar I Rn. 296, 314; Schöneborn, MDR 1974, S. 529, 530; Detmer, Begriff der Tat, S. 78 f.; Ranft, Strafprozeßrecht, Rn. 1872; Pfeiffer, StPO § 264 Rn. 1; Pfeiffer/Hanich, KKStPO Einl Rn. 170; Velten, SK-StPO § 264 Rn. 5, 21 („Der Strafklageverbrauch ist die Kehrseite der Kognitionspflicht“); Eschelbach, BeckOK-StPO § 264 Rn. 3; Meyer-Goßner, StPO Einl Rn. 173, § 264 Rn. 1.

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Klageänderung und dem Grundsatze ne bis in idem weist daher auch den Umfang des letzeren Grundsatzes nach; er gilt, soweit eine Klageänderung zulässig ist, er versagt, wenn und soweit eine andere That vorliegt“.1839 „Soweit aber das Recht des Gerichts reicht, seine Entscheidung zu erstrecken, soweit reicht der Grundsatz: ne bis in idem“.1840 „Der Verbrauch der Strafklage ist die Kehrseite des dem Strafrichter im einzelnen Falle zustehenden Rechts, die Strafklage umzuwandeln“.1841 Dies beruht auf der einleuchtenden Erwägung, dass darüber (grundsätzlich, s. u. VIII. [S. 541 ff.]) aber auch nur darüber ein Prozess gemacht worden ist. Anders gewendet, und zugegeben etwas grob, kann man sagen, dass alle Sachentscheidungen, die das Gericht des ersten Verfahrens ohne weitere Provokation durch den Ankläger hätte fällen dürfen, nicht mehr in einem zweiten Verfahren gefällt werden dürfen: „Ein Urtheil verstösst gegen die Regel: non bis in idem, wenn es so beschaffen ist, dass es schon auf Grund einer früheren Strafklage hätte ergehen können“.1842 Umgekehrt müssen Sachurteile, die das Gericht im ersten Verfahren nicht hätte aussprechen können, nicht als verbraucht angesehen werden. 2. Mit dieser Grundregel ist nicht nur ein in sich schlüssiges und zwingend begründetes, sondern sogar ein international weitgehend anerkanntes Prinzip formuliert worden – wenigstens im Grundsatz (s. gleich u. IV. [S. 477 ff.]). a) In Frankreich hat nicht nur die Lehre, die fast über ein Jahrhundert hinweg gegen eine diese Zusammenhänge verkennende Rechtsprechung Widerstand zu leisten wusste (näher u. IV. [S. 486 ff.]), in vorbildhafter Weise erkannt, dass die Bestimmung der Reichweite des Verbrauchten sich mit der Reichweite der Pflicht des Gerichts decken muss, die Klage zu erschöpfen und die Tat unter allen Gesichtspunkten zu prüfen.1843 So schrieb schon im 19. Jahrhundert Ortolan: „Die Staatsanwaltschaft hatte die Pflicht, alles zu verfolgen, die Gerichtsbarkeit die Pflicht, alles abzuurteilen; das Urteil, sobald es unanfechtbar wird, schließt diese Aufgabe ab: deshalb ist das Recht auf öffentliche Klage verbraucht.“ 1844 Dazu bekannte sich auch gelegentlich die Cassation,1845 auch wenn es eine andere Frage ist, wie ernst dieses Bekenntnis gemeint ist. In Spanien, Portugal und Argentinien gehen die angesehensten Autoren auch von der Grundregel aus.1846 1839

RGSt 2, 347 (349). RGSt 7, 32 (34). 1841 RGSt 72, 99 (105). 1842 Glaser, GrünhutZ 12 (1885), S. 310 f.; präzisierend ders. GS 36 (1884), S. 120. 1843 Siehe nur Ortolan/Desjardins, Éléments, S. 303 f.; Daskalakis, Unité et pluralité, S. 413, 416. 1844 Ortolan/Desjardins, Éléments, S. 304. 1845 Cassation Criminelle, JCP II 1959, Nr. 11323. 1846 Correia, Caso julgado, S. 304; Gutierrez de Cabiedes, Correlacion, S. 521 f.; Cortés Domínguez, Cosa juzgada, S. 57 (der den konfusen Standpunkt des Gesetzes 1840

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

b) Aber auch die gelegentlich konfusen und aus unserer Sicht so eng anmutenden Vorstellungen über die Reichweite des Strafklageverbrauchs, die im common law, vor allem in den USA gelten (s. o. C. VI. 3. [S. 453 f.], Blockburger-Test), lassen sich wenigstens in ihrem Kern auf diese Grundregel zurückführen. Die Wurzeln dieser Ansicht liegen zum Teil in einem Kriterium, das man gelegentlich als power to convict-Test bezeichnet. Verbraucht sind alle Straftaten, „such as the prisoner might have been convicted upon by proof of the facts contained in the second indictment“,1847 „of which he could have been properly convicted on the trial of the first indictment“.1848 aa) Im grundlegenden englischen Fall Connelly v. DPP ging es um einen bewaffneten Überfall mit tödlichem Ausgang, bei dem das erste Verfahren nur einen Mord zum Gegenstand hatte. Diese Einschränkung beruhte nicht einmal auf anklägerischem Ermessen, sondern auf einer bis dahin geltenden Rechtsregel (Rex v. Jones), der zufolge Mord immer getrennt angeklagt werden sollte. Das House of Lords bestätigte die Möglichkeit, auch den Raub zu verfolgen, unter anderem weil im Erstverfahren keine Verurteilung wegen Raubes möglich gewesen sei. „The doctrine of autrefois protects an accused in circumstances in which he has actually been in peril“.1849 bb) Ähnliches lässt sich im Grundsatz zum o. C. VI. 3. (S. 453 f.) bereits in Kürze dargestellten Blockburger-Test sagen. Häufig wird er als same evidenceTest bezeichnet, eine nicht unmissverständliche Bezeichnung,1850 weil mit evidence hier nicht Beweismittel gemeint sind – ansonsten bestünde bei 10 Augenzeugen die Möglichkeit, 10 Verfahren durchzuführen1851 –, sondern die Beweise, kritisiert, S. 54); Souto de Moura, Objecto do processo, S. 27; J. Maier, Derecho procesal penal I, S. 607; s. a. aus der Schweiz Pfenninger, SchwJZ 1943, S. 359. 1847 King v. Vandercomb, 168 Eng. Rep. 455 (K. B. 1796), zit. nach Thomas III, Double Jeopardy, S. 262. 1848 Lord Reading, in: R. v. Barron 2 (K.B. 1914), 570, 574 (C.C.A.); ebenso Spencer Bower/Kingcome Turner, Res Judicata, S. 393; die Einwände von R. Brown, UCLALR 19 (1972), S. 814 ff. (gegen Vandercomb) und Morris/Howard, Res judicata, S. 242 ff., deren Kern die zu enge Reichweite des Strafklageverbrauchs ist, wären besser gegen die zu strenge Bindung an die Anklage gerichtet worden (näher u. V., VI. [S. 510 ff., 513 ff.]). 1849 Devlin, in: House of Lords, Connelly v. DPP AC 1964, 1254 (1353). Zum Urteil näher Spencer Bower/Kingcome Turner, Res Judicata, S. 271 ff. 1850 Siehe die Vielzahl von Deutungsmöglichkeiten bei Anonym, YLJ 75 (1965), S. 269 ff.; einen Beleg für diese Gefahren sieht man, wenn auch der Grady-Test, wovon gleich die Rede sein wird, als same evidence-Test bezeichnet wird, etwa Coffey, JSIJ 5 (2005), S. 155. 1851 Ähnliches Bespiel in U.S. Supreme Court, Grady v. Corbin, 495 U.S. 508, 522 (1990), wohl aber als Einwand gegen Blockburger gedacht, was darauf hindeutet, dass die Regel von Brennan, der für das Gericht spricht, nicht richtig verstanden wurde. Dies wäre nicht das erste Mal, dass Brennan den Blockburger-Test und die Redeweise von same evidence missverstanden hat, s. davor sein Sondervotum in Gore v. United States, 357 U.S. 386, 397 f. (1958).

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die erforderlich gewesen wären, um die erste Klage als begründet herauszustellen,1852 m. a. W. die Straftatmerkmale. 1853 Noch genauer geht es um die Frage, welche Sachurteile schon im ersten Verfahren ergehen durften, wie die von Scalia in seinem Sondervotum zur Grady-Entscheidung zusammengestellten historischen Nachweise belegen.1854 Die Enge dieses Tatbegriffs hat ihre Entsprechung in der Enge der Anklage und den durch sie bedingten richterlichen Kognitionsmöglichkeiten.1855 Daher wird, wie schon o. C. VI. 3. (S. 453 f.) gesagt, die lesser included offense von der Anklage und auch vom Strafklageverbrauch erfasst. Die maßgebliche Entscheidung, In Re Nielsen, begründet dies u. a. mit einem Zitat von Wharton, in dem es hieß: „An acquittal or conviction for a greater offense is a bar to a subsequent indictment for the minor offense included in the former wherever, under the indictment for the greater offense, the defendant could have been convicted for the less.“ 1856 Denn die Verurteilung wegen der lesser offense wäre nach den amerikanischen Klageumgestaltungsregeln bereits im Erstverfahren möglich gewesen.1857 Im Verfahren wegen Mordes kann auch wegen Totschlags, fahrlässiger Tötung oder Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt werden. Man wird sich erst u. (IV. 3. b) [S. 497 ff.]) der weiteren Entwicklung der amerikanischen Diskussion zuwenden und erhebliche Verwirrung feststellen; die Grundregel wird aber die vorsichtige Formulierung einer Diagnose gestatten. 3. Vier Punkte bedürfen noch der Klärung oder Vertiefung. a) Zunächst die Frage nach der Begründungsrichtung. Wie gesagt, verdient es größte Bewunderung, mit welcher Klarheit das Reichsgericht diesen Zusammen1852

Sehr klar English Jr., LouisLR 32 (1971), S. 89. Klar Harlow, BrYULR 1980, S. 957 f.; Amar, YLJ 106 (1997), S. 1830; Scalia, in: Grady v. Corbin, 495 U.S. 508, 528 (1990): „statutory elements“, nicht „proof “. 1854 Scalia, in: U.S. Supreme Court, Grady v. Corbin, 495 U.S. 508, (1990), etwa S. 534, Zitat aus State v. Standifer, 5 Porter 523, 531 (Ala. 1837): „A jury could not lawfully have returned a verdict of guilty of assault on John at the first trial, and the offenses thus had ,no appearence of identity‘ “, und Zitat aus State v. Sias, 17 N.H. 558 (1845): „The defendant could not have been convicted of a conspiracy on the former indictment“. Klar auch M. Jones, JCLC 38 (1947), S. 383; Kirchheimer, YLJ 58 (1949), S. 528. 1855 Aus deutscher Sicht Tiedemann, Entwicklungstendenzen, S. 33, der aber anmerkt, dass dem Grundsatz nicht ausnahmlos gefolgt wird; Ziemba, Wiederaufnahme, S. 122; Stuckenberg, Double Jeopardy, S. 10 f., 24; andere Erklärung bei Ortolan/Desjardins, Éléments, S. 305, die denken, er beruhe auf dem quasi privatrechtlichen Charakter des angelsächsischen Verfahrens. 1856 U.S. Supreme Court, In Re Nielsen, 131 U.S. 176, 189 (1889). 1857 Siehe die Rule 31 FedRCrimP: „Lesser Offense or Attempt. A defendant may be found guilty of any of the following: (1) an offense necessarily included in the offense charged; (2) an attempt to commit the offense charged; or (3) an attempt to commit an offense necessarily included in the offense charged, if the attempt is an offense in its own right.“ Ebenso in England, s. Criminal Law Act 1967, Section 6 Abs. 3 (Sprack, Criminal procedure, Rn. 21.23, 21.28). 1853

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hang zu erfassen wusste. Man könnte aber meinen, das Reichsgericht habe im Ergebnis Glück gehabt. Das Gesetz definiert nicht die prozessuale Tat als Gegenstand des Strafklageverbrauchs; es bietet aber Regeln für die Umgestaltung der Anklage (insb. § 265 StPO) an. Das Reichsgericht habe sich deshalb auf diese Regeln berufen, nicht weil in ihnen der wahre Grund für die Reichweite der Rechtskraft liegen würde, sondern wegen der positivrechtlichen Kontingenz, dass es diese Regeln gab. Obwohl im Ergebnis die Entsprechung nicht in Frage zu stellen sei, habe das Reichsgericht also Begründung und Begründetes verwechselt.1858 „Die Zulassung der Klageänderung (ist) die Folge des angenommenen Princips der Klagenconsumtion.“ 1859 „Weil die Urteile über den Strafanspruch des Staates endgültig entscheiden, weil sie möglichst unantastbar sein sollen, deshalb empfiehlt es sich, sie mit Garantien zu umgeben, die eine richtige und erschöpfende Beurteilung der Tat ermöglichen“.1860 Diesem Einwand liegen inquisitorische Vorstellungen zugrunde, eigentlich dieselben, die auch den geschichtlich orientierten Tatbegriff der h. M. beseelen und die wir im Anschluss an Binding zu überwinden versuchen (s. o. C. IV. [S. 436 ff.]). Denn man verselbständigt dadurch das Urteil von der Anklage. Man stellt die Frage nach dem Strafklageverbrauch nicht mehr wie geboten prospektiv, von der Anklage her (s. o. II. [S. 469 f.]), sondern retrospektiv, vom Urteil her: Man sagt, ein Urteil erfasst und erledigt die ganze „Sache“ (was auch immer sie sein soll); also auch dasjenige, was das Urteil übersehen hat. Also muss man dieser Gefahr dadurch vorbeugen, dass man dem Gericht umfassende Umgestaltungsbefugnisse verleiht. Das Problem ist nur, dass diese Argumentationsweise das Band von Tatbegriff und Anklageprinzip völlig zerschneidet. Dies wird auch daran klar, dass sich Tatbeschränkungen für den Fall eines fehlenden Antrags (s. bereits o. VI. 1. [S. 450 f.]) nicht mehr erklären lassen (ausf. u. F. III. 4. b) cc) [S. 568 ff.]). Der Seitenblick auf Frankreich, Italien, das GG und das Europarecht (u. IV. 2.– 4., S. 486 ff.) wird bestätigen, dass es in der Tat für die Entdeckung der Grundregel heilsam war, dass man in der RStPO nur über eine Vorschrift über die Kognitionspflicht und nicht zugleich über eine über den Strafklageverbrauch verfügte. Das Reichsgericht hatte aber nicht nur im Ergebnis Glück. Die von ihm postulierte prospektive Begründungsrichtung stimmt: „Das Gesetz würde in sich widersprechend sein, wenn es den Inhalt hätte, daß die Verfolgung einer Strafthat unzulässig würde wegen Verbrauchs der Strafklage durch ein Verfahren, das ge-

1858 Pfizer, GS 40 (1888), S. 341 ff.; v. Kries, Lehrbuch, S. 595; Kohlrausch, Idealkonkurrenz, S. 53 f.; Barbarino, Rechtskraft, S. 100, 103; Vogler, Rechtskraft, S. 83 ff.; Büchner, Strafprozessuale Tat, S. 88 ff.; ähnl. H. Mayer, GS 99 (1930), S. 114, der die Grundregel einen „Umweg“ nennt, weil die Tat sowieso die primäre Größe sei. 1859 Pfizer, GS 40 (1888), S. 342. 1860 Giehl, Wiederaufnahme, S. 9.

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gen jene That nicht gerichtet werden durfte.“ 1861. Es geht m. a. W. um die Selbstverständlichkeit, dass ohne Erstverfahren von einem Zweitverfahren nicht die Rede sein kann: „Aus dem Umfang des Strafprozesses ergiebt sich der Umfang des idem, nicht umgekehrt“.1862 b) Der Vorwurf, den man gegen das Reichsgericht richten kann, ist der, die Klageänderungsbefugnis nicht von der Warte der Anklage aus, sondern aus gerichtszentrierter Perspektive bestimmt zu haben.1863 Hierzu wurde es von dem bereits kritisierten geschichtlich orientieren Tatbegriff in die Lage versetzt (s. o. C. III. [S. 436 ff.]). Damit gelangt man zugleich zum zweiten Punkt. Die Formulierung des Reichsgerichts, die die zwei Merkposten Reichweite der Kognition/ Reichweite der Sperrwirkung in ein Verhältnis der Entsprechung setzt, ist richtig, auch was die Begründungsrichtung anbelangt, aber unvollständig. Denn es gibt einen dritten Posten, der in der Grundregel, wie sie vom Reichsgericht formuliert wurde, nicht auftaucht, nämlich die Anklage; und die Begründung setzt prospektiv bei ihr an (s. o. II. [S. 469 f.]). Nicht nur an dem Fortwirken der Tradition des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens, sondern auch an dieser Tradition verpflichteten konkreten Gesetzesbestimmungen, die in der RStPO immer noch vorhanden waren, liegt es, dass das Reichsgericht auf halbem Weg stehen geblieben ist: nämlich an Bestimmungen, die nicht die Anklage, sondern den Eröffnungsbeschluss zum zentralen Bezugspunkt für die Bestimmung des Prozessgegenstand erklärten.1864 Insbesondere fing die Hauptverhandlung nicht mit der Verlesung des „Anklagesatzes“ (§ 243 Abs. 3 StPO), sondern des Eröffnungsbeschlusses an (§ 242 Abs. 2 a. F. RStPO, später § 243 Abs. 2 a. F. StPO).1865 Dies musste offensichtlich dazu führen, dass der Beschluss als „endgültige Formulierung der Anklage (. . .) die Anklageschrift überholt und gegenstandslos werden läßt“.1866 „. . . der Form nach klagt ja das Eröffnungsgericht vor dem erkennenden Gericht und trägt damit für die Hauptverhandlung wenigstens nach außen hin die Verantwortung“.1867 Deshalb meinten einige Autoren sogar, dass § 263 Abs. 1 RStPO bzw. § 264 Abs. 1 StPO sich falsch ausgedrückt haben, da statt von der „in der Anklage bezeichneten“ von der „im Eröffnungsbeschluss bezeichneten Tat“ ge-

1861

RGSt 32, 57 (58). Borgmann, Identität der That, S. 52. 1863 Dieses Problem haben wir bereits bei der kritischen Prüfung der von Henkel vertretenen Auffassung diagnostiziert, s. o. C. VII. 1. (S. 462). 1864 Siehe F. Frank, Identität der Tat, S. 5 f. Aufschlussreich Meves, GA 1888, S. 109, der sogar die Wendung „in der Anklage bezeichnete Tat“ (aus § 263 a. F. RStPO) als ungenau bezeichnet, da es auf den Eröffnungsbeschluss ankomme. Zur zentralen Rolle des Eröffnungsbeschlusses als Überbleibsel der inquisitorischen Tradition W. Mittermaier, ZStW 21 (1901), S. 234. 1865 Hierzu Eb. Schmidt, Lehrkommentar, § 243 Rn. 21 ff. 1866 Nagler, GS 111 (1938), S. 355. 1867 Nagler, GS 111 (1938), S. 356. 1862

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

sprochen werden müsste.1868 Die Berücksichtigung dieser Zusammenhänge erklärt, weshalb das Reichsgericht nicht den Weg bis zur Anklage zurückzuverfolgen suchte. Wir dagegen sind vom Anklageprinzip ausgegangen. Von dieser Grundlage aus muss die Grundregel um einen Posten ergänzt werden. Sie kann nicht nur lauten: Reichweite der Klageänderungsbefugnis = Reichweite der Sperrwirkung, sondern: Reichweite der Anklage = Reichweite der Klageänderungsbefugnis = Reichweite des Urteils bzw. der Sperrwirkung; und diese Regel ist von links nach rechts zu lesen. Sperrwirkung ist im logischen Sinne keine primäre, sondern eine abgeleitete Größe.1869 Daraus erklärt sich auch, unter welcher Rubrik das Problem des Tatbegriffs richtigerweise zu diskutieren ist, eine Einordnung, die im 19. Jahrhundert, ebenso wie die Bedeutung des Anklageprinzips allen noch sehr präsent war, die aber heute von der inquisitorischen Formel des geschichtlichen Vorgangs in den Hintergrund gerückt worden ist: nämlich als Verhältnis von Anklage und Urteil.1870 Der Vorteil dieser Rubrizierung besteht darin, dass der Zusammenhang mit der Anklage immer mitbedacht wird, so dass die in der immer noch zu gerichtszentrierten Formulierung des Reichsgerichts durchaus vorhandene Versuchung im Sinne einer Loslösung von der Anklage eingedämmt wird. Wie wir u. E. III. b) cc) (S. 568 ff.) sehen werden, hat sich eine solche Gefahr gerade in den ersten reichsgerichtlichen Entscheidungen realisiert, in denen die richterlichen Kognitionsbefugnisse und die Rechtskraft auch auf zusammenhängende Antragsdelikte erstreckt wurden, für die kein Strafantrag gestellt worden war.1871 c) Warum aber kein zweites Verfahren zulässig sein soll, folgt selbstverständlich nicht aus dem Vorhandensein eines ersten Verfahrens, sondern aus der Begründung der materiellen Rechtskraft und der aus ihr entspringenden Sperrwirkung, also aus den Gedanken der Schuldtilgung, Rehabilitierung und Verfahrens1868 So F. Frank, Identität der Tat, S. 5; in eine ähnliche Richtung Velten, SK-StPO § 264 Rn. 1. 1869 Nachdrücklich Wolter, GA 1986, S. 155. 1870 Vgl. bereits die Motive, in: Hahn/Mudgan, Materialien, S. 205; den Titel der grundlegenden Abhandlung von Glaser, GS 36 (1884), S. 81 ff., der m. E. lehrreichste Beitrag zum Thema, der je geschrieben worden ist, und der deshalb im Folgenden immer wieder zitiert werden soll; und auch Barbarino, Rechtskraft, S. 92 ff.; Gelbert, JW 1934, S. 2890. 1871 RGSt 3, 385 (387): „. . . auch in diesen Fällen (ist) das Gericht durch den Mangel des Antrags an der Erörterung der That unter dem Gesichtspunkt des – konkurrierenden – Antragsdelikts nicht, sondern nur an der Anwendung des Strafgesetzes für dieses Antragsdelikt gehindert“; zust. Oster, Rechtskraft, S. 41; Wurzer, GA 1918, S. 272 f.; zu Recht krit. Reiffel, GA 1894, S. 91 f., der die zwei Gretchenfragen stellt – „Aber wozu solch nutzlose Erörterungen, wenn doch keine Entscheidung darauf folgen darf? Und was hat eine solche ,Erörterung‘ mit dem ne bis in idem zu thun?“ –, woran erkennbar wird, dass er bereits den vom Reichsgericht übersehenen Unterschied zwischen Prozessgegenstand und Prozessstoff (s. o. B. I. [S. 379]) bemerkt hat.

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gerechtigkeit, s. o. Kap. 1 D. (S. 371 ff.).1872 Die Grundregel stellt aber klar, dass das, was von der Sperrwirkung gesperrt wird, dasjenige ist, worüber es zumindest implizit bereits eine Anklage, ein Verfahren und ein Urteil gegeben hat. Nur nach einem ersten Prozess kann sinnvoll von einem zweiten Prozess gesprochen werden; dieser ist aber aus Gründen der Schuldtilgung, Rehabilitierung und Verfahrensgerechtigkeit verboten. Wir kommen auf diesen Punkt gleich näher zu sprechen, nämlich bei der Auseinandersetzung mit dem hier sog. dynamisch-inkongruenten Tatbegriff (u. IV. 1. [S. 484 ff.]). d) Die vierte Bemerkung ist im Vergleich zu den vorherigen bescheiden. Vielfach wurde dem Reichsgericht vorgehalten, die Redeweise von Klageänderung, -umwandlung und/oder -umgestaltung sei irreführend, weil die strafprozessuale Klage eigentlich nicht verändert werde, sondern konstant bleibe.1873 Klage und Anklageschrift seien nicht das Gleiche: Zur Klage gehöre mehr als das, was ausdrücklich in der Anklageschrift benannt wird. Das ist richtig, aber eigentlich ein eher terminologischer Einwand.1874 Das, was das Reichsgericht meint, ist klar, und Irreführungsgefahren sind nicht ersichtlich. Die alternative Redeweise einer Umgestaltung der Anklageschrift wäre aus anderen Gründen ungenau, denn im buchstäblichen Sinne setzt das Gericht dem Text der Anklageschrift kein Komma hinzu. Man würde deshalb von Berichtigung des Inhalts der Anklageschrift oder Ähnlichem sprechen müssen. Im Folgenden soll deshalb ohne größere Sorgen von Umgestaltung der Klage, der Anklage oder der Strafklage gesprochen werden, weil dies eine einfachere und elegantere Ausdrucksweise verkörpert. IV. Vier Beispiele für das Verkennen dieser Zusammenhänge So selbstverständlich wie sich diese Annahmen nun anhören, sind sie aber nicht. Die These der universellen Gültigkeit der oben eingeführten Grundregel (Gegenstand der Anklage = Gegenstand des Verfahrens = Gegenstand des Urteils bzw. der Sperrwirkung, von links nach rechts) muss noch die Herausforderung bestehen, die von denjenigen gestellt wird, die sie nicht anerkennen. 1. Der dynamisch-inkongruente Tatbegriff a) Geradezu frontal bestritten werden die gerade behaupteten Zusammenhänge von Autoren, die meinen, dass der Begriff der Tat nicht über die gesamte Dauer eines Strafverfahrens dieselbe Reichweite aufweise. Insbesondere müsse der Gegenstand der Anklage nicht notwendig dem Gegenstand der Verhandlung, dieser 1872 Es geht also um mehr als nur um die „Vermeidung (ungewollter) rechtsfreier Räume“ (so aber Velten, SK-StPO § 264 Rn. 2 Fn. 5). 1873 Vogler, Rechtskraft, S. 83; Eb. Schmidt, Lehrkommentar I, Rn. 296 Fn. 528; Noftz, Prozeßgegenstand, S. 69. 1874 Richtig Barthel, Begriff der Tat, S. 33 f.

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wiederum nicht notwendig dem Gegenstand des Urteils und also dem der Rechtskraft entsprechen. Diese untereinander sehr verschiedenen Positionen seien hier unter der Bezeichnung dynamisch-inkongruente Tatbegriffe zusammengefasst, im Gegensatz zum in der Grundregel verkörperten Standpunkt eines statisch-kongruenten Tatbegriffs. aa) Ein solcher dynamisch-inkongruenter Tatbegriff ist in der Zeit des Nationalsozialismus von Hall und Mattil und in der Bundesrepublik am prominentesten von Peters und am ausführlichsten von Büchner vertreten worden. Hall stellt fest, dass die vielen Probleme, mit denen man im vorliegenden Bereich zu kämpfen hat, „ihren Grund in der strengen Abhängigkeit des Umfangs der Rechtskraft von der richterlichen Prüfungspflicht“ haben: „Diese unheilvolle Verknüpfung zweier auseinanderstrebender Rechtsgedanken muß gelöst werden“.1875 Freilich appelliert er an den Gesetzgeber und geht de lege lata von einer Entsprechung beider Perspektiven aus.1876 Nach Mattil beruhe die umfassende Kognitionspflicht des Gerichts auf einem „Interesse an einer möglichst umfassenden Sach-Verhandlung und -Entscheidung“ und der Umfang der Rechtskraft auf einem schlichten „Prinzip der Prozeßökonomie“, der keinen Gerechtigkeitsbezug aufweise. Es bestehe deshalb eine „Inkongruenz beider Prinzipien“, um deren Beseitigung sich eine materielle und nicht formalistische Rechtsauffassung kümmern sollte. Daraus folge insbesondere, dass sich die Rechtskraft „nur auf das Unrecht, das als Inhalt des Schuldspruchs Gegenstand des Urteils tatsächlich geworden ist“ erstrecken könne, und nicht auf den ganzen Bereich der richterlichen Kognitionsmöglichkeiten.1877 Unter dem Grundgesetz sind diese Gedanken weitgehend unverändert – nur ohne ausdrückliche Bezugnahme auf ihre Vorgänger – aufgegriffen worden. Peters deutet das Strafverfahren als etwas, dessen Wesen dynamisch sei, so dass auch sein Gegenstand, die prozessuale Tat, an dieser Dynamik teilhaben müsse.1878 Die Tat, die durch den Eröffnungsbeschluss zugelassen werde, werde in der Hauptverhandlung präziser ausgearbeitet, so dass sie mit der Tat, die nach dem Ergebnis der Beweiswürdigung dem Urteil zugrunde liegt, nicht mehr identisch sei. Wichtigste Folge dieser Ansicht ist, dass die richterliche Kognitionspflicht weiter reichen könne als das, was später Gegenstand des Strafklageverbrauchs wird. Im Laufe des Verfahrens bestehe insoweit ein „Zug zur Ver1875 Hall, DRW 1941, S. 325. Zudem soll das Gericht seiner Auffassung nach nicht einmal an die Anklage gebunden sein: Die Ausdehnbarkeit der Urteilsfindung gem. § 266 StPO soll dem Ermessen des Gerichts unterliegen und nicht von der Zustimmung des Betroffenen abhängig sein (ebda.). 1876 Hall, DRW 1941, S. 324 f. 1877 Mattil, DStR 1942, S. 162 (alle Zitate), S. 172. 1878 Peters, Strafprozeß, S. 279 ff., 506 f.; ders. JZ 1960, S. 70; zust. Tiedemann, Entwicklungstendenzen, S. 42; Marxen, StV 1985, S. 476 f.

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engung“.1879 „Die Verschiedenheit des Tatbegriffes und seiner Auswirkungen ergibt sich aus der Natur des Prozesses als eines sich fortentwickelnden Vorgangs“.1880 Büchner gewinnt seinerseits anhand einer kritischen Bestandaufnahme der zum Tatbegriff formulierten Auffassungen die Erkenntnis, dass weite Tatbegriffe, wie insbesondere der Begriff der h. M., zwar der Prozessökonomie dienten, der Gerechtigkeit aber nicht genügten, und umgekehrt dass engere Tatbegriffe zwar der Gerechtigkeit zugutekämen, dagegen aber die Prozessökonomie aufopferten.1881 Den einzigen möglichen Ausweg aus dieser Antinomie biete die Auflösung der Kongruenz zwischen Gegenstand des Verfahrens und Gegenstand des Strafklageverbrauchs.1882, 1883 Man vergesse nicht, dass die o. C. VII. 1. (S. 461 ff.) bereits untersuchte und abgelehnte These von Henkel u. a., die den Tatbegriff nur auf die konkret (und nicht abstrakt) mögliche Feststellungsfähigkeit des Gerichts erstreckt, auch von einem inkongruenten Tatbegriff ausgeht. Denn wenn das Gericht zufällig von dem fernliegenden Umstand erfährt, wird es ihn unter seine Kognition einbeziehen dürfen; falls dies aber nicht passiert, wird sich auf diesen Umstand kein Strafklageverbrauch erstrecken. bb) Auch in der Rechtsprechung ist eine solche Ansicht vertreten worden. Schon das Reichsgericht machte eine wichtige Ausnahme von seiner Grundregel für den Bereich der fortgesetzten Handlungen. Trotz des Umstands, dass die Anklage wegen eines Teilakts das Gericht dazu in die Lage versetzte, seine Kognition auf alle weiteren mit ihm im Fortsetzungszusammenhang befindlichen Teilakte zu erstrecken, sollte der Strafklageverbrauch nur die ausdrücklich abgeurteilten Teilakte erfassen, falls das Gericht den Fortsetzungszusammenhang nicht 1879

Peters, Strafprozeß, S. 280. Peters, Strafprozeß, S. 281. 1881 Büchner, Strafprozessuale Tat, S. 51 ff., 56 ff., 82 ff. Den Prozessgegenstand bestimmt er auf Grundlage des Kriteriums der Identität der Handlung und/oder des Erfolgs (S. 131 f.) unter zusätzlicher Einbeziehung des sog. „Sachzusammenhangs“ (S. 144 ff.), der Gegenstand der materiellen Rechtskraft soll dagegen nur die ausdrücklich getroffene „rechtliche Entscheidung“ sein (S. 159 ff.), deren Inhalt nicht aus der Verwirklichung eines bestimmten formellen Tatbestands, sondern aus einer bestimmten Rechtsgutsverletzung bestehen soll (S. 163 ff.). 1882 Büchner, Strafprozessuale Tat, S. 7 ff., 82 ff. Wohlgemerkt: Ein wichtiger Unterschied zwischen Peters und Büchner besteht darin, dass für Peters bereits der Gegenstand der Urteilsfindung (also der Tatbegriff des § 264 StPO) enger ist als der der Klageeherbung (als der Tatbegriff des § 155 StPO), während Büchner erst den Gegenstand der Rechtskraft (also den Tatbegriff des Art. 103 Abs. 3 GG) einengt (betont von Büchner, Strafprozessuale Tat, S. 114 f.). 1883 Inkongruent-dynamische Tatbegriffe auch bei: Liu, Identität der Tat, S. 83, 95 f.; Vogler, Rechtskraft, S. 96; Hanack, JZ 1972, S. 356 Fn. 36; Krauth, FS Kleinknecht, S. 233; Maatz, FS Meyer-Goßner, S. 258 f., mit schlichter Berufung auf die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege (!); und vom römischen Zivilprozessrecht ausgehend (!!) W. Bauer, NStZ 2003, S. 176 ff.; ders. wistra 2008, S. 376; sehr nahestehend die beiläufige Bemerkung von Correia, Caso julgado, S. 374 f. Fn. 1 (letzter Satz). 1880

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bejaht.1884 In der maßgeblichen Entscheidung zu den Organisationsdelikten (näher u. E. III. 8. [S. 598 ff.]) hat der BGH behauptet, dass die Tat als Gegenstand der Hauptverhandlung und der richterlichen Kognitionspflicht weiter reiche als die Tat, die Gegenstand des Urteils ist.1885 Die richterliche Kognitionspflicht erfasse wegen der materiellrechtlichen Tateinheit auch die einzelnen, im Rahmen der kriminellen Organisation begangenen Taten, der Strafklageverbrauch dagegen nur das Organisationsdelikt selbst.1886 Das BVerfG hat anschließend diese Vorgehensweise für verfassungsrechtlich zulässig erklärt; verfassungsrechtlich abgesichert sei nur der Begriff der Tat in seiner Funktion als Gegenstand des Strafklageverbrauchs, nicht dagegen als Gegenstand der Kognitionspflicht.1887 Beide Begriffe müssten von Verfassungs wegen nicht miteinander übereinstimmen.1888 cc) Vertreten wird auch eine schwächere These: Auch dann, wenn das geltende Recht für beide Fragen, die Bestimmung des Prozessgegenstandes und die Bestimmung der Reichweite der Rechtskraft, dieselbe Antwort gebe, sei diese Übereinstimmung eine bloß zufällige.1889 Es handle sich also um „Fragen, die der Gesetzgeber lösen kann, wie er es für zweckmäßig hält“.1890 Bertel, der diesen Standpunkt am gründlichsten vertreten hat, führt ihn auf die seines Erachtens unterschiedlichen rationes zurück, die hinter beiden Fragen stehen: Die Bestimmung des Prozessgegenstands beruhe auf dem Anklagegrundsatz, der Umfang der Sperrwirkung auf einer Abwägung von Gerechtigkeit und Rechtssicherheit.1891 b) Eine Stellungnahme fällt nicht schwer. aa) Wenn man sich auf die o. B. III. 5. (S. 403 ff.) ausgearbeiteten Gedanken des Anklageprinzips und auf die drei Säulen der materiellen Rechtskraft, nämlich 1884 RGSt 15, 23 (27 ff.); 26, 162; 54, 283 (285); RG JW 1928, 2247; BGH NJW 1963, 549; NStZ 1984, 231; krit. Gerland, NJW 1928, S. 2247 f.; F. Frank, Identität der Tat, S. 31 ff.; Neuhaus, JuS 1986, S. 968; and. OLG Koblenz JR 1981, 520 (521). Zum Strafklageverbrauch bei der fortgesetzten Handlung s. u. E. III. 7. (S. 591 ff.). 1885 Diese Lesart auch bei Werle, NJW 1980, S. 2673 (krit.); Krauth, FS Kleinknecht, S. 220 f., der dem auch zustimmt (S. 200 f., 230 ff., 232 ff.). 1886 BGHSt 29, 288 (297). 1887 BVerfGE 56, 22 (35 f.). 1888 Siehe auch Neuhaus, Tatbegriff, S. 141, 143, 212 ff., der den prozessualen Tatbegriff, also den Tatbegriff der §§ 155, 264 StPO einheitlich bestimmen möchte, ihn aber nicht mit dem Tatbegriff des Art. 103 Abs. 3 GG, der den Strafklageverbrauch bestimmt, für deckungsgleich hält; s. a. ders. MDR 1988, S. 1015 f. 1889 Bertel, Identität der Tat, S. 15 f. – das von ihm untersuchte österreichische Strafprozessrecht gehe zwar von einer solchen Übereinstimmung aus, dies folge aber aus den einzelnen gesetzlichen Vorschriften und nicht aus vorgegebenen Erwägungen. Ebenso Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 143; Velten, SK-StPO § 264 Rn. 3: „eine Frage der gesetzgeberischen Entscheidung bzw. eine Wertungsfrage“. 1890 Bertel, Identität der Tat, S. 15. 1891 Bertel, Identität der Tat, S. 12.

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die Schuldtilgung, das Rehabilitierungsrecht und die Verfahrensgerechtigkeit (s. o. Kap. 1 D. [S. 371 ff.]) zurückbesinnt, leuchtet unmittelbar ein, dass alles, aber nur alles, was Gegenstand der Anklage gewesen ist und worüber ein Verfahren stattgefunden hat, auch von der Rechtskraft erfasst sein muss. Der Tatbegriff muss in diesem Sinne ein kongruent-statischer sein.1892 Alle anderen Bestimmungen führen – mit den diesbezüglichen Worten von Berner – „zu einer ziemlich willkürlichen und folgewidrigen Behandlung der Sache“.1893 Dies ist kein „Dogma“,1894 sondern ein Gebot, das aus dem Anklagegrundsatz und der ratio der Rechtskraft selbst folgt. bb) Die von Peters angeführte dynamische Natur des Strafverfahrens ist für sich genommen ein zweifelhaftes Argument.1895 Mehr als ein unpräzises Schlagwort liefert die Formel nicht. Auf die Dynamik könnte man sich nicht nur berufen, um die Reichweite der prozessualen Tat zu verengen, sondern auch, um sie zu erweitern.1896 Sie ist wenig mehr als eine Beschreibung, die keinerlei Rückhalt in einer normativen Theorie des Strafverfahrens für sich beanspruchen kann. 1892 Im Ergebnis ebenso v. Schwarze, Wiederaufnahme, S. 331 f.; Glaser, GS 36 (1884), S. 81 („Der Gegenstand des künftigen Urtheils ist der Gegenstand des Verfahrens von Anbeginn“), S. 102; Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 156; ders. JW 1931, S. 217; F. Frank, Identität der Tat, S. 27 f.; Niederreuther, DJ 1942, S. 111 f.; Oehler, FS Rosenfeld, S. 141 f.; ders. GS Schröder, S. 443 (Gegenmeinung als Rückkehr der alten Figur der absolutio ab instantia); Spinellis, Rechtskraft, S. 69 f.; Noftz, Prozeßgegenstand, S. 69; Koffka, JR 1969, S. 155; Schöneborn, MDR 1974, S. 530; Figueiredo Dias, Direito processual penal, S. 145; Cortés Domínguez, Cosa juzgada, S. 132 f.; Gössel, Strafverfahrensrecht, S. 291; ders. JR 1982, S. 113; ders. NStZ 1989, S. 547; Grünwald, FS Bockelmann, S. 747; ders. StV 1981, S. 328; ders. StV 1986, S. 243; Wolter, GA 1986, S. 155 (Aushöhlung des Schutzes des Beschuldigten, die Gefahren für seine Subjektstellung begründe); Detmer, Begriff der Tat, S. 76 ff., 93 ff.; Souto de Moura, Objecto do processo, S. 26; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 117 ff.; Birklbauer, Prozessgegenstand, S. 94; Armenta Deu, Lecciones, S. 246; Badaró, Correlação, S. 99; Velten, SK-StPO § 264 Rn. 6, 21; wohl auch Gillmeister, NStZ 1989, S. 2; in der Sache Gómez Colomer, Derecho jurisdicional III, S. 101, 420 f.; Cortés Domínguez, Derecho procesal penal, S. 160, 437. Die Begründungen sind freilich uneinheitlich: Der statische Charakter des Tatbegriffs beruhe auf Gedanken der Rechtssicherheit und der Subjektstellung des Beschuldigten (Oehler, FS Rosenfeld, S. 141 f.; Velten, SK-StPO § 264 Rn. 21; nicht völlig unberechtigte Kritik bei Büchner, Strafprozessuale Tat, S. 94), der Gerechtigkeit (Oehler, GS Schröder, S. 443) bzw. der Chancengleichheit (Rieß, FS Schäfer, S. 193) oder darauf, dass der Rechtskraft die Funktion des Schutzes des Beschuldigten und der Sanktionierung der Strafverfolgungsinstanzen zukomme (Achenbach, ZStW 87 [1975], S. 87 f.). – Aus der Rspr. explizit: BGHSt 32, 146 (150), leider mit der Abschwächung „grundsätzlich“; und selbstverständlich alle Entscheidungen, die die Entsprechung von Klageänderungsbefugnis und Rechtskraft aussprechen, s. o. Fn. 1838. 1893 Berner, GA 1855, S. 495. 1894 So aber Büchner, Strafprozessuale Tat, S. 7. 1895 Krit. auch Vogler, Rechtskraft, S. 58; Barthel, Begriff der Tat, S. 68; Wolter, GA 1986, S. 155; Detmer, Begriff der Tat, S. 88 f.; W. Bauer, wistra 1991, S. 57: „reine Bildersprache ohne argumentativen Wert“; Cording, Strafklageverbrauch, S. 194 f. 1896 Bertel, Identität der Tat, S. 15; Neuhaus, Tatbegriff, S. 140; Wolter, GA 1986, S. 155; Detmer, Begriff der Tat, S. 88; Cording, Strafklageverbrauch, S. 194 f.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

cc) Sofern das vom dynamischen Tatbegriff verfolgte Anliegen darin besteht, die Reichweite der Rechtskraft einzuschränken, wird die Sache besonders ernst. Denn hiermit lockert man zulasten des Betroffenen den o. Teil 1 Kap. 2 VI. 6. d) (S. 315 f.) ausgearbeiteten notwendigen Zusammenhang von Verdächtigung und Rehabilitierung (und auch Schuldtilgung bei eventueller Verurteilung).1897 Hat ein Verfahren über etwas stattgefunden, dann muss die dem Beschuldigten als Ausgleich für die Verfahrenserduldung geschuldete Rehabilitierung eine spiegelbildliche Reichweite haben. Eine nachträgliche Einschränkung der Reichweite der Rechtskraft bedeutet nichts anderes als eine Verkürzung des dem Betroffenen zustehenden Rehabilitierungsrechts. Dem Betroffene wird ein Verfahren über eine Verdächtigung geduldet, ohne dass er später für diese Vorleistungen entlohnt wird.1898 Die Nähe zur absolutio ab instantia des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens (s. o. Kap. 1 C. VII. [S. 363 f.]) wird nicht einmal von Vertretern des Ansatzes übersehen.1899 Dagegen führt Büchner an, dass der hier vertretene Standpunkt von der unbegründeten Annahme eines nur impliziten Gehalts des Urteils ausgeht, da er die Rechtskraft auf dasjenige erstreckt, worüber das Gericht hätte entscheiden können, auch dann, wenn es darüber keine Entscheidung getroffen hat.1900 „Eine nur mögliche, aber nicht getroffene rechtliche Entscheidung kann, da gar nicht vorhanden, auch keinen Bestandsschutz genießen.“ 1901 Deshalb sei es auch weder vom Standpunkt der Rechtssicherheit1902 noch des Beschuldigtenschutzes1903 bzw. der Billigkeit geboten, die Rechtskraft auf nicht explizite und deshalb nur mögliche Entscheidungsinhalte zu erstrecken. Dies ist indes eine ungebührende

1897 In der Sache ebenso Vogler, Rechtskraft, S. 58: „Der Nachteil des Angeklagten liegt auf der Hand. Er muß unter Umständen ein zweites Mal wegen eines Sachverhalts Rede und Antwort stehen und die Prozeßleiden über sich ergehen lassen . . . Vorteile bringt sie (die dynamisch-inkongruente Auffassung, L.G.) allemal nur dem Staat.“ 1898 Sehr ähnl. Radtke, Strafklageverbrauch, S. 117: Die Gegenmeinung „führt in allen Verfahrensstadien zu großen Belastungen des Angeklagten, ohne daß dem ein entsprechender Ausgleich in einem anderen Stadium gegenüber stehen würde“. 1899 Beispielsweise Büchner, Strafprozessuale Tat, S. 90 Fn. 1. W. Bauer, wistra 1991, S. 57 wirft dem inkongruenten Tatbegriff vor, er führe zu einer zeitlich unbegrenzten Rechtshängigkeit hinsichtlich der nicht vom Urteil abgedeckten Tatteile, die nicht erledigt würden und auch „nicht auf wunderbare Weise verschwinden“ könnten. Diese Tatteile verschwinden aber nicht durch ein Wunder, sondern durch eine implizite Einstellung, was die Nähe zur absolutio ab instantia, also einer Entscheidung, die sich zur Sache gerade nicht äußert, nur unterstreicht. 1900 Büchner, Strafprozessuale Tat, S. 87 ff. Auf einem anderen Blatt steht freilich, ob Büchner auch ohne implizite Inhalte auskommt – Grund zu Zweifeln bieten seine Ausführungen auf S. 165 ff. 1901 Büchner, Strafprozessuale Tat, S. 111. 1902 Büchner, Strafprozessuale Tat, S. 92 ff. 1903 Büchner, Strafprozessuale Tat, S. 104 ff.

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Verkürzung der Vorleistung des Betroffenen.1904 Auch dann, wenn das Gericht ihn bezüglich eines in der Anklage implizit gemachten Vorwurfs weder explizit verurteilt noch freispricht, hat der Betroffene das Verfahren vollumfänglich erduldet, und es stand nur in dem Belieben des Gerichts, ein derartig explizites Sachurteil zu fällen.1905 Selbst dann, wenn man den Gedanken des impliziten Urteilsgehalts ablehnen würde – was bereits wegen der Notwendigkeit, Gesetzeskonkurrenzen zu lösen, kaum denkbar erscheint –, würde die These Büchners nicht überzeugen. c) So gut wie immer haben die Vertreter dynamischer-inkongruenter Tatbegriffe sich darum bemüht, die Sperrwirkung enger zu bemessen als den Prozessgegenstand. Das Anliegen war also regelmäßig, den Beschuldigten, der bereits ein Verfahren erduldet hat, erneut verfolgen zu dürfen. Es ist aber auch möglich, die o. III. (S. 470 ff.) formulierte Grundregel in der Weise beschuldigtenfreundlich zu relativieren, dass auch etwas, das nicht einmal implizit angeklagt worden ist und nicht Gegenstand des Verfahrens gewesen ist oder sein konnte, von der Sperrwirkung erfasst würde. Es fragt sich aber: warum? Denn die Sperrwirkung verbietet eine erneute Beschäftigung mit demselben Gegenstand. In solchen Fällen gibt es eine erneute Beschäftigung deswegen nicht, weil es bereits eine Erste nicht gegeben hat. Derjenige, der nicht mehr für etwas verfolgt werden darf, das nicht Gegenstand des Erstverfahrens gewesen ist, steht genauso da wie derjenige, der sich nach einem Freispruch wegen einer im März 2012 begangenen Tötung beschwert, dass gegen ihn Anklage wegen eines im Oktober 2011 begangenen Betrugs erhoben wird. Diesem Interesse Gehör zu schenken, bedeutet die Institutionalisierung eines „Privilegs der Straflosigkeit“.1906 Man könnte darauf erwidern, dass das gerade formulierte Gegenbeispiel verdunkelnd sei. Meistens wird der beschuldigtenfreundliche inkongruent-dynamische Tatbegriff nicht mit voneinander entfernten Vorwürfen wie die vorgestellten zu tun haben. Man stelle sich als extremes Gegenbeispiel eine nicht selbständig strafbare Qualifikation vor, wie etwa Begehung in der Nachtzeit oder in der Öffentlichkeit. Man stelle sich ferner vor, dass das jeweilige Prozesssystem den Richter so sehr an die Anklage bindet, dass er nicht von selbst auf diese Qualifikation erkennen kann, falls sie nicht explizit von dem Ankläger angesprochen

1904 Aufschlussreich Büchner, Strafprozessuale Tat, S. 160, 167, der sich sogar auf den Wortlaut von Art. 103 Abs. 3 GG beruft, der nicht das Verbot aufgestellt hat, wegen derselben Tat „mehrmals zu verfolgen“. 1905 Dieser Gedanke, dass es eigentlich auf die Möglichkeit der Sachentscheidung und nicht auf ihre Aktualität ankommt, wird sich auch bei der Bestimmung der eine Sperrwirkung entfaltenden Entscheidungen ein Rolle spielen, ausf. u. Kap. 4 E. III. (S. 741 ff.), F. II. 4. (S. 800 ff.). 1906 Siehe auch F. Frank, Identität der Tat, S. 28.

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wird.1907 Hier wird das Gericht kein Urteil über die Qualifikation fällen können, weil die Staatsanwaltschaft diesbezüglich keine Anklage erhoben hat, nicht einmal implizit. Es erscheint aber intuitiv unbillig, dem Betroffenen deshalb ein zweites Verfahren zuzumuten, um die gewollte Ergänzung zu erreichen. Immerhin hatte es die Staatsanwaltschaft in der Hand, hier Anklage zu erheben, und alles in einem Zug zu erledigen. Mag sein. Mit Billigkeit hat aber die Sperrwirkung der materiellen Rechtskraft nichts zu tun; sie ist ein Recht des Verfolgten, das auf seiner Vorleistung beruht (o. Teil 1 Kap. 2 VI. 6. d) [S. 315 f.]). Für die Rechtskraft interessiert allein, ob ein erstes Verfahren durchgeführt worden ist. Und in dieser Hinsicht unterscheidet sich die Begehung in der Nachtzeit oder in der Öffentlichkeit in der Tat nicht von der Begehung eines Betrugs Monate vor der Begehung der Tat, die Gegenstand des Erstverfahrens war. Die Staatsanwaltschaft hätte auch in diesem Fall die Möglichkeit gehabt, alles wegen persönlichen Zusammenhangs in einem Verfahren zu verbinden (§§ 3, 4 StPO) bzw. ggf. Nachtragsanklage zu erheben (§ 266 StPO).1908 Damit hätte man aber den Tatbegriff und den Begriff der zusammenhängenden Straftaten vermengt. Die Sache ist eigentlich selbstverständlich: ohne Erstverfahren kein Zweitverfahren; wer zwei sagt, muss eins gesagt haben. Das heißt natürlich nicht, dass es die Grenzen staatlicher Macht (sondern wohl nur die Grenzen der Logik) überschreiten würde, wenn man sich im beschuldigtenfreundlichen Sinne dafür entscheidet, „erste Zweitverfolgungen“ ebenfalls zu verbieten. Ein Recht des Einzelnen darauf, keine erste Zweitverfolgung zu dulden, lässt sich aber bestenfalls als Billigkeitsmaßnahme,1909 nicht als Sache strengen Rechts begründen. Die Billigkeit hat aber im vorliegenden Zusammenhang ihren Preis; und es kann sein, dass gerade der Beschuldigte ihn wird bezahlen müssen. Man stelle sich vor, ein Prozessgesetz enthält sowohl eine Regel, die das Gericht stark an die Anklage bindet, als auch eine Rechtskraftregelung, die die Sperrwirkung auf Tatdimensionen erstreckt, von denen in der Anklage gar nicht die Rede gewesen ist. Tut der Gesetzgeber dies, dann entsteht im System eine Spannung, da alle an der Justiz beteiligten Personen intuitiv merken, dass Straffreiheit für nicht einmal angeklagte Taten ein intolerables Privileg ist, für das man keinen überzeugenden Grund anführen kann. Hier reicht die Feststellung aus, dass eine Spannung entsteht, die ihrerseits zu mehreren schädlichen Folgen führt. Zum einen wird der Staatsanwaltschaft die Aufgabe aufgebürdet, vor Anklageerhebung das ganze Leben des Betroffenen zu erforschen, um zu vermeiden, dass das Privileg der Straf1907 So in der Tat das italienische Recht, dem wir uns auch gleich näher zuwenden wollen (u. 3. a) [S. 493 ff.]). 1908 Vorausgesetzt natürlich, das Gericht ist sachlich zuständig, § 266 Abs. 1 HS. 2 StPO. 1909 Zum Begriff s. o. Kap. 1 A. I. (S. 52).

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losigkeit für erste Zweitverfolgungen eintritt. Der beschuldigtenfreundliche inkongruente Tatbegriff entfaltet paradoxerweise einen Druck, der den Staatsanwalt in die Rolle des früheren gemeinrechtlichen Untersuchungsrichters drängt, dessen Aufgabe es war, alle Straftaten eines bestimmten Täters zu untersuchen und „mit Aengstlichkeit das Vorleben des Angeschuldigten zu durchforschen“.1910 Zum anderen, und dies werden wir bei der Untersuchung der italienischen Rechtslage und inzwischen auch beim EuGH vorzüglich beobachten können, entsteht ein Druck, der dazu führt, dass Gerichte die Sperrwirkung durch Mogeltricks einzuengen versuchen, also entweder durch eine ad hoc Beschränkung der prozessualen Tat (so die italienische Cassazione, s. u. 3. A. [S. 493 ff.]) oder dadurch, dass das Vorliegen einer strafklageverbrauchenden Entscheidung ebenfalls ad hoc bestritten wird (so der EuGH, s. u. 4. b) [S. 507 f.]). Diese Spannungen sind ein starker Beleg dafür, dass es sich bei der Grundregel um einen archimedischen Punkt im o. Teil 1 Kap. 1 A. II. 1. (S. 59), C. (S. 112 f.) angesprochenen Sinne handelt, auf dessen Verkennung sofort mit verfehlten Kompensationsversuchen reagiert wird. d) Damit ist zugleich auch der schwächeren These, nach der die statische Natur des Tatbegriffs eine Ermessensentscheidung des Gesetzgebers ist, eine Absage erteilt worden. Die Identität zwischen angeklagter und abgeurteilter Tat, zwischen dem Gegenstand des Strafverfahrens und dem Gegenstand der Rechtskraft ist aus der Perspektive des strengen Rechts eine notwendige. Eine Zweitverfolgung kann nur verboten werden, wo es eine Erste gab. e) Es gibt aber eine weitere Schwierigkeit, die zwar erst in einem späteren Abschnitt geklärt werden kann (u. Kap. 4 E. III. 3. c) [S. 773 ff.]), aber bereits an dieser Stelle wenigstens erwähnt werden soll. Die These der dynamischen Beschaffenheit des Tatbegriffs hat vor allem zwei Bezugspunkte zum Gegenstand: den Zeitpunkt der Anklageerhebung auf der einen, den Zeitpunkt der Entstehung der Rechtskraft auf der anderen Seite. Hier wurde behauptet, dass es einen notwendigen Zusammenhang zwischen beiden Größen gibt, m. a. W.: Der Gegenstand der Anklage muss sich mit dem Gegenstand des Urteils decken. Das Verfahren beginnt aber nach der hier zugrunde liegenden Definition nicht erst mit der Anklageerhebung, sondern bereits mit den ersten gegen einen bestimmten Beschuldigten gerichteten Tätigkeiten – also mit dem, was o. Teil 1 Kap. 2 B. VI. (S. 131 ff.) als qualifizierte Verdächtigung bezeichnet worden ist. Gilt die These des statischen Charakters der prozessualen Tat auch für diese der Anklage vorausgehende Phase? Einen völlig statischen Tatbegriff, der vom Moment der Formulierung der ersten Verdächtigung durch den Ankläger bis zu dem richterlichen Sachurteil ein und denselben Gehalt aufweist, wird man nicht postulieren können. Dies nicht 1910

Siehe Glaser, Reform, S. 136.

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nur, weil sich der Ankläger in den Frühphasen des Verfahrens nicht immer darüber im Klaren sein kann, was er dem Betroffenen anlasten will. „Die Verfolgungsbehörde ist eben durchaus noch im Stadium des Suchens nach der Tat, die den Klagegegenstand abgeben kann“.1911 Der tiefere Grunde für diese „vage thematische Begrenzung“ 1912 ist, dass die einzige Möglichkeit, den Prozessgegenstand effektiv zu fixieren, in der Einführung der Arbeitsteilung liegt (s. o. B. III. 5. [S. 405 f.]). Solange das Verfahren in den Händen der Staatsanwaltschaft bleibt, macht es materiell einen nur geringen Unterschied, ob man von der Ausdehnung der Ermittlungen oder vom Anfangen neuer Ermittlungen spricht. Es erhöhen sich nur die Formalismen. Die letzte Klärung der Frage nach der Gestalt des Tatbegriffs im Vorverfahren kann aber erst später erfolgen (s. u. Kap. 4 E. III. 3. c) [S. 773 ff.]). f) Zusammenfassend ist daran festzuhalten, dass der in der Literatur gelegentlich vertretene „dynamisch-inkongruente Tatbegriff“, der die Grundregel der Entsprechung von Gegenstand der Anklage, des Verfahrens und des Urteils bzw. der Sperrwirkung durchbricht, in allen Spielarten abzulehnen ist. Die Reichweite der Verdächtigung muss in der Reichweite der Rehabilitierung (bzw. der Schuldtilgung) ihre Entsprechung finden. Nur ein insofern „statisch-kongruenter“ Tatbegriff entspricht den Anforderungen der Rechtskraftlehre. Er respektiert einerseits das Rehabilitierungsrecht des Verfolgten, andererseits führt er nicht zur Widersinnigkeit, ein zweites Verfahren für unzulässig zu erklären, wo es nicht einmal ein Erstes gegeben hat. Wenn man in beschuldigtenfreundlicher Absicht „erste Zweitverfolgungen“ verbietet, entstehen Spannungen, die zu belegen scheinen, dass an der Grundregel und ihrem statischen Charakter nicht gerüttelt werden sollte. 2. Fragestellung an die Geschworenen; die Kontroverse über das idem factum oder idem crimen Vielfach wurde das Problem der Bestimmung des Gegenstands des Strafverfahrens mit der in einigen Ländern, insbesondere Frankreich, vorhandenen Fragenstellung an die Geschworenen in Verbindung gesetzt. Ein Großteil der Geschichte der französischen Kontroversen über den Verfahrensgegenstand beruht gerade auf solchen Zusammenhängen;1913 diese Kontroversen sind im 19. Jahr1911 Oetker, GS 99 (1930), S. 243 (Zitat); Souto de Moura, Objecto do processo, S. 22; s. a. Birklbauer, Prozessgegenstand, S. 28 f. 1912 Rieß, FS Schäfer, S. 208. 1913 Vgl. die Darstellungen in Grattier, Code d’instruction criminelle, S. 239 f.; Hélie, Traité III, S. 595 ff.; Hommey, Chose jugée, S. 52 ff.; Hirtz, Chose jugée, S. 238 ff.; Mariano, Chose jugée, S. 128 ff. (mit differenzierender, äußerst gekünstelter Stellungnahme); Esmein, Histoire, S. 571 f.; Bouzat/Pinatel, Traité II, Rn. 1538, S. 1479 ff.; Verdier, JCP II 1954, Nr. 8272 I b; Gassin, RSC 1963, S. 271 ff., der hinter der Lehre vom idem crimen einen Einfluss des Zivilrechts, nämlich von Art. 1351 Code Civil (hierzu o. B. IV. 1. [S. 409 f.]) vermutet, der ein Ausfluss der von ihm behaupte-

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hundert nach Deutschland übertragen worden und haben hierzulande zum Streit geführt, ob es bei der Bestimmung der strafprozessualen Tatidentität auf einen „fait qualifié“ bzw. idem delictum oder auf einen „fait materiel“ bzw. idem factum ankomme.1914 Heute wird die europa- und völkerstrafrechtliche Diskussion unter dem Blickwinkel dieser Dichotomie geführt.1915 An einem Beispiel: Am Ende der Verhandlung fragt der Vorsitzende die Geschworenen, ob der Angeklagte der vorsätzlichen Tötung schuldig zu sprechen sei. Die conviction intime der Geschworenen ist, dass eine Tötung stattgefunden habe. Bezüglich des Vorsatzes erscheint ihnen die Sache aber zweifelhaft. Die Geschworenen dürfen aber nicht wegen fahrlässiger Tötung schuldig sprechen, denn ihr Spruch darf sich nur auf die gestellte Frage beziehen, also auf Verurteilung oder Freispruch wegen vorsätzlicher Tötung ergehen; sie sprechen deshalb frei. In solchen Konstellationen ist es nachvollziehbar (wenn auch nicht richtig, wie im Folgenden dargelegt werden soll), dass sich die Cour de Cassation bemüht hat, die Reichweite des Strafklageverbrauchs auf die vorsätzliche Tötung zu beschränken und eine neue Anklage wegen fahrlässiger Tötung zuzulassen. Rechtsdogmatisch wurde dies von der Cassation mit einer Auslegung des Art. 360 des Code d’Instruction Criminelle v. 18081916 begründet, nach der die Tat, fait, keine natürliche, sondern eine rechtlich qualifizierte Tat sei, so dass es für die Tatidentität auf einen idem crimen ankam. Vorsätzliche und fahrlässige Tötungen seinen verschiedene Straftaten; ein Freispruch wegen Ersterer stehe deshalb einer Verfolgung der Zweiten nicht entgegen. Man berief sich auf die Regel, nach der es nur ein Recht, aber keine Pflicht des Vorsitzenden gab, die Jury über alle möglichen Gesichtspunkte zu befragen. Die Pflicht, Fragen zu stel-

ten Vermengung der seines Erachtens wesensverschiedenen Rechtsinstitute des ne bis in idem und der Rechtskraft (s. o. Fn. 1323) sei; Najarian, Chose jugée, S. 128 ff.; Décima, Identité des faits, S. 32 ff., 51 ff. (m.w. Nachw. S. 35 Fn. 200); Pradel, Procédure penal, Rn. 1033 ff. Dazu aus nicht französischer Sicht Correia, Caso julgado, S. 370 f. Fn. 3; Grebing, Wiederaufnahme, S. 306 f.; Neuhaus, Tatbegriff, S. 31 f.; Kniebühler, Ne bis in idem, S. 107 f. 1914 Mittermaier, NArchCrimR 1850, S. 498 ff.; Berner, GA 1855, S. 493 f.; Schwarze, NArchCrimR 1851, S. 574 ff.; ders. GS 25 (1873), S. 400 ff.; Küßner, GA 1855, S. 200 f.; Zachariä, Handbuch II, S. 666 ff.; Heffter, Non bis in idem, S. 24 f.; Glaser, Non bis in idem, S. 625 ff.; Borgmann, Identität der That, S. 27 ff., 30 ff. (mit Darstellung der einzelnen Partikularrechte und insb. der preußischen Entwicklung bis zur RStPO, S. 37); Barbarino, Rechtskraft, S. 97 f.; Schwinge, ZStW 52 (1932), S. 212 ff.; Oehler, FS Rosenfeld, S. 145; Nagler, ZAkdR 6 (1939), S. 374; Spinellis, Rechtskraft, S. 137 ff.; Noftz, Prozeßgegenstand, S. 20 f.; Tiedemann, Entwicklungstendenzen, S. 32 ff.; Grünewald, ZStW 120 (2008), S. 559 f. 1915 Etwa Thienel/Hauenschild, JBl 2004, S. 73 f.; Kniebühler, Ne bis in idem, S. 105 ff.; Scheschonka, Ne bis in idem, S. 224 f.; zu den Stellungnahmen der zwei europarechtlichen Gerichte u. 4. b) (S. 503 ff.) m. N. 1916 „Toute personne aquittée légalement, ne pourra plus être réprise ni accusé à raison du même fait“, nach Grattier, Code d’instruction criminelle, S. 239.

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len, bezog sich allein auf die Gesichtspunkte, die in der Anklageschrift enthalten waren (Art. 337 franzStPO v. 1808).1917 In einer grundlegenden Entscheidung der Cour de Cassation (v. 25.11.1841) ging es um eine wegen Kindstötung freigesprochene Frau, die später wegen fahrlässiger Tötung angeklagt wurde.1918 Das Gericht meinte, der Jury seien keine Fragen über die fahrlässige Tötung gestellt worden, so dass Art. 360 keinem neuen Verfahren entgegenstehe. In anderen Entscheidungen meinte die Cour de Cassation, ein Freispruch wegen sexueller Nötigung (attentat à la pudeur) stehe einer Verfolgung wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses durch unzüchtige Handlungen (outrage public à la pudeur) nicht entgegen, denn das nur der letzten Strafvorschrift zukommende Merkmal der Öffentlichkeit begründe eine unterschiedliche Tat.1919 Diese Linie wurde in einer Reihe weiterer Entscheidungen fortgesetzt.1920 Auch in Deutschland war insbesondere noch vor dem Inkrafttreten der RStPO und vor den ersten reichsgerichtlichen Entscheidungen eine Tendenz vorhanden, diesem Weg zu folgen. In diesem Sinne erging eine wichtige Entscheidung des Preußischen Obertribunals,1921 und auch in der Literatur hatte diese Ansicht namhafte Vertreter.1922 Überwiegend stimmte man aber der Lehre des idem factum zu; als Argument führte man unter anderem an, dass die Fragestellung in Deutschland alle Gesichtspunkte zu erfassen habe und dass gegebenenfalls sog. „subsidiäre Fragen“ gestellt werden müssten.1923 Dieses Argument war nicht bloß auf das Schwurgerichtsverfahren beschränkt, sondern wurde als Ausfluss eines Rechtsprinzips gedeutet, das für alle Strafverfahren Geltung beanspruchte, und das allein beim Geschworenengericht, wegen der Trennung der Aufgaben 1917 Hierzu Mittermaier, NArchCrimR 1850, S. 507 f.; Hirtz, Chose jugée, S. 247, 252; Gavalda, JCP (1957 I) 1372 Rn. 18; Décima, Identité des faits, S. 32 f.; Pradel, Procédure penal, Rn. 1033. Krit. zu dem Argument, das er als „spitzfindig“ qualifiziert, Oehler, FS Rosenfeld, S. 145. 1918 Nachw. bei Gavalda, JCP I 1957, Nr. 1372 Rn. 18; Décima, Identité des faits, S. 33 f.; w. Nachw. zu früheren Entscheidungen bei Décima, Identité des faits, S. 34 Fn. 193. Krit. Oehler, FS Rosenfeld, S. 145: „Machtstaat“. 1919 Siehe Verdier, JCP II 1954, Nr. 8272 III A b, m. Nachw. 1920 Nachw. bei Griolet, Chose jugée, S. 267 ff.; Décima, Identité des faits, S. 34 f. Es gab freilich auch Entscheidungen im genau entgegengesetzten Sinn, wie Cassation Criminelle D. 1949, 514. 1921 Entscheidungen des Preußischen Obertribunals 23 (1852), 230 ff.; w. N. b. Noftz, Prozeßgegenstand, S. 24 f.; and. schon Preußisches Obertribunal GA 1855, 822; 1858, 114 (115 f.); GA 1859, 546 (548 f.); GA 1866, 120 (121). 1922 Etwa Küßner, GA 1855, S. 206 f.; Ortloff, GA 1878, S. 188. 1923 Mittermaier, NArchCrimR 1850, S. 515 f.; Schwarze, NArchCrimR 1851, S. 575 ff.; ders. GS 25 (1873), S. 405 f.; Goltdammer, GA 1854, S. 786, 789; Hasenbalg, Öffentliche Klage, S. 134; Glaser, Non bis in idem, S. 633 ff.; kurz auch ders. GrünhutsZ 12 (1885), S. 325 f. Auch in Frankreich wurde dieses Argument gegen die Cassation angeführt, s. Hélie, Traité III, S. 603 ff.; Hirtz, Chose jugée, S. 262. Aus der Rspr. Preußisches Obertribunal GA 1858, 114 (116); 1859, 546 (548); kritisch hierzu Waser, GS 3/2 (1851), S. 374 Fn.

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zwischen Berufs- und Laienrichtern, äußerlich sichtbar wurde.1924 Dem schloss sich das Reichsgericht bereits in einer frühen Entscheidung an.1925 Inzwischen ist in Deutschland die Lehre vom idem crimen weitgehend in Vergessenheit geraten; nur die Bücher über einen internationalen Strafklageverbrauch greifen diese Diskussion erneut auf,1926 regelmäßig unter unzureichender Berücksichtigung ihres Zusammenhangs mit der Jury-Frage und dem Anklageprinzip. In Frankreich scheint man sich von der Lehre des idem crimen wenigstens dem Gesetze nach verabschiedet zu haben. Nachdem die Pflicht des Vorsitzenden, subsidiäre Fragen an die Jury zu stellen, 1941 eingeführt wurde (Art. 339 franzStPO v. 1808),1927 entschied die Cassation 1956 im Fall Chevalot, dass ein schwurgerichtlicher Freispruch wegen Totschlags (homicide volontaire) und Körperverletzung mit Todesfolge einer erneuten Verfolgung wegen fahrlässiger Tötung entgegenstehe, weil es Pflicht des Vorsitzenden gewesen sei, der Jury auch hinsichtlich dieser Vorschrift eine Frage zu stellen.1928 Seit 1958 erhielt die Bestimmung des Art. 360 franzStPO v. 1808 die Neufassung, die sie auch heute in der aktuellen franzStPO (Art. 368) noch hat: „Aucune personne acquittée légalement ne peut plus être reprise ou accusée à raison des mêmes faits, même sous une qualification différente.“ Weil sich diese Vorschrift aber in einem Abschnitt des Gesetzbuchs befindet, der das Verfahren vor dem Schwurgericht regelt, also das Verfahren wegen Verbrechen, haben viele weiter vertreten, dass sie auf Entscheidungen des sog. tribunal correctionnel, also auf Verfahren wegen Vergehen nicht anwendbar sei,1929 was aber von der Cassation bald im entgegengesetzten Sinne geklärt worden ist, mit der Begründung, dass auch dieses Gericht verpflichtet sei, die rechtliche Bewertung der Tatsachen in alle Richtungen zu prüfen.1930 Dennoch ergingen bis vor nicht allzu langer Zeit viele Entscheidungen der Cassation, wenn auch nicht buchstäblich, so doch wenigstens im Geiste nach der Lehre vom fait qualifié. So wurde im 1954 entschiedenen sog. Thibaud-Fall ein Beschuldigter, der bereits wegen des Vergehens der fahrlässigen Tötung einer 1924

So am klarsten Hasenbalg, Öffentliche Klage, S. 135 f. RGSt 3, 132 (132 f.); ebenso RGSt 7, 355 (357). 1926 Siehe oben Fn. 1915. 1927 Darauf berufen sich Donnedieu de Vabres, D. 1949, S. 515; Verdier, JCP II 1954, Nr. 8272 I b; Gavalda, JCP I 1957, Nr. 1372 Rn. 19; Pradel, Procédure penal, Rn. 1033. Im 19. Jahrhundert beriefen sich aber viele auf die Befugnis und meinten (richtigerweise), bereits diese bezeuge, dass die prozessuale Tat auch andere juristische Einordnungen zu erfassen habe, s. Griolet, Chose jugée, S. 265 f. 1928 Cassation Criminelle, JCP II 1956, 9251; zust. Gavalda, JCP (1957 I) Nr. 1372 Rn. 19; Gassin, RSC 1963, S. 273 f.; Dekeuwer, RSC 1974, S. 515. 1929 So Bouzat, RSC 1964, S. 359 ff.; ders. JCP II 1966, Nr. 14725; Bouzat/Pinatel, Traité II, S. 1481; Dekeuwer, RSC 1974, S. 515; abl. Daskalakis, Unité et pluralité, S. 418; Seerloten, RSC 1973, S. 76 f. 1930 Cassation Criminelle, JCP II 1966, Nr. 14725. 1925

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Frau verurteilt worden war, die während ihres Schlafs in Brand gesetzt wurde, in einem zweiten Verfahren wegen des Verbrechens des Mordes an der Frau verurteilt.1931 Zwar begnügt sich die Entscheidung nicht damit, die unterschiedlichen Merkmale der gesetzlichen Tatbestände einander gegenüberzustellen, sondern führt zusätzlich als Begründung an, dass die fahrlässige Handlung, „sich dem Bett seiner Ehefrau mit einer in schlechtem Zustand befindlichen Lampe anzunähern, deren Flamme nicht abgeschirmt war“, faktisch nicht dieselbe sei wie die des „Schüttens einer entzündbaren Flüssigkeit auf die Haare seiner Ehefrau und (des) anschließenden Inbrandsetzens dieser Flüssigkeit“.1932 Im später entschiedenen Laurent-Fall, in dem es auch um die erneute Verfolgung wegen Totschlags nach einer Erstverurteilung wegen fahrlässiger Tötung ging, fehlt aber eine vergleichbare Passage: Es werden nur die bereits in der Thibaud-Entscheidung vorhandenen Sätze wiederholt, dass vorsätzliche und fahrlässige Tötung „zwei unterschiedliche Zuwiderhandlungen (infractions) sind, sowohl in ihren tatsächlichen als auch in ihren rechtlichen Merkmalen“.1933 Ähnliche Entscheidungen sind noch bis in die 90er Jahre gefällt worden.1934 Inwiefern die Lehre vom idem crimen tatsächlich der Vergangenheit angehört, vermag ich nicht zu beurteilen.1935

1931 Cassation Criminelle JCP II 1954, Nr. 8272; hierzu Décima, Identité des faits, S. 77 f.; zust. Verdier, JCP II 1954, Nr. 8272 III A a; Gavalda, JCP I 1957, Nr. 1372 Rn. 32, 32 bis; Bouzat/Pinatel, Traité II, S. 1478; Dekeuwer, RSC 1974, S. 515; Pradel, Procédure penal, Rn. 1036; Guinchard/Buisson, Procédure penale, Rn. 1426. 1932 Cassation Criminelle JCP II 1954, Nr. 8272; dieser Begründung zust. Verdier, JCP II 1954, Nr. 8272 III A a; Gavalda, JCP I 1957, Nr. 1372 Rn. 32, 32 bis; Pradel, Procédure penal, Rn. 1036; für Larguier, JCP II 1959, Nr. 11323, I B c, liegt der Unterschied ebenfalls in einer Tatsache, aber in einer subjektiven, nämlich in der verschiedenen Schuldform; nach Guinchard/Buisson, Procédure penale, Rn. 1426 geht es um „neue Umstände (éléments) . . ., die den bereits abgeurteilten Tatsachen (faits) eine andere Färbung (coloration) und einen anderen Inhalt (contenu) verleihen“, also wohl bloß um eine neue Wertung. 1933 Cassation Criminelle JCP II 1985, Nr. 20385; hierzu Jeandidier, ebda. (abl.); Doucet, GP 1983, S. 673; Décima, Identité des faits, S. 80; Pradel, Procédure penal, Rn. 1036 (S. 950 Fn. 2, zust.). Vgl. a. den sog. Fall des kontaminierten Bluts, Cassation Criminelle JCP II, 1994, Nr. 22310 und dazu Décima, Identité des faits, S. 82; Pradel, Procédure penal, Rn. 1036 (S. 950 Fn. 2). 1934 Zum Ganzen noch Pradel, Procédure penal, Rn. 1036; w. Nachw. b. Décima, Identité des faits, S. 82 ff. 1935 Nach dem Urteil von Décima, Identité des faits, S. 36 wirkt sie immer noch nach; s. a. die in Pradel, Procédure penal, Rn. 1033 Fn. 3 angeführten Nachw. Auch in Belgien hat sich die Diskussion über den Tatbegriff weitgehend unter diesen Gesichtspunkten entwickelt. Das Auslegungsgesetz von 1850 veränderte Art. 360 des zu der Zeit geltenden Code de procédure pénale: Die Rechtskraft sollte sich nur auf die Tat „tel qu’il est qualifié“ beziehen, nicht auf andere mögliche rechtlichenEinordnungen (Décima, Identité des faits, S. 32 Fn. 180; s. a. Correia, Caso julgado, S. 372 Fn.; ausf. Kniebühler, Ne bis in idem, S. 37 ff.). Diese fragwürdige Rechtslage, die dem Betroffenen letztlich sein Rehabilitierungsrecht teilweise aberkennt, wurde aber 1981 durch die Bestimmung behoben, dass die rechtliche Qualifikation für die Rechtskraft nicht entscheidend sei (Kniebühler, Ne bis in idem, S. 40).

2. Kap.: Der Begriff der strafprozessualen Tat

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Wer traditionell nationalstaatlich orientierte Strafprozessdogmatik betreibt (s. o. Teil 1 Kap. 1 A. I. [S. 41 ff.]), darf achselzuckend darauf hinweisen, dass er die erwähnten Probleme nicht lösen müsse, denn vom deutschen Boden ist die Fragestellung zusammen mit der 1924 erfolgten Abschaffung der Schwurgerichte verschwunden. Unsere universell orientierte Perspektive wird sich aber mit dem Hinweis nicht zufriedengeben können. Sie wird sich ein anspruchsvolleres und deshalb auch gewagteres Urteil nicht ersparen, zumal es darum geht, den Status der Grundregel als verbindlichen archimedischen Punkt zur Bestimmung des Tatbegriffs zu erhärten. Zum einen sollte man dem Anliegen der Fragestellung Verständnis entgegenbringen: Sie soll einer Gruppe von Laien mit im Idealfall durchschnittlicher Intelligenz und Gedächtnis den Gegenstand ihres Spruchs deutlich vor Augen halten. Zugleich muss man aber merken, dass das eigentliche Problem gerade in der Übertragung der Entscheidungsfindung an eine Gruppe von Laien bestenfalls durchschnittlicher Intelligenz und Gedächtnis liegt. Das Schwurgericht erweist sich, wie bereits eingangs gesagt (o. Teil 1 Kap. 1 A. I. [S. 52 ff.]), gegen jeden Versuch einer wissenschaftlichen Rekonstruktion resistent. Die Fragestellung ist ein Folgeproblem, das deshalb entsteht, weil die französischen Reformer auf der einen Seite zu scharfsinnig waren, die Probleme der angelsächsischen Jury zu übersehen, die eine Fragestellung nicht kennt, auf der anderen Seite von den politischen Verheißungen dieses Instituts zu verblendet waren, um von ihm den an sich gebotenen Abstand zu halten. Das Ergebnis waren endlose Kontroversen über die genaue Gestalt dieser der Jury zu stellenden Fragen,1936 so dass kein Geringerer als Binding mit seiner üblichen Diplomatie die Fragestellung als „gerade greulichen Akt“ 1937 und als „unheilbares Krebsgeschwür“ 1938 bezeichnete. Die Unzulänglichkeit der Koppelung von Tatbegriff und Fragestellung beruht aber, wie angedeutet, auf tieferen Gründen, die von Binding meisterhaft in einem Satz zusammengefasst worden sind: „Wer die einzige bedeutende Frage an das Strafgericht zu stellen hat, ist – der Ankläger und er allein“.1939 Die Fragestellung mündet in ein Trilemma. Entweder wiederholt die Fragestellung die Anklage; dann ist sie überflüssig. Oder sie schränkt die Anklage ein; in diesem Fall stellt sie eigentlich ein erstes Teilurteil dar, das gewisse Dimensionen der Verdächtigung stillschweigend zurückweist1940 bzw. (noch schlimmer und nach der 1936 Vgl. probeweise die Abhandlung von Burchardi, GA 1853, S. 583 ff.; v. Bar, Recht und Beweis, S. 179 ff.; und Glaser, Fragenstellung, passim. 1937 Binding, Drei Grundfragen, S. 118. 1938 Binding, Drei Grundfragen, S. 82. 1939 Binding, Drei Grundfragen, S. 114 f. Ebenso heute Schünemann, FS Geppert, S. 656. 1940 Binding, Drei Grundfragen, S. 117.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Lehre vom idem crimen) stillschweigend einstellt, ähnlich dem früher gekannten Vorbehalt einer anderweitigen Verfolgung (s. u. VIII. [S. 540 f.]). Oder die Fragestellung weitet die Anklage aus, womit sie in die fragwürdige Nähe einer neuen Anklage rückt. Es leuchtet ein, dass die Fragestellung den Gegenstand des Verfahrens nicht mitbestimmen darf,1941 weil dieser Gegenstand bereits von der Anklage bestimmt worden ist, und weil über diesen Gegenstand bereits eine Hauptverhandlung stattgefunden hat. Es kann nicht sein, dass der Vorsitzende am Ende der Verhandlung durch die Stellung oder Nichtstellung von Fragen über die Reichweite des Prozessgegenstands disponieren kann.1942 Entscheidend für die Reichweite der prozessualen Tat kann deshalb nicht erst die Fragestellung, sondern ihre Möglichkeit sein, d.h. der Umstand, dass die Anklage das Gericht bereits in die Lage versetzte, selbständig, ohne einen zusätzlichen Impuls durch den Ankläger, ein Sachurteil eines bestimmten Inhalts zu fällen. Damit entpuppt sich auch die Diskussion über ein idem factum oder idem crimen als ein an der Oberfläche der Sachfrage verbleibendes Scheinproblem. Man kann sich nicht unvermittelt durch Wortlautauslegung1943 oder, fast genauso schlimm, aus fehlplatzierten Vorstellungen des Beschuldigtenschutzes für ein idem factum1944 oder aus vermeintlichen Bestrafungsbedürfnissen heraus für ein idem crimen aussprechen.1945 Denn eigentlich bestimmt darüber, ob idem factum oder idem crimen gilt, allein das Anklageprinzip, in seiner konkreten, eher inquisitorisch oder akkusatorisch ausgerichteten Gestalt. Die Gegenstände, über die von einer zum Gericht gehörenden Person Fragen gestellt werden durften, werden sämtlich von der richterlichen Kognition erfasst und müssen deshalb angeklagt worden sein; eine nachträgliche Einschränkung der Rechtskraft mit dem Argument des idem crimen ist eigentlich eine weitere Instanz des dynamischinkongruenten Tatbegriffs, der das Rehabilitierungsrecht des einmal Verfolgten missachtet. „Es kommt darauf an, ob die prozessualischen Einrichtungen der Art sind, daß man annehmen darf, die That werde bei ihrer einmaligen prozessualischen Verhandlung aus allen strafrechtlichen Gesichtspunkten beurtheilt werden.“ 1946 Diese Diskussion ist ein Versuch, ein mit der gesamten Prozessstruktur 1941

Im Erg. bereits Mittermaier, NArchCrimR 1850, S. 514 ff. Richtig Hommey, Chose jugée, S. 59. 1943 So aber Mittermaier, NArchCrimR 1850, S. 508 f. 1944 In diesem Sinne aber Mittermaier, NArchCrimR 1850, S. 509 f. (um ihm keine Ungerechtigkeit anzutun: Er führt ein weiteres, anschlussfähiges Argument an, nämlich dass die Tat vor der Fragestellung nach allen Gesichtspunkten geprüft werden müsse [S. 510 f.]); Hirtz, Chose jugée, S. 261; Sesta, GiustPen 1977, Sp. 185 f.; Gómez Colomer, Derecho jurisdicional III, S. 103 f. 1945 So aber Bouzat/Pinatel, Traité II, S. 1480; tendenziell Nagler, ZAkdR 6 (1939), S. 374. 1946 Berner, GA 1855, S. 493. 1942

2. Kap.: Der Begriff der strafprozessualen Tat

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innigst verflochtenes Problem zu einer Frage der Auslegung von Worten zu degradieren. 3. Strukturblinde Wortlautexegese Deutschland befand sich wie bemerkt (o. III. [S. 474 f.]) in der glücklichen Position, über keine den Strafklageverbrauch regelnde Vorschrift zu verfügen, sondern nur über eine, die die Kognitionspflicht zum Gegenstand hatte (§ 264 StPO). Sobald eine Vorschrift über den Strafklageverbrauch vorhanden ist, scheint automatisch die Gefahr zu entstehen, dass die gerade diagnostizierte Problemverkürzung eintritt. Das lässt sich am klarsten am Beispiel von Italien und den USA zeigen; aber auch die im nächsten Abschnitt zu behandelnden „autonomen“ Tatbegriffe des Verfassungs- und Europarechts leiden an demselben Grundproblem (u. 4. [S. 502 ff.]). a) Die italienische Diskussion Die Rechtslage in Italien1947 lässt sich am einfachsten dadurch charakterisieren, dass es zwei unverbundene Regelungssysteme gibt, einerseits solche, die die Klageumgestaltung regeln (insb. Art. 521 itStPO; Art. 477 itStPO v. 1930), andererseits die Regel über den Strafklageverbrauch (Art. 649 Abs. 1 itStPO; Art. 90 itStPO v. 1930). Sehr grob lässt sich der erste Regelkomplex dadurch charakterisieren, dass dem Gericht nahezu volle Freiheit verliehen wird, die Tat rechtlich anders zu bewerten als die Anklage (Art. 521 Abs. 1 StPO); in faktischer Hinsicht ist es aber streng an die Darstellungen der Anklage gebunden (Art. 521 Abs. 2 StPO). Modifikationen dürfen nur durch die Staatsanwaltschaft erfolgen (Art. 516 ff. itStPO). Wenn sich zum Beispiel erst im Laufe der Hauptverhandlung ergibt, dass Qualifikationen verwirklicht sind, darf das Gericht nicht schon aus eigener Initiative wegen der Qualifikation verurteilen;1948 vielmehr muss dies von der Staatsanwaltschaft beantragt werden (Art. 517 itStPO). Beim Strafklageverbrauch dagegen bestimmt die zentrale Vorschrift, dass der Freigesprochene bzw. Verurteilte nicht wegen derselben Tat (medesimo fatto) erneut verfolgt werden darf, und dies „auch dann nicht, wenn sie hinsichtlich ihrer Einordnung (titolo), Grad (grado) oder Umstände (circostanze) unterschiedlich bewertet (considerato) werden“ (Art. 649 Abs. 1 itStPO). Das bedeutet, dass auch dann, wenn der Staatsanwalt den Antrag wegen des sich erst in der Hauptverhandlung herausstellenden Mordmerkmals nicht stellt, und der Richter deshalb nicht einmal die Möglichkeit hat, ein Sachurteil wegen Mords auszusprechen, eine erneute Verfolgung des Mords unmöglich ist, weil Qualifikationen zu den „Umständen“ i. S. v. Art. 649 Abs. 1 itStPO gerechnet werden.1949 1947 1948 1949

Äußerst unzulängliche Darstellung in Hußung, Tatbegriff, S. 75 f. Bereits Bettiol, Correlazione, S. 60. Statt aller Chiavario, Diritto processuale penale, S. 677.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Die zwei Regelungskomplexe, die schon im Gesetz räumlich getrennt sind und die tatsächlich, wie am gerade gesehenen Beispiel ersichtlich, nicht eins-zu-eins aufeinander abgestimmt sind, werden deshalb getrennt voneinander interpretiert;1950 allgemein geht man davon aus, dass ihnen unterschiedliche rationes zugrunde liegen.1951 Obwohl zwei der wichtigsten und einflussreichsten Monografien der Nachkriegszeit, von De Luca und von La Rocca, an der Korrespondenz von Gegenstand des Prozesses und Gegenstand der Rechtskraft1952 bzw. zwischen den Regelungen über das Verhältnis von Anklage und Urteil und der Reichweite der materiellen Rechtskraft1953 festhielten, denkt man überwiegend, dass sich Gegenstand der Rechtskraft und Gegenstand des Verfahrens nicht decken.1954 Grundsätzlich soll die Rechtskraft mehr erfassen als den Gegenstand des Verfahrens.1955 Der positivrechtlich vorgegebene italienische Tatbegriff scheint also die Grundregel herauszufordern; er ist eine Spielart des beschuldigtenfreundlich orientierten inkongruent-dynamischen Tatbegriffs. So wenigstens in der Theorie. Wenn man sich der Diskussion etwas annähert, merkt man, dass auf der einen Seite versucht wird, Brücken zwischen beiden Regelungskomplexen zu bauen; und dass auf der anderen Seite die Rechtsprechung seit Jahrzehnten eine so schockierende wie unbesorgte Missachtung des unmissverständlichen Gesetzestexts praktiziert, die sich nur als Bestätigung der aus dem beschuldigtenfreundlich orientierten inkongruent-dynamischen Tatbegriff ausgehenden Spannung deuten lässt (s. o. 1. [S. 484 ff.]). Die Brücken merkt man sofort. Wie gesagt, kennt das Gesetz die Befugnis des Gerichts, die Tat rechtlich anders einzuordnen, solange es seine Zuständigkeit nicht überschreitet (Art. 521 Abs. 1 itStPO). Es wird häufig betont, dass dies die Grundlage für die Irrelevanz der Änderung der rechtlichen Einordnung für den Strafklageverbrauch (Art. 649 Abs. 1 itStPO, „titolo“) biete.1956

1950

Pagliaro, Enc. Dir. XVI (1967), S. 962 f., 964 f. Lozzi, Ne bis in idem, S. 41 ff.; Lucarelli, Giudicato, S. 104 f.; Tonini, Manuale, S. 918 Fn. 5; ebenso Rivello, RitDPP 1991, S. 488. 1952 De Luca, Limiti soggettivi, S. 175 ff. 1953 La Rocca, Fatto, S. 101. – Siehe auch noch im 19. Jahrhundert Tuozzi, Giudicato penale, S. 12 f., mit klarer Bekenntnis zur Grunderegel. 1954 Bettiol, Correlazione, S. 40 ff.; Angioni, RevPen 1954, S. 521; Pagliaro, Enc. Dir. XVI (1967), S. 964; Guarneri, NovDigIt XV (1968), S. 231; Lozzi, EncDir XVIII (1969), S. 921; ders. Ne bis in idem, S. 6 ff. (ausführlicheres Argument, das aber Prozessgegenstand und Prozessstoff [s. o. A. I. (S. 379 ff.)] miteinander verwechselt, und am Ende [S. 37 f.] wohl doch eine Übereinstimmung von richtig verstandenem Prozessgegenstand und Gegenstand der Rechtskraft postuliert); ders. Lezioni, S. 791; Mancuso, Giudicato, S. 93; dem folgend aus brasilianischer Sicht Badaró, Correlação, S. 134 ff. 1955 Bettiol, Correlazione, S. 66; Pagliaro, Enc. Dir. XVI (1967), S. 964. And., fast im Sinne unserer Grundregel, Galati, RitDPP 1965, S. 840 ff. 1956 Bemerkt von Giovene, DPP V (1991), S. 428; Illuminati, Giudizio, S. 825; Mancuso, Giudicato, S. 445; abl. Tonini, Manuale, S. 918 Fn. 5. 1951

2. Kap.: Der Begriff der strafprozessualen Tat

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Das Problem sind aber die Spannungen, die in einer unklaren,1957 das Gesetz eigentlich missachtenden1958 Rechtsprechung ihren Niederschlag gefunden haben. Das Gesetz spricht eine klare Sprache: Auf die rechtliche Einordnung komme es nicht an.1959 Dies hätte an sich zu bedeuten, dass es in Italien die Diskussion über den idem factum oder idem crimen (s. o. 2. [S. 486 ff.]) nicht geben könnte, da sich der Gesetzgeber bereits im Sinne eines faktischen Tatbegriffs entschieden hat. Die Cassazione wiederholt indes in ständiger Rechtsprechung, dass medesimo fatto i. S. d. Art. 649 Abs. 1 StPO eine Identität der drei Merkmale Handlung, Erfolg und Kausalzusammenhang erfordert.1960 In den wenigen Entscheidungen, die hierfür eine Begründung bieten, heißt es, es gebe so etwas wie einen für das gesamte Strafrecht einheitlichen Begriff des fatto, und dass der fatto des materiellen Strafrechts ebenfalls aus diesen drei Elementen bestehe1961 – eine auf Deutsch erst recht unverhüllbare quaternio terminorum, weil das Wort fatto auf Italienisch sowohl im Sinne von Tat als auch von Sachverhalt und vor allem von (objektivem) Straftatbestand verwendet wird.1962 Daraus wird etwa gefolgert, dass keine Tatidentität zwischen fahrlässiger Körperverletzung und fahrlässiger Tötung derselben Person bestehe, weil der Erfolg ein anderer sei.1963 Bedeutet Tat hier Straftatbestand, dann hat sich die Rechtsprechung im Ergebnis für das idem crimen und gegen die Bestimmung von Art. 649 Abs. 1 StPO entschieden.1964 Dies erkennt man am deutlichsten an der Behandlung der Idealkonkurrenz: Es wird schlicht behauptet, dass es sich bei idealkonkurrierenden Straftaten immer um unterschiedliche Taten i. S. des Art. 649 Abs. 1 StPO handle.1965 Auf 1957

Giovene, DPP V (1991), S. 428; Jannelli, Cosa giudicata, S. 628. Lozzi, Enc. Dir. XVIII (1969), S. 922; ders. Ne bis in idem, S. 53 f.; Bellora, RitDPP 1990, S. 1641: „interpretatio abrogans“; Jannelli, Cosa giudicata, S. 629; Lucarelli, Giudicato, S. 118 (der Bellora zust. zitiert). 1959 Lozzi, Enc. Dir. XVIII (1969), S. 921; Cristiani, Revisione, S. 67; Rivello, RitDPP 1991, S. 488; Callari, Firmitas, S. 136; Mancuso, Giudicato, S. 444. 1960 Cassazione Penale RitDPP 1981, 1236 (1248); CassPen 1981, 233; CassPen 1986, 1965; CassPen 1989, 564; RitDPP 1990, 1626 (1631); CassPen 2001, 2728; 2002, 2416; 2006, 28 (29) (Sezioni Unite); 2006, 1505; 2011, 1845 (1846); in Cassazione Penale GiustPen 1951, 336 war nur von Handlung und Erfolg die Rede. Weitere Nachw. in Mancuso, Giudicato, S. 443 Fn. 16. Ebenso Guarneri, NovDigIt XV (1968), S. 231 – der wenige Zeilen nach dem Beispiel eines Bombenwurfs mit mehreren Opfern, der verschiedene prozessuale Taten verkörpern soll (S. 231), behauptet, dass idealkonkurrierende Straftaten von der Rechtskraft erfasst werden (S. 232). 1961 Cassazione RitDPP 1981, 1236 (1249). 1962 Im Erg. krit. a. Lozzi, RitDPP 1981, S. 1250. 1963 Cassazione RitDPP 1981, 1236 (1251). 1964 Ähnl. Mancuso, Giudicato, S. 449 f. 1965 Cassazione Penale GiustPen 1951, 336; GiustPen 1973/3, 742; RitDPP 1981, 1236 (1248 f.); CassPen 1981, 377 (378); RitDPP 1990, 1626 (1628 f.); CassPen 1998, 2626; 2000, 92; 2000, 1997; 2001, 2728; 2003, 165; 2006, 182; 2006, 1506; für verfassungsrechtlich unbedenklich erklärt, Corte Costituzionale GiurCost 1976, 32 (34 f.), die aber die Frage allein am Verteidigungsrecht und am Gleichbehandlungsgebot gemessen hat, da es in Italien keine analoge Vorschrift zu Art. 103 Abs. 3 GG gibt. Es gibt aber 1958

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

der anderen Seite gibt es Entscheidungen, die daran zweifeln lassen, ob das Identitätskriterium „gleiche Handlung, gleicher Erfolg, gleicher Kausalzusammenhang“ überhaupt einen Gehalt aufweist, ob es nicht vielmehr als Floskel eingesetzt wird, um neue Verfolgungen nach Belieben zuzulassen oder zu untersagen. So wurde – um ein einziges, eher neueres Beispiel zu erwähnen – auf Grundlage dieses Kriteriums eine Tatidentität zwischen Raub und Hehlerei bejaht!1966 Die Literatur steht der Rspr. äußerst kritisch gegenüber. Besseres vermag sie aber eigentlich kaum anzubieten. Es gibt eine Fülle an Vorschlägen für Identitätskriterien: Es soll auf die Identität der Handlung ankommen,1967 oder auf unklare normativ-faktische Mischgebilde wie auf einen „richterlichen Tatbestand“ (Orig.: fattispecie giudiziale)1968 bzw. einen „materiellen Tatbestand“ (Orig.: „Tatbestand materiale“),1969 die wohl Gesetzeskonkurrenz bedeuten sollen,1970 oder auf eine Kombination von Handlung und Bezugsobjekt.1971 Gesichert scheint einerseits nur zu sein, dass materielle Tatmehrheit unstreitig zu mehreren prozessualen Taten führt,1972 andererseits dann in den Fällen der Gesetzeskonkurrenz eine einzige prozessuale Tat vorliegt.1973 Die Idealkonkurrenz ist heillos umstritten.1974 Viele stimmen dieser Rechtsprechung zu und nehmen immer selbständige prozessuale Taten an,1975 andere wollen bei jeder Idealkonkurrenz von Tat-

einige Ausreißer, die genau das Gegenteil behaupten, Cassazione Penale RitDP 1936, 577 (578); CassPen 1965, 934. Gelegentlich ist der Zusatz zu lesen, dass die erneute Verfolgung nur möglich ist, wenn das Ersturteil nicht ein Freispruch wegen Nichtvorhandenseins der Tat oder wegen Nichtbegehung durch den Angeklagten gewesen ist, also dass kein „theoretischer Widerspruch“ zwischen den Entscheidungen gegeben sein darf, etwa CassPen 1989, 564; 1998, 2626; 2000, 1997; 2003, 165; 2006, 183. 1966 Cassazione Penale CassPen 2011, 1845 (1846). 1967 Nachw. o. Fn. 1717. 1968 Lozzi, Ne bis in idem, S. 45 ff.; De Luca, Giudicato, S. 10; Bellora, RitDPP 1990, S. 1644; wohl auch Lucarelli, Giudicato, S. 118 ff. 1969 Mancuso, Giudicato, S. 460 ff., 466. 1970 Insbesondere bei Lozzi, Ne bis in idem, S. 3, 67 ff. 1971 Cordero, Procedura penale, Rn. 115.6; Giovene, DPP V (1991), S. 431; Callari, Firmitas, S. 139 f. 1972 Siehe etwa Manzini, Trattato IV, S. 456; Lozzi, Ne bis in idem, S. 1 f.; ders. Lezioni, S. 795; Giovene, DPP V (1991), S. 430; Normando, Giudicato, S. 47. 1973 Cassazione Penale GiustPen 1951, 336; RitDPP 1981, 1236 (1249 ff.); Leone, Trattato III, S. 344; Lozzi, Ne bis in idem, S. 3, 67 ff.; Rivello, RitDPP 1991, S. 501. 1974 Instruktiver Überblick in Jeangey, Ne bis in idem, S. 194 ff.; monografisch Lozzi, Ne bis in idem, S. 57 ff. 1975 Aus der Lit. ebenso Garavelli, GiustPen 1973/3, S. 742, 743; Lozzi, GiurCost 1976, S. 1592; ders. Ne bis in idem, S. 70; ders. RitDPP 1981, S. 1244; ders. Lezioni, S. 793 f.; Leone, Manuale, S. 737, der eine Seite davor geschrieben hatte, dass es für die Identität der Tat „allein auf die Handlung“ ankomme; besser war sein ausführlicherer Trattato III, S. 345 f., in dem für die Konstellation eine Art Ausnahme vom allgemeinen Kriterium postuliert wurde; De Luca, Giudicato, S. 10 f.; Rivello, RitDPP 1991, S. 499 ff.; Tonini, Manuale, S. 919 f.; w. N. b. Lucarelli, Giudicato, S. 122 ff.

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identität ausgehen,1976 und eine mittlere Meinungsgruppe unterscheidet zwischen gleichartiger und ungleichartiger Idealkonkurrenz, und nimmt nur bei Letzterer prozessuale Tatidentität an.1977 Die Diagnose ist aus unserer Perspektive klar. An dem Zustand ist eigentlich der übereifrige, alles regelnde Gesetzgeber schuld, der bei der Bestimmung der Klageumgestaltung nicht hinreichend zwischen den Erfordernissen des Anklageprinzips und denjenigen des rechtlichen Gehörs bzw. des Verteidigungsrechts zu differenzieren vermochte (s. o. B. IV. 2. [S. 410 ff.]). Gerade auf dieser Verwechselung beruht auch die in Italien bis zu einer vor Kurzem ergangenen Entscheidung des EGMR praktizierte Vorstellung, dass die Freiheit des Gerichts, die Tat rechtlich anders zu bewerten als die Anklage (jura novit curia), ohne vorherigen Hinweis ergehen durfte.1978 Es scheint, als wäre der Versuch, das Gericht soweit wie möglich an die Anklage zu binden, auch deshalb erfolgt, weil alles, was das Gericht aus eigener Initiative macht, ohne vorherige Ankündigung gemacht werden durfte. Gesetzesmissachtende Rechtsprechung kann man zwar kaum rechtfertigen; häufig bekommt das Gesetz aber die Achtung, die es in Wahrheit verdient. Eine befriedigende Lösung wird sich auf solchen unklaren Grundlagen nicht finden lassen. b) Die amerikanische Diskussion Von den zwei prominentesten amerikanischen Tests, die die Bezeichnung Blockburger und same transaction tragen, war schon im Rahmen unserer Darstellung die Rede (s. o. C. VI. 3. [S. 453 ff.], V. 5. [S. 443 f.]); weniger wichtige 1976

Manzini, Trattato IV, S. 453; Pagliaro, Enc. Dir. XVI (1967), S. 964 f.; Guarneri, NovDigIt XV (1968), S. 232 (s. a. o. Fn. 1960); Rafaraci, EncDir Annalli 3 (2010), S. 872; Cordero, Procedura penale, Rn. 115.7 (a. E.); Callari, Firmitas, S. 142 Fn. 295; wohl auch Sesta, GiustPen 1977/1, Sp. 188. 1977 Giovene, DPP V (1991), S. 431 – komischerweise auf derselben Seite, auf der er das Rechtsgut („condotta individuata dall’oggetto materiale“) zum Identitätskriterium erhoben hatte; Jannelli, Cosa giudicata, S. 633 f., 635 ff. – über den ich bereits eine vergleichbare Bemerkung gemacht habe (s. o. Fn. 1717). 1978 Siehe EGMR Drassich v. Italien, Beschw. Nr. 25575/04, v. 11.3.2008, Rn. 31 ff.; zum Ganzen umf. Capone, Iura novit curia, S. 31 ff.; Quattrocolo, Riqualificazione del fatto, S. 27 ff.; Aimonetto, RitDPP 2009, S. 1523 ff. Ebenso verhält es sich anscheinend in Frankreich, s. die vielen von Décima, Identité des faits, S. 68 Fn. 361 aufgelisteten Entscheidungen der Cassation; und in Staaten, die traditionell unter starkem italienischem Einfluss stehen, wie etwa Brasilien, s. Pacelli, Processo penal, S. 631 f. (zu Recht krit. Badaró, Correlação, S. 143 f., u. a. mit rechtsvergleichendem Hinweis auf § 265 StPO); aus argentinischer Sicht für eine Hinweispflicht auch J. Maier, Derecho procesal penal I, S. 569; s. a. o. Fn. 1560 und u. Fn. 2146. In Deutschland war Planck einer der letzten Anhänger dieser These: „Denn da Jedermann das Recht kennen muß, so bedarf es zur Vertheidigung gegen den neuen Angriff durch veränderte Rechtsdeduction keiner neuen Vorbereitung“ (Systematische Darstellung, S. 322 m. Nachw. von zeitgenössischen deutschen Prozessgesetzen).

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Kriterien, wie der same conduct- und der harm to State-test, sind ebenfalls erwähnt worden (o. VI. 1. [S. 446], 6. a) [S. 458]). Dies war nur ein stark vereinfachter Überblick über einen Zustand, der sich durch eine rasche Abfolge einander ablösender Kriterien charakterisieren lässt,1979 und dessen Verwirrung nicht nur von der Lehre,1980 sondern auch von der Rechtsprechung in einer vorbildhaft selbstkritischen und immer wieder zitierten Passage eingeräumt wurde: „[T]he decisional law in the area is a veritable Sargasso Sea which could not fail to challenge the most intrepid judicial navigator.“ 1981 Eine nähere Untersuchung der Verhältnisse belegt, dass ein Großteil der Probleme ebenfalls auf Verkennungen der Grundregel beruhen dürften. Wir haben o. III. (S. 472 f.) den Blockburger-Test als Konkretisierung des power-to-convict-Tests begriffen, der seinerseits nichts anderes als eine Umformulierung der Grundregel bedeutet. Das ist aber, wie bemerkt, nur solange der Fall, wie man nicht uneingeschränkt lesser included offenses als selbe Taten begreift, sondern nur unter der Bedingung, dass auch im Erstverfahren die Möglichkeit bestand, dass das Gericht aus eigener Initiative eine Verurteilung fällte. Das heißt: Die Grundregel verbietet ein neues Verfahren wegen der lesser offense; sie kann aber nicht ein neues Verfahren wegen der höheren Straftat, oder wenigstens nicht wegen der nicht angeklagten Differenz verbieten. Konkret: Kann auf eine Anklage wegen Körperverletzung niemals auf Tötung erkannt werden, dann war die Tötung nach der Grundregel nicht Gegenstand der Anklage und des Verfahrens und kann deshalb nicht Gegenstand von Urteil und Sperrwirkung werden. Konsequent wurde das auch anfänglich so gesehen.1982 Das steht wiederum in Übereinstimmung mit den beschränkten Möglichkeiten der Klageumgestaltung: So liest man in den heutigen Auflagen des autoritativen Lehrbuchs von Wharton, dass die Verurteilung wegen einer offense eines „higher degree“ nur dann möglich ist, wenn die Anklage den Grad der Straftat nicht unbestimmt gelassen hat.1983

1979 Überblick in Klein/Chiarello, TexLR 77 (1998), S. 364 ff.; Überblick über die Tatbegriffe in anderen common law-Staaten bei Coffey, JSIJ 5 (2005), S. 148 ff. 1980 Sigler, Double Jeopardy, S. 64, 75; Jahncke, NYULR 66 (1991), S. 113; Amar, YLJ 106 (1997), S. 1809, 1814; Thomas III, Double Jeopardy, S. 5, 49. 1981 U.S. Supreme Court, Albernaz v. United States, 450 U.S. 333, 343 (1981); zust. Dressler/Thomas III, Criminal Procedure, S. 1343. 1982 U.S. Supreme Court, In Re Nielsen, 131 U.S. 176, 190 (1889); s. a. Ohio v. Johnson, 467 U.S. 493 (1984), die aber die untypische Konstellation des guilty plea verkörpert: Bei einer Anklage wegen Totschlags und fahrlässiger Tötung, Raubs und Diebstahls erfolgte ein guilty plea wegen fahrlässiger Tötung und Diebstahls; der Supreme Court erklärte die spätere Verfolgung des Totschlags und des Raubs für zulässig. Interessanterweise hatte nicht einmal Brennan, der Vertreter des same transaction-Tests (s. o. V. 5. [S. 443 f.]), in seinem Sondervotum hiermit Probleme (Ohio v. Johnson, 467 U.S. 493, 503 [1984]). 1983 Torcia, Wharton’s Criminal Procedure, § 507.

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Allmählich und nahezu unbemerkt verließ man diesen Standpunkt und mit ihm die Grundregel. Die Begründung für die auch die lesser included offense erfassende Sperrwirkung wechselt unbemerkt von der Verurteilungsmöglichkeit, auf die es eigentlich ankommt, zu dem konkreten Urteil, der Verurteilung oder dem Freispruch: „[D]ie Verurteilung wegen der schwereren Straftat . . . (war) nicht ohne die Verurteilung wegen der leichteren erreichbar“.1984 Folge daraus war, dass „whatever the sequence may be, the Fifth Amendment forbids successive prosecution and cumulative punishment for a greater and lesser included offense“.1985 Damit wurde der Begriff der Tat in beschuldigtenfreundliche Richtung dynamisch-inkongruent gemacht. Hier, und nicht erst in der an sich eher unproblematischen Enge des Blockburger-Tests, dürfte der Sündenfall in der Geschichte des amerikanischen Tatbegriffs liegen. Denn durch die Erweiterung des Tatbegriffs im beschuldigtenfreundlichen Sinn ist zugleich die Spannung entstanden, die solchen Dynamisierungen des Tatbegriffs eigen ist (s. o. 1. [S. 484 ff.]), und damit zugleich das Bedürfnis, sich unterschiedlicher Mogeltricks zu bedienen. Schon in der Entscheidung, die die Abkoppelung des Strafklageverbrauchs vom Gegenstand der Strafklage vollzieht, wird in einer Fußnote die salvatorische Bemerkung gemacht, dass es für zwei Fälle Ausnahmen gebe: wenn die Anklage wegen der schwereren Straftat deshalb nicht erhoben worden ist, weil die Tatsachen, die für den Erfolg der Anklage erforderlich sind, sich entweder noch nicht ergeben haben oder weil sie dem Staat ohne Verschulden unbekannt sind.1986 Die Ausnahmen wurden später erweitertet für den Fall, in dem der Angeklagte die Trennung veranlasst, und sogar für den Fall, indem der Beschuldigte es versäumt, gegen die Aburteilung der anderen Straftat Widerspruch zu erheben.1987 Im Grunde genommen machte man den nachvollziehbaren, wenn auch fehlplatzierten Versuch, das anklägerische Ermessen, sich schwerere Straftaten für eine spätere Gelegenheit vorzubehalten, durch die Hintertür des Strafklageverbrauchs einzuschränken. Das waren aber nicht die einzigen Ausnahmen. Zeitgleich mit dieser Entwicklung erfolgten zwei andere. Erstens die kurzlebige Entstehung des Grady-Tests, 1984 U.S. Supreme Court, Harris v. Oklahoma, 433 U.S. 682 (1977). Vergleichbar sagte in England Hodson, House of Lords Connelly v. DPP (1964), 1254 (1332), dass die spätere Verurteilung implizit den früheren Freispruch auflösen würde. 1985 U.S. Supreme Court, Brown v. Ohio, 432 U.S. 161, 167 f., 169 (Zitat) (1977): Gegenstand des Erstverfahrens war hier die kleinere Straftat des „joyriding“, grob: der unbefugten Benutzung eines fremden Kraftfahrzeugs, im Zweitverfahren ging es um einen Diebstahl; ebenso Jeffers v. United States, 432 U.S. 137, 150 f. (1977); ebenso für England Hodson, House of Lords Connelly v. DPP (1964), 1254 (1332). 1986 U.S. Supreme Court, Brown v. Ohio, 432 U.S. 161, 169 Fn. 7 (1977); s. a. Jeffers v. United States, 432 U.S. 137, 151 f. (1977); die Bemerkung wird im Sondervotum von Stevens, in Garrett v. United States, 471 U.S. 773, 803 f. (1985) weiter elaboriert. 1987 U.S. Supreme Court, Jeffers v. United States, 432 U.S, 137, 151 f. (1977).

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demzufolge die double jeopardy-Klausel auch die Verfolgung wegen einer Straftat verbiete, die den Beweis eines Merkmals erforderlich macht, das zugleich ein Verhalten darstellt, das bereits Gegenstand einer früheren Verfolgung gewesen ist.1988 Der Fall ist fast so schockierend wie der deutsche Fall der Schüsse an bewohnten Orten: Der Täter, der im betrunkenen Zustand einen tödlichen Autounfall verursachte, wurde wegen Trunkenheitsfahrt angeklagt und auf sein guilty plea verurteilt. Der Supreme Court erklärte auch die spätere Verfolgung wegen des Tötungsdelikts für unzulässig, weil die Trunkenheit ebenfalls im zweiten Verfahren hätte bewiesen werden müssen. Im Grunde genommen erfolgte hier eine klare Verwechselung von Verfahrensstoff und Verfahrensgegenstand (s. o. C. I. [S. 379 ff.]); das Doppelverfolgungsverbot verbietet keineswegs eine mehrmalige Beweisführung über denselben Gegenstand.1989 Der Grady-Test führte aber zu einer Reihe von Schwierigkeiten,1990 so dass er innerhalb von 3 Jahren schon overruled wurde.1991 Dies erfolgte mit Berufung auf die Grundregel: In diesen Fällen „wird der Beklagte (respondent) nicht wegen derselben Straftat verfolgt, für die er schon verfolgt worden ist.“ 1992 Die zweite Entwicklung ist die zunehmende Entwertung des Blockburger-Tests zugunsten einer Berufung auf den gesetzgeberischen Willen: Wenn die Legislative Strafen und Verfahren kumulieren möchte, darf sie das, und dies auch dann, wenn es um gleiche offenses i. S. des Blockburger-Tests geht.1993 Blockburger ist gelegentlich zum Mittel der Bestimmung des gesetzgeberischen Willens erklärt worden.1994 M. a.W.: Man fing mit einem klaren, gut fundierten, wenn auch engen Kriterium an, das man auflockerte, ohne genau zu wissen, weshalb; man endete mit einer mit einer Vielzahl von Ausnahmen versehenen Berufung auf den Willen des Gesetzgebers, der in Wahrheit den Willen des Gerichts darstellt, also mit ei-

1988 U.S. Supreme Court, Grady v. Corbin, 495 U.S. 508, 521 (1990); auch Souter, in: United States v. Dixon et al., 509 U.S. 688, 747 ff. (1993), der von same conduct spricht; näher zu diesem Test Harlow, BrYULR 1980, S. 957 ff.; Bouwen Poulin, RutgLR 43 (1991), S. 896 ff.; Thomas III, Double Jeopardy, S. 52 ff. 1989 Harlow, BrYULR 1980, S. 953, 957 ff. 1990 Klar geworden in United States v. Felix, 503 U. S. 378, 388 ff. (1992); zum Ganzen Scalia, in: Grady v. Corbin, 495 U.S. 508, 540 ff. (1990); Donofrio, JCLC 83 (1993), S. 780, 790 ff., 796. 1991 U.S. Supreme Court, United States v. Dixon et al., 509 U.S. 688, 704 ff. (1993). 1992 Sondervotum von Scalia, in: U.S. Supreme Court, Grady v. Corbin, 495 U.S. 508, 527 (1990). 1993 U.S. Supreme Court, Missouri v. Hunter, 459 U.S. 359, 368 f. (1983); Ohio v. Johnson, 467 U.S. 493, 499 Fn. 8 (1984); Garrett v. United States, 471 U.S. 773, 779 ff., 793 ff. (1985); davor Warren, in: Gore v. United States, 357 U.S. 386, 394 (1958). 1994 U.S. Supreme Court, Iannelli v. United States, 420 U.S. 770, 785 Fn. 17 (1975); ähnl. Whalen v. United States, 445 U.S. 684, 693 (1980).

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nem Kriterium, das überhaupt keines ist. Der Mogeltrick ist unverkennbar. Die Grundregel liefert die Diagnose. Die Literatur ist zum Teil genauso ratlos, aber nur zum Teil.1995 Zusätzlich zu den bereits erwähnten same-transaction und same-conduct-Tests gibt es Autoren wie Amar/Marcus,1996 die sich dem Text des 5. Amendment amVerf zuwenden, sich für eine am „plain meaning“ orientierte Auslegung stark machen und behaupten, „same means same“,1997 „in fact as well as in law“,1998 oder Thomas III, der eine äußerst komplexe Theorie formuliert, deren Ziel es ist, die Chiffre des gesetzgeberischen Willens zu entschlüsseln.1999 Der verbreiteteste Lösungsvorschlag ist aber einer, der die hier gemachte Diagnose teilt. Weil die Anklage der Angelpunkt für die Bestimmung der prozessualen Tat bleiben muss (s. o. II. [S. 469 f.]), m. a. W., weil der Gehalt der prozessualen Tat prospektiv von der Anklage her zu bestimmen ist und nicht retrospektiv vom Urteil her (s. o. II. [S. 469 f.], III. [S. 474 f.]) bzw. die Grundregel von links nach rechts zu lesen ist (s. o. III. [S. 476 f.]), müssen Lösungen bereits an der Anklage ansetzen. Genau das tun diejenigen, die für einen sog. mandatory joinder eintreten: Die Staatsanwaltschaft soll verpflichtet werden, alle ihr bekannten Straftaten anzuklagen, die eng miteinander zusammenhängen.2000 In England wird das im Ergebnis bereits weitgehend praktiziert, da man mittels der Figur des „abuse of process“ die grundsätzliche Unzulässigkeit getrennter Anklagen wegen einander nahestehen1995 Vielfach wird nach Lösungen außerhalb der double-jeopardy-Klausel gesucht: etwa mittels der due process-Klausel (Amar/Marcus, ColLR 95 [1995], S. 31; Amar, YLJ 106 [1997], S. 1816, 1834 f. [gegen harassment], 1837; N. King, UPennLR 144 [1995], S. 127.), oder der Klausel gegen cruel and excessive punishment, 8. Amendment amVerf (N. King, UPennLR 144 [1995], S. 181 ff.); man erinnert auch an die Figur des collateral estoppel (Anonym, HarvLR 65 [1952], S. 875; Amar, YLJ 106 [1997], S. 1827 ff.; skeptisch Herrmann, Wiederaufnahme, S. 682; zu ihr o. Bd. 1, Fn. 31). 1996 Amar/Marcus, ColLR 95 (1995), S. 28 ff.; Amar, YLJ 106 (1997), S. 1814 ff.; krit. Thomas III, Double Jeopardy, S. 116 ff. 1997 Amar/Marcus, ColLR 95 (1995), S. 36. 1998 Amar/Marcus, ColLR 95 (1995), S. 36 Fn. 183 (Zitat); Amar, YLJ 106 (1997), S. 1815. Ähnl. die, die auf eine Identität der Tatbestandsmerkmale abstellen („same elements“-test), etwa Coffey, JSIJ 5 (2005), S. 164. 1999 Thomas III, Double Jeopardy, insb. S. 198 ff. (s. davor ders. CalLR 83 [1995], S. 1027 ff.); krit. S. Klein, CalLR 88 (2000), S. 1001 ff. 2000 Anonym, StLR 11 (1959), S. 753 ff.; Sigler, Double Jeopardy, S. 219, 222 f.; Anonym, YLJ 75 (1965), S. 292 ff.; R. Brown, UCLALR 19 (1972), S. 816 f., in Verbindung mit dem same transaction-test (näher o. C. V. 5. [S. 443 f.]); Amar, YLJ 106 (1997), S. 1822 f., der dies aber aus der due process und nicht der double-jeopardyKlausel ableitet; s. a. die Vorschläge des American Law Institute (der sog. ModelPenC, Section 1.07, 1.09) und der American Bar Association, Sigler, Double Jeopardy, S. 203 ff.; Vestal/Gilbert, MoLR 47 (1982), S. 15 ff. Noch weiter geht Shalgi, IsLR 8 (1973), S. 65 ff., der, um die noch verbleibenden Abgrenzungsprobleme zu überwinden, dafür plädiert, grundsätzlich alle von den Verfolgungsbehörden bekannten Straftaten eines Beschuldigten, unabhängig davon, ob sie einen engeren Zusammenhang zueinander aufweisen, zum Gegenstand eines einzigen Verfahrens zu machen („unrestricted joinder“).

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der Straftaten postuliert.2001 Auf den Gedanken, dass unbekannte Straftaten Gegenstand des Strafklageverbrauchs werden, kommt man nicht,2002 was auch konsequent ist, wenn nur wegen Vorgängen verurteilt werden darf, die vom Ankläger ausdrücklich erwähnt worden sind. Befriedigend sind diese Ansätze immer noch nicht: Denn solange dem Gericht nicht die Möglichkeit gegeben wird, sich vom expliziten Gehalt der Anklage loszulösen, konkret, aus eigener Initiative auch wegen der schwereren Straftat zu verurteilen,2003 verkörpern sie immer noch die Möglichkeit, dass der Strafklageverbrauch weiter reicht als die tatsächliche Anklage und somit das Verfahren. Das Problem der grundlosen Straffreistellung „erster Zweitverfolgungen“ wird abgeschwächt, bleibt zum Teil aber ungelöst. 4. „Autonome“ (verfassungsrechtliche oder europarechtliche) Tatbegriffe Eine weitere Erscheinungsform der Verkennung der vom Reichsgericht formulierten und von uns präzisierten Grundregel sind Ansätze, die das von ihr behauptete Band zwischen Anklage, Verfahren und Urteil bzw. Sperrwirkung dadurch zerschneiden, dass sie von oben herab unreflektiert in ein späteres Glied der Grundregel eingreifen. Die Versuchung dazu besteht insbesondere, wenn man von einem höherrangigen Rechtsgebiet her argumentiert, also vom Verfassungsoder vom Europarecht. a) Verfassungsrechtlicher Tatbegriff So bestehen einige Stimmen darauf, den Begriff der prozessualen Tat gem. Art. 103 Abs. 3 GG „aus sich heraus“ bzw. „eigenständig“ zu bestimmen.2004 Weil die Verfassungsvorschrift sich unmittelbar nur mit dem Gegenstand des Strafklageverbrauchs befasst, entsteht die Versuchung, den Verfahrensgegenstand nicht mehr prospektiv von der Anklage her, sondern retrospektiv von der Sperrwirkung her zu bestimmen (s. o. II. [S. 469 f.], III. [S. 474 f.]): „Recht und Pflicht des Gerichts, die Strafklage nach § 264 StPO umzugestalten, reichen stets so weit wie die im Art. 103 Abs. 3 GG verankerte Sperrwirkung der rechtskräftigen Entscheidung“.2005 2001 Siehe House of Lords, Reg. v. Humphrys AC 1977, 1, 2 (Leitsatz), 40 f.; Devlin, in: House of Lords, Connelly v. DPP AC 1964, 1254 (1359 f.); wichtig auch Court of Appeals, Beedie CrAppR 2 (1997), 167, 171 ff., 176 f. Ausf. Choo, Abuse of Process, S. 21 ff. 2002 Siehe etwa ModelPenC, Section 1.07 (2); Anonym, StLR 11 (1959), S. 759 Fn. 112. 2003 Kirchheimer, YLJ 58 (1949), S. 534 ff.; Anonym, StLR 11 (1959), S. 757 f. 2004 So Schmidt-Aßmann, M/D-GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 265, 281, 283; davor Arndt, NJW 1968, S. 982. 2005 Am klarsten OLG Celle NJW 1968, 2390 (2392); zu Recht krit. J. Fuchs, NJW 1968, S. 2393.

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In der Rechtsprechung des BGH sind derartige Behauptungen selten, jedoch in Einzelfällen auffindbar. So ging es in einer Entscheidung um die Frage, ob bei einem Bußgeldbescheid wegen einer fortgesetzt begangenen Ordnungswidrigkeit auch Verhaltensweisen, die nach dem Einspruch gegen den Bußgeldbescheid erfolgten, in das gerichtliche Verfahren einbezogen werden dürften, oder ob dem nicht das Verbot der reformatio in peius entgegenstehe.2006 Der BGH versuchte nicht, den Weg bis zur Anklage zurückzuzeichnen, sondern behauptete: Art. 103 Abs. 3 GG „bestimmt zunächst den Umfang der Rechtskraftwirkung, aus dem sich alsdann ergibt, welchen Sachverhalt – auch der zeitlichen Begrenzung nach – das Gericht in sein Urteil einzubeziehen hat“.2007 Die retrospektive Argumentation spielte insbesondere bei der Alternativitätsrechtsprechung der Oberlandesgerichte eine Rolle: Vorwürfe, die zueinander im Alternativitätsverhältnis stehen (Diebstahl oder Hehlerei, zwei einander widersprechende Meineide), sollen demnach notwendig eine einzige prozessuale Tat verkörpern (näher u. F. 9. [S. 611 ff.]). So meinte das BayObLG, dass, weil eine zweite Verfolgung der Alternativtat mit Art. 103 Abs. 3 GG unvereinbar sei, es möglich sein müsse, sie bereits im ersten Verfahren abzuurteilen, sogar unabhängig davon, ob sie angeklagt worden ist.2008 Diese Entscheidung ist besonders aufschlussreich, weil sie musterhaft die Probleme verdeutlich, zu denen die autonome Bestimmung des Tatbegriffs als Gegenstand der Sperrwirkung führt. Das Gericht gerät unter eine weitere Spielart der o. IV. 1. (S. 484 ff.) beschriebenen Spannung, und steht deshalb vor dem Dilemma, entweder eine unbegründete Verfolgungsfreistellung zu gewähren, oder das Verfahren auf etwas zu erstrecken, das überhaupt nicht angeklagt worden ist (bzw. dass die Anklage implizit auf ein großes Stück des Vorlebens des Betroffenen bezogen wird). Das BayOblG entschied sich im Sinne des zweiten Horns des Dilemmas. Es ist an die o. B. IV. 8. (S. 421 ff.) entwickelten Ausführungen zu erinnern: Selbst wenn von Verfassungs wegen eine bestimmte Ausgestaltung des Anklageprinzips und mit ihr eine eher inquisitorische Prozessstruktur vorgegeben wären, muss man „Tat“ i. S. d. Art. 103 Abs. 3 GG nicht wortlautorientiert, sondern immer im Lichte dieser weiteren Zusammenhänge auslegen. Damit löst sich das Projekt eines autonomen verfassungsrechtlichen Tatbegriffs auf und man kehrt zur Grundregel zurück. b) Europarechtliche Tatbegriffe Auch auf der europarechtlichen Ebene gehen die Bemühungen nachdrücklich in die Richtung eines autonomen Begriffs. 2006 2007 2008

BGHSt 17, 5. BGHSt 17, 5 (8 f.). BayObLG NJW 1965, 2211 (2213).

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aa) Beim EuGH 2009 wird die Frage nach dem Tatbegriff des europäischen ne bis in idem-Grundsatzes als Problem der Auslegung des Wortlauts von Art. 54 SDÜ gedeutet, der das Wort „Tat“, „fait“ enthält, und neuerdings von Art. 50 GRC, der das Merkmal „Straftat“ enthält.2010 Es sei möglich, den Begriff entweder faktisch, im Sinne des idem factum, oder normativ, im Sinne eines idem crimen zu deuten; das Gericht entscheidet sich im ersten Sinne. Tat i. S. des europäischen ne bis in idem-Grundsatzes sei als „Komplex konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände“ zu verstehen.2011 Die Argumentation des Gerichts stellt eine Instanz schulmäßiger positivistischer Gesetzesauslegung dar. Zunächst wird auf den Wortlaut hingewiesen: Dass die Vorschrift des Art. 54 SDÜ das Wort Tat und nicht Straftat enthält, deutet das Gericht als ersten Hinweis auf einen faktischen Tatbegriff.2012 Anschließend begibt sich das Gericht auf die Ebene teleologischer Auslegung und beruft sich auf die gängigen Zweckbestimmungen des Europarechts, nämlich gegenseitige Anerkennung bzw. gegenseitiges Vertrauen2013 und Freizügigkeit,2014 die auch für ein faktisches Verständnis der Tat sprechen. Daraus folgert das Gericht ebenfalls die Widerlegung des normativen Begriffs: Auf die Identität der Rechtsgüter dürfe es deshalb nicht ankommen, weil diese von Staat zu Staat variieren würden.2015 Ebenso verhalte es sich bei der rechtlichen Einordnung.2016 Gelegentlich führt das Gericht zur Präzisierung an, dass eine bloß subjektive Verknüpfung für die Einheitlichkeit der Tat noch nicht ausreichend sei.2017 Und in so gut wie jeder Entscheidung gibt es als salvatorische Klausel die Behauptung, dass es bei der Tatidentität um eine Frage gehe, die durch die Gerichte der Mitgliedstaaten gelöst werden müsse, die „feststellen müssen“, ob ein solcher unlösbarer Komplex

2009 Zur Entwicklung der Rspr. des EuGH etwa Seiça, FS Figueiredo Dias I, S. 994 ff.; Puéchavy, Ne bis in idem, S. 98 ff. 2010 Aus diesem Wortlautunterschied einen Sachunterschied abzuleiten ist zwar möglich (so etwa Frenz, Europäische Grundrechte, Rn. 5162), aber nur eine weitere Instanz strukturblinder Gesetzesexegese (s. o. 3. [S. 493 ff.]). 2011 EuGH Van Esbroeck, Rechtssache C-436/04, v. 9.3.2006, Rn. 27 ff., 36, 42; Gasparini, Rechtssache C-467/04, v. 28.9.2006, Rn. 54; Van Straaten, Rechtssache C-150/ 05, v. 28.9.2006, Rn. 41 ff., 48, 53; Kraaijenbrink, Rechtssache C-367/05, v. 18.7.2007, Rn. 26 ff., 36; Kretzinger, Rechtssache C-288/05, v. 18.7.2007, Rn. 29 ff., 37 – die alle die Passage wörtlich zitieren. Es gibt aber Ausreißer, etwa das Urteil EuGH Aalborg Portland, Rechtssache C-204/00, v. 7.1.2004, in dem es heißt, das idem beruhe auf der „dreifachen Voraussetzung der Identität des Sachverhalts, des Zuwiderhandelnden und des geschützten Rechtsguts“ (Rn. 338). 2012 EuGH Van Esbroeck (Fn. 2011), Rn. 27. 2013 EuGH Van Esbroeck (Fn. 2011), Rn. 31; Van Straaten (Fn. 2011), Rn. 43 f. 2014 EuGH Van Esbroeck (Fn. 2011), Rn. 33 ff.; Van Straaten (Fn. 2011), Rn. 45 f. 2015 EuGH Van Esbroeck (Fn. 2011), Rn. 32, 35; Van Straaten (Fn. 2011), Rn. 47; Kretzinger (Fn. 2011), Rn. 33 f. 2016 EuGH Van Straaten (Fn. 2011), Rn. 47. 2017 EuGH Kraaijenbrink (Fn. 2011), Rn. 30, 34.

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vorliege.2018 Von der Grundregel kein Zeichen. Somit hat auch der EuGH einen dynamisch-inkongruenten, wenn auch tendenziell beschuldigtenfreundlich orientierten Tatbegriff aufgestellt, mit dem einzigen Unterschied, dass er für das Verhältnis mehrerer Staaten zueinander gilt. Die Literatur äußert sich überwiegend zustimmend.2019 Es wird behauptet, die Argumentation des EuGH sei „einleuchtend“,2020 und viele Autoren berufen sich auf dieselben Wertvorstellungen wie das Gericht, insbesondere auf die europäische Freizügigkeit.2021 Ein idem crimen käme einer „gesetzesaufhebenden Auslegung“ gleich.2022 Jedes normative Verständnis führe zur Rechtsunsicherheit2023 – als wäre das Kriterium des untrennbaren Komplexes demgegenüber klarer.2024 Ironischerweise stellen italienische Spezialisten sogar eine Übereinstimmung zwischen dieser Ansicht und derjenigen der Cassazione fest, die für die Tatidentität auf die Identität von Handlung, Erfolg und Kausalzusammenhang abstellt.2025 Gelegentlich wird die Alternative zwischen idem factum und idem crimen sogar als weltanschaulich-politische Frage nach der eher liberalen oder autoritären Orientierung gedeutet.2026 Die an sich gebotene Zentralfrage nach dem Umfang der Anklage und der Kognitionspflicht wird selten gestellt.2027 2018 EuGH Van Esbroeck (Fn. 2011), Rn. 38; Gasparini (Fn. 2011), Rn. 56; Kraaijenbrink (Fn. 2011), Rn. 32, 36; Van Straaten (Fn. 2011), Rn. 52; Kretzinger (Fn. 2011), Rn. 34. Die im Text zitierte deutsche Übersetzung („feststellen“) ist irreführend, weil sie so verstanden werden könnte, als erkläre das Gericht die Identität der Tat zu einer Tatfrage; im Englischen ist von „determine“, im Französischen „déterminer“ (ebenso in den weiteren romanischen Sprachen) die Rede, das besser als „bestimmen“ übersetzt werden sollte. In dieser Bemerkung erblickt Hackner, NStZ 2011, S. 427 zu Recht eine erste Relativierung des angeblich einheitlichen Tatbegriffs. 2019 Siehe zusätzlich zu den in den nächsten Fn. Zitierten noch: Bogensberger, FS Miklau, S. 105 (mit feierlichen Tönen); Plöckinger/Leidenmühler, wistra 2003, S. 87; de la Oliva Santos, RDPoc 2007, S. 685; Birklbauer, Prozessgegenstand, S. 289; Petropoulos, FS Schöch, S. 862; Radtke, NStZ 2012, S. 483; ebenso auch der Regelungsvorschlag des Max-Planck-Instituts, s. S. Stein, ZStW 115 (2003), S. 208; anders (wenn auch davor) van den Wyngaert/Stessens, ICLQ 48 (1999), S. 791; Hußung,Tatbegriff, S. 235 ff. (der auf eine unklare Identität der geschtützten europäischen Rechtsgüter abstellt). 2020 Birklbauer, FS Miklau, S. 55. 2021 Birklbauer, FS Miklau, S. 54, 55; Radtke, FS Seebode, S. 310; ders. NStZ 2012, S. 44 („völlig zutreffend“); De Amicis, CassPen 2009, S. 3171; Zöller, FS Krey, S. 502; Böse, GA 2011, S. 505 Fn. 10; ders. Gegenseitige Anerkennung, S. 63. 2022 Calò, RitDPP 2008, S. 1154. 2023 Radtke, FS Seebode, S. 311. 2024 Die mangelnde Präzision räumt auch Radtke, FS Seebode, S. 313 ein. 2025 De Amicis, CassPen 2009, S. 3171. 2026 Calò, RitDPP 2008, S. 1149. 2027 Auch nicht von Kritikern wie Andreou, Gegenseitige Anerkennung, der dem EuGH nur vorwirft, einen zu weiten Tatbegriff zu vertreten (S. 259, 264 f.). – Zu den wenigen Ausnahmen gehören van den Wyngaert/Stessens, ICLQ 48 (1999), S. 792 (die den Nagel auf den Kopf treffen: „It would seem inappropriate to preclude prosecutions for offences that simply could not have been prosecuted by the foreign court that ren-

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Die in dieser Position verkörperte Missachtung der Grundregel macht sich aber früher oder später bemerkbar – in dem zwischenstaatlichen Bereich sogar mit besonderer Wucht. Denn im zwischenstaatlichen Bereich entsteht ein zusätzliches Problem: die paradoxale Situation, dass ein Staat, der einen engeren Tatbegriff als den des EuGH hat, sich ruhig das Recht vorbehalten kann, die Differenz zum Gegenstand erneuter Verfahren zu machen; alle anderen dem europäischen ne bis in idem-Grundsatz unterliegenden EU-Staaten verlieren dagegen das Recht, dies zu tun. Man stelle sich vor, Connelly (s. o. III. [S. 472]) würde in Deutschland wegen Raubes angeklagt. Er hätte sich dagegen beim EuGH beschweren dürfen, während England seinerseits unproblematisch den Raub verfolgen dürfte. Ähnlich würde es sich bei den hierzulande akzeptierten normativen Kupierungen verhalten (ausf. u. E. III. 4. [S. 560 ff.]). Erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage wegen eines Schlags, der eine schwere Körperverletzung (§ 226 StGB) verwirklicht haben soll, und ergibt sich, dass allein das Antragsdelikt der normalen Körperverletzung vorhanden war (§ 223 StGB), ohne dass der Antrag gestellt und das öffentliche Interesse an der Verfolgung bejaht wurde (§ 230 Abs. 1 StGB), muss das Verfahren mit einem Einstellungsurteil beendet werden (§ 260 Abs. 3 StPO). Die Möglichkeit, den Antrag zu stellen, um die spätere Verfolgung des herauskupierten Antragsdelikts zu veranlassen, bleibt unberührt (näher u. E. III. 4. b) cc) [S. 568 ff.]) – wenigstens innerhalb Deutschlands. Nimmt man den Tatbegriff des EuGH ernst, dann gilt das nur für Deutschland; alle anderen Staaten Europas verlieren aber das Recht, wegen der einfachen Körperverletzung, die in Deutschland nicht einmal verfolgt worden ist, ein Verfahren durchzuführen. Diese Ergebnisse belegen, dass etwas schief gelaufen ist. Die vom EuGH vorgeschlagene Deutung des Tatbegriffs schafft eine Spannung völlig anderer Art: Alle Staaten der EU müssen, damit sie nicht fremde Strafverfolgungsrechte aufs Spiel setzen, die Kognitionspflicht ihrer Gerichte mindestens bis auf die Reichweite des Tatbegriffs des EuGH erweitern, die Anklagen ihrer Staatsanwälte ebenso, was einen empfindlichen und durch nichts zu rechtfertigenden Eingriff in die Prozessstruktur der jeweiligen Staaten darstellt.2028 Der EuGH zwingt alle europäischen Einzelstaaten dazu, ihre Prozessstruktur inquisitorischer auszugestalten.

dered the first judgement.“); Radtke, FS Seebode, S. 314 f.; Calò, RitDPP 2008, S. 1162; Birklbauer, Prozessgegenstand, S. 290. 2028 Dieser Eingriff ist auch angesichts der Bekenntnisse des EU-Rechts zur Achtung der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten (Art. 67 Abs. 2 AEUV; s. a. Art. 4 Abs. 2 EUV, „nationale Identität“) problematisch. Das ist wohlbemerkt kein kulturrelativistisches Argument; die Option für eine eher akkusatorische oder inquisitorische Prozessstruktur lässt sich im Wesentlichen auf Gründe zurückführen, nur geht es um unterschiedliche Wahrnehmungen eines Spielraums der Ungewissheit oder der Unbestimmtheit (s. o. Teil 1 Kap. 1 A. I. [S. 49 ff.]).

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Solange es überwiegend um Delikte zweifelhaften Unrechtsgehalts, wie etwa den Transport geschmuggelter Zigaretten,2029 von Drogen2030 oder sogar von Olivenöl2031 geht, mag man die vom beschuldigtenfreundlich ausgerichteten dynamisch-inkongruenten Tatbegriff ausgehende Spannung noch verkraften. Bei dem vor Kurzem entschiedenen Fall Gaetano Mantello, einen Fall, den man zum Zusammenhang der sog. organisierten Kriminalität rechnen könnte, wurde es jedoch ernst.2032 Der Beschwerdeführer war bereits in Italien wegen Drogendelikten verurteilt worden. Seine Mitgliedschaft in einer kriminellen Bande war den italienischen Behörden bekannt, aber nicht Gegenstand des Erstverfahrens gewesen. Italien beantragte seine Auslieferung wegen des Organisationsdelikts, über das in Italien aber keine Anklage erhoben worden war, und weswegen dort kein Strafklageverbrauch eingetreten war. Um an seiner Rechtsprechung zum autonomen Tatbegriff festhalten zu können, ohne zum widersinnigen Ergebnis zu kommen, dass für alle Länder außer Italien die Strafklage verbraucht sei (so dass sie eine Auslieferung wegen eines Vollstreckungshindernisses gem. Art. 3 Nr. 2 RbEuHb abzulehnen hätten), verlagerte der EuGH das Problem auf die Ebene der „rechtskräftigen Aburteilung“ und beschloss, hier läge eine solche nicht vor.2033 Das stimmt offensichtlich nicht, denn in diesem Fall kam es sogar zu einer Verurteilung.2034 M. a.W.: Das Gericht bediente sich eines Mogeltricks. Der Blick auf die Rechtsprechung des EuGH bestätigt also die Grundregel. Ein Recht des Einzelnen, wegen einer Zweitverfolgung verschont zu bleiben, die eigentlich eine Erste ist, lässt sich nicht aufstellen (s. o. 1. [S. 484 f.]). Eine tragfähige Bestimmung des Tatbegriffs für Europa muss die in den Einzelstaaten vorhandenen Regeln über die Reichweite der Anklage und der richterlichen Kognition zum Ausgangspunkt nehmen.2035 Wie dies im Einzelnen zu erfolgen hätte, muss bei einer späteren Gelegenheit geklärt werden.

2029 EuGH Kretzinger (Fn. 2011), Rn. 14. Überblick über die entschiedenen Sachverhalte in Rosbaud/Lagodny, Ne bis in idem, S. 97 ff. 2030 EuGH Van Esbroeck (Fn. 2011), Rn. 14; Van Straaten (Fn. 2011), Rn. 19 f. 2031 EuGH Gasparini (Fn. 2011), Rn. 16. 2032 EuGH Gaetano Mantello, Rechtssache C-261/09, v. 16.11.2010. Prophetisch insofern van den Wyngaert/Stessens, ICLQ 48 (1999), S. 792. 2033 EuGH Gaetano Mantello (Fn. 2032), Rn. 43 ff. 2034 Richtig Böse, HRRS 2012, S. 21. Böses Kritik kommt aber noch nicht dazu, im autonomen Tatbegriff, den auch er vertritt, die wahre Ursache dieses fehlerhaften Zugs des EuGH zu erkennen 2035 Dezidiert krit. ggü. dem EuGH Calò, RitDPP 2008, S. 1158 ff.; distanziert ggü. dem EuGH auch Satzger, Internationales und europäisches Strafrecht, § 10 Rn. 79 und Hackner, NStZ 2011, S. 427 f.; auf den Tatbegriff des Erstverfolgerstaats stellt Hecker, StV 2001, S. 309 ab; eine Prüfung in zwei Stufen, zuerst nach dem Erstverfolgerstaat, anschließend aus einer „autonomen“ Perspektive, schlägt Vogel, FS Schroeder, S. 887, 889 f. vor.

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bb) Auch der EGMR 2036 hat eine ne bis in idem-Vorschrift anzuwenden, nämlich Art. 4 Abs. 1 EMRK-ZP 7, die den Begriff der „offence“ bzw. der „infraction“ enthält. Der menschenrechtliche ne bis in idem-Grundsatz hat aber, anders als der europarechtliche, keine zwischenstaatliche, sondern nur innerstaatliche Bedeutung. Bei der Bestimmung der offence bzw. infraction geht der EGMR ebenfalls schulmäßig auslegend vor. Seine Rechtsprechung hat indes geschwankt. Im ersten wichtigen Fall, Gradinger, verstand das Gericht die prozessuale Tat dezidiert tatsächlich – ohne jegliche Begründung. Das Gericht verkenne nicht, dass die Straftat der durch Trunkenheit qualifizierten fahrlässigen Tötung (§ 80 östStGB) und die Verwaltungsübertretung des alkoholisierten Fahrens (§ 99 Abs. 1 a östStVO) „sowohl in der Bezeichnung . . . als auch in ihrer Natur und Zweck“ voneinander verschieden seien; ausschlaggebend für den ne bis idem-Grundsatz sei aber vor allem, ob es um dieselbe Handlung („same conduct“) gehe, was im konkreten Fall bejaht wurde.2037 Im danach entschiedenen Oliveira-Fall erfolgte eine Wendung hin zum idem crimen: Es hieß, dass die Idealkonkurrenz zu mehreren offences bzw. infractions i. S. von Art. 4 Abs. 1 EMRK-ZP 7 führe.2038 Das Gericht erklärte dennoch, dass es vorzugswürdig gewesen wäre, alles in einem einzigen Verfahren zu erledigen.2039 Es bemühte sich darum, einen Unterschied zwischen Gradinger und Oliveira auszumachen: Im Gradinger-Fall seien die zwei Gerichte (sic) zu unterschiedlichen Feststellungen der BAK des Beschuldigten gekommen2040 – was die Frage nahelegt, weshalb es hier gerade auf diesen Umstand ankommen sollte.2041 Seit der Entscheidung im Fall Fischer schlug das Gericht eine dritte Linie ein. Jetzt sollte es für die Gleichheit der offences bzw. in2036 Vgl. zusätzlich zu den in den folgenden Fn. erwähnten Nachweisen noch EGMR (Große Kammer) Zolotukhin v. Russland, Beschw. Nr. 14939/03, v.10.2.2009, Rn. 71 ff.; Barja de Quiroga, Tratado, S. 183 ff. 2037 EGMR Gradinger v. Österreich, Beschw. Nr. 15963/90 v. 25.10.1985, Rn. 55; hierzu Grabenwarter, JBl 1997, S. 577 ff.; Hauenschild/Mayr, ZVR 2001, S. 182 f.; Esser, Auf dem Weg, S. 96 f. 2038 EGMR Oliveira v. Schweiz, Beschw. Nr. 84/1997/868/1080, v. 30.7.1998, Rn. 26 f.; näher etwa Hauenschild/Mayr, ZVR 2001, S. 184 ff.; krit. Birklbauer, FS Miklau, S. 49 (der ne bis in idem-Grundsatz werde auf den Bereich der Strafzumessung reduziert); auf derselben Linie EGMR Ponsetti u. Chesnel v. Frankreich, Beschw. Nr. 36855/97, 41731/98, v. 14.9.1999, Rn. 5; Göktan v. Frankreich Beschw. Nr. 33402/ 96, v. 2.7.2002, Rn. 50 f.; Gauthier v. Frankreich, Beschw. Nr. 61178/00, v. 24.6.2003, En Droit, Nr. 2; Öngün v. Türkei, Beschw. Nr. 15737/02, v. 10.10.2006, En Droit Nr. 3. 2039 EGMR Oliveira v. Schweiz (Fn. 2038), Rn. 27. 2040 EGMR Oliveira v. Schweiz (Fn. 2038), Rn. 28; andere, noch weniger klare Erklärung in Fischer v. Österreich, Beschw. Nr. 37950/97, v. 29.5.2001, Rn. 23, 27, unter Anwendung des „same essential elements“-Maßstabs, von dem gleich die Rede sein soll. 2041 Krit. auch der Richter Repik in seinem Sondervotum; Grabenwarter, JBl 1997, S. 104; Dennis, CLR 2000, S. 938; Hauenschild/Mayr, ZVR 2001, S. 187; Thienel/ Hauenschild, JBl 2004, S. 76 f.

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fractions darauf ankommen, ob beide sich hinsichtlich ihrer wesentlichen Gesichtspunkte, ihrer „essential elements“, gleichen würden.2042 Der ne bis in idem-Grundsatz sei zu deuten als das „Recht, wegen eines wesentlichen Gesichtspunkts eines Sachverhalts nur einmal strafrechtlich verfolgt zu werden“.2043 Es blieb unklar, was die Übereinstimmung hinsichtlich wesentlicher Gesichtspunkte eigentlich bedeutet; das Gericht scheint darunter den Fall der Gesetzeskonkurrenz zu meinen,2044 aber vielleicht umfasst es auch etwas mehr. Inzwischen kam es zu einer Entscheidung der Großen Kammer, die den Schwankungen ein vorläufiges Ende gesetzt hat. Die Gleichheit des offences bzw. infractions sei im Sinne des idem factum zu verstehen: Sie sei zu bejahen, wenn beide Verfahren „identical facts or facts which are substantially the same“ zum Gegenstand haben.2045 Die Große Kammer begründet dieses Ergebnis mit drei Argumenten. Der Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 EMRK-ZP 7 scheint eher beiseitegeschoben zu werden, mit der Bemerkung, dass verschiedene internationale Rechtsakte eine andere, faktisch orientierte Formulierung bevorzugen (Rn. 79). An zweiter Stelle verweist die Große Kammer auf den EuGH und den IAGMR, die einen faktischen Tatbegriff für beschuldigtenfreundlicher halten (Rn. 79). An letzter Stelle wendet das Gericht seine Wunderwaffe an, das Effektivitätsgebot (Rn. 80). In der Literatur wird die neue Linie eher gebilligt.2046 Die Wende des EGMR wird sogar als „Leckerbissen in methodischer Hinsicht“ bzw. als „breit angelegte wertende Rechtsvergleichung“ gepriesen.2047 In Österreich wird aber die Linie des EGMR gerade mit Berufung auf die Grundregel vielfach abgelehnt.2048

2042 EGMR Fischer v. Österreich (Fn. ), Rn. 25 ff. (deutsche Zusammenfassung in ÖJZ 2001, 657); W.F. v. Austria, Beschw. Nr. 38275/97, v. 30.5.2002, Rn. 25 ff.; Sailer v. Austria, Beschw. Nr. 38237/97, v. 6.7.2002, Rn. 25 ff.; Manasson v. Schweden, Beschw. Nr. 41265/98, v. 20.7.2004, The Law Rn. 5; Isaksen v. Norwegen, Beschw. Nr. 13596/02, v. 2.10.2003; Rosenquist v. Schweden, Beschw. Nr. 60619/00, v. 14.9. 2004, The Law; Hauser-Sporn v. Österreich, Beschw. Nr. 37301/03, v. 7.12.2006, Rn. 42 ff.; Garreta v. Frankreich, Beschw. Nr. 2529/04, v. 4.3.2008, Rn. 78. 2043 So die Deutung von Birklbauer, FS Miklau, S. 51; ebenso Hauenschild/Mayr, ZVR 2001, S. 189, 192. 2044 So die Deutung von Barja de Quiroga, Tratado, S. 191. 2045 EGMR Zolotukhin v. Russland (Fn. 2036), Rn. 82; dem folgend EGMR Pacifico v. Italien, Beschw. Nr. 17995/08, v. 20.11.2012, Rn. 74; Tomasovic v. Kroatien, Beschw. Nr. 53785/09, v. 18/10/2011, Rn. 26; Asadbeyli u. a. v. Aserbaidschan, Beschw. 3653/ 05 u. a., v. 11.3.2013, Rn. 158. Zu diesem Fall ausführlich Puéchavy, Zolotoukhine, S. 19 ff. 2046 Etwa Giese, Ne bis in idem, S. 111; Huerta Tocildo, Legality principle, S. 334; davor bereits Esser, Auf dem Weg, S. 98; Karakosta, KritV 2008, S. 81. Krit. aber Thienel/Hauenschild, JBl 2004, S. 74 f.; Schwaighofer, ÖJZ 2005, S. 177 f. 2047 Jung, GA 2010, S. 476. 2048 Etwa Thienel/Hauenschild, JBl 2004, S. 74 f.; Schwaighofer, ÖJZ 2005, S. 177 f., die sich beide auch auf den Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 7. ZP-EMRK berufen.

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Aus unserer Perspektive ist dieser ganzen Entwicklung mit äußerster Skepsis zu begegnen. Auch sie verkörpert beschuldigtenfreundliche Dynamisierungen des Tatbegriffs, die früher oder später zu den o. 1. (S. 484 ff.) beschriebenen Spannungen führen. Es fällt auf, dass die Vorschriften über die Klageänderung im Gliederungspunkt „relevant domestic law“ in keiner einzigen Entscheidung zitiert werden.2049 Staaten wie Österreich haben ein extensives Verwaltungsstrafrecht bzw. Ordnungswidrigkeitenrecht, das faktisch einheitliches Fehlverhalten unter den zwei Gesichtspunkten, also parallel zu ahnden pflegt.2050 Dies sind alles „strafrechtliche Anklagen“ i. S. v. Art. 6 Abs. 1 des EGMR und deshalb auch eine „Bestrafung“ i. S. v. Art. 4 ZP-EMRK 7, die nicht doppelt verhängt werden darf, s. u. Kap. 3 IV. 2. (S. 651).2051 Gerade in diesen Staaten wird es schnell zu Fällen kommen, die den Ernst des Gerichts auf die Probe stellen. Die Annahme, dass Deutschland wegen seines sogar noch weitergehenden Tatbegriffs kaum von dieser Entwicklung betroffen sein dürfte, ist schon angesichts der Konstellation normativer Kupierungen (näher u. E. III. 4. [S. 560 ff.]) verfehlt, die das Gericht soweit ersichtlich noch nicht zu entscheiden hatte. Ein „Gaetano-Mantello-Fall“ des EGMR wie beim EuGH ist noch nicht eingetreten. Ob sich das Gericht zu Mogeltricks entscheidet, wird sich herausstellen; und falls es das nicht tut, ist es fast schlechter, weil es sich dann in grundlegender Weise in die Verfahrensstruktur des einzelnen Staates einmischen wird. 5. Fazit Die Grundregel hat sich gegenüber allen Herausforderungen bewährt. Die vier Bespiele für Versuche, sich über sie hinwegzusetzen, und dies in beschuldigtenfreundlichem Sinne, mögen zwar von nachvollziehbaren Bestrebungen der Billigkeit getragen sein. Es ist aber bemerkenswert, wie sie allesamt unter den o. 1. (S. 484 ff.) bereits beschriebenen Druck geraten und wie systematisch sie auf Mogeltricks angewiesen sind, um nicht sehenden Auges Unerträgliches zu vertreten. V. Gibt es äußerste Grenzen für die prozessuale Tat? Die prozessuale Tat, die Gegenstand des Verfahrens und der Rechtskraft ist, wird deshalb von der Anklage bestimmt. In der Anklage kann aber dieser Gegenstand in rechtlicher und faktischer Hinsicht mehr oder weniger präzise und zutreffend beschrieben werden. Es fragt sich also, wie eng die Entsprechung zwi2049 EGMR Gradinger v. Österreich (Fn. 2037), Rn. 13 ff.; Oliveira v. Schweiz (Fn. 2038), Rn. 16 f.; Zolotukhin v. Russland (Fn. 2036), Rn. 26 ff. 2050 Siehe auch Schwaighofer, ÖJZ 2005, S. 177 f., mit zutreffender Kritik (S. 178); Giese, Ne bis in idem, S. 101: die (von ihr aber gebilligte) Linie des EGMR stelle die Struktur des österreichischen Systems in Frage. Näher zu diesem System Lewisch, in: Lewisch/Fister/Weilguni-VStG, § 30 Rn. 1 ff. 2051 Zu diesem Problem auch Karakosta, KritV 2008, S. 73 ff.

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schen Prozessgegenstand und ausdrücklichem Inhalt der Anklage sein muss. Zwei extreme Lösungen sind denkbar.2052 Die Erste erklärt keine Abweichung vom ausdrücklichen Gehalt der Klage für möglich; nur der Ankläger dürfe über den Gehalt der Anklage bestimmen; jede noch so kleine Veränderung mache den Richter zum Ankläger, der nicht mehr in der Lage sei, unbefangen über die Berechtigung der Klage zu entscheiden. Die entgegengesetzte extreme Lösung hält jede Klageänderung für zulässig. Solange der Richter nicht aus eigener Initiative auf den Beschuldigten losgelassen werde, solange er erst nach einer Provokation seitens des Anklägers aus seiner „Ruheposition“ heraustrete, bestünden keine Gefahren. Es soll gezeigt werden, dass keine dieser zwei Lösungen tragfähig ist. Daraus ergibt sich, dass es nach oben und nach unten äußerste Grenzen für die Bindung an die Anklage geben muss. 1. Dass es Grenzen nach oben geben muss, sollte aus dem, was o. C. IV. (S. 436 ff.) bei der Kritik des herrschenden geschichtlich orientierten Tatbegriffs ausgeführt wurde, bereits klar sein. Dürfte der Richter sich nach Belieben von der Anklage entfernen, dann würde sich der Ankläger in dem, was der Richter tut, kaum mehr wiederfinden können. Der Richter würde nicht über dessen Anklage entscheiden, es wäre dem Ankläger nicht als sein Werk zuzuschreiben, dass es zu dem vom Richter gewonnenen Ergebnis gekommen ist. Ein solcher Richter unterscheidet sich nicht vom alten Inquirenten, der letztlich das ganze Leben des Angeklagten zum Gegenstand seines Verfahrens machen kann. Als Vernünftiger trägt er die Verantwortung dafür, dass der Beschuldigte derartig gerichtete Verfahren zu dulden hat, so dass dieser Richter nicht bloß aus individuell-psychologischen, sondern aus allgemein-vernünftigen Gründen nicht dazu in der Lage ist, über die Richtigkeit seiner Vermutungen zu urteilen. Der Ankläger wird seinerseits zum bloßen promotor inquisitionis degradiert, der nur zufällig mit dem letzten Schicksal des Beschuldigten zu tun hat. Er wird, wie gesagt (o. B. III. 3. [S. 398], C. IV. [S. 437, 438]), zum blinden Vehikel poetischer Gerechtigkeit gemacht, obwohl es ihm nicht nur darum gehen darf, einen Schuldigen irgendwie zur Strafe zu führen, sondern die für die Tat des Schuldigen passende Strafe zu finden. Die Lösung, mit der sich die überwiegende Auffassung begnügt und die man aus dem Wortlaut von §§ 155, 264 StPO, insbesondere aus der in § 155 Abs. 2 auftauchenden Wendung „innerhalb dieser Grenzen“ ableitet, ist die, dass die Abwandlung möglich ist, solange es noch um dieselbe Tat geht. Dies ist aber nicht bloß aus den zuvor genannten und jetzt zum Teil wiederholten Gründen unbefriedigend, sondern bedeutet möglicherweise auch, dass man sich im Kreise bewegt. Denn entweder ist – wie es das Anklageprinzip gebietet, s. o. II. (S. 469) – die prozessuale Tat etwas, dessen Reichweite man vom festen Boden der Anklage aus zu bestimmen versucht. Dann ist aber der Tatbegriff selbst eine Funktion der 2052

Ähnl. Glaser, GS 36 (1884), S. 82.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Gestaltbarkeit der Anklage, der dieser Gestaltbarkeit schon deshalb keine Grenzen zu setzen vermag. Oder es gibt feststehende Taten, freischwebende geschichtliche Vorgänge, wie es der h. M. wohl vorschwebt. Dann sind aber alle o. C. III. (S. 433 ff.) entwickelten epistemischen, methodischen und normativen Einwände einschlägig. 2. Aber auch die entgegengesetzte Extremauffassung, die keine Abweichung vom ausdrücklichen Gehalt der Anklage zulässt, ist falsch.2053 Dies lässt sich zunächst intuitiv an einer Reihe von Schwierigkeiten erkennen, die sich alle letztlich auf den entscheidenden Gesichtspunkt, nämlich ein richtig verstandenes Anklageprinzip, zurückführen lassen. a) Eine strenge Bindung an den Wortlaut der Anklageschrift würde zu mehreren Schwierigkeiten führen. Die Korrektur kleiner Aufmerksamkeitsfehler gehört nicht zu diesen Schwierigkeiten: etwa, dass man sich verschreibt und die Anklageschrift gegen Johannes Mayer statt Meier oder Meyer richtet. Die Berichtigung dieser Fehler ist selbstverständlich gestattet,2054 hier geht es nur um Fragen der „Auslegung der Strafklage“.2055 Die Probleme befinden sich auf einer tieferen, von solchen Ausrutschern unabhängigen Ebene. Die Sorgen der amerikanischen Lehre über unbegrenztes staatsanwaltschaftliches Ermessen haben wir bereits an mehreren Stellen registriert (s. o. B. IV. 3. [S. 414 f.], C. VI. 3. [S. 453 f.]). Diese Sorgen würden sich bei einer strikten, unflexiblen Bindung an die Anklage sogar um einiges zuspitzen. Es stünde nämlich in der Willkür der konkreten Person, die die Anklageschrift verfasst, ob sie sich Verurteilungen dadurch zusichert, dass sie sich weniger konkret fasst (Diebstahl „von Obst“, „am Abend“), oder ob sie sich dadurch erneute Verfolgungsversuche vorbehält, dass sie den angeklagten Vorgang detaillierter beschreibt (Diebstahl vom „5 Bananen, 4 Äpfeln und 25 Mandarinen“, „um 19:47“).2056 Im letzten Fall wäre jeder Freispruch praktisch wertlos, weil sofort eine Anklage wegen einer sich nur in einem dieser Details unterscheidenden, danach aber prozessual verschiedenen Tat möglich wäre.2057 Im

2053

Glaser, GS 36 (1884), S. 96 ff. Innerhalb welcher Grenzen wäre eine Frage für sich; s. bezüglich der Korrektur des Tatzeitpunktes für Deutschland BGHSt 46, 130; NStZ-RR 2004, 146; OLG Celle, NStZ 2008, 118; bezüglich weiterer tatindividualisierender Umstände BGH GA 1973, 111. 2055 Glaser, GS 36 (1884), S. 106; aus heutiger Sicht Velten, SK-StPO § 264 Rn. 55. 2056 Glaser, GS 36 (1884), S. 101: „Der Gedanke liegt nahe, daß vorsichtige Unbestimmtheit in der Fassung der Klage geeignet ist, die Formstrenge zu beugen . . .“ Zu leicht macht es sich Barthel, Begriff der Tat, S. 109, wenn er meint: „So ist es von entscheidender Bedeutung, ob es heißt, der A habe den B mit einer Schußwaffe, einem Gewehr, einem Kaliber 7,65 mm. oder einem bestimmten Gewehr Marke ,Walther‘ erschossen“. Möchte Barthel wirklich denjenigen freisprechen und einer erneuten Verfolgung aussetzen, der in Wahrheit eine Pistole der Marke Kahr benutzt hat? 2057 Siehe bereits Glaser, GS 36 (1884), S. 96: „. . . weil endlich die Zulassung einer neuen, von der bereits abgewiesenen nur unwesentlich sich unterscheidenden Anklage 2054

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zweiten Verfahren wären zum großen Teil dieselben Beweise zu erheben (etwa dieselben Zeugen zu hören) und dieselben Rechtsfragen zu klären, so dass es aus der Perspektive des Beschuldigten zu einer Wiederholung käme, die zwar formell sein Rehabilitierungsrecht im o. Teil 1 Kap. 2 VI. 6. d) (S. 312 ff.) entwickelten Sinne nicht antastet, ihm aber materiell jegliche Bedeutung abspricht. b) Diese Unstimmigkeiten sind eigentlich nur Symptome des tiefergreifenden Problems, nämlich der Verkennung des eigentlichen Sinns des Anklageprinzips. Der unverfügbare Kern dieses Prinzips ist die Neutralisierung der Gefahr, die daraus entsteht, dass derjenige, der eine qualifizierte Verdächtigung ausspricht, als Vernünftiger wollen muss, dass sie sich bewahrheitet. Nebensächliche Details – was darunter genau zu verstehen ist, wird uns erst im Anschluss beschäftigen (u. VI.) – sind deshalb nebensächlich, weil sie in Bezug auf diese Gefahr völlig neutral sind. Das Anklageprinzip verbietet deshalb nicht schlechthin jede Umgestaltung der Strafklage.2058 Man greife wieder das Beispiel von den Freunden X und Y und der untreuen Frau von Letzterem auf (s. o. B. III. 3. [S. 397 f.]). Hätte X dem Y gesagt, „ich glaube, Deine Frau ist letzte Woche um 20:30 fremdgegangen“, obwohl die Frau von Y sich erst um 21:00 ihren Betätigungen hingegeben hatte, würde sich X zu Recht bestätigt fühlen können. Dies wird daran ersichtlich, dass man es für unsinnig halten würde, wenn sich die Frau von Y gegen X damit verteidigen würde, sie habe es „erst“ um 21:00 getan. Dies deutet darauf hin, dass dasjenige, was X mit seiner Verdächtigung verbindet und ihn als Vernünftigen für sie verantwortbar macht, nicht ein derart äußerer Umstand ist. Die Abweichung vom wörtlichen Inhalt der Anklage ist deshalb nicht nur zulässig, sondern kann von einem richtig verstandenen Anklageprinzip sogar geboten sein. Eine Anklageerhebung unter gleichzeitiger Ausscheidung dieser Umstände müsste aus der hier maßgeblichen Sicht des homo noumenon als venire contra factum proprium angesehen werden. VI. Die äußersten Grenzen (I): unterste Grenze Das Anklageprinzip erlaubt oder gebietet sogar eine Umgestaltung des ausdrücklichen Gegenstands einer Strafklage. „Zu dem ausgesprochenen Inhalt derselben tritt nämlich noch ein weiterer unausgesprochener, impliciter hinzu“.2059 zu vexatorischer Vereitelung des Schutzes führen könnte, ja müßte, den dem Angeklagten das zu seinem Gunsten in der Sache einmal ergangene Urtheil gewähren soll“. 2058 So aber Hasenbalg, Öffentliche Klage, S. 133. 2059 Glaser, GS 36 (1884), S. 110; s. a. Hasenbalg, Öffentliche Klage, S. 179 (mit der Unterscheidung zwischen „materieller“ und „formeller“ Consumtion der Strafklage); Binding, Strafurteil, S. 333; Liu, Identität der Tat, S. 74 ff. („aufgegebene Tat“); Geerds, Konkurrenz, S. 362; Noftz, Prozeßgegenstand, S. 75 – wohl krit. Spinellis, Rechtskraft, S. 68: „Fiktion“; ebenso W. Bauer, NStZ 2003, S. 176.

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Es gibt eine „Attraktivkraft der Anklage.“ 2060 Jede Umgestaltung der Klage wird dennoch einen hinreichenden Bezug zur ursprünglichen Gestalt der Klage wahren, also gewisse Grenzen einhalten müssen, so dass sie weiterhin als Konkretisierung eines in ihr bereits impliziten Inhalts angesehen werden kann. Jetzt gilt es nachzuforschen, ob sich über diese Grenzen Genaueres sagen lässt. Entsprechend der Zweiteilung der Verdächtigung in eine faktische und eine normative Seite (s. o. Teil 1 Kap. 2 B. V. [S. 129]) und der Beschaffenheit des Anklageprinzips (s. o. B. III. 3. [S. 392 ff.]) werden sich normative und faktische Grenzen unterscheiden lassen. 1. Die unterste normative Grenze Die normative Seite der Verdächtigung bzw. des Prozessgegenstands besteht aus dem Satz „A hat sich gem. dieser einen Vorschrift strafbar gemacht“. Hier bestehen zwar auf den ersten Blick keine grundsätzlichen, d.h. vom Anklageprinzip herrührenden Bedenken dagegen, dass man den Richter an die Vorschrift bindet, die vom Ankläger in seiner Anklage herangezogen worden ist. Das widerspricht auch nicht anderen Prinzipien, insbesondere nicht der Idee der rechtsprechenden Gewalt, die der in der schönen Formulierung von Art. 92 GG den Richtern anvertraut ist. Denn der Richter würde nicht dazu gezwungen, etwas, was seiner Auffassung nach Betrug ist, zum Diebstahl zu erklären, weil es als Diebstahl angeklagt worden ist; er müsste nur wegen Diebstahls freisprechen und es dem Ankläger überlassen, ein erneutes Verfahren wegen Betrugs zu initiieren. Zwar wäre das umständlich, aber eine Rechtsordnung kann bereit sein, diese Mühen als fairen Preis für die möglichst vollständige Unterbindung der von ihr für gefährlich erachteten richterlichen Initiative anzusehen. Eine solche Argumentation würde dennoch zu einer unerfreulichen Konsequenz führen, die zwar nicht im Beispiel der Alternative Diebstahl v. Betrug, aber im Beispiel der Alternative Raub v. Diebstahl klar zum Vorschein kommt. Man nehme an, es ist wegen Raubes angeklagt worden, der Beschuldigte kann aber darlegen, dass er keine qualifizierten Nötigungsmittel eingesetzt hat; die Wegnahme und alles Weitere ist erwiesen, so dass es einen Diebstahl gab. Bindet man den Richter so eng an die Anklage, dass er bei einer Anklage wegen Raubes nicht wegen Diebstahls verurteilen darf, so hat er keine andere Wahl als freizusprechen, damit ein neues Verfahren wegen des Diebstahls durchgeführt werden kann. Damit stellt man den Beschuldigten vor die schwere Alternative, entweder eine Verurteilung hinzunehmen, die nicht seiner Schuld entspricht, indem er das Vorhandensein des ihn begünstigenden Umstands verschweigt bzw. unterdrückt, oder ein zweites Verfahren erdulden zu müssen, damit er schuldangemessen verurteilt werden kann. 2060

Beling, ArchMilR 2 (1911), S. 338.

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Das Problem erledigt sich, wenn man sich auf die Begründung des Anklageprinzips zurückbesinnt (o. B. III. 2. b) [S. 390 ff.]). Die Formulierung einer qualifizierten Verdächtigung gibt jedem, der anderen kein Unrecht zufügen möchte, also jedem Vernünftigen einen Grund, zu wollen, dass sich die Verdächtigung bewahrheitet. Strafbarkeitsmindernde Umstände enthalten aber von vornherein keinen Vorwurf. Derjenige, der sie behauptet, ist deshalb nicht als Vernünftiger befangen. In dieser Hinsicht könnte man sagen, dass das Anklageprinzip für diese Umstände schon von vornherein nicht gilt. Materiell gleichbedeutend, wenn auch etwas konstruktivistisch angehaucht, und um wenigstens den Anschein einer Geltung des Anklageprinzips zu wahren, könnte man auch sagen, dass der implizite Vorwurf darin besteht, den Grundtatbestand ohne solche Umstände verwirklicht zu haben. Ein Diebstahl wäre ein Raub minus qualifizierte Nötigung, die Abwesenheit der qualifizierten Nötigung eine Art negatives Tatbestandsmerkmal.2061 Die Überprüfung, ob sich dieser Vorwurf bestätigt, gehört deshalb immer zur Aufgabe des Richters, unabhängig davon, ob ihre Abwesenheit explizit erwähnt worden ist. Das dürfte in groben Zügen nicht nur das, was radikale Vertreter des Anklageprinzips im 19. Jahrhundert vor Augen hatten,2062 sondern auch die Lösung des angelsächsischen Strafverfahrens sein. Wie gesehen (o. III. [S. 473]), geht man in solchen Systemen auf Grundlage eines engen Verständnisses des Anklageprinzips davon aus, dass das Gericht nur nach einem Straftatbestand verurteilen darf, der im sog. indictment2063 erwähnt worden ist. Trotzdem lässt man es zu, dass zusätzlich zu dem ausdrücklich genannten Tatbestand noch der sog. lesser included offense bestraft wird. Die Redeweise von dem lesser included offense trifft die Sache aber noch nicht genau genug. Denn dieselben Probleme ergeben sich, wenn man sich umgekehrt von einer allgemeineren zu einer spezielleren, aber auch milderen Vorschrift bewegt, wie z. B. vom Totschlag zu einer Kindstötung oder zu einer Tötung auf Verlangen. Wichtiger als das included ist also das lesser. Auch hier darf man es nicht dem Angeklagten zumuten, sich zwischen einer schuldübersteigenden Bestrafung oder einem zweiten Strafverfahren entscheiden zu müssen. Vielmehr muss bereits das erste Verfahren es ermöglichen, dass eine das Schuldprinzip beachtende Strafe gewonnen wird. Deshalb muss eine Abwandlung der 2061

Ähnliches Konstrukt bei Montenbruck, GA 1988, S. 542. Insb. Zachariä, Handbuch II, S. 512 bzgl. der Zulässigkeit eventueller Fragen an die Jury; v. Bar, Recht und Beweis, S. 142 ff. (der freilich in zweifelhafter Konsequenz die Berücksichtigung von Qualifikationen im Falle eines Geständnisses für zulässig erklärt [S. 144], womit er nach seinen Prämissen zu einer Verurteilung ohne Anklage kommt) – beide werden bereits in den Motiven zur RStPO abl. erwähnt (in: Hahn/Mudgan, Materialien, S. 206 Fn. 1). 2063 D.h. die für gravierendere Straftaten, sog. felonies, vorgesehene Form der Anklage, Rule 7 FedRCrimP. 2062

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rechtlichen Dimension der Anklage immer dann zulässig sein, wenn sie dazu führt, dass man wegen einer milderen Abwandlung straft. Konkret heißt es: Eine Anklage wegen einer Qualifikation gestattet die Umwandlung in den Grundtatbestand und auch in eine Privilegierung; eine Anklage wegen vollendeter Tat gestattet immer die Umwandlung in einen Versuch; und eine Anklage wegen vorsätzlicher Tat gestattet die Umwandlung in Fahrlässigkeit. Mir ist klar, dass nicht alle Rechtsordnungen diese Grenzen einhalten. Dies scheint nach dem Bericht von Taguchi die Sachlage in Japan zu sein.2064 Entscheidend ist dort der Begriff des „Klagegrunds“ (§ 256 III japStPO), der nach der sog. Count-Theory bestimmt wird, nach der es auf die vom Ankläger vorgenommene rechtliche Einordnung ankommt.2065 Man spricht in diesem Zusammenhang von einem „Prinzip der Anklageschrift allein“, das darauf hindeutet, dass das Gericht nicht die Befugnis hat, von sich aus den Inhalt der Anklage zu verändern.2066 Taguchi berichtet von einem vom Höchsten Gerichtshof entschiedenen Fall, in dem bestimmt wurde, dass bei einer Anklage wegen Totschlags nicht einmal die Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung möglich sei.2067 Ob der Betroffene ein zweites Verfahren dulden musste, um seiner Schuld entsprechend bestraft zu werden, erfährt man von Taguchi zwar nicht. Dass dies aber erforderlich gewesen wäre, ist der unerfreulich hohe Preis der Missachtung überpositiver Rechtsprinzipien.2068 2. Die unterste faktische Grenze a) Wenn die Anklage den Entscheider nicht einmal in ihrer rechtlichen Dimension völlig binden kann, folgt bereits daraus zwingend, dass dies erst recht in Bezug auf die in ihr beschriebenen Tatsachen der Fall sein wird.2069 Denn die Umwandlung von Totschlag in Kindestötung oder in Tötung auf Verlangen wird eventuell die Ergänzung des in der Anklage beschriebenen Vorgangs erforderlich machen, falls der Ankläger es unterlassen haben sollte, die Umstände zu benennen, auf denen diese Privilegierungen beruhen. Schon aus diesem Grund ergibt sich, dass der Richter in einem bestimmten Umfang über den Wortlaut der Anklage hinausgehen darf, und dies auch dann, wenn das Verfahrenssystem derart eingerichtet ist, dass es in extrem akkusatorischer Gestaltung darum bemüht ist, möglichst jede richterliche Initiative auszuschalten. Ein Gericht, das etwa bei ei2064

Taguchi, ZIS 2008, S. 70 ff.; s. a. Nose, ZStW 82 (1970), S. 794 Fn. 34. Taguchi, ZIS 2008, S. 71, 75. 2066 Taguchi, ZIS 2008, S. 72; s. a. Kato, JFL Aichi Univ. 153 (2000), S. 5. 2067 Taguchi, ZIS 2008, S. 73. 2068 Mündlich berichtete mir aber Prof. Dr. Katsuyoshi Kato, dass die Praxis die Strenge dieser Regeln dadurch abmildert, dass Richter den Staatsanwälten einen informellen Hinweis geben, die Anklage zu verändern, dem sich diese in den seltensten Fällen verweigern – ein weiterer Beleg für die krummen Wege, über die begründete Regelungen letztlich doch zur Anerkennung gelangen. 2069 Siehe auch Glaser, GS 36 (1884), S. 105; Liu, Identität der Tat, S. 85. 2065

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ner Anklage wegen Totschlags Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Tötung auf Verlangen zu erkennen glaubt, von denen in der Anklage nicht die Rede war, muss selbstständig auf sie eingehen dürfen, auch wenn sich das Prozesssystem selbst als sehr akkusatorisch definiert. b) Es kann aber sein, dass sich keine Verschiebung der rechtlichen Einordnung ergibt, sondern dass die Umwandlung allein tatsächliche Umstände betrifft. Der Totschlag erfolgte nicht durch Faustschläge, sondern durch Fußtritte. Es stellt sich die Frage, ob und wie weit hier eine Entfernung vom ausdrücklichen Gehalt der Anklage zulässig sein kann. aa) Dass dies der Fall sein muss, lässt sich bereits intuitiv erkennen. Hier soll man sich an das o. V. (S. 512) erwähnte Manipulierungsproblem erinnern, das anhand zweier Beispiele verdeutlicht wurde: eines Autos, von dem es heißt, es sei am 25.11.2012 gegen 22 Uhr gestohlen worden, das aber in Wahrheit, wie sich im Laufe des Verfahrens ergibt, erst am 26.11.2012 um 1 Uhr gestohlen wurde (o. C. V. 4. [S. 443 f.]); und des Ehebruchs der Frau von Y, der entgegen den Angaben von X nicht um 21:30, sondern schon um 21 Uhr geschehen ist (o. V. [S. 513]). Man kann sich beliebig viele weitere Beispiele ausdenken: eine Tötung durch 10 für sich genommen tödliche Messerstiche darf nicht Gegenstand 10 unterschiedlicher Strafverfahren bilden, bloß weil der Ankläger es für ratsam hält, jeden einzelnen Akt getrennt anzuklagen, um somit die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass wenigstens eine Verurteilung erreicht wird. Auch dann, wenn in der Anklageschrift nur von einem Messerstich die Rede ist, müssen die weiteren 9 miterfasst werden. Um jetzt die Brücke zur Realität zu schlagen: Ein Dauerdelikt, etwa das des unehelichen Zusammenwohnens (cohabitation), das für eine Spanne von drei Jahren verwirklicht wurde, darf nicht Gegenstand mehrerer Anklagen über unterschiedliche Zeitspannen sein;2070 und es dürfen wegen 1800 illegaler Bierverkäufe am selben Tag keine 1800 Anklagen erhoben werden.2071 Die Beispiele zeigen, dass die Probleme nicht bloß theoretisch sind. Denn durch diese Praxis des Anklage-Splittings sichert sich der Staatsanwalt eines akkusatorischen Verfahrens noch eine zusätzliche Dosis Macht, die diejenige, über die er regelmäßig sowieso schon verfügt, um einiges potenziert. Hiermit wird es ihm auch leicht, Zwang zur Abgabe eines guilty plea zu schaffen.2072 Es verwun2070 So der Sachverhalt in U.S. Supreme Court, In re Snow, 120 U.S. 274 (1887): Gegen den Angeklagten, der das Dauerdelikt drei Jahre lang begangen haben soll, wurden drei Anklagen erhoben, jede wegen unterschiedlicher 12 Monate Straftatbegehung; der Supreme Court hielt eine einzige Straftat für gegeben (S. 282); hierzu Thomas III, Double Jeopardy, S. 96 f. Siehe auch U.S. Supreme Court, Brown v. Ohio, 432 U.S. 161, 169 (1977). 2071 So der Sachverhalt in State v. Broder 90 Mo. App. 169 (1901), zit. nach Thomas III, Double Jeopardy, S. 156. 2072 Zu dieser Praxis Thomas III, Double Jeopardy, S. 174; zum sog. overcharging bereits o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 3. (S. 266).

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dert also nicht, dass viele Autoren aus diesem Rechtsraum die Sorge um das staatsanwaltschaftliche Ermessen zum Anliegen der double jeopardy-Klausel erklären,2073 um dessen Kontrolle man sich deshalb mittels der Figur des abuse of process oder des mandatory joinder bemüht. Wie o. V. (S. 512 f.) gesagt, würden die anderen Verfahren dem früheren inhaltlich weitgehend entsprechen. bb) Es fragt sich aber, ob ein raffinierteres Verständnis des Anklageprinzips, demzufolge es nicht so sehr auf den konkreten Ankläger als Individuum, sondern auf einen vernünftigen Ankläger ankommt, nicht auch zugleich bei der Bewältigung des Problems des willkürlichen Splittings weiterhelfen könnte. Womöglich bräuchte man in einer gewissen Hinsicht nicht einmal über „Schranken“ des anklägerischen Ermessens nachzudenken, weil vernünftigem und nicht individuellwillkürlichem Ermessen schon von vornherein einige dieser Schranken immanent sind.2074 Es fragt sich also, ob sich aus der o. B. III. 2. b) (S. 390 ff.) ausformulierten Begründung ein Kriterium gewinnen lässt. Man könnte zunächst denken, dass zum Verfahrensgegenstand allein die faktischen Umstände gerechnet werden dürfen, die von der einschlägigen Vorschrift für relevant erklärt werden. So ist die Uhrzeit des Diebstahls (bzw. des Ehebruchs) oder die Anzahl der Messerstiche irrelevant; relevant ist bloß, ob eine „Wegnahme einer fremden beweglichen Sache in Zugeignungsabsicht“ oder „Tötung eines anderen“ gegeben ist. Dies wäre aber eine sehr unplausible These. Denn viele Umstände, die nicht zum Tatbestand gehören, scheinen auch intuitiv – und mehr als Intuitionen haben wir, bevor das Kriterium ausformuliert worden ist, nicht – nicht derart irrelevant zu sein wie die Uhrzeit des Diebstahls oder die Anzahl der Messerstiche. Man denke insbesondere an die Identität des getöteten Opfers (die sogar für inquisitorische Verfahren nicht völlig irrelevant sein darf, näher u. F. III. 10. [S. 620 ff.]). Der Totschlagsparagraph bestraft die vorsätzliche Tötung eines Menschen, und nicht von A oder B; dennoch sträubt sich etwas dagegen, in einer Anklage wegen der Tötung von A automatisch und bereits aus einem apriorischen Grund auch eine Anklage wegen der Tötung eines jeden anderen Menschen, und deshalb auch von B zu erblicken. Die Leitlinie muss auch hier das Anklageprinzip sein, dessen indisponibler Sinn es ist, der Gefahr vorzubeugen, dass jeder Vernünftige, der per definitionem niemandem Unrecht antun möchte, seine Verdächtigungen bestätigt sehen will. Man wird daraus die zwar nicht völlig trennscharfe, aber immerhin eine Orientierung liefernde Richtlinie ableiten dürfen, dass alles, was dieser ausdrücklichen Verdächtigung so nahe2073 Auf das sich Brennan zur Begründung des same-transaction-test beruft, s. o. C. V. 5. (S. 443 f.); Kirchheimer, YLJ 58 (1949), S. 525 f.; zum Zentralanliegen des double jeopardy erhoben von Sigler, Double Jeopardy, S. 155 ff.; Marshall, in: Missouri v. Hunter, 459 U.S. 359, 373 (1983); s. a. Klein/Chiarello, TexLR 77 (1998), S. 361. 2074 Siehe schon Glaser, Non bis in idem, S. 607; ders. GS 36 (1884), S. 83, 97 f. und H. Mayer, GS 99 (1930), S. 312, in einer wenig beachteten Passage. Dies ist unabhängig davon, ob man vom Opportunitäts- oder Legalitätsprinzip ausgeht.

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steht, dass es vom Verdächtiger notwendig noch als „sein Ding“ angesehen werden muss, als stillschweigender Inhalt der Anklage zu gelten hat, so dass eine Abwandlung noch möglich sein wird. Oder, wie o. V. (S. 510 f.) gesagt wurde, alles, wovon sich kein vernünftiger Ankläger zu distanzieren vermag, ohne ein venire contra factum proprium zu begehen, muss als implizit mitangeklagt gelten. Man könnte von einem Ähnlichkeitstest sprechen. Aus diesen Erwägungen lassen sich zwei zugegeben verschwommene, aber immerhin möglicherweise brauchbare Richtlinien ableiten. Zunächst muss auch im strengsten akkusatorischen Verfahren alles, was mit dem explizit der Anklage zugrunde liegenden Vorgang in einem besonders engen räumlich-zeitlichen Zusammenhang und zu ihm im Verhältnis einer großen Ähnlichkeit des äußeren Erscheinungsbildes steht, zum impliziten Gehalt der Anklage gerechnet werden. Innerhalb dieser Grenzen muss eine Abweichung vom ausdrücklichen faktischen Gehalt der Anklage auch dann zulässig sein, wenn es sich um ein System handelt, das das Gericht im strengsten Maße an die Anklage binden möchte. Die Formel ist zugegeben unscharf; insbesondere lässt sich der enge räumlich-zeitliche Zusammenhang kaum einzelfallübergreifend präzisieren. Bei Messerstichen wird es um einzelne Minuten gehen, bei der Tötung eines Menschen können sogar Tage oder mehrere Wochen in Betracht kommen.2075 Die zweite Richtlinie dürfte praktisch brauchbarer sein, auch wenn sie nicht als der Wahrheit letzter Schluss gelten darf. Zum Gegenstand der Anklage muss notwendigerweise auch alles gehören, was vernünftigerweise nicht erst nicht hintereinander, sondern vor allem nicht gleichzeitig verfolgt werden dürfte. Wenn sich der Tatbegriff gemäß der Grundregel nur als ein statisch-kongruenter deuten lässt (s. o. IV. 1. [S. 484 ff.]), dann müssen Sperrwirkung und Rechtshängigkeit den gleichen Gehalt aufweisen. M. a.W.: Dasjenige, was man nicht nacheinander verfolgen darf, darf man auch nicht zugleich in unterschiedlichen Verfahren verfolgen. Diese Richtlinie, die man als Gleichzeitigkeitstest bezeichnen könnte, würde wohl bei allen gerade genannten Beispielen weiterhelfen, insbesondere auch beim Fall der 10 Messerstiche oder der 1800 verbotenen Bierverkäufe. Es erscheint einfach widersinnig, 1800 Hauptverhandlungen abzuhalten und den quasi exakt gleichen Vorgang festzustellen. Damit ist festzuhalten: Auch im strengsten akkusatorischen System sind Umstände, die nicht ausdrücklich den Gegenstand der Verdächtigung bilden oder nicht ausdrücklich als verdächtigungsbegründend genannt werden, als Gegen2075 Denn findet man eine verweste Leiche, die Zeichen eines bereits vor einigen Monaten eingetretenen unnatürlichen Todes aufweist (Schussverletzungen etwa), und kommt eine Person als Verdächtiger in Betracht, dann kann die Reichweite des Prozessgegenstandes und auch der Rechtskraft nicht davon abhängen, wie konkret die Anklage die Tathandlung des Verdächtigten beschreibt. Ansonsten könnte der Ankläger 50 Prozesse führen, einen wegen der Tötung an einem Tag, einen wegen der Tötung an dem nächsten Tag usw.

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stand des Verfahrens anzusehen, solange sie mit dem Verhalten, das Gegenstand ausdrücklicher Verdächtigung war, in seiner Unwertdimension identisch bleiben, ihm räumlich, zeitlich und ihrem Erscheinungsbild nach sehr nahestehen (Ähnlichkeitstest), und vernünftigerweise nicht gleichzeitig in parallelen Verfahren verfolgbar erscheinen (Gleichzeitigkeitstest). VII. Die äußersten Grenzen (II): oberste Grenze Die bisherigen Ausführung zu den untersten möglichen Grenzen einer zulässigen Abweichung vom ausdrücklichen Inhalt der Anklage sind für einen deutschen Leser von geringerem Interesse. Denn hierzulande wird dem Richter große Freiheit zugesprochen, sich vom ausdrücklichen Gehalt der Anklage zu entfernen, sowohl in ihrer normativen als auch in ihrer faktischen Dimension. Jetzt wenden wir uns der Frage zu, wo die Freiheit, die wie o. V. (S. 510 ff.) darlegt, nicht unbegrenzt sein kann, ihre Grenzen findet. 1. Die oberste normative Grenze a) Die h. M. bestreitet, dass es bezüglich der normativen Dimension der Anklage überhaupt Grenzen nach oben gibt. Man spricht unter Berufung auf §§ 155 Abs. 2 HS. 2; 264 Abs. 2; 265 Abs. 1 StPO von einem Grundsatz „allseitiger“ bzw. „umfassender“ Kognition:2076 „Das Gericht hat also in der rechtlichen Beurteilung volle Freiheit“,2077 ist sogar „souverän“.2078 „Das Gericht prüft den Thatbestand nicht blos von dem in der Anklage bezeichneten rechtlichen Gesichtspunkte aus, sondern fasst ihn von allen denkbaren möglichen strafrechtlichen Gesichtspunkten aus ins Auge.“ 2079 Zugespitzt: Das Gericht darf den Betroffenen bei einer Anklage wegen eines Diebstahls nicht nur wegen Betruges, sondern auch wegen Mordes schuldig sprechen.2080 Dem nicht entschieden zu widersprechen, käme einer Missachtung des Anklagegrundsatzes gleich. Denn das Schlechte an dem, was den Gegenstand einer 2076 Etwa BGH NStZ 2004, 582; Gerland, Strafprozeß, S. 377; Eb. Schmidt, Lehrkommentar I, Rn. 296; G. Schmidt, JZ 1966, S. 89; Velten, SK-StPO § 264 Rn. 28: „Unteilbarkeit der Kognition“; s. a. Coenders, JW 1925, S. 1003. 2077 v. Kries, Lehrbuch, S. 568 (Zitat); ebenso Hasenbalg, Öffentliche Klage, S. 41, 123 ff., 179 f.; Planck, Systematische Darstellung, S. 322; heute Cortés Domínguez, Cosa juzgada, S. 133; Velten, SK-StPO § 264 Rn. 53; Engelhardt, KK-StPO § 264 Rn. 23. 2078 Bettiol, Correlazione, S. 81. 2079 Barbarino, Rechtskraft, S. 96. 2080 Ähnl. RGSt 57, 51 (52): Änderung von Diebstahl auf Tötungsdelikt; hier musste das RG aber materiellrechtliche Tatmehrheit annehmen, um dem Verbrauch der Strafklage, die nur wegen Diebstahls erhoben und abgeurteilt wurde, entgehen zu können, näher u. F. II. (S. 631 f.). Vgl. auch RGSt 70, 396 (398): Beteiligung an Steuerzuwiderhandlung und Bestechung.

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Verdächtigung bildet, ist nicht eine „freischwebende“ Schlechtigkeit. Es reicht auch nicht zu sagen, dass die Schlechtigkeit allein darin liegt, dass es um eine Straftat geht. Vielmehr macht es einen großen Unterschied, ob man jemanden „nur“ des Diebstahls oder schon eines Mordes verdächtigt. Es erscheint unmittelbar einleuchtend, dass die Verantwortung, die man als vernünftiges Subjekt für diese Behauptungen übernehmen muss, eine völlig andere ist. Mit anderen Worten und etwas salopp: Jede Verdächtigung weist eine bestimmte Richtung auf.2081 b) Das Problem ist also, wie diese Richtung näher bestimmt werden kann. aa) Man könnte zunächst an die von den Vorschriften geschützten Rechtsgüter denken; dies wäre aber, aus Gründen, die schon o. C. VI. 6. a) (S. 459 ff.) ausgeführt worden sind, kein befriedigendes Kriterium. Man denke nur an das Verhältnis von Diebstahl (Eigentum) und Betrug (Vermögen), oder Diebstahl und Wohnungseinbruchsdiebstahl. bb) Ist die Anklage der gebotene Ausgangspunkt (s. o. III. [S. 469 f.]), könnte es naheliegen, auf den Willen des Anklägers abzustellen.2082 Zu fragen wäre demnach, ob der jeweilige Staatsanwalt auch die Bestrafung wegen der anderen Tatbestandsverwirklichung herbeiführen wollte. Dies wäre indes offensichtlich falsch; wir haben gerade gesehen, dass nicht einmal ein streng akkusatorisches System allein das für maßgeblich erklären kann, was der Ankläger psychologisch gewollt hat (s. o. V., VI. [S. 510 ff.]). Denn der psychologische Wille gehört dem homo phaenomenon, und die hier entwickelte Begründung des Anklageprinzips stellt auf den homo noumenon ab. cc) Denkbar wäre auch, die Richtung an dieselben Voraussetzungen zu knüpfen, von denen die Erhebung der Anklage abhängig war. Nach deutschem Recht wäre das der hinreichende Verdacht. Gemäß einem solchen Kriterium würde nur dasjenige, was schon aus der Perspektive des Eröffnungsrichters für sich genommen ein Verfahren rechtfertigen könnte, zum impliziten Gehalt der Anklage gehören. Auch dieses Kriterium vermag hier nicht weiterzuhelfen. Praktisch käme das einer ungebührenden Fesselung des Verhandlungsrichters an die Perspektive des Eröffnungsrichters gleich, die die Hauptverhandlung entwerten würde. Wichtiger erscheint der vom Anklageprinzip her formulierte Zweifel, dass es immer noch 2081 Vgl. bereits Niederreuther, DStR 1936, S. 172: „Blickrichtung“ der Verdächtigung maßgeblich; ders. DJ 1942, S. 111: Maßgeblich sei „die durch die Anklage bestimmte Richtung, nach der der Beschuldigte strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden soll“; ebenso Noftz, Prozeßgegenstand, S. 75 („allgemeine Richtung, nach welcher der Beschuldigte zur Rechenschaft gezogen werden soll“); Barthel, Begriff der Tat, S. 48 f., 72 – entgegen der o. VI. 4. (S. 455 ff.) kritisierten Auffassung von Peters kommt es also nicht auf die Richtung des Täterverhaltens, sondern auf die Richtung der Anklage an. 2082 So Kadecka, Handlungseinheit, S. 181; Barthel, Begriff der Tat, S. 48, 72 f.; abl. Correia, Caso julgado, S. 314.

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zu beweisen wäre, weshalb das Anklageprinzip so streng verstanden werden sollte, dass dem Gericht in der Hauptverhandlung nur die Überprüfung einer von Anfang an vorformulierten Hypothese, nicht aber ihre Korrektur bzw. Konkretisierung gestattet wäre. c) Aus der o. B. III. 2. b) (S. 390 ff.) entwickelten Begründung des Anklageprinzips folgt also, dass es nicht um dasjenige gehen kann, was der Staatsanwalt als Individuum tatsächlich gewollt hat, sondern um den äußersten Rahmen dessen, wovon er sich als Vernünftiger nicht mehr ohne Selbstwiderspruch distanzieren kann. Dies lässt sich an einer Variante unseres o. B. III. 3. (S. 397 f.), D. V. (S. 513 f.) eingeführten Beispiels des Freundes X zeigen, der Y erzählt, dessen Frau gehe mit A fremd. Angenommen, die Verdächtigte ist treu wie Penelope; wenn X sagt, „lieber Y, ich glaube, deine Frau hat letzten Donnerstagabend die sexuelle Handlung des Typs 1 mit A vorgenommen“, und der vermeintlich betrogene Ehemann Y zu seiner Frau geht und sie nur bezüglich der sexuellen Handlungen des Typs 2, 3 und 4 zur Rechenschaft zieht, wäre es befremdlich, wenn X später sagen dürfte, er habe mit dem Ganzen nichts zu tun. Dies ist wiederum eindeutig der Fall, wenn Y seine Frau fragt, ob sie letzten Donnerstagabend wieder gemein zu ihrer Schwiegermutter war. Treuwidrige sexuelle Handlungen sind grundsätzlich untereinander vergleichbar, ein Streit mit der Schwiegermutter hat mit einem ehelichen Treubruch nichts gemein. Es fragt sich, ob sich diese dem Alltagsleben zugrunde liegenden Selbstverständlichkeiten auf allgemeingültige und für das Strafprozessrecht verwertbare Regeln zurückführen lassen. Die im Strafprozessrecht thematisierten Vorwürfe werden in Form einzelner, vorbestimmter Straftatbestände gegossen. Es gibt zwei Gruppen von dogmatischen Regeln, bei denen es just um die abstrakte Vergleichbarkeit von Straftatbeständen geht: zum einen die Regeln über die Gesetzeskonkurrenz,2083 zum anderen die materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Wahlfeststellung. Zudem beruhen Abwandlungen eines Straftatbestandes auf der Vorstellung, dass sie den Unrechtsgehalt des Ausgangstatbestands vertiefen und nicht wesensmäßig verändern. aa) Die allgemein anerkannten Kriterien der Gesetzeskonkurrenz sind Spezialität, Subsidiarität und Konsumtion.2084 Die im Wege der Gesetzeskonkurrenz ver2083 Darauf für die prozessuale Tat abstellend bereits Heffter, Non bis in idem, S. 23; Mattil, DStR 1942, S. 165 f.; Correia, Caso julgado, S. 340 ff.; Busch, ZStW 68 (1956), S. 7; Daskalakis, Unité et pluralité, S. 414; Büchner, Strafprozessuale Tat, S. 153 ff. (nur aber bezüglich der Kognitionspflicht, nicht der Rechtskraft); Wolter, GA 1986, S. 171, 172 f.; Bellora, RitDPP 1990, S. 1640; Souto de Moura, Objecto do processo, S. 38; Grabenwarter, JBl 1997, S. 580; Grinover, FS Figueiredo Dias III, S. 865; Wiederin, WK-östStPO § 4 Rn. 89. Aus der Rspr. RGSt 3, 384 (386); 43, 60 (65 ff.); östVfGH JBl 1997, 447 (449); und auch die italienische Cassazione, s. o. Fn. 1973. 2084 Roxin, AT II § 33 Rn. 175; Figueiredo Dias, Direito penal, Kap. 42 Rn. 5 ff., Kap. 43 Rn. 11 ff.; Mir Puig, Derecho penal, Lección 27 Rn. 69 ff.; Fiore/Fiore, Diritto

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drängte Tatbestandsverwirklichung ist immer im Vorwurf, die verdrängende Tatbestandsverwirklichung begangen zu haben, mitenthalten, entweder logisch (so die Spezialität2085) oder normativ (so die Subsidiarität und die Komsumption). Es geht hier aber um eine Einbahnstraße: Das Verdrängende enthält das Verdrängte, und nicht umgekehrt.2086 Sofern Tatbestände ein solches Verhältnis zueinander aufweisen, kann man sagen, dass die Anklage wegen eines Tatbestands alle allgemeineren, subsidiären und mitbestraften Begleit- und Nachtaten enthält.2087 penale, S. 579 f.; Burgstaller, JBl 1978, S. 393 ff., 459 f.; abw., aber nicht sehr überzeugend die französische Dogmatik, etwa Desportes/Gunehec, Droit pénal général, Rn. 288 ff. Bezeichnenderweise finde ich weder bei Ormerod, S/H Criminal Law, noch bei Ashworth, Principles, oder Herring, Criminal Law, eine systematische Behandlung des Themas; vielmehr stammt die einzige von mir gefunden Arbeit, die sich ausdrücklich mit diesen Problemen beschäftigt, von einem emigrierten Deutschen, Kirchheimer, YLJ 58 (1949), S. 516 ff. Seine Gedanken fanden soweit ersichtlich sehr wenig Gehör (eine Ausnahme Anonym, YLJ 75 [1965], S. 318 ff.). Man könnte meinen, dieses Fehlen einer Dogmatik der Gesetzeskonkurrenz beruhe darauf, dass der Richter des common law regelmäßig an die in der Anklage bezeichnete rechtliche Einordnung gebunden ist (so Ziemba, Wiederaufnahme, S. 123). Dies ist aber keine befriedigende Erklärung und erst recht keine Rechtfertigung für diesen Mangel. Erstens muss auch der Ankläger wissen, ob wegen Diebstahls und Nötigung oder wegen Raubs Anklage zu erheben ist. Zweitens und noch wichtiger müssen beide, Ankläger und Richter, wissen, ob wegen Diebstahls und Raubs oder nur wegen Diebstahls oder Raubes Anklage erhoben werden darf; ein Problem, womit die amerikanische Rspr. sich immer wieder beschäftigen muss und das sie mit einem verlegenen und kasuistischen Rückgriff auf eine geschichtlich verstandene gesetzgeberische Absicht, also darauf, ob der Gesetzgeber mehr als eine Bestrafung wollte, zu lösen versucht: etwa U.S. Supreme Court Prince v. United States, 352 U.S. 322, 327 ff. (1957); Milanovich v. United States, 365 U.S. 551, 554 (1961) (Diebstahl und Hehlerei bzw. Begünstigung); Iannelli v. United States, 420 U.S. 770, 790 f. (1975); Simpson v. United States, 435 U.S. 6, 12 ff. (1978); Whalen v. United States, 445 U.S. 684, 693 (1980); United States v. Woodward, 469 U.S. 105, 109 f. (1985); Anonym, StLR 11 (1959), S. 737 ff.; Westen, MichLR 78 (1980), S. 1026. Gelegentlich ist sogar auf eine „rule of lenity“, also auf eine Art in dubio pro reo für Rechtsfragen, abgestellt worden, U.S. Supreme Court Simpson v. United States, 435 U.S. 6, 14 f. (1978). Eine vage Ahnung, dass die Frage nach dem, was unsere dogmatische Tradition Gesetzeskonkurrenz nennt, von der Frage nach den mehrfachen Verfolgungen logisch verschieden ist, bei Anonym, StLR 11 (1959), S. 735 f.; Anonym, WULR 1960, S. 100, 114. Auf die Frage, ob die Konsumtion als eigenständige Figur anzuerkennen ist (dagegen Klug, ZStW 68 [1956], S. 406 ff., 409; R. Schmitt, ZStW 75 [1963], S. 55), kann im vorliegenden Zusammenhang nicht eingegangen werden, zumal die sachlichen Erwägungen, auf die es bei der Lösung der einzelnen Fälle ankommt, von dieser eher der Einordnung und Systematisierung geltenden Frage unberührt bleiben. Gleiches gilt für die Konstellation der mitbestraften bzw. straflosen Vor- und Nachtaten. 2085 Puppe, NK-StGB Vorbem. § 52 Rn. 9. 2086 Dies wird von vielen derjenigen, die auf diese Kriterien abstellen (Fn. 2083), soweit ersichtlich nicht bemerkt; ebensowenig von Autoren, die die Regeln des normativethischen Stufenverhältnisses heranziehen, etwa Wolter, GA 1986, S. 166, der ausdrücklich von einer Zweibahnstraße ausgeht (Passage nach Fn. 30: „. . . und umgekehrt . . .“). And. und insoweit (nur insoweit) richtig die italienische Cassazione, RitDPP 1981, 1236 (1255).

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bb) Die zweite Gruppe dogmatischer Regeln, die die Vergleichbarkeit von Tatbeständen weitgehend in abstracto bestimmen, ist die der Wahlfeststellung.2088 Die Heranziehung der Kriterien der Wahlfeststellung rechtfertigt sich unabhängig davon, ob das System überhaupt die Figur der Wahlfeststellung kennt,2089 allein aus der Überlegung, dass es auch bei diesen Kriterien um die Frage geht, allgemein-abstrakte, vom Einzelfall losgelöste2090 Gemeinsamkeiten oder Verwandtschaften zwischen dem Unwertgehalt von formell verschiedenen Straftatbeständen ausfindig zu machen. Es stimmt aber, dass die Tatsache, dass ein System es gestattet, bei bestimmten Tatbeständen wahlweise schuldig zu sprechen, ein Zusatzargument dafür liefert, dass dieses System bereits derartige Verdächtigungen für äquivalent halten muss. Man muss sich auch nicht mit den Einzelheiten des Streits über das von der Rspr.2091 vertretene Kriterium der rechtsethischen und psychologischen Vergleichbarkeit einerseits und über die in der Literatur2092 vorhandenen Vorschläge andererseits beschäftigen, zumal im Kern weitgehende Übereinstimmung sowohl bezüglich der einzelnen Ergebnisse als auch bezüglich der Erforderlichkeit nicht nur vergleichbarer Güter,2093 sondern auch eines vergleichbaren Handlungsun2087 And. BGH NStZ 2000, 216 (zur Kritik s. u. Fn. 2172 und F. II. [S. 632]); s. a. zu einer nahestehenden Frage BGH NStZ 1986, 565 (Beschränkbarkeit der Revision und Subsidiaritätsverhältnis). 2088 Darauf stellen wie gesehen insb. Hruschka, JZ 1966, S. 702; Roxin, JR 1984, S. 349; Wolter, GA 1986, S. 166 ab, s. o. VI. 6. b) (S. 460), VIII. (S. 466). 2089 So dass die beachtlichen, dagegen gerichteten grundsätzlichen Einwände nicht ausschlaggebend sind, Heinitz, JZ 1952, S. 101 ff.; H. Mayer, AT, S. 192; Endruweit, Wahlfeststellung, S. 293 ff.; Schmidhäuser, Studienbuch AT, § 3 Rn. 89; Alwart, GA 1992, S. 562 ff.; Köhler, AT, S. 96; Frister, NK-StGB Nach § 2 Rn. 83 ff. Der einzige Einwand, der uns Grund zur Sorge geben könnte, ist der schlichtere Hinweis auf die Unbestimmtheit der für die Wahlfeststellung erforderlichen Voraussetzungen (etwa H. Mayer, AT, S. 192; Satzger, SSW-StGB § 1 Rn. 80 f.). 2090 Darauf besteht insb. Günther, Tatsachenzweifel, S. 206 ff.; ders. JZ 1976, S. 667 f. Wie hochgradig die Abstraktion sein muss, ist eine andere Frage; so vertreten viele eine Abstraktion mittlerer Höhe, nach der der Vergleich nicht nur zwischen Tatbeständen, sondern auch zwischen anerkannten Fallgruppen einer Tatbestandsverwirklichung für möglich erachtet wird, insb. Wolter, Alternative Verurteilung, S. 106 ff., 119, 143 (der etwas zu pointiert von einem „Gebot der konkreten Betrachtungsweise“ spricht); Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder-StGB § 1 Rn. 103. Für ein Anwendungsbeispiel s. E. III. 3. d) (S. 559 ff.): Verhältnis von Trickdiebstahl und (Sach-)Betrug. 2091 BGHSt (GrS) 9, 390 (393 f.); 25, 182 (182); zust. Eser/Hecker, in: Schönke/ Schröder-StGB § 1 Rn. 100 (m.w. Nachw. Rn. 70). 2092 Etwa Hardwig, FS Eb. Schmidt, S. 484 Fn. 28; Otto, FS Peters, S. 390: „Identität des Unrechtskerns“; Wolter, Alternative Verurteilung, S. 115 ff., 143 ff.; ders. JuS 1984, S. 606 ff.; Montenbruck, Wahlfeststellung, S. 220 ff.; ders. GA 1988, S. 537 f. (Identität des Schuldvorwurfs, wie ihn der Täter aus seiner Parallelwertung in der Laiensphäre zu begreifen vermag); Satzger, SSW-StGB § 1 Rn. 81 („materielle Gerechtigkeit“). 2093 Jakobs, GA 1971, S. 270 ff.; Otto, FS Peters, S. 390 f., 392; Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder-StGB § 1 Rn. 100 ff.; aus der Rspr.: BGHSt 23, 361 (361); 30, 77

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werts besteht.2094 Anders als die Kriterien der Gesetzeskonkurrenz verhalten sich die Kriterien der Wahlfeststellung als Zweibahnstraße: Der Vorwurf, den einen Tatbestand verwirklicht zu haben, ist gleichwertig zu dem Vorwurf, den anderen Tatbestand zu verwirklichen, was aus logischen Gründen umkehrbar sein muss. Weil es befremdlich wäre, wenn eine als vorpositiv einzuordnende Lehre sich plötzlich bei einer derart zentralen Frage den jeweiligen Diskussionsstand und die einzelnen Ergebnisse der deutschen Dogmatik der Gesetzeskonkurrenz und Wahlfeststellung aneignen würde, sei eine Klarstellung gemacht und eine Präzisierung eingeführt. Es geht nur darum, bei einer entwickelteren Dogmatik, die sich seit Generationen mit einer ähnlich gestalteten Sachfrage beschäftigt, und die eine Vielzahl von konkreten Vorgaben liefern kann, eine Anleihe zu machen. Deshalb – und das ist die Präzisierung – können weniger die einzelnen konkreten Kriterien, wie sie von der deutschen Rechtsprechung, von der herrschenden Lehre oder von Professor A oder B vertretet werden, für uns ausschlaggebend sein, sondern vielmehr geht es negativ darum, dass in den Fällen, in denen weder Gesetzeskonkurrenz noch Wahlfeststellung in Betracht gezogen werden, ein gewichtiges Indiz dafür vorhanden ist, dass man es mit unterschiedlichen Verdächtigungsrichtungen zu tun hat, die nicht ohne einen erneuten Impuls seitens des Anklägers in das Verfahren miteinbezogen werden dürfen. Man denke etwa an das Verhältnis zwischen Betrug und versuchtem Schwangerschaftsabbruch,2095 das häufig als Paradebeispiel mangelnder Vergleichbarkeit angeführt wird.2096 cc) Es bestehen also bereits zwei Möglichkeiten, über die in der Anklage ausdrücklich bezeichneten Vorschriften hinauszugehen, ohne den Rahmen des von der Anklage gezogenen Vorwurfs zu überschreiten. Die Möglichkeit ist aber noch in einer dritten Situation zu bejahen, nämlich bei hier sog. unrechtsvertiefenden Umständen. Es lassen sich zwei Konstellationen unterscheiden; sie sind aber aus unterschiedlichen Gründen gleich zu behandeln. Zunächst gibt es Merkmale, die nicht eigenständige Träger strafrechtlichen Unwerts sind, die m. a. W. nur in Verbindung mit einem bereits verwirklichten

(78); BGH wistra 1989, 19, alle mit dem Satz: „Es müssen im Wesen gleiche oder ähnliche Rechtsgüter verletzt sein“). 2094 Günther, Tatsachenzweifel, S. 233 ff.; Wolter, JuS 1984, S. 606 ff.; ders. Wahlfeststellung, S. 128; etwas unscharf, aber in diese Richtung auch BGH (GrS) 9, 390 (394); 20, 100 (101), die von einer Würdigung aller Umstände sprechen, die für den besonderen Unrechtscharakter von Relevanz sind, und die psychologische Vergleichbarkeit als eine vergleichbare seelische Beziehung des Täters zu den unterschiedlichen in Frage kommenden Verhaltensweisen deuten. Abl. Montenbruck, GA 1988, S. 537. 2095 RGSt 71, 44, bei dem die Verurteilung nur unter § 2b a. F. StGB, also unter der unbeschränkten Zulässigkeit der Wahlfeststellung aufrechterhalten werden konnte; s. a. BGH MDR 1958, 739; im Zusammenhang des Tatbegriffs wird dieses Beispiel auch von Mattil, DStR 1942, S. 166 erwähnt. 2096 Etwa bei Wolter, JuS 1983, S. 366, 531.

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Straftatbestand unrechtsvertiefend wirken. Man denke an die ausländerfeindliche Gesinnung des Täters; so bedauerlich wie sie auch ist, rechtfertigt sie per se keine Verurteilung und auch kein Verfahren.2097 Motiviert sie aber zu der vorsätzlichen Tötung eines Ausländers, macht sie aus dem Totschlag (§ 212 StGB) einen Mord aus niedrigen Beweggründen (§ 211 Abs. 2 StGB). Es ist völlig unbedenklich, wenn man aus Habgier ein Unternehmen gründet oder einen Vertrag abschließt; wer aus Habgier tötet, begeht aber einen Mord. Gefährliche Werkzeuge führt man dauernd bei sich; nimmt man aber währenddessen eine fremde bewegliche Sache weg, verwirklicht man einen qualifizierten Diebstahl (§ 244 Abs. 1 Nr. 1 Var. 2 StGB). Alle diese – mangels einer besseren Bezeichnung2098 – nicht eigenständig unrechtsvertiefenden Merkmale können, gerade weil sie keinen eigenständigen Vorwurf zu tragen vermögen, unabhängig von ihrer Erwähnung in der Anklage vom Gericht aus eigener Initiative ergründet werden. Weil sie keinen eigenständigen Vorwurf tragen, entsteht bei demjenigen, der als Erster auf sie kommt, der also als Erster sagt: „Es scheint, als habe A aus niedrigen Beweggründen bzw. aus Habgier gehandelt bzw. ein gefährliches Werkzeug bei sich geführt!“, nicht die Gefahr, deren Neutralisierung Sinn des Anklageprinzips ist. Wie verhält es sich aber mit unrechtsvertiefenden Merkmalen, die Träger eines derart eigenständigen Unwerts sind, dass er sogar in einer eigenständigen Strafvorschrift vom Gesetzgeber Anerkennung gefunden hat? Man denke an die Gemeingefährlichkeit bei § 211 Abs. 2 StGB. Der Einsatz gemeingefährlicher Mittel wird regelmäßig eine Straftat nach §§ 306 ff. StGB mitverwirklichen. Hier erschiene es befremdlich, würde man diese Qualifikation anders behandeln als etwa die Heimtücke, die für sich genommen keine Strafvorschrift verwirklicht. Entscheidend ist hier vielmehr, dass der Gesetzgeber den eigenständigen unrechtsvertiefenden Umstand zu einer Qualifikation gemacht hat und sich nicht damit begnügt hatte, nach den allgemeinen Regeln der Ideal- und Realkonkurrenz vorzugehen. Die Verknüpfung ist somit von neuer Bedeutung.2099 Wie man es von anderen Zusammenhängen her kennt, ist hier das Ergebnis mehr als die Summe der Teile. Durch die Formulierung einer Qualifikation richtet bereits der Gesetzgeber den Blick des Anklägers und des Richters in eine bestimmte Richtung, so dass der Vorwurf, den Grundtatbestand verwirklicht zu haben, gleichzeitig wenigstens in potentia den Vorwurf enthält, ihn eventuell in voller Tiefe, also

2097 Die Frage, ob Gesinnungen, Beweggründe und dergleichen nicht als Schuldmerkmale eingestuft werden sollen (in diesem Sinne insb. Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale, S. 213) soll uns hier nicht interessieren. Falls man dieser Meinung ist, soll der eingeführte Ausdruck „unrechtsvertiefende Umstände“ als pars pro toto verstanden werden. 2098 Man könnte auch akzessorisch statt nicht eigenständig sagen, was aber zu Verwechselungen führen könnte, weil der Terminus schon anderweitig belegt ist. Eine andere Möglichkeit wäre bedingt. 2099 Bereits Hélie, Traité III, S. 584 f.

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mit sämtlichen Qualifikationen verwirklicht zu haben. Dies ist unabhängig davon, ob die Qualifikation sich sogar auf ein neues Rechtsgut bezieht (wie die gemeingefährlichen Tatmittel, die Rechtsgüter Dritter und nicht nur des Ermordeten angreifen, oder der Wohnungseinbruchsdiebstahl, § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB). Denn der Gesetzgeber hat durch die Erhebung zur Qualifikation und durch die Weigerung, es bei den allgemeinen Regeln der Ideal- und Realkonkurrenz zu belassen, zu erkennen gegeben, dass beide Unrechtsverwirklichungen nicht „unverbunden“ nebeneinander stehen, sondern dass die Erste durch die Zweite innerlich vertieft wird. Der Wohnungseinbruch ist nicht bloß ein Unwert, der zu dem des Diebstahls hinzukommt, was einer Regelung im Rahmen der Idealkonkurrenz entsprechen würde, sondern er erhöht den Unwert des Diebstahls bereits als solchen (etwa weil man in der eigenen Wohnung seine wertvollsten und meistgeliebten Gegenstände aufbewahrt), was vom Gesetzgeber als Anlass genommen wird, ihn zur Qualifikation des Diebstahls zu erheben. Weil Regelbeispiele unabhängig von ihrer von der h. M. vorgenommenen formellen Einstufung als Strafzumessungsregeln2100 sich anerkannterweise materiell kaum von Qualifikationen unterscheiden,2101 was auch darin ersichtlich wird, dass ihre Verwirklichung Bestandteil des Schuldspruchs ist, gelten die entwickelten Grundsätze auch für sie. Alle Umstände also, die das Unrecht der ausdrücklich angeklagten Tatbestandsverwirklichungen vertiefen, seien sie selbständige oder unselbständige Unwertträger, können also als implizit mitangeklagt angesehen werden. Qualifikationen sind zwar der Hauptanwendungsfall dieser Regel, sie erfasst aber auch die Vollendung, wenn nur der Versuch angeklagt wird, den Vorsatz, wenn nur Fahrlässigkeit angeklagt wird, und weitere Fallgruppen, auf die man u. E. (S. 545 ff.) zurückkommen wird. Erst die Umstände, die dieses Unrecht nicht bloß vertiefen, sondern in neuartiges Unrecht verwandeln, können nicht mehr als mitangeklagt angesehen werden. Die Unterscheidung ist zugegeben nicht immer einfach; immer aber dort, wo man von einem delictum sui generis und nicht von einer bloßen Qualifikation spricht, wird dies der Fall sein. So verhält es sich bezüglich des Verhältnisses von Nötigung (§ 240 StGB) einerseits und sexueller Nötigung (§ 177 Abs. 1 StGB) andererseits: Die sexuelle Nötigung ist nicht eine qualifizierte Nötigung, also nicht bloß eine Vertiefung von Nötigungsunrecht, sondern neuartiges Unrecht. d) Zuletzt sind einige Worte zu der „Architektur“ und dem Zusammenspiel dieser drei Regeln angebracht, zwei Präzisierungen und zwei Klarstellungen. 2100 BGHSt 23, 254 (256 f.); Dannecker, LK-StGB § 1 Rn. 270; krit. m.w. Nachw. Greco, Lebendiges, S. 291 Fn. 380. 2101 BGHSt 26, 167 (173: „kein tiefgreifender Wesensunterschied“); 33, 370 (374: „Tatbestandsähnlichkeit“ der Regelbeispiele); ebenso Stree/Kinzig, in: Sch/Sch-StGB Vorbem §§ 38 ff. Rn. 47 m.w. Nachw.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

aa) Zur Architektur der Regeln könnte man sagen, dass sich die gerade gewonnenen drei Regeln auf drei unterschiedliche Umgestaltungsrichtungen beziehen. Die erste Regel, die auf die Kriterien der Gesetzeskonkurrenz abstellt, bezieht sich auf Klageumgestaltungen nach unten: das Mehr umfasst auch das Weniger. Die zweite Regel, die sich den Kriterien der Wahlfeststellung bedient, regelt Klageumgestaltungen zur Seite, zu Gleichwertigem.2102 Die dritte Regel richtet sich auf Umgestaltungen nach oben: Das angeklagte Unrecht darf vertieft, nicht aber verändert werden. bb) Zum Zusammenspiel der Regeln: Die zweite Regel lässt sich mit den beiden anderen kombinieren, so dass nicht nur Umwandlungen nach oben und unten, sondern auch in die „Diagonale“ möglich sind. Wenn etwa der zur Qualifikation erhobene Umstand gleichzeitig Träger eigenständig strafbaren Unwerts ist, wie bei den gemeingefährlichen Mitteln im Rahmen des Mordes, dann gibt es keinen Grund, eine Anklage wegen Totschlags, die auf den Mord erweitert werden darf, nicht auf gleichwertige Umstände mitzuerstrecken – hier also insbesondere auf das jeweilige gemeingefährliche Delikt.2103 Umgekehrt enthält die Anklage wegen Raubes nach der ersten Regel (Spezialität) den Diebstahl, dieser ist wiederum nach der zweiten Regel der Hehlerei gleichwertig,2104 so dass eine Umwandlung von Raub auf Hehlerei möglich ist.2105 cc) Die erste gebotene Präzisierung: In unserer dritten Regel war nur von unrechtvertiefenden Merkmalen die Rede; wie verhält es sich aber hinsichtlich unrechtsmindernder Umstände, insbesondere Privilegierungen? Dass diese Merkmale vom Gericht unabhängig davon berücksichtigt werden müssen, ob sie explizit angeklagt worden sind, wurde schon o. VI. 1. (S. 515 f.) bei der Ablehnung einer extrem akkusatorischen Bindung an die Buchstaben der Anklage dargelegt. Alles andere würde den Beschuldigten vor die Wahl stellen, entweder eine 2102 Deshalb gehen die von Neuhaus, MDR 1989, S. 220 gegen Roxin und Wolter erhobenen Bedenken, dass keine Wahlfeststellung zwischen Teilnahme und Täterschaft, Versuch und Vollendung u. dergl. möglich ist, an der hier vertretenen Ansicht vorbei, denn diese Fälle wären nach dem hier entwickelten Modell durch die erste und die dritte Umwandlungsregeln zu lösen. Beiläufig gesagt, tut der Einwand auch seinen Adressaten Unrecht, denn, anders als hier (s. u. 3. [S. 538 ff.]), verstehen sie die normativen und faktischen Seiten des Tatbegriffs als Voraussetzungen, die nicht kumulativ, sondern nur alternativ vorliegen müssen, damit Tatidentität bejaht werden kann; und weil sie nicht nur die Wahlfeststellung, sondern die Stufenverhältnisse in diesem Zusammenhang heranziehen möchten (so ausdrücklich Wolter, GA 1986, S. 166). 2103 Ein weiteres Beispiel u. E. III. 6. (S. 590 f.): Betrug und Brandstiftung; die Brücke wird hier durch das Regelbeispiel des § 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 5 StGB geliefert. 2104 Näher u. E. III. 9. (S. 618 f.). 2105 Und so weiter: Von der Hehlerei ließe sich nicht nur zurück zum Diebstahl, sondern auch zu einer Anstiftung zum Diebstahl kommen (and. Schöneborn, MDR 1974, S. 534, auf Grundlage seines Alternativitätskriteriums, s. u. E. III. 9. [S. 611 f.], der sich aber des Notbehelfs des § 154 Abs. 1 StPO zur Vermeidung einer „unzumutbaren Doppelbelastung“ bedient).

2. Kap.: Der Begriff der strafprozessualen Tat

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schuldübersteigernde Strafe oder ein erneutes Verfahren erdulden zu müssen. Unrechtsmindernde Umstände enthalten von vornherein keinen Vorwurf, nicht einmal einen unselbständigen, so dass für sie das Anklageprinzip einfach nicht gilt. Die Frage ist eher die formelle, ob man dieses einleuchtende Ergebnis in der ersten oder der dritten Regel unterbringen kann, oder ob man eine vierte Regel postuliert. Gegen die Zurückführbarkeit auf die erste Regel spricht nur, dass, wenn etwa in der Anklageschrift vom ernsthaften, ausdrücklichen Verlangen des Tötungsopfers nirgendwo die Rede ist, eine Anwendung des Spezialitätsgrundsatzes von oben nach unten, vom Spezielleren zum Allgemeineren gerade keine Umwandlung von § 212 StGB in § 216 StGB gestatten würde. Die dritte Regel dagegen hat in der bisherigen Formulierung nur die Vertiefung des Unrechts miteinbezogen, also die Abwandlung vom Leichteren zum Schwereren. Das Entscheidende ist nur, dass auch für diese Merkmale die Grenze anzuerkennen ist, dass nur eine Verringerung und nicht eine Verwandlung des Unrechts zulässig ist – ansonsten müsste man bei einer Anklage wegen Mordes auch den Diebstahl geringwertiger Sachen als mitangeklagt ansehen. Gerade diese Überlegung spricht dafür, die untersuchten Merkmale auch der dritten Regel zuzuordnen, deren regelmäßiger Anwendungsbereich also die Umwandlung nach oben, also die Vertiefung des angeklagten Unrechts, gleichzeitig aber auch dessen Verringerung durch Privilegierungen erfassen muss. Denn die Schranke, dass keine Verwandlung des Unrechts stattfinden darf, gilt wie gesehen bei der ersten Regel nicht, da die drei Regeln der Gesetzeskonkurrenz eine Verwandlung des explizit bezeichneten Unrechts durchaus gestatten. dd) Die zweite Präzisierung: Geht ein extrem akkusatorisches Prozesssystem sogar von der Subsumtion des Anklägers aus, so befreit sich ein extrem inquisitorisches System fast völlig von ihr. Die vorhandene Bindung bezieht sich auf die Vorwurfsrichtung; der Ausgangspunkt aber, der die Vorwurfsrichtung bestimmt, und der die Grundlage für die Anwendung der drei oben dargestellten Regeln liefert, ist in der Tat die Subsumtion durch den Ankläger. Hat also der Ankläger einen tatsächlichen Vorgang beschrieben und darauf einen völlig anders gerichteten Vorwurf projiziert als den, den der Richter auch ohne jegliche Änderung des Vorgangs für zutreffend erachtet, zwingt das Anklageprinzip grundsätzlich dazu, die Klage abzuweisen. Denn die Gefahren, die das Anklageprinzip neutralisieren soll, setzen voraus, dass der Ankläger als Vernünftiger für den von ihm geäußerten Vorwurf Verantwortung übernimmt und deshalb befangen wird. Wenn er also wegen Körperverletzung anklagt, die geschilderten Tatsachen aber in Wahrheit einen Diebstahl verkörpern – man nehme an, es wird in der Anklage die Wegnahme einer leicht abnehmbaren Beinprothese beschrieben, ein Vorgang, der nach der herrschenden Auffassung einen Diebstahl und keine Körperverletzung darstellt2106 –, muss die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt werden bzw. 2106

Etwa Maurach/Schroeder/Maiwald, BT I § 32 Rn. 18.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Freispruch ergehen. Die Erhebung einer Anklage wegen des Diebstahls bleibt unberührt; trotz identischen geschichtlichen Vorgangs geht es um eine andere Tat im prozessualen Sinne. Dies mutet für den deutschen Leser wohl merkwürdig an; es besteht aber nach dem o. C. II. (S. 429 f.) Ausgeführten guter Grund zur Annahme, dass diese Intuition ein Reflex davon ist, dass die herrschende Auffassung seit über einem Jahrhundert das bereits o. VII. 1. (S. 520 ff.) relativierte Prinzip der allseitigen, d.h. inquisitorischen Kognition vertritt. Dennoch wird man an zwei Stellen Abstriche machen dürfen, die nicht als Zugeständnisse oder Auflockerungen der äußersten Grenzen des Anklageprinzips angesehen werden dürfen, sondern nur als seine angemessene Konkretisierung. Die erste Situation ist die des nicht juristisch gebildeten Vertreters der Klage. Es gibt Systeme, in denen sogar die öffentliche Anklage von einem Nicht-Juristen erhoben werden darf. In England gab es sogar bis 1985 keine Staatsanwaltschaft; Anklagen wurden von der Polizei erhoben.2107 In Spanien steht das Recht der öffentlichen Klage jedem einzelnen Bürger zu. England bindet zwar das Gericht sehr eng an die Subsumtion des Anklägers, in Spanien muss dagegen die Anklageschrift nicht die einschlägigen Strafvorschriften anführen.2108 Dazu ist zu sagen, dass die Schwierigkeiten, die sich aus dieser mangelnden fachlichen Kompetenz des Anklägers ergeben, an sich dadurch behoben werden sollten, dass man ihn durch einen juristischen Fachmann ersetzt oder wenigstens fachmännische Beratung verlangt. Dennoch wird man gerade bei Laien dem Gericht nicht das Recht absprechen können, die Subsumtion auch in eine völlige andere Vorwurfsrichtung hin zu korrigieren, solange sie Fehler aufweist, die nur auf mangelnden juristischen Fachkenntnissen beruhen. Damit dürften auch die Grenzen der Anklage nicht überschritten sein, weil der Ankläger, gerade weil es ihm am juristischen Fachwissen fehlt, seinen Impuls immer noch im Ergebnis der richterlichen Tätigkeit wiederfinden kann. Die zweite Situation ist die des offensichtlichen Subsumtionsfehlers, der auch, wenn doch hoffentlich seltener, vom juristischen Fachmann begangen werden kann. In solchen Fällen kann das Gericht nicht daran gehindert werden, korrigierend in die Sache einzugreifen; es macht sich dadurch auch nicht zum Ankläger, sondern vielmehr interpretiert es den unvernünftigen Willen des Einzelnen im Lichte desjenigen, was er als ein Vernünftiger gewollt hätte. Im Grunde genommen geht es hier um einen ähnliche Situation wie die, die die Willenserklärungsdogmatik in der Figur der Umdeutung (§ 140 BGB) und die Vertragslehre durch den falsa demonstratio non nocet-Grundsatz behandelt.2109

2107 Bis zum Prosecution of Offences Act v. 1985, das eine Staatsanwaltschaft (Crown Prosecution Service) kreierte, war es Sache der Polizei, über die Verfolgung von Straftaten zu entscheiden, s. A. T. H. Smith, England and Wales, S. 76 f. 2108 Cortés Domínguez, Cosa juzgada, S. 30.

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In diesen zwei Fällen wird nicht die womöglich sogar fehlende Subsumtion des Anklägers den Bezugspunkt für die Anwendung der drei hier formulierten normativen Umwandlungsregeln bieten, sondern die Vorschrift, die auf den von ihm geschilderten Vorgang richtigerweise anzuwenden wäre. ee) Erste Klarstellung: Die hier entwickelte Ausarbeitung der äußersten Grenzen des Anklageprinzips macht deutlich, dass der Idealkonkurrenz keineswegs die von der h. M. zuerkannte Bedeutung zukommen kann. Idealkonkurrenz kann nicht nur keine hinreichende Bedingung für prozessuale Tatidentität sein; sie kann nicht einmal ein Indiz dafür sein, sondern sie bildet vielmehr ein Indiz für prozessuale Tatmehrheit.2110 Denn wenn die tateinheitlich verwirklichten Tatbestände im Verhältnis der Idealkonkurrenz stehen, heißt das auch, dass die in ihnen verkörperten Vorwürfe so eigenständig sind, dass keine Gesetzeskonkurrenz möglich war, also dass die erste Regel nicht anwendbar ist. Weil die meisten Anwendungsfälle der dritten Regel ebenfalls Fälle der Gesetzeskonkurrenz darstellen, nur in umgekehrter Richtung (nämlich – in der Regel, s. o. S. 528 f. – nach oben), und unter der Einschränkung, dass keine Unrechtsverwandlung stattfinden darf, wird Idealkonkurrenz auch bedeuten, dass die dritte Regel ebenso wenig einschlägig ist. Idealkonkurrierende Straftaten werden also nur dann eine einheitliche prozessuale Tat darstellen, wenn sie einander im Sinne unserer zweiten Regel gleichwertig sind. Man könnte dem entgegenhalten, hiermit werde nicht nur „die Axt an die Wurzel des Instituts der Rechtskraft gelegt“,2111 sondern auch Art. 103 Abs. 3 GG verletzt, denn selbst dort, wo das BVerfG die Abkoppelung von materiellrechtlicher und prozessualer Tateinheit für zulässig erachtet hat, hat es dies nur bezüglich rechtlicher, nicht aber auch natürlicher Handlungseinheiten getan.2112 Die 2109 Ausf. zu diesen Figuren Busche, MK-BGB § 140 Rn. 1 ff. und Armbrüster/Armbruster, MK-BGB § 119 Rn. 59 ff. 2110 Richtig also Binding, s. o. C. VI. 2. (S. 452); i. Erg. auch dafür, dass bei Idealkonkurrenz mehrere prozessuale Taten vorliegen Cortés Domínguez, Cosa juzgada, S. 140 f.; Grabenwarter, JBl. 1997, S. 104; Grinover, FS Figueiredo Dias III, S. 865 f.; Cortés Domínguez, Derecho procesal penal, S. 438; östVfGH JBl 1997, 447 (449) – wenigstens für die Rechtskraft (and. OGH JBl 2000, 130); ob alle zitierten Stellungnahmen von einem „kongruent-statischen“ Tatbegriff ausgehen (s. o. D. IV.1. [S. 484 ff.]), wird nicht deutlich, ist aber eher nicht anzunehmen. 2111 Ausdruck von Puppe, JR 1986, S. 205, gegen die Entkoppelung von prozessualem und materiellrechtlichem Tatbegriff. 2112 BVerfGE 56, 22 (32). Vor der Handlung im natürlichen Sinne haben sogar Autoren halt gemacht, die dafür plädieren, die Gleichsetzung von Idealkonkurrenz und prozessualer Tatidentität zu verabschieden: so Neuhaus, MDR 1988, S. 1013 f. (s. a. ders. Tatbegriff, S. 181 ff.); Erb, NStZ 1998, S. 254. Für prozessuale Tateinheit in solchen Fällen selbstverständlich alle Autoren, die sie bei materiellrechtlicher Tateinheit immer annehmen (Nachw. u. Fn. 2294), und auch etwa Achenbach, ZStW 87 (1975), S. 94; Fezer, Strafprozeßrecht, Fall 18 Rn. 16; Velten, SK-StPO § 264 Rn. 30; ausf. Cording, Strafklageverbrauch, S. 182 ff.

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unhinterfragte Hinnahme dieser Behauptung wäre aber eine ungebührende Servilität des Strafprozesses gegenüber verfassungsrechtlichen Machtsprüchen, und dies nicht nur deshalb, weil die Verfassung als solche für die Reichweite des Tatbegriffs äußerst wenig hergibt (s. o. B. IV. 8. [S. 421 ff.]), oder weil sie mit der hier angebotenen Begründung unverträglich ist, sondern insbesondere, weil sie nicht einmal in sich selbst schlüssig ist. Denn das für maßgeblich erklärte „vorverfassungsrechtliche Gesamtbild des Prozeßrechts“ 2113 kannte nie die vom Bundesverfassungsgericht behauptete Regel, da das Reichsgericht, wie ausführlich nachgewiesen, die Möglichkeit der Verfolgung bloßer Teile einer einheitlichen prozessualen Tat im Falle eines rechtlichen Verfolgungshindernisses, wie etwa eines fehlenden Strafantrags (hier sog. „normative Kupierungen“, s. o. C. VI. 1. [S. 450 ff.] und ausf. u. E. III. 4. [S. 560 ff.]), auch in Fällen einheitlicher Handlungen im natürlichen Sinne anerkannte.2114 Die von Neuhaus aufgestellte Behauptung, dass „eine einzige natürliche Handlung begriffslogisch nicht mehrere Lebensvorgänge darstellen kann“,2115 wird durch diese unbestrittene und auf der Grundlage des Anklageprinzips unbestreitbare Rechtsprechung ähnlich widerlegt, wie einst Diogenes die von Zenon aufgestellte These der Unmöglichkeit der Bewegung dadurch widerlegte, dass er aufgestanden und fortgegangen ist. Umgekehrt kann materiellrechtliche Handlungsmehrheit durchaus prozessuale Tateinheit bedeuten. Das wird – wenn man von den faktischen Umwandlungsregeln absieht (näher u. 2) – insbesondere der Fall sein, wenn die Handlungsmehrheit keine Realkonkurrenz, sondern Gesetzeskonkurrenz begründet, was dann unter Anwendung der ersten Umwandlungsregel zur Einheit der prozessualen Tat führt: Man denke an Konstellationen der mitbestraften Nachtat, etwa einer Unterschlagung, die als typische Begleittat bzw. Nachtat eines Diebstahls erfolgt.2116 ee) Und zuletzt sei als zweite Klarstellung in Erinnerung gerufen, dass es darüber hinaus möglich ist, die Verdächtigung, deren Vorwurf eine bestimmte Richtung aufweist, normativ einzuschränken, sie bildlich gesagt also normativ zu kupieren.2117 In diesen Fällen werden bestimmte, an sich mögliche Abwandlungen 2113

BVerfGE 56, 22 (28). Geschichtlich falsch deshalb Cording, Strafklageverbrauch, S. 185. 2115 Neuhaus, MDR 1988, S. 1014. 2116 RGSt 43, 60 (65 ff.). Für prozessuale Tatmehrheit in allen solchen Fällen Detmer, Begriff der Tat, S. 241 ff.; für Wolter, GA 1986, S. 173 Fn. 151 dagegen liegt prozessuale Tateinheit „nicht notwendig“ vor. 2117 Schon Glaser, GS 36 (1884), S. 124: „Hindernisse rechtlicher Natur“; ders. GrünhutsZ 12 (1885), S. 343; Kohlrausch, Idealkonkurrenz, S. 61; Beling, Lehre vom Verbrechen, S. 388: „prozessuale Zerreißung der Tateinheit“; ders. Reichstrafprozeßrecht, S. 117 Fn. 3: „Stücke“ des Prozessgegenstands werden weggelassen, S. 160: „Spaltung“ des Prozessgegenstands; Liu, Identität der Tat, S. 67 f. („prozessuale Zerreißung der materiellrechtlichen Einheit“); Werder, KritV 1928, S. 297; Gelbert, JW 1934, S. 2892; Preiser, ZStW 58 (1939), S. 771; Correia, Caso julgado, S. 362 f.; Vogler, Rechtskraft, 2114

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ausdrücklich für unzulässig erklärt bzw. sie werden ausdrücklich zu Überschreitungen der Grenze des Prozessgegenstands erklärt. Mit den Einzelheiten wird man sich erst u. E. III. 4. (S. 560 ff.) befassen. Hier reichen als Beispiele die bereits mehrmals erwähnte Konstellation des fehlenden Strafantrags bei einem Antragsdelikt, das noch eine hinreichende (d.h. die weiteren normativen und faktischen Grenzen des Tatbegriffs noch einhaltende) Nähe zum ausdrücklich angeklagten Delikt aufweist, oder die Beschränkungen aufgrund des für Auslieferungen geltenden Spezialitätserfordernisses. Um eine Metapher Belings zu zitieren: In solchen Fällen ist ein Teil der dem Gericht vorgelegten Tat diesem wie durch eine partielle Mondfinsternis entzogen.2118 2. Die oberste faktische Grenze a) Auch hier macht es sich die h. M. einfach. Sie stellt auf den historischen Vorgang ab, womit die o. C. IV. (S. 433 ff.) ausführlich dargelegten epistemischen, methodischen und insbesondere normativen Schwierigkeiten entstehen. Die Bestimmung der Tat als historischer Vorgang ist ein Unterschlupf des alten Inquirenten, der die Reformierung des Strafverfahrens und die in ihr verkörperte Hinwendung zum Anklageprinzip zu überleben wusste, und ist mit dem nemo iudex in causa sua-Grundsatz unverträglich (s. o. C. IV. [S. 436 ff.]). Es muss also nach einem anderen Anknüpfungspunkt gesucht werden. Man könnte sich zunächst fragen, ob nicht die oben ziemlich ausführlich entwickelten normativen Kriterien ausreichen. Dass dies nicht der Fall sein kann, wird durch die Selbstverständlichkeit belegt, dass ansonsten eine Anklage wegen einer Tatbestandsverwirklichung alle im Leben des Betroffenen möglicherweise begangenen Verwirklichungen desselben Tatbestands beinhalten würde. Mit zwei Fällen aus der Rechtsprechung: Anklage und Eröffnungsbeschluss beziehen sich auf einen Diebstahl an einer Drahtzange und einem Paar Lederschuhe; beide Diebstähle bewahrheiten sich nicht, aber der Angeklagte gesteht, dass er bei der Gelegenheit erfolglos nach Geld gesucht und mehrere Zigarren gestohlen habe.2119 In einem Bußgeldbescheid wird eine Verkehrsordnungswidrigkeit beschrieben; der Betroffene hatte sie aber in Wahrheit zwei Tage vor der beschrie-

S. 91; Spinellis, Rechtskraft, S. 57, 123 f.; Daskalakis, Unité et pluralité, S. 427; Wolter, GA 1986, S. 175. Aus der Rspr. zusätzlich zu den u. E. III .4. (S. 560 ff.) zitierten Entscheidungen: RGSt 33, 405 (406); 37, 88 (91 f.); 46, 363 (367); 52, 241 (243); 56, 161 (166); BGHSt 15, 259 (259 f., 262 f.). 2118 Beling, Lehre vom Verbrechen, S. 389. Die (vielzitierte, etwa Correia, Caso julgado, S. 363) Metapher ist aber teilweise irreführend, denn bei der Mondfinsternis besteht ein faktisches Unvermögen, den ganzen Mond zu sehen, während unsere normativen Kupierungen allein mit Fällen zu tun haben, in denen Teile der Tat dem Gericht aus rechtlichen Gründen entzogen waren. 2119 RGSt 24, 370 – Tatidentität wurde bejaht.

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benen Zeit begangen.2120 Wichtig ist für uns nicht, ob sich die Gerichte in den genannten Fällen im Sinne von prozessualer Tateinheit oder -mehrheit entschieden haben, sondern dass man Regeln braucht, anhand derer die Richtigkeit auch dieser Entscheidungen gemessen werden kann. b) Wir müssen also Kriterien formulieren, die sich auf die faktische Seite der Verdächtigung beziehen. aa) Nicht in Betracht kommt von vornherein der Wille des Anklägers, ob er auch die Zigarren oder die zwei Tage davor begangene Verkehrsordnungswidrigkeit erfassen wollte. Denn es kann in diesem Zusammenhang nicht um das Individuum gehen; die o. 1. (S. 521 f.) bezüglich der normativen Seite der Verdächtigung entwickelten Erwägungen sind hier genauso einschlägig. bb) Auch auf den hinreichenden Verdacht kann es hier aus ähnlichen Gründen wie o. 1. (S. 521 f.) nicht ankommen. cc) Ist der Tatbegriff ein Ausfluss des Anklageprinzips, und hat das Anklageprinzip mit der Abgrenzung der Verantwortungsbereiche von Ankläger und Richter zu tun, bietet es sich an, sich einer anderen Theorie zu bedienen, die auch die Problematik der Abgrenzung von Verantwortungsbereichen zum Gegenstand hat. Präziser gesagt: Die Frage ist, ob sich das vom Richter gefällte Urteil noch auf den Impuls des Anklägers zurückführen lassen kann und nicht bloß zufällig auf ihm beruht; ob das Verfahren und das Urteil noch als Werk des Anklägers angesehen werden können.2121 Die Anklage soll „nicht der bloße Anlaß zur Verurtheilung wegen einer ganz anderen That werden können“.2122 Bereits diese Umschreibung der Problemlage macht erkennbar, dass man hier mit Fragen zu tun hat, für deren Lösung das materielle Strafrecht die Theorie der objektiven Zurechnungslehre entwickelt hat.2123 Es bietet sich deshalb an, an diese Theorie anzuknüpfen, freilich unter einem ähnlichen Vorbehalt wie dem, den man im obigen Abschnitt bezüglich der Zuhil2120 Fall aus AG Gmünden NJW 1980, 1477 – Tatidentität wurde abgelehnt. Zust. Neuhaus, MDR 1989, S. 219, mit der Begründung, dass bei „reinen Handlungsdelikten“ die Tatzeit für die Individualisierung des Geschehens unerlässlich sei. 2121 Detmer, Begriff der Tat, S. 109: „. . . eine der Anklage fremde Hypothese – also eine solche des Gerichts – (muss) sich immer noch auf die Anklage zurückführen lassen.“ 2122 Glaser, GS 36 (1884), S. 83; S. 114: „Das Urtheil muß diese Anklage erledigen, darf aber nicht aus Anlaß derselben eines ihr fremden Gegenstandes sich bemächtigen“. 2123 Grdl. zu dieser Theorie Roxin, FS Honig, S. 133 ff.; Darstellung des heutigen Zustandes bei Roxin, AT I § 11 Rn. 44 ff. An Versuchen, die Lehre von der objektiven Zurechnung im Strafverfahrensrecht fruchtbar zu machen, hat es nicht nicht gefehlt: Man vergleiche etwa Stein, Gewißheit und Wahrscheinlichkeit, S. 233 ff. (bzgl. des Problems der Tatsachenfeststellung); Müssig, GA 1999, S. 132, 137 (Beweisverbote); Wolter, SK-StPO 4. Aufl. vor § 151 Rn. 123; ders. ZIS 2012, S. 240, 242 (Täuschung, Einschaltung Privater zur Umgehung des Schweigerechts); Gaede, JR 2009, S. 498 (V-Mann Problematik und Schweigerecht).

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fenahme der Kriterien der Gesetzeskonkurrenz und Wahlfeststellung gemacht hat. Ausschlaggebend kann selbstverständlich nicht der konkrete Stand einer materiellstrafrechtlichen Theorie sein, die teilweise auf völlig anderen Grundlagen beruht (insbesondere auf dem aus dem Rechtsgüterschutzprinzip abzuleitenden Gedanken, dass nur ex ante gefährliche Verhaltensweisen von Verhaltensnormen verboten sind2124) und auch mit komplizierten Fragen zu tun hat, die im vorliegenden prozessualen Zusammenhang keine Entsprechung finden (wie dem Problem des sog. rechtmäßigen Alternativverhaltens oder der Selbstgefährdung des Opfers2125). Vielmehr sollen die von der objektiven Zurechnungslehre entwickelten Kriterien und Argumentationsmuster eine Art negatives Indiz für die äußersten Grenzen dessen anbieten, was noch als Werk eines Anklägers angesehen werden kann. Abenteuerliche, atypische Verläufe schließen die Zurechnung eines Enderfolgs an einen Ersthandelnden aus. (1) Atypische Kausalverläufe werden im materiellen Strafrecht anhand des Kriteriums der objektiv-nachträglichen Prognose ausgeschieden.2126 Es fragt sich also, wie man diese Leitlinie auf den vorliegenden Zusammenhang übertragen kann. (a) Eine erste Möglichkeit bestünde darin, dass man schlicht von der ausdrücklichen faktischen Seite der Verdächtigung ausgeht, also vom Satz, „A hat dies getan“, und sich fragt, welche weiteren Handlungen mit der ausdrücklich Genannten nach allgemeiner Lebenserfahrung derart zusammenhängen, dass die Behauptung, A habe das ausdrücklich Genannte getan, diesen gleichzeitig zum möglichen Täter der weiteren Handlung macht. Genauso verfährt übrigens Paeffgen, der das weiterführende Kriterium der Untersuchungsrichtung vorgeschlagen hat: Man erinnere sich an sein Beispiel einer Anklage wegen Zuhälterei, die seines Erachtens implizit auch Freiheitsberaubungen, Nötigungen und Geiselnahmen enthält (s. o. C. VII. 2. [S. 465]). Das Problem ist nur, dass sich das Kriterium in der Art und Weise nicht handhaben lässt oder zu offensichtlich ungereimten Ergebnissen führt. Denn entweder gibt man zu, dass der eine Satz, der die faktische Seite der Verdächtigung konstituiert, viel zu generell und abstrakt ist, um weitere Erfahrungsurteile zu tragen; oder, falls man sich dieser Einsicht verschließt, wird man sich in vielen Fällen auf äußerst fragwürdiges kriminologisches Scheinwissen berufen müssen. Die Dinge mögen in Paeffgens Beispiel noch leicht aussehen; man denke aber an einen der Fälle, mit denen wir diesen Abschnitt angefangen haben, den des Diebes, der eine andere Sache entwendet als die, die expliziter Gegenstand der Anklage war. Gibt es einen allgemeinen Erfahrungssatz der Art, dass Diebe, die in 2124 Roxin, FS Honig, S. 135; ders. FS Kaiser, S. 886; ders. FS Maiwald, S. 722, 724; Schünemann, JA 1975, S. 438; ders. GA 1999, S. 214 f.; Wolter, ZStW 89 (1977), S. 672; ders. Zurechnung, S. 26, 47, 94; Rudolphi, Zurechnungsformen, S. 76 f., 81. 2125 Zu diesen beiden Fallgruppen Roxin, AT I, § 11 Rn. 88 ff., 107 ff. 2126 Statt aller Roxin, AT I, § 11 Rn. 56 f.

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ein Haus einbrechen, nicht nur eine Sache entwenden, sondern mehrere (und etwa Mörder dagegen nur einen Menschen töten)? Eine derartige Generalisierung lässt sich nur für eine Konstellation begründen: die der faktischen Widerspiegelungen unserer dritten normativen Umwandlungsregel. Denn die in dieser Regel verkörperte Möglichkeit, die Anklage auch zur Erfassung von nicht ausdrücklich genannten Unrechtsvertiefungen umzugestalten, beruhte darauf, dass bereits der Gesetzgeber aus bestimmten Gründen den Blick der Rechtsanwender auf die Möglichkeit dieser weiteren Umstände gelenkt hatte (s. o. 1. [S. 528 f.]). Man kann deshalb sagen, dass der Gesetzgeber dadurch bereits den Ankläger und deshalb auch den Richter anweist, bei jedem Totschlag nach der Möglichkeit eines Mordes, bei jedem Diebstahl nach der Möglichkeit eines Einbruchs oder der Zugehörigkeit zu einer Bande zu fragen. Die Unterbreitung einer Verdächtigung wegen eines bestimmten Delikts begründet also gleichzeitig immer die Gefahr, dass dessen Vertiefungen und Verringerungen (nicht aber dessen Verwandlungen!) mitentdeckt werden. Aus der dritten normativen Umwandlungsregel, die es gestattet, dass das in der Anklage erwähnte Unrecht vertieft wird, unabhängig davon, ob überhaupt explizite Hinweise in diesem Sinne vorhanden sind, ergibt sich spiegelbildlich eine erste faktische Umwandlungsregel, die besagt, alle Anklagen wegen eines bestimmten Unrechts begründen ein dem Ankläger zurechenbares Risiko, dass eine Verurteilung wegen vertiefter Formen dieses Unrechts ergeht. (b) Bei den weiteren Fällen wird man die objektiv-nachträgliche Prognose in der Regel nicht ohne Berücksichtigung weiterer Umstände formulieren können. Weil die Verdächtigung in ihrem expliziten faktischen Teil nicht mehr als einen solchen Satz enthalten muss, wird man über sie hinausgehen müssen. Wir haben zwischen Prozessgegenstand und dem Material, das der Entscheidung über den Gegenstand zugrunde liegt (s. o. B. III. 3. [S. 393 ff.]), unterschieden. Man könnte eine vergleichbare Unterscheidung machen, die aber nicht das Urteil, sondern die Verdächtigung als Bezugspunkt hat, nämlich zwischen der Verdächtigung, die bloß aus einem faktischen und einem normativen Satz besteht („A habe möglicherweise etwas getan“; „dies sei schlecht“), und den rechtlichen und faktischen Grundlagen dieser Verdächtigung. Im vorliegenden Zusammenhang müsste man den Blick auf Letztere, also auf die verdachtsbegründenden Umstände richten. Gerade diese verdachtstragenden Umstände, die vom Ankläger zur Begründung seiner Anklage genannt werden müssen, könnten einen tauglichen Anknüpfungspunkt für eine objektiv-nachträgliche Prognose bieten. Alles, was nach allgemeiner Lebenserfahrung mit solchen verdachtsbegründenden Umständen nicht in einem fernliegenden, abenteuerlichen Zusammenhang steht, könnte demnach auf die Verdächtigung zurückgeführt werden.2127 2127 In der Sache nahestehend, ohne aber präzise zwischen faktischer und normativer Dimension zu unterscheiden, Bindokat, GA 1967, S. 364: Es steht fest, dass der Ange-

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Wenn ein Prozesssystem einen relativ freien Richter kennt, dann begründet eine Verdächtigung das Risiko, dass gewisse zusätzliche Tatsachen entdeckt werden im Vergleich zu denjenigen, die mittels des Verdächtigungsakts vorgetragen werden. Die Verdächtigung bedeutet mit anderen Worten die Schaffung eines Entdeckungsrisikos. Zur prozessualen Tat würden demnach – nach dieser zweiten faktischen Umwandlungsregel – grundsätzlich alle Vorgänge gehören, die nach allgemeiner Lebenserfahrung auf die Bekanntmachung der verdachtstragenden Tatsachen durch den Ankläger zurückführbar sind und insofern noch als Realisierung des durch die Verdächtigung (im weiten Sinne) geschaffenen Entdeckungsrisikos angesehen werden können. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen:2128 Wird ein vor wenigen Tagen als gestohlen gemeldetes Auto, dessen Tür Spuren einer gewaltsamen Öffnung aufweist, beim Betroffenen gefunden, ohne dass dieser Papiere vorzeigen kann, liegen verdachtsbegründende Tatsachen vor. Keiner fände es überraschend, wenn der Betroffene dieses Auto weggenommen hätte; oder wenn er sich das Auto verschafft hätte, oder es aufbewahrt hätte um dem eigentlichen Dieb zu helfen. In einem Prozesssystem, das den Richter nicht so strikt an den ausdrücklichen Gehalt der Anklage bindet, lässt sich die Entdeckung aller dieser möglichen Vorgänge auf denselben Verdächtigungsakt zurückführen; sie können somit alle noch Teile einer einzigen Tat im prozessualen Sinne sein, ohne dass das Anklageprinzip verletzt sein muss. Entdeckt der Richter aber im Laufe des Verfahrens, dass der Wagen weggenommen worden ist, um einen Autobomben-Anschlag zu verüben, und dass der Betroffene Mitglied einer terroristischen Organisation ist, oder dass der Betroffene eine Garage besitzt, in der fünf weitere, als gestohlen gemeldete Autos aufbewahrt werden, dann lassen sich diese neuen Umstände nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht mehr auf die gerade genannten, in der Verdächtigung geäußerten Tatsachen zurückführen. Sie sind vielmehr zufällig entdeckt worden. Eine so begründete Anklage, in der vor allem von dem Besitz eines als gestohlen gemeldeten Wagens die Rede ist, schafft ein Entdeckungsrisiko hinsichtlich eines Diebstahls, einer Hehlerei, einer Begünstigung dieses Autos, nicht aber einer klagte gegen einen anderen eine Waffe erhoben hat; oder dass er eine Sache besitzt, die ein anderer gestohlen hat. „Sämtliche Deutungsmöglichkeiten gehören zu der ,in der Angeklage bezeichneten Tat‘“. Nahestehend auch Paeffgen, NStZ 2002, S. 287, wenn er für Dauerdelikte wie die Trunkenheitsfahrt oder das Fahren ohne Fahrerlaubnis den Tatbegriff anhand des Kriteriums der „fachgerechten Ermittlungsrichtung“ bestimmen möchte: „Weder die Verkehrspolizei, noch die StA oder der Amtsrichter haben etwa (von spezifischen Sonderindizien abgesehen) rechtliche Veranlassung, noch die Befugnis, etwa einen ertappten Alkoholsünder oder den ohne Fahrberechtigung Fahrenden weiteren Ermittlungen im Hinblick darauf zu unterziehen, was während der Fahrt sonst noch strafrechtlich Erhebliches passiert sein könnte“. 2128 Ähnliches Beispiel bei Niederreuther, DStR 1936, S. 171 f.; und auch bei Bindokat, GA 1967, S. 364 (s. a. die vorherige Fn.).

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Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation oder von Straftaten, die sich auf andere Autos beziehen. Ein externer Beobachter würde hier von einem Glücksfund sprechen. In der Sprache der objektiven Zurechnung hieße es, man hat mit einem atypischen Verlauf bzw. mit einer wesentlichen Abweichung zu tun:2129 Im Entdeckungserfolg hat sich nicht das von der Anklage geschaffene Entdeckungsrisiko verwirklicht. Allgemein heißt es: Vom Verdächtigungsakt im weiten Sinne, also insbesondere von den verdächtigungstragenden Umständen ausgehend ist – genau wie bei einem beliebigen Zurechnungsfall – aus der ex ante Perspektive eine objektivnachträgliche Prognose zu formulieren. Zu welchen weiteren Tatsachen oder Vorgängen führt nach allgemeiner Lebenserfahrung die Mitteilung der die Verdächtigung tragenden Tatsachen? Ähnlich wie der Messerstich aus der ex ante Perspektive eine Reihe möglicher Kausalverläufe erwarten lässt, nicht aber einen Krankenhausbrand oder einen Unfall des Krankenwagens,2130 gestattet die Unterbreitung bestimmter verdachtstragender Tatsachen nur den Schluss auf bzw. die Entdeckung von bestimmten anderen Tatsachen, die sich mit ihnen in einem erfahrungsgemäßen Zusammenhang befinden. Alle diese Tatsachen können noch ohne Verletzung des Anklageprinzips als zur strafprozessualen Tat zugehörend angesehen werden. 3. Verhältnis der zwei Kriterien zueinander Die äußersten Grenzen der Anklage erfassen also normativ die gesamte Vorwurfsrichtung der Verdächtigung, d.h. alles, was sich nach den drei oben formulierten Regeln auf die ausdrücklich genannten Vorschriften zurückführen lässt, unter Abzug eventueller normativer Kupierungen, und faktisch alles, was noch als Verwirklichung der in der Mitteilung der jeweiligen verdachtsbegründenden Umständen verkörperten Entdeckungsgefahr angesehen werden kann. Jetzt soll nur das Verhältnis beider Kriterien zueinander klarer beschrieben werden. Die Kriterien verhalten sich zueinander selbstverständlich kumulativ. Beschränkte Wechselwirkungen gibt es schon, nämlich zwischen der dritten normativen Regel und der ersten Möglichkeit der Konkretisierung der objektiv-nachträglichen Prognose: Unrechtssteigernde (und -verringernde) Umstände sind bereits wegen der Tatsache, dass der Gesetzgeber auf ihre Nähe zu bestimmten Tatbestandsverwirklichungen hingewiesen hat, niemals überraschend; ihre Entdeckung begründet nie einen atypischen Untersuchungsverlauf. Es ist aber so, dass die Kriterien, die der normativen Dimension angehören, sich etwas leichter anwenden lassen, weil sie vom Einzelfall eher losgelöst sind. Dagegen macht die zweite Konkretisierung der objektiv-nachträglichen Prognose, die sogar auf ver2129 2130

Beiläufig Schlüchter, JZ 1991, S. 1060. Siehe m.w. N. Roxin, AT I, § 11 Rn. 69.

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dachtsbegründende Tatsachen abstellt, eine Berücksichtigung der in der Anklage genannten tatsächlichen Umstände erforderlich, und kann sogar eine Lektüre der Ermittlungsakten nötig machen.2131 VIII. Missachtung der äußersten Grenzen 1. Wir haben einen langen Weg beschritten. Unsere untersten und obersten Grenzen des Tatbegriffs haben wir auf das o. III. 2. b) (S. 390 ff.) ausgearbeitete neue Verständnis des Anklageprinzips zurückgeführt, nach dem dieses Prinzip die vernunftnotwendigen Gefahren einer Verdächtigung für die Unbefangenheit des Verdächtigers neutralisieren soll. Dieses Verständnis fußt wiederum auf der in der hier vertretenen Strafprozesstheorie gewonnenen Einsicht, dass die Strafverfolgung eines Unschuldigen immer einen unauslöschbaren Rest an Ungerechtigkeit verkörpert (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 6. d) [S. 314]). Es wäre deshalb ein großes Wunder, wenn alle positivrechtlichen Strafprozesse diesen langen Weg ausnahmslos implizit mitgegangen wären; mit einiger Genugtuung kann man dennoch feststellen, dass sie dies durchaus im Wesentlichen schon tun. Es ist also zu erwarten, dass die äußersten Grenzen sowohl nach oben als auch nach unten gelegentlich überschritten werden, womit sich auch die Frage stellt, was in solchen Fällen passieren soll.2132 2. Der implizite Gehalt der Anklage reicht nach dem Gesagten immer weiter als ihr expliziter. Es lassen sich zwei Sorten von Fehlern ausmachen: Das Gericht kann sich entweder zu sehr an den expliziten Gehalt der Anklage halten, also nicht den ganzen Gehalt der auch implizit angeklagten Tat, die deshalb zum Prozessgegenstand erhoben worden ist, zum Gegenstand seiner Urteilstätigkeit machen; oder es kann weiter gehen als die angeklagte Tat und auch über Gegenstände urteilen, die nicht einmal implizit von der Anklage erfasst worden sind. Es wird sich regelmäßig so verhalten, dass in einem akkusatorischen System eher die Neigung besteht, den ersten Fehler zu begehen, während in einem inquisitorischen System man eher dazu geneigt sein wird, sich von den Grenzen der Anklage zu befreien. Dass dies freilich nur eine grobe Tendenz darstellt, wird daran 2131 Insofern auch RGSt 12, 409 (414): „Die Anwendung des Grundsatzes ,ne bis in idem‘ fordet eine positive Begründung aus den konkreten Materialien der Sache . . .“; s. a. RGSt 21, 64 (65); 35, 367 (370); 61, 317; 64, 105 (106). Deshalb wird bei der Lösung einzelner Fallgruppen der Schwerpunkt unserer Argumentation auf den normativen Kriterien liegen, was aber nicht den schiefen Eindruck entstehen lassen sollte, die faktischen Kriterien seien unerheblich. Zu den Auswirkungen des Verbots, die Anklage und den Eröffnungsbeschluss anhand der Akte auszulegen, s. u. E. II. (S. 551). 2132 Hier interessiert selbstverständlich die Frage nur, sofern sie mit der Sperrwirkung eine Verbindung aufweist, m. a. W. sofern das erste Verfahren zu einer materiell rechtskräftigen Erledigung gekommen ist. Zu den Fragen, die sich innerhalb eines noch laufenden Verfahrens, insb. auch auf der Rechtsmittelebene ergeben können, vgl. Meyer-Goßner, JR 1985, S. 452 ff.; Palder, JR 1986, S. 94 ff.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

ersichtlich, dass es auch in Deutschland immer wieder Bemühungen gegeben hat, die Reichweite der Anklage insbesondere im Namen der Gerechtigkeit einzuengen.2133 a) Die erste Fehlerkonstellation, die Nichterschöpfung der Grenzen der Anklage, bietet wenigstens aus theoretischer Perspektive kein Problem. Die ganze Reichweite dessen, was explizit und implizit angeklagt worden ist, wird dem Gericht zur Entscheidung vorgelegt, über diese ganze Reichweite darf das Gericht ohne das Erfordernis einer weiteren Provokation ein Sachurteil aussprechen, so dass es nicht darauf ankommen kann, ob das Gericht Teile davon unberücksichtigt gelassen hat, denn hiermit hat der Beschuldigte, der seine Vorleistung der Prozesserduldung erbracht hat, nichts zu tun. Aus diesem Grunde muss es sogar irrelevant sein, ob es dem Gericht faktisch möglich war, diese Teile zu berücksichtigen. Auch dieses faktische Unvermögen hat der Beschuldigte, der keine Pflicht hat, an der eigenen Überführung mitzuwirken, nicht zu vertreten. Der Prozessgegenstand erfasst also alles, was explizit und implizit angeklagt worden ist, unabhängig davon, ob sich das Gericht damit tatsächlich beschäftigt hat oder tatsächlich beschäftigen konnte.2134 Auch die Erklärung eines Gerichts, es liege eine andere Tat vor, oder die in Deutschland bis zur Hälfte des 19. Jahrhunderts gegebene Möglichkeit, einen Vorbehalt einer späteren Verfolgung zu machen, sind nicht bloß aus positivrechtlichen Gründen unzulässig, sondern überhaupt problematisch.2135 Denn diese Befugnis ist eigentlich eine gesetzlich angeordnete Dynamisierung des Tatbegriffs, gegen die bereits die Einwände einschlägig sind, die wir o. IV. 1. (S. 484 ff.) gegen dynamisch-inkongruente Tatbegriffe formuliert haben, die den Gehalt der prozessualen Tat im Laufe des Prozesses verringern. Nicht der Richter, sondern der Ankläger bestimmt über die Reichweite der Tat; über eine angeklagte Tat

2133

Siehe oben Kap. 1 C. VII. (S. 361 Fn. 1392). Bereits Hasenbalg, Öffentliche Klage, S. 199 f.; Griolet, Chose jugée, S. 259 f.; Glaser, GrünhutZ 12 (1885), S. 311; Ortolan/Desjardins, Éléments, S. 304; Schlosky, GA 1927, S. 290; Liu, Identität der Tat, S. 50 ff., 53 ff. (auf den „Sachurteilssollgegenstand“ komme es an); Stuckenberg, LR-StPO § 264 Rn. 37, 39; BGHSt 6, 92 (95); and. für den Fall selbständiger prozessualer Taten RGSt 19, 227 (229). 2135 Siehe etwa Preußisches Obertribunal GA 1855, 822 (823). Abl. bereits Motive, in: Hahn/Mudgan, Materialien, S. 207 f., mit Hinweis auf praktische Schwierigkeiten; RGSt 3, 384 (386); 7, 229 (232); 15, 133 (137); 21, 78 (83); 35, 367 (371); 44, 116 (118); 48, 89 (91 f.); 61, 225 (226); BGHSt 18, 381 (386); BGH NJW 1953, 273; MDR 1975, 544; s. a. Coenders, JW 1925, S. 1003; Schlosky, GA 1927, S. 292; Eb. Schmidt, JZ 1963, S. 715; Hanack, JZ 1972, S. 356; Velten, SK-StPO § 264 Rn. 53. Einen punktuellen Versuch, ihn einzuführen, unternahm das OLG München in der Entscheidung DJ 1937, 82 (zust. Niederreuther, DJ 1938, S. 1754; Hall, RW 1941, S. 322: „vorbildliches Urteil“) mit Berufung auf die Gerechtigkeit und das gesunde Rechts- und Volksempfinden, ohne zu verkennen, dass dies „zwar dem Gesetze nicht enstprechen würde“; de lege ferenda auch Niederreuther, GS 113 (1939), S. 336. In Österreich hat die Figur überlebt („Ausscheidung“), s. näher Birklbauer, Prozessgegenstand, S. 111 f. 2134

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wird ein Verfahren gemacht, ein Urteil gefällt, und dies auch nur einmal – so die o. D. III. (S. 470 ff.) sog. Grundregel.2136 b) Schwierigkeiten könnte höchstens die Konstellation des zweiten Fehlers bereiten, in der die äußersten Grenzen überschritten werden. Dass dies einen schwerwiegenden Fehler verkörpert, leuchtet auf Grundlage der oben angebotenen Begründung des Anklageprinzips von selbst ein: Denn ein Richter, der die Grenzen der Anklage überschreitet, klagt selbst an, so dass seine Fähigkeit, unbefangen über die Berechtigung dieses Vorwurfs zu urteilen, nicht bloß aus individualpsychologischen, sondern aus allgemein-vernünftigen Gründen kompromittiert ist. Die Frage ist aber, welche Folgen dieser Fehler für die Anwendbarkeit der materiellen Rechtskraft und ihre Sperrwirkung haben soll. Man könnte denken, dass die die Grenzen der Anklage überschreitenden Entscheidungen des Gerichts gerade wegen der Schwere des Fehlers nur als nichtig, also als unbeachtlich eingestuft werden müssen.2137 Dies hätte zur Folge, dass ein zweites Verfahren durchgeführt werden dürfte. Dass dies aber nicht richtig sein kann, leuchtet ohne Weiteres ein. Denn auch dann, wenn das Gericht gegen die nicht angeklagten Vorwürfe nicht vorgehen durfte, darf nicht unterschlagen werden, dass es dies tatsächlich getan hat, und dass dem Beschuldigten deshalb seine Vorleistung der Duldung eines Verfahrens auch bezüglich dieser nicht angeklagten Vorwürfe abverlangt worden ist. Ihm jetzt den Ausgleich der Rehabilitierung zu versagen, würde bedeuten, dass sich der Staat aus der Begehung eines Fehlers Vorteile verschafft. Im Ergebnis wird dies auch überwiegend so gesehen. Bereits das Reichsgericht präzisierte, dass es eine Ausnahme zu seinem Grundsatz der Entsprechung zwischen Prozessgegenstand und Klageänderungsmöglichkeit gebe: „Die Rechtskraft kann zwar auch noch weiter reichen als das Recht des Gerichts, wenn dieses nämlich tatsächlich über seine Prozessbefugnisse hinaus erkannt hat“.2138 Dies wird auch dadurch implizit anerkannt, dass man Aburteilungen trotz Fehlens einer Prozessvoraussetzung für rechtskraftfähig erachtet.2139 Denn der Fall, mit dem man es hier zu tun hat, ist auch materiell der einer fehlenden Prozessvoraussetzung, genauer, einer fehlenden Bedingung der Strafklage, nämlich der Anklage selbst. Der Prozessge2136 Möglich ist nur, dass gewisse Aspekte der Tat im Laufe des Verfahrens ausgeschieden werden, so dass sie nicht zur vollen Verdächtigungstiefe gelangen. Schanze, ZStW 4 (1884), S. 472 möchte darauf abstellen, ob das Gericht nur berechtigt ist, die Anklage auszuschöpfen, oder es dazu verpflichtet ist. Weil dem Staat kein zweiter Versuch gestattet ist, muss er beim ersten Durchgang die Anklage ausschöpfen. 2137 So aber Stratenwerth, JuS 1962, S. 221. 2138 RGSt 51, 241 (243). 2139 Siehe ausdrücklich E. Wolter, Rechtskraft, S. 31; ansonsten ergibt sich das daraus, dass die nicht unumstrittene Figur des nichtigen Urteils erst Fälle erfassen soll, denen wesentlich gravierendere Fehler anhaften, s. den Überblick bei Kühne, LR-StPO Einl K Rn. 119 ff.

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genstand erfasst also zusätzlich zu dem, was (explizit oder implizit) angeklagt worden ist, alles, wogegen das Gericht das Verfahren, d.h. Kognition und Urteil tatsächlich erstreckt hat.2140 Wenn diese Entscheidung den Beschuldigten beschwert, muss ihm ein Recht zur Auflösung dieser Entscheidung, also das Recht zur Wiederaufnahme zuerkannt werden (näher u. Kap. 6 C. III. 4. c) [S. 949 f.]). 3. Zwei letzte Bemerkungen sind am Platz. a) Es schadet nicht, aus dem Gesagten die Folgen zu ziehen, die für eine Frage gelten sollen, die zur Zeit der fortgesetzten Handlung Anlass für viele Kontroversen geboten hat. Gemeint ist die Frage, auf wessen Perspektive es für die Bestimmung der Tatidentität ankommen soll, auf die des Gerichts, das im ersten oder im zweiten Verfahren entscheidet. Die aus den gerade entwickelten Grundsätzen folgende Antwort steht bereits fest. Hat das erste Gericht einen Vorgang tatsächlich zum Prozessgegenstand erhoben, dann ist darüber ein Verfahren gemacht worden, und dies unabhängig davon, ob das Gericht hierdurch den von der Anklage gesteckten Rahmen überschritten hat oder nicht. M. a.W.: Die Perspektive des Erstgerichts ist maßgeblich bezüglich all dessen, worüber es tatsächlich entschieden hat. Durch die tatsächliche Entscheidung dieser Vorgänge bejaht das Gericht wenigstens implizit, dass sie zum Prozessgegenstand gehören, und diese Auffassung bindet andere Gerichte unabhängig davon, ob sie rechtsfehlerfrei ist oder nicht. Nur bezüglich dessen, worüber das Erstgericht nicht entschieden hat, kann es zu Diskussionen kommen. Dadurch, dass das Erstgericht sich nicht mit einer Sache beschäftigt hatte, hat es wenigstens implizit zu erkennen gegeben, dass es sie nicht zum Bestandteil des Prozessgegenstands rechnet. Hinter der o. S. 540 begründeten Ablehnung des sog. Vorbehalts eines neuen Verfahrens stand schon der Gedanke, dass das Erstgericht nicht über die Reichweite des Prozessgegenstands verfügen kann, sondern über dessen ganze Reichweite zu erkennen habe. Wie weit diese Reichweite reicht, darüber wird selbstverständlich das zweite Gericht zu entscheiden haben. Das Zweitgericht wird sich also in die Lage des ersten Gerichts versetzen und aus dessen Perspektive die o. VI., VII. (S. 513 ff.) aufgestellten Kriterien anwenden müssen, um zu prüfen, ob der Vorgang, den es jetzt vor sich hat, dem Erstgericht vom Ankläger zur Entscheidung vorgelegt worden war.2141 b) Wie verhält es sich, wenn das Gericht die Anklage deshalb entweder nicht erschöpft oder überschreitet, weil es vom positiven Recht an Regeln gebunden

2140 Im Erg. ebenso RGSt 9, 14 (21 f.); 51, 241 (243); Liu, Identität der Tat, S. 79 f.; F. Frank, Identität der Tat, S. 28 f.; Detmer, Begriff der Tat, S. 79 Fn. 1, S. 361 f. („überschießende“ Sperrwirkung); Velten, SK-StPo § 264 Rn. 9. 2141 Im Erg. ebenso Beling, JW 1925, S. 1010; ders. JW 1931, S. 216; Gerland, JW 1928, S. 2247 f.; Stratenwerth, JuS 1962, S. 221.

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wird, die den o. VI., VII. (S. 513 ff.) ausgearbeiteten Grundsätzen widersprechen? Wir haben bereits den Fall von Japan gesehen, der das Gericht durch ein vermeintliches „Prinzip der Anklageschrift allein“ dazu zwingt, bei einer Anklage wegen vorsätzlicher Tötung trotz der Überzeugung, dass es um Fahrlässigkeit ging, freizusprechen (o. VI. 1. [S. 516]). Aber auch in Deutschland erfolgt unter Zugrundelegung des von der h. M. vertretenen Tatbegriffs eine ständige Überschreitung der obigen Grenzen. Aus theoretischer Perspektive sollten diese Fälle schlicht durch die Anwendung der gerade formulierten Grundsätze gelöst werden, d.h.: Es dürfte in Japan keine erneute Anklage wegen fahrlässiger Tötung erhoben werden, denn dieser Fall verkörpert eine Nichterschöpfung der Anklage im obigen Sinne, eine Unterschreitung der untersten Grenzen; ebenso wenig dürfte in Deutschland etwa nach Aburteilung der Wilderei wegen Mordes angeklagt werden, denn hier hat man es mit der gerade diskutierten Konstellation der Überschreitung der Anklage zu tun. Das bedeutet auch, dass sämtliche im folgenden Abschnitt entwickelten Lösungen (u. E. [S. 545 ff.]) unter dem Vorbehalt vertreten werden, dass man sie nicht zur Hälfte annimmt, also nur was den Strafklageverbrauch angeht, sondern dass man bereits die Anklage und die richterlichen Klageänderungsmöglichkeiten auf die aus der hier entwickelten Theorie abzuleitenden Grenzen verkürzt. IX. Zusammenfassung Der Anklagegrundsatz, Ausfluss des Grundsatzes der Verfahrensgerechtigkeit, dass niemand Richter in eigener Sache sein darf, verbietet es, Ankläger und Richter in einer Person zu vereinigen. Der tiefere, vorpositive Grund dafür liegt darin, dass derjenige, der einen anderen im o. Teil 1 Kap. 2 B. VI. (S. 131 ff.) bestimmten Sinne qualifiziert verdächtigt, die Bewahrheitung der Verdächtigung wollen muss. Daraus folgt, dass der Ankläger dem Richter einen Gegenstand zur Aburteilung vorlegen muss. Die Kognitionsbefugnis des Gerichts ist an diesen Gegenstand gebunden; darüber wird auch das Urteil ergehen, und darüber wird kein zweiter Prozess durchgeführt werden dürfen. Denn für die Duldung des Prozesses über diesen einen Gegenstand wird Rehabilitierung geschuldet, und diesbezüglich wird auch die (Prozessduldungs-)Schuld des Verurteilten getilgt. So gewinnt man die universelle Grundregel zur Bestimmung des Tatbegriffs: Der Gegenstand der Anklage ist Gegenstand des Verfahrens, Gegenstand des Urteils und Gegenstand der Sperrwirkung. Mehr: Der Gegenstand der Anklage bestimmt den Gegenstand des Verfahrens, des Urteils und der Sperrwirkung. Eine Reihe von Beispielen für die Verkennung dieser Grundregel ist dargestellt und kritisiert worden – der dynamisch-inkongruente Tatbegriff, der die Regel schlechthin leugnet; die französische Diskussion über die Thesen des idem factum oder idem crimen; die in einigen Staaten mit expliziteren Prozessgesetzen herrschende, eher wortlautorientierte Gesetzesauslegung und zuletzt die Versuche, direkt in das

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letzte Glied der Grundregel, die Tat als Gegenstand der Sperrwirkung, mit angeblicher „autonomer“ Begriffsbildung von oben einzugreifen. Wie genau der Richter an den expliziten Gehalt dessen, was ihm der Ankläger zur Entscheidung vorlegt, gebunden ist, lässt sich aus der vorpositiven Grundlage des Anklageprinzips nicht ableiten; es lässt sich aber durchaus ein Rahmen entwickeln, eine unterste und eine oberste Grenze. Die unterste Grenze bestimmt dasjenige, wovon sich der Ankläger nicht distanzieren darf, ohne dass dies als venire contra factum proprium angesehen werden muss. Die Bestrafung von weniger als diesem kann er als Vernünftiger nicht gewollt haben. Hinsichtlich der normativen Dimension der Verdächtigung besteht diese Grenze darin, dass das Anklageprinzip Verringerungen des explizit angeklagten Unrechts (Privilegierungen, lesser included offences bzw. Straftaten, die in einem Verhältnis des logischen Stufenverhältnisses zur angeklagten schwereren Straftat stehen) überhaupt nicht entgegenstehen darf. Bezüglich der faktischen Komponente müssen auch Handlungen implizit zu der Anklage mitgehören, die in engem räumlich-zeitlichem Zusammenhang begangen werden wie die in der Anklage explizit beschriebenen Handlungen, und diesen äußerlich besonders ähneln (Ähnlichkeitsregel), bzw. die kaum vernünftig den Gegenstand zweier gleichzeitiger Verfahren bilden können (Gleichzeitigkeitsregel). Die oberste Grenze markiert dasjenige, dessen Überschreitung den Richter zum Ankläger machen muss, der dann in eigener Sache entscheiden würde, in Verletzung des nemo iudex in causa sua-Grundsatzes. Normativ weist der Ankläger den Richter auf eine bestimmte Vorwurfsrichtung hin. Diese Richtung wird durch drei Regeln bestimmt. Alles, was in dem, was angeklagt wird, enthalten ist, darf als implizit mitangeklagt gelten; ob dies der Fall ist, bestimmen die Regeln der Gesetzeskonkurrenz (erste normative Umwandlungsregel). Alles, was dem, was angeklagt wird, gleichwertig ist, darf auch implizit zur Anklage gerechnet werden; ob dies der Fall ist, bestimmen die Regeln der Wahlfeststellung (zweite normative Umwandlungsregel). Zuletzt ist es ohne Verletzung der äußersten Grenzen des Anklageprinzips möglich, das angeklagte Unrecht zu vertiefen, ohne es zu verändern; also sind Qualifikationen und Regelbeispiele, nicht aber delicta sui generis immer als mitangeklagt anzusehen (dritte normative Umwandlungsregel).2142 In faktischer Hinsicht lassen sich zwei Regeln formulieren. Zunächst erfasst die Anklageerhebung implizit alle Umstände, die faktische Widerspiegelungen der dritten normativen Umwandlungsregel verkörpern; zweitens erfasst sie alles, was sich nach den Regeln der objektiven Zurechnung auf die durch den Ankläger in seiner Anklage unterbreiteten verdachtsbegründenden Umstände zurückführen lässt. 2142 Sehr ähnl. auch Mattil, DStR 1942, S. 164 ff., der aber, wie betont – o. D. IV. 1. (S. 478) – nicht an der Entsprechung von Klageänderungsmöglichkeit und Rechtskraft festhält.

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Zwischen diesen beiden Extremen ist eine Mehrzahl von Lösungen möglich, die jede Rechtsordnung in eigener Verantwortung unter Berücksichtigung einer Vielzahl von Gründen für vorzugswürdig erklären darf. Welche Lösung die des deutschen Rechts ist, wird uns im Folgenden beschäftigen.

E. Positivrechtliche Übersetzung I. Vorbemerkungen Jetzt gilt es, die vorstehenden, vorpositiv gewonnenen Ergebnisse auf das deutsche positive Recht zu projizieren. Inwieweit lassen sich aus dem Dargelegten Rückschlüsse für das deutsche Strafprozessrecht gewinnen? Weil jede Rechtsordnung eigene Regeln über das Verhältnis von Anklage und Urteil kennt,2143 lassen sich für die im Folgenden zu erzielenden konkreten Lösungen ausländische Argumente nur beschränkt verwerten. II. Der positivrechtliche Rahmen 1. Der positivrechtliche Rahmen wird insbesondere von den Vorschriften der §§ 155, 264, 265, 266 StPO gesteckt.2144 Die erste Vorschrift stellt klar, dass sich die „Untersuchung und Entscheidung“ auf die „Tat“ erstreckt, die „in der Anklage bezeichnet wird“ (§ 155 Abs. 1 StPO). Damit wird die Anklage zum Ausgangspunkt der Bestimmung der Tat erklärt (s. o. D. III. [S. 469 f.]). Im nächsten Absatz wird der Bezug zur Anklage scheinbar gelockert, dadurch dass die Gerichte „zu einer selbständigen Tätigkeit berechtigt und verpflichtet“ erklärt werden, ohne dass sie bei der „Anwendung des Strafgesetzes an die gestellten Anträge“ gebunden wären. Diese Freiheit ist aber nicht unbegrenzt („Innerhalb die2143 Siehe etwa für Italien Cordero, Procedura penale, Rn. 88.2; für Spanien Soto Nieto, Correlacion, S. 9 ff.; Pérez Morales, Correlación, S. 23 ff.; González Navarro, Acusación, S. 169 ff.; für Portugal Souto e Moura, Objecto do processo, S. 28 ff., 41 ff.; Isasca, Alteração dos factos, S. 53 ff.; Sousa Mendes, Alteração de factos, S. 755 ff.; für Brasilien Badaró, Correlação, S. 101 ff. 2144 Auch weitere Vorschriften lassen an sich Rückschlüsse zu – ob sie ernst zu nehmend sind, steht auf einem anderen Blatt. § 200 Abs. 1 StPO, die Vorschrift, die die von einer Anklageschrift zu erfüllenden Anforderungen nennt, spricht davon, dass die Anklageschrift u. a. „die Tat, die ihm (d.h. dem Angeschuldigten) zur Last gelegt wird“, und auch „die gesetzlichen Merkmale der Straftat und die anzuwendenden Strafvorschriften“ zu bezeichnen habe. Dies könne darauf hindeuten, dass die zur Last gelegte Tat etwas anderes sei als die Straftat und als die vom Ankläger bezeichneten Strafvorschriften (so Paeffgen, GS Heinze, S. 617). Wie unsicher diese Heranziehung weiterer Vorschriften sein kann, belegt § 60 Nr. 2 StPO, der von einer Verdächtigung bezüglich „der Tat, welche den Gegenstand der Untersuchung bildet, oder der Beteiligung an ihr oder der Begünstigung, Strafvereitelung oder Hehlerei“ spricht, woraus man auf den unzutreffenden (s. u. III. 2. d) [S. 554 f.], 9 [S. 611 ff.]) Schluss kommen kann, dass die weiteren Beteiligungsformen und die drei genannten Anschlussdelikte nicht zur Tat, die Gegenstand der Untersuchung ist, gehören würden.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

ser Grenzen“): Sie darf nicht den Rahmen der in der Anklage bezeichneten Tat sprengen. Gem. § 264 Abs. 1 StPO ist „die in der Anklage bezeichnete Tat“ der „Gegenstand der Urteilsfindung“. Dass es nicht auf die ausdrückliche Tatbeschreibung der Anklage ankommt, wird dadurch klargestellt, dass die Tat, „wie sie sich nach dem Ergebnis der Verhandlung darstellt“, für maßgeblich erklärt wird. Abs. 2 stellt klar, dass das Gericht auch nicht an die eigene im Eröffnungsbeschluss erfolgte „Beurteilung der Tat“ gebunden ist. Und § 265 StPO, die Vorschrift, die das Verteidigungsrecht bzw. das rechtliche Gehör des Beschuldigten bei Veränderung der Sach- und Rechtslage wahrt, dient implizit der Klarstellung, welche Veränderungen der tatsächlichen oder rechtlichen Dimension des expliziten Gehalts der Anklage noch als zulässige Explikationen des angeklagten Prozessgegenstands angesehen werden: die Verurteilung „auf Grund eines anderen als des in der gerichtlich zugelassenen Anklage angeführten Strafgesetzes“ (Abs. 1); die Anwendung von „vom Strafgesetz besonders vorgesehenen Umständen . . ., welche die Strafbarkeit erhöhen oder die Anordnung einer Maßregel der Besserung und Sicherung rechtfertigen“ (Abs. 2); „neu hervorgetretene Umstände, welche die Anwendung eines schwereren Strafgesetzes gegen den Angeklagten zulassen als des in der gerichtlich zugelassenen Anklage angeführten“ (Abs. 3). Diese Bestimmungen, die mit relativer Ausführlichkeit nur die Grenzen „nach unten“ betreffen, also die Freiheit des Gerichts vom ausdrücklichen Gehalt der Anklage, stehen im auffälligen Kontrast zu der Schlichtheit der Vorschrift, die die Nachtragsanklage für erforderlich erklärt (§ 266 StPO), und sich somit mit der Grenze „nach oben“ beschäftigt, also mit der Bindung des Gerichts an die Anklage: Bei § 266 StPO soll es um den Fall von „weiteren Straftaten des Angeklagten“ gehen. Vor allem in Bezug auf die rechtliche Dimension des Prozessgegenstands fehlt es überhaupt an einer Vorschrift, die die Grenzen nach oben klar festlegt. §§ 155 Abs. 2 und 264 Abs. 2 StPO stellen das Gericht nur frei von Anklage und Eröffnungsbeschluss. § 266 Abs. 1 StPO, wo von „weiteren Straftaten“ und nicht nur von „weiteren Taten“ die Rede ist, wirkt demgegenüber etwas blass. Diese Asymmetrie auf der einen Seite, die Tradition des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens auf der anderen, vielleicht auch eine Mischung von Liberalismus und Naturalismus haben wohl dazu beigetragen, dass man den Prozessgegenstand bald im Sinne des umfangreichen geschichtlich orientierten Tatbegriffs der h. M. verstand, der o. C. IV. (S. 436 ff.) wiederholt Gegenstand unserer vorpositiven Kritik war. Die vorpositive Begründung soll demgegenüber einen Anlass dafür bieten, dass man sich dem Gesetzestext auf Grundlage eines anderen Vorverständnisses annähert. Zum einen widersetzt sich das Gesetz nicht einer Auslegung, die die o. VII. (S. 520 ff.) bestimmten, aus dem Anklageprinzip abgeleiteten Grenzen „nach oben“ beachtet. Zum anderen enthält das Gesetz selbst ausbaufähige Anhaltspunkte für eine Beschränkung im obigen Sinne. Denn, wie bereits betont, werden die Anklage und die ihr bezeichnete Tat zweimal zum

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Ausgangspunkt erklärt (§§ 155 Abs. 1; 264 Abs. 1 StPO). Und § 266 Abs. 1 StPO spricht, wie angemerkt, von „weiteren Straftaten“ und nicht bloß von „weiteren Taten“.2145 Die Vorschrift des § 265 StPO soll in ihrem Detailreichtum nicht eine Auflockerung des Anklageprinzips erreichen, sondern das Verteidigungsrecht bzw. das rechtliche Gehör des Beschuldigten gewährleisten.2146 2. Auch in den Motiven zur RStPO findet sich kein Hinweis auf die von der h. M. derart weitgehend konzipierte Kognitionsbefugnis des Gerichts. Dies wird an den Beispielen deutlich, anhand derer die Motive die abstrakten Konstellationen zulässiger Klageänderungen erläutern, die, außer einer nicht so eindeutigen Ausnahme, bemerkenswerterweise alle die Erfordernisse des hier begründeten Anklagegrundsatzes und der aus ihm abgeleiteten äußersten Grenzen zulässiger Klageänderung (o. VII. [S. 520 ff.]) beachten.2147 Als Beispiel für die Konstellation, in der es eine nur faktische, für die rechtliche Subsumtion unerhebliche Änderung gibt, nennen die Motive den Fall, in dem die Anklage behauptet, „der Angeklagte sei durch ein Fenster in das Haus, in dem er gestohlen, eingestiegen, während er, wie sich demnächst ergiebt, durch ein Kellerloch eingestiegen ist“. Als Beispiel für die umgekehrte Konstellation einer Änderung allein der rechtlichen Qualifikation wird angeführt, dass „der Richter in der von der Anklage als Betrug bezeichneten That eine Unterschlagung findet, obwohl er lediglich die thatsächlichen Angaben der Anklage festhält“. Als Beispiel für die Kombination beider Konstellationen wird der Fall einer Änderung von Diebstahl auf Unterschlagung genannt. Zuletzt kommen die Motive zu Umständen, „welche dem in der Anklage behaupteten Thatbestande lediglich hinzutreten, so z. B. wenn sich ergiebt, daß der Angeklagte, das Behältnis, aus dem er gestohlen, mittels eines falschen Schlüssels geöffnet habe, während der Anklage dieser Umstand unbekannt war“. Allein das an nächster Stelle genannte Beispiel sprengt die hier bestimmten Grenzen. Für die Motive kann ein solcher hinzutretender Umstand „der That auch einen anderen strafrechtlichen Charakter verleihen. So stellt sich z. B. der von der Anklage behauptete Diebstahl als ein Raub dar . . .“ Wie III. 3. b) (S. 557 ff.) näher auszuführen ist, kann man die Klage nur auf andere Straftaten eigenständiger Unrechtsdimension abwandeln, wenn diese einander vergleichbar sind, was zur Folge hat, dass der Raub, solange er noch als delictum sui generis und nicht als Qualifikation des Diebstahls angesehen wird, von einer Anklage 2145 Aus der Perspektive der h. A. erscheint dieser Sprachgebrauch als „lapsus linguae“ (so Achenbach, MDR 1975, S. 20) bzw. als „redaktionelle Fehlleistung“ (Detmer, Begriff der Tat, S. 46). 2146 Richtig Eb. Schmidt, Lehrkommentar, § 265 Rn. 1; Noftz, Prozeßgegenstand, S. 67 f.; Barthel, Identität der Tat, S. 33, 62. M. a.W.: § 265 StPO möchte etwas klarstellen, was für viele Länder inquisitorischer Tradition bis heute noch nicht erkannt worden ist, da man von der Ansicht ausgeht, nach der sich der Beschuldigte „nur gegen die Tatsachen verteidige“, so dass Änderungen bloß rechtlicher Gesichtspunkte unangekündigt vorgenommen werden dürften (s. o. Fn. Fn. 1560, 1978). 2147 Motive, in: Mudgan, Materialien, S. 205 f.

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wegen Diebstahls nicht als implizit erfasst angesehen werden kann. Aus der hier eingenommenen Perspektive fällt dennoch auf, dass das einzige Beispiel, das uns überhaupt Probleme bereitet, sich in einem Grenzbereich befindet.2148 Es ist bemerkenswert, dass die Motive keines der für das Rechtsgefühl anstößigen Schulbeispiele nennen, die seit Generationen jede Darstellung des Problems einleiten.2149 Nicht nur das. Die Motive enthalten direkt im Anschluss eine Passage, die mit Berufung auf das Anklageprinzip nur als Absage an einen derart weiten Tatbegriff gedeutet werden kann, der erlaubtes Schießen an bewohnten Orten und Morde oder 100 Jahre später Fahren ohne Fahrerlaubnis und Vergewaltigung oder Raub zu einer einheitlichen prozessualen Tat zusammenfassen würde: „Hat Jemand ein Verbrechen schwererer Art begangen, so wird dadurch, daß die Anklage irrthümlich nur auf eine geringere Verbrechensart gerichtet worden ist, seine größere Strafbarkeit nicht aufgehoben.“ 2150 Die Motive haben also die Bindung an die Anklage viel enger verstanden als die h. M. dies seit jeher getan hat. 3. Aus alledem wird ersichtlich, dass die in unserem vorpositiven Abschnitt gewonnenen Einsichten bereits nach geltendem deutschen Strafprozessrecht Gültigkeit beanspruchen können. Nicht nur harmonieren sie mit den Vorschriften des positiven Rechts; sie scheinen den Vorstellungen des historischen Gesetzgebers besser zu entsprechen als die h. M. Weil das deutsche Strafprozesssystem eher inquisitorisch orientiert ist, werden in erster Linie die o. VII. (S. 520 ff.) sog. Grenzen „nach oben“ von Relevanz sein. 4. Drei in vorliegendem Zusammenhang häufig angeführte Dogmen bedürfen also nach dem, was ausgeführt worden ist, einer Revision. Gemeint sind der Grundsatz der allseitigen Kognition, der Grundsatz der Unteilbarkeit der prozessualen Tat und der weniger prominente, wenn auch implizit weitgehend anerkannte Grundsatz, dass es auf die Reihenfolge der Verfolgung der identischen Taten nicht ankomme. a) Vom ersten war o. D. VII. 1. (S. 520 ff.) bereits die Rede. Die h. M. vertritt einen sog. Grundsatz der allseitigen Kognition,2151 mit der Bedeutung, dass das Gericht bei einer Anklage wegen Diebstahls auch ein Urteil wegen Mordes fällen darf, solange der geschichtliche Vorgang ein einheitlicher bleibt. Dass dies inakzeptabel ist, wurde mehrmals gesagt; jetzt wäre nur hinzuzufügen, dass das positive Recht das ebenso wenig gebietet, da, wie gerade ausgeführt worden ist, die einschlägigen Vorschriften alle eine Auslegung zulassen, die die o. D. VII. 1. (S. 528 ff.) entwickelten obersten Grenzen der Umwandlung des expliziten Ge2148 2149 2150 2151

Siehe auch u. Fn. 2189. Siehe oben C. I. (S. 427 f.). Motive, in: Mudgan, Materialien, S. 206. Nachw. o. Fn. 2076, 2077, 2078.

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halts der Anklage einhält. Man kann immer noch von einem Grundsatz allseitiger Kognition sprechen, solange man dies vorsichtig tut und darunter nichts anderes versteht als das Gebot, den Gehalt der Anklage zu erschöpfen, m. a. W., eine Bestätigung unserer obigen Grundregel, die eine Entsprechung zwischen Anklage, Kognition und Urteil postuliert (o. D. III. [S. 470 ff.]). Es gilt also die allseitige Kognition, aber nur bezüglich des angeklagten Gegenstands. b) Hieraus ergeben sich auch feste Grenzen, um dem in ontologisch angehauchter Bezeichnung sog. Grundsatz der Unteilbarkeit der prozessualen Tat2152 einen präziseren Inhalt zu geben. Der Grundsatz enthält genauer betrachtet zwei verschiedene Regeln, eine, die an den Richter, eine andere, die an den Ankläger gerichtet ist. In erster Hinsicht bedeutet sie, dass über den Gehalt einer Anklage nur ein Urteil ergehen darf.2153 Es gibt keine Zwischenurteile, keine halben Urteile. In zweiter Hinsicht heißt sie, dass der Gehalt der Anklage nicht durch den individuellen Willen des einzelnen Anklägers bestimmt wird; er kann nicht sagen, „ich klage nur wegen des einen, nicht der neun anderen Messerstiche an“, oder „ich klage nur die durch Gewalt begangene Vergewaltigung, nicht aber die Körperverletzungen an“. Darüber hinaus muss man mit dem Schlagwort der angeblichen Unteilbarkeit äußerst vorsichtig umgehen; insbesondere ist die auf Grundlage der herrschenden Auffassung immer mitschwebende Konnotation, dass einzelne geschichtliche Vorgänge als fensterlose Monaden nur en bloc abgeurteilt werden dürfen, als methodisch verfehlt abzulehnen (s. o. C. IV. [S. 434 f.]). Die Anerkennung von normativen Kupierungen ist der Beleg, dass es einen solchen Grundsatz wenigstens in der Form, wie er von der h. M. postuliert wird, nicht gibt.2154 Unteilbarkeit der prozessualen Tat kann also für das Gericht nur 2152

RGSt 13, 146 (147); 25, 27 (29); Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 114, der aber prompt die Ausnahmen aufzählt (S. 115 ff.); Correia, Caso julgado, S. 318; Figueiredo Dias, Direito processual penal, S. 145; Asencio Mellado, Principio acusatorio, S. 42 ff.; Stuckenberg, LR-StPO § 264 Rn. 33 f. 2153 RGSt 29, 174 (176). 2154 Bereits RGSt 46, 363 (367); 62, 83 (87), im Zusammenhang mit der Bejahung der möglichen Beschränkung eines Strafantrags auf einzelne Gesetzesverletzungen einer einheitlichen materiellen Handlung: „[D]ie Einheit (braucht) sich keineswegs nach jeder Richtung auszuwirken . . ., vielmehr (können) die zu einer natürlichen Einheit zusammengefaßten Tatbestandsverwirklichungen in gewissen Beziehungen auch ein selbständiges Leben haben . . .“; ähnl. Mattil, DStR 1942, S. 171; Bruns, JZ 1960, S. 591, am Problem eines nach dem Urteil eintretenden erschwerenden Erfolgs (dazu u. III. 4. c) aa) [S. 572 ff.]); Spinellis, Rechtskraft, S. 30 (Ausnahmen vom Prinzip der Unteilbarkeit des Prozessgegenstands), 127. Die Schwierigkeiten, vom herrschenden Ausgangspunkt aus solche Kupierungen überhaupt zu begreifen – worauf die Schwankungen der Rechtsprechung hinsichtlich des Verbrauchs der Strafklage wegen eines mit einem Offizialdelikt zusammenhängenden Antragsdelikts zurückführbar sind, s. III. 4. b) cc) (S. 568 f.) – betonen auch Vogler, Rechtskraft, S. 73 und Büchner, Strafprozessuale Tat, S. 37 f. Normative Kupierungen konsequent ablehnend Wurzer, GA 1918, S. 270 ff., 281 ff. (sogar für den Fall fehlender Gerichtsbarkeit, zu dieser Konstellation u. III. 4. c) aa) [S. 561 ff.]).

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das Verbot der absolutio ab instantia und die Pflicht, die ganze Anklage zu erledigen bedeuten, und keineswegs das Gebot, über den angeklagten Gegenstand hinauszugehen und mit ihm vermeintlich unteilbar zusammenhängende Aspekte mitzuuntersuchen. c) Die h. M. geht mehr oder weniger unausgesprochen davon aus, dass, wenn zwei prozessuale Taten ein Verhältnis der Identität zueinander aufweisen, dieses Verhältnis erhalten bleibt, unabhängig von der Reihenfolge, in der die Taten verfolgt werden. Dies scheint fast eine logische Wahrheit zu sein: Wenn A = B, dann gilt B = A. Man könnte dies als das Prinzip der korrelativen Identität prozessualer Taten bezeichnen.2155 Wenn man streng vom Anklageprinzip ausgeht und die Tat nicht mehr als monadische Größe begreift, sondern auf Grundlage der Anklage bestimmt, dann wird sich auch die Möglichkeit ergeben, dass es umfassendere und weniger umfassendere Prozessgegenstände gibt, dass also der Gegenstand von Verfahren A (Diebstahl) vom Gegenstand von Verfahren B (Raub mit Todesfolge) vollständig erfasst wird, ohne dass dies im umgekehrten Sinne der Fall ist. Dies hatte im Übrigen auch die Rechtsprechung für den mehr als nur verwandten Fall der Rechtshängigkeit (s. u. Kap. 5 E. I. [S. 846]) bei juristischen Handlungseinheiten wie der Fortsetzungstat anerkannt: Das umfassendere Verfahren steht also dem weniger umfassenden entgegen, ohne dass sich dieses Verhältnis umkehren lässt.2156 5. Man sollte sich kurz einzelnen möglichen positivrechtlichen Schwierigkeiten zuwenden. Unsere zweite faktische Umwandlungsregel nimmt die von der Anklage genannten verdachtsbegründenden Umstände zum Ausgangspunkt (s. o. D. VII. 2. [S. 536]). Dies wird ohne Zweifel beim beschleunigten Verfahren zu Problemen führen, in dem eine Anklage sogar mündlich erhoben werden darf (§ 417 StPO). Dies ist aber eher ein Problem des mündlichen Verfahrens als der hier entwickelten Ansicht; übrigens ist es auch nach der herrschenden Auffassung nicht einfach, unter solchen Umständen den Gegenstand der Anklage zu bestimmen.2157 Man könnte sich auch fragen, ob das vorliegende Tatkonzept damit ver2155 Nur unter amerikanischen Autoren konnte ich eine explizite Stellungnahme im Sinne dieses Grundsatzes finden, s. Amar, YLJ 106 (1997), S. 1814 („Transitivität“); Thomas III, Double Jeopardy, S. 100. 2156 Siehe bereits RGSt 41, 108 (110 f.) für den Fall eines bereits eröffneten Verfahrens wegen einfacher Hehlerei und der späteren Eröffnung eines Verfahrens wegen gewerbsmäßiger Hehlerei bei einem Gericht höherer Ordnung, zu der Zeit, als man für Sammel- oder Kollektivstraftaten (insb. gewerbsmäßig und gewohnheitsmäßig begangene Taten) von einer einheitlichen prozessualen Tat ausging, gleichzeitig aber meinte, dass die Aburteilung als Einzeltat nicht zu dieser Zusammenfassung führe (s. o. Fn. 2341); ebenso RGSt 66, 19 (22); 67, 53 (56). 2157 Bereits Dünnebier, GA 1959, S. 274.

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einbar ist, dass es zwar möglich sein soll, zum Verständnis des Eröffnungsbeschlusses die Anklageschrift und sogar das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen heranzuziehen,2158 nicht aber den sonstigen Akteninhalt.2159 Diese Erfordernisse betreffen eher die dem Verteidigungsrecht bzw. dem rechtlichen Gehör dienende Informationsfunktion der Anklage als ihre dem Anklageprinzip dienende und für den Tatbegriff allein interessierende (s. o. B. IV. 2. [S. 410 ff.]) Umgrenzungsfunktion. III. Fallgruppenspezifische Konkretisierung 1. Vorbemerkungen An dieser Stelle soll die oben vorgeschlagene Theorie und die auf ihrer Grundlage erfolgende Auslegung des positiven Rechts an den zahlreichen problematischen Fallgruppen erprobt werden, die in der deutschen Diskussion eine besondere Rolle spielen. Einige Vorbemerkungen sind geboten. a) Erstens bewegt man sich ab jetzt innerhalb der Grenzen des deutschen Rechts. Die Argumente, die man unten entfalten wird, gehen von der dem deutschen Strafverfahren zugrunde liegenden Aufgabenverteilung zwischen Ankläger und Richter aus. Zwar geht es auch im Folgenden um Gründe, die ihrerseits universalisierbar sind (s. o. Teil 1 Kap. 1 A. I. [S. 46]). Die „vollständigen“ Gründe (s. o. Teil 1 Kap. 1 A. II. 1. [S. 56 f.], C. [S. 103 ff.]) verweisen dennoch wenigstens zum Teil auf ein für das deutsche Strafverfahrensrecht charakteristisches Verständnis des Anklageprinzips, das dem Gericht eine gewisse Selbstständigkeit gegenüber der Anklage zuerkennt. Zum Teil, weil (wie gesehen) viele dieser Gründe bereits aus den in der vorpositiven Theorie bestimmten Grenzen „nach oben“ abgeleitet werden, die ihrerseits nicht nur für das deutsche Recht Geltung beanspruchen. Es ist aber eine Entscheidung des deutschen Rechts, diese Grenzen auszuschöpfen. Viele Rechtsordnungen binden den Richter stärker an die Anklage, und für diese Rechtsordnungen sind also die im Folgenden entwickelten Argumente nur begrenzt einschlägig. Die Bezugnahme auf ausländische Literatur wird deshalb im folgenden Abschnitt etwas sparsamer erfolgen als gewöhnlich. Das deutsche Strafverfahrensrecht bietet aber gerade durch diese Entscheidung, das Gericht so frei wie möglich zu stellen, m. a. W., das Anklageprinzip so großzügig wie möglich zu verstehen, einen besonders fruchtbaren Boden zur Erprobung der hier entwickelten Theorie. Denn die Bestimmung des Tatbegriffs für das deutsche Strafverfahrensrecht wird damit häufig zugleich die Bestimmung der äußersten überhaupt zulässigen Grenzen der Freiheit des Gerichts im Umgang mit dem Prozessgegenstand sein. 2158

RGSt 64, 105 (106); 68, 105 (106); BGHSt 5, 225 (227); 46, 130 (134); 57, 88

(92). 2159

BGHSt 46, 130 (134); Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 639.

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b) Ferner wird sich die Darstellung an einer phänomenologischen, faktisch orientierten Herangehensweise ausrichten. Dies liegt nicht daran, dass ein faktischer Tatbegriff vertreten wird, sondern zunächst daran, dass dadurch der Anschluss zur bisherigen Diskussion leichter wird, ferner daran, dass keine materielle Lösung durch bloß deskriptive Fallgruppenbildung präjudiziert werden soll. Idealiter sollte das vorliegende Kriterium dazu in der Lage sein, die „kaum noch überschaubare und schwer prognostizierbare Kasuistik“,2160 zu der die naive faktische Betrachtungsweise der h. M. führt, zu überwinden und sogar obsolet zu machen. Selbstverständlich geht es hier nicht darum, zu jeder publizierten Entscheidung höherer Gerichte Stellung zu nehmen, sondern bloß darum, alle wichtigen Fragen auf Grundlage der hier entwickelten Kriterien zu behandeln und die maßgeblichen Entscheidungen, insbesondere diejenigen, die in der amtlichen Sammlung veröffentlicht worden sind, nicht unberücksichtigt zu lassen. c) Weil man vom Schreibtisch aus über die Fragen diskutiert, wird man sich regelmäßig mit einer Erörterung der normativen Dimension des Tatbegriffs begnügen. Denn nur über diese Dimension des Tatbegriffs können durch einen eher abstrakten Vergleich der fraglichen Vorschriften sichere Aussagen gewonnen werden (s. o. D. VII. 1. [S. 528 ff.]). Bei der faktischen Dimension, die vor allem von den verdachtsbegründenden Umständen ausgeht, kommt es vielmehr auf den Einzelfall an (s. o. D. VII. 2. [S. 537 ff.], 3 [S. 539]). Auf sie wird deshalb im Folgenden nur dann eingegangen, wenn ein besonderer Anlass dafür vorliegt. 2. Abwandlungen desselben Strafgesetzes Fangen wir mit dem Leichtesten an. Im Anschluss an die o. D. VII. 1. (S. 520 f.), E. II. (S. 548 f.) relativierte These der allseitigen Kognition des Gerichts geht die h. M. von einer umfassenden Freiheit aus, andere Vorschriften heranzuziehen als die ausdrücklich in der Anklage bezeichneten. Erst recht muss also das „Wachsen und Verringern der Handlung innerhalb desselben Deliktstypus“ 2161 für zulässig angesehen werden.2162 In § 265 Abs. 2 StGB, der eine Hinweispflicht bei „vom Strafgesetz besonders vorgesehenen Umständen . . ., welche die Strafbarkeit erhöhen“, statuiert, wird die positivrechtliche Bestätigung dieser Annahme gefunden. Aus der hier eingenommenen Perspektive wird man dem im Ergebnis weitgehend zustimmen. Im Einzelnen:

2160

Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 20 Rn. 12. Oehler, FS Rosenfeld, S. 149. 2162 Etwa Glaser, GS 36 (1884), S. 108; Oehler, FS Rosenfeld, S. 149; Bertel, Identität der Tat, S. 143; Engelhardt, KK-StPO § 264 Rn. 23; Stuckenberg, LR-StPO § 264 Rn. 55. 2161

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a) Qualifikationen, Privilegierungen Dass sie auch ohne explizite Erwähnung in der Anklage vom Gericht berücksichtigt werden dürfen, ist nach dem o. D. VII. 1., 2. (S. 528 ff., 537) Gesagten bereits klar. Die normativen Schranken der prozessualen Tat sind eingehalten: Privilegierende Merkmale verkörpern gerade keinen Vorwurf, müssen schon deshalb nicht ausdrücklich angeklagt werden; Qualifikationen, die keinen eigenständigen Vorwurf verkörpern, bedürfen aus eben diesem Grunde keiner expliziten Erwähnung in der Anklage und ebenso verhält es sich bei Qualifikationen, die einen eigenständigen Vorwurf verkörpern, denn bei ihnen hat bereits die gesetzgeberische Formulierung als Qualifikation den Blick des Anklägers, der den Verdacht der Verwirklichung eines Grundtatbestands erhebt, auf die Möglichkeit der Verwirklichung der Qualifikation gelenkt. Bei Qualifikationen und Privilegierungen ist unsere dritte normative Umwandlungsregel einschlägig, und dies in beide Richtungen, also sowohl wenn der Grundtatbestand als auch wenn die Qualifikation Gegenstand der Anklage ist. Wird aber bereits die Privilegierung oder die Qualifikation angeklagt, dann ist auch die erste normative Umwandlungsregel, der Gedanke der Gesetzeskonkurrenz, miteinschlägig. Denn die Abwandlung verdrängt den Grundtatbestand schon nach der Regel der Spezialität. Auch die faktischen Schranken sind eingehalten, weil die Anklage wegen eines Tatbestands die Gefahr begründet, dass wegen aller Abwandlungen, die nicht von ungefähr vom Gesetzgeber mit diesem Tatbestand in ein enges Verhältnis gebracht worden sind, ermittelt und verurteilt wird, so dass die Grenzen der in der Anklage wegen eines Tatbestands verkörperten Ermittlungs- und Verurteilungsgefahr auch alle Vertiefungen und Milderungen innerhalb desselben Unrechts erfassen (s. o. D. VII. 2. [S. 537], erste faktische Umwandlungsregel). Für Regelbeispiele, die materiell qualifikationsgleich sind, muss genau das Gleiche gelten (s. o. D. VII. 1. [S. 527]). b) Versuch und Vollendung Auch die Umwandlung von Vollendung zu Versuch und umgekehrt ist zulässig.2163 Wird Vollendung angeklagt, dann ist die erste Umwandlungsregel einschlägig, weil der Versuch subsidiär2164 ist. Wird Versuch angeklagt, dann ist 2163 RGSt 4, 243 (244); 15, 133 (137); Heffter, Non bis in idem, S. 20; Glaser, GrünhutZ 12 (1885), S. 312 f.; Liu, Identität der Tat, S. 85; Mattil, DStR 1942, S. 165 (mit ähnl. Begründung wie hier); Oehler, FS Rosenfeld, S. 149; Spinellis, Rechtskraft, S. 104; Bertel, Identität der Tat, S. 144; Barthel, Begriff der Tat, S. 100. 2164 Nach Herzberg, JuS 1996, S. 378 f. geht es sogar um Spezialität.

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Vollendung als unrechtsvertiefender Umstand nach unserer dritten Umwandlungsregel als mitangeklagt anzusehen. c) Vorbereitungshandlung und Versuch Genauso verhält es sich beim Verhältnis von strafbarer Vorbereitungshandlung (§ 30 StGB) und Versuch:2165 § 30 StGB ist gegenüber dem Versuch subsidiär,2166 der Versuch ist also nur Vertiefung und keine Verwandlung des Vorbereitungsunrechts. Wie aber, wenn die Vorbereitung zum delictum sui generis erhoben wird?2167 Ein Beispiel bietet hier § 265 StGB im Vergleich zu § 263 StGB. Die ausdrückliche Subsidiaritätsklausel des § 265 stellt klar, dass der Vorwurf, § 263 verwirklicht zu haben, auch die Verwirklichung von § 265 StGB mitenthält. Die Subsidiaritätsklausel lässt weitere Rückschlüsse zu, nämlich in Bezug auf die umgekehrte Konstellation einer Anklage nur wegen § 265 StGB: Die Umwandlung in § 263 StGB ist möglich, weil die Subsidiaritätsklausel auf der impliziten Anerkennung beruht, dass, unabhängig vom Streit über das in § 265 StGB geschützte Rechtsgut,2168 § 263 dessen Unrechtsgehalt nur vertieft und nicht grundlegend verwandelt. §§ 263, 265 StGB stehen also regelmäßig miteinander im Verhältnis der prozessualen Tatidentität.2169 Ebenso verhält es sich mit der Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens gem. § 83 StGB, die nach h. M.2170 subsidiär zu der Verwirklichung von §§ 81, 82 StGB ist. d) Beteiligungsform Überwiegend geht man davon aus, dass alle Beteiligungsformen eine einheitliche Tat im prozessualen Sinne darstellen.2171 Umwandlungen zwischen unmittelbarer Täterschaft, mittelbarer Täterschaft, Mittäterschaft, Anstiftung und Beihilfe 2165 Im Erg. auch Spinellis, Rechtskraft, S. 104; Barthel, Begriff der Tat, S. 105. And. Liu, Identität der Tat, S. 85, wegen der regelmäßigen materiellrechtlichen Tatmehrheit. 2166 BGHSt 1, 131 (135); Schünemann, LK-StGB § 30 Rn. 81 m.z.N. 2167 Richtige Fragestellung bei Barthel, Begriff der Tat, S. 104 f. Im Grunde genommen gehört die Fragestellung nicht mehr hierher, sondern in den nächsten Abschnitt der Abwandlungen bei verschiedenen Strafgesetzen (u. 3. [S. 556 ff.]). Es wäre aber ungeschickt, den Gedankengang zu zerreißen. 2168 Näher m.w. Nachw. Wohlers, MK-StGB § 265 Rn. 1 ff. 2169 A.A. Barthel, Begriff der Tat, S. 105. 2170 Siehe v. Heintschel-Heinegg, MK-StGB, Vorbem §§ 52 Rn. 47. 2171 RGSt 5, 249 (251); 8, 135 (140); 13, 146 (147 f.); 28, 321 (323); 53, 169 (169 f.); BGHSt 2, 371; Glaser, GS 36 (1884), S. 108; ders. GrünhutZ 12 (1885), S. 312; Eichhorn, GS 38 (1886), S. 420 f.; Borgmann, Identität der That, S. 56 f.; Schlosky, GA 1927, S. 293 f.; Oetker, JW 1929, S. 1081; Schwinge, ZStW 52 (1932), S. 228; Niederreuther, DStR 1936, S. 173; Mattil, DStR 1942, S. 165; Bertel, Identität der Tat, S. 143; Wolter, GA 1986, S. 157, 166 (mit ähnl. Begründung wie hier). Diff. Oehler, FS Rosenfeld, S. 149: Überschneidung erforderlich.

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sind in alle Richtungen möglich, unabhängig von der in der Anklage explizit herangezogenen Beteiligungsform. Diese Ergebnisse sind zu billigen. Alle Umwandlungen nach unten werden bereits von unserer ersten Regel gestattet: Die schwächere Beteiligungsform ist gegenüber der stärkeren subsidiär. Täterschaft kann zur Anstiftung2172 und Beihilfe, Anstiftung kann zur Beihilfe gemacht werden. Umgestaltungen zur Seite sind zwischen den Täterschaftsformen möglich, also von Allein- zu Mittäterschaft oder zu mittelbarer Täterschaft und umgekehrt, da sie vergleichbares Unrecht verkörpern, was sich auch an der Anerkennung der Möglichkeit einer Wahlfeststellung erkennen lässt.2173 Umgestaltungen nach oben sind auch möglich, wenn man den Strafgrund der Teilnahme nicht in einem neugerichteten Angriff erblickt (so wie es die allgemein abgelehnten Schuld- und Unrechtsteilnahmelehren tun, die die Teilnahme als Angriff gegen den Haupttäter deuten2174), sondern in einem Angriff gegen das auch vom Haupttäter angegriffene Gut.2175 Dann ist die Haupttat kein neuartiges Unrecht, sondern Vertiefung des Teilnahmeunrechts, so dass eine Umgestaltung nach unserer dritten Regel gestattet ist. e) Vorsatz und Fahrlässigkeit Die Anklage wegen der Vorsatztat lässt sich nach unten in eine Fahrlässigkeitstat umwandeln, weil Fahrlässigkeit im Vergleich zum Vorsatz subsidiär ist,2176 oder weil der Vorsatz sogar einen spezielleren Fall von Fahrlässigkeit2177 darstellt. Eine Umwandlung nach oben ist auch möglich, weil der Vorsatz nur eine Vertiefung und keine Verwandlung von Fahrlässigkeitsunrecht darstellt. Ein Wissen und Wollen ist regelmäßig nicht einmal ein eigenständiger Unwertträger. Im Er2172 Auch zu versuchter Anstiftung, verfehlt deshalb BGH NStZ 2000, 216, eine Entscheidung, die offensichtlich – wenn auch nicht explizit – vom Bestreben getragen wird, den in einem ersten Verfahren wegen Mordes Freigesprochenen nicht wegen der versuchten Anstiftung zur selben Tat straffrei ausgehen zu lassen, und die sich mit späteren Entscheidungen nur schwer verträgt (insb. mit BGH StraFo 2009, 289, in der es heißt, Anstiftung und versuchte Kettenanstiftung können dieselbe Tat sein). 2173 BGHSt 11, 18 (18). 2174 Nachw. u. Kritik bei Roxin, AT II § 26 Rn. 16 ff.; Schünemann, LK-StGB vor § 26 Rn. 9 f. 2175 Roxin, AT II § 26 Rn. 11; Schünemann, LK-StGB vor § 26 Rn. 7, die von einem „akzessorischen Rechtsgutsangriff“ sprechen. 2176 So in der Sache die h. M., die von einem „normativen Stufenverhältnis“ zwischen Fahrlässigkeit und Vorsatz spricht, BGHSt 32, 48 (57); Schmitz, MK-StGB Anh. zu § 1 Rn. 25; Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder-StGB § 1 Rn. 85 m.w. Nachw. 2177 I. S. eines begriffslogischen Stufenverhältnisses Frister NK-StGB Nachbem. zu § 2 Rn. 40 f. m.w. Nachw.

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gebnis stellen also Vorsatz- und Fahrlässigkeitstat prozessual eine einheitliche Tat dar.2178 f) Begehungs- und Unterlassungsdelikt Auch zwischen Begehungs- und unechtem Unterlassungsdelikt sind Abwandlungen in beide Richtungen möglich.2179 Die Abwandlung nach unten, also von der angeklagten Begehung zu dem entsprechenden unechten Unterlassungsdelikt, ist wegen der Subsidiarität des Unterlassens bzw. der Tatsache, dass es sich mit der Begehung in einem normativen Stufenverhältnis befindet,2180 nach unserer ersten Regel möglich.2181 Und genauso verhält es sich bezüglich der Abwandlung nach oben, von der Unterlassung zur Begehung, wenn nur die Unterlassung angeklagt wird, denn die Begehung verhält sich dann als unrechtssteigerndes Merkmal i. S. unserer dritten Regel. Es fragt sich, ob diese Grundsätze auch für echte Unterlassungsdelikte Geltung beanspruchen können, etwa für eine unterlassene Hilfeleistung (§ 323c StGB) oder eine Nichtanzeige geplanter Straftaten (§ 138 StGB). Diese Straftaten sind anerkanntermaßen subsidiär zu der unechten Unterlassung und der Begehung (und sei es nur einer Beteiligung als Teilnehmer),2182 was darauf beruht, dass den Vorschriften eine vergleichbare Schutzrichtung zuerkannt wird.2183 Abwandlungen sind deshalb sowohl nach unten gemäß unserer ersten als auch nach oben gemäß unserer dritten Regel möglich.2184 3. Abwandlungen bei unterschiedlichen Strafgesetzen Selbstverständlich geht es nicht an, alle denkbaren Kombinationen von Vorschriften aus dem StGB und dem Nebenstrafrecht anhand unserer Kriterien zu messen, es muss vielmehr eine aussagekräftige Auswahl getroffen werden. 2178 RGSt 2, 347 (350); 3, 132 (133 f.); 4, 243 (244 f.); Heffter, Non bis in idem, S. 20; Glaser, GrünhutZ 12 (1885), S. 312; Borgmann, Identität der That, S. 56 f.; Liu, Identität der Tat, S. 85; Oehler, FS Rosenfeld, S. 149; Bertel, Identität der Tat, S. 144. 2179 Siehe auch Wolter, GA 1986, S. 166, wegen des normativ-ethischen Stufenverhältnisses (s. o. VIII. [S. 466]). 2180 Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder-StGB § 1 Rn. 86 m.w. Nachw. 2181 Dieses Argument taucht auch in OLG Celle NJW 1961, 1080 (1081) auf. 2182 Statt aller Freund, MK-StGB, § 323c Rn. 125 und Hohmann, MK-StGB § 138 Rn. 24. 2183 Dies erst recht dann, wenn man die Vorschrift des § 138 StGB als vorverlagerten Schutz desselben Guts versteht, das von der anzuzeigenden Tat beeinträchtigt werden kann (so etwa Rudolphi/Stein, SK-StGB § 138 Rn. 2 m.w. Nachw., auch zur Gegenauffassung, die auf die öffentliche Sicherheit oder den öffentlichen Frieden abstellt). 2184 Ebenso bzgl. § 138 StGB und der nicht angezeigten Straftat Wolter, GA 1986, S. 166, mit ähnl. Begründung. Also war die vielgescholtene Entscheidung RGSt 21, 78 richtig; wegen der Bedeutung dieser Entscheidung für die Weiterentwicklung der Diskussion kommen wir u. 9. (S. 616 f.), E. II. (S. 630 f.) auf sie zurück.

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a) Körperverletzung, Tötung Abwandlungen nach unten, also von der Tötung zu der Körperverletzung, sind selbstverständlich möglich, weil man sein Opfer körperlich verletzen muss, um es zu töten: Die Körperverletzung ist nach inzwischen kaum mehr streitiger Auffassung2185 gegenüber der Tötung subsidiär (als sog. Durchgangsdelikt).2186 Auch in umgekehrter Richtung ist eine Abwandlung trotz der unterschiedlichen Rechtsgüter möglich. Die Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit stehen einander sehr nahe, was daran erkennbar wird, dass bereits eine Intensivierung, also eine quantitative Steigerung des Angriffs gegen die körperliche Unversehrtheit zum Angriff gegen das Leben führt. Ein sehr intensiver Angriff gegen das Eigentum begründet noch lange keine Lebensgefahr, während Angriffe gegen den Körper des Opfers ab einer bestimmten Intensität ohne die Notwendigkeit eines Richtungswechsels dessen Leben mitbetreffen werden. Die Verletzung des Lebens ist deshalb eine Vertiefung und keine Verwandlung des Körperverletzungsunrechts. b) Raub, Diebstahl Weil sich Raub und Diebstahl hinsichtlich der „Wegnahme“ überschneiden, geht die h. M. regelmäßig von einer einheitlichen prozessualen Tat aus.2187 Den Weg zu dieser einfachen und zugegeben intuitiv attraktiven Lösung haben wir uns aber wohl verbaut. Denn nach unten, also wenn Raub angeklagt wird, ist dies richtig. Der Diebstahl ist als allgemeinere Vorschrift im Raub logisch enthalten, wird also von diesem nach den Regeln der Spezialität verdrängt. Nach oben wäre dies aber nur der Fall, wenn der Raub eine bloße Vertiefung und keine Verwandlung des Diebstahlsunrechts darstellen würde. Für Letzteres spricht aber die herrschende Einordnung des Raubs als eigenständiges Delikt bzw. als delictum sui generis, womit abgelehnt wird, dass es um eine Qualifikation des Diebstahls gehe.2188 Worauf diese Einordnung beruht, wird selten gesagt; denkbar wäre es, dies aus dem Umstand abzuleiten, dass der bei der Frage nach der Abwandlung von Körperverletzung zu Totschlag erwähnte Richtungswechsel hier doch erforderlich ist: Konnte der Angriff gegen den Körper durch bloße quantitative Steigerung zum Angriff gegen das Leben werden, muss zu der 2185

Zur früheren Auffassung seit Binding Jakobs, Konkurrenz, S. 42ff. m.w. Nachw. BGHSt 16, 122; v. Heintschel-Heinegg, MK-StGB, Vorbem §§ 52 Rn. 47. 2187 Etwa Neuhaus, MDR 1988, S. 1014; Detmer, Begriff der Tat, S. 224. 2188 Kindhäuser, NK-StGB § 249 Rn. 1; Kühl, StGB § 249 Rn. 1; Eser/Bosch, in: Schönke/Schröder, StGB, § 249 Rn. 1. Siehe auch BGH NJW 1968, 1292, in der die Möglichkeit eines Fortsetzungszusammenhangs zwischen Diebstahl und Raub deshalb abgelehnt worden ist, weil die Tatbestandsverwirklichungen nicht gleichartig seien. 2186

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Wegnahme etwas völlig Neuartiges hinzukommen, damit aus einem Diebstahl ein Raub wird. Wie dem auch sei: Solange man an der Einstufung als delictum sui generis festhält, folgt aus dem Anklagegrundsatz, wie wir ihn o. B. III. 2. (S. 385 ff.) begründet und durch eine Vielzahl von Regeln konkretisiert haben, dass die Anklage wegen Diebstahls den Raub nicht explizit enthält. Ob diese Einstufung aber richtig ist, soll hier dahingestellt bleiben.2189 Wer den Raub nicht zur Qualifikation des Diebstahls gemacht sehen möchte und sich dennoch gegen dieses Ergebnis sträubt, sollte vielleicht sein Urteil suspendieren und den nächsten Abschnitt lesen. Unabhängig von der bereits angemerkten Fragwürdigkeit von Hinweisen auf bloße Intuitionen, die, soweit sie sich nicht auf verbindliche Prinzipien zurückführen lassen, unter dem Verdacht stehen, petitiones principii zu verkörpern (s. o. C. II. [S. 429]), lassen sich die im nächsten Abschnitt ergehenden Ergebnisse, die intuitiv sehr einleuchten dürften, nicht ohne die hier vorliegenden gewinnen. c) Vergewaltigung, Körperverletzung In einem von der Rechtsprechung entschiedenen Fall wurde ein Verfahren wegen Vergewaltigung deshalb eingestellt, weil der Beschuldigte schon wegen einer mit ihr in engem räumlich-zeitlichen Zusammenhang stehenden gefährlichen Körperverletzung verurteilt worden war.2190 Aus vorliegender Sicht würde man anders entscheiden müssen.2191 Zwar wäre eine Abwandlung nach unten, von der sexuellen Nötigung bzw. Vergewaltigung zu der Körperverletzung, nach unserem System möglich gewesen. Auch setzt § 177 StGB in einer seiner Tatmodalitäten keine Körperverletzung, sondern nur „Gewalt“ voraus (Abs. 1 Nr. 1). „Kleinere“ Misshandlungen werden aber als subsidiär eingestuft,2192 so dass die erste Abwandlungsregel hier einschlägig wäre. Bei gravierenden Körperverletzungen ist diese Überlegung nicht mehr einschlägig, da man hier von Idealkonkurrenz und nicht von bloßer Gesetzeskonkurrenz spricht.2193 Dennoch deuten schon einige der Qualifikationen des § 177 StGB darauf hin, dass der Gesetzgeber damit rechnet, dass die Gewalt regelmäßig zu einer körperlichen Misshandlung führen wird (§ 177 Abs. 3 Nr. 3, Abs. 4 Nr. 2 a StGB). Somit lässt sich durch eine kombinierte Anwendung der dritten 2189 Eine Revidierung dieser Annahme hätte die willkommene Nebenfolge, dass dadurch allen von den Motiven erwähnten Beispielen Rechnung getragen werden könnte (s. o. II. [S. 548]). 2190 BGH NStZ-RR 2003, 82 – einheitliche Tat. 2191 Im Erg. genauso Heffter, Non bis in idem, S. 20. 2192 Vgl. Renzikowski, in: MK-StGB § 177 Rn. 99. 2193 Renzikowski, in: MK-StGB § 177 Rn. 99.

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und der ersten Umwandlungsregel die sexuelle Nötigung bzw. Vergewaltigung in die Qualifikationen der Absätze 3 und 4 abwandeln (3. Regel), und weil diese von einer körperlichen Misshandlung sprechen, die kraft Subsidiarität auch schwerere Verwirklichungen von § 223 StGB verdrängen wird, ist auch die 1. Regel einschlägig. Im Vorwurf, § 177 Abs. 1 verwirklicht zu haben, ist deshalb auch der Vorwurf, § 223 StGB verwirklicht zu haben, enthalten. Im umgekehrten Sinne ist dies aber nicht der Fall. Die Körperverletzung kann die Vergewaltigung nicht im Wege der Gesetzeskonkurrenz verdrängen; Vergewaltigung und Körperverletzung sind auch nicht vergleichbar im Sinne der Wahlfeststellung. Der Vergewaltigungsvorwurf ist deshalb weder im Körperverletzungsvorwurf enthalten noch diesem vergleichbar, so dass bereits aus diesem Grunde von unterschiedlichen Verdächtigungen, Anklagen und deshalb auch Prozessgegenständen auszugehen wäre. d) Diebstahl, Betrug Dass Diebstahl und Betrug grundsätzlich nebeneinander stehen, so dass weder die erste noch die dritte Umwandlungsregel einschlägig ist, dürfte klar sein.2194 Dafür, dass eine Anklage wegen Diebstahls auch einen Betrug umfasst (oder umgekehrt), wäre also erforderlich, dass beide Vorwürfe gleichwertig sind. Hier entsteht also eine Schwierigkeit: Denn wegen des grundsätzlich unterschiedlichen Handlungsunwerts (Täuschung einerseits, Wegnahme andererseits) werden Betrug und Diebstahl für unvergleichbar gehalten, so dass Wahlfeststellung zwischen ihnen nicht möglich sein soll.2195 Auf den ersten Blick könnte man denken, diese Konstellation verkörpere eine augenfällige Widerlegung unserer normativen Beschränkung der von der h. M. akzeptierten allseitigen Kognition. Nach näherem Hinsehen erkennt man, dass diese Unvergleichbarkeit nur eine grundsätzlich-abstrakte ist, die das allgemeine Verhältnis zwischen beiden abstrakten Vorschriften betrifft. Akzeptiert man aber, dass die Vergleichbarkeit auch auf einer etwas niedrigeren Abstraktionsstufe erfolgen darf, dass sie also anerkannte Fallgruppen miteinbeziehen darf,2196 dann verschwinden die Probleme: Denn gerade Fallgestaltungen im Grenzbereich von Trickdiebstahl und Sachbetrug sind 2194 Mit Ausnahme des als mitbestrafte Nachtatat eingestuften sog. Sicherungsbetrugs (statt aller Hefendehl, MK-StGB § 263 Rn. 797), der gem. unserer ersten Umwandlungsregel von der Anklage wegen der Vortat miterfasst wird. 2195 BGHSt 20, 100 (104); OLG Karlsruhe, NJW 1976, 902 (903); Wolter, Alternative Verurteilung, S. 107, 131 f. Fn. 442. Die Entscheidung BGH NStZ 1985, 123, in der die Möglichkeit der Wahlfeststellung abgelehnt wird, lässt die Frage, ob dies bereits auf dem abstrakten Verhältnis beider Straftatbestände zueinander beruhe, ausdrücklich offen und argumentiert vor allem damit, dass im konkreten Fall sich der Diebstahl und der Betrug gegen unterschiedliche Opfer richteten. 2196 Nachw. o. Fn. 2090; dagegen aber Günther, JZ 1976, S. 667 f.; Dannecker, LKStGB Ahn § 1 Rn. 143, die beide die Entscheidung des OLG Karlsruhe ablehnen.

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sehr wohl miteinander vergleichbar, sie befinden sich geradezu an der Schnittstelle, wo Wegnahme in Täuschung umschlägt und umgekehrt.2197 Bei den bekannten Klausurfällen nach dem Muster von BGHSt 41, 198 (Passieren der Kasse mit Ware, die im Einkaufswagen versteckt ist) gibt es also auch nach den vorliegenden Kriterien unabhängig von den Details der Tatsachendarstellung und von der rechtlichen Einordnung durch den Ankläger eine einheitliche prozessuale Tat. 4. Normative „Kupierungen“ des Prozessgegenstands a) Vorbemerkungen Manchmal wird die Verwirklichung bestimmter Straftatbestände nicht einmal implizit angeklagt, weil das Recht es ausschließt, dass diese Straftatbestände in dem einen Verfahren zur Anwendung kommen. „Allein wie schon die Klageerhebung nur hinsichtlich der gerichtlich verfolgbaren Straftat stattfinden soll (§ 152 Abs. 2 StPO), so gelten auch die Vorschriften der §§ 155, 264 StPO nur, soweit die in der Anklage bezeichnete Tat auch verfolgbar ist.“ 2198 Vier Punkte müssen hervorgehoben werden. aa) Erstens wird in diesen Konstellationen nicht erst die Kognitionspflicht des Gerichts, sondern bereits die Reichweite der Anklage eingeschränkt. Das Gericht hat immer über die ganze Anklage zu entscheiden (s. o. D. VIII. [S. 541 ff.]). Eine nachträgliche normative Kupierung ist eigentlich eine Teileinstellung, die in einem System, das weder die absolutio ab instantia2199 noch den Vorbehalt einer anderweitigen Verfolgung2200 kennt, nur äußerst behutsam und vom Gesetzgeber selbst für zulässig erklärt werden darf. Innerhalb welcher Grenzen, wird sich erst u. Kap. 4 E. III. 2. d) (S. 750 ff.), F. II. 3., 4. (S. 788 ff., 794 ff.) klären lassen. bb) Es ist bemerkenswert, dass diese Voraussetzungen im Groben genau denjenigen entsprechen, die die früheren Vertreter der Lehre vom Strafklagerecht zu den von ihnen anerkannten „Strafklagebedingungen“ gerechnet haben. Wir haben o. Teil 1 Kap. 2 C. II. 1. (S. 151 Fn. 498) gesehen, dass die Kategorie allmählich in Vergessenheit geraten ist und dass es ihr Schicksal war, von den Prozessvoraussetzungen einverleibt zu werden. Dies geschah nicht von ungefähr, und auch nicht nur wegen kleinlicher Abgrenzungsschwierigkeiten, die es sowieso bei jeder rechtsdogmatischen Kategorisierung geben wird, sondern vor allem, weil man einen inhaltlichen Unterschied zwischen Strafklagebedingungen und Prozessvoraussetzungen nicht zu erkennen vermochte. Die sogleich zu konturieren2197

OLG Karlsruhe, NJW 1976, 902; Wolter, Alternative Verurteilung, S. 107 f., 116,

131. 2198

RGSt 62, 83 (89 f.). Siehe oben Kap. 1 C. VII. (S. 363 f.); u. Kap. 4 B. I., C. II. 2. (S. 704 f., 717 ff.). 2200 Siehe oben D. VIII. (S. 540). 2199

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den Konstellationen einer normativen Kupierung des angeklagten Gegenstands werden aufzeigen können, worin dieser Unterschied besteht: Bei dem Fehlen einer Voraussetzung des Strafklagerechts ist über etwas gar keine Anklage erhoben worden. Unter Beachtung des Anklageprinzips findet darüber überhaupt kein Prozess statt.2201 cc) Weil keine Anklage erhoben worden ist, ist es drittens dem Gericht in solchen Fällen nicht faktisch, sondern rechtlich unmöglich, über die Anwendbarkeit der herauskupierten Tatbestände ein Sachurteil zu gewinnen. Diese rechtliche Unmöglichkeit kann nicht nur auf prozessrechtlichen (u. b)), sondern auch auf materiellen Aburteilungsschranken (u. c), S. 572 ff.) beruhen. dd) Viertens ist die anschließend vorgenommene Einteilung in prozessuale und materiellrechtliche Aburteilungsschranken nicht buchstäblich zu nehmen. Sie dient eher Darstellungszwecken. Weder bedeutet sie, dass man sich hier über schwierige Zuordnungsfragen (vor allem bezüglich der materiell- oder prozessrechtlichen Rechtsnatur des Strafantrags oder der Verjährung) hinwegsetzt, noch dass die in den materiellrechtlichen Schranken behandelten Fallgruppen des nachträglichen Eintritts eines schwereren Erfolgs oder der nachträglichen Vornahme einer „gleichartigen“ Handlung bereits auf materiellrechtlicher Ebene, unabhängig vom Prozessrecht, zu lösen sind. b) Prozessuale Aburteilungsschranken aa) Fehlende Gerichtsbarkeit, fehlende sachliche Zuständigkeit Anerkanntermaßen geschieht eine normative Kupierung durch das Vorhandensein besonderer Verfahrensgänge, in denen nur bestimmte Verdächtigungsdimensionen thematisiert werden können, so dass dem Gericht nicht erst die Zuständigkeit, sondern bereits die Gerichtsbarkeit bzw. Jurisdiktion zur Anwendung bestimmter Straftatbestände fehlt.2202 Dies ist der Fall bei Spezial- bzw. Sonder2201 Es wird sich später herausstellen, dass diese dogmatische Unterscheidung für die Bestimmung der Grenzen, innerhalb derer eine Einstellung als Wiederaufnahmeziel anerkannt werden soll, von Bedeutung ist (u. Teil 2 Kap. 6 C. II. 2. d) [S. 915 ff.]). 2202 RGSt 33, 405 (406: „auch bei idealer Konkurrenz darf das für das eine Delikt zuständige ordentliche Gericht nicht über ein Delikt entscheiden, für welches ihm die Gerichtsbarkeit mangelt“), bzgl. eines den preußischen Rheinschifffahrtsgerichten unterstehenden Delikts; 46, 363 (367); 49, 272 (274); RG JW 1916, 601 (602); BGH JZ 1957, 29; Glaser, GrünhutsZ 12 (1885), S. 327 f.; v. Lilienthal, JW 1916, S. 601 f.; Schlosky, GA 1927, S. 294 f. (wenn auch terminologisch schief); Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 115; Liu, Identität der Tat, S. 67; Kadecka, Handlungseinheit, S. 178; Gelbert, JW 1934, S. 2892; E. Wolter, Rechtskraft, S. 29 f.; Eb. Schmidt, JZ 1963, S. 715 (der zu Unrecht meint, dies sei die einzige normative Kupierung); Spinellis, Rechtskraft, S. 124 f.; zu den äußerst seltenen ablehnenden Stimmen Wurzer, GA 1918, S. 281 ff., unter konsequenter Durchführung der These von der Unteilbarkeit der prozessualen Tat (w. N. S. 290).

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gerichten, die es in Deutschland für die Beurteilung von Militärstraftaten gab,2203 und für (zwar heutzutage seltener gewordene2204) Delikte nach Landesstrafrecht, die nur von den Gerichten des jeweiligen Bundeslandes abgeurteilt werden dürfen.2205 Die Anklage, die vor einem Gericht erhoben wird, erfasst nur die Straftatbestandsverwirklichungen, deren Aburteilung in die Gerichtsbarkeit des Gerichts fällt. Bei Gerichten mit spezifischer sachlicher Zuständigkeit erfolgt aber nach deutschem Recht keine normative Kupierung, denn es besteht sowohl die Möglichkeit (und die Pflicht), dass das Gericht unterer Ordnung die Tat an das zuständige höhere Gericht weiterleitet (§§ 225a, 270 StPO), als auch die Möglichkeit (und die Pflicht), dass das höhere Gericht über die weiteren, an sich nicht von seiner sachlichen Zuständigkeit erfassten Strafansprüche ein Sachurteil fällt (§ 2 StPO).2206 Das unzuständige Gericht hat die ganze Tat an das höhere zuständige Gericht zu verweisen, dessen Zuständigkeit sich ihrerseits nicht nur auf den Aspekt beschränkt, der sie unmittelbar begründet, sondern sich auf die ganze Tat miterstreckt. Zwei selten gestellte, aber durchaus wichtige und an sich miteinander verzahnte Fragen müssen noch geklärt werden. Zunächst könnte man darauf hinweisen, dass das sachlich unzuständige Gericht auch rechtlich daran gehindert war, über bestimmte Tatdimensionen eine Entscheidung zu fällen. Wäre es nicht konsequenter, zu sagen, dass auch hier eine normative Kupierung vorliegt, einfach aus der Erwägung, dass über diese Tatdimensionen keinerlei Verfahren durchgeführt worden ist?2207 Dem ist aber zu entgegnen, dass die zwei oben genannten Vorschriften, die die Weiterleitung an ein mit voller Kognitionsbefugnis ausgestattetes Gericht bestimmen, darauf beruhen müssen, dass keine normative Kupierung erfolgt ist. Ansonsten würde das unzuständige Gericht durch seine Verweisung in die Rolle des Anklägers schlüpfen. Bereits die Anklage muss deshalb die Straftatbestandsverwirklichungen implizit enthalten können, die die sachliche Zuständigkeit des Gerichts überschreiten, bei dem die Anklageerhebung erfolgt. 2203 RGSt 49, 272 (274); 49, 354 (356); 50, 237 (239); 56, 161 (166 f.); Beling, Lehre vom Verbrechen, S. 388. 2204 Vgl. Stettner, in: Dreier-GG, Suplementum 2007, Art. 74 Rn. 24. 2205 RGSt 29, 156 (159); 32, 57 (58 f.) (beide Entscheidungen hatten mit fortgesetzten Taten zu tun); Schanze, ZStW 4 (1884), S. 477; Oster, Rechtskraft, S. 16; Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 116. 2206 Preußisches Obertribunal GA 1866, 120 (121); RGSt 25, 27 (28); 32, 89 (93); 61, 225 (226); BGH NJW 1953, 393; Schwarze, GS 25 (1873), S. 404; Glaser, GrünhutsZ 12 (1885), S. 327 f.; Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 117; Jescheck, JZ 1957, S. 31; Spinellis, Rechtskraft, S. 125. Fragwürdig deshalb der Versuch von Noftz, Prozeßgegenstand, S. 80, aus der Verteilung der sachlichen Zuständigkeiten Rückschlüsse für die Reichweite der prozessualen Tat zu ziehen. 2207 Correia, Caso julgado, S. 374 Fn. 1.

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Ferner könnte man sich fragen, ob die Gegenüberstellung von Gerichtsbarkeit und sachlicher Zuständigkeit die Sache wirklich trifft, und bemängeln, dass hier die Termini benutzt worden sind, ohne sie sauber zu definieren und voneinander abzugrenzen. Dies beruht indes nicht (oder nicht bloß) auf Bequemlichkeit – denn die präzise Unterscheidung ist zugegeben nicht leicht2208 –, sondern auch darauf, dass es im Grunde genommen für die vorliegende Sachfrage nicht auf eine konstruktivistische Unterscheidung zwischen den zwei Begriffen ankommt. Konstruktivistischem Denken würde es sogar entsprechen, bei fehlender Gerichtsbarkeit von einem nichtigen Urteil oder einem Nicht-Urteil zu sprechen, dem als solchem keine Rechtskraft zukommen kann, und bei fehlender sachlicher Zuständigkeit dagegen nur von einer zwar fehlerhaften, aber noch als wirksames Urteil zu qualifizierenden Entscheidung auszugehen. Ausschlaggebend ist indes allein, ob die Möglichkeit der Verweisung an ein anderes, mit voller Kognition ausgestattetes Gericht besteht oder nicht.2209 Wenn sie besteht, hatten die Gerichte die Möglichkeit (und die Pflicht), die Anklage auch unter diesen weiteren Gesichtspunkten abzuurteilen, so dass die Anklage auch in Bezug darauf hätte erhoben werden können. Wenn aber die Weiterleitung nicht an das andere Gericht erfolgen würde, sondern an die Staatsanwaltschaft zur erneuten Anklageerhebung vor dem zuständigen höheren Gericht, dann geht es nicht um Verweisung, sondern um Zurückweisung der Anklage.2210 Dies hat zu bedeuten, dass die Anklage von vornherein mit Hinblick auf die sachliche Zuständigkeit bzw. Gerichtsbarkeit des Erstgerichts kupiert war. Hätte das teilweise sachlich unzu2208 Denn die Bestimmung von Gerichtsbarkeit als „Rechtsweg“ in Abgrenzung zu den eher internen Fragen der sachlichen Zuständigkeit (Eb. Schmidt, Lehrkommentar I, Rn. 126, 127; Geppert, GA 1972, S. 167) dürfte zwar auf den ersten Blick befriedigen, solange man nicht auch die Frage stellt, was den Rechtsweg materiell und nicht organisatorisch von der sachlichen Zuständigkeit unterscheidet. Ähnliches könnte man zu dem Verweis auf Art. 95 Abs. 1 GG sagen, der die fünf Gerichtsbarkeiten aufzählt. 2209 Bestätigt von Wurzer, GA 1918, der wegen einer ernstgenommenen Unteilbarkeit der prozessualen Tat jede normative Kupierung ablehnt, aber auch im Falle mangelnder Gerichtsbarkeit §§ 269, 270 StPO anwenden möchte (S. 286); er sieht sich aber dazu genötigt, die Befugnis des Gerichts zur Aburteilung von Straftaten, die jenseits seiner Gerichtsbarkeit liegen, aus einem sonst vorhandenen „Nostand“ abzuleiten (S. 284), was sogar angesichts des Grundsatzes des gesetzlichen Richters nicht unproblematisch sein dürfte; und von Beling, ZStW 38 (1917), S. 469 ff., zu der Zeit, als es in Deutschland eine eigenständige Militärstrafgerichtsbarkeit für Militärstraftaten gab, die aber befugt war, die mit diesen Straftaten „zusammentreffenden“ allgemeinen Straftaten abzuurteilen. Verkannt von Neubauer, DJ 1942, S. 12, der meint, dass die Strafklage wegen Straftaten, für die nur (nationalsozialistische) Sondergerichte zuständig waren, bei Aburteilung der Tat durch ein allgemeines Gericht nicht verbraucht werde, obwohl eine solche Verweisungspflicht vorgesehen war. 2210 Etwa die Rechtslage in Österreich, nach der das Schöffengericht am Ende der Hauptverhandlung bei Zuständigkeit des Gechworenengerichts ein sog. „Unzuständigkeitsurteil“ zu fällen hat (§ 261 Abs. 1 östStPO), das die Staatsanwaltschaft in die Lage versetzt, innerhalb von drei Monaten das Ermittlungsverfahren fortzusetzen oder direkt Anklage zu erheben (§ 261 Abs. 2 östStPO) (hierzu Bertel/Venier, StPO § 261 Rn. 1, 6 f.).

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ständige Gericht die Tatdimension abgeurteilt, die sich noch im Rahmen seiner Zuständigkeit befindet, dann würde nur über diese Dimension ein Zweitverfahren unzulässig werden. bb) Strafbefehl, Verfolgung als Ordnungswidrigkeit Aus den über die Fallgruppen der fehlenden sachlichen Zuständigkeit bzw. Gerichtsbarkeit entwickelten Überlegungen ergibt sich der Schlüssel, um einen Teil2211 des Problems der Rechtskraft des Strafbefehls und auch der Verfolgung als Ordnungswidrigkeit zu lösen. (1) Das Problem der Rechtskraft des Strafbefehls, das lange im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen über die Rechtskraft stand, versuchten einige, insbesondere Vogler, dadurch zu lösen, dass sie eine normative Kupierung postulierten.2212 Die summarische Kognition des Strafbefehlsverfahrens führe nicht zu einer leichter abänderbaren Entscheidung, sondern zu einer Entscheidung über einen enger gefassten Gegenstand. Denn das Gericht gewähre den Antrag auf Verhängung eines Strafbefehls wegen Schießens an bewohnten Orten, ohne in einer Hauptverhandlung zu prüfen, ob dieses Schießen nicht auch einen Mord mitverwirklicht habe. Eine implizite Bestätigung findet diese Auffassung in einer in diesem Zusammenhang selten zitierten Entscheidung des Reichsgerichts, der zufolge keine Rechtshängigkeit bestehe, wenn zwei gleichzeitige Strafbefehlsverfahren denselben geschichtlichen Vorgang unter rechtlich unterschiedlichen Gesichtspunkten zum Gegenstand haben.2213 Dies ist indes schief, und der Grund hierfür befindet sich in der Bestimmung des § 408 Abs. 3 S. 2 StPO: Der Richter hat die Hauptverhandlung anzuberaumen, wenn er Bedenken hat, ohne eine solche zu entscheiden, oder wenn er von der rechtlichen Beurteilung im Strafbefehlsantrag abweichen oder eine andere als die beantragte Rechtsfolge festsetzen will und die Staatsanwaltschaft auf ihrem Antrag beharrt. Das bedeutet, dass auch hier ein Mechanismus wie in den §§ 225a, 270, 2 StPO vorhanden ist, der dem ersten Gericht gestattet, aus eigener Initiative das Verfahren auf einen anderen als den von der Staatsanwaltschaft ausgesuchten Weg zu leiten, der dazu führt, dass die Sache umfassend abgeurteilt wird. Wenn man nicht den Richter, der hier die Verhandlung anberaumt, zum Ankläger erklären möchte, muss man bereits im Strafbefehlsantrag eine Form der Anklageerhebung erblicken – was auch das Gesetz ausdrücklich tut, § 407 2211 Zu den weiteren Teilen dieser Problematik s. u. Kap. IV F. II. 9. (S. 810 ff.), Kap. 6 D. VI. 4. (S. 991 ff.). 2212 Vogler, Rechtskraft, S. 90 ff.; Geerds, Konkurrenz, S. 405: „Es unterscheiden sich also Urteil und Strafbefehl nicht in der Rechtskraftwirkung an sich, sondern nur in dem Umfang der Wirkung.“; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 390 Fn. 20, S. 403; Peters, Strafprozeß, S. 513. 2213 RGSt 56, 251 (253 f.).

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Abs. 1 S. 4 StPO2214 –, die bereits weitere, im Antrag nicht ausdrücklich genannte Tatdimensionen enthält. Eine normative Kupierung erfolgt also beim Strafbefehl nicht. (2) Dieselben Grundsätze gelten auch im Recht der Ordnungswidrigkeiten. Auf der einen Seite bestimmt § 65 OWiG, dass Ordnungswidrigkeiten regelmäßig durch Bußgeldbescheide geahndet werden, also durch Verwaltungsakte, die die Tat nicht unter weiteren Gesichtspunkten, insbesondere nicht unter dem einer Straftat, einzustufen befugt sind (§ 41 OWiG). Bis zu diesem Moment besteht also in der Tat eine normative Kupierung.2215 Eine Ahndung durch die zuständige Verwaltungsbehörde, die nur befugt ist, die Tat als Ordnungswidrigkeit zu bewerten, lässt die Frage, ob möglicherweise Strafvorschriften verwirklicht worden sind, unberührt.2216 Sobald die Dinge vor ein Gericht gelangen, verändert sich dies aber. Denn § 81 Abs. 1 OWiG gestattet es dem Gericht, ein als Bußgeldverfahren eröffnetes Verfahren aus eigener Initiative in ein Strafverfahren zu verwandeln.2217 Umgekehrt bestimmt § 82 OWiG in seinem ersten Absatz die Möglichkeit einer Beurteilung als Ordnungswidrigkeit im Rahmen des Strafverfahrens,2218 und in seinem zweiten Absatz die Umwandelbarkeit eines Strafverfahrens in ein Bußgeldverfahren. § 72 OWiG lässt es ferner zu, dass das Gericht über eine Ordnungswidrigkeit lediglich durch Beschluss, d.h. ohne Hauptverhandlung entscheidet, wenn es eine solche „nicht für erforderlich hält“. Eine Hauptverhandlung, die das Gericht also aus eigener Initiative anberaumen darf, soll unter anderem immer dann erforderlich sein, wenn der Verdacht einer Straftat besteht.2219

2214

Siehe Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 473, und ihm folgend Lüttger, GA 1957, S. 209, die beide von einer „Eventualanklage“ sprechen. 2215 Übereinstimmend Berz, Rechtskraft, S. 64 f.; Göhler, wistra 1991, S. 93; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 298. 2216 § 41 Abs. 1 OWiG, der die Pflicht zur Abgabe der Sache an die Staatsanwaltschaft vorsieht, „wenn Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, daß die Tat eine Straftat ist“, ändert hieran nichts. Und dies nicht, weil sich die Verwaltungsbehörde nicht mit der Verfolgung von Straftaten befasst (so aber Berz, Rechtskraft, S. 65). Die Weiterleitung der Sache an die Staatsanwaltschaft gem. § 41 Abs. 1 OWiG kann durchaus als erster Schritt im Sinne einer Verfolgung als Straftat gedeutet werden, so dass jeder Bußgeldbescheid stillschweigend die Annahme der Behörde voraussetzt, eine Straftat liege nicht vor. Entscheidend ist vielmehr eine andere Überlegung, die man erst u. Kap. 4 E. III. 2. d) (S. 749 ff., 752) einführen wird: nämlich dass bei einer derartigen Weitergabe der Sache das Verfahren zwei weitere staatlichen Stellen durchlaufen muss, bis der Betroffene in die akute Gefahr gerät, bestraft zu werden. Der Umstand, dass der Bußgeldbescheid keine Gerichtsentscheidung ist, sondern von einer Verwaltungsbehörde stammt, ist in diesem Zusammenhang irrelevant; näher u. Kap. 4 C. II. 3. (S. 723 ff.). 2217 Ebenso Berz, Rechtskraft, S. 31; Göhler, wistra 1991, S. 95. 2218 Berz, Rechtskraft, S. 28. 2219 Radtke, Strafklageverbrauch, S. 301.

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Daher schreibt § 84 Abs. 2 S. 1 OWiG folgerichtig vor, dass ein gerichtliches Urteil als Ordnungswidrigkeit oder als Straftat einer erneuten Verfolgung unter beiden Gesichtspunkten entgegensteht; S. 2 bestimmt, dass dies auch für den Beschluss gem. § 72 OWiG zu gelten hat.2220 Das ist die notwendige Folge davon, dass, soweit eine Ordnungswidrigkeit nicht über den „normalen“, exekutivistischen Weg eines Bußgeldbescheides, sondern über ein gerichtliches Verfahren abgeurteilt wird, immer gleichzeitig eine Verfolgung als Straftat gegeben ist.2221 Es fragt sich nur, wo die Anklage liegt. Zwar gilt der Anklagegrundsatz für die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten nicht (s. o. B. III. 3. [S. 392 f.]); hier geht es aber zugleich um die Verfolgung von Straftaten, die möglicherweise mit Ordnungswidrigkeiten zusammentreffen. Dass die Anklage nicht in der vom Gericht initiierten Verwandlung vom Bußgeldverfahren in ein Strafverfahren gem. § 81 OWiG liegen darf, ist offensichtlich, denn damit würden Ankläger und Richter in eins gesetzt.2222 Man muss aber nicht lange suchen: Die Anklage wird auch hier von der Staatsanwaltschaft erhoben. Der Gesetzgeber hat nicht von ungefähr vor der Einschaltung des Gerichts ein Zwischenverfahren vorgesehen: § 69 Abs. 3, insb. Abs. 4 S. 2 OWiG. Auch dann, wenn in der Praxis die Bemühungen der Staatsanwaltschaft in erster Linie der Aufklärung einer Ordnungswidrigkeit und nicht einer Straftat gelten,2223 ist die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, die Akten, die ihr nach Einspruchserhebung von der Verwaltungsbehörde zugeleitet worden sind, dem Amtsgericht vorzulegen (§ 369 Abs. 4 S. 2 OWiG), als Anklageerhebung bezüglich aller mit der Ordnungswidrigkeit im Verhältnis prozessualer Tatidentität stehenden Tatbestandsverwirklichungen anzusehen. Eine normative Kupierung findet also auch hier nicht statt. Aus dem Anklageprinzip folgt aber schon, dass die Umgestaltbarkeit des Verfahrensgegenstandes von der Einhaltung einer weiteren, im Gesetz nicht ausdrücklich vorgesehenen Voraussetzung abhängig ist: dass es um dieselbe prozessuale Tat geht, insbesondere also, dass die o. VII. 1., 2. (S. 520 ff.) ausgearbeiteten Grenzen der Umgestaltung der Anklage eingehalten werden. Der h. M. ist also darin zuzustimmen, dass im Ordnungswidrigkeitenrecht derselbe Tatbegriff gilt wie im Strafverfahren.2224 Unter Zugrundelegung der vorgeschlagenen, vor allem normativen 2220 Mit dem Wortlaut, dass diese Entscheidung einem „rechtskräftigen Urteil gleichsteht“, was beim Strafbefehl (§ 410 Abs. 3 StPO) im Sinne der vollen Rechtskraft gedeutet wird, s. u. Kap. 4 F. II. 9. (S. 812). Ausf. zu dieser Bestimmung Molière, Rechtskraft des Bußgeldbeschlusses, S. 22 ff., 48 ff., mit i. Erg. übereinstimmender Lösung (S. 51 f.). 2221 Ebenso Radtke, Strafklageverbrauch, S. 302. 2222 So aber Velten, SK-StPO § 264 Rn. 54: „Abweichung von dem Anklagegrundsatz.“ 2223 So Radtke, Strafklageverbrauch, S. 301. 2224 Etwa Göhler, wistra 1991, S. 92; Bohnert, OWiG § 19 Rn. 22.

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Schranken der Klageumgestaltung wird dies aber zu einer im Vergleich zur h. M. beträchtlichen Einengung der gerichtlichen Kognitionspflicht und auch der Rechtskraft führen. Auf die Diskussion über die Wesensgleichheit oder -verschiedenheit von Kriminalunrecht und Ordnungswidrigkeiten wird man nicht eingehen müssen.2225 Zwar würde die These von der Wesensverschiedenheit gegen jede Umwandlungsmöglichkeit sprechen; die gerade beschriebenen Regeln müssen also voraussetzen, dass wenigstens das positive Recht keinen derartigen Wesensunterschied kennt. Aber auch dann, wenn man Wesensgleichheit bejaht, und zwischen Kriminalunrecht und Ordnungswidrigkeit in erster Linie quantitative Unterschiede erblickt, bleiben unsere Kriterien gültig. Straftat ist nicht gleich Straftat; erst recht ist Straftat nicht gleich Ordnungswidrigkeit (oder umgekehrt). Anhand einiger Beispiele: Eine Umwandelbarkeit wird z. B. zwischen der Ordnungswidrigkeit der Verletzung der Aufsichtspflicht in Betrieben und Unternehmen (§ 130 OWiG) und einer Beihilfe zur oder Mittäterschaft an der strafbaren Zuwiderhandlung des Untergebenen möglich sein,2226 da § 130 OWiG allgemein als subsidiäre Vorschrift oder (technisch ungenau) als Auffangtatbestand angesehen wird.2227 Möglich ist eine Klageänderung auch, wenn zunächst die Ordnungswidrigkeit des § 24a StVG verfolgt und anschließend entdeckt wird, dass in Wahrheit § 316 StGB verwirklicht worden ist.2228 Man könnte sich fragen, ob § 21 Abs. 1 OWiG dem nicht entgegensteht. Die Vorschrift ordnet nämlich an, dass in Fällen der Idealkonkurrenz zwischen Ordnungswidrigkeit und Straftat nur wegen der Straftat zu verurteilen ist. Bemerkenswert an der Vorschrift ist, dass in ihr von einer „Mehrheit von Handlungen“ die Rede ist, und nicht von gleichgerichteten Vorwürfen, wie sie hier für die Umwandlung von Ordnungswidrigkeit in Straftat für notwendig gehalten worden sind. Hierzu ist indes zweierlei zu sagen. Erstens muss die Vorschrift nicht auf der Annahme eines von der konkreten Vorwurfsrichtung unabhängigen plusminus Verhältnisses zwischen allen Ordnungswidrigkeiten einerseits und allen Straftaten andererseits beruhen. Vielmehr lässt sie sich auch auf Erwägungen fehlender Strafbedürftigkeit zurückführen: Wird die Handlung schon als Straftat verurteilt, dann ist die Verurteilung als Ordnungswidrigkeit nicht mehr von Gewicht (ähnl. wie §§ 154, 154a StPO). In der Sache geht es um eine materielle 2225 Im Sinne der Wesensverschiedenheit grdl. Goldschmidt, Verwaltungsstrafrecht, S. 558 ff.; s. a. E. Wolf, FS Frank, Bd. II, insb. S. 560 ff., 568; Eb. Schmidt, Disziplinarrecht, S. 871 f.; ders. FS Arndt, S. 426, 433 ff.; Arndt, FS Schmid, S. 8; ausf. zu Geschichte und heutigem Zustand der Diskussion Bohnert, KK-OWiG Einl Rn. 50 ff. 2226 Zu weiteren komplizierten Problemen Göhler, wistra 1991, S. 93 f. 2227 Siehe Rogall KK-OWiG § 130 Rn. 108 m.w. Nachw., der die Redeweise eines „Auffangtatbestands“ für „unglücklich“ erklärt. 2228 Dieses Beispiel auch bei Büchner, Strafprozessuale Tat, S. 174.

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Konkretisierung des im Ordnungswidrigkeitenrecht geltenden Opportunitätsprinzips (§ 47 Abs. 1 OWiG). Wird das erkannt, dann sieht man – zweitens –, dass die Vorschrift, wenn überhaupt, nur bei Abwandlungen nach unten, also von einer Straftat zu einer Ordnungswidrigkeit von Relevanz sein kann. Sie lässt sich als gesetzliches Gebot deuten, in einem bestimmten Sachbereich die Idealkonkurrenz als Fall der Gesetzeskonkurrenz zu behandeln, womit sich der Weg zur Anwendung unserer ersten Umwandlungsregel eröffnet, die aber nur Klageänderungen nach unten, nicht nach oben gestattet (s. o. D. VII. 1. [S. 528 f.]). Sowohl für den Strafbefehl als auch für die abgeschlossene Verfolgung als Ordnungswidrigkeit sieht das Gesetz eine erleichterte Wiederaufnahme vor (§ 373a StPO; § 85 OWiG); hiermit wird man sich erst u. Kap. 6 D. VI. 4. (S. 989 ff.) näher beschäftigen. cc) Fehlender Strafantrag beim Zusammentreffen von Offizialdelikt und Antragsdelikt bzw. bei mehreren Antragsberechtigten Es kann auch sein, dass für die Thematisierung bestimmter rechtlicher Dimensionen einer einheitlichen Tat etwaige prozessuale Bedingungen erforderlich sind, die im Einzelfall nicht vorhanden sind. Das ist der Fall, wenn Offizialdelikt und Antragsdelikt zusammentreffen – etwa wenn der Täter sein Opfer körperlich schwer verletzt (§ 226 StGB) und beleidigt (§ 185 StGB) –, aber kein Strafantrag wegen Beleidigung (§ 194 Abs. 1 S. 1 StGB) gestellt wird. Weil das Gericht in diesem Fall kein Sachurteil wegen Beleidigung fällen darf, verliert das Opfer nicht das Recht, später den Antrag zu stellen und die Verfolgung der noch nicht thematisierten Beleidigung zu veranlassen.2229 Es findet also eine normative Kupierung statt. Dies ist trotz anfänglichen Zögerns2230 seit über 100 Jahren anerkannt.

2229 RGSt 46, 363 (369 f.); 62, 83 (88); RG GA 1908, 431 (432); BGHSt 11, 107 (111); und aus der Literatur M. Berner, Ne bis in idem, S. 27 f.; v. Kries, Lehrbuch, S. 571; Reiffel, GA 1894, S. 90 f.; Kohlrausch, Idealkonkurrenz, S. 61; Binding, Strafurteil, S. 325; Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 115 f., 159, 269; Liu, Identität der Tat, S. 67; Gelbert, JW 1934, S. 2892; Nagler, ZAkDR 1939, S. 401; Oehler, FS Rosenfeld, S. 157; Vogler, Rechtskraft, S. 91; Spinellis, Rechtskraft, S. 30, 125; Velten, SK-StPO § 264 Rn. 53. Widersprüchlich Ehrhardt, Handlungseinheit, S. 54 ff. einerseits, S. 60 f. andererseits. 2230 RGSt 3, 384 (386 f.); 7, 355 (357 ff.); 7, 437 (440 f.); 10, 149 (151); 11, 128 (130); 23, 307 (309); ebenso Glaser, GS 36 (1884), S. 125; ders. GrünhutsZ 12 (1885), S. 332; Birckel, Identität der Tat, S. 27 (mit dem Prozessstoff und -gegenstand [s. o. B. I. (S. 379 ff.)] verwechselnden Argument, dass das Erstgericht in der Lage war, das Antragsdelikt innerhalb des Stramaßes zu berücksichtigen); Oster, Rechtskraft, S. 41 Fn. 1, S. 48 f. Zur Vorgeschichte dieser Rspr. Ehrhardt, Handlungseinheit, S. 53 ff.; zu Recht krit. Reiffel, GA 1894, S. 89 ff.; Binding, Strafurteil, S. 326: „ebenso sinnlos wie ungerecht“; „Fühllosigkeit der Praxis“; Schlosky, GA 1927, S. 292; sich ausdrücklich von den früheren Entscheidungen distanzierend RGSt 46, 363 (369 f.).

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Gleiches muss gelten, wenn jemand durch eine Handlung Antragsdelikte gegen mehrere Personen verwirklicht – A beleidigt X, Y und Z unter einer Kollektivbezeichnung2231 –, aber nur eine den erforderlichen Strafantrag stellt.2232 dd) Erhebung der Privatklage trotz Zusammentreffens mit einem Offizialdelikt Durch Privatklage darf nur eine Bestrafung wegen der in § 374 Abs. 1 StPO aufgelisteten Delikte angestrebt werden. § 389 StPO stellt klar, dass das Gericht nicht wegen anderer Delikte ein Sachurteil fällen darf. Auch die Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft die Verfolgung gem. § 371 Abs. 2 StPO übernehmen kann, heißt noch nicht, dass über andere Tatbestandsverwirklichungen Anklage erhoben worden ist. Das Gericht darf über andere Tatbestandsverwirklichungen als die, die ein Privatklageverfahren gestatten, nicht durch Sachurteil entscheiden, schlicht deshalb, weil über diese Tatbestandsverwirklichungen keine Anklage erhoben worden ist. Die folgerichtige Konsequenz davon wäre, dass man die Privatklage insoweit ähnlich der gerade untersuchten Konstellation eines fehlenden Strafantrags behandelt. Gegenstand des Verfahrens wäre nur das angeklagte Privatklagedelikt, nicht aber eventuell mitverwirklichte Offizialdelikte; diese würden deshalb von der Rechtskraft nicht erfasst. Die h. M. zieht diese Folgerungen indes nicht. Unter Berufung auf Entscheidungen des Reichsgerichts, die derselben Zeit entstammen, wie die bereits erwähnten ersten Entscheidungen zum fehlenden Strafantrag (o. Fn. 2230), und die mit ihnen im innigsten Zusammenhang stehen, meint man, dass ein im Rahmen eines Privatklageverfahrens ergehendes Sachurteil auch der Verfolgung wegen Offizialdelikten entgegensteht, die im selben historischen Vorgang mitverwirklicht werden.2233 „Auch in Privatklagesachen ist der Richter mit der ganzen That befaßt; er hat dieselbe unabhängig von den Intentionen und Anträgen der Parteien erschöpfend nach allen ihren thatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen“.2234 Um zu verhindern, dass es zu einer Verschwendung von Verfolgungsansprüchen kommt, die die Folge davon wäre, dass man über das Privatklagedelikt ein Verfahren durchführt, erklärt die h. M. bei dem Zusammentref2231

Ähnliches Beispiel bei Eichhorn, GS 38 (1886), S. 445. RGSt 46, 45 (47 f.); 62, 83 (88); Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 116. 2233 Am klarsten RGSt 7, 437 (441); s. a. RGSt 9, 14 (19 f.); 9, 324 (327 ff.); 11, 129 (mit der umgekehrten Konstellation einer Anklage, die der Staatsanwalt allein auf das Offizialdelikt beschränkten wollte, was – richtigerweise – für unzulässig erklärt wurde); OLG Neustadt MDR 1961, 955; LG Hamburg NJW 1947/48, 352; ebenso Glaser, GrünhutsZ 12 (1885), S. 330 Fn. 48; v. Kries, Lehrbuch, S. 595; Oster, Rechtskraft, S. 17; Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 117; E. Wolter, Rechtskraft, S. 34; Sieveking, NJW 1947/48, S. 352; heute Meyer-Goßner, StPO § 389 Rn. 7; Velten, SK-StPO § 389 Rn. 2; Senge, KK-StPO § 389 Rn. 4, 9. 2234 RGSt 9, 14 (19). 2232

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fen von Offizialdelikt und Privatklagedelikt die Privatklage insgesamt für unzulässig. Diese Ansicht ist genauso falsch wie die entsprechende bezüglich des Verhältnisses von Antragsdelikt und Offizialdelikt: Sie beruht auf einer Verkennung, dass Strafverfahren nur über angeklagte Gegenstände durchgeführt werden. Außerdem entspringt sie einer inquisitorisch orientierten Verkennung der Begründungsrichtung unserer o. D. III. (S. 470 ff., 476 f.) aufgestellten Grundregel: Es wird eine umfassende Kognition postuliert, die weiter reicht als die gesetzlich für zulässig erklärte Anklageerhebung, und deshalb versucht man wenigstens äußerlich das von der Grundregel gebotene Entsprechungsverhältnis dadurch zu wahren, dass man die Anklage insgesamt für unzulässig erklärt. Dass man bereit war, den Fehler bei der vorherigen Konstellation des fehlenden Strafantrags, nicht aber bei der vorliegenden des Privatklagedelikts zu korrigieren, zumal beide eng verwandt sind,2235 lässt sich nur aus dem verbreiteten Widerwillen gegen die Privatklage erklären,2236 nicht aber rechtfertigen. Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Wortlaut von § 389 StPO, der bestimmt: Wenn das Gericht „nach verhandelter Sache findet, daß die für festgestellt zu erachtenden Tatsachen eine Straftat darstellen, auf die das in diesem Abschnitt vorgeschriebene Verfahren nicht anzuwenden ist, so hat es durch Urteil, das diese Tatsachen hervorheben muß, die Einstellung des Verfahrens auszusprechen“. Das Gericht darf im Erstverfahren gar kein Urteil über das Offizialdelikt fällen; insoweit ist es also nicht frei, die Klage umzugestalten.2237 Die Vorschrift wird seit jeher so verstanden, dass sie auch für den Fall des Zusammentreffens von Privatklagedelikt und Offizialdelikt die Einstellung des ganzen Verfahrens anordne.2238 Diese Lesart dürfte indes eine weitere Manifestation des erwähnten Widerwillens gegenüber der Privatklage sein. Denn auch bei § 260 Abs. 3 StPO wird die Einstellung des Verfahrens durch Urteil für den Fall des Vorliegens eines Verfahrenshindernisses vorgesehen, und seit jeher deutet man die Vorgängervorschrift des § 259 Abs. 2 a. F., die sogar den fehlenden Strafantrag ausdrücklich erwähnte, als Vorschrift, in der „das Antragsdelikt stillschweigend als alleiniger Gegenstand der Aburteilung vorausgesetzt“ wird.2239 Ebenso könnte man sagen, § 389 StPO setze voraus, dass das angebliche Privatklagedelikt der alleinige Gegenstand der Aburteilung gewesen ist: Man findet heraus, dass die Tat nicht das Privatklagedelikt der Sachbeschädigung verwirklicht (§ 303 StGB, § 374 Abs. 1 Nr. 6 StPO), sondern nur das Offizialdelikt einer gemeinschädlichen Sachbeschä2235 Zugespitzt Schwarze, in: Hahn/Mugdan, Materialien, S. 1143: „Die Privatklage sei im Grunde nichts Anderes, als der in den Prozeß übersetzte Strafantrag“. 2236 Siehe die Beschreibung der Praxis bei Gössel, FS Dünnebier, S. 146. 2237 Wie Sieveking, NJW 1947/48, S. 352 das Gegenteil behaupten kann, ist rätselhaft. 2238 RGSt 9, 14 (20 f.). 2239 RGSt 46, 363 (365).

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digung (§ 304 StGB). Ist es dagegen so, dass sich bei einer wegen des Privatklagedelikts der einfachen Körperverletzung erhobenen Privatklage (§ 374 Abs. 1 Nr. 4) ergibt, dass es um eine gefährliche oder schwere Körperverletzung geht, die aber Offizialdelikte sind, dann würde nichts dagegen sprechen, nicht einzustellen, sondern nur wegen der angeklagten einfachen Körperverletzung zu verurteilen.2240 ee) „Kupierte“ Rechtskraft Wird in irgendeinem der vorliegenden Fälle wegen der ausgeschiedenen Tatdimensionen ein erneutes Verfahren durchgeführt, dann leuchtet es ein, dass die bereits thematisierten Tatdimensionen nicht ein zweites Mal zum Gegenstand eines Verfahrens gemacht werden dürfen.2241 Man kann insofern von „kupierter“ Rechtskraft sprechen, die eine kupierte Tat zum Gegenstand hat. ff) Weitere Fälle Sehr viele weitere Fälle normativer Kupierung, die auf prozessualen Aburteilungshindernissen beruhen, gibt es im deutschen Strafprozessrecht nicht. So soll die in Fällen von Immunitäten erforderliche Genehmigung zur Strafverfolgung nach dem BGH zu keiner Einschränkung des Prozessgegenstands führen.2242 Eine „teilweise“ Einstellung, in der Form, dass die Staatsanwaltschaft oder das Gericht bestimmte Tatbestandsverwirklichungen unberücksichtigt lässt, ist ebenso wenig möglich2243 wie ein „teilweiser“ Eröffnungsbeschluss.2244 Auch 2240 And. RGSt 23, 416 (417): In dem Falle gab es aber noch die im Text ausgeklammerte Verkomplizierung, dass das Schöffengericht sich für unzuständig erklärt hatte und die Sache gem. § 270 StPO an die Strafkammer verwiesen hatte. Dass dies nicht zulässig sein kann, leuchtet ein, und insofern ist der Entscheidung auch zuzustimmen: Denn weil der Unzuständigkeitsbeschluss gem. § 270 StPO auch einen Eröffnungsbeschluss verkörpert, kommt es beim verwiesenen Gericht zu einer Eröffnung eines Verfahrens wegen eines Offizialdelikts, obwohl die einzige vorhandene Anklage allein ein Privatklagedelikt zum Gegenstand hatte. Bezüglich des Offizialdelikts fehlt es noch an der Anklage. 2241 RGSt 51, 241 (243); BGHSt 11, 107 (111); aus der Lit. Glaser, GS 36 (1884), S. 124; Spinellis, Rechtskraft, S. 31 f.; Ranft, JR 1986, S. 433. Einen solchen Fall einer kupierten Rechtskraft verkörperte auch die Situation des fortgesetzten Delikts, bei dem Teilakte bereits als Einzelakte rechtskräftig abgeurteilt worden waren (Nachw. u. Fn. 2350). 2242 BGHSt 15, 274; zust. Hanack, JZ 1972, S. 356. 2243 RGSt 53, 50 (51); OLG Hamburg JZ 1963, 131 (132); Heinitz, JZ 1963, S. 133. 2244 RGSt 48, 89 (91 f.); 50, 370 (374); 51, 371 (372 ff.); 62, 96 (97); 62, 112 (112 f.); 62, 153 (154 f.); BayObLG JR 1986, 430 (431) – das aber i. S. der Nichtigkeit des gesamten, die Eröffnung teilweise ablehnenden Beschlusses entscheidet (krit. Ranft, JR 1986, S. 432 f.); Beling, JW 1928, S. 2249 f.; Heinitz, JZ 1963, S. 133; Eb. Schmidt, Lehrkommentar II § 203 Rn. 8; Noftz, Prozeßgegenstand, S. 65; Stuckenberg, LR-StPO § 204 Rn. 3.

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eine „teilweise“ Anklage ist unzulässig.2245 Es sollte aber erkannt werden, dass dies nicht auf einer angeblichen Unteilbarkeit der prozessualen Tat beruht – denn wäre die Tat wirklich unteilbar, könnten die anderen Kupierungen nicht existieren (s. schon o. I. [S. 549 f.]) –, sondern auf einer Deutung des Anklageprinzips, die dem Richter weitgehende Freiheit von der Anklage gestattet (näher o. B. III. 3. [S. 392 ff.], D. VII. [S. 520 ff.]). Ansonsten wäre es möglich, durch Teileinstellungen dem Gericht letztlich nur die Frage vorzulegen, ob eine bestimmte Körperbewegung die Vorschrift des § m Abs. n S. o Nr. p Alt. q verwirklicht, was der im deutschen Strafverfahrensrecht vorgesehenen Aufgabenteilung zwischen Ankläger und Richter nicht mehr entsprechen würde. Dies verändert sich nicht einmal in den meisten Fällen, in denen das Gesetz die Verfolgung unter die Herrschaft des Opportunitätsprinzips stellt, da die meisten Vorschriften immer von einer Einstellung des ganzen Verfahrens sprechen. Nur bei § 154a StPO verhält es sich insofern anders: Die Vorschrift erklärt eine Beschränkung der Verfolgung auf andere, nicht ausgeschiedene Teile der prozessualen Tat für möglich. Trotzdem erfolgt nicht einmal hier eine normative Kupierung, vielmehr erfasst die Rechtskraft nach h. M. die ganze Tat, mitsamt ausgeschiedenen Teilen.2246 Für dieses richtige Ergebnis wird selten eine Begründung angeboten: Sie liegt darin, dass das Gericht gem. § 154a Abs. 3 S. 1 aus eigener Initiative ausgeschiedene Teile wieder in das Verfahren einbeziehen kann.2247 Das bedeutet, dass diese Tatteile fortwährend Prozessgegenstand gewesen sind, nur in latenter Form, so dass der Strafklageverbrauch nach Abschluss des Verfahrens ebenfalls auf sie erstreckt werden muss. c) Materiell-rechtliche Aburteilungsschranken aa) Nachträglicher Eintritt einer strafschärfenden Tatfolge In den vorliegenden Zusammenhang gehört auch die früher kontrovers diskutierte, seit den gleich zu erwähnenden verfassungsrichterlichen Entscheidungen eher in den Hintergrund geratene Konstellation, in der ein strafschärfender Erfolg erst nach Abschluss des ersten Verfahrens eintritt: Das verletzte Opfer stirbt, nachdem der Täter schon wegen fahrlässiger oder vorsätzlicher Körperverletzung verurteilt worden war. Ob der Todeseintritt Gegenstand eines zweiten Verfahrens sein kann, etwa wegen Körperverletzung mit Todesfolge, fahrlässiger Tötung oder sogar Totschlags, wird unterschiedlich beurteilt.

2245 RGSt 23, 392 (394 ff.); Solbach, DRiZ 1977, S. 181; ebenso ein teilweiser Strafantrag, RGSt 5, 97. 2246 Gössel, Strafverfahrensrecht, S. 99; Peters, Strafprozeß, S. 511; Weßlau, SKStPO § 154a Rn. 47; fehlplatzierte Kritik bei I. Müller, Rechtsstaat und Strafverfahren, S. 125: „Manipulationen am strafrechtlichen Tatbegriff “. 2247 Treffsicher BGH StV 1989, 190 (191).

2. Kap.: Der Begriff der strafprozessualen Tat

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Rechtsprechung und herrschende Lehre gehen davon aus, dass hier eine einzige Tat gegeben ist.2248 Lange Zeit zog die Rechtsprechung daraus aber nicht die Folgerung, dass eine zweite Verfolgung unzulässig sei, sondern bediente sich der These der eingeschränkten Rechtskraft des Strafbefehls, um das kriminalpolitisch erwünschte Ergebnis zu erzielen: Denn der Strafbefehl stand einer Verfolgung wegen neuer Tatsachen nicht entgegen, die eine erhöhte Strafbarkeit begründeten, und um eine solche Tatsache ging es regelmäßig bei der hier vorliegenden Konstellation, denn die meisten einfachen Körperverletzungen werden als Vergehen im Wege des Strafbefehls abgehandelt.2249 Dem trat aber das Bundesverfassungsgericht entgegen:2250 Nachdem es die Zugehörigkeit der Spätfolge zur prozessualen Tat ohne jegliche Begründung, sondern nach Anführung einer Reihe von Zitaten behauptete,2251 beschloss das Gericht, dass die eingeschränkte

2248 RG DStR 1938, 55; BGHSt 18, 141; OLG Stuttgart, JZ 1960, 608; wohl auch RGSt 4, 243; aus der Lit. v. Kries, Lehrbuch, S. 595; Borgmann, Identität der That, S. 56; Barbarino, Rechtskraft, S. 104 („unbestritten“); Coenders, JW 1925, S. 1003; Schlosky, GA 1927, S. 291 (and. beim Strafbefehl, S. 328); Dohna, Strafprozeßrecht, S. 205; Hellmer, JuS 1963, S. 313 f.; Bindokat, GA 1967, S. 370 („Rechtsfrieden“); Tiedemann, Entwicklungstendenzen, S. 46; Herzberg, JuS 1972, S. 120; Grünwald, ZStW-Beiheft 1974, S. 112 f., 116 (Ergänzungsklage als „euphemistische Umschreibung für die Ersetzung der Entscheidung durch eine andere“); Achenbach, ZStW 87 (1975), S. 100 (de lege lata), 101 f. (de lege ferenda); Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 604.2; Schnarr, NStZ 1984, 326 f.; Neuhaus, Tatbegriff, S. 112 ff. (sowohl de lege lata als auch de lege ferenda); Detmer, Begriff der Tat, S. 335 f.; Schmidt-Aßmann, M/D-GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 285; J. Maier, Derecho procesal penal I, S. 622 f.; Ranft, Strafprozeßrecht, Rn. 1873; Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 158 ff.; Kühne, LR-StPO Einl. K 90; Degenhart, in: Sachs-GG, Art. 103 Rn. 83; wohl auch Glaser, GrünhutsZ 12 (1885), S. 327 und Neumann, NJW 1984, S. 780. In Frankreich, für Tatidentität und Strafklageverbrauch Cassation Criminelle, JCP II 1959, Nr. 11323; Dekeuwer, RSC 1974, S. 515; in Italien nahm die Cassazione zuerst Tatidentität an (Cassazione GiustPen 1951/3, 236; ebenso Giudice Istruttore Firenze, GiustPen 1964/3, 151; zust. La Rocca, Fatto, S. 115; Cristiani, Revisione, S. 70; nur de lege lata, nicht aber de lege ferenda Leone, RDPP 1956, S. 187 f.; abl. Cantagalli, GiustPen 1964/3, Sp. 152 ff.), danach erfolgte eine Wendung, unter Anwendung des o. D. IV. 3. a) (S. 495) kurz dargestellten tatbestandsorientierten Tatbegriffs, nach dem für Tatidentität Identität der Handlung, des Erfolgs und des Kausalzusammenhangs erforderlich sei, s. Cassazione CassPen 1989, 564; RitDPP 1990, 1626 (1628 ff., 1631); für Tatidentität Rivello, RitDPP 1991, S. 502 f. In England and., s. m. N. Spencer Bower/Kingcome Turner, Res Judicata, S. 392; Sprack, Criminal Procedure, Rn. 17.45; (hierzu auch Kielwein, ZStW 68 (1956), S. 170; Swoboda, HRRS 2008, S. 194); in Amerika Tatmehrheit, U.S. Supreme Court Diaz v. United States, 223 U.S. 442 (1912); Brown v. Ohio, 432 U.S. 161, 169 Fn. 7 (1977); Jeffers v. United States, 432 U.S. 137, 151 (1977); ModelPenC, Section 1.09 (1) (c) (ii); zust. Amar, Constitution, S. 127. 2249 So verhielt es sich in allen in der letzten Fn. genannten deutschen Entscheidungen. 2250 BVerfGE 65, 377; davor OLG Koblenz, JZ 1960, 607. 2251 BVerfGE 65, 377 (381 f.); selbe Beurteilung bei Neumann, NJW 1984, S. 779 („überraschend kategorische Feststellung“). Die frühere eigene Entscheidung BVerfGE 56, 22 (31), die das Gericht mitzitiert, äußert sich zum spezifischen Problem des nachträglichen Erfolgseintritts nicht.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Rechtskraft des Strafbefehls, die bloß auf dem summarischen Charakter dieses Verfahrens beruhe, nicht bei solchen Konstellationen einschlägig sein könne, in denen auch ein normales Verfahren mit Hauptverhandlung keine bessere Kognition gestattet hätte (S. 383, 385). Im Übrigen dürfe aus Gründen der Gleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 GG) die Rechtskraft des Strafbefehls nicht hinter den strafklageverbrauchenden Wirkungen von §§ 153a StPO und § 72 OWiG zurückbleiben (S. 384 ff.). Der inzwischen herrschende Standpunkt nimmt somit eine einheitliche Tat an und hält keine zweite Verfolgung (vorbehaltlich einer Wiederaufnahme) für zulässig. Die seit vielen Generationen vertretene Gegenauffassung bestreitet dagegen die Identität der Tat und lässt eine zweite Anklage – eine gelegentlich sog. Ergänzungsklage – zu.2252 Die o. B. III. 5. (S. 403 ff.), D III (S. 470 ff.) gebotene Grundlegung zwingt dazu, ihr zuzustimmen. Angelpunkt der Bestimmung dessen, worüber das Gericht zu erkennen hatte, ist die Anklage (s. o. D. II. [S. 469 f.]). Diese bezieht sich zunächst allein auf bereits eingetretene Vorgänge. Die Regeln der Klageänderung gestatten noch eine Einbeziehung von Vorgängen, die erst nachträglich eintreten, solange die o. D. VII. 1., 2. (S. 528 ff., 537 ff.) entwickelten normativen und faktischen Grenzen eingehalten werden.2253 Die Abwandlung von Körperverletzung in Körperverletzung mit Todesfolge oder Tötung ist nach unserer dritten normativen Regel zulässig (s. o. 3. a) [S. 557 f.]), und auch faktisch dürfte regelmäßig nichts gegen die Einbeziehung sprechen, weil die erste faktische Umwandlungsregel einschlägig ist (s. o. D. VII. 2. [S. 537]). Eine einheitliche Tat scheint also nach den obigen Kriterien gegeben zu sein. Dies ist aber nur der Fall, sofern sich der künftige Umstand noch vor dem Urteil ereignet.2254 Denn die Anklage kann zwar Vorgänge erfassen, die erst nach ihrer Erhebung eintreten, solange die normativen und insbesondere faktischen Umwandlungsregeln eingehalten werden;2255 als Aufforderung an das Gericht, ein Urteil und keine Prognose zu fällen, kann sie nicht auch Vorgänge einbeziehen wollen, die erst nach dem Urteil eintreten, es sei denn, das Strafverfahrensrecht 2252 Schwarze, GS 25 (1873), S. 422, 423; Binding, Strafurteil, S. 340; Beling, ZStW 36 (1915), S. 659 f.; ders. Reichstrafprozeßrecht, S. 270; Werder, KritV 1928, S. 297; Siegert, DStR 1935, S. 293; Nagler, ZAkDR 6 (1939), S. 376, 401; Oehler, FS Rosenfeld, S. 156 f.; Busch, ZStW 68 (1956), S. 10 f.; Vogler, Rechtskraft, S. 91 f.; Bruns, JZ 1960, S. 589 ff.; Spinellis, Rechtskraft, S. 30 f., 128; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 388, 389; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 50 Rn. 17 (vorsichtiger Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 52 Rn. 15); Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 650; in Portugal Correia, Caso julgado, S. 364; wohl auch Eichhorn, GS 38 (1886), S. 414. 2253 In Prozesssystemen, die die Kognition des Gerichts stärker an die Anklage binden, wird das nicht für zulässig erachtet, s. Tigre Maia, BCESMPU 16 (2005), S. 49 f. 2254 Für die Bestimmung des genauen Zeitpunkts s. RGSt 51, 253 (255); 66, 45. 2255 Im Erg. auch BGHSt 17, 5 (in einem aus mehreren Gründen komplizierten Fall).

2. Kap.: Der Begriff der strafprozessualen Tat

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akzeptiert die Möglichkeit bedingter Urteile, was das deutsche Recht nicht tut.2256 Für das deutsche Strafprozessrecht gilt das, was das Reichsgericht im Zusammenhang der anschließend zu behandelnden Konstellation ausgeführt hat: Das Gericht „kann den Schuldspruch grundsätzlich nur auf die Feststellung von Ereignissen, die sich in der Vergangenheit zugetragen haben, und von Zuständen stützen, die in der Gegenwart bestehen. Die Urteilsfällung begrenzt also den Gegenstand der Urteilsfindung zeitlich so, daß alles, was nach der Verkündung des Urteils geschieht, von diesem nicht erfaßt, durch dieses nicht erledigt wird, sondern einer künftigen Strafverfolgung zugänglich bleibt“.2257 Für diese Entscheidung des deutschen Strafprozessrechts sprechen gute Gründe; man darf aber nicht verkennen, dass bedingte Urteile denkbar wären,2258 (auch wenn sie wohl bedenklich sein würden) und dass beim Bestehen dieser Möglichkeit an dem Verbrauch der Strafklage kein Zweifel bestehen könnte. Wegen des Verbots bedingter Urteile darf also die Anklage nur das erfassen wollen, was sich vor dem Urteil ereignet; über künftige Ereignisse darf das Gericht kein Urteil fällen. Es findet deshalb eine normative Kupierung statt; über die nach dem Urteil eintretenden Umstände ist kein Verfahren gemacht worden, so dass sie Gegenstand eines neuen Verfahrens, einer sog. Ergänzungsklage, sein können. An sich hat man es also nicht mit einer Frage zu tun, die allein für den Strafbefehl von Relevanz ist.2259 Zuletzt sei nur klargestellt, dass es hier nicht bloß um eine „tatsächliche Unmöglichkeit“ 2260 der Aufklärung oder Aburteilung bestimmter Ereignisse, sondern um eine rechtliche Unmöglichkeit geht,2261 nach näherem Hinsehen um eine gemischt materiell- und prozessrechtliche Unmöglichkeit. Materiellrechtlich ist sie, sofern nach materiellem Recht der schwere Tatbestand nicht zur Anwendung kommen kann; prozessrechtlich ist sie, weil sie auch darauf beruht, dass das Prozessrecht nicht die Fällung bedingter Urteile gestattet. 2256 Richtig Oehler, FS Rosenfeld, S. 152; Busch, ZStW 68 (1956), S. 10 f. Insofern gibt es also nichts Unlogisches in dem vorliegenden Standpunkt (so aber Binding, Strafurteil, S. 340, der aber gegen die „Logik“ und für die seines Erachtens der Gerechtigkeit entsprechende Zweitverfolgung plädiert; s. o. Kap. 1 C. VII. (S. 362 f.). 2257 RGSt 66, 45 (47 f.). Die Ausführungen betreffen zwar fortgesetzte Handlungen, sind aber auch bei der vorliegenden Konstellation einschlägig. 2258 Siehe ausf. Carnelutti, Sentenza condizionale, S. 295 ff. 2259 Insoweit richtig Bruns, JZ 1960, S. 587, 589 ff.; Hellmer, JuS 1963, S. 313; Schnarr, NStZ 1984, S. 326; Neuhaus, Tatbegriff, S. 111; Detmer, Begriff der Tat, S. 332. 2260 So aber Barbarino, Rechtskraft, S. 104; Peters, JZ 1960, S. 70; Spinellis, Rechtskraft, S. 126, 128; Detmer, Begriff der Tat, S. 335; ähnl. a. OLG Stuttgart, JZ 1960, 608. 2261 Richtig Busch, ZStW 68 (1956), S. 11; Bruns, JZ 1960, S. 590, 591. Von materiellrechtlicher Unmöglichkeit spricht Glaser, GS 36 (1884), S. 120.

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bb) Nachträgliche Vornahme eines „gleichartigen“ Verhaltens Wenn es um die Konstellation geht, dass nach einem Urteil nicht nur ein Erfolg eintritt, sondern ein neues Verhalten vorgenommen wird, dann dürften an sich keine Zweifel bestehen. Die gerade entwickelten Grundsätze liefern die Grundlage für einen Erst-Recht-Schluss. Dies war in Bezug auf sog. fortgesetzte Taten bzw. Sammelstraftaten (zu ihnen u. 7. [S. 591 ff.]) auch nie zweifelhaft: Man sprach insofern von einer sog. Zäsurwirkung des Urteils.2262 Man argumentierte häufig, ein Urteil könne keinen Freibrief für die Begehung weiterer Straftaten darstellen.2263 Dies ist nur eine intuitive Umformulierung der soeben ausgearbeiteten Erwägungen, dass Gerichtsurteile vergangene Ereignisse zum Gegenstand haben und nicht bedingt gefällt werden dürfen. Bezüglich anderer Fallgruppen hat man dies zwar nicht entschieden, wohl aber nur, weil man dies niemals tun musste, denn vernünftigerweise ist kein Staatsanwalt je auf den Gedanken gekommen, Anklage zu erheben „für den Fall“, dass sich der Betroffene dazu entscheidet, die Tat zu begehen. Diese Selbstverständlichkeiten sind indes in den 60er Jahren des vorherigen Jahrhunderts erschüttert worden, und zwar von keiner geringeren Instanz als dem Bundesverfassungsgericht. Das Gericht hatte mit dem Problem von Zeugen Jehovas zu tun, die nicht nur den Wehrdienst, sondern auch den als Ersatz vorgesehenen Zivildienst verweigerten und sich deshalb gem. § 53 ZDG (Dienstflucht) strafbar machten.2264 Diese wurden nach Abbüßung einer Freiheitsstrafe (die we2262 RGSt 42, 372 (374); 51, 253 (254 f.); 66, 19 (26); 66, 45 (47 ff.); 71, 375; BGHSt 6, 122 (124); 9, 324 (326 f.); bzgl. einer Bewertungseinheit OLG Hamm NStZ 2011, 102; ebenso die italienische Rspr., s. Cassazione Penale CassPen 1986, 1965; CassPen 1966, 33 (34) (Sezioni Unite); CassPen 1971, 553 (Sezioni Unite). Aus der Lit. Glaser, GrünhutZ 12 (1885), S. 318; Borgmann, Identität der That, S. 62; Heinsheimer, ZStW 20 (1900), S. 570 ff.; Oster, Rechtskraft, S. 35; Schlosky, GA 1927, S. 330; Oehler, FS Rosenfeld, S. 156; Bruns, JZ 1960, S. 590; Grünwald, ZStW-Beiheft 1974, S. 117 „anerkannt und selbstverständlich“; Detmer, Begriff der Tat, S. 236 f.; nur im Erg. zust. Binding, Strafurteil, S. 341; s. a. La Rocca, Fatto, S. 116; Daskalakis, Unité et pluralité, S. 428; J. Maier, Derecho procesal penal I, S. 618 ff. (m. z. Nachw. S. 620 Fn. 269). Vor allem (aber nicht nur) Kritiker der fortgesetzten Tat haben häufig behauptet, diese Annahme sei an sich unvereinbar mit der behaupteten Unteilbarkeit der Sammelstraftat, Heinsheimer, ZStW 20 (1900), S. 570; Preiser, ZStW 58 (1939), S. 769 f.; Geerds, Konkurrenz, S. 419; Mann/Mann, ZStW 75 (1963), S. 255; Herzberg, JuS 1972, S. 115; Neuhaus, Tatbegriff, S. 66 f.; ders. JuS 1986, S. 967; ders. MDR 1988, S. 1015. 2263 RGSt 42, 372 (374), unter ausdrücklicher Aufgabe der früheren Argumentation (etwa RGSt 5, 105 [108]), nach der das Urteil den Gesamtvorsatz unterbreche (375); 66, 45 (48: „Dem Täter darf um der Wahrung der Rechtsordnung willen nicht gestattet werden, daß er die strafbare Handlung unter dem Schutz des verurteilenden Erkenntnisses straflos fortsetze“); ebenso F. Frank, Identität der Tat, S. 33; Eb. Schmidt, Lehrkommentar I, Rn. 306; Neuhaus, JuS 1986, S. 967; ders. MDR 1988, S. 1015; Detmer, Begriff der Tat, S. 237; in Italien Normando, Giudicato, S. 48. 2264 Zur Geschichte s. Kahlo/Zabel, HRRS-FG Fezer, S. 95 ff.

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gen der schlechten Sozialprognose regelmäßig auch nicht zur Bewährung ausgesetzt werden konnte2265) noch einmal zum Ersatzdienst einberufen, so dass die Weigerung eine erneute Verwirklichung des Straftatbestandes verkörperte. Dieser Mehrfachbestrafung setzte das Bundesverfassungsgericht dadurch ein Ende, dass es unter Berufung auf die „Einmaligkeit einer Gewissensentscheidung“ von einer einzigen Tat i. S. d. Art. 103 Abs. 3 GG sprach: „[D]ie Bindung an die Gewissensentscheidung fixiert das äußere Verhalten des Täters derart, daß auch ein gleichartiges mehrfaches Verhalten als dieselbe Tat im Sinne von Art. 103 Abs. 3 angesehen werden muß“.2266 In den 80er Jahren entstand das Problem, ob diese Grundsätze auch für bloß politisch (und nicht, wie die Zeugen Jehovas, religiös) motivierte Verweigerer und für Personen, die sich nicht dem gesetzlichen Verfahren der Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer unterziehen, gelten sollte.2267 Man befindet sich in der bequemen Position, vor einem Problem zu stehen, für das in der Literatur eine dogmatisch völlig überzeugende Lösung formuliert worden ist, nämlich von Struensee, auf den man sich hier weitgehend berufen wird.2268 Dass die Gewissensentscheidung nicht die ihr zugeschriebene Bedeutung haben kann, einem zweiten Verfahren entgegenzustehen, leuchtet ein, so2265

Näher und krit. Friedeck, NJW 1985, S. 782 f. BVerfGE 23, 191 (203 ff.; Zitat: S. 206); ebenso davor Peters, FS H. Mayer, S. 279 f.; ders. JZ 1966, S. 479 f.; ders. FS Engisch, S. 479; ders. Strafprozeß, S. 511; Dürig, JZ 1967, S. 430 f.: „Mehrfachbestrafung“ als „unzulässiger Angriff auf diese Totalität der Gewissensentscheidung“, die ihrerseits „unteilbar“ sei (S. 431). Ebenso BGH JZ 1971, 190. Dem BVerfG zust. Arndt, NJW 1968, S. 982 f.; Schmidt-Aßmann, M/D-GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 283; Velten, SK-StPO § 264 Rn. 47; Kunig, in: v. Münch/ Kunig-GG, Art. 103 Rn. 39. Andere lehnen zwar die Konstruktion einer einheitlichen Tat ab, meinen dennoch, eine wiederholte Bestrafung verletze das Übermaßverbot (Evers, JZ 1968, S. 525 f.; Grünwald, ZStW-Beiheft 1974, S. 117; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 52 Rn. 17; andere grundrechtsdogmatische Konstruktion in Scheuner, DöV 1967, S. 588 Fn. 39; krit. zur Lösung des BVerfG auch Böckenförde, VVdStL 28 [1970], S. 63). Dies ist nicht unrichtig, bleibt aber unspezifisch; worin das Übermaß liegt, erklärt erst der Gedanke der Einmaligkeit der Leistung, wovon sogleich die Rede sein wird. 2267 Dagegen OLG Celle JZ 1985, 954; OLG Düsseldorf StV 1986, 8; zust. Evers, JZ 1970, S. 614 (der aber bereits die verfassungsrichterliche Begründung ablehnt, s. vorherige Fn.). Anderer Ansicht BayObLG StV 1983, 369 ff. (in der Theorie; im konkreten Einzelfall sind die Anforderungen an die nicht formell anerkannte Gewissensentscheidung derart hochgeschraubt worden, dass die Grundsätze nicht zu Anwendung gekommen sind und selten kommen können); LG Duisburg, StV 1985, 53 f.; LG Duisburg, StV 1986, 99 f. (eine Entscheidung, die in nicht unbedenklicher Weise der Rechtsauffassung des Revisionsgerichts [OLG Düsseldorf] Gefolgschaft versagte); Werner, StV 1983, S. 372 f.; ders. KritJ 1988, S. 110 ff.; Friedeck, StV 1986, S. 9 f.; Cording, Strafklageverbrauch, S. 158; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 52 Rn. 17; Velten, SK-StPO § 264 Rn. 47. Siehe auch BayObLG 1970, 609 bzgl. der Fälle der Fahnenflucht; und die wohl für die erste Ansicht sprechenden Passagen in BVerfGE 28, 264 (279 f.). 2268 Struensee, JZ 1984, S. 645 ff.; ihm zust. auch Nestler-Tremel, StV 1985, S. 352 und Cording, Strafklageverbrauch, S. 160 ff. 2266

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bald man bedenkt, dass ansonsten jeder Gewissenstäter zwar nicht das Recht bekäme, seine Straftaten von vornherein straffrei zu begehen – denn die Freiheit des Gewissens (Art. 4 Abs. 1 GG) führt nur innerhalb enger Grenzen zur Straffreiheit2269 –, aber durchaus das Recht, sie beliebig zu wiederholen.2270 Eine einzige Gewissensentscheidung kann selbstverständlich eine Vielzahl von strafbaren Handlungen zum Gegenstand haben.2271 Es könnte nur richtig sein, wegen der Einmaligkeit bzw. Unteilbarkeit einer Gewissensentscheidung auf die Einheitlichkeit der Tat i. S. v. Art. 103 Abs. 3 GG zu schließen, wenn die Gewissensentscheidung, und nicht die einzelnen einen Straftatbestand verwirklichenden Verhaltensweisen, dasjenige wäre, wofür sich der Täter strafbar macht und das erste Mal bestraft worden ist.2272 Das Strafrecht bestraft jedoch nicht das Gewissen, sondern Taten. Struensee weist zutreffend darauf hin, dass das entscheidende Argument in dem zweiten Gesichtspunkt steckt, der in der grundlegenden verfassungsgerichtlichen Entscheidung genannt wurde, aber von der irreleitenden Berufung auf die Gewissensentscheidung in den Hintergrund gedrängt worden ist: „[M]it dem ersten und allen folgenden Einberufungsbescheiden wird immer nur dasselbe verlangt, nämlich die einmalige Leistung von 18 Monaten zivilem Ersatzdienst“.2273 Maßgeblich muss also sein, dass die Nachleistung sich materiell nicht von der Nichterbringung der Erstleistung unterscheidet.2274 Gefordert wird eine einmalige Leistung, bestraft wird die Nichterbringung dieser Leistung. Zwar konkretisiert sich die Pflicht, Zivildienst zu leisten, erst mit dem Einberufungsbescheid (§ 19 ZVG); der Tatbestand des § 53 ZDG, dessen Kern das „eigenmächtige Verlassen“ des Zivildiensts bzw. das „eigenmächtige Fernbleiben“ von ihm bilden, sieht deshalb auf den ersten Blick wie eine bloße Ungehorsamspönalisierung aus. Eine solche Deutung würde der Vorschrift aber nicht gerecht, was ersichtlich wird, sobald man einen Seitenblick auf die Verletzung der gesetzlichen Unterhaltspflicht gem. § 170 Abs. 1 StGB wirft:2275 Die einzelnen Unterhaltspflichten haben unterschiedliche Leistungen zum Gegenstand. Die Leistungen sind deshalb auch kumulierbar. Dies ist bei § 53 ZDG nicht der Fall. Der zweite Bescheid fordert nur dasselbe, was bereits Gegenstand des ersten Bescheids gewesen ist. Es wird also klar, dass das vorliegende Problem kein prozessuales Rechtskraft2269

Näher Roxin, AT I § 22 Rn. 100 ff. m.w. Nachw. Ähnl. Struensee, JZ 1984, S. 647 f. 2271 Struensee, JZ 1984, S. 648; ihm zust. Cording, Strafklageverbrauch, S. 157. 2272 In dieselbe Richtung Evers, JZ 1968, S. 526, der sich über eine „Subjektivierung des Begriffs der Tat“ beklagt. 2273 BVerfGE 23, 190 (205); s. a. BVerfGE 28, 264 (280). 2274 Struensee, JZ 1984, S. 649 f. 2275 Struensee, JZ 1984, S. 650. Der Unterschied liegt also nicht darin, dass der Vorsatz desjenigen, der seine Unterhaltspflicht verletzt, auf einer „asozialen Planung“ und nicht auf einer einmaligen Gewissensentscheidung beruhe (so aber Peters, FS Engisch, S. 479). 2270

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problem ist, sondern in erster Linie ein materiellrechtliches Problem der sachgerechten Erfassung des in § 53 ZDG verkörperten Unrechtsgehalts darstellt. Der hier bevorzugte Ansatz, der das Eingreifen des Verbots der erneuten Bestrafung allein von der Einheitlichkeit der Leistung abhängig macht, erweist seine Überlegenheit gerade dadurch, dass er eine klare und überzeugende Lösung einer Vielzahl von verwandten, später auftretenden Konstellationen ermöglicht. Er macht die oben S. 577 erwähnte Diskussion über die Anwendbarkeit dieser Grundsätze auf Totalverweigerer, die keine Zeugen Jehovas sind, oder sich nicht dem gesetzlichen Verfahren der Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer unterziehen, hinfällig.2276 Er erklärt auch, wieso wiederholte soldatische Dienstvergehen der Gehorsamsverweigerung (§ 23 Abs. 1 i.V. m. § 11 Abs. 1 SG) auch wiederholt sanktioniert werden dürfen: Der gem. § 11 Abs. 1 SG geschuldete Gehorsam ist keine einmalige Leistung, sondern hat einen konkreten Befehl zum Gegenstand, worauf bereits das Bundesverfassungsgericht hingewiesen hat.2277 Auf den Gedanken hatte sich bereits das Reichsgericht berufen, um ein zweites (Abwesenheits-)Verfahren wegen Entziehung der Wehrplicht (§ 140 a. F. StGB) mit dem ne bis in idem-Grundsatz für unvereinbar zu erklären. Diese Entscheidung hat erstaunlicherweise in der Diskussion über die Mehrfachbestrafung der Zeugen-Jehovas kaum Erwähnung gefunden:2278 Das Delikt werde durch das Verlassen des Reichsgebiets und das Verweilen im Ausland nur einmal begangen; „es liegt ein sogen. delictum continuatum, nicht reiteratum vor“.2279 Und der Gedanke kann auch anderen gleichgestalteten Konstellationen gerecht werden, die dem Zusammenhang der Gewissensentscheidung so fernliegen, dass das Verfassungsgericht erst durch unklare argumentative Umwege dasselbe Ergebnis erzielen konnte. Gemeint ist eine jüngere Kammerentscheidung über die wiederholte Bestrafung wegen Kindesentziehung (§ 235 Abs. 2 Nr. 2 StGB).2280 In dem konkreten Fall weigerte sich der Vater, trotz der Aufforderungen der in Deutschland lebenden Mutter, der das Aufenthaltsbestimmungsrecht rechtskräftig übertragen worden war, das in Algerien verbleibende Kind nach Deutschland einreisen zu lassen. Nach algerischem Recht ist für eine Ausreise eines Kindes ein notariell beurkundetes Einverständnis des Vaters erforderlich. Der Vater wurde für seine Weigerung bereits zwei Mal bestraft und ein drittes Verfahren war noch im Gange, als das Bundesverfassungsgericht dem mit unklaren Berufungen auf die 2276

Struensee, JZ 1985, S. 955 f. BVerfGE 28, 264 (280). Zum teilweisen Ungehorsamscharakter des Dienstvergehens s. u. Kap. 3 IV. 1. (S. 677). 2278 Peters, FS Engisch, S. 479, kam ihr beinahe auf die Spur. 2279 RGSt 3, 437 (439). Wohlgemerkt ist die Wendung delictum continuatum etwas unglücklich, weil hiermit das fortgesetzte Delikt angesprochen wird und für dieses die Zäsurwirkung des Urteils gelten muss (s. o. aa) [S. 576]). 2280 BVerfG EuGRZ 2007, 64; hierzu ausf. Kahlo/Zabel, HRRS-FG Fezer, S. 87 ff. 2277

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Menschenwürde und das Schuldprinzip ein Ende setzte. Auch hier hätte der Gedanke der „Einmaligkeit der Leistung“, der in der Entscheidung nur im Gemenge mit anderen Überlegungen genannt worden war,2281 eine dogmatisch saubere Lösung geboten.2282 Nach denselben Grundsätzen kann man das Verhältnis von Steuerhinterziehung durch aktives Tun (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO), nämlich durch Abgabe einer unrichtigen Steuererklärung, und Steuerhinterziehung durch Unterlassen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO) wegen Nichtberichtigung der nachträglich als unrichtig erkannten Steuererklärung bestimmen. Zwar unterscheidet sich der konkrete vom BGH entschiedene Fall von den bisher behandelten, weil sich hier beide Tatbestandsverwirklichungen vor dem Urteil ereigneten.2283 Das Landgericht hatte aber zwei prozessuale Taten angenommen, was vom BGH mit dem Argument verworfen wurde, dass beide Tatbestandsverwirklichungen trotz materiellrechtlicher Tatmehrheit innerlich miteinander verknüpft seien.2284 Auch hier ist der entscheidende Gesichtspunkt etwas, das nur beiläufig, aber immerhin doch zur Sprache kommt: dass trotz der Tatsache, dass „die Pflicht zur Berichtigungen von Erklärungen im Sinne von § 153 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO eine von der Primärpflicht zur Abgabe einer inhaltlich zutreffenden Steuererklärung unabhängige eigenständige Pflicht“ sei, „sich beide Tatvarianten auf den denselben Steueranspruch beziehen“.2285 Entsprechend lässt sich der Fall einer „fortgesetzten“ Insolvenzverschleppung (§ 15a Abs. 4 InsO) nach einer ersten rechtskräftigen Verurteilung lösen.2286 cc) Spezialitätsgrundsatz und Auslieferung Eine weitere normative Kupierung verkörpert die Situation, in der der Beschuldigte wegen des sog. Spezialitätsgrundsatzes (für Deutschland: § 11 IRG) nur zu der Verfolgung wegen der Verwirklichung bestimmter Tatbestände ausgeliefert wird.2287 So durfte in einer Reichsgerichtsentscheidung ein Schweizer, der 2281

BVerfG EuGRZ 2007, 64 (66). In der Sache wohl auch Kahlo/Zabel, HRRS-FG Fezer, S. 95, 98 f.; nur i. Erg. Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 652, mit abzulehnender Begründung: „Identität der Motivlage“. 2283 BGH StV 2007, 22. 2284 BGH StV 2007, 22 (25). Zu diesem Kriterium s. u. 5. (S. 585 ff.). 2285 BGH StV 2007, 22 (25). 2286 OLG München NZWiSt 2013, 270, das zu Recht betont, dass eine Bestrafung eines bei der Erstentscheidung bestehenden Zustands nicht eine Pönalisierung von Ungehorsam sein dürfe; im Erg. auch Bittmann, NZWiSt 2012, S. 270 ff.; dogmatisch unsichere Kritik bei Ebner, NZWiSt 2013, S. 356 ff. 2287 RGSt 37, 88 (91); ferner 46, 363 (367); 56, 161 (166); BGHSt 9, 5; BGH NJW 1953, 393; Glaser, GS 36 (1884), S. 124; v. Kries, Lehrbuch, S. 571, 595; Beling, Lehre vom Verbrechen, S. 388; ders. Reichstrafprozeßrecht, S. 116; Kadecka, Handlungseinheit, S. 178; Gelbert, JW 1934, S. 2892; Nagler, ZAkDR 1939, S. 401; Oehler, FS Ro2282

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nach Deutschland wegen Meineids ausgeliefert wurde, hierzulande nicht wegen fahrlässigen Falscheids verurteilt werden.2288 Die Frage ist keine strafprozessrechtliche, sondern eine auslieferungsrechtliche: Wenn und soweit das Auslieferungsrecht Verurteilungen wegen anderer als den genannten Straftatbeständen für zulässig erklärt, findet eine normative Kupierung nicht statt.2289 dd) Weitere Gründe Zuletzt führen auch Strafaufhebungsgründe, deren Zuordnung zum materiellen Recht oder zum Prozessrecht streitig ist, wie die Verjährung2290 oder die Amnestie,2291 zu einer normativen Kupierung im vorliegenden Sinne. Wird jemand erst 31 Jahre nach Begehung einer Tötung verfolgt, dann wird sich das Verfahren allein auf den noch nicht verjährten, eventuell vorliegenden Mord (§ 78 Abs. 2 StGB) beschränken müssen, so dass eine Verurteilung wegen des bereits verjährten Totschlags nicht möglich ist (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 StGB). Die Kehrseite dieser Beschränkung ist, dass die Sperrwirkung einer Verfolgung der kupierten Tatdimension nicht entgegensteht, falls die Verjährungsfrist nachträglich verlängert wird (soweit man dies bei bereits abgelaufenen Verjährungsfristen für zulässig erachtet2292) bzw. falls das Amnestiegesetz später für unbeachtlich erklärt wird. 5. Handlungseinheit, Idealkonkurrenz Nach der rein faktisch orientierten h. M. sind einheitliche Handlungen im materiellrechtlichen Sinne und daher auch idealiter konkurrierende Straftaten grundsätzlich eine einheitliche prozessuale Tat.2293 Häufig wird sogar die stärkere These vertreten, dass materiellrechtliche Handlungseinheit und Idealkonkurrenz immer prozessuale Tateinheit bedeuten.2294 senfeld, S. 157; Vogler, Rechtskraft, S. 91; Spinellis, Rechtskraft, S. 125; Krauth, FS Kleinknecht, S. 235; s. a. Correia, Caso julgado, S. 363. 2288 RGSt 37, 88. 2289 RGSt 49, 243 (244, 246 f.); 66, 172 (173 f.); RG JR 1934, Nr. 1177. 2290 RGSt 25, 27 (28); 26, 261 (263); 39, 353 (355); BGHSt 11, 107 (111); Gelbert, JW 1934, S. 2892; Velten, SK-StPO § 264 Rn. 53. 2291 RGSt 53, 50 (50 f.); s. a. BGHSt 11, 107 (111); Velten, SK-StPO § 264 Rn. 53. 2292 Dagegen Roxin, AT I, § 5 Rn. 60. 2293 BVerfGE 56, 22 (33); BGHSt 41, 385 (389); BGH StV 1999, 643 (einzige Ausnahme sei die Konstellation des Organisationsdelikts); NJW 2001, 2643 (2645); NStZ 2009, 705; KG NStZ-RR 2008, 48 (49); OLG Celle NStZ-RR 2010, 248; Bindokat, GA 1967, S. 363; Neuefeind, JA 2000, S. 796; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 642; Roxin/ Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 20 Rn. 8, 9. In Spanien Armenta Deu, Lecciones, S. 252, in Argentinien J. Maier, Derecho procesal penal I, S. 608. 2294 RGSt 3, 384 (386); 11, 128 (130); 44, 28 (31); 51, 241 (241 f.); 65, 125 (131); BVerfGE 45, 434 (435); BGHSt 8, 92 (95); 9, 10 (11); 13, 21 (23); 15, 268 (272); 23, 141 (145); 26, 284 (285); BGH NJW 1981, 997; wistra 1993, 193; weitere Nachw. bei

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Es stimmt zwar, dass in einem eher inquisitorischen Prozesssystem wie dem deutschen viele Fälle der Idealkonkurrenz auf der faktischen Seite keine Schwierigkeiten präsentieren werden. Denn die Verdächtigung wird regelmäßig bereits das faktische Substrat der in ihr nicht ausdrücklich angesprochenen Tatbestandsverwirklichung mitenthalten, so dass die Äußerung dieser Verdächtigung häufig auch im Hinblick auf die Entdeckung dieser Fakten ein Risiko schaffen wird. Auf der normativen Ebene verhält es sich aus unserer Perspektive fast umgekehrt wie bei der h. M. (s. o. D. VII. 1. [S. 531 f.]): Denn Idealkonkurrenz bedeutet gerade, dass zwischen den Vorwürfen keine bloße Gesetzeskonkurrenz besteht, also dass ein Vorwurf nicht in dem anderen enthalten ist. Also wird man nur unter der Voraussetzung einer Vergleichbarkeit im Sinne unserer zweiten Umwandlungsregel oder einer Unrechtsvertiefung im Sinne unserer dritten Umwandlungsregel zum Ergebnis der prozessualen Tateinheit kommen. Hierbei muss natürlich angenommen werden, dass auch keine normative Kupierung stattfindet. Idealkonkurrenz ist deshalb ein Indiz für prozessuale Tatmehrheit. Diese These kann als abschwächende Fortführung des von Binding formulierten Kriteriums der Tatidentität als Identität der Normverletzung angesehen werden (s. o. C. VI. 2. [S. 452]). Wenn man das Anklageprinzip ernst nimmt, kommt man an einer Einschränkung der von der h. M. vertretenen Annahme nicht vorbei. Wegen der normativen Anforderungen an die Identität der prozessualen Tat können also Fälle der Idealkonkurrenz, die auf der faktischen Ebene grundsätzlich eine Einheit darstellen, als eine Mehrheit von prozessualen Taten anzusehen sein. Das wird etwa bei einem Verkauf von unwirksamen Abtreibungsmitteln der Fall sein, der sowohl versuchte Abtreibung bzw. Teilnahme an versuchter AbtreiNeuhaus, Tatbegriff, S. 48 Fn. 9. Aus der Lit. Heffter, Non bis in idem, S. 21; Glaser, GrünhutZ 12 (1885), S. 314 (mit einer Ausnahme, S. 319); Beling, ArchMilR 2 (1911), S. 338; ders. Reichstrafprozeßrecht, S. 113; Oster, Rechtskraft, S. 40 f.; Wurzer, GA 1918, S. 270; Rippich, Idealkonkurrenz, S. 30; E. Wolter, Rechtskraft, S. 33; Niederreuther, DJ 1942, S. 111; Spinellis, Rechtskraft, S. 100; Stratenwerth, JuS 1962, S. 221; Koffka, JR 1965, S. 30; Achenbach, ZStW 87 (1975), S. 94; Schöneborn, MDR 1974, S. 531; Grünwald, FS Bockelmann, S. 742 f.; ders. StV 1981, S. 327; ders. StV 1986, S. 244; Baumann, Gundbegriffe, S. 169; Wolter, GA 1986, S. 164; Detmer, Begriff der Tat, S. 61; Gillmeister, NStZ 1989, S. 3; Fezer, Tatbegriff, S. 129; Schlüchter, JZ 1991, S. 1059; Mitsch, MDR 1988, 1008 f., 1011 f.; Werle, JR 1979, S. 94, 98 f.; ders. NJW 1980, S. 2673; Maatz, MDR 1985, S. 883; Puppe, JR 1986, S. 205 f.; Mitsch, NStZ 1987, S. 458; Bohnert, GA 1994, S. 99; Schlüchter/Duttge, NStZ 1994, S. 461; Cording, Strafklageverbrauch, S. 246; Velten, SK-StPO § 264 Rn. 14, 28. Um das ohnehin schwerkalibrige Problem nicht zusätzlich zu belasten, sei es hier gestattet, die seltsame und in ihren Einzelheiten verwickelte These der sog. Klammerwirkung der dritten Straftat, die idealiter mit zwei Straftaten konkurriert, die zueinander im Verhältnis der Realkonkurrenz stehen, im vorliegenden Abschnitt und insbesondere bei der sogleich zu erfolgenden Diskussion über Dauer- und Organisationsdelikte (u. 8. [S. 598 ff.]) auszuklammern; gegen sie sprechen bereits unüberwindbare materiellrechtliche Bedenken, s. nur Werle, Konkurrenz, S. 48 ff., 150 ff.; Puppe, NK-StGB § 2 Rn. 43; Roxin, AT II, § 33 Rn. 101 ff., alle m.w. Nachw.

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bung sein kann, falls die Unwirksamkeit dem Verkäufer unbekannt war, als auch Betrug, falls der Verkäufer mit diesbezüglichem Wissen gehandelt haben soll.2295 Auch viele der Schulfälle, die zum Beleg der „Anstößigkeit“ der Rechtskraft angeführt werden, entpuppen sich auf Grundlage des hier vorgeschlagenen Kriteriums als Fälle prozessualer Tatmehrheit: so die Konstellation des ersten Verfahrens wegen Wilderei oder Schießens an bewohnten Orten und des zweiten Verfahrens wegen Mordes. Der Wildereivorwurf hat mit dem Mordvorwurf kaum Berührungspunkte.2296 Auch der Vorwurf, an bewohnten Orten geschossen zu haben, ist von völlig anderer Qualität als der Mordvorwurf.2297 So wäre auch der alte Reichsgerichtsfall eines Freispruchs wegen der Übertretungen des groben Unfugs und des ruhestörenden Lärms und eines späteren Verfahrens wegen Beleidigung eines Gendarmen zu entscheiden.2298 Ebenso verhält es sich bei einem Betrug (§ 263 StGB) durch Gebrauch einer unechten Urkunde (§ 267 Abs. 1 Var. 3 StGB): Sie sind unterschiedliche Taten nicht trotz, sondern gerade weil sie in Idealkonkurrenz und nicht bloß in Gesetzeskonkurrenz2299 miteinander stehen.2300 Gerade dieses letzte Beispiel gibt Anlass zu der Frage, ob die hier vorgenommene Eingrenzung der richterlichen Kognition und der Rechtskraft nicht in einer Hinsicht gelockert werden sollte. So vertrat Mattil, dessen Gedanken, wie oben Fn. 1792 betont, viele Berührungspunkte mit der hier vertretenen Auffassung aufweisen (aber zum Glück auch viele Unterschiede!2301), dass man bei der Idealkonkurrenz zwischen Fällen der „Kumulation“ und Fällen der „inneren Ver-

2295

Siehe bereits o. C. IV. 6. a) (S. 459). Ähnl. Mattil, DStR 1942, S. 169; Noftz, Prozeßgegenstand, S. 78. 2297 Ebenso, auch mit ähnlicher Argumentation, Geerds, Konkurrenz, S. 364 und Noftz, Prozeßgegenstand, S. 78. 2298 RGSt 23, 307 – zudem lag hier eine vom RG übersehene normative Kupierung vor, weil der Gendarm den für die Verfolgung der Beleidigung erforderlichen Antrag erst nach Abschluss des Erstverfahrens stellte. Zu den diesbezüglichen Schwankungen des RG bereits o. 4. b) cc) (S. 568 f.). 2299 Statt aller zum materiellrechtlichen Konkurrenzverhältnis Cramer/Heine, Sch/ Sch-StGB § 267 Rn. 99 m.w. Nachw. 2300 Richtig Barthel, Begriff der Tat, S. 102; and. RGSt 44, 28 (30 ff.). Auch nach einer kombinierten Anwendung unserer dritten und zweiten Anwendungsregel (s. o. D. VII. 1. [S. 528]) lässt sich keine Brücke herstellen. Anknüpfungspunkt könnte hier das Regelbeispiel des Vermögensverlusts großen Ausmaßes sein, § 267 Abs. 3 Nr. 3 StGB; ein solcher impliziert aber keineswegs die Begehung eines Betrugs, sondern ist auch vorstellbar bei einer im Rahmen einer Untreue begangegen Urkundenfälschung (ein Prokurist fälscht Unterschriften des Vermögensinhabers, um Verfügungen vorzunehmen, die seine Vertretungsmacht überschreiten) und kann auch trotz Vorliegens des Betrugs (bei einem Vermögensverlust geringeren Ausmaßes) abzulehnen sein. 2301 Insbesondere dass er die Reichweite der Rechtskraft nicht mit den richterlichen Klageänderungsmöglichkeiten für kongruent hält, so dass bei ihm zwar nicht zweimal dieselbe Verurteilung, aber durchaus zweimal dasselbe Verfahren durchgeführt werden kann (näher u. krit. o. D. IV. 1. [S. 478, 484 ff.]). 2296

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knüpfung“ unterscheiden müsse.2302 Innere Verknüpfung besteht seines Erachtens dann, „wenn im konkreten Falle die Grundelemente (d.h. die materiellen Unwertträger hinter einer formellen Tatbestandsverwirklichung, L.G.) ganz oder teilweise zu einer inneren Unrechtseinheit verschmolzen sind“, wie es etwa beim tateinheitlichen Zusammentreffen von Betrug und Urkundenfälschung der Fall ist.2303 Weniger bildlich bejaht Mattil eine derartige Verknüpfung unter anderem, wenn eine Straftat bloßes Mittel zur Ausführung einer anderen ist – hier kommt an erster Stelle das gerade genannte Beispiel des Betrugs mittels einer verfälschten Urkunde – oder wenn dasselbe Rechtsgut in verschiedener Weise (Unterschlagung und Untreue) oder in verschiedenen Tätereigenschaften verletzt wird.2304 Verletzungen bloßer „verkehrspolizeiliche[r] Vorschriften im weitesten Sinne“ seien dagegen mit den mit ihnen idealiter konkurrierenden vorsätzlichen oder fahrlässigen Verletzungen eines konkret geschützten Rechtsguts nicht innerlich verknüpft.2305 Er verdeutlicht seine Unterscheidung auch mit dem Beispiel eines Täters, der seinem Opfer mit einem Glas auf den Kopf schlägt: Handelt der Täter mit dem bedingten Vorsatz, dass das Glas zertrümmert wird, liege Kumulation vor; ist es dagegen seine Absicht, sein Opfer gerade durch das zertrümmerte Glas zu verletzten, liege innere Verknüpfung vor.2306 Die Unterscheidung von Mattil ist aber wenig mehr als ein schwammiger Verweis auf das eigene Rechtsgefühl. Durch sorgfältige Umwandlungsregeln hat man sich oben bemüht, die normativen Grenzen des Gegenstands der Anklage präzise zu konturieren. Es wäre leichtfertig, sie bloß deshalb aufzugeben, weil sie in einer Konstellation zu einer für einige Kritiker vielleicht seltsam anmutenden Schlussfolgerung führt. Zudem erscheint es keine große Zumutung für den Ankläger, dass er den Gebrauch der unechten Urkunde bzw. den Betrug in der wegen der jeweils anderen Tat geführten Anklage ausdrücklich erwähnt und seinen Willen, diese Tat auch zu verfolgen, deutlich manifestiert. Wir haben auch gesehen, dass es kein eisernes Prinzip gibt, demzufolge über idealiter konkurrierende Straftaten in einem einzigen Urteil entschieden werden müsse. Die vielen anerkannten Konstellationen normativier Kupierungen (s. o. 4. [S. 560 ff.]) belegen die Zulässigkeit getrennter Aburteilung. Man soll lediglich darauf achten, dass aus der Mehrzahl von Urteilen kein Nachteil für den Angeklagten erwächst. Dies lässt sich unschwer durch eine analoge Heranziehung der ihrem Wortlaut nach nur die Fälle der Tatmehrheit erfassenden Vorschrift des § 55 StGB erreichen (s. o. C. VI. 1. [S. 451]).

2302 2303 2304 2305 2306

Mattil, DStR 1942, S. 167 ff. Mattil, DStR 1942, S. 167. Mattil, DStR 1942, S. 168, Mattil, DStR 1942, S. 168 f. Mattil, DStR 1942, S. 170.

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6. Realkonkurrenz a) In den Fällen der Realkonkurrenz geht die überwiegende Meinung von der Regel aus, dass mehrere Taten im prozessualen Sinne vorhanden sind.2307 Eine Ausnahme wird aber für die Fälle gemacht, in denen die Tatbestandsverwirklichungen eine sogenannte innere Verknüpfung zueinander aufweisen.2308 Die innere Verknüpfung soll sich, mit den Worten der Rechtsprechung, unmittelbar aus den Handlungen oder Ereignissen ergeben; die Tatsache, dass die miteinander realiter konkurrierenden Tatbestandsverwirklichungen Teil eines Gesamtplans waren, reicht nicht aus. Insbesondere soll das Kriterium bedeuten, dass eine angemessene Würdigung einer Tatbestandsverwirklichung auf die Würdigung der anderen angewiesen ist.2309 Es wird sich erweisen, dass hinter dieser sog. inneren Verknüpfung zu einem guten Teil nichts anderes als eine intuitive Vorahnung der hier vorgeschlagenen Kriterien liegt: Eine Tatbestandsverwirklichung ist mit einer anderen „innerlich verknüpft“, wenn auf der faktischen Ebene die Tatsachen, die den Verdacht der in der Anklage ausdrücklich genannten Tat begründen, gleichzeitig für einen Verdacht einer zweiten Tatbestandsverwirklichung sprechen und (mindestens) eine unserer drei normativen Umwandlungsregeln einschlägig ist.2310 2307 BGHSt 41, 385 (390); 43, 96 (99); Hall, RW 1941, S. 316; Mitsch, MDR 1988, S. 1006; Ranft, JuS 2003, S. 421. Aus spanischer Sicht Armenta Deu, Lecciones, S. 252. Gelegentlich wird auch die stärkere These vertreten, dass materielle Tatmehrheit immer auch prozessuale Tatmehrheit bedeutet, etwa Heffter, Non bis in idem, S. 22; Glaser, GrünhutZ 12 (1885), S. 314; Borgmann, Identität der That, S. 60 (dennoch nicht immer konsequent); Detmer, Begriff der Tat, S. 213 ff. (wenn es um „Vervollständigungsfälle“ geht, s. o. C. VIII. [S. 467]). 2308 BGHSt 13, 21 (26); 23, 141 (146); 23, 270 (274); 28, 288 (292 f.); 35, 14 (17); 49, 359 (362); BGH NStZ 1983, 87; NStZ 2006, 350; 2009, 705; StV 2007, 23 (25); BayObLG NJW 1991, 2360 (2361). Das Kriterium der inneren Verknüpfung steht den Wendungen der „unnatürlichen Spaltung“ eines „einheitlichen Vorgangs“ (Nachw. o. Fn. 1638) sehr nahe, taucht aber eher bei realiter miteinander konkurrierenden Tatbestandsverwirklichungen auf (in dem Sinne, dass das Kriterium nur hier von Bedeutung ist, OLG Celle NStZ-RR 2010, 248 [249]). 2309 Die immer wieder zitierte Passage lautet, dass die Frage, ob eine innere Verknüpfung vorliege, „unmittelbar aus den ihnen zugrunde liegenden Handlungen und Ereignissen unter Berücksichtigung ihrer strafrechtlichen Bedeutung“ zu entscheiden sei (BGHSt 13, 21 [26]; 23, 141 [146]; 23, 270 [273]; 29, 288 [293]; BGH NStZ 1984, 469; OLG Hamm, StV 1984, 16; OLG Köln, NStZ 1988, 568 [569]). 2310 Anderer Präzisierungsversuch bei Schlüchter/Duttge, NStZ 1994, S. 461 f.; Ranft, JuS 2003, S. 421: Die „innere Verknüpfung“ sei zu bejahen, wenn eine Tat Voraussetzung der anderen ist (prototypisch BGHSt 23, 141: Unfall und anschließende Unfallflucht), oder beide sich bei engem örtlichen und zeitlichen Zusammenhang aus dem Tatplan ergeben können (prototypisch BGHSt 45, 211: Brandstiftung und Versicherungsbetrug). Diese Konkretisierung ist nichts anderes als ein weitgehend unbegründeter und auf gut Glück gemachter Versuch, von der Rechtsprechung zufällig gewonnene Schlussfolgerungen zu verallgemeinern. Ohne jegliche Begründung auch Velten, SKStPO § 264 Rn. 28, 44, die in diesen Fällen für die Tatidentität eine einheitliche Motivation verlangt.

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b) Dieser Gedanke soll jetzt anhand des von der Rechtsprechung angebotenen Vormaterials auf den Prüfstand gestellt werden. aa) In einem Fall, in dem wegen Abtreibungsversuchs bereits verurteilt worden war und es später zum Verdacht einer anschließenden Tötung des frühzeitig (lebensfähig) Geborenen kam, ging der BGH von unterschiedlichen prozessualen Taten aus:2311 Die Ablehnung der inneren Verknüpfung wurde mit sehr unsicheren Argumenten begründet: „Der Abtreibungsvorgang war mit der Geburt eines lebenden und lebensfähigen Kindes endgültig mißlungen und abgeschlossen“ (S. 26). Die Angeklagte sei deshalb „vor einer völlig neuen Lage“ gestanden, die ihr „einen neuen Willensentschluß abnötigte“ (ebda.). Wäre es nicht um ein lebensfähiges Kind gegangen, hätte die Rechtsprechung wohl noch Idealkonkurrenz, wie schon früher entschieden wurde,2312 und deshalb Tateinheit angenommen.2313 Aus vorliegender Perspektive wäre dagegen zu sagen, dass die faktischen Voraussetzungen der Tatidentität wohl vorliegen dürften. Denn der Verdacht wird hier wohl darauf gegründet sein, dass der Leichnam eines kleinen Kindes gefunden worden ist, dass eine während mehrerer Monate schwangere Frau später weder Bauch noch Kind hat usw. Diese Umstände lassen sich nach allgemeiner Lebenserfahrung sowohl mit einer Abtreibung als auch mit einer Tötung des Kindes verknüpfen. Auf der normativen Ebene ist die Situation auch einfach. Die Tötung enthält weder im normativen noch im logischen Sinne eine Abtreibung, und auch in umgekehrte Richtung verhält es sich nicht anders. Weder die erste noch die dritte Umwandlungsregel ist also einschlägig. Die zweite aber durchaus, was daran deutlich wird, dass zwischen Tötung und Abtreibung Wahlfeststellung für möglich erachtet wird.2314 Zwar sind Tötungen bereits geborener Menschen um einiges gravierender als Tötungen bloß werdender Menschen. Für Erstere werden höhere Strafandrohungen vorgesehen, Versuch und Fahrlässigkeit sind strafbar. Auf der anderen Seite bleibt es dabei, dass die Distanz zwischen einer Tötung und einer Abtreibung nicht groß ist; es geht bei beiden um die Tötung eines anderen Menschen, was in seinem Kern unabhängig ist von der Zufälligkeit, ob dieser Mensch sich innerhalb oder außerhalb des Körpers seiner Mutter befindet. Deshalb ist eine Verdächtigung wegen einer Abtreibung einer Verdächtigung, das kleine Kind getötet zu haben, gleichwertig. 2311 BGHSt 13, 21 (25 ff.); zust. Peters, JZ 1961, S. 427; Spinellis, Rechtskraft, S. 105 f.; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 387; Schöneborn, MDR 1974, S. 534. Für eine einheitliche Tat Velten, SK-StPO § 264 Rn. 46 Fn 218. Siehe davor den nahestehenden Fall RGSt 12, 409. 2312 BGHSt 10, 291. 2313 Ebenso Neuhaus, Tatbegriff, S. 16. 2314 BGHSt 10, 291 (294); Eser, Sch/Sch-StGB § 218 Rn. 70.

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Erwägungen des Beschuldigtenschutzes (Interesse, nicht wieder durch ein Verfahren belästigt zu werden) und der Verfahrensökonomie (Sinnlosigkeit der Durchführung zweier Verfahren wegen der Tötung desselben Menschen, weil die Strafbarkeit wegen Abtreibung die Klärung voraussetzt, ob die Einwirkung auf das Kind vor oder nach der Geburt erfolgt ist) zeigen alle auch in diese Richtung, sind aber, wie o. Kap. 2 B. IV. 3., 4. (S. 412 ff., 415 ff.) betont, nicht ausschlaggebend. Im vorliegenden Fall hätte man also von einer einheitlichen prozessualen Tat und deshalb auch von Rechtskraft ausgehen sollen.2315 bb) Klassisch sind auch die von der Rechtsprechung entschiedenen Fälle einer Unfallverursachung (insb. §§ 222, 229, 315c StGB) und einer anschließenden Verkehrsunfallsflucht (§ 142 StGB). Materiellrechtlich sollen unterschiedliche Taten vorliegen, weil durch den Entschluss, nach dem überraschend eingetretenen Unfall weiterzufahren, eine Zäsur in dem Gesamtgeschehen erfolgt.2316 Die Rechtsprechung bejaht trotzdem die prozessuale Tateinheit.2317 Eine prozessual selbständige Tat soll sich erst dann ergeben, wenn ein zweiter Unfall erfolgt.2318 Gerade diese Fälle scheinen für die von der Rechtsprechung verlangte innere Verknüpfung, die aus einer materiellrechtlichen Mehrheit von Taten eine prozessuale Einheitstat macht, prototypisch zu sein. Aus unserer Perspektive sieht die Sache etwas komplizierter aus. Faktisch wird es zwar häufig der Fall sein, dass die verdachtsbegründenden Tatsachen sowohl auf die eine als auch die andere Tatbestandsverwirklichung hindeuten werden. Aber normativ dürften beide Vorwürfe, also der Vorwurf, schuldhaft einen Unfall herbeizuführen, und der Vorwurf, vom Unfallort zu fliehen, eine grundverschiedene Blickrichtung haben.2319 Zwar geht es um Vergehen, die beide im Straßenverkehr begangen werden. Bezüglich der geschützten Rechtsgüter bestehen aber keine hinreichenden Übereinstimmungen, damit man noch von einer einheitlichen Verdächtigungsrichtung sprechen kann. Denn § 142 StGB soll die Beweisinteressen des vom Unfall Geschädigten und somit indirekt dessen Vermögen

2315 Ebenso Barthel, Begriff der Tat, S. 101 f. (auf Grundlage seines Kriteriums der Verwandschaft von Rechtsgütern). 2316 Zusätzlich zu den Angaben der nächsten Fn. s. BGHSt 21, 203 (204), die sich allein mit der materiellrechtlichen Konkurrenzfrage beschäftigt. 2317 BGHSt 23, 141 (144 f.); 23, 270 (273 f.); 24, 185 (186); 25, 72 (74); 25, 388 (390); BGH JZ 1970, 327; OLG Celle MDR 1978, 246 (bzgl. § 142 Abs. 2 StGB). Zust. etwa Grünwald, JZ 1970, S. 330; Hanack, JZ 1972, S. 356; im Erg. auch Schlüchter, JZ 1991, S. 1061 (auf Grundlage normativer Kriterien: Parallelität der Handlung und des Rechtsguts); zum Ganzen auch Brückner, NZV 1996, S. 266 ff. 2318 BGHSt 23, 141 (148). 2319 Ebenso Wolter, GA 1986, S. 165; Lesch, Strafprozessrecht, Kap. 2 Rn. 16, die aber dennoch Tatidentität bejahen, weil sie dafür keine normative Gemeinsamkeit voraussetzen (zu Wolter bereits o. C. VIII. [S. 467]); und auch der BGH selbst (BGHSt 23, 270 [275]).

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schützen,2320 während fast alle anderen der bis zum Unfall verwirklichten Tatbestände keine vergleichbaren Schutzrichtungen aufweisen.2321 So soll § 316 StGB2322 nach h. M. den Schutz des kollektiven Rechtsguts der Verkehrssicherheit bezwecken.2323 Selbst wenn man erkennt, dass dieses kollektive Rechtsgut im Grunde genommen bloß ein Kürzel für eine Vielzahl von Individualrechtsgütern ist, etwa Leben, Leib, Eigentum und auch Vermögen der einzelnen Verkehrsteilnehmer,2324 geht es bei § 316 StGB um Güter mehrerer Individuen, während § 142 StGB allein Rechtsgüter des Unfallopfers schützen soll. Prozessuale Tatidentität lässt sich also nicht begründen.2325 Bei § 315c StGB gehen viele noch von einem zusätzlichen Individualrechtsgut neben der Verkehrssicherheit aus.2326 Aus vorliegender Perspektive bedeutet dies im Vergleich zu § 316 StGB aber keinen Unterschied, weil die Verkehrssicherheit bzw. die Summe der gefährdeten Interessen einzelner Verkehrsteilnehmer mit dem von § 142 StGB geschützten Vermögen des vom Unfall Geschädigten unvergleichbar bleibt. Verwirklicht man beim Unfall noch die Tatbestände der fahrlässigen Körperverletzung oder Tötung, dann besteht erst recht eine solche Unvergleichbarkeit. Die von der Rechtsprechung angenommene prozessuale Tateinheit lässt sich wohl nur für eine Konstellation annehmen, nämlich die, in der die Vortat eine Sachbeschädigung (§ 303 StGB) darstellt. Zwar wird regelmäßig nur die bedingt vorsätzliche Sachbeschädigung als Vortat des § 142 StGB in Betracht kommen;2327 Eigentum und Vermögen sind aber derart nahestehend, dass man gut von einer Vergleichbarkeit der Vorwürfe sprechen könnte. cc) In einem Fall, in dem es um Submissionsabsprachen und Betrug ging, entschied der BGH, dass mehrere Taten vorhanden seien, weil er „keine innere Verknüpfung“ bejahen konnte.2328 Dass es auf faktischer Ebene wohl eine weitgehende Identität der verdachtsbegründenden Tatsachen geben wird, leuchtet ohne Weiteres ein. Die Submissionsabsprache wird ein wesentlicher Teil der Vorbereitung der betrugskonstitutiven Täuschung sein. Die Umstände, die den Verdacht der Submissionsabsprache be2320

Sternberg-Lieben, Sch/Sch-StGB § 142 Rn. 1a; Schild, NK-StGB § 142 Rn. 7. Würde man aber § 142 StGB dem Schutzgut der Verkehrssicherheit zuordnen, würden die im Folgenden vertretenen Lösungen verständlicherweise anders aussehen (s. a. Wolter, GA 1986, S. 165 Fn. 127). 2322 Man nehme an, es wird nur eine Sache von nicht bedeutendem Wert geschädigt, so dass § 315c StGB nicht einschlägig ist. 2323 Etwa Lackner/Kühl, StGB § 316 Rn. 1; Sternberg-Lieben/Hecker, Sch/Sch-StGB § 316 Rn. 1. 2324 Ausf. Greco, FS Roxin II, S. 213. 2325 Im Erg. auch Detmer, Begriff der Tat, S. 213 ff. (wegen der Realkonkurrenz). 2326 Sternberg-Lieben/Hecker, Sch/Sch-StGB § 315c Rn. 2 m.w. Nachw. 2327 Ausf. zu diesem Fragenkreis Schild, NK-StGB § 142 Rn. 40 m. ausf. Nachw. 2328 BGHSt 41, 385 (389). 2321

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gründen, werden deshalb sehr häufig auf einen möglicherweise begangenen Betrug hindeuten. Normativ beschreiben aber die Tatbestände des § 263 und des § 298 StGB keine vergleichbaren Unwertdimensionen. Denn die h. M. nimmt an, der Betrug schütze das Individualrechtsgut des Vermögens,2329 die Submissionsabsprache den Wettbewerb als gesellschaftliche Institution.2330 Ob der Wettbewerb in der Tat als eigenständiges kollektives Rechtsgut anerkannt werden kann, ist zwar zweifelhaft,2331 kann aber offen gelassen werden. Entscheidend wird vielmehr der Gesichtspunkt sein, auf den o. 2. c) (S. 554 f.) bei der Lösung des Verhältnisses von §§ 263 und 265 StGB abgestellt wurde: Der Betrug wird nach h. A. gerade nicht als Vertiefung des Unrechts der Submissionsabsprache gesehen, sondern als etwas Andersartiges. Auch umgekehrt ist die Submissionsabsprache nicht ein Minus zum Betrug, da zwischen beiden überwiegend Idealkonkurrenz und nicht Gesetzeskonkurrenz angenommen wird.2332 Die Rechtsprechung hat deshalb richtig entschieden. dd) Erwähnenswert ist auch eine Entscheidung, in der es um die zwei Handlungen der gewaltsamen Wiederbeschaffung von gestohlenem Rauschgift und des Handeltreibens mit demselben Rauschgift ging, die als unterschiedliche Taten im prozessualen Sinne angesehen worden sind.2333 Der BGH argumentierte auf eine Weise, die der hier vorgeschlagenen Argumentationsweise nahekommt: Es gebe einen wesentlichen Unterschied zwischen der gewaltsamen Handlung und den typischen Handlungen des Handeltreibens (S. 259). Schon die faktischen Voraussetzungen der Tatidentität erscheinen zweifelhaft. Zwar kann man nach allgemeiner Lebenserfahrung erwarten, dass, wer sich durch Gewalt oder auf sonstige Weise größere Mengen Rauschgift verschafft, vorhaben wird, Handel zu treiben. Das Erstverfahren hatte aber nicht diese Beschaffung von Rauschgift zum Gegenstand, sondern das Handeltreiben. Ob die Tatsachen, die den Verdacht dieser Straftat begründet haben, im Einzelfall zugleich den Blick auf die verbrecherische, weil gewaltsame Beschaffungsweise lenkten, kann man ohne Kenntnis des Einzelfalls nicht definitiv beurteilen, es erscheint jedoch eher fernliegend. Erst recht lässt sich auf der normativen Ebene eine Kluft zwischen beiden Tatbestandsverwirklichungen begründen, denn zwischen dem Raub bzw. der räuberischen Erpressung und dem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln liegen keinerlei Gemeinsamkeiten vor. Diese Tatbestände stehen einander völlig unvergleich-

2329 2330 2331 2332 2333

Statt aller Cramer/Perron, Sch/Sch-StGB § 263 Rn. 1/2 m.w. Nachw. Lackner/Kühl, StGB § 298 Rn. 1 m.w. Nachw. Greco, FS Roxin II, S. 214. Hohmann, MK-StGB § 298 Rn. 119 m.w. Nachw. zur Gegenauffassung. BGHSt 43, 252; abl. Fürstenau, StV 1998, S. 483.

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bar gegenüber. Wahlfeststellung wäre hier unmöglich, wenn sich auch schwer Fälle vorstellen lassen, in denen sich eine derartige Zweifelslage ergeben könnte. Also geht es im Ergebnis um mehrere Taten im prozessualen Sinne.2334 ff) Zuletzt bejahte der BGH im Falle eines Betrugs gegen eine Versicherungsgesellschaft und einer davor begangenen Brandstiftung – in Abweichung von einer genau entgegengesetzten Entscheidung des Reichsgerichts2335 – trotz der Realkonkurrenz eine einheitliche prozessuale Tat.2336 Der BGH gibt sich hier große Mühe, die innere Verknüpfung zwischen den beiden Handlungen darzulegen. Es heißt, eine innere Verknüpfung sei deshalb gegeben, weil „der Unrechtsund Schuldgehalt der einen Handlung . . . nicht ohne die Umstände, die zu der anderen Handlung geführt haben, richtig gewürdigt werden (kann)“.2337 Der in den jeweiligen Vorgängen verkörperte Unrechts- und Schuldgehalt weise einen gegenseitigen Bezug auf (S. 214). Es liege ferner eine sog. äußere Verknüpfung vor, denn der Versicherungsfall musste bereits wegen § 92 VVG innerhalb kürzester Frist bei der Versicherung angezeigt werden (S. 214). Das Ganze finde eine Bestätigung im Regelbeispiel des § 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 5 StGB (S. 215). Dass auf der faktischen Ebene der erforderliche Zusammenhang zwischen den beiden Vorgängen wohl zu bejahen ist, liegt auf der Hand. Die Inbrandsetzung des versicherten Gegenstandes ist fast so alt wie die Brandschutzversicherungen selbst. Weil auch die Inbrandsetzung Vorbereitungshandlung des Betruges ist und für das Vorliegen einer Täuschung konstitutiv sein wird, werden die verdachtsbegründenden Tatsachen sich wohl weitgehend überschneiden. Auf der normativen Ebene muss man aber die Tatidentität zunächst in Zweifel ziehen. Denn das gemeingefährliche Delikt der Brandstiftung und das Vermögensdelikt des Betruges haben völlig unterschiedliche Angriffsrichtungen, so dass beide Tatbestände für sich genommen völlig unverbunden und unvergleichbar nebeneinander stehen. Es ist möglich, das eigene Haus in Brand zu setzen, ohne zugleich für das Vermögen der Versicherung eine abstrakte Gefahr zu begründen. Die Verwandtschaft zwischen beiden Tatbestandsverwirklichungen ist deshalb auf den ersten Blick eine bloß zufällige, die nur den Einzelfall betrifft. Eigentlich begründet erst das Regelbeispiel des § 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 5 StGB, das vom BGH nur (aber immerhin) beiläufig erwähnt worden ist, die an sich 2334 Wegen dieser normativen Unterschiede hätte man in einer Anklage wegen Raubes nicht zugleich ein Delikt des Sichverschaffens von Betäubungsmitteln gem. § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG erblicken können, auch dann nicht, wenn beide Tatbestände durch dieselbe Wegnahmehandlung verwirklicht worden wäre (so aber BGH NStZ-RR 2010, 53). 2335 RGSt 17, 62 (64 f.); 44, 254 (256 f.); 48, 186 (191). 2336 BGHSt 45, 211 (212 ff.); zust. Beulke, Strafverfahrensrecht, Rn. 516; krit. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 20 Rn. 12. 2337 BGHSt 45, 411 (213); ähnliche Passagen in BGHSt 35, 14 (17); 49, 359 (362, 363).

2. Kap.: Der Begriff der strafprozessualen Tat

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nicht vorhandene Unrechtsnähe. Denn die Anklage wegen einfachen Betrugs erfasst nach unserer dritten normativen Umwandlungsregel auch alle Abwandlungen, darunter auch die Regelbeispiele (s. o. D. VII. 1. [S. 528 ff., 527]). Zwischen Verwirklichung eines Betrugs im besonders schweren Fall und einer Brandstiftung besteht dann – zweite normative Umwandlungsregel – eine für die prozessuale Tateinheit erforderliche normative Verwandtschaft. Also erst die Kombination der dritten Umwandlungsregel, die die Abwandlung vom einfachen Betrug in einen Betrug im besonders schweren Fall der Vortäuschung eines Versicherungsfalles durch Brandstiftung usw. gestattet, und der zweiten Umwandlungsregel2338 führt zur Bejahung der prozessualen Tatidentität. 7. Fortgesetzte Handlung bzw. wiederholte Strafgesetzverletzungen (Serienstraftaten) a) Gegenstand heftiger und – nach verbreiteter Einschätzung – aussichtsloser Diskussionen war früher die Problematik der Bestimmung des Prozessgegenstandes bei der sogenannten fortgesetzten Handlung. Die Rechtsfigur der fortgesetzten Handlung machte – in grober Vereinfachung – aus wiederholten Straftatverwirklichungen, die objektiv gleichartige Rechtsgüter betreffen, unter gleichartigen äußeren Bedingungen begangen wurden und subjektiv von einem sogenannten Gesamtvorsatz getragen waren, eine einheitliche Handlung im materiellrechtlichen Sinne.2339 Daraus zog die überwiegende Meinung die Schlussfolgerung, entsprechend müsse es sich auch im Strafprozess verhalten: Bei einer fortgesetzten Handlung seien alle einzelnen Akte, unabhängig davon, ob sie in der Anklage erwähnt wurden, und auch davon, ob sie dem Gericht bekannt oder überhaupt erkennbar waren, Gegenstand des Verfahrens, so dass sie auch von der Rechtskraftwirkung erfasst würden.2340 Ähnlich war zeitweilig die prozessuale 2338 Oder sogar der ersten, je nachdem, wie man das unübersichtliche Konkurrenzverhältnis zwischen dieser Erscheinungsform des Betrugs im besonders schweren Fall und den Brandstiftungsdelikten bestimmt (näher Hefendehl, MK-StGB § 263 Rn. 787 m.w. Nachw.). 2339 Zu den Kriterien ausf. Geerds, Konkurrenz, S. 300 ff.; Noftz, Prozeßgegenstand, S. 100 ff. m.w. Nachw.; knapp Geppert, Jura 1982, S. 364 f.; zum Gesamtvorsatz s. RGSt 15, 23 (26 f.); 22, 235 (237 f.); 26, 162 (165); BGHSt 2, 163 (167); 6, 92 (96); 6, 122 (124); 15, 268 (271); 16, 124 (128 f.); 36, 105 (110); und die Nachw. u. Fn. 2347, 2348; weitere Nachw. bei Neuhaus, Tatbegriff, S. 58 ff. 2340 RGSt 51, 241; 51, 253 (254); 56, 324 (326); 72, 211 (212 f.); 73, 41 (42); BGHSt 6, 92 (96); 15, 268 (270, 272); 26, 284 (285); 29, 63 (64); 35, 318 (323 f.); 36, 105; ebenso Berner, GA 1855, S. 491; Glaser, GrünhutZ 12 (1885), S. 313; Eichhorn, GS 38 (1886), S. 431; Borgmann, Identität der That, S. 54 f.; Farnbacher, GS 54 (1897), S. 388 ff.; Oster, Rechtskraft, S. 34; Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 113, 267 Fn. 1; Schwinge, ZStW 52 (1932), S. 234; F. Frank, Identität der Tat, S. 29; Niederreuther, DStR 1936, S. 173; ders. DJ 1942, S. 111; Exner, Strafverfahrensrecht, S. 74; Oehler, FS Rosenfeld, S. 156 f.; ders. GS Schröder, S. 442, Fn. 9; Eb. Schmidt, JZ 1954, S. 706; Bertel, Identität der Tat, S. 173 ff.; Hanack, JZ 1972, S. 356; Grünwald, ZStWBeiheft 1974, S. 115; ders. FS Bockelmann, S. 745; Schöneborn, MDR 1974, S. 531

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Behandlung der Konstellationen der sog. Sammelstraftaten oder Kollektivdelikte (gewerbs-, gewohnheits- und geschäftsmäßig begangener Delikte).2341 Wie fühlbar diese Rechtsfolgen sein konnten, verdeutlicht ein älterer, vom BGH entschiedener Fall. In einem ersten Verfahren wurde der Täter wegen eines aus sieben Einzelakten bestehenden fortgesetzten Betrugs verurteilt. Nachträglich ergab sich, dass möglicherweise nicht weniger als 369 weitere Betrügereien vom Täter begangen worden waren.2342 Zu spät: Diese weiteren Tatbestandsverwirklichungen durften nicht mehr zum Gegenstand eines neuen Verfahrens gemacht werden. Wegen dieser und anderer, nicht nur prozessualer Implikationen kam die fortgesetzte Tat unter das Feuer der Kritik.2343 Aus materiellrechtlicher Perspektive nahm man insbesondere an der fragwürdigen Figur des Gesamtvorsatzes Anstoß, Fn. 33; Achenbach, ZStW 87 (1975), S. 94 f.; Hassemer, JuS 1977, S. 691; Geppert, Jura 1982, S. 366; Schlüchter, Das Strafverfahren, Rn. 362.3; Fezer, Tatbegriff, S. 128. Weitere Nachw. bei Neuhaus, Tatbegriff, S. 56 Fn. 8. In Frankreich ebenso Griolet, Chose jugée, S. 257 f.; Gavalda, JCP I 1957, Nr. 1372 Rn. 26 m.w. Nachw. aus der Rspr.; Daskalakis, Unité et pluralité, S. 428; in Portugal Correia, Caso julgado, S. 349; Souto de Moura, Objecto do processo, S. 38; in Argentinien J. Maier, Derecho procesal penal I, S. 613 f., 615; in Spanien Cortés Domínguez, Cosa juzgada, S. 136; ders. Derecho procesal penal, S. 437; Armenta Deu, Lecciones, S. 252; in Brasilien Grinover, FS Figueiredo Dias III, S. 866; in Italien ausf. und diff. Coppi, Reato continuato, S. 293 ff., 367 ff.; Leone, Trattato III, S. 357 ff.; Mancuso, Giudicato, S. 470 ff. 2341 Ursprünglich ging man von einer einheitlichen prozessualen Tat aus (RGSt 7, 32 [34]; 7, 229 [230]; 24, 419 [420]; 41, 108 [110]; 42, 372 [373 f.]; 47, 397 [400]; 51, 241; 54, 333; 66, 19 [21 ff.]); Berner, GA 1855, S. 491; v. Kries, Lehrbuch, S. 569; Glaser, GS 36 (1884), S. 109 f.; Borgmann, Identität der That, S. 55 f.; Eb. Schmidt, Lehrkommentar I, Rn. 312). Diese Annahme, die ähnlich wie bei fortgesetzten Handlungen (s. Fn. 2349) nur bei Verurteilungen gelten sollte (RGSt 66, 19 [26], m.w. Nachw.; krit. Beling, JW 1925, S. 1010), wurde in den letzten Jahren des Reichsgerichts relativiert (RGSt 68, 60 [62 ff.]) und in einer Entscheidung des Großen Senats, die die gewerbsmäßige Abtreibung zum Gegenstand hatte und sich wenigstens dem Worte nach auf sie beschränkte, aufgegeben (RGSt 72, 164 [167 ff.]; zust. Preiser, ZStW 58 [1939], S. 748 f.; diese Grundsätze auf den Tatbestand der gewerbsmäßigen männlichen Homosexualität übertragend RGSt 72, 257 [258]). Diese Wende, die vielfach Zustimmung erntete (Kohlrausch, ZAkdR 1938, S. 474 [nur im Erg.]; Preiser, ZStW 58 [1939], S. 750 ff., 782; Ramm, DStR 1939, S. 39; Nagler, ZAkdR 6 [1939], S. 373 [der den Entscheidungsgründen aber äußerst krit. gegenübersteht], 401; Schwarz, DStR 1939, S. 90 f.; diff. Eichhorn, GS 38 [1886], S. 443), wurde vom BGH bestätigt (BGHSt 1, 41). Inzwischen ist die Figur der Sammelstraftat weitgehend in Vergessenheit geraten; wenn man überhaupt von ihr spricht, dann nur, um sie kursorisch abzulehnen (etwa Geerds, Konkurrenz, S. 270 f.; Bertel, Identität der Tat, S. 179; Schlüchter, Das Strafverfahren, Rn. 363; Jakobs, AT § 32 Rn. 34). Im Ausland ist die alte Ansicht des Reichsgerichts immer noch verbreitet, s. für Frankreich Griolet, Chose jugée, S. 257 f.; Daskalakis, Unité et pluralité, S. 429; für Spanien Cortés Domínguez, Cosa jugzada, S. 139 f.; ders. Derecho procesal penal, S. 437 f.; für Brasilien Grinover, FS Figueiredo Dias III, S. 866; in Italien ist die Sachlage komplizierter, s. Mancuso, Giudicato, S. 484 f. 2342 BGHSt 6, 122. 2343 Beling, JW 1931, S. 931 f.; Preiser, ZStW 58 (1939), S. 774 ff.; Wahle, GA 1968, S. 108 f.; Timpe, JA 1991, S. 14 ff.; Jung, NJW 1994, S. 916 f.

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die nicht nur häufig einer Fiktion glich, sondern gerade denjenigen besser stellte, der von vornherein den Entschluss gefasst hatte, eine Vielzahl von Straftaten zu begehen.2344 Auch die Rechtsprechung zeigte sich zunehmend bereit, die Starrheit ihrer Ergebnisse aufzulockern:2345 So sollte auf materiellrechtlicher Ebene keine Fortsetzung möglich sein, wenn es um Delikte gegen höchstpersönliche Güter verschiedener Personen ging.2346 Es wurden zunehmend strenge Anforderungen an die Bejahung des Gesamtvorsatzes gestellt,2347 die ihren Höhepunkt darin erreichten, dass hier nicht einmal der in dubio pro reo-Grundsatz anwendbar sein sollte.2348 Und auf der prozessualen Ebene beschloss man, dass die umfassende Rechtskraftwirkung nur im Falle einer Verurteilung, nicht aber bei einem Freispruch gelten sollte; beim Freispruch sollte die Rechtskraft nur die dem Gericht bekannt gewordenen Einzelakte erfassen.2349 Kein Strafklageverbrauch sollte ferner eintreten, wenn nur die Einzeltat als solche Gegenstand des ersten Verfahrens war.2350 Wenn aber der Fortsetzungszusammenhang vom Erstgericht nicht verneint oder schlicht übersehen worden war,2351 sollte bei einem zweiten Verfahren das neue Gericht selbständig prüfen dürfen, ob der ihm vorliegende Gegenstand trotz Bejahung des Fortsetzungszusammenhangs durch das Erstgericht zu diesem Zusammenhang gehöre oder nicht, insbesondere auch, ob der Vorgang auch vom Gesamtvorsatz miterfasst werde.2352 Auch in der Literatur gab

2344 Krit. Eb. Schmidt, JZ 1954, S. 706 (gegen BGHSt 6, 122); Mann/Mann, ZStW 75 (1963), S. 253 f.; Jakobs, AT § 32 Rn. 44; Timpe, JA 1991, S. 14 f. 2345 Siehe zusätzlich zu den folgenden Fn. die Darstellung und Nachw. bei Noftz, Prozeßgegenstand, S. 114 ff.; anschaulich spricht Detmer, Begriff der Tat, S. 235 von einer „,verminderten‘ Rechtskraftfähigkeit der fortgesetzten Tat“. 2346 RGSt 44, 223 (229); 53, 274 (275); 59, 98 (99); 70, 243 (245); BGHSt 2, 246 (247); 26, 24 (26 f.); s. a. Schwarz, DStR 1939, S. 94; Busch, ZStW 68 (1956), S. 10; Peters, Strafprozeß, S. 513 f.; krit. v. Heintschel-Heinegg, JA 1994, S. 589. 2347 RGSt 26, 162 (165); 44, 223 (228); 66, 236 (238 f.); 70, 51 (52); 72, 212 (213 f.), alle mit der Behauptung, dass ein ein allgemeiner Entschluss, jede sich bietende Gelegenheit zur Begehung von Straftaten zu nutzen, für den Gesamtvorsatz nicht ausreiche; s.a RGSt 22, 235; zur „Zurückhaltung“ bei der Bejahung des Gesamtvorsatzes mahnte BGHSt 2, 163 (167); s. a. BGHSt 15, 268 (271); zum Ganzen auch Schwarz, DStR 1939, S. 95; Mann/Mann, ZStW 75 (1963), S. 253 f. 2348 BGHSt 23, 33 (35); 35, 318 (324); BGH MDR 1980, 984; StV 1981, 125; StV 1983, 109; in der Sache auch BGHSt 35, 318 (322); krit. Geppert, Jura 1982, S. 365. 2349 RGSt 24, 419 (420 f.); 41, 108 (110); 47, 397 (399 f.); krit. Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 267 Fn. 1; ders. JW 1931, S. 216 ff.; E. Wolter, Rechtskraft, S. 32; Preiser, ZStW 58 (1939), S. 765 f.; Eb. Schmidt, Lehrkommentar I, Rn. 308; Gössel, Strafverfahrensrecht, S. 292; Ostendorf, DRiZ 1983, S. 431; Neuhaus, Tatbegriff, S. 60 f.; ders. JuS 1986, S. 966 f.; ders. MDR 1988, S. 1014. Erst recht bei einer Einstellung, RGSt 54, 333 (334 f., Amnestie). 2350 Nachw. bereits o. Fn. 1884. 2351 Diesen Widerspruch bemerkt richtigerweise Stratenwerth, JuS 1962, S. 223 f. 2352 RGSt 57, 21 (21 f.); 72, 211 (213 f.); BGHSt 15, 268 (270); zust. Peters, JZ 1961, S. 427; ders. Strafprozeß, S. 514; Stratenwerth, JuS 1962, S. 222; Neuhaus, MDR 1988, S. 1014; abl. RGSt 73, 41; Hanack, JZ 1972, S. 356.

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es viele direktere Vorschläge, den umfassenden Strafklageverbrauch zu relativieren.2353 Schließlich entschied sich der Große Senat des BGH, von der fortgesetzten Tat endgültig Abschied zu nehmen.2354 Allem Anschein nach sollten die Probleme, zu denen die Figur führte, sämtlich überholt sein, so dass man sich mit ihr also nie mehr beschäftigen müsste. b) Der Schein trügt aber, und dies aus zwei Gründen. aa) Erstens muss in Frage gestellt werden, ob der angebliche Abschied so ernst gemeint war. Fast prophetisch hört sich Naglers Bemerkung an: „Gäbe man heute diese juristischen Verbrechenseinheiten auf, so würden sie sich schon morgen wieder zur Geltung und Anerkennung bringen.“ 2355 Nach einer Einschätzung lebt die fortgesetzte Handlung fort, aber unter einem anderen Gewand, nämlich unter der Bezeichnung der Bewertungseinheit.2356 Eine solche Bewertungseinheit spielt vor allem im Betäubungsmittelrecht eine große Rolle;2357 sie wird insbesondere in dem Fall bejaht, in dem die tatbestandsmäßige Handlung des Handel2353 Binding, Strafurteil, S. 342; Werder, KritV 1928, S. 298 (bzgl. Tatteilen, für deren Untersuchung das Gericht keinen Anlass hatte); Peters, DR 1933, S. 179 (bzgl. erheblicher übersehener Teilakte); ders. ZStW 56 (1935), S. 58; ders. FS Kohlrausch, S. 204 f.; Nagler, ZAkdR 6 (1939), S. 374 (für Zulassung einer sog. Nachtragsanklage bzgl. nach Anklageerhebung und vor Urteilsfällung bekannt gewordener Teile), 401; Schwarz, DStR 1939, S. 100 f.; Mattil, DStR 1942, S. 166 f.; Spinellis, Rechtskraft, S. 112 ff. (Ausscheidung sog. „gleichartiger Verbrechensmengen“); Geerds, Konkurrenz, S. 366, 420; Mann/Mann, ZStW 75 (1963), insb. S. 256 ff. (für Teilung der fortgesetzten Handlung); Noftz, Prozeßgegenstand, S. 145, der die Figur ablehnt, aber einige Deliktsverwirklichungen zu sog. „gleichartigen Verbrechensmengen“ prozessual zusammenfassen möchte (S. 166 ff.); Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 389 (Teilstücke der Gesamttat, die ganz überwiegendes Gewicht haben, und nicht in der Verhandlung thematisiert werden konnten, gehören nicht zur prozessualen Tat); Jagusch, NJW 1972, S. 455 (fortgesetzte Tat als „Fehlkonstruktion“, die „,Hartgesottene‘ allein um einer eher belastenden inneren Haltung willen“ begünstige, so dass sich die Rechtskraft nicht auf nicht geahndete Teilakte erstrecken sollte); Herzberg, JuS 1972, S. 115 (Lösung über § 154 StPO); Büchner, Strafprozessuale Tat, S. 187; Peters, Strafprozeß, S. 512 (Einschränkung der Rechtskraft auf Akte, die dieselbe Person betreffen, und Anwendung des Gedankens von § 154 StPO); Neuhaus, Tatbegriff, S. 199 (nur Teile der fortgesetzten Tat, die von dem abgeurteilten Teil nach natürlicher Betrachtungsweise nicht abgespaltet werden können, werden miterfasst); für eine Lösung de lege ferenda Beling, JW 1931, S. 218; E. Wolter, Rechtskraft, S. 33 (erweiterte Wiederaufnahme zuungunsten); Römer, in: Verh. 49. DJT, S. M 193; Sack, ZRP 1976, S. 259; ders. ZRP 1978, S. 72; Lemke, ZRP 1980, S. 142 ff.; w. N. bei Peters, FS Kohlrausch, S. 202. 2354 BGHSt (GrS) 40, 138 (145 ff.); näher Hamm, NJW 1994, S. 1636 f.; v. Heintschel-Heinegg, JA 1994, S. 586 ff., 589 f. (zust.); Ruppert, MDR 1994, S. 973 ff.; Geppert, NStZ 1996, S. 57 ff., 118 ff. 2355 Nagler, ZAkdR 6 (1939), S. 374. Siehe auch Arzt, JZ 1994, S. 1000: „Die fortgesetzte Handlung geht – die Probleme bleiben“ (zust. Körner, StV 1998, S. 630). 2356 Siehe Meurer, NJW 2000, S. 2940; Ranft, JuS 2003, S. 419 (krit.); Paeffgen, GS Heinze, S. 632; Velten, SK-StPO § 264 Rn. 34 m. v. w. N.; Beulke, Strafverfahrensrecht, Rn. 522. Die Figur ist in der Entscheidung, die an die fortgesetzte Handlung die Axt gelegt hat, ausdrücklich ausgespart worden (BGHSt [GrS] 40, 138 [164]); s. a. Geppert, NStZ 1996, S. 59 f. und ausf. Körner, StV 1998, S. 626 ff.

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treibens sich auf ein und denselben Güterumsatz bezieht (etwa: Das Rauschgift wird aus einer in einem Akt erworbenen Gesamtmenge sukzessiv abgesetzt).2358 Ebenso wurde entschieden, dass das Sich-Hinwegsetzen über die Unwirksamkeit einer Kartellvereinbarung i. S. d. § 38 Abs. 1 Nr. 1 GWB a. F. mehrere Handlungen zu einer Bewertungseinheit zusammenbündelt, wenn diese Handlungen alle der Durchführung derselben Kartellabsprache dienen, nicht aber dann, wenn es um mehrere Absprachen geht.2359 Weder die materiellrechtliche Reichweite2360 noch die prozessrechtliche Bedeutung der Figur der Bewertungseinheit sind endgültig geklärt.2361 Ferner hat die Rechtsprechung die Figur der natürlichen Handlungseinheit um einiges erweitert und damit Konstellationen erfasst, bei denen früher wohl von einer fortgesetzten Handlung die Rede gewesen wäre.2362 bb) Zweitens und entscheidend ist aber, dass sich die hier diskutierte prozessuale Problematik überall ergeben kann, wo Straftaten über einen längeren Zeitraum hinweg wiederholt begangen werden, und dies unabhängig davon, ob das gerade geltende materielle Strafrecht die Figur der fortgesetzten Handlung kennt oder nicht. Man denke an die soeben erwähnten Beispiele – die 376 Betrügereien, die sukzessive Lieferung von Rauschgift, die einzelnen Handlungen in Ausführung der Kartellvereinbarung – und auch an klassische Lehrbuchbeispiele wie das des Dienstmädchens, das über Monate hinweg Zigaretten aus dem Haus, in dem sie arbeitet, entwendet,2363 oder des Vaters, der seine Tochter jahrelang sowohl körperlich als auch sexuell misshandelt.2364 In all diesen Fällen (und unabhängig vom Vorhandensein eines „Gesamtvorsatzes“) stellt sich die Frage nach dem Gegenstand des Verfahrens und insbesondere nach der Reichweite der 2357 Ausf. Patzak, in: Körner/Patzak/Volkmer, BtMG, § 29 Rn. 409 ff.; s. a. Zschockelt, NStZ 1998, S. 239 f.; weitere Anwendungsbeispiele bei Velten, SK-StPO § 264 Rn. 34; weiterführend zur Figur Puppe, JZ 2000, S. 735 f. („Erfolgseinheit“). 2358 BGHSt 30, 28 (31); BGH NStZ 1999, 192; 2000, 540; StV 2002, 235; NStZ-RR 2013, 46. 2359 BGHSt 41, 385 (394 f.). 2360 Siehe etwa BGH NStZ 2012, 147, das die Figur beim Verhältnis von § 107a und § 267 StGB ablehnt. 2361 Vgl. das obiter dictum BGHSt 43, 252 (257): der Senat „neige dazu“, anzunehmen, dass die für die fortgesetzte Handlung, Organisationsdelikte und Dauerdelikte entwickelten Grenzen auch bei der Bewertungseinheit einschlägig seien; ebenso BGHSt 46, 349 (358); zust. Erb, NStZ 1998, S. 254; weiterführend Maatz, FS Meyer-Goßner, S. 260 ff. Siehe auch BGH StV 2002, 235 (236), i. S. eines die ganze Bewertungseinheit umfassenden Strafklageverbrauchs; ebenso Fürstenau, StV 1998, S. 485; Gubitz, JR 1998, S. 494 f. 2362 Vgl. etwa BGH StV 1998, 335: Bei mehreren Diebstählen am gleichen Ort in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang liege eine natürliche Handlungseinheit vor; selbe Einschätzung bei Meurer, NJW 2000, S. 2940; Ranft, JuS 2003, S. 419 f. 2363 Dieses Beispiel etwa bei Oehler, FS Rosenfeld, S. 154; Variationen bei Warda, JuS 1964, S. 85; Geppert, Jura 1982, S. 363. 2364 Siehe die ähnlichen Fälle oder Beispiele in RGSt 1, 450; BGHSt (GrS) 40, 138 (141 f.); BGH NStZ-RR 2005, 320; s. a. BGHSt 46, 130; BGH NStZ 1995, 200.

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Rechtskraft. Die naheliegende Lösung, auf jeden einzelnen Akt abzustellen, also über jeden einzelnen Akt ein eigenständiges Verfahren durchführen zu dürfen,2365 führt letztlich dazu, dass der Betroffene sogar bei einer Verurteilung nie wieder ein normales Leben wird führen können, da er bis zum Ablauf der Verjährungsfrist immer wieder zur Rechenschaft über einen weiteren, noch nicht abgeurteilten Einzelakt gezogen werden kann.2366 c) Es lässt sich sehr wohl eine überzeugende Lösung formulieren.2367 Sie ist aber in erster Linie – insofern ähnlich wie die o. 4. c) bb) (S. 577 ff.) dargestellte Lösung des Problems der wiederholten Verweigerung einer einzig geschuldeten Leistung – eine materiellrechtliche und nur teilweise eine prozessrechtliche. aa) Prozessrechtlich kommt es auf die Anwendung der o. D. VII. 1., 2. (S. 528 ff., 537 ff.) formulierten Kriterien an. Die normativen Anforderungen werden bei Serienstraftaten, die aus wiederholten Verwirklichungen des gleichen oder eines ähnlichen Tatbestandes bestehen, grundsätzlich erfüllt sein. Ob bei höchstpersönlichen Gütern verschiedener Personen anderes zu gelten habe, soll uns u. 10. (S. 620 f.) näher beschäftigen. Bei den faktischen Anforderungen dagegen ergibt sich eine erste Schranke, die aber auf der einen Seite großzügiger ist als die abgetrennte Aburteilung jeder einzelnen Tatbestandsverwirklichung, auf der anderen nicht mit dem mit der fortgesetzten Handlung verbundenen Problem des verschwenderischen Verbrauchs der Strafklage zusammenhängt:2368 Nur diejenigen Tatbestandsverwirklichungen, für deren Begehung die Anklage bereits faktische Hinweise enthält, werden mitangeklagt. Gemäß unserer zweiten faktischen Umwandlungsregel muss bereits die Anklage ein Entdeckungsrisiko für weitere Deliktsverwirklichungen verkörpern. Einige der Einschränkungen der früheren Rechtsprechung, die bei der Aburteilung einer einzigen Einzeltat aus der Serie keinen Strafklageverbrauch bezüglich der Resttaten annahm,2369 ergeben sich demnach regelmäßig von selbst. Eine Straftat, für die es in der Anklage keine Andeutung gab, wird deshalb einer künftigen Verfolgung nicht entzogen.

2365

Dafür etwa Brähler, Serienstraftaten, S. 438 f. Ebenso Arzt, JZ 1994, S. 1001. 2367 Der Vorschlag von Geppert, NStZ 1996, S. 60 f., S. 119 f., in den Fällen, in denen zwischen den einzelnen Akten ein enger räumlich-zeitlicher Zusammenhang besteht, eine natürliche Handlungseinheit anzunehmen, führt in den hier genannten Beispielen zur Selbständigkeit jedes einzelnen Aktes, was die gerade genannten Probleme also nicht löst. Und der Gedanke von Gubitz, JR 1998, S. 493 ff., nach dem die Aufgabe der fortgesetzten Handlung sich allein auf das materielle Recht, nicht aber auf das Prozessrecht, auszuwirken habe, weil bei allen fortgesetzen Handlungen die zur prozessualen Tateinheit unterschiedlicher materieller Handlungen führende „innere Verknüpfung“ automatisch gegeben sei (S. 493), ist nicht nur in seiner Begründung fragwürdig, sondern bedeutet die Wiederbelebung einer Vielzahl von Schwierigkeiten, um deren Überwindung es bei der Aufgabe des Fortsetzungszusammenhangs gerade gegangen ist. 2368 Zu dem auch die Ansicht von Gubitz, JR 1998. S. 493 f. führt, s. vorherige Fn. 2369 Siehe oben Fn. 1884, 2350. 2366

2. Kap.: Der Begriff der strafprozessualen Tat

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bb) Aber es bestehen zusätzliche materiellrechtliche Hürden. Ausgangspunkt muss dabei die für die materiellrechtliche Konkurrenzlehre fast konstitutive Erwägung sein, dass der Schuldgehalt von Verletzungen des Strafgesetzes sich nicht linear in Funktion der Häufung dieser Verletzungen erhöht.2370 Mit anderen Worten: Drei Verletzungen des Strafgesetzes bedeuten nicht dreifache Schuld, sondern etwas weniger, 600 Verletzungen des Strafgesetzes bedeuten nicht sechshundertfache Schuld, sondern erheblich weniger. Warum dies der Fall ist, ist eine Frage, die eher vom materiellen Recht als von uns gelöst werden müsste. Hier reicht bereits die Feststellung, dass sich die Dinge so verhalten.2371 Das bedeutet, dass es ab einer bestimmten Anzahl von Wiederholungen auf die einzelne Tat nicht mehr wirklich ankommt – ob 600 oder 601 oder 650 Mal, dürfte gleichgültig sein. Es ist schwer zu bestimmen, wann diese Schwelle erreicht wird. Dass es sie aber geben muss, dürfte klar sein. Ist sie erreicht, dann stellt sich auch keine Frage der Opportunität mehr (§§ 154, 154a StPO).2372 Aus dieser Einsicht lässt sich alles Weitere entwickeln. Entscheidend wird sein, dass so viele Strafgesetzverletzungen Gegenstand der Verdächtigung werden, wie nötig, um den Punkt zu erreichen, bei dem es auf weitere mögliche Verletzungen nicht mehr ankommt.2373 Ist dieser Punkt erreicht, dann bedeutet es, dass im Falle einer Bestrafung der gesamte Schuldgehalt im Wesentlichen getilgt wird. Das, was übrig geblieben ist, stellt eine quantité negligeáble dar. Bestätigt sich der Verdacht hingegen nicht, dann ist der Beschuldigte entsprechend der Reichweite des Verdachts rehabilitiert. Der ins Verschwindende tendierende Schuldgehalt der übrig gebliebenen Strafgesetzesverletzungen rechtfertigt es nicht, dass der Beschuldigte erneut verdächtigt wird. Die von der früheren Rechtsprechung vorgenommene Einschränkung des Prozessgegenstandes bei Freisprüchen, die sich ohnehin nicht mit der statisch-kongruenten Natur des Tatbegriffs verträgt (o. D. IV. 1. [S. 484 ff.]), ist also auch aus diesem Grunde abzulehnen. 2370

Siehe nur v. Heintschel-Heinegg, MK-StGB vor § 52 Rn. 14. Eine Bestätigung findet diese Einsicht darin, dass man sich in Deutschland dazu entschließen konnte, bei der Tatmehrheit das Kumulationsprinzip aufzugeben (§ 53 StGB); dass man gerade im an sich milderen Ordnungswidrigkeitenrecht diesen Schritt nicht vornehmen konnte (§ 20 OWiG), ist schwer zu rechtfertigen. Nachw. zu der im 19. Jahrhundert gegen dieses Prinzip formulierten Kritik bei Timpe, JA 1991, S. 12 f. Nebenbei gesagt, ist diese Einsicht in vielen Staaten noch nicht angekommen, s. etwa Art. 55 argStGB; Art. 69 brasStGB. 2372 So dass die diesbezüglichen Erwägungen von Peters, Strafprozeß, S. 512 und Mann/Mann, ZStW 75 (1963), S. 264; und auch RGSt GrS 72, 164 (168) ab diesem Punkt auch nicht mehr einschlägig sind. 2373 Ein gewisses Problem stellt hier die durch die Aufgabe der fortgesetzen Handlung entstandene Notwendigkeit dar, für jede Einzeltat zunächst eine eigene Strafe festzusetzen; in der Vermeidung dieser „lästigen, überflüssigen und wunderlich anmutenden Arbeit“ erblickte man sei jeher einen wichtigen Seinsgrund für die Figur überhaupt (RGSt 70, 243 [244]). Dieses Problem kann ich hier aber nicht lösen. Hier muss ich bei der Feststellung Halt machen, dass nach der Überschreitung einer bestimmten Grenze diese Einzelstrafe nicht mehr von Gewicht sein kann. 2371

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Daraus folgen auch die Grenzen, innerhalb deren die Sperrwirkung eintritt. Erstens muss, wie gesagt, ein erheblicher Teil des Gesamtvorgangs Gegenstand des Verfahrens gewesen sein.2374 Die oben zitierte Entscheidung des BGH, die schon bei 7 betrügerischen Handlungen einen umfassenden Strafklageverbrauch angenommen hatte, wäre aus der vorliegenden Perspektive falsch. Es leuchtet aber ein, dass die umgekehrte Situation einer Aburteilung von 369 Betrügereien unter Nichtberücksichtigung von weiteren 7 mit Sicherheit eine wäre, in der kein neuer Prozess stattfinden dürfte. Zweitens kann selbstverständlich dasjenige, was nach Abschluss des Verfahrens geschieht, nicht mehr sein Gegenstand sein. Die früher für die fortgesetzte Tat anerkannte2375 sog. Zäsurwirkung des Urteils behält weiterhin ihre Gültigkeit. Dies beruht sowohl darauf, dass man hier mit einer materiellrechtlichen Schranke der Anklage zu tun hat (s. o. 4. c) bb) [S. 576]), als auch, dass, sobald die Schuld wieder annähernd Null beträgt, die Funktion von Neuem aufzusteigen anfängt. Man könnte sich drittens fragen, ob es nicht Fälle geben muss, in denen die Bildung einer solchen materiell-prozessualen „Gesamttat“ unmöglich ist. In Betracht kommen in erster Linie Delikte, die gegen höchstpersönliche Güter mehrerer Träger gerichtet sind.2376 Ist es nicht befremdlich, bei Tötungen zu sagen, dass es ab einem bestimmten Punkt nicht mehr von Bedeutung ist, wie viele es waren?2377 Ich denke, dass man dem berechtigten Anliegen, das hinter dieser Erwägung steht, auch dadurch Rechnung tragen kann, dass man den Punkt, in dem es auf die einzelne Tat nicht mehr ankommt, erst viel später anfangen lässt. Zwar bleibt auch die fünftausendste Tötung Unrecht. Einen von der viertausendneunhundertneunundneunzigsten Tötung unterscheidbaren Schuldgehalt weist sie indes nicht mehr auf.2378 8. Dauerdelikte bzw. Organisationsdelikte a) Heftig umstritten ist die Frage der Tatidentität bei Delikten, die mit sogenannten Dauerdelikten oder Organisationsdelikten idealiter konkurrieren. Dauerdelikte sind Delikte, die nicht mit der Verwirklichung des Tatbestands abge2374 Im Erg. ähnl. Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 389: die Sperrwirkung trete nicht ein, wenn nicht erörterte Teilstücke der Gesamtttat ein „ganz überwiegendes Gewicht“ haben; s. a. Preiser, ZStW 58 (1939), S. 756. 2375 Nachw. o. Fn. 2262. 2376 Im Erg. BGHSt 1, 67 (68). 2377 Man erinnere sich an die Ablehung der Rspr., bei sog. „Massenverbrechen“ von einer rechtlichen Handlungseinheit auszugehen, BGHSt 1, 219 (221 f.); BGH NJW 1969, 2056, 2056 (sog. Auschwitzurteil); and. F. Bauer, JZ 1967, S. 627 f. 2378 Wenigstens noch als individuelle Tötung – es mag aber sein, dass ein neuer Schuldgehalt begründet wird, der eines makrokriminellen Geschehens, womit man bei den Straftaten gegen das Völkerrecht wäre.

2. Kap.: Der Begriff der strafprozessualen Tat

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schlossen sind, sondern deren Vollendung sich über eine längere Zeitspanne hinauszieht.2379 Nicht erst die Beendigung, schon die formelle Vollendung des Dauerdelikts dauert eine bestimmte Zeitspanne fort. Hauptbeispiele bilden der Hausfriedensbruch (§ 123 StGB) und die Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB). Eine praktisch wichtige und politisch besonders brisante Untergruppe der Dauerdelikte ist die der sogenannten Organisationsdelikte. Was Organisationsdelikte genau sind, wird selten klar definiert. Einig ist man sich aber darin, dass die Tatbestände der §§ 129 ff. StGB zu dieser Kategorie gehören sollen. b) Die einzelnen Akte, die den Tatbestand des Dauer- und Organisationsdelikts verwirklichen, sind noch nicht das eigentliche Problem. Allgemein nimmt man an, dass alle Einzelakte, die noch bis zur letzten Tatsachenverhandlung begangen werden, zum Prozessgegenstand gehören.2380 Dies erscheint aber aus der Perspektive des Anklageprinzips nicht völlig unproblematisch, denn einige dieser Akte werden erst begangen, nachdem die Anklage bereits erhoben worden ist. Trotzdem ist dieses Ergebnis in einem nicht streng akkusatorischen System wie dem deutschen richtig. Die Erwägungen, die o. 4. c) aa) (S. 572 ff.) bei Gelegenheit der Erörterung des Problems der nachträglich eingetretenen strafschärfenden Erfolge entwickelt worden sind, sind auch hier einschlägig: In vielen Fällen (eher bei § 129 StGB, selbstverständlich nicht bei § 316 StGB) werden die verdachtsbegründenden Umstände nicht dafür sprechen, dass die das Dauerdelikt verwirklichende Tätigkeit mit der Erhebung der Anklageschrift unterbrochen wurde. Und weil es um die fortlaufende Verwirklichung desselben Tatbestands geht, ergeben sich auch auf normativer Ebene keine Bedenken, Tatidentität zu bejahen. Die Zurückführbarkeit der richterlichen Entdeckung dieser nach der Anklage fortdauernden Akte auf die Anklage ist also sowohl faktisch als auch normativ gewährleistet, und mehr muss ein Anklageprinzip auch nicht verlangen. Dies hat auch das rechtspolitisch erwünschte Ergebnis, dass nach Abschluss des Verfahrens eine Art Schlussstrich gezogen wird, der es dem Betroffenen gestattet, ins Reine zu kommen. Denn die Rechtskraft der Entscheidung wird alle einzelnen Akte erfassen, unabhängig davon, ob das Gericht dazu gekommen ist, sie ausdrücklich zu erwähnen. c) Im Mittelpunkt des Streits stehen aber solche Fälle, in denen es nicht um die das Dauer- oder Organisationsdelikt konstituierenden Einzelakte geht, sondern um andere Tatbestände, die idealiter mit dem Dauer- oder Organisationsdelikt konkurrieren.

2379

Ähnl. die Definition von Roxin, AT I § 10 Rn. 105. BGHSt 48, 331 (341); Neuhaus, MDR 1988, S. 1017. Ebenso in Frankreich, Ortolan/Desjardins, Éléments, S. 298 f.; Daskalakis, Unité et pluralité, S. 416; in Italien, Cassazione Penale, CassPen 2002, 259 (262); Malavasi, CassPen 2002, S. 266; in Spanien Cortés Domínguez, Cosa juzgada, S. 137; in Brasilien Grinover, FS Figueiredo Dias III, S. 866. 2380

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

aa) Bahnbrechend war in der deutschen Rechtsprechung die 1980 gefällte Entscheidung BGHSt 29, 288, die die Frage zu entscheiden hatte, ob die früher erfolgte rechtskräftige Aburteilung wegen des Organisationsdelikts (Beteiligung an einer kriminellen Organisation, § 129 Abs. 1 a. F. StGB) der Aburteilung anderer Straftaten, insbesondere des Mordes entgegensteht. Der BGH lehnt die vom Landgericht angenommene Realkonkurrenz ab (S. 290).2381 Hier liege vielmehr Tateinheit vor, weil das Tatbestandsmerkmal „wer sich an einer (kriminellen) Vereinigung als Mitglied beteiligt“ bereits durch jede Tätigkeit für die Zwecke der Vereinigung verwirklicht werde (S. 290 f.). Ein Strafklageverbrauch folge daraus trotzdem nicht. Beim prozessualen Tatbegriff komme es nicht auf die materiellrechtlichen Verhältnisse an, sondern auf den geschichtlichen Vorgang bzw. auf die Umstände des Einzelfalls (S. 292 f.). Bei § 129 StGB seien die gängigen Grundsätze, die für Dauerdelikt und fortgesetzte Handlung gelten, nicht anwendbar, denn bei der Vorschrift handle es sich um ein sogenanntes „Organisationsdelikt“, für das eigenständige Grundsätze gelten sollen (S. 293 f.). Nur idealkonkurrierende Delikte mit Strafandrohungen, die nicht höher sind als die des § 129 StGB, könnten vom Strafklageverbrauch erfasst sein (S. 295). Alles andere käme einer Privilegierung der Mitglieder einer kriminellen Organisation gegenüber anderen Straftätern gleich (S. 296, 297) – ein Argument materieller Gerechtigkeit. Das Vertrauen des Organisationsmitglieds, nach der Aburteilung des Organisationsdelikts nicht mehr wegen anderer Delikte zur Rechenschaft gezogen zu werden, sei auch nicht schutzwürdig (S. 296). Zuletzt spricht sich der BGH für die Gewährung einer Anrechnung aus: Der Angeklagte sei bei getrennter Aburteilung so zu stellen, als hätte man gegen ihn ein einziges Strafverfahren durchgeführt (S. 297). Das Bundesverfassungsgericht hat diese Entscheidung nicht beanstandet.2382 In künftigen Entscheidungen wurde diese Rechtsprechung vom BGH fortgeführt2383 und auf andere Dauerdelikte angewandt.2384 bb) In Bezug auf andere Dauerstraftaten zeigte sich die Rechtsprechung indes wenig einheitlich.

2381 Im Sinne der Realkonkurrenz auch OLG Karlsruhe, NJW 1977, 2222, die vom BGH ebenfalls erwähnt und abgelehnt wird (S. 290 f.). Zentrales Argument war, dass die Ausführungshandlungen des Organisationsdelikts und der Delikte, deren Begehung Ziel der Organisation ist, sich nicht decken würden; zust. K. Meyer, JR 1978, S. 35; Gössel, JR 1982, S. 112; krit. Grünwald, FS Bockelmann, S. 741 ff. („verblüffende Argumentation“); Werle, JR 1979, S. 93 ff. 2382 BVerfGE 56, 22; s. davor BVerfGE 45, 434. 2383 BGHSt 43, 252 (257); 46, 349 (358); BGH NJW 2001, 2643; NStZ 2002, 607 f.; NStZ 2010, 445. 2384 BGHSt 48, 153 (161; Völkermord in Tateinheit mit Mord an 22 Menschen einerseits, Mord an 7 und an einem Menschen andererseits); BGH NJW 2001, 2643 (2645; Tatbestand des § 20 Abs. 1 Nr. 1 VereinsG); s. a. BGHSt 46, 349 (358).

2. Kap.: Der Begriff der strafprozessualen Tat

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(1) So soll bei den Tatbeständen, die mit der Verwirklichung des Dauerdelikts des § 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG (Fahren ohne Fahrerlaubnis) in Idealkonkurrenz stehen, Tatidentität vorliegen.2385 Dies wurde sogar bei gravierenden anderen Straftaten angenommen: In einem Fall hatte der Täter einer solchen Fahrt Raubtaten und Sexualdelikte begangen,2386 und in einem anderen Fall, in dem er ohne Fahrerlaubnis zum Tatort gefahren ist, beging er dort einen Raub und stieg zur Flucht wieder in das Auto ein.2387 Ebenso verhielt es sich bei dem ähnlich gelagerten Fall, der statt § 21 StVG mit einer Trunkenheitsfahrt (also mit § 316 StGB oder § 24a StVG) und einer mit dieser Fahrt in engem Zusammenhang stehenden Vergewaltigung zu tun hatte, in dem der BGH prozessuale Tateinheit bejaht hat.2388 Bereits das Reichsgericht hatte eine ähnliche Entscheidung über eine mit einer fahrlässigen Tötung endende Fahrt gefällt, die gleichzeitig unter Verletzung der Vorschrift gegen unbefugten Gebrauch eines fremden Kraftwagens erfolgte (§ 1 VO v. 20. Okt. 1932, RGBl. I, S. 496).2389 (2) Dagegen ist bei einer Entführung, die durch Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR im Rahmen der Spionagetätigkeit (§§ 98 Abs. 1, 99 2385 BGH NJW 1981, 997. Hier ging es (u. a.) einerseits um den Diebstahl von 90 kg Pommes frites, andererseits von einem Geldbeutel und Schmuckstücken; weil die Tatbestandshandlung (Wegnahme) beim erstgenannten Diebstahl erst mit der Fahrt erfolgte, während sowohl Vollendung als auch Beendigung bezüglich des Diebstahls an kleinen Gegenständen eingetreten war, bevor der Angeklagte das Haus des Opfers verlassen hatte, bejahte der BGH Idealkonkurrenz und deshalb Strafklageverbrauch bezüglich des Diebstahls an den Pommes, nicht aber bezüglich des Diebstahls an den kleinen Gegenständen). Siehe auch LG Memmingen NStZ-RR 1997, 140, in der ein Gebrauch eines verfälschten Führerscheins, der mit dem bereits abgeurteilten Fahren ohne Fahrerlaubnis ideal konkurrierte, deshalb für eine unterschiedliche Tat erklärt wurde, weil im ersten Verfahren „keinerlei Erkenntnisse dahingehend vorlagen, daß der Angekl. auch eine verfälschte Fahrerlaubnis verwendet hatte“ – im Grunde genommen ist hier also der Ansicht von Henkel u. a. (s. o. C. VII. 1. [S. 461 ff.]) gefolgt worden. 2386 BGH NStZ 1984, 135; s. a. BGH MDR 1973, 556 (zust. Schöneborn, NJW 1974, S. 734 f.): Hier ging es zwar nicht um Idealkonkurrenz zwischen § 21 StVG und Vergewaltigung, weil der Täter erst nach dem Anhalten die Sexualstraftat versuchte, sondern um die Verklammerung von beiden an sich realiter miteinander konkurrierenden Tatbestandsverwirklichungen durch die mit beiden idealiter konkurrierende Entführung (§ 237 StGB a. F.). 2387 BGH NStZ 1996, 41. Wie sich diese Entscheidung aber mit der o. Fn. 2385 zitierten vereinbaren lässt, ist trotz des auf S. 42 Aufgeführten nicht ersichtlich, weil die Wegfahrt bereits zur Beutesicherung gehört und somit in keiner Weise als Wegnahmehandlung angesehen werden kann. Die Rechtsprechung stellt hier auf den Gesamtzusammenhang ab, was zum einen die Willkürlichkeit dieses Kriteriums belegt, zum anderen den Unterschied zur vorherigen Entscheidung nicht zu erklären vermag. 2388 BGH MDR 1975, 544, der das materiellrechtliche Konkurrenzverhältnis offen lässt (S. 545 Fn. 5); and. OLG Koblenz MDR 1978, 245 f., der materiellrechtliche Tatmehrheit bejaht, u. a. weil der Täter zur Begehung der sexuellen Nötigung seine Fahrt unterbrechen musste (hierzu krit. insb. wegen des Widerspruchs zur BGH-Entscheidung Kinnen, MDR 1978, S. 546); s. neuerdings BGH NStZ 2012, 709: prozessuale Tatidentität zwischen Trunkenheitsfahrt und Betäubungsmittelbesitz. 2389 RGSt 68, 216 (218).

602

2. Teil: Materielle Rechtskraft

Abs. 1 StGB) begangen wurde, von unterschiedlichen prozessualen Taten ausgegangen worden.2390 (3) Bei dem unerlaubten Waffenbesitz (§§ 51, 52 WaffG) und der Begehung eines Verbrechens mit der Waffe soll es nach dem BGH bereits auf der materiellrechtlichen Ebene um unterschiedliche Taten gehen.2391 Grund dafür sei unter anderem, dass die Begehung der zweiten Tat auf einem selbständigen Entschluss beruhe.2392 Auf die Erwägungen zu Organisationsdelikten komme es deshalb in diesem Zusammenhang nicht an.2393 (4) Auch bei Oberlandesgerichten lassen sich erwähnenswerte Entscheidungen finden.2394 So beschloss das Bayerische Oberste Landesgericht, dass eine Verurteilung wegen Erwerbs von Betäubungsmitteln als Besitz von Betäubungsmitteln (§ 29 Abs. Nr. 3 BtMG) nicht der Verfolgung der Straftaten entgegensteht, die im Rahmen einer wenige Stunden später durchgeführten, im Besitz der Betäubungsmittel erfolgten Fahrt im fahruntüchtigen Zustand (§ 316 StGB) begangen wurden, und dies nicht einmal dann, wenn diese Fahrt in der Anklageschrift er2390 BGHSt 41, 292 (296 ff.); i. Erg. zust. Schlüchter/Duttge, NStZ 1994, S. 461 f. Davor Krauth, FS Kleinknecht, S. 241. 2391 BGHSt 36, 151 (i. Erg. zust. Maatz, FS Meyer-Goßner, S. 269 f.); BGH StV 1999, 643 (644); NJW 2001, 3200 (3203); NStZ 2012, 452. Wenige Jahre davor (1982) ging die Rechtsprechung noch von Idealkonkurrenz aus (BGHSt 31, 29; 32, 84); ebenso Maatz, MDR 1985, S. 883 ff.; 1981 hieß es dagegen, mit sehr knapper Begründung, dass eine Anklage wegen eines Tötungsdelikts nicht das vor und nach dieser Tat verwirklichte Vergehen nach § 53 Abs. 1 Nr. 7a WaffG a. F. erfasse (BGH NStZ 1981, 299; krit. Maatz, MDR 1985, S. 883 ff.). 2392 BGHSt 36, 151 (154), zust. Pfeiffer/Hanich, KK-StPO Einl Rn. 170. Zustimmungswürdige Kritik bei Mitsch, JR 1990, S. 163: „Der das Urteil lesende Angeklagte muß nachträglich den Eindruck gewinnen, ein günstigeres Ergebnis nur dadurch verspielt zu haben, daß er nicht vom Beginn des Waffenbesitzes an einen auch die Begehung anderer Straftaten umfassenden Willen hatte“; ähnl. Maatz, FS Meyer-Goßner, S. 270 (der sich über eine Überbewertung der Verwendungsabsicht beklagt). 2393 BGHSt 36, 151 (153). Für prozessuale Tatmehrheit im Erg. auch OLG Zweibrücken, NJW 1986, 2841, mit der Begründung, Tathandlung des Besitzdelikts sei das Unterlassen der Aufgabe des Besitzes, während auf der anderen Seite das mit der Waffe begangenen Verbrechen (hier ein Tötungsdelikt) ein Begehungsdelikt sei, so dass materiellrechtliche Tatmehrheit bestehe (krit. zur Begründung Mitsch, MDR 1988, S. 1007 f.; Paeffgen, GS Heinze, S. 625 Fn. 70); OLG Hamm JR 1986, 203 (204 f.), das in Übertragung der für Organisationsdelikte entwickelten Kriterien aus BGHSt 29, 288 Idealkonkurrenz und prozessuale Tatmehrheit annimmt (krit. Grünwald, StV 1986, S. 243 ff.; krit. zur Begründung, nicht aber zum Erg. Mitsch, MDR 1988, S. 1008 f.); abl. zu beiden Entscheidungen Mitsch, NStZ 1987, S. 457 f. Im Sinne der prozessualen Tatmehrheit auch: Glaser, GrünhutZ 12 (1885), S. 319 Fn. 23; Borgmann, Identität der That, S. 62 (ohne Begründung); Neuhaus, NStZ 1987, S. 140; Ranft, JuS 2003, S. 420. 2394 Siehe auch OLG Düsseldorf, NStZ-RR 1999, 176, das die für Organisationsdelikte entwickelten Grundsätze auf das Verhältnis der Dauerstraftat der Zuhälterei und Förderung der Prostitution einerseits und der Zustandsdelikte des Menschenhandels bzw. schweren Menschenhandels gem. § 180 b Abs. 2 Nrn. 1, 2; § 181 Abs. 1 Nrn. 1, 3 StGB andererseits überträgt.

2. Kap.: Der Begriff der strafprozessualen Tat

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wähnt worden ist.2395 Zwar sei das Besitzdelikt des Betäubungsmittelgesetzes ein Dauerdelikt, so dass die Fahrt mit ihm im Verhältnis der Idealkonkurrenz stehe. Der Besitz als solcher weise aber keinen eigenständigen Unrechtsgehalt auf, sondern habe lediglich den Charakter eines Auffangtatbestands. Folge davon sei, dass die Kognitionspflicht des Gerichts sich nicht auf den Nachweis des Besitzes richten müsse, sondern bereits erfüllt sei, wenn der Erwerb des Betäubungsmittels nachgewiesen werde.2396 In einem Fall, in dem jemand, der explosionsgefährliche Stoffe und Betäubungsmittel gleichzeitig in Besitz hatte, nur wegen des Besitzes der Ersteren gem. § 27 Abs. 1 SprengstoffG verurteilt worden ist, erklärte das Kammergericht eine Verfolgung wegen des Besitzes von Betäubungsmitteln für zulässig: Die Tatbestandsverwirklichungen stünden miteinander in Realkonkurrenz und eine innere Verknüpfung sei nicht gegeben.2397 In neuester Zeit hatten mehrere Oberlandesgerichte auch das Problem des Zusammentreffens eines Zustandsdelikts mit dem Dauerdelikt des Verstoßes gegen Aufenthaltsbeschränkungen (etwa § 85 Nr. 2 AsylVfG, § 95 Abs. 1 AufenthG) zu entscheiden, das mehrere Formen des unerlaubten Sich-Aufhaltens in dem Bundesgebiet unter Strafe stellt. Das OLG Stuttgart bejahte die Tatidentität: Zwar liege Realkonkurrenz vor; die innere Verknüpfung sei dennoch gegeben, weil die Begehung des Zustandsdelikts an einem bestimmten Ort schon „denkgesetzlich“ ohne die Verletzung der Aufenthaltsbeschränkung unmöglich sei.2398 Das OLG Hamburg und das OLG Celle entschieden genau umgekehrt.2399 Ersteres führte an, die für prozessuale Tatidentität hier angesichts der Realkonkurrenz erforderliche innere Verknüpfung sei nicht gegeben, weil das Zustandsdelikt nur „bei Gelegenheit“ des rechtswidrigen Aufenthalts begangen worden sei, ferner das neue Verhalten schwerer wiege als das Dauerdelikt, so dass die gegenteilige Auffassung aus

2395

BayObLG NJW 1991, 2360. In einer späteren Entscheidung sprach sich der BGH indes für Tatidentität aus, wenn die Fahrt gerade dem Transport der Drogen dient, so dass, sogar unabhängig von der materiellrechtlichen Beziehung zwischen beiden Tatbestandsverwirklichungen, die für prozessuale Tatidentität ausreichende innere Verknüpfung vorhanden sei (BGH NStZ 2009, 705). 2397 KG NStZ-RR 2008, 48 (49). Die Realkonkurrenz wird sehr knapp, allein durch den Hinweis darauf, dass beide Vorgänge lediglich zeitgleich seien, begründet. Wie sich diese Annahme damit verträgt, dass die gleichzeitige Ausübung der Gewalt über mehrere Schußwaffen, auch dann, wenn es um Waffen verschiedener Rechtskategorien geht, eine einheitliche Tat im materiellen und prozessualen Sinne darstellen soll (BGH NStZ 1984, 171; NStZ-RR 1997, 260), ist nicht ersichtlich; s. a. BGH NJW 1989, 726 (gleichzeitige Einfuhr von Waffe und Betäubungsmittel als einheitliche prozessuale Tat); ähnl. LG Freiburg StV 1991, 16. 2398 OLG Stuttgart NStZ-RR 1996, 173 (174). 2399 Hinter dem Widerspruch steckt wohl der Umstand, dass es bei der Entscheidung des OLG Celle um den Strafklageverbrauch ging, bei der Entscheidung des OLG Stuttgart dagegen um die Reichweite der Kognitionspflicht; zu diesem Problem insb. u. F. II. (S. 631 f.). 2396

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Gründen materieller Gerechtigkeit nicht hinnehmbar sei.2400 Das OLG Celle meinte seinerseits, dass eine bloß zeitliche Überschneidung beider Tatbestandsverwirklichungen keine Idealkonkurrenz begründe und dass ebenso wenig eine innere Verknüpfung vorhanden sei, wenn der Entschluss, das Zustandsdelikt zu begehen (hier: einen Diebstahl), nicht zusammen mit dem Entschluss, gegen die Aufenthaltsbeschränkung zu verstoßen, gefasst worden sei.2401 d) In der Literatur ist die Sache wie üblich umstritten. Was die Behandlung der Organisationsdelikte anbelangt, stimmt man dem BGH überwiegend zu.2402 Gelegentlich versucht man aber dadurch zu dem rechtspolitisch erwünschten Ergebnis zu kommen, dass man bereits im materiellen Recht von Realkonkurrenz ausgeht [u. aa)]. Vereinzelte Stimmen treten aber für einen umfassenden Strafklageverbrauch ein [u. bb)]. Andere wiederum bemühen sich um originelle differenzierende Lösungen [u. cc)]. aa) Zu den vielfach mit großer Subtilität entwickelten „materiellrechtlichen Ansätzen“,2403 die zwischen dem Dauer- oder wenigstens dem Organisationsdelikt und dem anderen verübten Delikt (i. d. R. ein Verbrechen) Tatmehrheit annehmen, soll hier nicht Stellung bezogen werden.2404 Aus dem o. C. VI. 1. (S. 447 ff.) Gesagten dürfte bereits klar sein, dass die Lösung des Problems der prozessualen Tatidentität nicht an das materielle Recht delegiert werden kann. Der Zwang dazu entsteht erst, wenn man daran festhält, dass Idealkonkurrenz zur prozessualen Tateinheit führe. Hier wurde begründet, dass dies nur bei einer bestimmten normativen Verwandtschaft der Fall ist (s. o. D. VII. 1. [S. 531 f.], E. 5.

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OLG Hamburg, NStZ-RR 1999, 247 (247 f.). OLG Celle NStZ-RR 2010, 248 (249 f.). Für prozessuale Tatmehrheit trotz Idealkonkurrenz in Fällen der „Rückkehr eines Verwiesenen“ Glaser, GrünhutZ 12 (1885), S. 319 Fn. 23. 2402 Etwa Peters, Strafprozeß, S. 510 f.: „Es ist etwas anderes, eine kriminelle Vereinigung zu bilden oder anzugehören und sich kriminell zu betätigen“; Krauth, FS Kleinknecht, S. 229 ff., der, vom Gedanken des Vertrauensschutzes ausgehend, die Rechtskraft nur auf die weiteren Tatbestandsverwirklichungen erstrecken will, die in der Hauptverhandlung über das Organisationsdelikt tatsächlich erörtert worden sind; Schoreit, KK-StPO § 155 Rn. 4; Schäfer, MK-StGB § 129 Rn. 173. 2403 Bezeichnung nach Erb, GA 1994, S. 270, vertreten etwa von Fleischer, NJW 1979, S. 1339 f. (nur für bestimmte Konstellationen); Gössel, JR 1982, S. 113 f.; Werle, NJW 1980, S. 2674 ff.; ders. Kokurrenz, S. 167 ff., 189 f., 195 ff., 205 ff.; und Puppe, JR 1986, S. 206 ff., die eine Aufspaltung der Dauerdelikte beim Zusammentreffen mit schwereren Straftaten vertreten (sympathisierend Paeffgen, SK-StPO § 200 Rn. 6); Mitsch, MDR 1988, S. 1001 f., der Werle und Puppe i. Erg. zust.; ders. JR 1990, S. 164; Detmer, Begriff der Tat, S. 258 ff.; Schlüchter, JZ 1991, S. 1059: Jeder neue Entschluss führe zu einer Zäsur. „Die Tateinheit erfordert einen einheitlich gefaßten und realisierten Entschluß“; die Realisierung beginne erst mit dem unmittelbaren Ansetzen i. S. v. § 22 StGB; Paeffgen, NStZ 2002, S. 287 f. Nahestehend Ranft, JuS 2003, S. 421, der die Figur der Klammerwirkung ablehnt. 2404 Zur Kritik bspw. Erb, GA 1994, S. 271 f. 2401

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[S. 582 f.]); gerade die vorliegende Fallkonstellation der Dauer- und Organisationsdelikte wird einen schönen Beleg für die Richtigkeit der hier entwickelten Theorie liefern. bb) Dagegen vertritt vor allem Grünwald einen umfassenden Strafklageverbrauch. Er greift ziemlich hoch und bemüht in diesem Zusammenhang Art. 103 Abs. 3 GG, der seiner Meinung nach dazu zwinge, bei Idealkonkurrenz von prozessualer Tateinheit auszugehen und das Verhältnis von Dauerdelikt und während dessen Begehung begangener Tat immer als Idealkonkurrenz zu begreifen.2405 Die von der Rechtsprechung bei den Organisationsdelikten eingeschlagene Linie sei „eine Bresche in den bis dahin intakten Schutzwall der Rechtskraft“.2406 Auch zwischen Waffenbesitz und Begehung einer anderen Straftat mit der Waffe liege Idealkonkurrenz vor, so dass man von Verfassungs wegen zwischen beiden prozessuale Tatidentität annehmen müsse; Wurzel des Problems sei nicht die Rechtskraftlehre, sondern das Vorhandensein einer Strafvorschrift, die an den Besitz, also an einen bloßen Zustand und nicht an ein Verhalten anknüpfe.2407 Gerade hier, wo der Verfassungstext schweigt und der berufene Verfassungsinterpret, nämlich das Bundesverfassungsgericht, seine abweichende Ansicht ausspricht,2408 mutet eine solche Berufung auf die Verfassung nicht mehr als ein o. B. IV. 8. (S. 421 ff.), D. IV. 4. a) (S. 502 ff.) bereits für unzulänglich erklärter Verweis auf Autorität an, der nicht dazu in der Lage ist, den eigenen Standpunkt mit Gründen zu untermauern.2409 Ein solcher Grund, den man nicht so sehr von Grünwald, sondern von anderen Mitstreitern geliefert bekommt, könnte der von Velten in aller Deutlichkeit formulierte Gedanke sein, dass der umfassende Strafklageverbrauch als Ausgleich für die Erleichterung der Strafverfolgung zu gewähren sei, die aus dem Vorhandensein eines Organisationsdelikts entsteht.2410 In diesem Argument liegt zweifelsohne ein zutreffender Kern: Es lässt sich als Erinnerung an die notwendige Kongruenz der Reichweite der Kognition und der des Strafklageverbrauchs deuten (s. o. D. IV. 1. [S. 484 ff.]), von der die Rechtsprechung in der Entscheidung 2405 Grünwald, FS Bockelmann, S. 742 f., 750; ders. StV 1981, S. 327 f. Im Erg. ebenso Ostendorf, NK-StGB § 129 Rn. 34; ders. JA 1980, S. 503; Cording, Strafklageverbrauch, S. 201 ff., 211; Klughardt, Terrorismus, S. 160; Fürst, §§ 129, 129a StGB, S. 249; Jakobs, AT § 33 Rn. 11 Fn. 15; Cording, Strafklageverbrauch, S. 201 ff.; Velten, SK-StPO § 264 Rn. 22, 36. Werle, JR 1979, S. 98 f., hält zwar an der Entsprechung von materiellem und prozessualem Tatbegriff fest, schließt aber nicht aus, die an sich zu bejahende Idealkonkurrenz durch Modifizierung der Grundsätze der sog. Klammerwirkung neu zu überdenken (zu seiner späteren Auffassung s. o. Fn. 2403). 2406 Grünwald, StV 1981, S. 327. 2407 Grünwald, StV 1986, S. 244 f. 2408 Siehe oben Fn. 2382. 2409 Krit. Erb, GA 1994, S. 268. 2410 Velten, SK-StPO § 264 Rn. 624.

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BGHSt 29, 288 in bedenklicher Weise Abstand genommen hat (s. o. D. IV. 1. [S. 479 f.]). Trotzdem ist dem Argument nicht zu folgen, weil es nach näherem Hinsehen eine quaternio terminorum enthält: Die Vorteile für die Verfolgung, die das Organisationsdelikt mit sich bringt, beziehen sich – wenn man an einem kongruenten Tatbegriff festhält – nur auf die Verfolgung wegen des Organisationsdelikts selbst. Kriminalistisch ist das eine große Erleichterung, denn die Verurteilung wird dazu dienen, den Verdächtigen aus dem Verkehr zu ziehen. Keiner bestreitet aber, dass die Strafklage wegen des Organisationsdelikts verbraucht sein soll. Diskutiert wird über den eventuell mitverwirklichten Mord, dessen Verfolgung durch das Vorhandensein eines Organisationsdelikts offensichtlich nicht erleichtert wird, sondern unter der Annahme eines Strafklageverbrauchs sogar erschwert würde. cc) Zu den interessantesten differenzierenden Ansätzen, die selbstverständlich nicht sämtlich dargestellt und kritisiert werden können, gehört der von Erb formulierte Vorschlag. Dieser besteht darin, zwischen Gegenstand der Anklage und Umständen, die für die Strafzumessung von Relevanz sind, zu unterscheiden. Die Sperrwirkung erstrecke sich nur auf den Gegenstand der Anklage. Bei Dauerdelikten bedeutet dies, dass nur die Begehung eines einzelnen Akts angeklagt werde. Wie oft und wie lange weitere Akte begangen werden, sei nur für die Strafzumessung von Relevanz.2411 Deshalb wäre eine nachträgliche Verfolgung erst im Falle eines schwereren Delikts möglich;2412 der Verfolgung der anderen Teilakte stünde die materiellrechtliche Regelung des § 52 Abs. 1 StGB entgegen.2413 Bei nachträglicher Bestrafung sei eine „wechselseitige Anrechnung“ unter analoger Heranziehung der §§ 51, 52 StGB vorzunehmen.2414 Erb ist entschieden zuzustimmen, wenn er behauptet, dass das ganze Leben des Angeklagten unmöglich Prozessgegenstand sein könne.2415 Auf der anderen Seite vermag auch seine Ansicht nicht wirklich zu überzeugen.2416 Er selbst erkennt die Nebenfolgen seiner These, dass nur ein einzelner Akt des Dauerdelikts Gegenstand der Anklage sei: nämlich dass die Sperrwirkung nur in Bezug auf diesen einzigen Akt eintreten kann. Die Zuhilfenahme des § 52 Abs. 1 StGB kommt zu spät, denn sie regelt nur das Urteil, verbietet aber nicht, dass ein neuer Prozess geführt wird. In der Konsequenz seiner Ansicht liegt deshalb eine völlige Entwertung der Rechtskraft bei Dauerdelikten.

2411 Erb, GA 1994, S. 275 f. Bei Besitzdelikten, bezüglich derer man nur schwer von einzelnen Akten sprechen kann, komme es auf bestimmte „Eckpunkte“ an (S. 281). 2412 Erb, GA 1994, S. 278. 2413 Erb, GA 1994, S. 276. 2414 Erb, GA 1994, S. 279 f.; ders. NStZ 1998, S. 254. 2415 Erb, GA 1994, S. 280 f. Zust. zitiert von BGHSt 43, 252 (257). 2416 Krit. a. Paeffgen, GS Heinze, S. 629 f.

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e) Gibt es also keine Alternative zu der wilden Rechtsprechungskasuistik?2417 Ist eine vernünftige Lösung erst von einem Einschreiten des Gesetzgebers zu erwarten?2418 Diese Annahmen wären verfrüht. Die o. D. VII. 1., 2. (S. 528 ff., 537 ff.) gewonnenen Kriterien dürften bestens ausgerüstet sein, um überprüfbare, intuitiv einleuchtende und vor allem legitimationstheoretisch gut begründete Ergebnisse zu liefern. aa) Die Fallgruppe des Organisationsdelikts lässt sich auf Grundlage der oben entwickelten Gedanken folgendermaßen lösen: Zwar können auf der faktischen Ebene sogar gelegentlich die für die Tatidentität erforderlichen Voraussetzungen gegeben sein. Solange man nicht mit einer vereinzelt verbliebenen Meinung Mitgliedschaft mit einer Beteiligung als Täter oder Teilnehmer an den einzelnen Straftaten verlangt,2419 sondern auch sonstige organisationsbefördernde Handlungen miteinbezieht, 2420 werden in vielen Fällen die Tatsachen, die den Verdacht der Zugehörigkeit zur kriminellen oder terroristischen Organisation begründen, nicht einmal Andeutungen sein, dass der Verdächtige sich an weiteren einzelnen Straftaten beteiligt haben kann. Nicht einmal wenn es um eine Organisation geht, die sich zu ihrer verbrecherischen Ausrichtung in aller Offenheit bekennt, wie die RAF oder al-Qaida, heißt das, dass derjenige, der der Mitgliedschaft verdächtigt wird, sich automatisch die Hände mit konkreten anderen Straftaten befleckt haben könnte. Die auf der normativen Ebene angesiedelten Voraussetzungen der Tatidentität sind aber eindeutig nicht gegeben. Das Organisationsdelikt ist weder ein Mehr oder Weniger im Verhältnis zu den anderen Straftaten, noch mit ihnen vergleichbar. Es ist weder möglich, in der Anklage wegen eines Tötungsdelikts die Zugehörigkeit zu einer Organisation mitenthalten zu sehen, noch beinhaltet die Anklage wegen Letzterer umgekehrt automatisch den Verdacht einer Tötung. Höchstens kleinere Straftaten, die man als typische Begleittaten der Konsumtion zuschlagen könnte, könnte man als in der Anklage wegen des Organisations2417 So insb. Fezer, Tatbegriff, S. 133 ff.: Der Tatbestand des § 129 StGB passe schlichtweg nicht zur Struktur des reformierten Strafverfahrens. Eine „Lösung“ gebe es deshalb nicht. 2418 Vorschläge de lege ferenda etwa bei Sack, NJW 1976, S. 606 f.; ders. ZRP 1976, S. 259; ders. ZRP 1978, S. 72; Fleischer, NJW 1979, S. 1340, der für eine Neufassung des § 129 StGB eintritt, die eine Überschneidung zwischen Organisationsdelikt und Einzelstraftat unmöglich machen würde. Zur Diskussion Dästner, RuP 1978, S. 219 ff.; Grünwald, FS Bockelmann, S. 748 ff.; Werle, JR 1979, S. 94 f.; Klughardt, Terrorismus, S. 152 ff., alle m.w. Nachw. auch sonstiger Vorschläge. 2419 Rudolphi, SK-StGB 6. Aufl. § 129 Rn. 16 (zit. nach Rudolphi/Stein, SK-StGB 63. Lfg. [2005], § 129 Rn. 16 b); ausdrücklich aufgegeben in der jetzigen Neubearbeitung, s. Rudolphi/Stein, SK-StGB 63. Lfg. (2005), § 129 Rn. 16 b. 2420 So etwa BGHSt 29, 114 (122: „Teilnahme am Verbandsleben“); Rudolphi/Stein, SK-StGB 63. Lfg. (2005), § 129 Rn. 16 ff.; Lenckner/Sternberg-Lieben, in: Schönke/ Schröder-StGB, § 129 Rn. 13.

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delikts enthalten ansehen. Nur insoweit erweist sich der Hinweis der Rechtsprechung auf die Höhe der Strafandrohungen als richtig.2421 Die Rechtsprechung hat also im Ergebnis recht; ihre verschwommenen Berufungen auf Gerechtigkeit, Vertrauensschutz und ein vermeintliches Wesen des Organisationsdelikts sind ad hoc und nur Hülsen, die das Bedürfnis für nähere theoretische Durchdringung belegen, das hoffentlich von der hier gebotenen Theorie befriedigt wird. bb) Einfacher erscheint die Lage beim Dauerdelikt des Fahrens ohne Fahrerlaubnis.2422 Hier dürfte es regelmäßig bereits auf der faktischen Ebene an dem für die Tatidentität erforderlichen Zusammenhang fehlen.2423 Vielmehr dürften viele der Verfahren, die wegen des Vergehens des § 21 StVG durchgeführt werden, allein auf den verdachtsbegründenden Tatsachen beruhen, dass der für die Verkehrskontrolle verantwortliche Polizist nach dem Führerschein des Verdächtigen gefragt hat, ohne dass dieser ihn vorzeigen konnte. Dass jemand, der ohne Fahrerlaubnis fährt, möglicherweise auch Diebstähle, oder noch schlimmer, Raubund Sexualdelikte begangen haben soll, wird man regelmäßig nur durch einen abenteuerlichen Ermittlungsverlauf entdecken können. Auf der normativen Ebene wird es erst recht an den Voraussetzungen für prozessuale Tatidentität mangeln. Denn dass ein Raub oder eine Vergewaltigung einer bloßen, ohne Fahrerlaubnis durchgeführten Fahrt normativ gleichwertig sein könnten, dass die Verdächtigung wegen einer solchen Fahrt einer Verdächtigung der Begehung eines schweren Gewaltverbrechens vergleichbar ist, ist schlechthin abwegig.2424 Also ist Fezer nicht zuzustimmen, wenn er behauptet: „Die Kognitionspflicht gebietet es auch, das Fahren ohne Fahrerlaubnis z. B. unter dem Aspekt der Tötungsdelikte zu würdigen“.2425 „So gesehen muß der Beschuldigte ,mit allem rechnen‘.“ 2426 Müsste der Beschuldigte tatsächlich mit allem rechnen, könnte von einem Anklageprinzip nicht mehr die Rede sein. Im Ergebnis ist dem OLG Koblenz dahingehend Recht zu geben, wenn es sich in einer der wenigen die Tatidentität verneinenden Entscheidungen theoretisch verlegen auf einen 2421 Krit. gerade hierzu Grünwald, StV 1981, S. 328; Gössel, JR 1982, S. 113; Krauth, FS Kleinknecht, S. 221, der die damit verbundene Unsicherheit rügt. Neuhaus, Tatbegriff, S. 87 f. stellt treffend fest, dass durch diesen Schritt die Ebene des Deskriptiven überschritten wird. Schöneborn, MDR 1974, S. 535 stellt dennoch auf die Schwere des Dauerdelikts ab. 2422 Gegen Tatidentität auch: Krauth, FS Kleinknecht, S. 241; Murmann, Strafprozessrecht, Rn. 308. 2423 Ebenso Paeffgen, NStZ 2002, S. 287, anhand seines Kriteriums der „fachgerechten Ermittlungsrichtung“ (bereits o. Fn. 2127). 2424 Siehe auch Mattil, DStR 1942, S. 69. 2425 Fezer, Tatbegriff, S. 129. 2426 Fezer, Tatbegriff, S. 130.

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„Grundsatz gerechter Gesetzesauslegung“ beruft und auf das Wertgefälle zwischen der durch die Fahrt verkörperten und der im Zusammenhang der Fahrt begangenen Tat (hier: § 24a StVG und sexuelle Nötigung) verweist.2427 Die Widersinnigkeit der Annahme von Tatidentität leuchtet ferner unmittelbar ein. Ansonsten wäre Verbrechern dringend zu empfehlen, auf Fahrerlaubnisse schlichtweg zu verzichten, sich aber regelmäßig von der Verkehrskontrolle erwischen zu lassen, um sich umfassende Straffreiheit zuzusichern. Sie bräuchten nicht einmal unseren kriminellen Supercomputer (s. o. C. VI. 1. [S. 448 f.]), das Gedankenexperiment, von dem die jetzige Erwägung nur eine sektorielle Konkretisierung darstellt. Dass es im Internet noch keine derartigen juristischen Ratgeber für Kriminelle gibt, die solche Empfehlungen enthalten, ist wahrscheinlich nur der Tatsache geschuldet, dass die Rechtsprechung sogar für den Fachmann schwer übersichtlich ist. cc) Tendenziell ähnlich verhält es sich auch hinsichtlich des Dauerdelikts des unerlaubten Waffenbesitzes.2428 Was die faktischen Erfordernisse anbelangt, lässt sich aus der Perspektive desjenigen, der am Schreibtisch sitzt, wenig sagen (s. o. D. VII. 2. [S. 537 ff.], 3. [S. 539]). Es wird je nach der Lage des Einzelfalls zu differenzieren sein. Gesichert erscheint nur, dass ein Schluss aus dem unerlaubten Besitz einer Waffe auf die Begehung von Verbrechen mit dieser Waffe von der allgemeinen Lebenserfahrung nicht gestattet wird. Es mag aber sein, dass die im Einzelfall vorhandenen verdachtsbegründenden Tatsachen gleichzeitig als Andeutungen einer möglichen Begehung der späteren Tat fungieren. Insofern erscheint das Kriterium der neueren Rechtsprechung, die wegen der Selbstständigkeit des späteren Entschlusses sogar auf der materiellrechtlichen Ebene von Tatmehrheit ausgeht, als ein noch nicht überzeugender, dennoch aber in die richtige Richtung weisender Versuch zur Lösung der vorliegenden Problematik. Entscheidend ist aber nicht das Vorhandensein der psychischen Größe eines von vornherein bestehenden oder erst nachträglich gefassten Entschlusses, sondern das Vorhandensein objektiver verdachtsbegründender Tatsachen im Hinblick auf die spätere Tat. Auf der normativen Ebene fallen aber die Würfel eindeutig gegen jede prozessuale Tatidentität. Denn die Verdächtigung, dass man unerlaubt eine Waffe in Besitz habe, tritt nicht im Wege der Gesetzeskonkurrenz hinter der Begehung von Taten mit der Waffe zurück; vergleichbar sind die beiden Tatbestände ebenso wenig, da sich ihr Unrechtsgehalt kaum deckt. Die Begehung der Tat mit der Waffe ist auch keine bloße Vertiefung des Unrechts des Waffenbesitzes. Diese Zusammenhänge belegen, dass es entgegen Mitsch gerade nicht stimmt, dass „der Unrechtsgehalt des Waffendelikts von dem Waffendelikt gewissermaßen absorbiert“ 2427 2428

OLG Koblenz MDR 1978, S. 246. Gegen Tatidentität ebenso Krauth, FS Kleinknecht, S. 241 Fn. 65.

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werde oder „dass der Schutzzweck des § 53 Abs. 1 Nr. 3a WaffG mit dem des § 212 StGB qualitativ identisch“ sei bzw. dass zwischen beiden Vorschriften „nur ein gradueller Unterschied [bestehe]“.2429 Man könnte fragen, ob dies angesichts der Tatsache, dass bei einigen Straftatbeständen das Beisichführen oder das Verwenden einer Waffe als Qualifikation vorgesehen ist (insb. §§ 244 Abs. 1 Nr. 1 a; 250 Abs. 1 Nr. 1 a, Abs. 2 Nr. 1, 2 StGB), auch in Bezug auf solche Tatbestände zu gelten habe. Verhält es sich hier nicht ähnlich wie bei den Konstellationen von Totschlag/gemeingefährlichem Delikt (o. D. VII. 1. [S. 526 f.]) oder Betrug/Brandstiftung (o. E. 6. [S. 590 ff.]), in denen die kombinierte Anwendung unserer Abwandlungsregeln eine Änderung der Anklage in die „Diagonale“ gestattet hatte? Diese Grundsätze sind aber in der jetzigen Konstellation nicht einschlägig. Die erwähnten Qualifikationen des Diebstahls und des Raubs beruhen schlicht darauf, dass eine Waffe mit ins Spiel gekommen ist; ob der Waffenbesitz erlaubt oder unerlaubt war, ist demgegenüber völlig gleichgültig.2430 Die erhöhte Gefährlichkeit eines mit einer Waffe begangenen Diebstahls oder Raubs ist unabhängig davon, ob ein Verstoß gegen § 53 WaffG gegeben war oder nicht. Insofern führt die kombinierte Anwendung unserer normativen Umwandlungsregeln zu keinem unterschiedlichen Ergebnis. Prozessuale Tatidentität liegt in solchen Fällen nicht vor. dd) Alle weiteren oben erwähnten Fälle, in denen die Rechtsprechung überwiegend Spagate machen musste, um die Tatidentität abzulehnen, sind hier ohne Schwierigkeiten im gleichen Sinne zu lösen: Die Verdächtigung wegen Spionage hat eine völlig andere Richtung als eine Verdächtigung wegen Entführung, und ebenso verhält es sich mit dem Besitz von Betäubungsmitteln und dem Fahren im fahruntüchtigen Zustand oder mit Verstößen gegen das Aufenthaltsgesetz und einzelnen weiteren Straftaten. f) Als zusammenfassendes Ergebnis lässt sich festhalten, dass die Konstellation der Dauer- und Organisationsdelikte, die der h. M. so viel Kopfzerbrechen veranlasst hat, für einen Ansatz, der das Anklageprinzip ernst nimmt und deshalb die Reichweite der Kognitionspflicht auf die von der Anklage begründeten Vorwurfsrichtungen und Ermittlungsrichtungen beschränkt, keinerlei Schwierigkeiten bedeutet. Die Wurzel des Übels ist die im geschichtlich orientierten Tatbegriff der h. M. angelegte Gleichsetzung von Idealkonkurrenz und prozessualer Tatidentität. Zerreißt man dieses Band, erkennt man in der Idealkonkurrenz vielmehr ein Anzeichen für die Eigenständigkeit der Vorwürfe und deshalb auch der prozessualen Taten (s. o. D. VII. 1. [S. 531 f.], E. 5. [S. 582 f.]), dann ist der Weg zur befriedigenden Lösung der vorliegenden Fälle vorgezeichnet.

2429 Mitsch, NStZ 1987, S. 458; s. a. ders. MDR 1988, S. 1007, mit der schiefen Behauptung, beide Vorschriften „bezwecken den Schutz identischer Rechtsgüter“. 2430 Siehe bereits Mattil, DStR 1942, S. 169.

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Man kann bedauern, dass der vorliegende Weg eine erhebliche Einschränkung der richterlichen Kognition bedeutet: Erkennt man erst in der Hauptverhandlung, dass das Organisationsmitglied einen Mord begangen hat, wird man den aufwändigeren Weg des § 266 StPO einschlagen müssen. Man kann aber nicht alles haben; entgegen BGHSt 29, 288 (297 f.) kann die Nachtragsanklage nur derjenige entbehren, der bereit ist, den Strafklageverbrauch auf den Mord zu erstrecken. Dies ist aber bereits deshalb kein gangbarer Weg, weil der Richter, der den Vorwurf des Mordes formuliert, sich aus den o. D. VII. 1. (S. 528 ff.), 2. (S. 537 f.) ausgeführten Gründen zum Ankläger erhoben (oder erniedrigt) hat. So verbleibt die vorliegende Auffassung als einzige Möglichkeit, sowohl die Kongruenz der prozessualen Tat als auch das Anklageprinzip unangetastet zu lassen. 9. Alternativität, insbesondere Anschlussdelikte Eine besonders interessante Fallgruppe bildet diejenige der sogenannten Alternativität. Hiervon spricht man, wenn es zwei Straftaten gibt, deretwegen sich der Beschuldigte strafbar gemacht haben kann, aber die Verurteilung wegen der einen Straftat die Verurteilung wegen der anderen ausschließt.2431 Diese Fälle ähneln denjenigen der Realkonkurrenz, denn es wird um zwei Tatbestände gehen, die nicht durch die dieselbe Handlung verwirklicht werden, freilich mit dem Unterschied, dass hier mindestens eine der Tatbestandsverwirklichungen bloß hypothetisch ist. a) Die Rechtsprechung scheint letztlich eine klare Linie gefunden zu haben. Trotz einiger Entscheidungen von Oberlandesgerichten, in denen Tatidentität bejaht wurde,2432 hat der BGH das Kriterium ausdrücklich abgelehnt2433 und allein die allgemeinen Kriterien für anwendbar erklärt.2434 Hauptargumente der OLG waren erstens die Gefahr einander widersprechender Entscheidungen, insbesondere einer Doppelbestrafung,2435 zweitens die Erwägung, dass das Gericht ohne2431

Ähnl. Umschreibung bei Neuhaus, MDR 1989, S. 213. OLG Celle NJW 1968, 2390; NJW 1979, 228: „der in der Anklage bezeichnete Sachverhalt und sein negatives Spiegelbild gehören zum selben Lebenssachverhalt i. S. von § 264 StPO“; OLG Düsseldorf JR 1980, 470; OLG Zweibrücken NJW 1980, 2144; OLG Stuttgart MDR 1980, 954; OLG Hamm NJW 1981, 237; StV 1984, 15 (im Einzelfall aber abl.); BayObLG NJW 1984, 187; in der Sache sehr ähnl. BayObLG NJW 1965, 2211 (das die Wahlfeststellung auch jenseits der Grenzen der Anklage für zulässig hält); s. a. die von Schöneborn, MDR 1974, S. 532 ff. angeführten Entscheidungen des RG und BGH; explizit in diesem Sinne auf jeden Fall RGSt 9, 421 (422). 2433 BGHSt 32, 146 (149); ebenso OLG Frankfurt NStZ 1988, 92. 2434 BGH NJW 1955, 1240 (bei einander widersprechenden Aussagen desselben Zeugen innerhalb verschiedener Rechtszüge die Tatidentität abl.); BGHSt 35, 60 (63); BayObLG NStZ 1984, 569 (gegen Tatidentität); OLG Celle JZ 1985, 147 (gegen Tatidentität). 2435 OLG Celle NJW 1968, 2390 (2392); OLG Zweibrücken NJW 1980, 2144; OLG Stuttgart MDR 1980, 954. 2432

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

hin den Wahrheitsgehalt des alternativen Vorwurfs aufklären müsse.2436 Es empfiehlt sich, einige aufschlussreiche und für die Entwicklung der Diskussion bedeutsame Fälle Revue passieren zu lassen. aa) Bereits das Reichsgericht hat in einer vielfach kritisierten2437 Entscheidung verhindert, dass ein Mann, der wegen Nichtanzeige eines Mordes (§ 138 StGB) freigesprochen worden war, später wegen Anstiftung zum Mord verurteilt wurde.2438 bb) Auch das Reichsgericht hat in einem Fall, in dem es um Betrug oder Unterschlagung ging – die Unterschlagung war damals nicht als „Supereigentumsschutztatbestand“ konzipiert,2439 sondern setzte voraus, dass man die fremde bewegliche Sache in seinem „Besitz oder Gewahrsam“ hatte –, beschlossen, dass beide gerade deshalb, weil sie sich gegenseitig ausschließen, zur selben prozessualen Tat gehören würden.2440 cc) Ein vor Kurzem vom BGH entschiedener Fall hatte die Frage zu klären, ob Brandstiftung und unterlassene Hilfeleistung eine einheitliche Tat im prozessualen Sinne begründen können.2441 Der BGH stellte zunächst fest, dass Wahlfeststellung möglich sei; entscheidend sei aber die Identität des geschichtlichen Vorgangs, die im konkreten Fall nicht gegeben sei. Denn in der Anklage sei von einer „Brandlegung durch die Angeklagte und anschließender Flucht aus der Wohnung“ die Rede gewesen, während das Urteil von einem anderen Geschehen, nämlich „Verlassen der Wohnung vor der Brandlegung und anschließende Rückkehr zur Wohnung, nachdem der Brand bereits gelegt und der Unglücksfall damit eingetreten war“, ausgegangen sei. 2436 OLG Celle NJW 1979, 228; OLG Düsseldorf JR 1980, 470. Weitere Argumente gab es durchaus: etwa BayObLG 1984, 187 (188), das von einer inneren Verknüpfung der alternativen Vorwürfe sprach. 2437 Binding, Strafurteil, S. 334 f.; Oetker, JW 1929, S. 1081; Schwinge, ZStW 52 (1932), S. 235 Fn. 70; ders. DJ 1941, S. 1065; Nagler, ZAkdR 6 (1939), S. 372 („ewig unverständlich bleibende Entscheidung“); Hall, RW 1941, S. 321 f.; Mattil, DStR 1942, S. 166 (wenn auch inkonsequent); Oehler, FS Rosenfeld, S. 144 („offensichtliche Fehlentscheidung“), 150; Peters, Individualgerechtigkeit, S. 203 („Formalismus“); ders. Strafprozeß, S. 510; Pfenninger, Rechtsmittel, S. 335 Fn. 4; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 387; Achenbach, ZStW 87 (1975), S. 93 Fn. 69; Detmer, Begriff der Tat, S. 289; zust. aber Gelbert, JW 1934, S. 2893 f.; Geerds, Konkurrenz, S. 362 Fn. 677; Spinellis, Rechtskraft, S. 104; Barthel, Begriff der Tat, S. 106; Schöneborn, MDR 1974, S. 532; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 20 Rn. 10. 2438 RGSt 21, 78 (82 f.); s. a. 14, 78 (79); 28, 12 (13 f.); 28, 321 (323); 53, 169 (170); OLG Celle, NJW 1961, 1080 (1081). 2439 Von einem Auffangtatbestand sprechen Lackner/Kühl, StGB § 246 Rn. 1; Wessels/Hillenkamp BT/II Rn. 276. 2440 RGSt 9, 420 (421) – auch angeführt von Schöneborn, MDR 1974, S. 532 (zust.), der aber zugleich RGSt 44, 116 miterwähnt, in der es zwar um die gleiche Frage ging, das Argument der Alternativität aber nicht auftaucht. 2441 BGH NStZ 2009, 286. Davor BGHSt 16, 200; OLG Celle NJW 1961, 1080 (vorsätzliche Körperverletzung, unterlassene Hilfeleistung).

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d) Sehr unübersichtlich gestaltet sich in der Rechtsprechung die auch in den vorliegenden Zusammenhang einzuordnende Frage des Verhältnisses zwischen einem Anschlussdelikt und der vorherigen Tatbestandsverwirklichung. aa) Bezüglich des Verhältnisses zwischen Hehlerei und Diebstahl hieß es in der früheren Rechtsprechung, dass das Tatobjekt entscheidend sei: Geht es um ein und dieselbe Sache, liege nur eine Tat im prozessualen Sinne vor.2442 Später wurde für prozessuale Tatidentität eine besondere räumliche, zeitliche und auf Tatumstände gestützte Nähe verlangt.2443 bb) Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Vortat und Begünstigung ging die Rechtsprechung ursprünglich ebenfalls von einer einheitlichen Tat aus.2444 Inzwischen hat der BGH seinen Standpunkt geändert: Wegen der unterschiedlichen Angriffsrichtungen und der unterschiedlichen Motivationslagen beider Tatbestandsverwirklichungen seien mehrere Taten im prozessualen Sinne gegeben.2445 cc) Eine parallele Entwicklung ergab sich auch hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Vortat und Strafvereitelung. Nahm die frühere Rechtsprechung noch eine einheitliche prozessuale Tat an,2446 entscheidet sich der BGH für verschiedene Taten,2447 erstens weil es um Taten verschiedener Personen gehe,2448 zwei2442 RGSt 5, 249 (251); 8, 135 (140 f.), u. a. mit dem Argument, es gehe bei der Hehlerei wie auch bei der Begünstigung um Beteiligung im weiten Sinne; 12, 187 (189 f.), auch mit diesem Argument; 8, 321 (323); 26, 358 (anderer Gegenstand, keine Tatidentität); 55, 76 (77); BGHSt 2, 371 (372); BGH MDR 1954, 17; aus der Lit.: Eichhorn, GS 38 (1886), S. 421; Schlosky, GA 1927, S. 293, 294; Oetker, JW 1929, S. 1080 f.; Schwinge, ZStW 52 (1932), S. 233; Niederreuther, DStR 1936, S. 173; ders. DJ 1942, S. 111; Hall, RW 1941, S. 318 f.; Spinellis, Rechtskraft, S. 104; Bindokat, GA 1967, S. 367; Barthel, Begriff der Tat, S. 100; Peters, Strafprozeß, S. 510; Gillmeister, NStZ 1989, S. 3 f.; krit. Mittermaier, NArchCrimR 1850, S. 520; Binding, Strafurteil, S. 333 f.; Liu, Identität der Tat, S. 85; Preiser, ZStW 58 (1939), S. 753 f.; Oehler, FS Rosenfeld, S. 150, weil sich die Handlungen nicht decken; Heinitz, JZ 1952, S. 103 Fn. 28. 2443 BGHSt 35, 60 (64) – im Einzelfall abl. (nebenbei gesagt ging es in dieser Entscheidung aber um Raub, nicht um Diebstahl); BGH NStZ 1999, 523; OLG NJW 1988, 1225 (1226); zust. Cl. Schröder, NJW 1985, S. 985; Kröpil, NJW 1988, S. 1189; Gössel, NStZ 1989, S. 547; Beulke/Fahl, Jura 1998, S. 262, 263. 2444 RGSt 55, 76 (77 f.); BGHSt 2, 371 (372); s. a. die o. in Fn. 2442 erwähnten obiter dicta in RGSt 8, 135 und 12, 187; Glaser, GS 36 (1884), S. 108; Schlosky, GA 1927, S. 293; Niederreuther, DStR 1936, S. 173; Hall, RW 1941, S. 318 (Begünstigung und Anstiftung); Roxin, JZ 1988, S. 261 f. Eine Bemerkung: Einige dieser Fundstellen beziehen sich z. T. auf die Strafvereitelung, da dieses Delikt bis 1974 persönliche Begünstigung genannt wurde (näher C. Neumann, Anschlußdelikte, S. 408 ff.). 2445 BGHSt 35, 80 (82); OLG Frankfurt NStZ 1988, 92 (Vortat war hier aber ein Diebstahl); für mehrere Taten auch Rosenfeld, Reichs-Strafprozeß, S. 239 Fn. 12; Koffka, JR 1969, S. 155; Beulke/Fahl, Jura 1998, S. 263; Steinberg/Stam, Jura 2010, S. 910. 2446 RGSt 25, 334 (336 f.); 62, 112 (112 f.); OLG Stuttgart MDR 1980, 954; OLG Zweibrücken NJW 1980, 2144. 2447 BGHSt 32, 215 (216 f.); BayObLG NStZ 1984, 569; ebenso Roxin, JR 1984, S. 346 ff., m. weiterführenden Erwägungen S. 348 f.; Jung, JZ 1984, S. 535; Detmer,

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tens auch wegen der unterschiedlichen Angriffsrichtung der beiden Tatbestandsverwirklichungen.2449 Der naheliegende Einwand, sowohl die Begünstigung als auch die Strafvereitelung seien besonders beteiligungsnah, wird mit der eher gefühlsmäßigen Begründung zurückgewiesen, dass ein solcher weiter Beteiligungsbegriff „wesentliche Unterschiede einebnen“ würde.2450 b) In der Literatur besteht eine Fülle von Meinungen. Während einige Autoren sich auf der Linie der neuen Rechtsprechung bewegen,2451 plädieren andere für einen beide Alternativen erfassenden Tatbegriff. Bereits 1873 bemerkte Heffter, dass „eine neue Anklage wegen eines jetzt behaupteten Thatbestandes ausgeschlossen (wird), welcher den thatsächlichen Feststellungen des vorherigen Richterspruchs in Ansehung des nämlichen in beiden Anklagen gemeinten materiellen Hergangs widersprechen würde“,2452 eine zwar eher dunkle und ohne Beispiele erläuterte Passage, die trotzdem eine Vorahnung des Gesichtspunkts der Alternativität erkennen lässt. In einem fast genau hundert Jahre später veröffentlichten grundlegenden Aufsatz hat dann Schöneborn völlig selbständig die Auffassung entwickelt, nach der in solchen Fällen prozessuale Tatidentität zu bejahen sei.2453 Er beruft sich auf Gründe der Verfahrensökonomie, die seines Erachtens dem Tatbegriff zugrunde liegen, ferner auf das Erfordernis der Vermeidung „sich gegenseitig blockierender Urteile“, die den Schuldigen ungebührend bevorteilen,2454 und interpretiert eine Reihe von höchstrichterlichen Entscheidungen vor allem des Reichsgerichts als implizite Anerkennungen dieser Theorie.2455 Anschließend hat Grünwald vorgeschlagen, „immer dann“ eine einheitliche Tat anzunehmen, „. . . wenn ein Verfahren wegen dieses Sachverhalts parallel zu dem ersten die Gefahr materiellrechtlich unvereinbarer Entscheidungen begründet hätte, d.h. wenn eine Verurteilung in beiden Verfahren ein nach materiellem Recht widersprüchliches Ergebnis darstellen würde“.2456 Begriff der Tat, S. 157; Ranft, JuS 2003, S. 418; Beulke, Strafverfahrensrecht, Rn. 521; Steinberg/Stam, Jura 2010, S. 910. Die Entscheidung BGH NStZ-RR 1999, 48, die demgegenüber Tatidentität annimmt, widerspricht dem nicht, denn sie betrifft einen Fall, in dem die Strafvereitelungshandlung in der Anklage explizit geschildert wurde. 2448 BGHSt 32, 215 (216 f.). 2449 BGHSt 32, 215 (220); OLG Celle JZ 1985, 147 (148); OLG Frankfurt NStZ 1988, 92. 2450 BGHSt 32, 215 (220). 2451 Nachw. o. Fn. 2449 und u. Fn. 2457. 2452 Heffter, Non bis in idem, S. 21. 2453 Schöneborn, MDR 1974, S. 529 ff. 2454 Schöneborn, MDR 1974, S. 529. 2455 Schöneborn, MDR 1974, S. 532 ff. 2456 Grünwald, ZStW-Beiheft 1974, S. 108; ebenso Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 20 Rn. 10 f. Weiterführend Gillmeister, NStZ 1989, S. 5, der bei einer Anklage wegen des Anschlussdelikts die Vortat aus Gründen, die dem Alternativitätsgedanken entsprechen, für mitangeklagt erklärt, im umgekehrten Fall einer Anklage wegen der Vortat das Anschlussdelikt für nicht erfasst erachtet; ähnl. W. Bauer, wistra

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c) Was aus der hier entwickelten Perspektive für die Fallgruppe der Alternativität folgt, dürfte niemanden mehr überraschen: Sie entbehrt jeglicher Bedeutung bei der Bestimmung der strafprozessualen Tat.2457 aa) Bereits aus dem Sinn des Tatbegriffs als Operationalisierung des Anklagegrundsatzes lässt sich für eine Rechtsordnung wie die deutsche, die sowohl ein Legalitätsprinzip als auch einen Straftatbestand des Vortäuschens einer Straftat kennt (§ 145d StGB), zwingend ableiten, dass Alternativität irrelevant sein muss: Ansonsten könnte jeder die Staatsanwaltschaft zur Anklageerhebung zwingen, und zwar auch wegen schwerster Straftaten, für deren Existenz sie nicht den geringsten Beweis besitzt und die sie deshalb im Strafverfahren nicht beweisen können wird, allein dadurch, dass er sich selbst der Begehung dieser Straftaten so anzeigt, dass bereits dieses Verhalten einen hinreichenden Verdacht des § 145d StGB begründet. Die Anklage wegen des Verdachts dieser Tatbestandsverwirklichung würde nämlich auch den Verdacht des Mordes erfassen. Wirkliche Täter könnten dadurch verfrühte Anklagen und somit auch relativ sichere Freisprüche erzwingen. Das Anklageprinzip, das auf der vernunftnotwendigen Übernahme von Verantwortung für schwerwiegende Taten (wie eine Anklageerhebung) beruht (s. o. C. III. 2. b) [S. 390 ff.]), wäre in sich selbst verkehrt, wenn nicht der Ankläger, sondern der Angeklagte die Entscheidung über die Erhebung der Anklage treffen dürfte. Der Gedanke der Alternativität führt im vorliegenden Zusammenhang zu nichts anderem als zu einer zweifelhaften negativen Feststellungsklage im Strafprozess,2458 bei der aber nicht der Kläger (der Verdächtige), sondern der Beklagte die Beweislast trägt. bb) Ferner sind die zwei oben angeführten Argumente der OLG nicht überzeugend. (1) Dass die Vermeidung widersprechender Entscheidungen keine Erwägung ist, die bei der Bestimmung der Reichweite der prozessualen Tat eine Rolle spielen muss, wurde schon o. B. IV. 7. (S. 418 ff.) dargelegt, worauf verwiesen wird: Drohende Widersprüche sind ein Grund, Verfahren zu verbinden,2459 nicht aber ein Grund, den impliziten Gehalt der Anklage zu erweitern. 1990, S. 220 (inzw. anders, s. nächste Fn.); und Velten, SK-StPO § 264 Rn. 49 f., die in beide Richtungen eine einheitliche Tat annehmen möchte; s. a. Peters, FS Kern, S. 356 für den Fall der falschen Verdächtigung wegen einer Straftat, die man begangen hat. Auf Grundlage des früheren italienischen Rechts sehr ähnl. La Rocca, Fatto, S. 111 ff. 2457 Ebenso Koffka, JR 1969, S. 155; Bottke, JA 1982, S. 219; Cl. Schröder, NJW 1985, S. 985; Neuhaus, Tatbegriff, S. 115 f.; ders. MDR 1989, S. 214 f.; Wolter, GA 1986, S. 161 ff.; Roxin, JZ 1988, S. 260 f.; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 122 f.; Meyer-Goßner, FS Salger, S. 351. Weitergehend Fezer, Strafprozeßrecht, Fall 18 Rn. 41: Alternativität schließe Tatidentität aus. Anders auch W. Bauer, NStZ 2003, S. 175, der im Anschluss an das römische Recht (!) für eine Anrechnung von Strafen plädiert (s. a. ders. wistra 2008, S. 376). 2458 De lege ferenda dennoch Binding, Rechtsgang I (1913), S. 9 f. 2459 Siehe bereits o. B. IV. 7. (S. 418 ff.) und Fn. 1597.

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(2) Und die Erforderlichkeit, sich im Rahmen des Verfahrens mit den alternativen Vorwürfen zu beschäftigen – die wohlgemerkt weder notwendig, noch hinreichend für alle Fälle der Alternativität ist2460 –, erweitert nicht den Prozessgegenstand, sondern bloß den o. B. I. (S. 379) sog. Prozessstoff.2461 cc) Die einzelnen Fallgruppen lassen sich also sämtlich mittels der hier entwickelten Theorie lösen. Besondere Kriterien sind nicht erforderlich. Es sei nur zur Klarstellung gesagt, dass die gelegentlich in der Rechtsprechung vertretene Auffassung, die zwecks einer wahldeutigen Verurteilung eine Klageumgestaltung immer bereits dort für zulässig erachtete, wo das abstrakte Verhältnis zwischen den Straftatbeständen eine Wahlfeststellung gestattete,2462 eine unangemessene Halbierung darstellt, die die faktischen Voraussetzungen der Tatidentität außer Acht lässt. Dies wird daran ersichtlich, dass die Zugrundelegung dieser Kriterien bei einer Anklage wegen eines bestimmten Diebstahls eine Verurteilung wegen eines beliebigen anderen Diebstahls gestatten würde, den der Beschuldigte stattdessen irgendwann begangen haben könnte. (1) Bei der Nichtanzeige geplanter Straftaten und einem Mord führen die vorliegenden Kriterien, wie bereits o. 2. f) (S. 556 f.) knapp ausgeführt wurde, zu einer einheitlichen prozessualen Tat. Auf der faktischen Ebene werden die Tatsachen, die den Verdacht der Nichtanzeige eines Mordes begründen, zwar höchstwahrscheinlich auch darauf hindeuten, dass der Verdächtige eventuell über das bloße Untätigbleiben hinausgegangen sein kann. Es wird nicht nur eine weitgehende Überschneidung zwischen dem faktischen Substrat beider Tatbestandsverwirklichungen geben: Beide setzen voraus, dass ein anderer einen Mord begeht und dass der Verdächtige davon weiß. Der größte Unterschied bezieht sich allein darauf, ob der Verdächtige bloß untätig geblieben ist oder ob er noch auf die Fassung des Entschlusses des Haupttäters eingewirkt hat. Dies wird also sogar nach der zweiten faktischen Umwandlungsregel zur Tatidentität führen. Weil aber die Begehung der nicht angezeigten Tat, wie wir gleich sehen werden, nur eine Vertiefung des Unrechts der Nichtanzeige verkörpert, ist bereits die erste faktische Umwandlungsregel einschlägig, so dass die faktischen Grenzen der Klageumwandlung hier eingehalten werden. 2460

Stein, JR 1980, S. 447. Siehe auch H. Zimmermann, Anklageerhebung, S. 156. 2462 Insb. BayObLG NJW 1965, 2211: „Auch wenn nur wegen einer von zwei Taten Anklage erhoben ist, darf das Gericht im Wege wahldeutiger Feststellung über die andere Tat als Alternative befinden“; davor bereits Niederreuther, DJ 1938, S. 636 f.; ders. DJ 1942, S. 111; im Erg. wohl auch Montenbruck, GA 1988, S. 541, trotz der Behauptung, dass es „der Sache nach“ um „eine (gesonderte) ,Ergänzungsklage‘ gehe“; zu Recht abl. BGHSt 32, 146; Wolter, GA 1986, S. 155; zu diesem Fragenkreis Koffka, JR 1965, S. 430; Cl. Schröder, NJW 1985, S. 781; Detmer, Begriff der Tat, S. 124 ff.; Dreyer, Wahlfeststellung, S. 57 ff.; Dannecker, LK-StGB Ahn § 1 Rn. 56 ff. 2461

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Normativ stehen die Sachen auch völlig klar. Zwar ist Wahlfeststellung unzulässig;2463 die Taten sind also insofern nicht vergleichbar.2464 § 138 StGB ist aber gegenüber der Beteiligung an der nicht angezeigten Tat subsidiär, womit klar wird, dass beide dieselbe Schutzrichtung verkörpern, so dass der Mord nur eine Vertiefung und keine Veränderung des in der Nichtanzeige enthaltenen Unrechtsgehalts bedeutet.2465 Eine Anklage wegen § 138 StGB lässt sich also in § 211 StGB umwandeln, so dass prozessuale Tatidentität zu bejahen ist. Dem Reichsgericht ist seinen vielen und namhaften Kritikern zum Trotz zuzustimmen. (2) Die sich nur nach altem Recht stellende Konstellation der Alternative von Betrug und Unterschlagung lässt sich ähnlich lösen wie die o. 3. d) (S. 559 f.) bereits behandelte Konstellation des Verhältnisses von Betrug und Diebstahl: Die fehlende Vergleichbarkeit der abstrakten Tatbestände schließt nicht aus, dass man eine Vergleichbarkeit auf einer konkreteren Ebene, nämlich der von anerkannten Fallgruppen, herstellt. Hier käme die Fallgruppe des Sachbetrugs in Betracht. Nach der Neufassung des § 246 StGB durch das 6. StRRG von 1998 sind indes alle Fragen verschwunden. Jetzt ist klar, dass die Unterschlagung als subsidiärer Tatbestand (§ 246 Abs. 1 StGB, a. E.) nach unserer ersten normativen Umwandlungsregel immer mitangeklagt wird und dass umgekehrt die Anklage wegen Unterschlagung nach unserer dritten Umwandlungsregel auf andere gegen das Eigentum gerichtete Vermögensdelikte ausgeweitet werden darf. (3) Geht es um das Verhältnis einer unterlassenen Hilfeleistung und einer Brandstiftung, dürfte die Rechtsprechung bei der Ablehnung von Tatidentität viel zu streng vorgegangen sein. Denn faktisch verhält es sich bei der unterlassenen Hilfeleistung und der Brandstiftung weitgehend ähnlich wie bei dem gerade gesehenen Fall des Mordes und der Nichtanzeige geplanter Straftaten: Auch hier gibt es zuerst eine breite Überschneidung des faktischen Substrats der verwirklichten Tatbestände, so dass sogar die zweite faktische Umwandlungsregel zur Tatidentität führen würde. Das, was bei der unterlassenen Hilfeleistung die tatbestandsmäßige Situation bildet (der Unglücksfall), ist bei der Brandstiftung ein Teil der Tathandlung des Inbrandsetzens. Die verdachtsbegründenden Umstände werden sich deshalb auch überschneiden. Im vorliegenden Fall wird man nämlich vermuten können, dass die Wohnung des Betroffenen nachträglich als Ursprung des Brandes identifiziert wurde. Dieser Umstand begründet den Verdacht beider Tatbestandsverwirklichungen. Aber dieser ganze Begründungsaufwand wäre an sich unnötig, da die Brandstiftung eine Vertiefung des Unrechts der unterlassenen Hil-

2463 BGHSt 36, 167 (174); Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder-StGB, § 138 Rn. 29. 2464 Insofern richtig Hall, RW 1941, S. 321 f. 2465 Gelbert, JW 1934, S. 2894. Anders Schwinge, DJ 1941, S. 1065, der hier von unterschiedlichen Rechtsgütern (Sicherheit der staatlichen Rechtspflege, menschliches Leben) spricht.

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feleistung darstellt, die ihr gegenüber subsidiär ist (s. o. 2. f) [S. 556 f.]). Damit wird die dritte rechtliche Umwandlungsregel (und mit ihr zugleich die erste faktische Umwandlungsregel) eingehalten. Auch hier wäre eine einheitliche prozessuale Tat anzunehmen. (4) Im Falle des Diebstahls und der Hehlerei können beide von der Rechtsprechung benutzten Kriterien – Identität der Sache, räumlich-zeitliche und durch weitere Umstände umschriebene Nähe – im Grunde genommen als Versuche angesehen werden, das hier vorgeschlagene faktische Kriterium zu erfassen. Regelmäßig werden die Umstände, die den Verdacht eines Diebstahls begründen – vor allem die Tatsache, dass der Eigentümer der Sache ihrer verlustig geworden ist, und die Tatsache, dass diese Sache sich im Besitz des Verdächtigen befunden hat – auch nach allgemeiner Lebenserfahrung auf eine Hehlerei hindeuten. Weil auf normativer Ebene Hehlerei und Diebstahl die prototypischen Beispiele vergleichbarer Straftaten darstellen, zwischen denen Wahlfeststellung möglich sein soll,2466 liegt regelmäßig Tatidentität vor.2467 (5) Beim Verhältnis zwischen Strafvereitelung und einer Vortat dürften die Sachen etwas komplizierter liegen. Wegen der Überschneidung der faktischen Substrate werden die faktischen Voraussetzungen der Tatidentität hier überwiegend anzunehmen sein. Ob Tatidentität vorliegt, wird entscheidend von den normativen Voraussetzungen abhängen. Weil die Regeln, die Abwandlungen von oben nach unten oder von unten nach oben gestatten (nämlich die erste und die dritte Regel), offensichtlich nicht einschlägig sind, muss man sich nur fragen, ob gemäß unserer zweiten Regel der Vorwurf einer Strafvereitelung mit dem Vorwurf einer Vortat verwandt ist, so dass diese Vorwürfe als gleichwertig angesehen werden können. Das ist nicht der Fall, was daran ersichtlich wird, dass man eine Wahlfeststellung zwischen Strafvereitelung und Beteiligung an der Vortat für unzulässig erklärt.2468 Pointiert und konkret: Es ist normativ nicht einerlei, ob eine Angeklagte zusammen mit einer anderen Person ein den Hals des Opfers umschlingendes Seil „mit vereinten Kräften solange zuzog, bis Z. erstickt war“, oder ob sie zusammen mit ihr „die Leiche angekleidet und im Stadel aufgehängt (hat), um den Schein zu erwecken, ihr Mann habe sich selbst umgebracht“.2469 Sogar das Reichsgericht räumte in

2466 RGSt 68 (GrS), 257 (262); BGHSt 1, 302 (304); 11, 26; 15, 63 (65). Gegen die Vergleichbarkeit aber Heinitz, JZ 1952, S. 101, mit Argumenten, die zum großen Teil der Lehre vom Tätertyp verpflichtet sind. Krit. auch Lesch, Strafprozessrecht, Kap. 2 Rn. 31, wegen der überindividuellen Schutzrichtung des Hehlereitatbestands. 2467 Ebenso mit weitgehend übereinstimmender Begründung Wolter, GA 1986, S. 166. 2468 BGHSt 30, 77 (Vortat war ein BtMG-Delikt); BGH wistra 1989, 19 (Vortat war eine Beihilfe zum Raub); ebenso Stree/Hecker, Sch/Sch-StGB § 258 Rn. 45. 2469 RGSt 25, 334 (335, 336).

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der die Tatidentität bejahenden Entscheidung ein: „Es ist wohl zuzugeben, daß die Mitwirkung zum Aufhängen der Leiche, für sich allein betrachtet, mit dem Verbrechen des Mordes nichts gemein hat“.2470 Insofern verhält es sich bei ihnen anders als bei einer Hehlerei, bei der sich Anschlusstat und Vortat in gleicher Weise gegen das geschützte Gut richten (Perpetuierung2471), oder als bei einer Nichtanzeige geplanter Straftaten bzw. bei einer unterlassenen Hilfeleistung, die nicht von ungefähr als subsidiäre Angriffe desselben auch von dem Bezugstatbestand betroffenen Rechtsguts angesehen werden können. Das Kriterium der Angriffsrichtung, worauf die neuere Rechtsprechung abstellt, erweist sich somit als intuitive Erfassung der hier entwickelten Sachüberlegungen.2472 Darüber kann man sich mit dem Hinweis auf die Beteiligungsnähe der Strafvereitelung, konkreter, dass sie eine Art nachträgliche Beihilfe darstelle,2473 nicht hinwegsetzen. Denn ein bereits verletztes Rechtsgut lässt sich grundsätzlich (etwaige Ausnahmen: Dauerdelikte; Perpetuierung) nicht noch einmal verletzen. Die Strafvereitelung hat einen von der Vortat verschiedenen Bezugspunkt und deshalb einen mit ihr inkommensurablen Unrechtsgehalt. Prozessuale Tatidentität lässt sich deshalb nicht begründen. (6) Bezüglich der Konstellation Begünstigung und Vortat ist die Lage noch verwickelter.2474 Im Grunde genommen muss hier differenziert werden; die Konstellation der Begünstigung wird sich zu einem Teil so verhalten wie die der Strafvereitelung, zu einem anderen Teil – nämlich bei Vermögensdelikten als Vortat – so wie die der Hehlerei. Denn die Begünstigung weist zu Vermögensdelikten eine Verwandtschaft auf, die sie mit ihnen vergleichbar macht: Schon das Reichsgericht erkannte, dass der Begünstiger „gleichfalls zur Fortdauer des durch den Diebstahl hervorgerufenen rechtswidrigen Zustandes beiträgt. (. . .) In dieser Richtung ist die Tat des Begünstigers keine andere als die des Hehlers und des Diebes“.2475 Diese Vergleichbarkeit wird dadurch bestätigt, dass man in dieser Situation eine Wahlfeststellung für möglich erachtet.2476 Aus demselben Grund und unter denselben Bedingungen – also eines Vermögensdelikts als Vortat – muss auch die Umwandlung von Begünstigung in Hehlerei und umgekehrt möglich sein.2477 2470

RGSt 25, 334 (336). Ausf. (und krit.) hierzu Altenhain, Das Anschlußdelikt, S. 197 ff. 2472 Siehe oben Fn. 2449. 2473 OLG Stuttgart MDR 1980, 954 (954 f.); Koffka, JR 1969, S. 155; darauf stellt neuerdings insb. W. Bauer, wistra 1990, S. 220 ab; diff. Detmer, Begriff der Tat, S. 289 ff. 2474 Zu undifferenziert deshalb OLG Frankfurt NStZ 1988, 92. 2475 RGSt 55, 76 (78). 2476 BGHSt 23, 360; BGH NStZ 1989, 319 (320); dieses Argument auch bei Roxin, JZ 1988, S. 262. 2477 Im Erg. mit ähnl. Begründung Barthel, Begriff der Tat, S. 103 f. 2471

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10. Einheit, Mehrheit und Verschiedenheit von Opfern Die jetzt zu behandelnde Konstellation wird selten eigenständig zur Diskussion gestellt. Allgemein nimmt man an, dass es hierauf schlicht nicht ankomme. „Die Person des Verletzten ändert an der Selbheit der Tat nichts.“ 2478 Nicht einmal bei einem Totschlag soll sich hieran etwas ändern.2479 Die Rechtsprechung hatte, soweit ersichtlich, nur bei Sexualstraften eine andere Ansicht vertreten.2480 Die Begründung lässt sich hören und führt von selbst zu unseren Kriterien: „Denn damit (mit dem Wechsel des Opfers, L.G.) ändert sich die Richtung des Vorwurfs ihrem ganzen Inhalt nach.“ 2481 In zwei weiteren Zusammenhängen hatte aber die Identität des Opfers auch nach der h. M. eine mittelbare Relevanz für die Bestimmung der Reichweite der strafprozessualen Tat. Zunächst sollte ein Fortsetzungszusammenhang beim Betroffensein höchstpersönlicher Rechtsgüter verschiedener Personen grundsätzlich ausgeschlossen sein: weil „eine jede Persönlichkeit infolge des ihr innewohnenden Eigenwerts Anspruch darauf hat, als ein in seiner Persönlichkeit schutzbedürftiges Rechtsgut gewürdigt zu werden“.2482 Die Begründung führt sehr nah an unsere Kriterien heran: Denn behauptet wird die mangelnde Gleichwertigkeit zwischen der Verletzung höchstpersönlicher Güter verschiedener Opfer, die nicht nur dem Fortsetzungsverhältnis entgegensteht, sondern auch der Anwendung unserer zweiten Umwandlungsregel.2483 Bei höchstpersönlichen Rechtsgütern verschiedener Opfer soll zudem regelmäßig eine natürliche Handlungseinheit ausgeschlossen sein,2484 was auch die Verschiedenheit prozessualer Taten wahrscheinlich (aber nicht notwendig, s. o. 6. [S. 585 f.]: „innere Verknüpfung“) macht. Vielleicht lässt sich dennoch in der jüngeren Rechtsprechung eine Tendenz erkennen, bei verschiedenen Trägern höchstpersönlicher Güter unterschiedliche prozessuale Taten anzunehmen. Ein Angeklagter, der im Rahmen einer Schlägerei möglicherweise zwei Opfer erschossen haben soll, wurde nur wegen der Schüsse gegen eines von ihnen angeklagt; die Schüsse gegen das andere Opfer wurden zwar im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen erwähnt, dem Ange2478 Hall, RW 1941, S. 316. Ebenso Hélie, Traité III, S. 587; Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 113; Wolter, GA 1986, S. 167; diff. Neuhaus, MDR 1989, S. 219: Entscheidend ist, ob die Tat noch individualisierbar ist. Siehe davor Griolet, Chose jugée, S. 256. Zu den wenigen dezidierten Stellungnahmen im entgegengesetzen Sinne Moore, Act and Crime, S. 362. 2479 Hall, RW 1941, S. 316 f. 2480 BGH MDR 1956, 271 (272) (and. aber in einem Fall einer natürlichen Handlungseinheit, BGH MDR 1954, 17); abl. Wolter, GA 1986, S. 167. 2481 BGH MDR 1956, 271 (272). 2482 RGSt 59, 98 (99). 2483 Zum Zusammenhang zwischen Wahlfeststellung und Gleichwertigkeit beim Fortsetzungszusammenhang ausf. Wolter, Alternative Verurteilung, S. 114 ff. 2484 Zuletzt BGH StV 2013, 382.

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klagten aber nicht zugeordnet.2485 Der BGH argumentierte, dass jede Tötung eines bestimmten Menschen als eigenständige prozessuale Tat anzusehen sei, solange die Voraussetzungen des § 52 StGB nicht vorlägen. Eine natürliche Handlungseinheit könne man angesichts der Tatsache, dass es hier um höchstpersönliche Güter verschiedener Personen gehe, nicht bejahen. Weshalb man hier nicht auf den einheitlichen historischen Vorgang der Schlägerei abgestellt hat, ist wenig ersichtlich. Diese Tendenz wird in späteren Entscheidungen fortgesetzt,2486 wenn auch die Rechtsprechung nicht auf den Gedanken kommt, im Falle einer einzigen Körperbewegung die Tateinheit anzuzweifeln.2487 Aus der hier begründeten Perspektive wäre ausschlaggebend, dass bei höchstpersönlichen Gütern verschiedener Opfer die Grenzen der normativen Umwandelbarkeit der Anklage überschritten sein dürften. Dass weder die erste noch die dritte Umwandlungsregel einschlägig sind, leuchtet ohne Weiteres ein; die Tötung von A kann weder von der Tötung von B im Wege der Gesetzeskonkurrenz verdrängt werden, noch stellt die eine eine Vertiefung des in der anderen enthaltenen Unrechts dar. Umwandlungen nach oben und nach unten sind deshalb nicht möglich. Nur hinsichtlich der Gleichwertigkeit, also einer möglichen Umwandlung zur Seite, sehen die Dinge etwas komplizierter aus. Hier wäre näher zu untersuchen, ob Wahlfeststellung bei verschiedenen Opfern möglich ist; die besten Gründe scheinen dafür zu sprechen, dass dies bei höchstpersönlichen Gütern aus denselben Erwägungen abzulehnen sein wird, die bereits die für den Fortsetzungszusammenhang erforderliche Gleichwertigkeit der Einzelakte ausgeschlossen hatten.2488 Nur zwei Präzisierungen wären einzuführen. Erstens bedeutet Identität des Opfers – vergleichbar der Identität des Täters (s. o. C. III. [S. 430]) – nicht Namensgleichheit. Geht es um die eine Leiche, die A zugeordnet wird, und ergibt sich im Laufe des Verfahrens, dass es sich nicht um A, sondern um B handelt, ist keine Verschiebung der Identität des Opfers erfolgt. Zweitens kann man mit relativer Leichtigkeit bestimmen, wann man es mit höchstpersönlichen Rechtsgütern zu tun hat, nämlich durch Heranziehung des Güterkatalogs von § 35 StGB.2489

2485

BGH StraFo 2008, 384. BGH NStZ-RR 2011, 228 Nr. 62; NStZ-RR 2012, 132 Nr. 53; StV 2013, 382. 2487 Zur Bestätigung s. nur BGH NStZ-RR 2012, 299 Nr. 5 (Tateinheit bei einem durch eine einzige Handlung begangenen Raub gegen verschiedene Opfer); BGH NStZ 2012, 85. 2488 So im Erg. Tiedemann/Tiedemann, FS R. Schmitt, S. 150. 2489 Siehe auch die interessante Auseinandersetzung von Burger mit dem von Brennan vertretenen same transaction test, der dem herrschenden deutschen Tatbegriff sehr ähnlich ist (s. o. C. V. 5. [S. 443 f.]), Burger, in: U.S. Supreme Court, Ashe v. Swenson, 397 U.S. 436, 468 f. (1970): Es sei entwürdigend, von einer einzigen transaction zu sprechen, denn dadurch behandle man die Opfer „as a single homogenized lump of human clay“. 2486

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11. Straftatenverschiebung, Straftatenvermehrung Auch diese äußerst wenig diskutierten Konstellationen sind nicht unproblematisch.2490 Der geschichtlich orientierte Tatbegiff der h. M. steht ihnen weitgehend hilflos gegenüber; die vorliegende Auffassung bietet jedoch präzise Kriterien, die eine sichere Bewältigung dieser Fragen ermöglichen. Der Täter hat den ihm angelasteten Diebstahl nicht um 22 Uhr, sondern um 2 Uhr morgens begangen (Straftatenverschiebung), oder er hat nicht nur den Diebstahl um 22 Uhr, sondern einen weiteren um 2 Uhr morgens begangen (Straftatenvermehrung). Dass bei diesen Konstellationen die Probleme nicht die normative Dimension der Anklage betreffen, liegt auf der Hand. Sie werden auf Grundlage unserer zweiten faktischen Umwandlungsregel zu lösen sein. Ausschlaggebend wird also sein, ob die verdachtsbegründenden Umstände auf die Begehung zu einer anderen Zeit oder auf die Begehung der zweiten Tat hindeuten. Dies lässt es zu, dass nicht nur eine Verschiebung von wenigen Stunden, sondern auch von Tagen oder sogar von Monaten möglicherweise eine einzige Tat darstellen kann.2491 Auch bei Straftatenvermehrung kann eine einheitliche Tat gegeben sein;2492 wichtig ist allein, ob die Anklage bereits Anhaltspunkte im Sinne ihrer Begehung enthält, so dass man nicht davon sprechen kann, dass ihre Entdeckung in der Hauptverhandlung einen abenteuerlichen Ermittlungsverlauf darstellt. Die Wegnahme eines zweiten Gegenstands bei einem Wohnungseinbruchsdiebstahl wird eher noch innerhalb dieser Schranke erfolgen.2493 12. Zusammenfassung der einzelnen Ergebnisse Es erscheint nicht gewagt zu behaupten, dass uns sogar eine weitgehende Rekonstruktion der Ergebnisse der Rechtsprechung gelingt. Zugegeben keine vollständige, was auch bei einer „orientierungslosen Von-Fall-zu-Fall-Judikatur“,2494 bei der einige Autoren nichts als ein „Prinzip der Aleatorik“ 2495 erkennen konnten, nicht anders zu erwarten wäre. So dürfte es schwerfallen, einerseits Herbeiführung des Unfalls und Unfallflucht zur einheitlichen prozessualen Tat zusam-

2490

Vgl. aber Hélie, Traité III, S. 586 ff.; Wolter, GA 1986, S. 170 ff. BGH NStZ-RR 2005, 320: Verschiebung von einem Jahr. 2492 Grds. a. A. Wolter, GA 1986, S. 172 f. 2493 Siehe auch bereits Hélie, Traité III, S. 586. 2494 Herzberg, JuS 1972, S. 115. Vielleicht ist es ein Trost, zu hören, dass in Frankreich über die eigene Rspr. ähnliche Urteile gefällt werden, s. etwa Chambon, JCP II 1961, Nr. 12223 IV. 2495 Lesch, Strafprozessrecht, Kap. 2 Rn. 30 bzgl. Fälle der Alternativität; zust. ohne diese Einschränkung W. Bauer, wistra 2008, S. 374. 2491

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menzufassen, dies aber bei Vortat und Strafvereitelung nicht zu tun;2496 ebenso das Organisationsdelikt anders zu behandeln als ein Fahren ohne Fahrerlaubnis, dieses wiederum anders als ein Delikt des unerlaubten Waffenbesitzes.2497 Die Vielzahl der hier vorhandenen höchstrichterlichen Entscheidungen belegt, dass es der Rechtsprechung noch nicht gelungen ist, den Tatgerichten klare Vorgaben zu machen. In kaum einem anderen Bereich des Prozessrechts ist die Redeweise von der „Flut des case law als Krankheitssyndrom“ so berechtigt wie hier.2498 Die Ergebnisse zu den einzelnen Fallgruppen seien hier thesenartig zusammengestellt: Abwandlungen desselben Strafgesetzes (Qualifikation/Privilegierung; Versuch/ Vollendung; Vorbereitungshandlung/Versuch; Wechsel der Beteiligungsform; Vorsatz/Fahrlässigkeit; Begehungs- und Unterlassungsdelikt) sind grundsätzlich in beide Richtungen möglich. Regelmäßig wird es bei ihnen um Vertiefungen oder Minderungen des angeklagten Unrechts gehen, die dessen Wesen nicht verändern und die deshalb nach unserer ersten und dritten normativen Umwandlungsregel zulässig sind. Bei einigen dieser Abwandlungen, wie der von Mittäterschaft zu mittelbarer Täterschaft, wird die zweite normative Umwandlungsregel einschlägig sein. Faktisch wird meistens schon die erste Umwandlungsregel zur Anwendung kommen; dort, wo das nicht der Fall ist, wird die Abwandlung sich regelmäßig aus den der Anklage zugrunde liegenden verdachtsbegründenden Tatsachen entwickeln lassen. Bei Abwandlungen zwischen unterschiedlichen Strafgesetzen sieht die Sachlage komplizierter aus. Wir haben einige zur Veranschaulichung der vorliegenden Thesen geeignete Beispiele herangezogen. Zwischen Körperverletzung und Tötung sind Abwandlungen in beide Richtungen möglich, weil die Tötung eigentlich nur die Endskala der Intensivierung des Unrechts eines Angriffs gegen die physische Existenz des Opfers darstellt. Anders verhält es sich bezüglich der Paare Raub/Diebstahl, Vergewaltigung/Körperverletzung: Hier lässt sich nur eine Abwandlung nach unten begründen. Wegen des sui generis-Charakters des schwereren Straftatbestands wäre eine Abwandlung nach oben eigentlich nicht bloß eine zulässige Vertiefung des angeklagten Unrechts, sondern dessen Wesensveränderung. Zwischen Diebstahl und Sachbetrug sind Abwandlungen in beide Richtungen möglich, weil es sich um gleichwertige Tatbestände handelt; die zweite normative Umwandlungsregel ist einschlägig.

2496 Siehe oben 6., 9. (S. 587, 613); ebenso Detmer, Begriff der Tat, S. 215: „Was spräche schließlich dagegen, fortgesetzte Abtreibungshandlungen mit einer sofort nach der Geburt des Kindes verübten Kindestötung oder das Fortschaffen einer Leiche, das sich unmittelbar an einen Mord anschließt, zu einer Tat zu verbinden, wenn man einen Unfall und die daran anschließende Unfallflucht zu einer Tat verknüpfen will.“ 2497 Siehe oben 9. (S. 600, 601, 602). 2498 Arzt, JZ 1994, S. 1002 (bzgl. der fortgesetzten Handlung).

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Gelegentlich schließt schon die Anklage gewisse Dimensionen des angeklagten faktischen Vorgangs aus; wir haben dafür die Bezeichnung normative „Kupierungen“ des Prozessgegenstands vorgeschlagen. Das ist der Fall, wenn der vollen Aburteilung des angeklagten Sachverhalts die fehlende Gerichtsbarkeit, ein fehlender Strafantrag, ein teilweise erfolgter Strafklageverbrauch, Verjährung oder der auslieferungsrechtliche Spezialitätsgrundsatz entgegenstehen. Auch bei der Erhebung einer Privatklage trotz eines gleichzeitig verwirklichten Offizialdelikts sollte entgegen der h. M. eine derartige Kupierung angenommen werden: Nur das Privatklagedelikt wird verfolgt, nur die dieses betreffende Strafklage wird verbraucht. Die Verfolgung durch ein sachlich unzuständiges Gericht oder im Wege des Strafbefehls- oder Ordnungswidrigkeitsverfahrens führt demgegenüber zu einer die ganze Tat erfassenden Aburteilung. Auch bei der Situation des nachträglichen Eintritts einer strafschärfenden Tatfolge (das Opfer stirbt nach Rechtskraft der Verurteilung wegen Körperverletzung) hat eine Verfolgung wegen der Tötung noch nicht stattgefunden, was auch bedeutet, dass sie entgegen der h. M. bei einer späteren Gelegenheit erfolgen darf (sog. Ergänzungsklage). Das ist erst recht dann der Fall, wenn nach dem Urteil ein „gleichartiges“ Verhalten vorgenommen wird; in einigen dieser Fälle, in denen es um eine einmalige Leistung geht (wie etwa bei der Dienstflucht oder bei einer Kindesentziehung), wird die Schuld nach der ersten Verurteilung bereits vollumfänglich abgegolten sein. Die Idealkonkurrenz wird nach dem vorliegenden Ansatz eher im Gegensatz zur h. M. eingeordnet. Nur Fälle der Gesetzeskonkurrenz sind notwendigerweise einheitliche prozessuale Taten (gemäß der ersten und dritten normativen Umwandlungsregel); Idealkonkurrenz bedeutet jedoch vielmehr ein Indiz für prozessuale Tatmehrheit, es sei denn, es lässt sich mittels der zweiten normativen Umwandlungsregel, die die Abwandlung der Anklage in gleichwertige Delikte ermöglicht, eine Brücke zwischen den durch die einzelne Handlung mitverwirklichten Tatbeständen bauen. Ob Fälle der Realkonkurrenz eine einheitliche prozessuale Tat darstellen, hängt nicht von einer unergründlichen „inneren Verknüpfung“ ab, sondern davon, ob die der Anklage zugrunde liegenden, verdachtsbegründenden Umstände auf beide Deliktsverwirklichungen bereits so hindeuten, dass ihre Entdeckung als Realisierung der in der Anklage verkörperten Untersuchungsgefahr angesehen werden kann (zweite faktische Umwandlungsregel). Auch nach dem Fortfall der Figur der fortgesetzten Handlung ist das Problem der Serienstraftaten ungelöst geblieben. Ab einer bestimmten, nicht allgemein bestimmbaren Häufung dieser Deliktsverwirklichungen lässt sich keine greifbare Erhöhung des Schuldgehalts begründen; ist diese Grenze erreicht, dann wird bereits dem Erstverfahren verdachts- und schuldtilgende Wirkung beizumessen sein, auch bezüglich der nicht einmal implizit angeklagten Delikte.

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Das große Kopfzerbrechen, das Dauer- und Organisationsdelikte der h. M. bereiten, bleibt uns erspart. Mit der Korrektur des Fehlers – dass Idealkonkurrenz grundsätzlich Tatidentität bedeute – wird automatisch die praktisch wohl brisanteste Fehlerfolge beseitigt. Die Verfolgung wegen einer Trunkenheitsfahrt, unerlaubten Waffenbesitzes, unerlaubten Aufenthaltes und insbesondere wegen der Mitgliedschaft in kriminellen bzw. terroristischen Organisationen hat also gerade nicht das Vermögen, die Klage bezüglich der mit ihnen idealiter konkurrierenden Straftatverwirklichungen zu verbrauchen. Die konfuse Fallgruppe der Alternativität, die insbesondere auch Anschlussdelikte erfasst, bedarf keiner besonderen Regeln. Vor allem lässt sich eine notwendige prozessuale Identität der miteinander in einem Alternativitätsverhältnis stehenden Delikte nicht vom Anklageprinzip begründen. Vielmehr kommt es auf die allgemeinen Kriterien an, vor allem also darauf, ob sich die beiden in Frage kommenden Delikte nach den drei normativen Umwandlungsregeln als solche einer identischen Vorwurfsrichtung verstehen lassen. Konkret wird das bezüglich des Paares Diebstahl/Hehlerei zu bejahen sein, nicht aber bezüglich des Paares Vortat/Strafvereitelung. Bei einer Begünstigung wird zwischen einer gegen das Vermögen und einer gegen andere Rechtsgüter gerichteten Vortat zu differenzieren sein; nur im ersten Fall liegt Tatidentität vor. Fälle des Meineids und falscher Verdächtigungen dagegen bezeichnen durchgehend verschiedene prozessuale Taten. Entgegen der h. M. ist es auch nicht immer einerlei, um welches Opfer es geht. Vielmehr wird es bei höchstpersönlichen Gütern für die prozessuale Tatidentität grundsätzlich auf das jeweils verletzte Opfer ankommen; denn die Verletzung eines jeden Menschen stellt in solchen Fällen eine für sich genommene inkommensurable Größe dar. Anders verhält es sich bei sonstigen Rechtsgütern. Zuletzt ist bei der wenig diskutierten Fallgruppe der Straftatenverschiebung und Straftatenvermehrung für die prozessuale Tatidentität in erster Linie maßgeblich, ob die Entdeckung des neuen Vorgangs gemäß der zweiten faktischen Umwandlungsregel als Verwirklichung der bereits in der Anklage begründeten Untersuchungsgefahr angesehen werden kann.

F. Fazit zum Tatbegriff im Strafverfahrensrecht I. Zusammenfassung Wir haben einen langen Weg beschritten. Es hat sich bestätigt, dass „es keine Frage ist, daß man das komplizierte Problem der Tatidentität nur von Grund auf angehen kann“.2499 Von der im allgemeinen strafprozesstheoretischen Abschnitt gewonnenen Einsicht ausgehend, dass die Verfolgung eines Unschuldigen trotz 2499

Wolter, GA 1986, S. 149.

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des Versprechens seiner endgültigen Rehabilitierung immer einen Rest an Ungerechtigkeit verkörpert (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 6. d) [S. 314]), haben wir einen apriorischen Gehalt des Anklageprinzips abgeleitet. Das Anklageprinzip, verstanden als Verbot, dass derjenige, der die Verfolgung durch eine Verdächtigung initiiert, auch die Richtigkeit dieser Verdächtigung überprüft, hat sich als ein Mechanismus der Neutralisierung nicht nur eines individuell-psychologischen Interesses herausgestellt, das der Initiator des Verfahrens an der Bestätigung der Richtigkeit der von ihm formulierten Hypothesen haben kann, sondern auch eines allgemeinen, vernünftigen Grundes, den er als Subjekt, das niemanden ungerecht behandeln möchte, für die Bejahung der Schuld des Verfolgten haben muss (s. o. B. III. 2. b) [S. 390 ff.]). Aus dieser Trennung zwischen dem, der verdächtigt, also dem Ankläger, und dem, der über die Richtigkeit der Verdächtigung entscheidet, also dem Richter, folgerten wir das Erfordernis, den Gegenstand der Verdächtigung zu fixieren und damit den prozessualen Tatbegriff festzulegen (s. o. B. III. 5. [S. 403 ff.]). Die Arbeitsteilung zwischen Ankläger und Richter ist indes nur in einem direkt aus diesen Erwägungen folgenden Kernbereich, der mit der Formulierung einer einen bestimmten Vorwurf enthaltenden Verdächtigung zu tun hat, unverfügbar; alles Weitere hängt von der dem jeweiligen Prozesssystem zugrunde liegenden Einschätzung anderer, weitgehend auch individualpsychologischer Gefahren für die Wahrheitsfindung ab (s. o. B. III. 3., 4. a) [S. 392 ff., 398 ff.]). Wir untersuchten eine Vielzahl einzelner, in Rechtsprechung und Literatur formulierter Tatbegriffe und konnten bei den meisten feststellen, dass sie nicht bloß an Bestimmtheitsproblemen leiden, sondern insbesondere daran, dass sie den Weg zum Anklageprinzip nicht mehr zurückfinden (s. o. C. IV. [S. 433 ff.]). Der geschichtlich orientierte Tatbegriff der h. M. vermag nicht zu erklären, wieso derjenige, der jemanden verdächtigt, ohne Fahrerlaubnis zu fahren (§ 21 StVG), auch wollen muss, dass sich dieser gegebenenfalls als Vergewaltiger erweist, oder umgekehrt, wieso derjenige, der über die Richtigkeit einer Verdächtigung wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu entscheiden hat, es nicht auf seine eigene Initiative und deshalb auch Verantwortung zurückführen muss, wenn er am Ende einen Spruch wegen einer Vergewaltigung fällt (s. o. C. IV. [S. 438 f.]). Die h. M. entleert die Anklage und liefert den Inquisiten seinem weitgehend ungebundenen Inquirenten aus; der Ankläger wird in solchen Fällen zum blinden Werkzeug poetischer Gerechtigkeit degradiert (s. o. B. III. 3. [S. 398], C. IV. [S. 437 f.]). Bei der Formulierung des eigenen Tatbegriffs wurde versucht, diese sich aus dem Anklageprinzip ergebenden Implikationen mit einer anderen, im allgemeinen strafprozesstheoretischen Abschnitt gewonnenen Erkenntnis zu kombinieren: nämlich dass die Rehabilitierung als unabdingbarer Ausgleich für die Verdächtigung dieselbe Reichweite haben muss wie diese; Entsprechendes muss im Falle der Verurteilung für die Schuldtilgung gelten. Wegen dieses notwendigen Zusammenhangs zwischen dem, wofür man verdächtigt und also zur Verantwortung ge-

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zogen wird, und dem, wofür man später rehabilitiert zu werden verdient (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. 6. d) [S. 315 f.]), muss die Rechtskraft alles erfassen, was sich bereits als Ausgang des ersten Verfahrens hätte ergeben können (D. III., IV. 1. [470 ff., 484 ff.]). Und weil alles, was Ausgang eines Verfahrens sein kann, nicht erst durch das Gericht in völliger Selbständigkeit gewonnen werden darf, sondern sich auf die Anklage zurückführen lassen muss, ist die Frage nach der Reichweite der Rechtskraft keine andere als die nach der Reichweite der Anklage (s. o. D. II. [S. 469 f.]). Die Anklage hat nicht nur einen expliziten, sondern auch einen impliziten Gehalt, innerhalb dessen sich das Gericht aus eigener Initiative bewegen darf. Dieser ganze Rahmen, innerhalb dessen das Gericht den ausdrücklichen Gehalt der Anklage modifizieren darf, wird auch von der Rechtskraft erfasst: Der Strafklageverbrauch reicht, wie das Reichsgericht schon sagte, so weit wie die Befugnis des Gerichts zur Klageänderung (s. o. D. III. [S. 470 ff.]). Mit anderen Worten: Alles, was angeklagt wurde und worüber das Gericht auch entscheiden konnte, darf nicht mehr Gegenstand eines zweiten Verfahrens werden. Der Gegenstand der Anklage bestimmt den Gegenstand des Verfahrens, des Urteils und der Sperrwirkung („Grundregel“). Es fragt sich also, was angeklagt worden ist. Der explizite Gehalt ist kein Problem, er erschließt sich durch die bloße Auslegung der Anklage. Der implizite Gehalt der Anklage ist der Ort unseres Problems, und hier muss zunächst festgehalten werden, dass jedes Prozesssystem die Reichweite des impliziten Gehalts der Anklage mehr oder weniger großzügig bestimmen darf. Akkusatorisch orientierte Systeme werden Abweichungen vom ausdrücklichen Gehalt der Anklage eher restriktiv, inquisitorisch orientierte Systeme dagegen eher großzügig gegenüberstehen (s. o. B. III. 4. a), D. V. [S. 398 ff., 510 ff.]). Dennoch lassen sich unmittelbar aus dem Kerngehalt des Anklageprinzips äußerste Grenzen bestimmen, sowohl für das Festhalten an dem ausdrücklichen Gehalt der Anklage („unterste Grenzen“, s. o. D. VI. [S. 513 ff.]) als auch für das Sich-Entfernen von diesem ausdrücklichen Gehalt („oberste Grenzen“, s. o. D. VII. [S. 520 ff.]). Eine detaillierte Bestimmung dieser äußersten Grenzen, insbesondere der obersten, führte zu einer Reihe von normativen und faktischen Klageänderungsregeln. Bezüglich der untersten Grenzen, die vor allem in extrem akkusatorisch orientierten Verfahrenssystemen von Relevanz sind (u. VI. 1., 2. [S. 515 ff.]), haben wir in normativer Hinsicht ausgearbeitet, dass das Anklageprinzip für Minderungen des angeklagten Unrechts gar nicht gilt; sie dürfen immer auf Initiative des Gerichts ohne Impuls durch den Ankläger berücksichtigt werden. In faktischer Hinsicht haben wir zwei heuristische Formeln vorgeschlagen, die wir Ähnlichkeitsregel und Gleichzeitigkeitsregel getauft haben: Faktische Vorgänge, die den explizit in der Anklage beschriebenen besonders stark ähneln, müssen als mitangeklagt gelten; und faktische Vorgänge, die kaum sinnvoll Gegenstand zweier getrennter, gleichzeitiger Verfahren bilden können, ebenso. In einem eher inquisitorischen System wie dem deutschen kommt es auf die obersten Grenzen an. Von der

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Überlegung ausgehend, dass jede Verdächtigung eine bestimmte Vorwurfsrichtung haben muss, haben wir drei normative Regeln ausgearbeitet (s. o. D. VII. 1. [S. 528 ff.]). Straftatverwirklichungen, die im Wege der Gesetzeskonkurrenz verdrängt werden, werden bei einer Anklage, die die verdrängende Straftatverwirklichung zum ausdrücklichen Gegenstand hat, immer mitangeklagt (erste normative Umwandlungsregel); Straftaten, die (gemäß der Kriterien der Wahlfeststellung) vergleichbare Vorwürfe verkörpern, werden immer mitangeklagt (zweite normative Umwandlungsregel); Straftaten, die nur eine Vertiefung und keine Veränderung des Unrechtsgehalts der ausdrücklich angeklagten Straftat darstellen (insbesondere Qualifikationen), werden immer mitangeklagt (dritte normative Umwandlungsregel). Auch in faktischer Hinsicht müssen Grenzen eingeführt werden (D. VII. 2. [S. 537 ff.]). Aus dem Gedanken, dass die Untersuchungstätigkeit des Richters auf den ihm vom Ankläger vermittelten Stoff zurückführbar sein muss, haben wir die wichtigste (unsere zweite) faktische Umwandlungsregel abgeleitet: Der Richter muss sich innerhalb des Rahmens dessen bewegen, was nach allgemeiner Lebenserfahrung aus den Tatsachen, die die Verdächtigung des Anklägers begründeten, zu erwarten war. M. a.W.: Die Anklage schafft durch die Mitteilung bestimmter Tatsachen ein Entdeckungsrisiko; innerhalb der Grenzen der prozessualen Tat bewegt sich das Gericht nur solange, wie das von ihm Entdeckte noch als Realisierung dieses bereits von der Anklage geschaffenen Entdeckungsrisikos angesehen werden kann. Wir postulierten auch eine erste faktische Umwandlungsregel, die bei Veränderungen des Unrechtsgehalts gemäß der dritten normativen Umwandlungsregel immer auch eine faktische Ergänzung der Anklage gestattet. Anschließend wendeten wir uns dem deutschen Recht zu und stellten fest, dass bereits das geltende Recht eine Deutung im Lichte dieser Grundsätze gestattet (s. o. E. II. [545 ff., 548]). Weil hierzulande das Gericht von der Anklage weitgehend freigestellt wird, das Anklageprinzip aber bestimmte Grenzen gebietet, wird der von der vorpositiven Theorie konturierte äußerste Rahmen auch de lege lata ausschlaggebend sein. Zuletzt beschäftigten wir uns mit einzelnen, in der deutschen Diskussion behandelten Fallgruppen (E. III. [S. 545 ff.]) und versuchten darzulegen, wie der hier aus dem Anklageprinzip gewonnene normativ-faktische Tatbegriff zu gut begründeten und sicheren Ergebnissen zu führen vermag. Eine rechtspolitisch willkommene Nebenwirkung war die weitgehende Einschränkung der Reichweite der Rechtskraft, die die vielen Sackgassen, zu denen der geschichtlich orientierte Tatbegriff der Rechtsprechung geführt hat, reibungslos vermeiden konnte. II. Abschließende Bemerkungen zum Begriff der Tat im Strafverfahren Dies dürfte die angemessene Stelle sein, um auf große, grobe Linien hinzuweisen, die im Laufe der detaillierten Darstellung und Auseinandersetzung nicht gebührend hervorgehoben werden konnten. Ich werde mich jetzt, wie bereits o.

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Kap. 1 E. II. (S. 375 ff.), um eine Art „verstehende“ Deutung der Hauptzüge der Entwicklung des strafprozessualen Tatbegriffs seit der Überwindung des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens bemühen, also versuchen, in gewagten, impressionistischen Pinselstrichen das Wesentliche unter Absehen von vielen Einzelheiten auszuarbeiten. Wir haben gesehen, dass die großen Denker der Prozessreform im Namen des Anklageprinzips für eine Einengung der richterlichen Kognition eintraten (s. o. B. III. 1. [S. 383 ff.]), und dass auch die Motive der RStPO nicht auf den Gedanken gekommen sind, völlig fernliegende Vorwürfe zu einer einheitlichen prozessualen Tat zusammenzuknüpfen, wie es die spätere Rechtsprechung freilich getan hat. Eine zu weitreichende Kognitionsbefugnis bedeutet zu weitreichende richterliche Macht und vor allem auch eine Relativierung der Unterscheidung von Ankläger und Richter. Die Einengung des Prozessgegenstands gehört also von Anfang an zu den Grundanliegen des Anklageprinzips.2500 Das Reichsgericht hat indes die Dinge nicht so gesehen. Es vertrat bereits in seinen ersten Entscheidungen den weiten, geschichtlich orientierten Tatbegriff, der sowohl zu einer weiten richterlichen Kognition als auch zu einer weiten Rechtskraftwirkung führte. Zwar ist zu loben, dass der Zusammenhang zwischen beiden Fragen, also die gebotene Kongruenz des Tatbegriffs, von Anfang an erkannt worden ist; auf der anderen Seite hat man den Eindruck, dass es dem Reichsgericht eher darum ging, die weite Kognitionsbefugnis sicherzustellen, und dass die weite Rechtskraftwirkung eher als unwillkommene Implikation in Kauf genommen wurde, von der es sich immer wieder zu befreien versucht hat. Die gängige Lesart, die vor allem auf die historische Rekonstruktion von Binding und von Autoren des Nationalsozialismus zurückführbar ist,2501 erblickt demgegenüber im weiten geschichtlich orientierten Tatbegriff des Reichsgerichts eine Bemühung, den Strafklageverbrauch möglichst weit zu bemessen, die nur auf den Einfluss des damaligen Liberalismus zurückzuführen ist.2502 Auch wenn 2500 Siehe auch Noftz, Prozeßgegenstand, S. 87 f. – genau umgekehrt Velten, SKStPO § 264 Rn. 17, u. a. mit dem Argument, ein enger Tatbegriff nötige dazu, alternative Erklärungen der Anklagehypothese unberücksichtigt zu lassen und erst in weiteren Verfahren zu erörten: „Ist eine Person wegen versuchten Mordes angeklagt und es steht zur Debatte, ob das Opfer der Jagd ein Tier sein sollte [Wilderei], dann muss das Gericht auch die Wahrscheinlichkeit dieser Möglichkeit aufklären, um über die erste Frage entscheiden zu können“. Dies beruht aber auf einer Verwechselung zwischen Prozessgegenstand und Prozessstoff (zu diesen Kategorien s. B. I. [S. 379]): Man stelle sich nur vor, die Wilderei wäre ein Antragsdelikt und der Antrag würde fehlen, dann wird klar, dass das Gericht möglicherweise auch über Straftaten erkennen muss, deretwegen es nicht verurteilen darf. 2501 Binding, Strafurteil, S. 316 ff.; aus nationalsozialistischer Sicht s. nur Nagler, ZAkdR 1939, S. 371 ff., 401 ff. und die Nachw. o. Fn. 1408. 2502 Jescheck, JZ 1957, S. 30; im gleichen Sinne Vogler, Rechtskraft, S. 72; Noftz, Prozeßgegenstand, S. 27; nicht so fern ist auch die Beurteilung, der Begriff beruhe auf dem Naturalismus des 19. Jahrhunderts (Noftz, Prozeßgegenstand, S. 28; ähnl. ebenso

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es einzelne Entscheidungen gibt, die sich wohl sehr gut nach diesem Schema deuten lassen (insbesondere die Entscheidung, die dem Freispruch wegen Nichtanzeige geplanter Straftaten strafklageverbrauchende Wirkung bezüglich der Anstiftung zum nicht angezeigten Mord zusprach, RGSt 21, 78),2503 hat man den Eindruck, dass diese weite Rechtskraft eher zähneknirschend hingenommen worden ist, um dasjenige sicherzustellen, was das Reichsgericht unangetastet lassen wollte: die sehr weite Kognitionsbefugnis des Gerichts. Insofern ging es dem Reichsgericht weniger um Liberalismus als darum, von der Rechtsstellung des alten Spezialinquirenten, der weitgehend ungebunden nach strafbarem Verhalten innerhalb eines bestimmten Lebensabschnitts eines Beschuldigten suchen durfte, so viel zu retten, wie noch gerettet werden konnte. Das Inquisitionsverfahren kannte trotz der Reichweite der gerichtlichen Kognitionsbefugnisse die Kehrseite des weiten Strafklageverbrauchs deshalb nicht, weil es für die Rechtskraft wegen seiner kompromisslosen Verpflichtung zur materiellen Wahrheit und zum „ne delicta impunita remanerent“ bereits kaum Verständnis hatte (s. o. Kap. 1 C. IV., VIII. [Bd. 1, 351 f., 362 ff.]). Das reformierte Verfahren erhob aber die Überwindung der absolutio ab instantia zu einer zentralen Forderung, womit man dem ungebundenen Spezialinquirenten das Mittel wegnahm, den Strafklageverbrauch auf ein kriminalpolitisch erträgliches Maß zurückzuschrauben. Ohne absolutio ab instantia, aber gleichzeitig ohne die Kognitionsbefugnisse des Gerichts einengen zu wollen, verblieb nur der Weg, nach punktuellen Notlösungen zu suchen. Einen ganzen Katalog solcher ad hoc Behelfe liefert die komplizierte Rechtsprechung zur fortgesetzten Handlung, die mehrere Ausnahmen für den alle Einzeltaten erfassenden Strafklageverbrauch postulierte, der wegen der Kongruenz zur Reichweite der Kognition an sich geboten war: Insbesondere sollte die Strafklage nicht beim Freispruch verbraucht werden, auch nicht bei einer Verurteilung wegen eines Einzelakts. Das wohl wichtigste Ventil, das die Praktikabilität des weiten Tatbegriffs sicherstellte, war aber die These von der eingeschränkten Rechtskraft des Strafbefehls.2504 Es ist bemerkenswert, dass bereits die vielBarthel, Begriff der Tat, S. 83 f.), wenn man bedenkt, dass der Naturalismus aus der Perspektive der illiberalen Rechtsauffassung als Erscheinungsform des Liberalismus eingestuft wurde (s. etwa Welzel, Naturalismus, S. 29 ff., 41). 2503 Sogar dies ließe sich aber unter Verweis auf die wenige Jahre zuvor gefällte Entscheidung RGSt 14, 78 in Frage stellen, in der das Reichsgericht klargestellt hatte, das die Tat bei einer Anklage wegen mittäterschaftlicher Anstiftung auch die Nichtanzeige geplanter Straftaten erfasste. Diese Entscheidung hatte bemerkenswerterweise nicht erst den Strafklageverbrauch zum Gegenstand, sondern eine von der Staatsanwaltschaft erhobene Beschwerde wegen der Weigerung des Gerichts, den Geschworenen die Frage nach dem Tatbestand der Nichtanzeige zu stellen. Man kann also gut mutmaßen, dass für RGSt 21, 78 nicht liberale Großzügigkeit, sondern Sorgen um die eigene Autorität ausschlaggebend waren. 2504 Ähnliches Urteil bei Binding, Strafurteil, S. 336; Liu, Identität der Tat, S. 70; Vogler, Rechtskraft, S. 91; Spinellis, Rechtskraft, S. 43.

2. Kap.: Der Begriff der strafprozessualen Tat

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zitierte Entscheidung2505 zur prozessualen Tatidentität zwischen dem Schießen an bewohnten Orten und einem Tötungsdelikt keine Einstellung des zweiten Verfahrens zum Ergebnis hatte. Denn über die erste Tat war glücklicherweise im Wege des Strafbefehlsverfahrens entschieden worden, so dass sich der Ausweg der Negierung der Rechtskraft der Strafbefehlsentscheidung bot. Da hat sich das Reichsgericht nicht gescheut, sich über den eher für die Rechtskraft sprechenden Wortlaut des § 450 RStPO a. F. hinwegzusetzen, der dem nach dem Ablauf der Frist unwidersprochen gebliebenen Strafbefehl „die Wirkung eines rechtskräftigen Urtheils“ zusprach.2506 Die weitere Geschichte der karussellartigen Schwankungen der Rechtsprechung zum strafprozessualen Tatbegriff, die ihren Höhepunkt wohl in den politisch brisanten Entscheidungen im Rahmen der Terroristenprozesse Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre erreichte, lässt sich am besten als Versuch verstehen, zwischen der Sicherstellung der weiten Befugnisse des inquisitorischen Richters einerseits und der rechtspolitisch erträglichen Beschränkung des Strafklageverbrauchs anderseits einen Spagat zu machen. Immer wieder sind auf diesem Weg Entscheidungen gefällt worden, bei denen man den Eindruck nicht vermeiden kann, dass sie nur deshalb das eine oder andere Ergebnis gehabt haben, weil es bei ihnen um die Frage nach der Reichweite der Kognition – dann weiter Tatbegriff – oder um den Strafklageverbrauch ging – dann enger Tatbegriff.2507 Bereits das Reichsgericht hatte einen Fall zu entscheiden, in dem der Angeklagte, „bei Ausführung eines Einbruchsdiebstahls, von F. überrascht, auf ihn mehrere Revolverschüsse abgegeben hat.“ Der Angeklagte war schon wegen des Einbruchsdiebstahls (§ 243 Abs. 1 Nr. 2 RStGB a. F.) durch die Strafkammer (also nicht durch Strafbefehl!) verurteilt worden, und von den in Richtung des Opfers abgefeuerten Schüssen war in der Begründung dieser Entscheidung die Rede. Trotzdem beschloss das Reichsgericht, dass es eine Anklage wegen des damals vorhandenen (versuchten) Tötungsdelikts des § 214 StGB geben dürfe, weil zwischen der Tötung und dem Diebstahl ein Verhältnis materiellrechtlicher Realkonkurrenz bestehe, das zur Verschiedenheit der prozessualen Taten führe.2508 Auch die be2505

RGSt 4, 243. RGSt 4, 243 (245 f.): „. . . so kann in dieser Bestimmung wohl eine Gleichstellung desselben mit dem Urteile bezüglich der Anfechtbarkeit und Vollstreckbarkeit . . ., nicht aber mit derjenigen Wirkung des Urteils, welche gerade in der ihm vorausgegangenen Verhandlung ihren Grund hat, gefunden werden . . .“ – Das heißt noch nicht, dass diese Rechtsprechung notwendig falsch ist, auch wenn sie sich mit dem Inhalt des positiven Rechts schlecht vereinbaren lässt. Näher u. Kap. 4 F. II. 9. (S. 810 ff.). 2507 Ebenso Hanack, JZ 1972, S. 356; Detmer, Begriff der Tat, S. 17. 2508 RGSt 57, 51 (52). Diese Entscheidung erscheint um einiges absurder, wenn man die Vorschrift von § 214 RStGB berücksichtigt: „§ 214. Wer bei Unternehmung einer strafbaren Handlung, um ein der Ausführung derselben entgegentretendes Hinderniß zu beseitigen oder um sich der Ergreifung auf frischer That zu entziehen, vorsätzlich einen Menschen tödtet, wird mit Zuchthaus nicht unter zehn Jahren oder mit lebenslänglichem Zuchthaus bestraft.“ 2506

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

rühmte Entscheidung des Bundesgerichtshofs, in der wegen der angeblich fehlenden inneren Verknüpfung der versuchten Abtreibung und der vollendeten Tötung des Neugeborenen unterschiedliche prozessuale Taten angenommen wurden,2509 lässt sich nur einigermaßen erklären, wenn man berücksichtigt, dass das Erstverfahren wegen der versuchten Eigenabtreibung die milde Strafe von zwei Monaten Gefängnis zum Ergebnis hatte.2510 Entsprechendes sollte man von einer neueren Entscheidung sagen, die die Bestrafung einer versuchten Anstiftung zum Mord zuließ, obwohl der Angeklagte schon wegen eigenhändiger Begehung desselben Mordes freigesprochen worden war.2511 Hier hat der BGH sogar das Kriterium des Verfolgungswillens der Staatsanwaltschaft herangezogen;2512 ein Kriterium, von dem es immer geheißen hat, dass es nur bei verschiedenen prozessualen Taten von Bedeutung sein könne (s. o. C. IV. [S. 433]), was hier, weil zwischen Versuch und Vollendung (s. o. E. III. 2. b) [S. 553]), Anstiftung und Täterschaft (s. o. E. III. 2. d) [S. 554 f.]) niemals prozessuale Zäsuren angenommen worden sind, offensichtlich nicht gegeben ist. In einer vor Kurzem ergangenen Entscheidung, in der es – soweit ersichtlich – nicht mehr um den Strafklageverbrauch, sondern um die Reichweite der Kognitionspflicht ging, kassierte der BGH ein Urteil, das davon ausgegangen war, dass Anstiftung und Kettenanstiftung nicht dieselbe Tat seien.2513 In den politisch heiklen Terroristenprozessen wagte die Rechtsprechung, das Problem alexandrinisch zu lösen: Sie zerschnitt das Band zwischen Kognitionsbefugnis und Rechtskraft (BGHSt 29, 288 [297 f.]). Man beschritt also den Weg des hier sogenannten inkongruent-dynamischen Tatbegriffs, den insbesondere nationalsozialistische Autoren vorgezeichnet hatten, und der in der Nachkriegszeit vor allem von Peters und Henkel propagiert wurde. Dieser Weg erschien auch für alle auf den ersten Blick vorzugswürdig: Er widerstreitet weder der Prozessökonomie, noch hat er Gerechtigkeitslücken zur Folge. „Weite Erledigungsbefugnis bei enger Erledigungswirkung“.2514 Dass für die nationalsozialistische Strafprozessrechtslehre eine Einschränkung der richterlichen Kognitionsbefugnisse nicht in Frage kam, liegt auf der Hand. Das nationalsozialistische Strafverfahrensrecht verstand sich zum Teil als Gegen2509

BGHSt 13, 21; hierzu o. E. III. 6. (S. 586 f.). Selbe Vermutung bei Hanack, JZ 1972, S. 356; Detmer, Begriff der Tat, S. 94: „Argumentation . . . ist deutlich von der Intention, das Verbot der Doppelverfolgung nicht eingreifen zu lassen, geprägt“. 2511 BGH NStZ 2000, 216. 2512 Zust. Maatz, FS Meyer-Goßner, S. 266, der im Verfolgungswillen von Staatsanwaltschaft und Gericht den „Schlüssel zu jener Entscheidung“ erblickt. 2513 BGH StraFo 2009, 289. 2514 So Büchner, Strafprozessuale Tat, S. 9. Siehe davor Hall, DRW 1941, S. 325: „Wir wollen heute den Umfang der Wahrheitserforschung des Richters erweitern, aber den Umfang der Rechtskraft möglichst begrenzen“. 2510

2. Kap.: Der Begriff der strafprozessualen Tat

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reformation des liberalen reformierten Strafverfahrens. „Jede Beschränkung der richterlichen Prüfungspflicht ist von Übel.“ 2515 Denn bei dem inkongruenten Tatbegriff gibt es nur einen Verlierer, nämlich denjenigen, der ein zweites Mal zur Rechenschaft gezogen wird, obwohl man ihm eigentlich für das erste Mal endgültige Rehabilitierung schuldet. Zum Glück ist aber die in den Terroristenprozessen unverhohlen geöffnete Tür weitgehend unbenutzt geblieben. Inzwischen dürften die Winde sogar in die umgekehrte Richtung wehen. Die Gerichte, in deren eigenen Augen der Auftrag, Wahrheit und Gerechtigkeit zu verwirklichen, aus mehreren Gründen fragwürdig geworden ist – Abschied von Kant und Hegel,2516 Präventivwirkung des Nichtwissens,2517 und insbesondere ein vorhandener oder wenigstens empfundener Justiznotstand2518 – signalisieren endlich ihre Bereitschaft, die bisher selten in Frage gestellte weite Kognitionspflicht einzuschränken, und „eine uferlose Ausdehnung der Kognitionspflicht des Tatrichters“ zu verhindern.2519 Der hier formulierte Vorschlag ist deshalb unter solchen Bedingungen nicht von vornherein hoffnungslos. Bescheiden müssen seine Hoffnungen schon bleiben – denn wer liest ein 1000-seitiges Buch? –, aber sie können trotzdem als Versuch angesehen werden, dem Anliegen zu entsprechen, ohne an den nicht nur für das deutsche, sondern für jedes einen Legitimitätsanspruch stellende Strafverfahren konstitutiven Grundsätzen der Orientierung an Wahrheit und Gerechtigkeit zu rütteln. Die Hoffnungen müssen auch deshalb bescheiden bleiben, weil die vorliegende Ansicht eine Revidierung einer Vielzahl von Dogmen erheischt, die sich über Generationen zu selbstverständlichen Denkgewohnheiten versteinert haben. Erstens ist bereits das Dogma der prozessualen Einheit der materiellrechtlichen Idealkonkurrenz – sogar im Falle der natürlichen Handlungseinheit – aufzugeben (s. o. D. VII. 1. [S. 531 f.]). Zweitens ist das Dogma der Unteilbarkeit der prozessualen Tat zu relativieren: Unteilbarkeit bedeutet nur, dass über den Gegenstand der Anklage nur eine einheitliche Sachentscheidung zu fällen ist und dass der Gehalt der Anklage nicht durch den empirischen Willen des einzelnen Anklägers, sondern nach allgemeinen Regeln bestimmt werden muss (s. o. C. II. [S. 549 f.]). Drittens muss das Dogma der allseitigen Kognition gründlich revidiert werden – die „Allseitigkeit“ kann nicht die Gesamtheit aller eventuell einschlägigen Vorschriften aus dem Kern- und Nebenstrafrecht erfassen, sondern nur diejenigen, die die bereits in der Anklage verkörperte Vorwurfsrichtung integrieren (s. o. D. VII. 1. [S. 520 ff.], F. II. [S. 548 ff.]). Viertens müssen die Hem2515 2516 2517 2518 2519

Hall, DRW 1941, S. 325. Klug, Abschied, S. 36 ff. Popitz, Präventivwirkung, passim. BGHSt GrS 50, 40 (53 f.) – hierzu bereits o. Fn. 562. BGHSt 43, 252 (257); 46, 350 (358).

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

mungen gegen einen offen normativ argumentierenden Tatbegriff überwunden werden – was wohl die kleinste Herausforderung wäre, da der vermeintlich rein geschichtliche Begriff der h. M. sich anerkanntermaßen seit Langem für normative Kriterien wie Angriffsrichtung, Gerechtigkeit, Vertrauensschutz und dergleichen geöffnet hat (s. o. C. IV. [S. 433]). Die hier vertretene normative Ansicht überwindet aber die mit den Normativierungsbestrebungen der Rechtsprechung einhergehende Unsicherheit und Zufälligkeit, da sie die maßgeblichen Gesichtspunkte aus einer prozesstheoretisch fundierten Begründung gewinnt und sie ihrerseits in drei präzisen und leicht handhabbaren Regeln konkretisiert.2520 Diese Denkgewohnheiten müssen auch deshalb überwunden werden, weil, wie wir versucht haben darzulegen, sie kein Produkt des Zufalls sind, sondern Überbleibsel des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens in seinem bedenklichsten Aspekt, der Verletzung des nemo iudex in causa sua-Grundsatzes, das weniger wegen der RStPO als „Untersuchungsverfahren mit Anklageform“ (s. o. B. III. 4. b) [S. 401 f.]) als vielmehr wegen der Spruchpraxis des Reichsgerichts die große Reform des 19. Jahrhunderts in einem zentralen Aspekt zu überleben wusste. Den Spezialinquirenten haben wir, auch hundert Jahre nach den Mahnungen von Binding, noch nicht umzubringen gewusst. Es ist an der Zeit. 3. Kapitel

Die erste Strafe A. Einleitende Worte zu dem vorliegenden und dem nächsten Kapitel I. Das zweite unter den „klassischen“ Problemen der materiellen Rechtskraft (s. o. Einleitung [S. 33 f.]) ist die Frage, was der Tat passiert sein muss, damit die Rechtsfolge der Sperrwirkung, insbesondere des Verbots einer weiteren Verfolgung (ne bis in idem) eintritt. Zu ihrer Beantwortung werden wir uns auf die Ergebnisse der theoretischen Grundlegung, insbesondere auf unsere dreisäulige Rechtskrafttheorie (o. Teil 2 Kap. 1 D. [S. 371 ff.]) zurückgreifen müssen. Bevor man voranschreitet, können zwei unbestreitbare Eckpunkte festgehalten werden. Wenn jemand wegen der Begehung einer Straftat für mehrere Jahre ins Gefängnis geschickt wird und nach Ablauf dieser Jahre in Freiheit gesetzt wird, ist es ungerecht, ihn wegen derselben Tat noch einmal für weitere Jahre einzusperren. Dass dies der Fall sein muss, leuchtet ein, wobei es unerheblich ist, ob 2520 So dass die gegen die Unbestimmtheit von normativierenden Tatbegriffen gerichteten Einwendungen von Grünwald, ZStW-Beiheft 1974, S. 111; Schöneborn, MDR 1974, S. 534 (mit Verweis auf BGHSt 13, 21); Achenbach, ZStW 87 (1975), S. 81 Fn. 34; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 130, 135 sie nicht treffen.

3. Kap.: Die erste Strafe

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dieser Freiheitsentziehung eine Anklage, ein Verfahren und ein Urteil vorausgegangen sind. Der zweite Eckpunkt ist, dass ebenso wenig Zweifel daran bestehen, dass derjenige, der nach Anklage und Verfahren durch ein Urteil freigesprochen wird, nicht wieder Anklage, Verfahren und Urteil erdulden muss, und dies unabhängig davon, ob er jemals einen Tag im Gefängnis verbracht hat. Der erste Eckpunkt ist Ausdruck des Grundsatzes, dass Strafe Schuld tilgt; der zweite Eckpunkt ist Ausdruck des Grundsatzes, dass der, der eine Verfolgung erduldet hat, Rehabilitierung verdient. Was diese Begriffe, Schuldtilgung und Rehabilitierung, genau bedeuten, soll im vorliegenden und im folgenden Kapitel geklärt werden; insbesondere wird es darum gehen, zu bestimmen, was für einen Gehalt die Begriffe, die sie auslösen, also Strafe und Prozessduldung, haben müssen. II. Nach der hier entwickelten Rechtskrafttheorie beruht die Rechtskraft weder auf Erwägungen der Rechtssicherheit noch des Beschuldigtenschutzes noch der Gerechtigkeit (s. o. Teil 2 Kap. 1 C. II., VI., VIII. [S. 344 ff., 354 ff., 360 ff.]). Die Rechtskraft in ihrer gegen den Staat gerichteten Dimension ist vielmehr die Folge einerseits davon, dass die Schuld des Täters bei einer Bestrafung getilgt wird, andererseits davon, dass die nichtbestätigte Verdächtigung aufgehoben werden muss, mit anderen Worten, dass der Verdächtige zu rehabilitieren bzw. der Verdacht zu tilgen ist; und in ihrer gegen den Beschuldigten gerichteten Dimension beruht sie auf dem Gedanken der Verfahrensgerechtigkeit (o. Teil 2 Kap. 1 D. [S. 371 ff.]). Auf die Verfahrensgerechtigkeit muss man aber nicht in einem besonderen Abschnitt eingehen. Sie wird im gesamten Verfahren durchgehend verwirklicht und schlägt sich nicht in einem besonderen verfahrensbeendenden Akt nieder.2521 III. Zuerst ist also zu klären, was es bedeutet, zu sagen, jemand sei wegen einer Tat bestraft worden, so dass seine Schuld deshalb als getilgt gilt; erst anschließend kann die Frage nach der Rehabilitierung durch Verfahrenserduldung sinnvoll gestellt werden. Strafe ist ohne Verfahren begrifflich möglich, wie auch umgekehrt – und noch offensichtlicher – ein Verfahren ohne Strafe möglich ist. Strafverfahren sind aber Verfahren, die die Zufügung einer Strafe ermöglichen sollen (s. o. Teil 1 Kap. 2 B. II. [S. 120]). Die Bestimmung des Strafbegriffs ist deshalb logisch primär; um zu bestimmen, wann genau ein Strafverfahren vorliegt, das ein Rehabilitierungsrecht begründet, muss man bereits wissen, was eine Strafe ist. IV. Im vorliegenden Kapitel ist an erster Stelle der tragende Begriff der Schuldtilgung zu erläutern (u. B.). Anschließend wird man sich dem Begriff der Strafe zuwenden, als derjenigen Sanktion, die das Vermögen hat, Schuld zu tilgen (u. C. [S. 640 ff.]). An letzter Stelle wird man die im positiven Recht im 2521

Für eine Präzisierung s. u. Kap. 4 E. IV. (S. 774 ff.).

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Einzelnen vorhandenen Sanktionen anhand des gewonnenen Begriffs messen (u. D. [S. 662 ff.]).

B. Zum Begriff der Schuldtilgung I. Man darf also als gewiss voraussetzen, dass durch die Zufügung der schuldentsprechenden Strafe die Schuld getilgt wird. Wie genau, soll erst u. C. IV. 2. (S. 657 ff.) näher geklärt werden. An vorliegender Stelle soll nur hervorgehoben werden, dass die Vorstellung der Schuldtilgung nicht voraussetzt, dass man eine Vergeltungstheorie der Strafe vertritt. Schuldtilgung bezeichnet nichts Mysteriöses,2522 sondern bedeutet – in einer ersten, vorläufigen Annäherung – nur die nahezu banale Vorstellung, dass bestrafte Schuld „quittiert“ wird, dass also der Schuld eine bestimmte Strafe entspricht, nach deren Verhängung die Schuld verschwindet, in dem Sinne, dass keine erneute Bestrafung zulässig ist. Man muss sich nicht auf eine zivilrechtliche Metapher berufen, aber die deutsche Sprache, in der das Wort Schuld zwei Phänomene bezeichnet, für die andere Sprachen mehrere Worte kennen (Englisch: debt/guilt; Spanisch: deuda/culpa; Portugiesisch: dívida/culpa), macht es einem in dieser Hinsicht so leicht, dass dieser Versuchung nicht widerstanden wird: Schulden erlöschen durch Erfüllung (§ 362 Abs. 1 BGB), strafrechtliche Schuld schuldet Straferduldung und erlischt deshalb, wenn die Strafe zugefügt und erduldet wird. Eine weitere Leistung erfolgt rechtsgrundlos; ebenso verhält es sich bei der Duldung einer weiteren Bestrafung. II. Schuld ist aber quantifizierbar. Deshalb reicht es nicht aus, dass man bestraft wird; auch auf die Art und Höhe der Strafe kommt es an. Wird aber die verhängte Strafe vollumfänglich ausgetragen, dann hat man es mit dem prototypischen Fall getilgter Schuld zu tun. Die vollumfänglich abgebüßte Strafe ist also der klarste Fall, in dem von Schuld nicht mehr die Rede sein kann. Gleichzeitig ist klar, dass erst die volle Abbüßung der Strafe eine volle Tilgung der durch die Straftatbegehung verwirklichten Schuld bewirkt. Es fragt sich also, warum bei einer bloß teilweise abgebüßten Strafe nach den vorliegenden Prämissen nicht doch ein zweites Verfahren möglich soll sein. Jemand sitzt seit neun Jahren im Gefängnis, er hat aber zehn abzubüßen. Wieso darf ihn der Staat nicht erneut verfolgen, wenn erst die vollständige Erduldung der Strafe die Schuld tilgt? In der Tat kann von Schuldtilgung (und wegen der Verurteilung erst recht von Rehabilitierung) hier nicht die Rede sein. Für die Sperrwirkung kann man dennoch zwei Gründe anführen, einen oberflächlicheren und einen tieferen. Der oberflächlichere Grund ist, dass ein zweites Verfahren hier nicht nötig wäre, denn es könnte für die Verhängung der Strafe bestenfalls eine Rechtsgrund2522 Die Vielzahl der durch das Wort Tilgung suggerierten Metaphern – die von der buchstäblich fixierten Idee einer Löschung eines Eintrags aus der Biografie eines Menschen zu den religiösen Bildern des Fegefeuers, des Sündenbocks und des Lamms Gottes reichen – kann man ebenfalls außer Betracht lassen.

3. Kap.: Die erste Strafe

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lage liefern, die man aber schon besitzt. Entkommt also der Täter aus dem Gefängnis, dann muss man kein neues Verfahren durchführen, um die Verhängung des Strafrestes zu ermöglichen. Der tiefere Grund besteht darin, dass, wie o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 2. c), 6. e) (S. 240 ff., 315 ff.) bereits angemerkt, Schuld nicht nur Strafe, sondern auch Verfahren schuldet. Der Schuldige muss das Verfahren erdulden, aus demselben Grund, weshalb er die Strafe erdulden muss. Im Laufe des Verfahrens wird dies wegen der Unschuldsvermutung zwar irrelevant sein (o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 6. e) [S. 315 f.]); schließt das Verfahren jedoch mit einer Schuldfeststellung ab, so hören sich alle Beschwerden des Schuldigen, dass er verdächtigt worden ist, rückwirkend als unangebracht an. Hätte er das Verfahren wirklich nicht gewollt, hätte er von der Straftatbegehung Abstand nehmen müssen. Es gibt also neben der klassischen, auf die Strafe bezogenen Schuld eine verfahrensbezogene Schuld, eine Strafprozessduldungsschuld. IV. Es fragt sich aber, weshalb diese Schuld mit der Duldung eines einzigen Verfahrens getilgt wird. Da die Prozessduldungsschuld eine Größe ist, die erst rückwirkend von Bedeutung ist, müsste man nicht vielmehr sagen, dass, auch wenn erst im 50. Verfahren der Schuldnachweis gelingt, die Duldung aller 50 Verfahren nachträglich gerechtfertigt war? Müsste man nicht sagen, dass, wer Strafe schuldet, auch die für die Strafzufügung notwendigen Bedingungen schuldet, und dies auch dann, wenn sich 50 Verfahren als notwendig erweisen sollten? Dazu wäre aber zweierlei zu sagen. Erstens wäre selbst dann, wenn der Schuldige ggf. 50 Verfahren schulden würde, von der Vollstreckung dieser Schuld abzusehen, weil man ansonsten die Rehabilitierung des Unschuldigen völlig wertlos machen würde. Denn auch der Unschuldige sähe sich mit der Möglichkeit konfrontiert, 50 Prozesse zu erdulden, mit dem Unterschied, dass bei ihm – von einem Fehlurteil abgesehen – auch der Letzte zu einem Freispruch kommen würde. Der dem Unschuldigen geschuldete Ausgleich gebietet es also, auch den Schuldigen, der am Ende eines Verfahrens nicht überführt wird, zu rehabilitieren. Der nicht überführte Schuldige kommt also in den Genuss derselben Rehabilitierung, die dem Unschuldigen gewährt wird, zugegeben als Trittbrettfahrer. Mit dieser Begründung darf man sich aber deshalb nicht begnügen, weil es den Schuldigen gibt, der verurteilt wird, aber nicht dem vollen Umfang seiner Schuld entsprechend; erst wenn man an diese Konstellation denkt, erschließt sich die schuldtilgende Dimension der Prozessduldung. Denn die Prozessduldungspflicht ist eine bloß negative; man muss den Prozess über sich ergehen lassen. Man darf gewisse aktive Mitwirkungsrechte wahrnehmen, muss dies aber nicht tun; insbesondere darf man nicht dazu gezwungen werden, am Verfahren aktiv mitzuwirken (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 2. d) cc) [S. 257 f.]). Würde man aber 50 Prozesse für zulässig erklären, solange sich beim Letzten eine Verurteilung ergibt, hätte der Schuldige einen einzigen Ausweg, früher in Ruhe gelassen zu werden: zu

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

gestehen, also zu seiner Überführung aktiv beizutragen. Es kann nicht eingewandt werden, die Ruhe des Schuldigen sei nicht schutzwürdig, denn dem würde man hier sofort zustimmen. Es geht nicht um die Ruhe des Schuldigen, sondern darum, dass die immer erneuerbare Möglichkeit der Inanspruchnahme durch ein weiteres Strafverfahren, das ihn unter anderem dieser Ruhe beraubt, sich als optimales Nötigungsmittel erweisen würde, um die Mitwirkung an der eigenen Überführung zu erzwingen. Weil der Beschuldigte nicht genötigt werden darf, aktiv an seiner Überführung mitzuwirken, hat auch er ein Recht darauf, dass seine Prozessduldungsschuld schon nach der passiven Duldung des Verfahrens getilgt wird. V. Das erklärt auch das regelmäßig vernachlässigte, in vorzüglicher Klarheit insbesondere von Schroeder hervorgehobene Nachschlagsverbot, also, nach vorliegenden Begriffen, das Verbot, mittels eines erneuten Verfahrens die noch ungetilgte Straferduldungsschuld zu bestrafen.2523 Der Verurteilte, der in Wahrheit etwas viel Schlimmeres getan hat – die Körperverletzung mit Todesfolge war in Wahrheit Mord –, schuldet in der Tat noch eine Differenz. Wenn es aber schon im Erstverfahren zulässig gewesen war, wegen der Differenz zu verurteilen, dann ist durch die Duldung des Erstverfahrens zwar nicht die Straftaterduldungs-, aber durchaus die Prozesserduldungsschuld getilgt. Ein erneutes Verfahren ist nicht möglich. Möglich wäre an sich nur eine Bestrafung ohne Verfahren; diese verbietet sich jedoch aus anderen Gründen, nämlich weil jede Bestrafung, die nicht mittels eines Verfahrens gewonnen wird, einen bloßen Akt der Gewalt darstellt (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 2. d) cc) [S. 252 ff.]). VI. Schuld liegt unabhängig vom Urteil vor. Ein Schuldspruch ist also insofern nicht konstitutiv, sondern deklaratorisch.2524 Das bedeutet auch, dass die Schuld, die getilgt wird, die wirkliche Schuld ist, also eine Schuld, die unabhängig vom Urteil besteht. Weil aber nicht jede wirkliche Schuld, sondern prinzipiell nur die, die in einem Schuldspruch festgestellt wird, bestraft werden kann, vermag die Strafe auch nur diese Schuld zu tilgen. Die durch Strafe getilgte Schuld bezieht sich also auf das idem crimen, nicht auf das idem factum.2525 Dennoch wird der 2523

Schroeder, JuS 1997, S. 230. Mit der klassischen Diskussion über die deklaratorische oder konstitutive Rechtsnatur des strafrechtlichen Sachurteils möchte ich mich nicht beschäftigen. Im Sinne der ersten Ansicht Binding, Strafurteil, S. 308 ff.; Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 238; Schanze, ZStW 4 (1884), S. 444; and. Spinellis, Rechtskraft, S. 36 f.: deklaratorisches und gestalterisches Urteil; für Gestaltungsurteil Eb. Schmidt, Lehrkommentar I, Rn. 30, 31, der aber darauf besteht, das Urteil als Feststellung der Wahrheit des Geschehens und dessen, was rechtens ist, aufzufassen (Rn. 13); dezidiert im Sinne einer gestalterischen Auffassung des Urteils Mattil, DStR 1942, S. 163; Cristiani, Revisione, S. 19 ff. 2525 Zu diesen Begriffen o. Kap. 2 D. IV. 2. (S. 486 ff.). Es verhält sich in der Tat so, dass der Gegenstand der Schuldtilgung durch Strafe und der Gegenstand der Rehabilitierung nicht dieselben sind (ebenso Morris/Howard, Res judicata, S. 253 ff.); nur gibt es, wie gerade dargelegt, eine Schuldtilgung durch das Verfahren. 2524

3. Kap.: Die erste Strafe

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Gegenstand des Verfahrens so gut wie immer viel mehr erfassen als den Inhalt des Schuldspruchs, denn der notwendigerweise als kongruent-statisch zu konzipierende (o. Kap. 2 D. IV. 1. [S. 484 ff.]) Begriff der prozessualen Tat erfasst sogar in streng akkusatorischen Systemen mehr als das, wofür explizit verurteilt wird (s. o. Kap. 2 D. VI. [S. 513 ff.]). Bezüglich dieser gesamten Differenz zwischen der im Urteil festgestellten Schuld und dem Gegenstand des Verfahrens ist nicht mehr der Gedanke der Tilgung der Straferduldungsschuld, sondern derjenige der Prozessduldungsschuld einschlägig. VII. Eine Präzisierung. Selbstverständlich bewirkt nicht schon das Urteil per se die Tilgung der Straferduldungsschuld.2526 Schuldtilgung durch die Verurteilung ist ein pars pro toto, in Wahrheit nur mittelbare oder bedingte Schuldtilgung; erst die auf Grundlage der Verurteilung erfolgende volle Strafvollstreckung vermag die Schuld aus der Welt zu schaffen. Wenn man also hier wiederholt von Schuldtilgung spricht, beruht das darauf, dass die Verurteilung die Rechtsgrundlage für die Strafvollstreckung bietet, in dem Sinne, dass nach der Verurteilung keine „wesentlichen“ rechtlichen Schranken bis zum Fakt der Bestrafung zu überwinden sind. Der faktische Vollzug der Bestrafung darf ab diesem Punkt insofern „automatisch“ erfolgen. VIII. Wird umgekehrt der in Wahrheit Unschuldige für schuldig erkannt, dann kann sich das Verbot, ihn erneut zu verfolgen, nicht aus dem Gedanken der Schuldtilgung ergeben, weder durch die Strafe, noch durch das Verfahren. Denn eine Schuld, die es zu tilgen gälte, gibt es eben nicht.2527 Das Verbot, den zu hoch oder völlig zu Unrecht Verurteilten erneut zu verfolgen, folgt allein aus der Rehabilitierung. Dies könnte auch nicht anders sein. Es ist nicht Sache des Betroffenen, dafür zu sorgen, dass die über ihn verhängte Strafe legitim ist. Wird er in Anspruch genommen, ohne dass ein Recht darauf besteht, dann verschwindet erst recht die Möglichkeit, dies ein weiteres Mal zu tun. Die in dem Versuch der Tilgung einer nicht vorhandenen Schuld verkörperte „rechtsgrundlose“, also das Schuldprinzip verletzende Bestrafung, deren Geltung gegen den Verurteilten auf der Verfahrensgerechtigkeit beruht, wird eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu dessen Gunsten rechtfertigen (näher u. Kap. 6 C. II. [S. 901 ff.]). IX. Deshalb kommt es für die Sperrwirkung einer Verurteilung nicht darauf an, ob diese legitim oder illegitim ist. Bei einer legitimen Verurteilung wird Schuld getilgt; bei einer illegitimen ist Rehabilitierung erst recht geschuldet. Beide Male hat der Betroffene das Verfahren erduldet, seinen Anteil also erbracht. Eine Verletzung des Schuldprinzips wird aber, wie gerade erwähnt, unter bestimmten Bedingungen eine Wiederaufnahme des Verfahrens legitimieren.

2526 2527

Siehe oben Kap. 1 D. (S. 373). Insofern richtig Griolet, Chose jugée, S. 180; Gantzer, Rechtskraft, S. 117 f.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

C. Der Begriff der Strafe I. Einleitende Bemerkungen Strafe tilgt Schuld; es fragt sich aber, was Strafe ist. Der Begriff der Strafe muss also geklärt werden. Mit dieser Frage habe ich mich schon an anderer Stelle ausführlich beschäftigt.2528 Zwar betrachtet sich die vorliegende Arbeit, wie eingangs gesagt (s. o. Einleitung [S. 32]), als die prozessuale Schwester der in der früheren Monographie entwickelten materiellrechtlichen Theorie. Demnach ist bereits bei mehreren Gelegenheiten auf die Ergebnisse der früheren Reflexionen zurückgegriffen worden (etwa o. Teil 1 Kap. 2 C. III. 2., IV. 2., VI. 2. b) [S. 160 ff., 162 f., 201 f., 238 f.]). Mir ist aber inzwischen klar geworden, dass meine Reflexionen zum Strafbegriff präzisiert und sogar korrigiert werden müssen. Die vorliegende Arbeit bietet dazu einen geeigneten Anlass. II. Zur sog. „Strafähnlichkeit“ Bei der Diskussion über den Strafbegriff kann man zwei Ebenen unterscheiden, die eher locker miteinander verbunden sind. Zunächst gibt es eine abstraktere, rechtsphilosophisch orientierte Diskussion, die sich ohne direkten Bezug zu konkreten dogmatischen Fragen entfaltet; auf der anderen Seite besteht eine Vielzahl sektorieller, dogmatisch orientierter Diskussionen, die vor allem dort auftauchen, wo der Begriff der Strafe nicht als Rechtsfolge, sondern als Tatbestandsvoraussetzung einer sonstigen Rechtsfolge erscheint. So diskutiert man über „Strafen im Sinne von bzw. des . . .“: i. S. des Gesetzlichkeitsprinzips bzw. von Art. 103 Abs. 2 GG2529 oder i. S. des Schuldprinzips;2530 außerhalb Deutschlands hat man vergleichbar die Frage nach der Strafe i. S. des fairen Verfahrens (Art. 6 Abs. 1 EMRK, „strafrechtliche Anklage“),2531 worauf auch die Unschuldsvermutung Bezug nimmt (Art. 6 Abs. 2 EMRK),2532 oder i. S. des Rechts auf eine Verhandlung vor einem Schwurgericht und eines Verteidigers (6. Amendment amVerf, „criminal prosecution“),2533 des Rechts auf Freiheit vor dem Selbstbezichtigungszwang (5. Amendment amVerf, „any criminal case“) gestellt.2534 Eine 2528

Greco, Lebendiges, S. 281 ff. Schulze-Fielitz, Dreier-GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 19 ff.; Schmidt-Aßmann, M/DGG Art. 103 Abs. 2 Rn. 195 ff. 2530 Siehe Grzezsick, M/D-GG Art. 20 Abs. 3 Rn. 124 und w. Nachw. u. Fn. 2536. 2531 Nachw. u. IV. 2. (S. 649 ff.). 2532 Grabenwarter, EMRK § 20 Rn. 120; Mayer-Ladewig, EMRK Art. 6 Rn. 211. 2533 Näher m.w. Nachw. Chemerinsky/Levenson, Criminal Procedure, S. 698 ff. 2534 Näher Allen/Hoffmann/Livingston/Stunt/Leipold, Criminal Procedure, S. 735 ff.; aus der Rspr. U.S. Supreme Court, Boyd v. United States, 116 U.S. 616, 621 ff. (1886); United States v. U.S. Coin & Currency, 401 U.S. 715, 717 ff. (1971). 2529

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Arbeit über die materielle Rechtskraft im Strafverfahren müsste sich insbesondere für die Strafe i. S. v. Art. 103 Abs. 3 GG2535 bzw. des double jeopardy (5. Amendment amVerf) interessieren. Wie gesagt, ist das Verhältnis dieser einzelnen Strafbegriffe (die man im Folgenden als Strafen „i. S. v.“ bezeichnen wird) zueinander und zum allgemeineren rechtsphilosophischen Begriff der Strafe wenig geklärt. In Deutschland lässt sich aber die Neigung feststellen, gerade dort, wo man den Eindruck hat, dass sich die Strafe „i. S. v.“ zu sehr von der rechtsphilosophischen Strafe zu entfernen scheint, nicht mehr von einer Strafe zu sprechen, sondern von einer strafähnlichen Maßnahme. Die rechtsphilosophische Strafe, die man dann als Kriminalstrafe bezeichnet, ist regelmäßig eine hinreichende Bedingung für das Eingreifen aller gerade genannten Rechtsfolgen; eine notwendige Bedingung stellt sie aber nicht dar, da diese Rechtsfolgen auch bei Strafähnlichkeit eingreifen können. So soll Strafähnlichkeit ausreichen, damit das Schuldprinzip einschlägig ist, mit der konkreten Folge etwa, dass es auch für das Ordnungswidrigkeitenrecht gilt,2536 oder damit die Unschuldsvermutung greift, so dass diese bereits von belastenden Entscheidungsbegründungen verletzt werden kann.2537 In Amerika hält man die Freiheit vom Selbstbezichtigungszwang auch bei „quasi-criminal“ Sanktionen für einschlägig.2538 Worin die Strafähnlichkeit einer Maßnahme besteht, ob diese Eigenschaft kontextunabhängig oder maßnahmespezifisch ist, ist unklar.2539 So soll sie zwar begründen, dass das Schuldprinzip gilt; obwohl aus diesem Prinzip jedoch gefolgert wird, dass ein Beweis des ersten Anscheins für eine Verurteilung grundsätzlich nicht ausreichen soll, soll ein solcher Beweis bei einer strafähnlichen Maßnahme gem. § 890 ZPO nicht unzulässig sein.2540 Diese Probleme müssen wir hier nicht lösen. Wir befinden uns in einer glücklichen Lage: Bereits positivrechtlich scheint das Doppelbestrafungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG wegen der Schranke der „allgemeinen Strafgesetze“ nur für 2535 Zu ihr etwa Schmidt-Aßmann, M/D-GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 286 ff., 293 ff.; Schulze-Fielitz, Dreier-GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 25 ff. 2536 Etwa BVerfGE 9, 167 (170); Grzezsick, M/D-GG Art. 20 Abs. 3 Rn. 124. Ebenso gilt das Schuldprinzip für Disziplinarmaßnahmen, BVerfGE 98, 169 sowie für das Ordnungsgeld und die Ordnungshaft gem. § 890 ZPO, BVerfGE 20, 323 (331, 333); 84, 82 (87); zur Einordnung dieser Rechtsinstitute s. D. IV. 1., 7. (S. 673 ff., 699 f.). 2537 Nachw. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 6. e) (S. 317). 2538 U.S. Supreme Court, Boyd v. United States, 116 U.S. 616, 634 (1886); United States v. Ward, 448 U.S. 242, 251 ff. (1980). In der zuletzt genannten Entscheidung wird ausdrücklich unterschieden, ob die Sanktion „criminal enough“ sei, um sogar den Schutz des 6. Amendments und des double jeopardy zu begründen, oder ob sie schon „so far criminal in its nature“ sei, um den Schutz der Freiheit vom Selbstbezichtigungszwang zu begründen (S. 253 f.). 2539 Bezüglich der Unschuldsvermutung s. die Kritik von Stuckenberg, FS Hilger, S. 44: „Vergleich ohne klare Maßstäbe“. 2540 BVerfGE 84, 82 (87 ff.).

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Kriminalstrafen und nicht für bloß strafähnliche Maßnahmen zu gelten.2541 Deshalb wird sich die dogmatische Arbeit an der Strafe „i. S. v.“ hier mit der Ergründung des Wesens der Kriminalstrafe, oder, weniger pathetisch, des rechtsphilosophischen Strafbegriffs weitgehend decken. Die folgenden Erwägungen können also unmöglich die ganze Fülle an sektoriellen Diskussionen über die Strafbegriffe „i. S. v.“ einarbeiten wollen. Sie bleiben zwar nicht unberücksichtigt, werden aber nicht als Beiträge zu diesen spezifischen Diskussionen, sondern zum allgemeineren rechtsphilosophischen Strafbegriff verwertet. Die vorliegenden Erwägungen verstehen sich in erster Linie als rechtsphilosophische Untersuchung und zugleich als Beitrag zu den vorpositiven Grundlagen der Dogmatik der strafprozessualen Sperrwirkung in ihrer spezifischeren Ausprägung als Doppelbestrafungsverbot. III. Die vorherigen Überlegungen 1. In der erwähnten früheren Arbeit sind drei große Traditionen bei der Bestimmung des Strafbegriffs unterschieden worden: eine verbreitete, intuitiv sehr einleuchtende Auffassung, die in der Strafe die Zufügung eines quasi körperlichen Übels als Reaktion auf eine Straftat versteht; eine neuere, insbesondere im modernen Schrifttum und auch in der deutschen Verfassungsrechtsprechung2542 vertretene Ansicht, die die Strafe vergeistigt, also als Missbilligungsurteil über die Begehung einer Straftat ansieht; und eine letzte, der Tradition der poena medicinalis verpflichtete Auffassung, die in der Strafe eine heilende Wohltat erblickt.2543 Nach der Gewinnung eines neutralen, archimedischen Punkts, des sog. Prinzips des methodischen Pessimismus, wovon o. Teil 1 Kap. 2 B. I. (S. 119) schon kurz die Rede war, konnte zunächst die dritte Auffassung als unangemessener und unergiebiger Beschönigungsversuch abgelehnt werden.2544 Anschließend hat man sich dafür eingesetzt, die erste und die zweite Begriffsbestimmung 2541 Ähnl. verhält es sich aus amerikanischer Perspektive, die mit dem Begriff der „jeopardy of life or limb“ (5. Amendment amVerf) zu tun hat, so dass klar ist, dass nur Kriminalstrafen gemeint sind, s. U.S. Supreme Court, Hudson v. United States, 522 U.S. 93, 99 (1997). 2542 Zuletzt am prominentesten in der Entscheidung, die die Verfassungsmäßigkeit der nachträglichen Sicherungsverwahrung bestätigte, BVerfGE 109, 133 (167 f.): Strafe sei ein Übel, dass die „öffentliche Missbilligung der Tat zum Ausdruck bringt“ (ebenso die Deutung von Pösl, ZJS 2011, S. 145, der jedoch etwas missverständlich von „ex ante“-Betrachtung spricht). Siehe davor BVerfGE 9, 167 (171); 20, 323 (331): „Vorwurf“; 22, 49 (79); 26, 186 (204): „hoheitliche mißbilligende Reaktion“; 43, 101 (105: Strafe sei verbunden „mit einem ehrenrührigen, autoritativen Unwerturteil über eine Verhaltensweise des Betroffenen, dem Vorwurf einer Auflehnung gegen die Rechtsordnung und der Feststellung der Berechtigung dieses Vorwurfs“); 95, 96 (140); 96, 10 (25); 96, 231 (249); 105, 135 (153): „missbilligende hoheitliche Reaktion auf schuldhaftes kriminelles Unrecht“. 2543 Greco, Lebendiges, S. 281 ff. m. ausf. Nachw. 2544 Greco, Lebendiges, S. 287 ff., 295 f.

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miteinander zu kombinieren, aber nicht konjunktiv, sondern disjunktiv: Strafen seien demnach körperliche oder kommunikative Übel, d.h. zugefügte Nachteile oder ausgesprochene Missbilligungsurteile.2545 Nach mehreren Präzisierungen2546 wurde folgende Definition vorgeschlagen: Strafen seien „vom Staat verhängte, besonders schwere Übel körperlicher oder kommunikativer Art . . ., die als objektive Reaktion für eine angenommene Straftat verhängt werden.“ 2547 2. Bei dieser Definition ist zunächst Folgendes hervorzuheben: a) Methodisch beruht sie auf einer strengen Trennung zwischen dem Begriff der Strafe und Legitimationsvoraussetzungen der Strafe. Eine solche Trennung wird in der deutschen Literatur meistens nicht durchgeführt.2548 Der Strafbegriff soll allein mit Hinblick darauf gebildet werden, dass er den Gegenstand der besonderen Legitimitätsvoraussetzungen kennzeichnen soll. Ob diese Legitimitätsvoraussetzungen ihrerseits vorliegen, ist eine weitere Frage, deren Beantwortung nicht vom Strafbegriff erwartet werden kann.2549 Daran ist immer noch festzuhalten. Denn zunächst sind die Fragen nach dem Begriff der Strafe und nach den Rechtfertigungsvoraussetzungen der Strafe kategorial verschieden – Erstere ist eine semantisch-deskriptive, Letztere eine rechtsethisch-normative Frage.2550 Ferner kann nur eine solche Trennung der Intuition gerecht werden, dass es ungerechtfertigte Strafen geben kann, dass also die Kennzeichnung von etwas als Strafe noch nicht die weitere Frage präjudiziert, ob dieses etwas auch legitim ist.2551 Zuletzt kann allein diese Trennung gewährleisten, dass man nicht tendenziös dort eine Strafe für nicht gegeben erachtet, wo man nicht dazu in der Lage wäre, alle Rechtfertigungsvoraussetzungen zu bejahen, m. a. W.: einen sogenannten „Etikettenschwindel begeht.2552 Deshalb enthält die Definition keinerlei Hinweise auf Aspekte, die normalerweise von den sogenannten Straftheorien diskutiert werden, also auf Abschreckung, Vergeltung oder Resozialisierung. Auch aus diesem Grunde ist in der Definition von einer Reaktion auf eine angenommene und nicht auf eine wirkliche Straftat die Rede. 2545

Greco, Lebendiges, S. 297. Greco, Lebendiges, S. 299 ff. 2547 Greco, Lebendiges, S. 303. Die Hervorhebungen sind jetzt hinzugefügt worden. 2548 Zu den wenigen Ausnahmen gehören Schmidhäuser, FS Correia, S. 533, 537; Neumann/Schroth, Neuere Theorien, S. 5; Neumann, FS Jakobs, S. 438; w. Nachw. bei Greco, Lebendiges, S. 278 Fn. 323. 2549 Greco, Lebendiges, S. 275 ff. Man merke, dass die o. Teil 1 Kap. 2 B., C. (S. 119 ff., 157 ff.) entwickelte Reflektion über das Strafverfahrensrecht methodisch parallel vorgegangen ist: Zunächst wurde ein Begriff des Strafverfahrens ausgearbeitet, erst anschließend wurde gefragt, unter welchen Bedingungen ein solches Verfahren gerechtfertigt ist. 2550 In der Sache, wenn auch in anderer Formulierung, Greco, Lebendiges, S. 275 f. 2551 Argument der offenen Frage, s. Greco, Lebendiges, S. 276. 2552 Greco, Lebendiges, S. 276 f. 2546

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Dieser Mangel haftet vielen der in der Literatur und Rechtsprechung kursierenden Definitionen an – sofern man Strafe überhaupt definiert, was vielfach nicht versucht wird. Wenn man Strafe als schuldvergeltende Sanktion versteht,2553 wird es bereits begrifflich unmöglich, von Verdachtsstrafen2554 oder von einer Bestrafung eines Unschuldigen zu sprechen, bei dem keine zu vergeltende Schuld vorhanden ist. Wenn es richtig wäre, dass eine „sanction constitutes punishment when the sanction as applied in the individual case serves the goals of punishment“,2555 müssten eventuell Schmerzensgelder oder eine Importsteuer, auf jeden Fall auch die Geldbuße als Strafen eingestuft werden. Daraus wird klar, dass Schuld nicht zum Begriff der Strafe gehören darf, sondern zu ihren Rechtfertigungsvoraussetzungen.2556 b) Damit ist bereits ein besonders wichtiges Anliegen eines jeden Strafbegriffs angesprochen worden, das auch für die vorher genannten Reflexionen von ausschlaggebender Bedeutung war: Ein guter Strafbegriff soll billige Etikettenschwindel verhindern können. Er soll deshalb so gebildet werden, dass er alles miterfasst, was nur unter den speziellen und strengen Voraussetzungen, die für Strafen gelten, legitimiert werden kann. Deshalb verzichtete die genannte Definition auf subjektive Momente, d.h. auf Zweckvorstellungen,2557 denn sie bieten sich geradezu demjenigen an, der behaupten will, dass in einem bestimmten Fall keine Strafe vorliegt, weshalb alles in Ordnung sei. Deshalb musste der Charakter der Strafe als Reaktion objektiv, also aus einer externen Beobachterperspektive, und nicht subjektiv, aus der Perspektive des Handelnden bestimmt werden. Auch aus diesem Grunde versuchte die Definition, die kennzeichnenden Merkmale zweier großer Traditionen disjunktiv zu kombinieren. Die Leitlinie war, dass Strafen das Schwerste, das Gravierendste seien, was ein Staat einem Bürger zufügen dürfe.2558 Es dürfe also nicht sein, dass eine solche besonders schwere Maß2553 BVerfGE 26, 186 (204): „hoheitliche Reaktion auf ein schuldhaftes Verhalten“; 21, 391 (404): „Vergeltung für begangenes Unrecht“; 22, 125 (132); 95, 96 (140); 109, 133 (168: „Ausdruck vergeltender Gerechtigkeit“; 173: „Die Strafe ist eine repressive Übelzufügung als Reaktion auf schuldhaftes Verhalten, die dem Schuldausgleich dient“); 110, 1 (13); in der Literatur ist die Wendung, dass die Strafe „ihrem Wesen nach Vergeltung“ sei, ebenfalls verbreitet, etwa Beling, Grundzüge, S. 4; Eb. Schmidt, ZStW 69 (1957), S. 375; Gallas, Gründe und Grenzen, S. 4; Maurach, AT, S. 76; Schmidhäuser, Sinn der Strafe, S. 35; Fliedner, AöR 99 (1974), S. 260; Neumann/ Schroth, Neuere Theorien, S. 6; w. N. bei Greco, Lebendiges, S. 282 Fn. 346. 2554 Ähnl. Volk, FS E. Müller, S. 710. 2555 So der amerikanische Supreme Court, United States v. Halper, 490 U.S. 435, 448 (1989). 2556 Siehe auch BVerfGE 20, 323 (331), wo sauber zwischen der Strafe als „Vorwurf“ und der Schuld als „Vorwerfbarkeit“ differenziert wird. 2557 So z. B. Frister, Schuldprinzip, S. 16: Strafe sei „jeder staatliche Eingriff in Rechtsgüter einer Person, der mit der Intention der Übelszufügung aufgrund eines vergangenen Verhaltens vorgenommen wird“; Radtke, Konzeptionen, S. 149. 2558 Greco, Lebendiges, S. 303.

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nahme nicht als Strafe qualifiziert werde, bloß weil man dadurch befürchte, dass sie unter dieser Qualifikation nicht zu legitimieren wäre. c) Inzwischen ist mir klar geworden, dass ein guter Strafbegriff zugleich ein Drittes bieten muss: Er darf auch nicht zu viel erfassen, er darf nicht überall Strafen erblicken, um nicht zu einer Entwertung dessen, was Strafe ist, zu führen, die ihrerseits die Auflockerung der für Strafen einschlägigen Legitimitätsbedingungen zur notwendigen Folge hätte. Ein zu weiter Strafbegriff wird unweigerlich im Sinne einer solchen Lockerung Druck ausüben. Konkret: Wenn man ein Verwarnungsgeld von 15 A als Strafe verstehen würde, etwa in der ultraliberalen Absicht, zu verlangen, dass diese Sanktion erst unter strengeren, für Strafen geltenden Bedingungen, etwa durch Gerichte nach einem Schuldspruch usw. verhängt werden dürfte, würde man einen mindestens genauso starken Druck hervorrufen, der zu dem umgekehrten und wohl ungewollten Ergebnis führen würde, dass Freiheitsstrafen von Verwaltungsbehörden verhängt werden dürften. Es entstehen Spannungen, ähnlich denjenigen, von denen schon o. Teil 1 Kap. 2 C. III. 3., IV. 3. (S. 184 f., 206) wiederholt die Rede war. 3. In anderen Hinsichten muss aber die obige Definition präzisiert oder sogar korrigiert werden. a) Erstens bezieht sich die obige Definition allein auf ein Handeln des Staates. Die vorliegenden Erwägungen sollen in Zukunft auch auf das Völkerstrafrecht erweitert werden (s. o. Einleitung [S. 35]); dessen Strafen werden aber nicht nur von einzelnen Staaten, sondern auch von sonstigen übernationalen Gebilden, wie etwa dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, zugefügt. Eine erste Erweiterung, auf deren eventuelle Erforderlichkeit ich bereits früher hingewiesen hatte,2559 ist deshalb geboten. Sie ist auch nicht ad hoc, sondern sachlich begründet. Denn die übernationalen Gebilde, die Strafen verhängen können, ähneln insofern den Staaten, als sie Macht ausüben und einen Legitimitätsanspruch aufstellen. Zwar muss hier offen bleiben, ob der genauere Gehalt dieses Legitimitätsanspruchs mit dem staatlichen deckungsgleich ist. Denn es ist fraglich, ob die übernationalen Gebilde ihrerseits behaupten, wie es der Staat tut,2560 im Namen der Betroffenen zu handeln.2561 Dies wäre aber erst im Rahmen einer Reflektion über die Grundlagen des Völkerstrafrechts zu klären. Im vorliegenden Zusammenhang muss der Hinweis ausreichen, dass Strafen nicht nur von Staaten, sondern auch von übernationalen Gebilden verhängt werden können. Der Strafbegriff ist also in dieser ersten Hinsicht zu erweitern, so dass er Handlungen des Staates und von staatsähnlichen Gebilden erfasst, wobei man die „Staatsähnlichkeit“ in dem Sinne verstehen soll, dass diese Gebilde Macht ausüben und einen Legitimitätsanspruch erheben. 2559 2560 2561

Greco, Lebendiges, S. 299 Fn. 414. Greco, Lebendiges, S. 129. Entschieden dagegen Pastor, Poder penal internacional, insb. S. 87 ff.

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b) Zweitens ist eine kleine terminologische Verbesserung vorzunehmen: Die Redeweise von einer Reaktion auf eine Straftat ist etwas ungenau. Dieser Terminus ist zwar besser als die Alternative eines „Verbrechens“, weil er nicht den Eindruck erwecken kann, als wären Vergehen ausgeschlossen. Der Terminus ist trotzdem nicht sehr glücklich gewählt. Denn der Begriff der Straftat setzt den Begriff der Strafe voraus. Eine Straftat ist bereits buchstäblich nichts anderes als eine Tat, deren Vornahme eine Strafe auslöst. Um den drohenden Zirkel zu brechen, dürfte es sich empfehlen, anstelle einer Reaktion auf eine Straftat von einer Reaktion auf Fehlverhalten zu sprechen. c) Drittens enthält die obige Definition eine unschöne Obskurität, die das Verhältnis ihrer Elemente zueinander betrifft. Sieht man in einer Strafe die Zufügung eines körperlichen oder kommunikativen Übels, dann könnten auch Steuern oder Angriffe im Rahmen eines Krieges als Strafen angesehen werden. Ich versuchte dieses Problem dadurch zu lösen, dass ich den Zusatz einführte, dass die zugefügten Übel den objektiven Sinn einer Reaktion auf eine angenommene Straftat, nach dem gerade Gesagten besser: auf ein angenommenes Fehlverhalten haben müssen.2562 Inzwischen erkenne ich diese Lösung als unbefriedigend an. Denn das zusätzliche Merkmal liegt nicht auf derselben Ebene wie die zwei zuvor genannten, sondern ist ihnen vielmehr übergeordnet. Es verhält sich so, dass ein kommunikatives oder körperliches Übel nicht per se, sondern erst unter bestimmten Umständen (insbesondere erst ab einer bestimmten Schwere), objektiv als Reaktion auf angenommenes Fehlverhalten empfunden und somit zu einer Strafe wird. Dies führte aber zu einer Unklarheit im Begriff, weil im Falle der Zufügung eines kommunikativen Übels zwei kommunikationsbezogene Merkmale nacheinander genannt wurden, deren Verhältnis zueinander offen blieb. Wiederholen sie sich nur oder gibt es Missbilligungsurteile, die keine Reaktionen implizieren? Das führte dazu, dass mein Versuch, die zwei Traditionen miteinander zu verbinden, eigentlich fehlschlug. Denn primär blieb doch das Kommunikative. d) Dass also Strafen Reaktionen auf Fehlverhalten sind, lässt sich wohl nicht bestreiten. Dagegen müssen aber Zweifel angemeldet werden, ob hiermit bereits alles gesagt worden ist. Damit wird zu viel erfasst: Man denke nur an ein Verwarnungsgeld wegen der Missachtung eines Parkverbots oder an Schadenersatz wegen erlaubter Handlungen. Wenn ein Repräsentant des Staates, am klarsten ein Bundespräsident, ein offizielles Missbilligungsurteil über das Verhalten eines Individuums ausspricht – G.W. Bush erklärt nach den Anschlägen gegen das World Trade Center, es sei Bin Laden gewesen2563 –, hat man es auch mit einer staatlichen Reaktion auf Fehlverhalten zu tun. Man denke auch an das Phänomen der 2562

Greco, Lebendiges, S. 300. Siehe die vor dem amerikanischen Kongress gehaltene Rede vom 20. September 2001, abgedruckt in Harris/Tichenor, U.S. Political System, S. 367 ff. 2563

3. Kap.: Die erste Strafe

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sogenannten Wahrheitskommissionen: Diese verkörpern bereits eine autoritative missbilligende Feststellung, dass sich ein Betroffener eines Fehlverhaltens schuldig gemacht hat.2564 Würde man sie aber als Strafen einordnen,2565 hätte dies zu bedeuten, dass derartige Stellungnahmen nur unter den für die Strafverhängung erforderlichen strengen Legitimitätsbedingungen gewonnen werden dürften – denen sie selten genügen. In der Konsequenz eines solchen Ansatzes liegt es auch, Tote zu bestrafen, denn auch bezüglich ihres Verhaltens ist es möglich, mit Missbilligungsurteilen zu reagieren – was keineswegs ein bloß theoretischer Einwand ist, wie die Versuche des Völkerstrafrechts, Verfahren gegen Tote zu initiieren, augenfällig belegen.2566 Zuletzt und entscheidend dürfte aber auch sein, dass eine solche Stellungnahme zugunsten der kommunikativen Tradition in anderer Hinsicht Sorgen macht: Denn es erscheint zumindest suspekt, wenn das Rechtfertigungsbedürftige an einer langjährigen Freiheitsentziehung nur dasjenige sein sollte, was sie aussagt.2567 IV. Das besonders Rechtfertigungsbedürftige an der Strafe Die Suche nach dem Strafbegriff ist die Suche nach dem, was die Strafe auf ihre eigentümliche Art und Weise rechtfertigungsbedürftig macht. Es geht darum, das Übel der Strafe angemessen zu beschreiben, genauso wie davor (o. Teil 1 Kap. 2 B. I. [S. 119 ff.]) versucht wurde, das Übel des Verfahrens zu erfassen. Strafe ist zwar Reaktion auf Fehlverhalten, aber eine in bestimmter Hinsicht, durch ein zusätzliches Element qualifizierte Reaktion. Es ist also zu klären, worin dieses zusätzliche Element liegen könnte. 1. Strafe als besonders schwere Reaktion? Es liegt nahe, auf quantitative Erwägungen abzustellen. Vom Strafbegriff sollen allein die Reaktionen erfasst werden, die in einem besonderen Maße rechtfertigungsbedürftig sind. Man könnte deshalb denken, dass eine Strafe erst dann vorliegt, wenn die Reaktionen eine bestimmte faktische Schwere erreichen.2568 2564 Bereits diese Feststellung verkörpert eine Missbilligung, die ich woanders als deklaratorische Missbilligung bezeichnet habe (in Abgrenzung zur konstitutiven Missbilligung, die zusätzlich zu der Feststellung noch einen eigenständigen, an den Täter gerichteten Vorwurf enthält), s. Greco, Lebendiges, S. 298 f. 2565 In diesem Sinne tatsächlich Osiel, HRQ 22 (2000), S. 135. 2566 Siehe insb. den Versuch des gefeierten spanischen Untersuchungsrichters Baltazar Garzón, Verfahren gegen die Politiker des Franco-Regimes durchzuführen; das Unternehmen führte zu einer Strafklage wegen Rechtsbeugung, von der Garzón freigesprochen worden ist (STS 101/2012, mit ausführlicher Sachverhaltsdarstellung). 2567 Gegen rein kommunikative Strafbegriffe auch Schünemann, Positive Generalprävention, S. 115; Schork, Ausgesprochen schuldig, S. 217 f. 2568 So Greco, Lebendiges, S. 302 f.

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Insbesondere die amerikanische Rechtsprechung ist zeitweilig dem sehr nahe gekommen: Eine Sanktion, die so schwer wiege, dass sie in keiner Weise als Ersatz eines staatlichen Schadens mehr verstanden werden könne, müsse als Strafe eingeordnet werden.2569 Hierin könnte der Grund liegen, weshalb es beim Verwarnungsgeld nicht um eine Strafe geht. Inzwischen ist mir klar geworden, dass dieses Abstellen auf Quantitatives unbefriedigend ist.2570 Schon das Beispiel des Schadenersatzes lässt sich dadurch schwer lösen, denn es mag gut sein, dass eine Zahlung in Millionenhöhe zu leisten ist.2571 Zwar ist im Zeitalter der Verhältnismäßigkeit der Hinweis auf eine besondere Schwere selbstverständlich sehr in Mode. Überall hört man, die Strafe sei als schwerster Eingriff auch besonders rechtfertigungsbedürftig. Die Beispiele belegen aber, dass eine solche Berufung auf Quantitäten zu bequem ist, dass sie hier wie sonst zu früh kommt und die Hoffnung nährt, man könne sich eine Reflektion über die hinter den vermeintlich bloß quantitativen Erwägungen stehenden qualitativen Fragen ersparen. Die Berufung auf Quantitäten ist also zwar wenig riskant, aber auch wenig aufschlussreich. Bevor man sich mit Quantitäten begnügt, sollte man sich die Mühe geben, über Qualitäten nachzudenken. 2. Strafe als besondere Reaktion Welche qualitativen Erwägungen könnten für die Charakterisierung einer Maßnahme als Strafe in Betracht kommen, zusätzlich dazu, dass es bei ihr um eine Reaktion auf ein Fehlverhalten gehen muss? Was könnte dasjenige sein, das die Strafe besonders rechtfertigungsbedürftig macht? a) Denkbar erscheint zunächst – und dadurch würde man auch das Beispiel der Rede von Bush und der Wahrheitskommission lösen –, dass man darauf abstellt, dass Strafen von einem Gericht verhängt werden. Dass aber ein Gericht und nicht 2569 U.S. Supreme Court, United States v. Halper, 4890 U.S. 435, 449 f. (1989); sehr nahestehend auch Department of Revenue of Montana v. Kurth Ranch et al., 511 U.S. 767, 779 ff. (1994), in dem eine sehr hohe Steuer für den Besitz illegaler Drogen als eine Strafe eingeordnet wurde; diese Rspr. wurde aufgegeben in Hudson v. United States, 522 U.S. 93, 101 f. (1997). Halper zust. und weiterführend Cox, StLULJ 39 (1995), S. 1242 ff.; Versuch einer schadensminimierenden Auslegung von Halper in Glickman, VirgLR 76 (1990), S. 1268 ff., 1278 ff.; s. a. Jahncke, NYULR 66 (1991), S. 135 ff., 142 ff. die das Anliegen von Halper nicht als Frage des double jeopardy, sondern der excessive fines-Klausel des 8. Amendment zu deuten versucht. 2570 Ebenso Frister, Schuldprinzip, S. 29; Volk, FS E. Müller, S. 709; Ransiek, NZWiSt 2012, S. 46. 2571 Würde man behaupten, der Schadenersatz bezwecke etwas anderes oder habe einen anderen Rechtsgrund als eine Strafe, wäre dies eine Auflösung der Trennung zwischen Begriff und Rechtfertigung der Strafe, eine Trennung aber, von der wie o. Kap. 3 C. III. (S. 643 f.) dargelegt, ausgegangen werden muss.

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etwa ein Organ der Exekutive eine Strafe verhängt, ist eine zivilisatorische Errungenschaft, die nicht einmal überall rezipiert ist,2572 womit auch klar wird, dass dies kein Merkmal des Strafbegriffs sein kann, sondern eine Voraussetzung der Legitimität der Strafe darstellen muss. Man könnte auch die besondere Feierlichkeit des der Strafe vorausgehenden Spruchs und Verfahrens anführen; derartige zeremonielle Umstände müssen aber bloße Kontingenzen sein, denn es ist äußerst unplausibel, dass die besondere Rechtfertigungsbedürftigkeit der Strafe gerade auf ihnen beruht. Das Schlimme an der Strafe ist wohl dasjenige, was sie verkörpert, und nicht die Art und Weise, wie sie sich äußert. Eine heimlich verhängte und vollstreckte Strafe ist nicht wegen dieser Umstände weniger rechtfertigungsbedürftig. Ebenso wenig kann man darauf hinweisen, dass jeder Strafe ein Verfahren vorausgehen müsse, was sowohl beim Verwarnungsgeld als auch bei der Rede von Bush nicht der Fall sei. Nicht nur dürfte die Geschichte ausreichend Beispiele für Phänomene bieten, die nur als Strafen ohne Verfahren angemessen beschrieben werden können (s. o. Teil 1 Kap. 2 B. III. [S. 121 f.]). Weil es aber faktisch möglich ist, den Dachauer Schützen (s. o. etwa Teil 1 Kap. 2 C. III. 3., 4. [S. 186 f., 207 ff., 212 f.]) unmittelbar nach seiner Tat und deshalb auch ohne Verfahren lebenslänglich einzusperren, erscheint es angemessener, auch im Verfahren eine Legitimitätsbedingung der Strafe und nicht einen Bestandteil des Strafbegriffs zu erblicken. b) Beliebt ist auch, insbesondere in der Rechtsprechung prominenter Gerichtshöfe, auf eine Zusammenschau einer Vielzahl von Kriterien abzustellen. Man könnte insofern von Ganzheitstheorien sprechen. aa) Die wichtigste dieser Ganzheitstheorien hat der EGMR entwickelt, insbesondere im Zusammenhang mit der Auslegung von Art. 6 Abs. 1 EMRK, in dem der Begriff der „criminal charge“ auftaucht. Die in diesem Zusammenhang gewonnenen Maßstäbe sollen für die gesamte Konvention von Bedeutung sein; der ganzen Konvention soll also ein einheitlicher Strafbegriff zugrunde liegen.2573 Er ist auch für den ne bis idem-Grundsatz des 7. ZP maßgeblich.2574 Grundlegend 2572 So kennt z. B. Österreich ein sog. Verwaltungsstrafverfahren nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz (VStG); demnach dürfen von einer Verwaltungsbehörde (§ 26) sogar kurzzeitige Freiheitsstrafen (§ 10 Abs. 2, § 11 f.) und Geldstrafen, die sich in Ersatzfreiheitsstrafen verwandeln lassen (§ 16), verhängt werden. 2573 EGMR Göktan (Fn. 2574), Rn. 48; Rosenquist (Fn. 2574), The Law. In der Zolotukhin-Entscheidung der Großen Kammer (Fn. 2036) wird etwas vorsichtiger gesagt, dass der Strafbegriff („penal procedure“) des Art. 4 Abs. 1 EMRK ZP.-7 „im Lichte“ der für Art. 6 und 7 einschlägigen Prinzipien zu interpretieren sei (ebenso davor EGMR Nilsson [Fn. 2574], The Law B und danach Tomasovic [Fn. 2574], Rn. 19; Toth [Fn. 2574], Rn. 31; Asadbeyli [Fn. 2574], Rn. 150). 2574 EGMR (Große Kammer) Zolotukhin v. Russland (Fn. 2036), Rn. 52; Göktan v. Frankreich Beschw. Nr. 33402/96, v. 2.7.2002, Rn. 48; Rosenquist v. Schweden, Beschw. Nr. 60619/00, v. 14.9.2004, The Law; Nilsson v. Schweden, Beschw. Nr. 73661/01, v. 13.12.2005, The Law B; Haarvig v. Norwegen, Beschw. Nr. 11187/05, v. 11.12.2007, The Law B; Tomasovic v. Kroatien, Beschw. Nr. 53785/09, v. 18.10.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

war hier die Engel-Entscheidung, die den Strafbegriff mittels dreier Kriterien festlegte: Zuerst komme es auf die Einstufung einer Sanktion durch den Mitgliedstaat an; in Betracht zu ziehen sind auch die Natur der Zuwiderhandlung und zuletzt die Schwere der Sanktion.2575 Diese drei Kriterien werden in vielfacher Hinsicht präzisiert. Das erste Kriterium ist zwar ein ganz klares; ihm komme aber bloß vorläufige Bedeutung zu, es handle sich um einen „starting point“.2576 Ansonsten könnte jeder Mitgliedstaat den Anwendungsbereich der Konvention willkürlich dadurch einschränken, dass er seine Sanktionen nicht als Strafen bezeichnet.2577 Bei der Natur der Zuwiderhandlung ist es etwa relevant, ob sich das Verbot an eine Gruppe richtet, die einen besonderen Status hat (was gegen die Einordnung als Straftat und für ein bloßes Disziplinarvergehen spricht);2578 ob die Zuwiderhandlung extrem schwer ist;2579 ob die Möglichkeit der Kumulation von Verantwortung besteht;2580 ob Abschreckung bezweckt wird, d.h., ob die Sanktion „punitiven Charakter“ hat.2581 Und das dritte Kriterium, die Schwere der Sanktion, wird dadurch präzisiert, dass auf die mögliche Maximalhöhe der Sanktion abgestellt wird, ohne dass die Höhe der konkret verhängten Sanktion unberücksichtigt bleibt;2582 ferner sollen Freiheitsentziehungen grundsätzlich Strafen verkörpern (gelegentlich wird von einer Präsumption gesprochen2583), es 2011, Rn. 19; Toth v. Kroatien, Beschw. Nr. 49635/10, v. 6.11.2012, Rn. 31; Asadbeyli u. a. v. Aserbaidschan, Beschw. 3653/05 u. a., v. 11.3.2013, Rn. 150. 2575 Grdl. EGMR Engel u. a. v. Niederlanden, Beschw. Nr. 5100/71, 5102/72, 5354/ 72, v. 8.6.1976, Rn. 82; angewandt von der Großen Kammer in Ezeh u. Connors v. Vereinigtes Königreich (Große Kammer), Beschw. Nr. 39665/98 u. 40086/98, v. 9.10.2003, Rn. 82 ff. und Zolotukhin v. Russland (Fn. 2036), Rn. 53 ff.; und von den einzelnen Senaten in Oztürk v. Deutschland, Beschw. Nr. 8544/79, v. 21.2.1984, Rn. 50 ff.; Gradinger v. Österreich, Beschw. Nr. 15963/90 v. 25.10.1985, Rn. 35; Kadubec v. Slowakei, Beschw. Nr. 5/1998/908/1120, v. 2.9.1998, Rn. 50 ff.; Lauko v. Slowakei, Beschw. Nr. 41/1998/907/1119, v. 2.9.1998, Rn. 56 ff.; Phillips v. Vereinigtes Königreich, Beschw. Nr. 41087/98, Rn. 31 ff.; Salov v. Ukraine, Beschw. Nr. 65518/01 v. 6.9.2005 Rn. 64; Tomasovic (Fn. 2574), Rn. 18 ff.; Toth (Fn. 2574), Rn. 28 ff.; zum Ganzen ausf. Stavros, Guarantees, S. 2 ff.; Esser, Auf dem Weg, S. 51 ff.; Gaede, Fairness, S. 166 ff.; Schädler, KK-StPO Art. 6 EMRK Rn. 8 ff.; Mayer-Ladewig, EMRK Art. 6 Rn. 22 ff., alle m.w. Nachw. 2576 EGMR Engel u. a. v. Niederlanden (Fn. 2575), Rn. 82 (Zitat); ebenso Lauko v. Slowakei (Fn. 2575), Rn. 57; Ezeh u. Connors v. Vereinigtes Königreich (Fn. 2575), Rn. 91; Kadubec v. Slowakei (Fn. 2575), Rn. 51; Toth (Fn. 2574), Rn. 30. 2577 EGMR Engel u. a. v. Niederlanden (Fn. 2575), Rn. 81. 2578 EGMR Lauko v. Slowakei (Fn. 2575), Rn. 58; Ezeh u. Connors v. Vereinigtes Königreich (Fn. 2575), Rn. 103; Kadubec v. Slowakei (Fn. 2575), Rn. 52. 2579 EGMR Ezeh u. Connors v. Vereinigtes Königreich (Fn. 2575), Rn. 104. 2580 EGMR Ezeh u. Connors v. Vereinigtes Königreich (Fn. 2575), Rn. 104. 2581 EGMR Lauko v. Slowakei (Fn. 2575), Rn. 58; Kadubec v. Slowakei (Fn. 2575), Rn. 52. 2582 EGMR Ezeh u. Connors v. Vereinigtes Königreich (Fn. 2575), Rn. 120; Zolotukhin v. Russland (Fn. 2036), Rn. 56. 2583 EGMR Ezeh u. Connors v. Vereinigtes Königreich (Fn. 2575), Rn. 126; Zolotukhin v. Russland (Fn. 2036), Rn. 56.

3. Kap.: Die erste Strafe

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sei denn, dass sie wegen ihrer „Natur, Dauer oder Vollzugsweise keine fühlbaren Übel darstellen“;2584 kurze Freiheitsentziehungen sollen dagegen keine Strafen sein.2585 Auch die Tatsache, dass die Sanktion erst nach einer Schuldfeststellung verhängt wird, spricht für die Einordnung als Strafe.2586 Das Gericht bemüht sich auch um Klärung des Verhältnisses der Kriterien zueinander. Das erste Kriterium ist, wie gesagt, bloß ein vorläufiger Prüfungsschritt: Wenn die Strafqualität ihm zufolge bejaht wird, ist die Sanktion eine Strafe; wenn das nicht der Fall ist, bedarf es einer Prüfung anhand der weiteren zwei Punkte. Diese verhalten sich ihrerseits alternativ zueinander; dennoch sind sie zugleich kumulativ zu verwenden,2587 so dass es auch auf den Gesamteindruck ankommt.2588 Das erste große Problem des Strafbegriffs des EGMR ist seine umfassende Reichweite, die, kombiniert mit der Annahme, dass die Konvention einen einheitlichen Strafbegriff kennt, zur o. III. (S. 645 f.) erwähnten Entwertung der Strafe führen muss. Man erkennt diese Gefahr augenfällig darin, dass Strafen im Sinne der EMRK nicht notwendig von einem Gericht verhängt werden müssen;2589 ein guter Teil des Ordnungswidrigkeitenrechts ist nach diesem Maßstab Strafrecht. Zudem haben einige der vom EGMR genannten Kriterien, insbesondere die, die mit der Natur der Zuwiderhandlung zu tun haben, oder die Frage, ob die Sanktion eine Schuldfeststellung voraussetzt, mehr mit Legitimationsvoraussetzungen als mit dem Begriff einer Strafe zu tun. Zuletzt muss man auf die Unklarheit und Manipulierbarkeit jeder ganzheitsorientierten Prüfung hinweisen, die deshalb Etikettenschwindeln keine unüberwindbaren Barrieren entgegenstellen könnte; wenn auch der EGMR durch eine eher extensive Handhabung des Begriffs dieser Gefahr kaum erliegen dürfte, liegt dies eher am Gericht als an dem von ihm formulierten Kriterium. bb) Eine ganzheitsorientierte Theorie entwickelt auch der amerikanische Supreme Court. Er geht davon aus, dass der Gesetzgeber in der Einordnung einer Sanktion als Strafe oder Nicht-Strafe grundsätzlich frei ist; die Frage ist also in erster Linie ein „matter of statutory construction“.2590 Das Gericht prüft die fraglichen Sanktionen mittels einer zweistufigen Vorgehensweise: Auf der ersten 2584

EGMR Engel u. a. v. Niederlanden (Fn. 2575), Rn. 82 (Zitat). So verhielt es sich in der konkreten Entscheidung der von Engel vorgelegten Beschwerde, Engel u. a. v. Niederlanden (Fn. 2575), Rn. 85. 2586 EGMR Ezeh u. Connors v. Vereinigtes Königreich (Fn. 2575), Rn. 124. 2587 EGMR (Große Kammer) Zolotukhin v. Russland (Fn. 2036), Rn. 53; Lauko v. Slowakei (Fn. 2575), Rn. 57; Ezeh u. Connors v. Vereinigtes Königreich (Fn. 2575), Rn. 86; Kadubec v. Slowakei (Fn. 2575), Rn. 51. 2588 EGMR Deweer v. Belgien, Beschw. Nr. 6903/75 v. 27.2.1980, Rn. 44 ff. 2589 Siehe EGMR Oztürk v. Deutschland (Fn. 2575), Rn. 56; Lauko v. Slowakei (Fn. 2575), Rn. 64. 2590 U.S. Supreme Court, United States v. Ward, 448 U.S. 242, 248 (1980) (Zitat); ebenso Kansas v. Hendricks, 521 U.S. 346, 361 (1997). 2585

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Stufe wird die vom Parlament intendierte Einordnung ermittelt, was regelmäßig ohne weitere Schwierigkeiten erfolgen wird und deshalb in den harten Fällen zu dem Ergebnis führen wird, dass es sich nicht um eine Strafe handelt. Dieses verneinende Ergebnis muss dann in einer zweiten Stufe anhand von sieben Kriterien überprüft werden, die in der Entscheidung Kennedy v. Mendoza Martinez formuliert worden sind.2591 Ihr Sinn besteht darin, zu bestimmen, ob sich diese Vermutung nicht widerlegen lässt.2592 Der Ansatz ist gegenüber dem Gesetzgeber und seiner Einstufung um einiges weniger revisionistisch orientiert als der des EGMR: Diese Kriterien müssen „clearest proof“ 2593 bieten, dass die Einordnung durch das Parlament irrig war; dies sei ein „heavy burden.“ 2594 Hierzu lässt sich eine vergleichbare Kritik formulieren. Die sieben Kriterien, auf deren Darstellung hier verzichtet werden musste, vermengen zum Teil Begriff und Legitimationsvoraussetzungen der Strafe. Zudem ist eine Prüfung, die auf so viel zugleich abstellt, immer unsicher und manipulierbar. c) Von Ganzheitsbetrachtungen, so modisch wie sie auch sein mögen, ist abzuraten. Das Besondere an der Strafe muss über einen anderen Weg entdeckt werden. Es empfiehlt sich, in vier argumentativen Schritten vorzugehen. Zunächst ist mittels einer teils rechtsgeschichtlich, teils intuitiv orientierten phänomenologischen Gesamterfassung auszuarbeiten, welche Instanzen prototypische Erscheinungsformen von Strafen darstellen. Anschließend wird über eine Induktion oder sogar eine Abduktion eine These formuliert, die dasjenige Merkmal kennzeichnet, das alle diese prototypischen Strafen aufweisen. An dritter Stelle soll versucht werden, die bis dahin nur behauptete besondere Rechtfertigungsbedürftigkeit, die aus diesem Merkmal herrühren soll, anhand eines theoretischen Arguments zu begründen. Und an vierter und letzter Stelle soll der Zusammenhang von Strafe und Schuld geklärt werden, m. a. W.: Der gewonnene Begriff der 2591 U.S. Supreme Court, Kennedy v. Mendoza-Martinez, 372 U.S. 144, 168 f. (1963): die Kriterien sind: ob die Sanktion „involves an affirmative disability or restraint“, ihre geschichtliche Einordnung, ob sie einen Schuldbezug voraussetzt, ob sie den traditionellen Strafzwecken dient, nämlich Vergeltung und Abschreckung, ob das Verhalten, das sie auslöst, bereits eine Straftat ist, ob ihr eine alternative Zwecksetzung zugeschrieben werden kann, und ob sie in Bezug auf diese Zwecksetzung übermäßig erscheint; angewandt in U.S. Supreme Court, Bell v. Wolfish, 441 U.S. 520, 537 f. (1979); United States v. Ward, 448 U.S. 242, 249 ff. (1980); United States v. Ursery, 517 U.S. 267, 291 f. (1996); Hudson v. United States, 522 U.S. 93, 99 ff. (1997); Kansas v. Hendricks, 521 U.S. 346, 361 ff. (1997); Sondervoten von Scalia, in: Department of Revenue of Montana v. Kurth Ranch et al., 511 U.S. 767, 807 f. (1994), Breyer u. Stevens, in: Hudson v. United States, 522 U.S. 93, 117 (1997). 2592 U.S. Supreme Court, United States v. Ward, 448 U.S. 242, 248 f. (1980); Kansas v. Hendricks, 521 U.S. 346, 361 (1997). 2593 U.S. Supreme Court, Flemming v. Nestor, 363 U.S. 603, 617 (1960); United States v. Ward, 448 U.S. 242, 249, 251 (1980), die beide die Passage zitieren. 2594 U.S. Supreme Court, Kansas v. Hendricks, 521 U.S. 346, 361 (1997).

3. Kap.: Die erste Strafe

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Strafe soll auch erklären können, warum gerade eine Maßnahme solchen Inhalts das Vermögen hat, Schuld zu tilgen. aa) Es ist also zu Beginn eine kleine phänomenologische Inventarisierung zu versuchen. Welche Phänomene bezeichnen wir immer als Strafen, welche überhaupt nicht, welche nur zögerlich? Zur ersten Gruppe, also zu den positiven Kandidaten bzw. zum Bedeutungskern2595 des Strafbegriffs oder anders gesagt, zu den prototypischen Strafen gehören Erscheinungen wie eine öffentliche Hinrichtung, die Verabreichung von Stock- und Peitschenschlägen, eine langjährige Einsperrung in einen Kerker oder der sogenannte bürgerliche Tod. Mit Gewissheit keine Strafen – also negative Kandidaten bzw. Teile des Rests der Welt – sind dagegen Phänomene wie Unterhaltszahlungen, Enteignungen, Zwangsgelder, eine Gewerbeuntersagung i. S. v. § 35 GewO, ein sog. finaler Todesschuss und die oben erwähnten Beispiele des Verwarnungsgelds für den Falschparker, des Schadenersatzes und der Rede von Bush. Irgendwo dazwischen, also zu den sog. neutralen Kandidaten bzw. zum Bedeutungshof gehören Phänomene wie die Untersuchungshaft und die Sicherungsverwahrung, Geldzahlungen sonstiger Art, sog. Disziplinarstrafen, die Strafaussetzung zur Bewährung, Auflagen im Sinne von § 153a StPO oder der Schuldspruch selbst. Diese Liste lässt sich in alle Richtungen beliebig verlängern. Nötig ist dies aber nicht; sie liefert schon hinreichenden Rohstoff für die weitere Reflektion. bb) Jetzt gilt es zu fragen: Gibt es zwischen den oben genannten Instanzen prototypischer Strafen irgendwelche Gemeinsamkeiten? Kann man ein allen in gleicher Weise zugrunde liegendes Merkmal ausfindig machen? Ein erstes Merkmal ist bereits oben genannt worden: Es geht bei allen positiven Kandidaten um Dinge, die den objektiven Sinn haben, auf ein (angenommenes) Fehlverhalten zu reagieren. Es ist jedoch ein weiteres Merkmal erforderlich. Es ist zu vermuten, dass dieses Merkmal nicht auf der kommunikativen Ebene, sondern auf der faktisch-körperlichen Ebene zu finden sein wird; denn ansonsten wäre der gewonnene Strafbegriff ein rein kommunikativer, was zu den o. III. (S. 646 f.) gerade genannten Schwierigkeiten führen würde. Wenn man den Blick auf dasjenige richtet, was die prototypischen Strafen dem Betroffenen entziehen, entdeckt man in der Tat eine interessante Gemeinsamkeit: Bei einer Hinrichtung geht es um das Leben, bei den erwähnten Schlägen um die körperliche Unversehrtheit, bei der Einkerkerung um die Fortbewegungsfreiheit, beim bürgerlichen Tod um die Rechtsfähigkeit. Die Gemeinsamkeit: Es geht bei diesen vier Rechten immer um solche, die nach einer traditionellen Einteilung der Na2595 Zu diesen Unterscheidungen zwischen Kern und Hof eines Begriffs bzw. zwischen positiven und negativen Kandidaten Heck, Gesetzesauslegung, S. 66; Koch/ Rüssmann, Juristische Begründungslehre, S. 195; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 34 f.; Schünemann, FS Hassemer, S. 239 ff. (auf Grundlage einer Spiegelei-Metapher).

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

turrechtslehren als angeborene Rechte einzustufen wären. Angeborene Rechte sind solche, die jedem Menschen „kraft seiner Menschheit zusteh[en]“.2596 Den Gegenbegriff hierzu bilden die sogenannten erworbenen Rechte, d.h. solche, in deren Besitz man erst im Laufe seines Lebens kommt.2597 Es wäre schwer denkbar, dass man bei einem Entzug eines solchen angeborenen Rechts, der zugleich als Reaktion auf ein Fehlverhalten erfolgt, nicht vom Vorliegen einer Strafe ausgehen würde. Dieser Unterschied wurde nicht so sehr von Strafrechtlern, sondern von Staatsrechtlern verwendet, um das Wesen der Enteignung und der Aufopferung zu erfassen.2598 Der naheliegende Schritt, Enteignung bzw. Aufopferung und Strafe bereits auf begrifflicher Ebene einander gegenüberzustellen, auf der einen Seite der Entzug eines erworbenen Rechts, auf der anderen der Entzug eines angeborenen Rechts, wurde indes eher selten vorgenommen.2599 Dennoch ist zu allen Zeiten die Vorstellung, dass der Entzug eines angeborenen Rechts eine staatliche 2596 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 237 (Zitat); §§ 82, 83, 84 EinlALR; C. Wolff, Jus naturae, § 26 ff. („Jus connatum“), § 31 („Jus connatum omnium hominum idem est“); Pütter, Wohlerworbenes eigenthümliches Recht, S. 351 ff. („natürliche Freiheit“); Bauer, Naturrecht, § 55; v. Gros, Naturrecht, § 79; zu dieser Lehre der angeborenen Rechte s. a. m. w. Nachw. Gierke, Althusius, S. 113 ff.; G. Meyer, Wohlerworbene Rechte, S. 7; Stödter, Entschädigung, S. 55 f. 2597 In der Regel sprach man davon, dass diese Rechte auf einem besonderem Rechtstitel beruhten, s. etwa Pütter, Institutiones, Lib. III, § 119: „ivs qvaesitvm (i. e. . . ., quod, speciali titulo adquisitum, non ex sola libertate naturali obtinet)“ (die Stelle zitiert auch Stödter, Entschädigung, S. 56); Zachariä, Staatsrecht II, S. 91; Gros, Naturrecht, § 134, der aber den Titel nicht zum Begriff, sondern zum Rechtsgrund des erworbenen Rechts rechnet. Für die Unterscheidung s. a. §§ 82, 83 und 84 EinlALR; C. Wolff, Jus naturae, § 35 ff. („Jus acquisitum dicitur, quod ex sola quadam obligatione connata non oritur, sed interveniente demum facto quodam humano resultat“); Pütter, Wohlerworbenes eigenthümliches Recht, S. 355; Bauer, Naturrecht, § 55; v. Gros, Naturrecht, § 78, 80; ferner Grotius, De iure belli ac pacis, Liber II, Caput XIV, § VIII, der die Unterscheidung ausdrücklich erwähnt, ihr aber im Zusammenhang mit der Bestimmung der Grenzen der Staatsmacht jede Bedeutung abspricht. Zur Entwicklung dieser Gegenüberstellung und insbesondere zu den verschiedenen Gestalten der Lehre von den erworbenen Rechten G. Meyer, Wohlerworbene Rechte, S. 7 ff.; ausf. Stödter, Entschädigung, S. 63, 73 f., der drei Phasen der Lehre von erworbenen Rechten unterscheidet. Im späten 19. Jahrhundert, als der Glaube an ein Naturrecht weitgehend verschwunden war, identifizierte man erworbenes Recht und subjektives Recht (in diesem Sinne etwa G. Meyer, Wohlerworbene Rechte, S. 13 f.). 2598 § 75 Einl ALR: „Dagegen ist der Staat denjenigen, welcher seine besondern Rechte und Vortheile dem Wohle des gemeinen Wesens aufzuopfern genöthigt wird, zu entschädigen gehalten.“ – besonderes Recht ist eine andere Bezeichnung für erworbenes Recht (s. a. § 84 Einl ALR); Pütter, Wohlerworbenes eigenthümliches Recht, S. 357 ff. 2599 Sogar ausdrücklich abl. Grotius, De iure belli ac pacis, Liber II, Caput XIV, § VIII; s. a. Häberlin, Handbuch I, S. 381, der das ius eminens des Staates (zu diesem Begriff s. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 6. c) [S. 310]) ausdrücklich „auf das Vermögen und selbst die persönliche Freyheit des Unterthanen“ erstreckt. Seine Beispiele für die Inanspruchnahme der natürlichen Freiheit (etwa das Verbot, Getreide zu exportieren, Forstund Bauordnungen, S. 384) erfassen aber Dimensionen der Freiheit, die richtigerweise nicht als angeboren, sondern als erworben anzusehen wären.

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Reaktion zur Strafe macht, mehr oder weniger klar erkannt worden. Im 19. Jahrhundert hat auf diesen Sachzusammenhang kein geringerer als Zachariä hingewiesen, der nach seiner Definition des „wohlerworbenen Rechts“ als „jedes Recht . . ., welches als ein durch einen gültigen besonderen Rechtstitel begründeter, gegenwärtiger Bestandtheil der Privat-Rechtssphäre einer bestimmten Person betrachtet werden muß,“ schreibt: „Als ein Gegensatz hiervon läßt sich zunächst der Begriff des angebornen Rechts (Leben, Freiheit, Ehre) auffassen, obwohl demselben der Character der Unverletzlichkeit noch im höhern Grade als dem wohlerworbenen Rechte insofern zukommt, als eine Verletzung desselben in der Regel nur da als gerechtfertigt erscheint, wo und insoweit das Recht des Staates zur Strafe begründet ist.“ 2600 Und der über ein Jahrhundert später von Eberhard Schmidt formulierte Gedanke der von ihm sog. „Rechtsbewährungsmittel“, die unter einem absoluten Justizvorbehalt stehen mussten, kam der Unterscheidung auch sehr nahe. In seiner Begründung zeigt er aber starke Züge einer autoritätsorientierten Perspektive, die die Eigentümlichkeit der Rechtsbewährungsmittel gerade darin erblickt, dass sie für die Geltung des objektiven Rechts von besonderer Bedeutung seien, und nicht darin, dass sie individuelle Rechte in besonderer Weise beanspruchen.2601 Die Bezeichnung selbst verhehlt dies auch nicht. Diese Begriffsbestimmung erklärt auch die seit der Ausbildung eines vom Zivilrecht getrennten Strafrechts bestehende Vorstellung, nach der es so etwas wie „eigentlich peinliche Sachen“ gebe, nämlich dort, „wo Leibes- oder Lebensstrafen eintreten“;2602 eine Vorstellung, die ihre prominenteste und für uns interessanteste Manifestation in der Formulierung der amerikanischen double jeopardyKlausel erfahren hat, in der von einer Gefahr für „life or limb“ die Rede ist (5. Amendment amVerf).2603 Die Freiheitsstrafe schaffte es später, diese früheren 2600

Zachariä, Staatsrecht II, S. 91. Eb. Schmidt, Justiz und Staat, S. 44: „Keine Verwaltungsmaßnahme, in der staatliche Macht sich auswirkt, darf ihrem Inhalt oder ihrer Wirkung nach identisch sein mit dem, was die der Justiz zwecks Rechtsbewährung anvertrauten Zwangs- oder Bestrafungsmittel bedeuten. . . . Alles das, was das Menschendasein und vor allem auch die Menschenwürde existentiell ausmacht – Leben, Freiheit, Ehre, Vermögen – müssen für die Verwaltung in allen ihrer Zweigen ein unbedingtes ,noli me tangere‘ darstellen“. Leider hat Eb. Schmidt auch das Vermögen genannt! Siehe auch ders. Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit, S. 95: Alle Maßnahmen, die die „höchsten Werte des individuellen Lebens, vor allem die persönliche Freiheit . . . und das physische Leben selbst“ betreffen, gehören zu den Rechtsbewährungsmitteln. „Freiheitsentziehungen dürfen nur als Strafen oder kriminalpolitische Maßnahmen . . .“ verhängt werden. Aus der zuletzt genannten Stelle wird auch klar, dass sich diese Theorie in erster Linie nicht um die Bestimmung des Strafbegriffs, sondern um die nahestehende, aber nicht identische Frage der Konturierung eines der Justiz vorbehaltenen Sachbereichs bemühte, zu dem Eb. Schmidt auch Maßregeln gerechnet hat. 2602 Savigny, GA 1859, S. 578. 2603 Näher hierzu Thomas III, Double Jeopardy, S. 120 ff., insb. S. 128 f.: die Formulierung life or limb als Bezeichnung für Sanktionen, die man nicht durch die Zahlung eines Betrags abwenden konnte. 2601

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Formen von Entzügen angeborener Rechte zu verdrängen; sie behält ihre Nähe zur Person, die es rechtfertigt, sie zum unbestrittenen Kernbereich dieser Klausel zu rechnen.2604 Eine gewisse positivrechtliche Bestätigung findet die Bestimmung zuletzt darin, dass moderne Verfassungen und Menschenrechtserklärungen den wichtigsten heutzutage noch üblichen Entzug eines angeboren Rechts, also den Eingriff in die Fortbewegungsfreiheit, als Eingriff ganz besonderer Qualität kennzeichnen, der zumindest unter einen Richtervorbehalt gestellt wird.2605 Anhand dieser beiden Merkmale – objektive Reaktion auf angenommenes Fehlverhalten und Entzug eines angeborenen Rechts – ist man tatsächlich dazu in der Lage, den oben aufgelisteten positiven und negativen Kandidaten Rechnung zu tragen. Hinsichtlich der positiven Kandidaten ist das gerade dargelegt worden. Bei den negativen Kandidaten hingegen geht es entweder darum, bloß ein erworbenes und nicht ein angeborenes Recht zu entziehen (so beim Schadenersatz, Unterhalt, Zwangsgeld und bei einer Enteignung), oder nicht darum, auf ein Fehlverhalten zu reagieren (so beim finalen Todesschuss, aber auch beim Unterhalt, beim Zwangsgeld und bei der Enteignung). Mit den neutralen Kandidaten wird man sich erst unten näher beschäftigen. cc) An dritter Stelle muss gefragt werden, inwiefern diese Merkmale nicht nur einen phänomenologischen oder sogar sprachlichen Zufall darstellen. Welche besondere normative Relevanz hat denn die Tatsache, dass ein angeborenes und nicht nur ein erworbenes Recht entzogen wird, die es auch rechtfertigt, dass für eine solche Maßnahme besonders strenge Legitimitätsbedingungen aufgestellt werden müssen? Diese Frage lässt sich mit relativer Leichtigkeit beantworten. Man kann sich ein kurzes und ein langes Argument vorstellen. Kurze Argumente sind ceteris paribus bessere Argumente; allein auf das kurze Argument wird man sich im vorliegenden Zusammenhang stützen. Dennoch ist es nicht uninteressant, auf die Möglichkeit eines weiteren Arguments hinzuweisen, das insoweit als zusätzliche Bestätigung der soeben gewonnenen Einsicht fungieren kann. (1) Das kurze Argument lautet, dass angeborene Rechte, gerade weil sie angeboren sind, eine tiefere Schicht der Persönlichkeit betreffen, oder (noch) essentialistischer gesagt, einer tieferen Schicht anhaften. Angeborene Rechte hat man, weil man ein Mensch ist. Der Entzug eines angeborenen Rechts trifft deshalb immer einen inneren Aspekt der Rechtsperson. Dagegen sind erworbene Rechte 2604 Siehe auch Amar, YLJ 106 (1997), S. 1811: „Imprisonment may not literally deprive me of my limbs, but chains and bars do deprive me of the free use of my limbs . . .“ 2605 Art. 104 GG; Art. 25 Abs. 3 spanVerf.: „Die bürgerliche Verwaltung (Administración civil) darf keine Sanktionen verhängen, die direkt oder subsidiär einen Entzug der Freiheit verkörpern“; Art. 5 EMRK. Auf Art. 104 GG verweist auch BVerfGE 22, 49 (80); nicht unberechtigte, aber über das Ziel hinausschießende Kritik bei Cordier, NJW 1967, S. 2143 f. Zur besonderen Qualität einer freiheitsentziehenden Sanktion auch Thomas III, Double Jeopardy, S. 128 f.

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Positionen, die kommen und gehen können, die deshalb, wenn überhaupt, eine äußere Schicht der Persönlichkeit betreffen. Ein Eingriff in ein angeborenes Recht, der immer eine eher innere Schicht der Persönlichkeit antastet, ist aus diesem Grund besonders rechtfertigungsbedürftig. (2) Das lange Argument fügt das soeben Gesagte in einen vertragstheoretischen Rahmen ein. Angeborene Rechte sind demnach die Rechte, die man bereits im Naturzustand, also noch vor dem Abschluss eines Gesellschaftsvertrags besitzt. Sie sind sozusagen das Kapital, das man in den Vertragsabschluss investiert, und auch dasjenige, was der einzurichtende Staat in besonderer Weise schützen soll. Gerade deshalb ist ihr Entzug besonders heikel. Wenn man das Argument noch etwas länger machen möchte: Hinter einem „Schleier des Nichtwissens“ 2606 weiß man nicht, welche erworbenen Rechte einem zuteil sein werden. Hinsichtlich der angeborenen Rechte verhält es sich insofern anders: Jeder weiß, dass er auch nach dem Vertragsabschluss weiterhin im Besitz seiner angeborenen Rechte sein wird. Jedem ist deshalb klar, dass der Entzug eines angeborenen Rechts ihn persönlich treffen kann, gleichgültig welche gesellschaftliche Position er letztlich einnehmen sollte, so dass ein besonderes Interesse an der Absicherung gegen den Entzug angeborener Rechte besteht. dd) Ein solcher Strafbegriff vermag es also, der besonderen Rechtfertigungsbedürftigkeit dessen, was man als Strafe bezeichnet, Rechnung zu tragen, und das in ihr verkörperte Übel angemessen zu beschreiben. Zuletzt muss der Zusammenhang zwischen diesem Strafbegriff und dem Schuldgedanken nachgezeichnet werden. Denn unser Strafbegriff bekäme eine zusätzliche Bestätigung, wenn er in der Lage wäre, zu erklären, wieso gerade sein Inhalt das Vermögen hat, Schuld zu tilgen. Dies sieht auf den ersten Blick nach einem aussichtslosen Unterfangen aus. Denn die leichteste Art und Weise, einen Zusammenhang zwischen Strafe und Schuld herzustellen, ist der Talionsgedanke, nach dem man gerade dasjenige verliert, was man auch einem anderen weggenommen hat – Auge für Auge, Zahn für Zahn. Dieser Gedanke verwickelt sich aber bekanntlich2607 in viele Schwierigkeiten (etwa: Soll der, der 50 A gestohlen hat, schon mit der Zahlung von 50 A davonkommen? Sollen wir den Folterer foltern und den Vergewaltiger vergewaltigen?) und ist wegen seiner mechanischen Härte unvertretbar. Zudem kennen so gut wie alle Rechtsordnungen Straftaten, die sich nicht nur gegen angeborene Rechte richten – man denke insbesondere an die Vermögens- und Eigentumsdelikte. Also besteht auf den ersten Blick kein „innerer“ Zusammenhang zwischen dem, weshalb man sich schuldig macht, und dem, dessen man durch die Strafe verlustig wird (nämlich des angeborenen Rechts).

2606 2607

Grdl. Rawls, Theory of Justice, S. 118 ff. Bereits Hegel, Grundlinien, § 101.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Der gesuchte Zusammenhang befindet sich aber auf einer anderen Ebene. Der Talionsgedanke scheint diesen Zusammenhang gerade deshalb verfehlt zu haben, weil er ihn als naturalistische Größe zu begreifen suchte, obwohl er auf einer anderen, höheren Ebene loziert ist. Den besten Weg zu diesem Zusammenhang bietet der Vergleich mit der Gegenkonstellation des Entzugs eines erworbenen Rechts. Auch über diese Konstellation ist viel nachgedacht worden. Das Paradebeispiel eines Entzugs eines erworbenen Rechts ist, wie bereits angemerkt, die Konstellation der Enteignung bzw. Aufopferung; er darf bereits aus Gründen des Gemeinwohls, wenn auch nicht entschädigungslos, erfolgen.2608 Dies ist bei angeborenen Rechten nicht der Fall. Dass Gemeinwohlbedürfnisse und Entschädigungen den Eingriff in ein angeborenes Recht noch nicht legitimieren können, bedeutet erstens, dass ein angeborenes Recht gemeinwohlresistent ist, und zweitens, dass nicht einmal eine Entschädigung hieran etwas zu ändern, d.h. die Instrumentalisierung aufzuheben vermag. Auch dieser Unterschied lässt sich wieder mittels eines kurzen und eines längeren, vertragstheoretischen Arguments erklären. (1) Das kurze Argument: Etwas, das einer tieferen Schicht der Persönlichkeit des Individuums angehört, etwas, das ihm bereits als Mensch zukommt, schon deshalb wegzunehmen, weil die anderen es brauchen, bedeutet, ihn buchstäblich zu instrumentalisieren; und dass eine Entschädigung die Sachlage nicht verändern kann, erklärt sich daraus, dass das, was einem Menschen kraft seines Menschseins zukommt, keinen Preis hat. Angeborene Rechte sind Rechte angeborener Freiheit;2609 nicht durch den Zwang eines anderen, sondern nur durch die freie Entscheidung des Individuums können sie verloren gehen. Angeborene Rechte dürfen also dem Individuum nur entzogen werden, wenn das Individuum dies selbst zu verantworten hat, wenn er sein Recht insofern verwirkt, m. a. W.: wenn er Schuld auf sich geladen hat. Niemand kann sich entscheiden, einen anderen strafbar zu machen. (2) Das lange Argument bedient sich wieder des vertragstheoretischen Rahmens: Gerade wegen der Bedeutsamkeit angeborener Rechte entscheiden sich die Parteien im Urzustand, der Gesellschaft keine Dispositionsbefugnis über diese Rechte zu gewähren. Nur das Individuum selbst ist befugt, über diese Rechte zu 2608

Siehe oben Teil 1 Kap. 2 C. VI. 6. c) (S. 306 ff.). Man erinnere sich an das Dictum Kants, Metaphysik der Sitten, S. 237: „Freiheit (Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür) sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht“; s. a. § 84 EinlALR: „Die allgemeinen Rechte des Menschen gründen sich auf die natürliche Freyheit, sein eignes Wohl, ohne Kränkung der Rechte eines Andern, suchen und befördern zu können.“; v. Gros, Naturrecht, § 112: „Ursprünglich hat der Mensch nichts als sich selbst; das Urrecht oder absolute (gleichsam angeborne) Recht des Menschen ist daher nichts anderes als das Recht der Persönlichkeit im Verhältnisse zu Andern, d.h. das Recht, als Person in der Sinnenwelt zu existieren und thätig zu sein.“ 2609

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disponieren, und dies bedeutet, dass das Individuum ihrer nur verlustig geht, wenn es selbst diesen Verlust zu verantworten hat. dd) Und hiermit schließt sich der Kreis zu den Erwägungen, die im Rahmen unserer Strafprozesstheorie entwickelt worden sind. Der im Interesse der Gesellschaft durchgeführte Strafprozess ist für das Individuum eine Aufopferung bzw. aufopferungsähnlich, die nur dann keine unzulässige Instrumentalisierung des Unschuldigen darstellt, wenn der Prozess zugleich die rechtlich gleichwertige Aussicht verkörpert, den Verdacht auf immer zu tilgen (s. o. Teil 1 Kap. 2 VI. 6. d) [S. 312 ff.], Teil 2 Kap. 1 D. [S. 371 ff.]). Die den Kern des Strafverfahrens bildende qualifizierte Verdächtigung ist indes weder Reaktion auf Fehlverhalten noch Antastung eines angeborenen Rechts. Strafe dagegen, gerade weil sie diese beiden Merkmale aufweist, kann nicht bereits durch das Gewähren eines Ausgleichs, sondern nur durch das eigene freie Verhalten des Betroffenen ihm gegenüber legitimiert werden.2610 4. Als Ergebnis: Eine Strafe im engeren Sinn, eine Kriminalstrafe, und nicht eine bloße Strafe „i. S. v.“, ist der Entzug eines angeborenen Rechts, der vom Staat oder von einem staatsähnlichen Gebilde als objektive Reaktion auf angenommenes Fehlverhalten verhängt wird. Hiermit ist ein Begriff gewonnen, der im Vergleich zu dem früheren Vorschlag nicht nur eleganter ist, sondern sich als präziser, sachgerechter und sogar rechtfertigungstheoretisch besser fundiert erweist. Aus einer solchen Perspektive wird erst klar, was für ein Armutszeugnis die vor allem im öffentlichen Recht verbreitete Perspektive verkörpert, der zufolge das Strafrecht „keine Sonderrolle“ einnehme, und sich von anderen staatlichen Eingriffsmodalitäten höchstens graduell unterscheide.2611 V. Zur Systematik der Strafen 1. Der soeben entwickelte Strafbegriff versetzt uns in die Lage, zu bestimmen, welche Sanktionen schuldtilgende Wirkung haben. Alles, was eine Strafe im obigen Sinne darstellt, tilgt vorhandene Schuld. Dies erfolgt unabhängig davon, ob die Rechtsordnung die einschlägige Maßnahme als eine Strafe einordnet oder nicht. Nicht das Wort, sondern die Sache ist ausschlaggebend; Etikettenschwindel sind also nicht zu befürchten. Genau hierin liegt auch der Sinn einer Betrachtungsweise, die sich vor den Anstrengungen der Vorpositivität nicht scheut. Alle 2610 Strafe und Strafverfahren verkörpern also Übel unterschiedlicher Qualität; weder ist das Strafverfahren eine mildere Strafe (s. a. o. Teil 1 Kap. 2 B. IV. [S. 123 f.]) noch die Strafe ein gravierendes Strafverfahren (so aber implizit Jahn, Gesetzesvorbehalt, S. 228: „Gleichwertigkeit strafrechtlicher Eingriffsbefugnisse“). 2611 So zuletzt Gärditz, EnzEuR Bd. 9, § 6 Rn. 11 (Zitat), 32; s. a. den Antrag des Generalanwalts Colomer im Verfahren über die EU-Kompetenzen im Umweltstrafrecht, Rs. C-176/03, Rn. 47. Die Unklarheit dieses europäischen Strafbegriffs rügt zu Recht Pohl, ZIS 2006, S. 217 f.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Phänomene, die sich direkt unter den soeben entwickelten Strafbegriff subsumieren lassen, seien hier als Strafen im ontologischen Sinne bezeichnet. 2. Es gibt aber Sanktionen, die dieser ersten Gruppe besonders nahestehen und insoweit auch als Strafen eingestuft werden müssen. Bei ihnen verhält es sich so, dass sie sich zwar bei ihrer Verhängung noch nicht direkt unter die entwickelte Definition subsumieren lassen, sich aber ohne „Rechtfertigungslücken“ in eine solche Strafe im ontologischen Sinne verwandeln können. Das Musterbeispiel hierfür liefert die deutsche Geldstrafe, die ihrerseits auch zum Entzug angeborener Rechte führt: Sie lässt sich ohne rechtliche Hindernisse, also ohne neues Verfahren, sogar unabhängig von einer Mitwirkung des Gerichts (§ 459e Abs. 1 StPO: Anordnung der Vollstreckungsbehörde) in einen Entzug angeborener Rechte, nämlich in die sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe verwandeln (§ 43 StGB). Diese Gruppe sei diejenige der Strafen im übertragenen oder abgeleiteten Sinne genannt; bei ihnen liegt in actu zwar keine Strafe im ontologischen Sinne vor, aber durchaus in potentia. Ihre Einordnung als Strafen ist deshalb geboten, weil es eine Legitimitätsbedingung von Strafen darstellt, dass sie mittels eines Strafverfahrens von einem unabhängigen Gericht verhängt werden (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 2. d) cc) [S. 258]).2612 Kann sich eine Sanktion von selbst – also insbesondere ohne erneuten richterlichen Spruch – in eine Strafe im ontologischen Sinne verwandeln, ohne dass eine Legitimationslücke entsteht, dann muss bereits die Entscheidung für die Sanktion als Entscheidung zur Verhängung einer Strafe, nur einer Strafe im abgeleiteten Sinne, angesehen werden. Die Entscheidung, angeborene Rechte zu berühren, ist bereits getroffen; nur ihr Wirksamwerden ist an eine aufschiebende Bedingung geknüpft. Auch Strafen im abgeleiteten Sinne können Schuld tilgen. Der Bereich der Strafen im ontologischen und im abgeleiteten Sinn kennzeichnet den Rahmen, den ein legitim handelnder Gesetzgeber nicht überschreiten darf. Straft er nach der Abbüßung einer solchen Sanktion ein weiteres Mal, dann straft er ohne Schuld. Alle weiteren für Strafen geltenden besonderen materiellen und prozessualen Legitimitätsbedingungen, bei denen über Strafen „i. S. v.“ diskutiert wird, sind bei Strafen im ontologischen und im abgeleiteten Sinn immer einschlägig, gleichgültig, ob der Gesetzgeber diese Sanktionen als Strafen bezeichnet oder nicht.

2612 Siehe etwa, vor allem im Zusammenhang mit der Diskussion über die bis 1967 vorhandene Strafgewalt der Finanzbehörden, v. Weber, MDR 1955, S. 387; Lotze, NJW 1956, S. 1541 f.; Niese, ZStW 70 (1958), S. 353; Arndt, FS Schmid, S. 14 ff.; Schorn, JR 1965, S. 171; Habscheid, MDR 1966, S. 2 f.; Classen, in: v. Mangold/Klein/StarckGG Art. 92 Rn. 18 m.w. Nachw.; BVerfGE 8, 197 (207); 12, 264 (274); 22, 49 (77 f., 80; die grundlegende Entscheidung, die die Strafbefugnis der Finanzbehörden für verfassungswidrig erklärte); 27, 18 (28). And. noch v. Turegg, NJW 1953, S. 1202; Jescheck, NJW 1954, S. 785 Fn. 28; Mattern, ZStW 67 (1955), S. 404 f.; Haver, NJW 1957, S. 88 ff.; Gossrau, NJW 1958, S. 930 ff.; BGHSt 13, 102 (106 ff.).

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3. Dem Gesetzgeber ist es aber selbstverständlich nicht verwehrt, noch großzügiger zu sein und noch weiteren Sanktionen schuldtilgende Wirkung zuzuerkennen. Damit bewegt er sich aber nicht mehr im Bereich des strengen Rechts, sondern der Billigkeit im obigen Sinne (s. o. Teil 1 Kap. 1 A. I. [S. 52]). Hat er nämlich den Verlust eines erworbenen Rechts zur Rechtsfolge eines kriminellen Fehlverhaltens erklärt – man denke etwa an ein Berufsverbot [z. B. Art. 39 b), 41 ff. spanStGB; Art. 131-6 15 ë franzStGB] oder an den Entzug der Fahrerlaubnis [etwa Art. 39 d), 47 spanStGB; Art. 131-6 1 ë–3 ë franzStGB] –, dann ist die Schuld nach der Abbüßung einer solchen Sanktion ebenfalls getilgt. Dies ist der Bereich der hier zu nennenden Strafen im künstlichen oder konventionellen Sinne. Es steht im Belieben des Gesetzgebers, sie als Strafen einzuführen und wieder abzuschaffen; hat er dies aber getan, hat er ihnen ein schuldtilgendes Vermögen zugewiesen. Ist bei irgendeiner dieser Strafen eine Umwandlung in eine Freiheitsstrafe möglich (so das brasilianische Recht, Art. 44 § 4 brasStGB), dann liegen aber nicht bloß Strafen im künstlichen, sondern bereits im abgeleiteten Sinne vor. Bei möglichen Strafen im künstlichen Sinne ist die Ergründung, ob man es mit einer Strafe zu tun hat, die Ermittlung des Willens des Gesetzgebers, für die eine Reihe von Aspekten relevant sein kann, wie die Einordnung durch den Gesetzgeber selbst,2613 das Vorsehen bestimmter Nebenfolgen wie die Eintragung in das Strafregister usw. Hier darf also die scharfe Trennung zwischen Begriff und Legitimitätsvoraussetzungen der Strafe gelockert werden; strengere Legitimitätsvoraussetzungen, wie etwa Verhängung nur durch Gerichte, Anklageprinzip u. a. dürfen als Indiz dafür verwertet werden, dass der Gesetzgeber die fragliche Maßnahme als Strafe ansieht. Trotzdem muss man mit Argumenten, die von den Strafzwecklehren ausgehen, sehr vorsichtig umgehen. Sieht man von der sowieso inakzeptablen Vergeltung ab [s. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 2. b) (S. 238 f.)], lässt sich Prävention in allen ihren Formen sowohl durch Strafen als auch durch Nicht-Strafen verfolgen. Hohe Zigarettensteuern sollen von dem Rauchen abschrecken, sind aber keine Strafen gegen Raucher. Nur der Umstand also, dass der Gesetzgeber eine bestimmte Sanktion zu präventiven Zwecken vorsieht, heißt noch lange nicht, dass die Sanktion auch eine Strafe ist. Erst dann also, wenn die Reaktion auf Fehlverhalten angeborene Rechte weder direkt noch indirekt betrifft, wird es möglich sein, sich auf derartige weitere Aspekte zu beziehen. Die Hauptfrage wird aber immer sein müssen, ob der Gesetzgeber der Maßnahme eine schuldtilgende Wirkung beimessen wollte oder nicht; ob die Maßnahme Strafzwecke verfolgt, ist dagegen in der Regel weniger aussagekräftig, weil – bis auf die [abzulehnende, s. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 2. b) 2613 Diesen Gesichtspunkt aber ungebührend verabsolutierend Schäfer, JR 1931, S. 174; besser Thomas III, Double Jeopardy, S. 127 ff., der auf den gesetzgeberischen Willen abstellt und bei freiheitsentziehenden Sanktionen immer von Strafen spricht.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

(Bd. 1 S. 238 f.)] Vergeltung – alle Zwecke, die durch die Strafe angestrebt werden, nicht nur durch die Strafe verwirklicht werden können.2614 General- und Spezialprävention können durch außerstrafrechtliche Sanktionen und sogar durch sozialpolitische Maßnahmen angestrebt werden. dd) Letztlich gibt es Sanktionen, die weder im ontologischen noch im übertragenen noch im künstlichen Sinne Strafen sind. Derartige Nicht-Strafen tilgen keine Schuld. Ihre Verhängung löst die Rechtsfolge des ne bis in idem-Grundsatzes überhaupt nicht aus.

D. Die einzelnen Strafen Im Folgenden sollen einzelne positivrechtlich vorhandene Maßnahmen auf Grundlage der soeben skizzierten Systematik näher betrachtet werden. Im Vordergrund stehen die im deutschen positiven Recht vorhandenen Institute; gelegentlich werden kurze Seitenblicke sowohl in die Vergangenheit, also auf heute nicht mehr existente Sanktionen, als auch ins Ausland gemacht. Zunächst sind diejenigen Sanktionen zu untersuchen, die Strafen im ontologischen Sinne darstellen (u. I.). Anschließend wenden wir uns den Strafen im übertragenen Sinne (u. II. [S. 665 ff.]) und schließlich den künstlichen Strafen zu (u. III. [S. 671 ff.]). Das hat den Nachteil, dass der Leser bereits aus der Stelle, an der eine bestimmte Sanktion behandelt wird, erahnen kann, ob ihr schuldtilgende Kraft zugemessen wird. Um aber nicht den schiefen Eindruck zu erwecken, man habe die gebotene Sachargumentation durch Einordnungen in ein Darstellungsschema ersetzt, wird die ganze Palette der Sanktionen, deren Einordnung auf den ersten Blick unklar erscheint und bei denen deshalb ein erhöhter Diskussionsbedarf besteht, erst in einem weiteren Abschnitt behandelt (u. IV. [S. 673 ff.]). Zudem wird es bereits bei der Erörterung der klaren Fälle erforderlich sein, von ihnen die ihnen „benachbarten“, jedoch anders einzuordnenden Maßnahmen abzugrenzen. I. Strafen im ontologischen Sinn Fangen wir also mit dem Leichtesten an: Strafen im ontologischen Sinne sind solche, die sich unmittelbar unter die oben entwickelte Definition subsumieren lassen (o. C. V. [S. 659]). Bei ihnen wird also vom Staat oder von einem staatsähnlichen Gebilde ein angeborenes Recht entzogen, und dies erfolgt als Reaktion auf ein Fehlverhalten. Die einzelnen Instanzen solcher Strafen im ontologischen Sinne dürften ebenfalls offensichtlich sein, und sich zum Teil sogar mit der obigen Liste sogenannter positiver Kandidaten (o. C. IV. 2. [S. 653]) decken. 2614 Siehe auch U.S. Supreme Court, Hudson v. United States, 522 U.S. 93, 105 (1997).

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1. Todesstrafe, Leibesstrafe, bürgerlicher Tod Die Todesstrafe, die Leibesstrafe und der bürgerliche Tod sind kaum mehr aktuell, obwohl weite Teile der Welt sie immer noch kennen. Sie sind auch nicht legitim, weil sie nicht nur angeborene Rechte entziehen, sondern darüber hinaus nicht mehr mit dem kategorischen Imperativ des Respekts vor der Persönlichkeit des Betroffenen, also mit dem sogenannten Instrumentalisierungsverbot vereinbar sind.2615 Das in Deutschland geltende Recht kennt sie erfreulicherweise nicht mehr (insb. Art. 102 GG bzgl. der Todesstrafe). Dass sie ungeachtet dieser Illegitimität im Fall ihrer Verhängung vorhandene Schuld tilgen würden (s. o. B. [S. 639]), steht außer Frage. Zur Abgrenzung von benachbarten Maßnahmen sei hier nur angemerkt, dass sich die Todesstrafe von einem finalen Todesschuss oder von einer Tötung in Notwehr (die von einem staatlichen Akteur begangen wird2616) dadurch unterscheidet, dass diese keine Reaktion auf Fehlverhalten verkörpern, sondern zukunftsbezogen sind. Entsprechendes gilt hinsichtlich des Verhältnisses zwischen einer Leibesstrafe und Körperverletzungen, die im Rahmen der staatlichen Gefahrenabwehraktion zugefügt werden. 2. Freiheitsstrafe; Untersuchungshaft a) Die wichtigste Strafe im ontologischen Sinne ist heutzutage zweifelsohne die Freiheitsstrafe. Anders als die gerade erwähnten Sanktionen überschreitet die Freiheitsstrafe, zumindest insoweit sie als zeitliche Freiheitsstrafe verhängt wird,2617 nicht die Schranke des Instrumentalisierungsverbots. Sie entzieht dem Betroffenen das angeborene Recht der Fortbewegungsfreiheit und tut dies als Reaktion auf sein Fehlverhalten. Sie tilgt also Schuld und macht eine zweite Bestrafung rechtlich unmöglich. b) Auch die Untersuchungshaft bezieht sich auf das angeborene Recht der Fortbewegungsfreiheit. Es besteht deshalb eine starke Präsumption dafür, dass sie eine Strafe ist.2618 Dieses Ergebnis wird man nur vermeiden können, wenn und solange ihr die kommunikative Dimension der Strafe fehlt, d.h. wenn die Unter2615 Warum genau, kann hier nicht dargelegt werden; ich verweise auf Greco, Lebendiges, S. 180 ff., 185, 186 f., 189. 2616 Wobei man auf die Diskussion über die Anwendbarkeit von § 32 StGB auf hoheitliches Handeln nicht eingehen muss, vgl. hierzu nur Roxin, AT I § 15 Rn. 108 ff. m. ausf. Nachw. 2617 Dass die Legitimität der lebenslangen Freiheitsstrafe in Frage gestellt werden muss, habe ich woanders dargelegt (Greco, Lebendiges, S. 187 ff.). Aus dem Blickwinkel des ne bis in idem-Grundsatzes gilt insofern das Gleiche, wie für die o. 1. genannten Sanktionen: Schuldtilgung setzt Legitimität nicht voraus. 2618 In dem Sinne, dass es bei ihr um eine Strafe geht, Geyer, Entschädigung I, S. 518; ders. Entschädigung II, S. 535; Ferrajoli, Diritto e ragione, S. 760.

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suchungshaft keine Reaktion auf Fehlverhalten, sondern in erster Linie ein Instrument zum Schutze des Verfahrens bleibt.2619 Dies gilt aber natürlich nur, sofern der Untersuchungshaft die Bedeutung einer Reaktion objektiv nicht zukommt. Dauert also der Freiheitsentzug so lange, oder erfolgt er unter Bedingungen, dass sich ein objektiver Betrachter nicht des Eindrucks erwehren kann, mit einer Reaktion auf Fehlverhalten zu tun zu haben,2620 dann handelt es sich in der Tat um eine Strafe im ontologischen Sinne.2621 Sie ist zwar mangels eines richterlichen Schuldspruchs illegitim, was aber an der schuldtilgenden Wirkung, die ihr als Strafe durchaus zukommt, wie gesehen (s. o. B. [S. 639]), nichts verändert. So kann man auch die Begründung des Bundesverfassungsgerichts rekonstruieren, nach der die Unschuldsvermutung ein Verbot verkörpere, dass der Staat „im Vorgriff auf die Strafe Maßregeln verhängt, die in ihrer Wirkung der Freiheitsstrafe gleichkommen“.2622 Tut er dies, dann hat er im Grunde genommen nicht nur etwas getan, was einer Freiheitsstrafe in der Wirkung gleichkommt, sondern eine echte Freiheitsstrafe verhängt, ohne aber die hierfür erforderlichen Legitimitätsbedingungen einzuhalten. Dasselbe gilt aber auch, wenn die Rechtsordnung vergangenheitsbezogene Haftgründe kennt, was das deutsche Recht bei der Schwere der Tat tut (§ 112 Abs. 3 StPO).2623 Ein vergangenheitsbezogener Haftgrund rückt in eine bedenkliche Nähe zu einer Reaktion.2624 Wird Untersuchungshaft wegen der Schwere der Tat, wegen Sozialalarms o.Ä. verhängt, dann wird vorhandene Schuld insoweit teilweise getilgt. Nur prozessbezogene Haftgründe, d.h. Haftgründe, die sich gegen den Störer des Prozesses richten, sind legitimierbar. Tatbezogene Haftgründe machen die Untersuchungshaft zur Strafe, so dass eine Tilgung von Schuld eintritt. Man könnte den Sinn dieser Betrachtungsweise anzweifeln. Denn die deutsche Rechtsordnung kennt längst die hier für geboten erklärte Schuldtilgung, nämlich in Form der Anrechnung der Untersuchungshaft auf die zu vollstreckende Freiheitsstrafe (§ 51 Abs. 1 StGB).2625 Das geltende Recht ist sogar großzügiger als 2619 Vgl. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht § 30 Rn. 1; ausf. Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 74 ff.; tendenziell, aber nicht durchgehend BVerfGE 19, 342 (349 f.). 2620 So im Wesentlichen die Argumentation des U.S. Supreme Court, Bell v. Wolfish, 441 U.S. 520, 535 ff. (1979). 2621 So bereits Greco, Lebendiges, S. 301 f. 2622 BVerfGE 19, 342 ff. (347); 35, 311 (320); in späteren Entscheidungen war von einer Freiheitsstrafe nicht mehr die Rede, sondern von einer Strafe oder sogar von einem Schuldspruch, s. BVerfGE 74, 358 (371); 110, 1 (23); BVerfG NJW 1990, 2741. 2623 Siehe auch w. N. anderer Rechtsordnungen in Fn. 571. 2624 Zu milde noch Deckers, AnwBl 1983, S. 422: Gefahr vorweggenommener Bestrafung. 2625 Nach Frister, Schuldprinzip, S. 128 beruht das gesamte Institut der Anrechnung auf dem Schuldprinzip. Dies könnte nur richtig sein, wenn die Untersuchungshaft eine Strafe wäre, die als solche schuldtilgend wirken würde. Frister könnte aber replizieren,

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die hier entwickelte Ansicht, weil es nicht zwischen Haftgründen unterscheidet, sondern die Anrechnung grundsätzlich bei jeder Untersuchungshaft eintreten lässt. Das geltende Recht sieht aber die Anrechnung nur zum Teil als etwas, was dem Betroffenen von Rechts wegen geschuldet wird. Nachweis dafür ist die Möglichkeit, die Anrechnung nach § 51 Abs. 1 S. 2 StGB zu versagen.2626 Richtigerweise lässt sich die Versagung der Anrechnung allein dann legitimieren, wenn die Untersuchungshaft keine Strafe verkörpert, mit anderen Worten: wenn sie auf den prozessschützenden Haftgründen der Flucht, der Fluchtgefahr oder der Verdunkelungsgefahr (§ 112 Abs. 2 StPO), nicht aber auf dem vergangenheitsbezogenen Haftgrund der Tatschwere beruht. II. Strafen im abgeleiteten Sinn Wichtig und theoretisch besonders interessant ist die Kategorie der Strafen im abgeleiteten Sinn. Bei ihnen geht es um Reaktionen auf Fehlverhalten, die sich nicht unmittelbar gegen ein angeborenes Recht richten. Angeborene Rechte werden dennoch mittelbar betroffen – insbesondere dadurch, dass die einschlägige Sanktion sich ohne Legitimationslücken in einen solchen Entzug eines angeborenen Rechts verwandeln kann. Das Gesagte lässt sich wohl am besten am Prototyp der Strafen im abgeleiteten Sinn verdeutlichen, nämlich an der Geldstrafe, so dass man sich zunächst dieser Rechtsfigur zuwenden wird. 1. Geldstrafe, Vermögensstrafe, Geldbuße (und Erzwingungshaft), Verwarnungsgeld, Prozessuale Kostenentscheidungen a) Für sich genommen bezieht sich die Geldstrafe auf das Vermögen, also auf ein Standardbeispiel eines erworbenen Rechts. Trotzdem kennen die meisten Rechtsordnungen eine Bestimmung, die sie im Falle der Nichtzahlung in eine sog. Ersatzfreiheitsstrafe verwandeln lässt (§ 43 StGB; Art. 35, 53 I spanStGB; Art. 131-25 franzStGB; and. aber Art. 51 brasStGB). Diese Verwandlung in einen Entzug eines angeborenen Rechts erfolgt, wie o. C. V. (S. 660) gesagt, ohne Legitimationslücke. Damit meine ich, dass die Verwandlung nicht ein neues Strafverfahren und insbesondere eine neue richterliche Verurteilung voraussetzt, dass die Untersuchungshaft „das Sanktionsbedürfnis de facto . . . erfüllt“ (S. 128). Das hat aber nichts mit einem als Recht des Einzelnen verstandenen Schuldprinzips zu tun; dadurch wird kein Recht des Einzelnen auf Anrechnung begründet, sondern nur das mangelnde Interesse der Gesellschaft an der Verhängung der vollen schuldangemessenen Strafe. 2626 Zwar wird diese Bestimmung restriktiv gedeutet, so dass sie grundsätzlich nur dann anwendbar wird, wenn der Betroffene die Untersuchungshaft um der Anrechnung willen oder zum Zwecke der Prozessverschleppung herbeiführt (BGHSt 23, 307; näher zu beiden Konstellationen Stree/Kinzig, in: Schönke/Schröder-StGB, § 51 Rn. 18 f. m.w. Nachw.). Damit wird es wohl bei dem Haftgrund der Schwere der Tat seltener zum Versagen der Anrechnung kommen. Unmöglich ist es aber nicht.

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sondern automatisch eintritt (§ 459e StPO). Das ist legitimationstheoretisch nur deshalb möglich, weil schon die Verhängung der ursprünglichen Sanktion einen aufschiebend bedingten Entzug eines angeborenen Rechts darstellte. Strafen im abgeleiteten Sinne sind eben solche, bei denen das angeborene Recht nicht in actu, sondern in potentia, oder genauer, aufschiebend bedingt, betroffen wird (s. o. C. V. [S. 660 f.]). b) Ebenso verhielt es sich bei der früher vorhandenen, für verfassungswidrig erklärten2627 Vermögensstrafe (§ 43a StGB a. F.), für die das Gericht eine Ersatzfreiheitsstrafe bestimmen musste (§ 43a Abs. 3 StGB a. F.). c) Geldbußen sind auch Übel, die als Reaktionen auf Fehlverhalten verhängt werden. Sie betreffen indes bloß das Vermögen, also ein erworbenes Recht, und können nicht in eine Ersatzfreiheitsstrafe verwandelt werden. Deshalb stellen sie weder im ontologischen noch im abgeleiteten Sinne Strafen dar. Sie unterscheiden sich deshalb von Strafen inhaltlich und nicht bloß dem Namen nach,2628 und sind somit nicht nur „nach Auffassung des Gesetzgebers . . . eine Sanktion ohne Strafcharakter“.2629 Dieser Auffassung ist er aber auch geschuldet, dass Geldbußen nicht einmal als künstliche Strafen bzw. als Strafen im konventionellen Sinn eingeordnet werden können. Die meisten Rechtsordnungen differenzieren implizit oder explizit die Geldbuße von der echten Geldstrafe.2630 Es fragt sich, ob dieses Ergebnis auch dann noch vertretbar bleibt, wenn eine bestimmte Schwere überschritten wird. Insbesondere auf der Ebene des europäischen Kartellrechts sind Geldbußen von sogar Hunderten von Millionen Euro keine Seltenheit. Ein bekanntes Beispiel ist hier der sogenannte „VitaminkartellFall“, bei dem gegen das Unternehmen Hoffmann-LaRoche eine Geldbuße in Höhe von 462 Millionen Euro verhängt worden ist.2631 Sollte man nicht in diesen Fällen von echten Strafen sprechen?2632 Wer Strafen von sonstigen Sanktionen durch quantitative Erwägungen abgrenzt, wer sich also mit der Behauptung begnügt, dass Strafen besonders schwere Sanktionen sind, wird in solchen Fällen von Strafen ausgehen müssen.2633 Unsere Berufung auf angeborene Rechte verfolgte aber gerade das Anliegen, eine nicht bloß quantitative, sondern qualitative Abgrenzung zwischen 2627

BVerfGE 105, 135. Übersehen von Cordier, NJW 1967, S. 2144, der Geldbußen zu Strafen rechnet, die deshalb nur durch Richter verhängt werden dürften. 2629 So aber Niese, ZStW 70 (1958), S. 354. 2630 Das Europarecht geht so weit, in dieser Hinsicht eine explizite Bestimmung aufzuweisen, nach der Bußgelder „keinen strafrechtlichen Charakter“ haben, vgl. die europäische Kartellverordnung, Verordnung (EG) Nr. 1/2003 v. 16.12.2002, Art. 23 Abs. 5. 2631 Erwähnt von Satzger, JuS 2004, S. 947. Vgl. auch ders. Internationales und europäisches Strafrecht, § 8 Rn. 2. 2632 Dafür etwa Montero Aroca, Proceso Penal y Libertad, S. 32 f. 2633 Dieses Ergebnis in der Tat bei Greco, Lebendiges, S. 302. 2628

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Strafen und sonstigen Sanktionen zu gestatten. Aus der vorliegenden Perspektive gibt es keinen Umschlag von Quantität in Qualität. Es bleibt dabei, dass es auf die Schwere nicht ankommen darf.2634 Geldbußen sind weder im ontologischen noch im abgeleiteten Sinne Strafen, weil und sofern sie sich nicht in Ersatzfreiheitsstrafen verwandeln lassen, wie man in diesem Zusammenhang auch häufig betont.2635 Dies stellt eine intuitive Vorahnung der hier entwickelten Theorie dar. Man könnte dies durch den Hinweis in Frage stellen, dass die Freiheit durch die Geldbuße auch nicht völlig unangetastet bleibe: Bei Nichtzahlung besteht die Möglichkeit, die sog. Erzwingungshaft gem. §§ 96 ff. OWiG zu verhängen. Diese Maßnahme wird aber nicht als Reaktion auf Fehlverhalten verhängt, sondern bloß als Beugemittel.2636 Das Gericht muss sich unter Berücksichtigung einer Vielzahl von Voraussetzungen (§ 96 OWiG) entschließen, diese Maßnahme anzuordnen, so dass nicht von einer automatischen, aufschiebend bedingten Verhängung einer freiheitsbezogenen Sanktion die Rede sein kann. Dies erklärt auch, weshalb von einer Verwandlung der Geldbuße in Erzwingungshaft nicht die Rede sein kann und weshalb keine Anrechnung der Hafttage auf den zu zahlenden Bußbetrag erfolgen muss.2637 Dass es für die Einordnung als Strafe insbesondere darauf ankommt, ob eine automatische Verwandlung der zunächst nur vermögensbezogenen Sanktion in einen Freiheitsentzug erfolgt, ist auch vom Bundesverfassungsgericht erkannt worden, jedoch nicht mit der gebotenen Klarheit. In der grundlegenden Entscheidung, die den Finanzämtern die bis dahin bestehende Befugnis entzog, durch Verwaltungsakte Strafen zu verhängen, hat das Verwaltungsgericht Strafen durch ein kommunikatives Merkmal, nämlich einen in ihnen verkörperten „ethischen Schuldvorwurf“ charakterisiert.2638 „Der Buße im Ordnungswidrigkeitsverfahren fehlt dagegen der ,Ernst der staatlichen Strafe‘“.2639 Damit hat sich das Gericht auf den unzulänglichen Boden des kommunikativen Strafbegriffs gestellt,2640 der die o. C. III. (S. 646) erwähnte Rede von Bush als Strafe qualifizieren muss: 2634

Im Erg. ebenso BVerfGE 8, 197 (207). Aus der Lit. Eb. Schmidt, FS Arndt, S. 424; aus der Rspr. BVerfGE 8, 197 (206 f.); u. a. werden noch die Mitwirkung der Staatsanwaltschaft und das Legalitätsprinzip als Merkmale angeführt, die den Geldbußen fehlen und die für Strafen charakteristisch sind; BVerfG NJW 1976, 1963 (1964). 2636 Ebenso BVerfGE 43, 101 (105); Menger/Erichsen, VerwArch 59 (1968), S. 74; Mitsch, KK-OWiG § 96 Rn. 1; a. A. Menken, DAR 1976, S. 181, wegen des Übelcharakters der Erzwingungshaft. 2637 BVerfGE 43, 101 (105 f.); S. Herrmann, NStZ 1982, S. 252; anders (konsequent, s. letzte Fn.) Menken, DAR 1976, S. 181 f., der die Erzwingungshaft wegen einer Verletzung von Art. 103 Abs. 3 GG sogar für verfassungswidrig hält. 2638 BVerfGE 22, 49 (79); davor bereits BVerfGE 9, 167 (171). 2639 BVerfGE 22, 49 (79). 2640 Krit. auch Cordier, NJW 1967, S. 2143 und Menger/Erichsen, VerwArch 59 (1968), S. 72, die aber nur die Vagheit des Ansatzes bemängeln. 2635

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

„Wesentlich ist das mit der Festsetzung einer Geldstrafe als Kriminalstrafe notwendig verbundene Unwerturteil, der Vorwurf einer Auflehnung gegen die Rechtsordnung und die Feststellung der Berechtigung dieses Vorwurfs“.2641 Zu Recht ist dagegen hervorgehoben worden, dass es nicht auf den Namen der Sanktion ankommen kann.2642 Die „Feststellung der Berechtigung des Vorwurfs“ ist, wie o. C. III. (S. 643 f.) angemerkt, eine Legitimitätsvoraussetzung und nicht ein Begriffsbestandteil der Strafe. Auch die Eintragung in das Strafregister, die vom Gericht als Zeichen für das Vorhandensein einer Strafe angeführt worden ist,2643 kann nicht entscheidend sein; diser Umstand wäre erst dann aussagekräftiger, nachdem die Feststellung getroffen ist, dass weder direkt noch indirekt angeborene Rechte angetastet worden sind (s. o. C. V. [S. 661]). Von dem Umstand abgesehen, dass auch Maßregeln in das Strafregister eingetragen werden (§ 4 Nr. 2 BZRG), verkörpert dieses Argument an sich eine Umkehrung der Begründungsrichtung: Nicht deshalb ist etwas eine Strafe, weil es in das Strafregister eingetragen werden muss, sondern umgekehrt ist etwas deshalb in das Strafregister einzutragen, weil es eine Strafe ist.2644 Der entscheidende Gesichtspunkt wird am Ende vom Gericht aber doch genannt: Für eine Geldstrafe sei im Unterschied zur Geldbuße charakteristisch, dass sie sich in eine Freiheitsstrafe umwandeln lässt.2645 Deshalb waren die vom Finanzamt verhängten Sanktionen Strafen (im abgeleiteten Sinn), deren Verhängung gem. Art. 92 GG allein Richtern vorbehalten ist,2646 und keine Geldbußen.2647 Das heißt auch, dass Geldbußen aus der Perspektive strengen Rechts nicht nur einer späteren Strafe wegen derselben Tat nicht entgegenstehen, sondern auch, dass sie nicht einmal angerechnet werden müssten. Das kann aber gerade in Fällen besonders schwerer Geldbußen dem Rechtsgefühl zuwiderlaufen und zur Erreichung präventiver Strafzwecke nicht mehr erforderlich sein. Dem kann man aber dadurch Rechnung tragen, dass man Großzügigkeit walten lässt und aus Gründen der Billigkeit eine extensivere Anrechnung gestattet, als aus der Per2641

BVerfGE 22, 49 (80). Cordier, NJW 1967, S. 2143. 2643 BVerfGE 22, 49 (79, 80); s. a. BVerfGE 9, 197 (207). 2644 Krit. auch Menger/Erichsen, VerwArch 59 (1968), S. 72. 2645 BVerfGE 22, 49 (80); 9, 197 (207); s. davor auch OLG Celle NJW 1960, 880 (881), das dies immerhin erwähnt, wenn auch erst als Zusatzargument; darauf stellen auch Menger/Erichsen, VerwArch 59 (1968), S. 73 ff. ab, mit Rückhalt auf Art. 104 Abs. 2 GG. Diese Umwandlung der Geldstrafe in Freiheitentziehung erfolgte auch im o. B. V. (S. 639) genannten Sinne „automatisch“: Auch dann, wenn § 470 AO a. F. für die Verwandlung in eine Freiheitstrafe eine richterliche Entscheidung verlangte, war diese Entscheidung aber kein Schuldspruch; das Gericht war an Feststellungen der Verwaltung gebunden, so dass es eher eine Notarfunktion ausübte (ebenso Arndt, FS Schmid, S. 31; Habscheid, MDR 1966, S. 6, 9 [der Richter werde „degradiert . . . zum Umwandlungsgehilfen der Verwaltung“]; Menger/Erichsen, VerwArch 59 [1968], S. 73). 2646 Nachw. o. Fn. 2612. 2647 BVerfGE 22, 49 (79). 2642

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spektive des strikten Rechts erforderlich wäre. Richtiger und aus der Perspektive eines strengen Gesetzlichkeitsprinzips2648 sogar geboten wäre es dennoch, Sanktionen von vornherein nur in der Größe vorzusehen, die man auch zu verhängen und zu vollstrecken bereit ist. d) Auch das Verwarnungsgeld (§ 56 OWiG), von dem schon wiederholt die Rede war, ist aus denselben Gründen keine Strafe.2649 Die sehr beschränkte Sperrwirkung gem. § 56 Abs. 4 OWiG, die allein einer erneuten Verfolgung der Tat „unter den tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten . . ., unter denen die Verwarnung erteilt worden ist“, entgegensteht, belegt, dass es nur um Schuldtilgung geht, um die Tilgung der Schuld wegen des fait qualifié, und darüber hinaus um nichts.2650 Denn die Verwarnung wird ohne vorausgehendes Verfahren zugefügt; erst die Duldung des Verfahrens erstreckt die Sperrwirkung auf die ganze prozessuale Tat (o. B. [S. 638]). e) Keine Strafen sind aus denselben Gründen Steuerzuschläge für den Fall der verspäteten Abgabe einer Steuererklärung (§ 152 AO)2651 oder für den Fall der Steuerhinterziehung,2652 und dies unabhängig von der Höhe des zu zahlenden zusätzlichen Betrags. f) Ebenso wenig ist die Auferlegung prozessualer Kosten eine Strafe. Zwar ist diese Materie alles andere als legitimationstheoretisch unproblematisch; dass Verfahrenskosten z. T. die Rolle der poena extraordinaria oder der minderwertigeren Freisprüche des gemeinen Rechts2653 übernommen haben, ist seit Generationen immer wieder hervorgehoben worden.2654 „Gerichtskosten neben der Strafe

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Greco, Lebendiges, S. 265 ff., 423 ff. Im Erg. Niese, ZStW 70 (1958), S. 355. 2650 Insofern and. als der Bußgeldbescheid, der eine Verfolgung als Ordnungswidrigkeit ausschließt (§ 84 Abs. 1 OWiG). Diese Rechtsfolge, die nicht auf der Schuldtilgung, sondern auf der Rehabilitierung bzw. der Tilgung der Prozessduldungsschuld beruht (s. o. Kap. 2 E. III. 4. b) bb) [S. 566]), ist hier deshalb nicht einschlägig, weil Verwarnungsgelder ohne Verfahren verhängt werden können; Rehabilitierung (bzw. Tilgung der Prozessduldungsschuld) ist als Ausgleich für eine Verfahrenserduldung nur am Platz, wo es ein Verfahren gibt. Zu der Sperrwirkung gem. § 56 Abs. 4 OWiG noch Berz, Rechtskraft, S. 90: „Verfahrenshindernis sui generis“; Bode, DAR 1969, S. 60 f.; BGHSt 17, 101 (106, 109 f.) – freilich unter zweifelhafter Deutung des Wortlauts des § 22 Abs. 2 StVG a. F. (wortlauttreu hingegen die Auslegung von OLG Stuttgart NJW 1959, 1380); OLG Düsseldorf NJW 1991, 241. 2651 OLG Celle NJW 1971, 68. 2652 And. EGMR Rosenquist v. Schweden, Beschw. Nr. 60619/00, v. 14.9.2004, The Law; Manasson v. Schweden, Beschw. Nr. 41265/98, v. 20.7.2004, The Law Rn. 5. 2653 Zu ihnen u. Kap. 4 F. II. 1. a) (S. 782 ff.). 2654 Geyer, Nord und Süd 18 (1881), S. 1783 f.: „Aber wer vor das Gericht gestellt, trotz aller dem Staat zu Gebote stehenden Hilfsquellen und Machtmittel nicht eines Verbrechens überwiesen wurde, der muß von Staats wegen für Nichtschuldig gelten und der Staat darf ihm nicht in ohnmächtigem Groll beim Scheiden gleichsam noch einen Fußtritt versetzen.“; Baumann, GA 1957, S. 405 ff. 2649

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bedeuten für den Betroffenen das gleiche Übel wie eine zusätzliche Geldstrafe“.2655 Dennoch bedeutet das noch nicht, dass hier eine Strafe vorliegt. Weil angeborene Rechte weder direkt noch indirekt berührt werden, könnte höchstens eine Strafe im künstlichen Sinne vorliegen. Es dürfte aber klar sein, dass der Gesetzgeber die Auferlegung von Kosten nicht als schuldtilgende Maßnahme konzipiert hat.2656 Dies ist im Privatklageverfahren auch nicht anders, und selbst dann nicht, wenn Schuldfeststellungen getroffen werden.2657 2. Strafaussetzung zur Bewährung Auch die Strafaussetzung zur Bewährung ist, wenn sie so wie im deutschen Recht konstruiert wird, begrifflich eine Strafe, zwar nicht im ontologischen, aber durchaus im abgeleiteten Sinn.2658 Bei ihr steht die körperliche Dimension der Übelzufügung im Hintergrund. Sie bedeutet aber ein Damoklesschwert, das jederzeit in eine Gefängnisstrafe verwandelt werden kann, also einen aufschiebend bedingten Entzug des angeborenen Rechts auf Fortbewegungsfreiheit: Denn die Strafaussetzung darf im o. C. V. (S. 660) genannten Sinne „lückenlos“ (genauer: ohne ein dem Anklageprinzip genügendes vorausgehendes Strafverfahren, ohne eine neue richterliche Verurteilung usw.) widerrufen werden (§ 56 f StGB), was also bedeutet, dass bereits die Entscheidung, sie zu verhängen, allen für Strafen erforderlichen Legitimitätsbedingungen genügt haben muss. Dies wird im deutschen Recht bereits daran klar, dass die Strafaussetzung zur Bewährung eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe voraussetzt (§ 56 Abs. 1 S. 1 StGB).2659 Die angelsächsische probation ist unterschiedlich konstruiert und deckt sich nur teilweise mit der kontinentaleuropäischen Strafaussetzung zur Bewährung. Zwar wird sie regelmäßig einen Schuldspruch, eine conviction, voraussetzen.2660 2655

v. Hippel, Strafprozeß, S. 690. Im Erg. Ebenso BVerfG NJW 1990, 2741 (2742); Kühl, JR 1978, S. 100, beide mit dem Argument, dass die Kosten kein Unwerturteil verkörpern; und Tiedemann, GA 1964, S. 375, mit dem Argument, das es an einem Übelzufügungszweck fehle. 2657 A.A. BVerfGE 74, 358 (375 f.); EGMR (Minelli) EuGRZ 1983, 475, 477 Rn. 34 ff.; s. a. BVerfG NJW 1990, 2741 (2742). Bei diesen Entscheidungen ging es aber um eine „Strafe i. S. v.“ bzw. i. S. d. Unschuldsvermutung. 2658 Im Erg. auch G. Schmidt, JZ 1966, S. 93, der einen kommunikativen Strafbegriff vertritt. 2659 Im spanischen, portugiesischen und auch im brasilianischen Recht spricht die einschlägige Vorschrift von einer „Suspendierung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe“ (Art. 80 Abs. 1 spanStGB; Art. 50 Abs. 1 portStGB; Art. 77 brasStGB). 2660 Weller, Probation, S. 3, 5 f.; and. Berger, Probation, S. 40; Gracia Martín/Aluastuey Dobón, in: Gracia Martín, Consecuencias jurídicas, S. 300 ff. – nach einer solchen Konstruktion, nach der die probation nicht einmal einen Schuldspruch voraussetzt, wird die probation der deutschen Einstellung gem. § 153a Abs. 2 StPO stark angenähert, so dass dieselben Grundsätze, die für diese gelten (s. u. IV. 5. [S. 693 ff.], Kap. 4 F. II. 7. [S. 788]), dort auch einschlägig sein müssen. 2656

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Weil aber die Festlegung der Strafe (sentencing) im angelsächsischen Verfahren mit zweigeteilter Hauptverhandlung nicht notwendig mit der Schuldigsprechung zusammenfällt, kann es zur probation kommen, ohne dass es eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe gibt. Insofern lassen sich die hier entwickelten Gedanken nur bedingt auf sie anwenden. III. Strafen im künstlichen oder konventionellen Sinn Zuletzt darf der Gesetzgeber alles zu einer Strafe erklären, was er als Strafe behandelt sehen und dem er schuldtilgende Wirkung beimessen will. Dies darf er tun, muss es aber nicht. Gerade weil er von Rechts wegen nur daran gebunden ist, allein beim Entzug angeborener Rechte von einer Strafe auszugehen, ist es seine Entscheidung, wie großzügig er bei solchen künstlichen oder konventionellen Strafen sein will. Er kann schon so großzügig sein, dass er bereits die Verhängung einer künstlichen oder konventionellen Strafe von den für andere („wahre“) Strafen geltenden Legitimitätsvoraussetzungen abhängig macht, also dass er sie von Anfang an als Strafen behandelt; oder er begnügt sich damit, dies erst nach ihrer Verhängung zu tun. In beiden Fällen wird aber die Schuld getilgt. Bei Strafen im künstlichen oder konventionellen Sinne ist die Suche nach einem dahinter stehenden materiellen Abgrenzungskriterium zu sonstigen Sanktionen vergeblich. Das, was sie zu Strafen macht, ist die schlichte Tatsache, dass sie zu Strafen gemacht worden sind. Weil allein der Wille des Gesetzgebers sie zu Strafen erhebt, kann eben dieser Wille sie auch zu einer bloßen Nicht-Strafe herabstufen.2661 1. Juristische Personen Das praktisch wichtigste Beispiel für Strafen im künstlichen oder konventionellen Sinn sind die in vielen ausländischen Rechtsordnungen vorgesehenen Strafen juristischer Personen. Juristische Personen haben keine angeborenen Rechte. Sie sind geschaffene Gebilde, denen nur die Rechte zukommen, die ihnen übertragen werden. Erklärt aber eine Rechtsordnung juristische Personen für strafbar, dann muss diese Rechtsordnung bei einer abgebüßten Strafe einer juristischen Person ihre (vorhandene oder vermeintliche) „Schuld“ auch als getilgt ansehen. Die Unterscheidung zwischen angeborenen und erworbenen Rechten scheint bei juristischen Personen nicht angemessen. Selbst wenn man die Terminologie entsprechend verändern würde, so dass man statt von „angeborenen“ eher von „ursprünglichen“ Rechten spricht, und behaupten würde, einer juristischen Per-

2661 Das wird für die internationale Dimension des ne bis in idem-Grundsatzes von besonderer Bedeutung sein, was aber erst in einer zukünftigen Monografie näher ausgeführt werden kann.

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son stehe mindestens die Rechtsfähigkeit als ursprüngliches Recht zu, wäre nicht viel gewonnen. Erstens wären auch dann die meisten gegen juristische Personen vorgesehenen Sanktionen weiterhin keine Strafen. Sie wären das nicht einmal dann, wenn sie auf natürliche Personen angewandt würden. Anhand der Liste einer wichtigen Quelle des Europäischen Rechts2662 verdeutlicht: „Geldstrafen“, die sich aber nicht in eine Ersatzfreiheitsstrafe verwandeln lassen, sind nur dem Namen nach Strafen, genauso wie Vertragsstrafen auch Strafen heißen; „Geldbußen“ sind ebenfalls keine Strafen; „Maßnahmen des Ausschlusses von öffentlichen Zuwendungen oder Hilfen“ entziehen nicht einmal ein erworbenes Recht, sondern bestenfalls Aussichten auf die Erwerbung von Rechten, und ein angeborenes Recht auf Zuwendungen oder Hilfen hat keiner; ebenso verhält es sich bei „Maßnahmen des vorübergehenden oder ständigen Verbots der Ausübung einer Handelstätigkeit“. Höchstens bei der „richterlichen Aufsicht“ und bei der „richterlich angeordneten Auflösung“ könnte man vom Entzug eines angeborenen, besser: ursprünglichen Rechts sprechen. Aber gerade das enge Verhältnis zwischen angeborenem Recht und Menschsein, das letztlich auch die Erklärung dafür geliefert hat, weshalb Strafe besonders rechtfertigungsbedürftig ist (s. o. C. IV. 2. [S. 656 f.]), findet bei juristischen Personen keine Entsprechung. Ein Mensch hat ein Recht auf Leben, Rechtsfähigkeit und Fortbewegungsfreiheit schon weil er Mensch ist, letztlich also als Ausfluss seiner Würde als ein selbstzweckhaftes Wesen. Eine juristische Person dagegen ist immer nur Mittel in den Händen anderer. Ihre Rechte, auch die ursprünglichen, stehen ihr nicht ihretwegen zu, sondern stehen im Interesse vor allem ihrer Mitglieder und Gläubiger usw. So kann ein Verein durch Beschluss der Mitglieder aufgelöst werden (§ 41 BGB). Juristische Personen kann man deshalb nicht im echten Sinne des Wortes bestrafen. 2. Schuldtilgung durch poena naturalis? Eine wichtige weitere Frage betrifft die Möglichkeit einer Schuldtilgung durch eine sog. poena naturalis. Darunter sollen im Anschluss an eine wichtige Tradition alle auf die Tat selbst zurückführbaren, auf keiner Willensentscheidung eines Dritten beruhenden Einbußen gezählt werden, die der Täter erleiden muss.2663 Viele Rechtsordnungen kennen eine Vorschrift, die in solchen Fällen zumindest von einer teilweise wirkenden Schuldtilgung ausgeht, die also in solchen Fällen entweder eine Strafmilderung oder sogar ein Absehen von Strafe für möglich 2662 Rahmenbeschluss des Rates zur Bekämpfung von Betrug und Fälschung im Zusammenhang mit unbaren Zahlungsmitteln, v. 28.5.2001 (2001/413/JI) (ABl. EG v. 2. Juni 2001 – Nr. L 149/1), Art. 8. 2663 Vgl. nur Kant, Metaphysik der Sitten, S. 331: „Richterliche Strafe (poena forensis), die von der natürlichen (poena naturalis), dadurch das Laster sich selbst bestraft . . . verschieden . . .“ ist. Weitere Nachw. für die von Vernunftrechtlern angebotenen Definitionen der poena naturalis bei C. Ritter, Rechtsgedanke Kants, S. 51. Aus heutiger Sicht Jakobs, AT § 1 Rn. 7a, 13.

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erklärt (§§ 60, 199 StGB; Art. 121 § 5 brasStGB, für die fahrlässige Tötung).2664 In Deutschland begründet die Aussicht auf eine solche Rechtsfolge die Möglichkeit einer Verfahrenseinstellung aus Opportunitätsgründen (§ 153b StPO). Auch dann, wenn der Täter wegen seiner Tat eine solche Einbuße erleidet und sie ein angeborenes Recht trifft – beispielsweise trägt er schwere Verletzungen von dem von ihm fahrlässig verursachten Autounfall davon –, hat man es hier nicht mit einer sehenden Reaktion des Staates oder eines staatsähnlichen Subjekts, sondern mit einem blinden Werk des Zufalls zu tun. Eine Strafe im ontologischen oder abgeleiteten Sinn liegt also nicht vor. Beurteilt der Staat diese Einbußen trotzdem als hinreichend, dann beruht sein Verzicht auf die Verhängung einer echten Strafe auf Gründen der Billigkeit. Hiermit erhebt er die poena naturalis zu einer Strafe im künstlichen Sinne und verleiht ihr schuldtilgende Wirkung.2665 IV. Sonstige Sanktionen Es fragt sich, ob auch sonstige in der Rechtsordnung vorgesehene Sanktionen, die ausdrücklich als Nicht-Strafen eingeordnet werden und deshalb schon vornherein keine Strafen im künstlichen Sinn sein können, die Rechtsfolge des ne bis in idem-Grundsatzes bzw. des Doppelbestrafungsverbots auszulösen vermögen. Dies wird der Fall sein, wenn sie eine Schuldtilgung bewirken, d.h., wenn sie sich unter den (vorpositiven) Begriff der Strafe subsumieren lassen. 1. Disziplinarrechtliche und weitere „ordnungsrechtliche“, „verwaltungsrechtliche“ bzw. „außerstrafrechtliche“ Sanktionen a) Ob die Verhängung einer Disziplinarsanktion im Beamtenverhältnis oder im Militär, einer Ordnungsstrafe wegen Ungebühr (§ 178 GVG) oder einer Gewerbeuntersagung (§ 35 GewO) bereits als schuldtilgend angesehen werden kann, ist nicht unumstritten.2666 Überwiegend äußert man sich dagegen und will bei solchen außerstrafrechtlichen bzw. verwaltungsrechtlichen Sanktionen – wenn überhaupt – höchstens eine Anrechnung anerkennen.2667 Davon gehen auch mehrere 2664 Zur Begründung näher v. Weber, MDR 1956, S. 705 f.; Maiwald, ZStW 83 (1971), S. 663 ff.; Wagner, GA 1972, S. 35 f.; Bloy, GA 1980, S. 176; Schork, Ausgesprochen schuldig, S. 158 ff.; s. a. Zickendraht-Wendelstadt, Absehen von Strafe, S. 172 f. Kühl, Unschuldsvermutung, S. 18, der einen kommunikativen Strafbegriff vertritt (S. 14 ff.), ordnet das Absehen von Strafe wegen des dabei vorausgesetzten Schuldspruchs als Strafe ein. 2665 Im Erg. auch Schlosky, GA 1927, S. 286. 2666 Weitere Beispiele bei Fliedner, AöR 99 (1974), S. 245. 2667 RGSt 39, 370 (375); 72, 99 (102 f.); BVerfGE 21, 378 (383 ff.); 27, 180 (184 ff.); 43, 101 (105); 66, 337 (356 f.); KG StV 1987, 519; aus der (nicht nur deutschen) Lit. Hélie, Traité III, S. 543 f.; Berner, GA 1855, S. 490; Griolet, Chose jugée, S. 216; Binding, GrünhutsZ 2 (1875), S. 684; ders. BT 2/2, S. 400; M. Berner, Ne bis

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Bestimmungen des deutschen positiven Rechts aus.2668 Es fehlt aber nicht an Stimmen, die aus unterschiedlichen Gründen eine zweite Sanktionierung ausschließen wollen.2669 Noch ein Wort zum Gegenstand des vorliegenden Abschnitts. Es ist schwer, bei den vorliegenden Sanktionen den gemeinsamen Nenner ausfindig zu machen, der es rechtfertigt, sie alle gemeinsam zu behandeln. Die vorgezogenen Bezeichnungen als ordnungsrechtliche, außerstrafrechtliche bzw. verwaltungsrechtliche Sanktionen sollen als unverhohlene Verlegenheitsausdrücke verstanden werden, also als ein Versuch, ohne eine klare Bestimmung des Wesens dieser Sanktionen sie trotzdem alle unter einem Dachbegriff zu erfassen. Die Bezeichnung ist auch zugegeben ungenau, weil die wohl wichtigste unter diesen ordnungsrechtlichen, außerstrafrechtlichen bzw. verwaltungsrechtlichen Sanktionen, nämlich die Geldbuße, bereits o. II. 1. (S. 666 f.) behandelt worden ist. Im vorliegenden Abschnitt geht es also neben den einigermaßen klar geschnittenen Disziplinarsanktionen gegen Beamte und weitere Personen, die in einem früher sog. besonderen Gewaltverhältnis zum Staat stehen (wie Strafvollzugsinsassen oder Studenten), um weitere Sanktionen gegen Träger bestimmter sog. freier Berufe (wie Ärzte und in idem, S. 7; Glaser, GrünhutZ 12 (1885), S. 321; Eichhorn, GS 38 (1886), S. 409; Barbarino, Rechtskraft, S. 43; Laband, Reichsstaatsrecht, S. 101; ders. Staatsrecht I, S. 487; Schlosky, GA 1927, S. 286 (mit Ausnahme für militärische Disziplinarstrafen); Everling, DJ 1937, S. 120; Spinellis, Rechtskraft, S. 41; Najarian, Chose jugée, S. 5 ff.; Fliedner, AöR 99 (1974), S. 280; Garcias Planas, ADPCP 1989, S. 113 („besonderes Unterordnungsverhältnis zur Verwaltung“ als negative Voraussetzung der Anwendbarkeit de ne bis in idem-Grundsatzes); Schmidt-Aßmann, M/D-GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 287; Kniebühler, Ne bis in idem, S. 32; Díaz y García, Revista de Derecho 9 (2004), S. 26; Barja de Quiroga, Tratado, S. 206; Pfeiffer/Hanich, KK-StPO Einl Rn. 171; Sprack, Criminal Procedure, Rn. 17.50; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 52 Rn. 7; Meyer-Goßner, StPO Einl Rn. 178. Diff. H. Mayer, Zuchtgewalt, S. 48 ff., 53 ff., 84 ff., 122 ff. (in erster Linie bei leichten Delikten); Fliedner, AöR 99 (1974), S. 259, 265, 277 ff.: bzgl. der zweiten Strafe: nicht bzgl. Disziplinarmaßnahmen (S. 267 f.) oder prozessualer Ordnungsstrafen (S. 268), schon bzgl. Ordnungswidrigkeit bzw. Tatbeständen des sog. Verwaltungsstrafrechts (S. 273). Aus der amerikanischen Rspr. U.S. Supreme Court, Hudson v. United States, 522 U.S. 93 (1997); ebenso die Rspr. in Kanada und England, s. Coffey, JSIJ 5 (2005), S. 135 m. Nachw.; für Belgien s. Kniebühler, Ne bis in idem, S. 60, m. Nachw.; für Spanien, auch m. v. Nachw. aus der schwankenden Rspr., Muñoz Lorente, Non bis in idem, S. 31 ff.; Barja de Quiroga, Non bis in idem, S. 61 ff.; ders. Tratado, S. 193 ff.; Górriz Royo, EPC 24 (2004), S. 191 ff.; Cubero Marcos, Non bis in idem, S. 101 ff.; Martínez Rodríguez, Non bis in idem, S. 21 ff., 157 ff. 2668 Etwa § 178 Abs. 3 GVG; § 102 Abs. 3 StVollzG; § 115b S. 2 BRAO; §§ 17 Abs. 1, 113 Abs. 1 BayDO; § 22 Abs. 1 S. 2 Berlin DiszG; § 23 Abs. 1 S. 2 NDiszG. 2669 Wittland, DJ 1936, S. 1607 f. (aus nationalsozialistischer Sicht; zu ihm krit. Everling, DJ 1937, S. 116 ff.; Replik bei Everling, DJ 1937, S. 238 ff.); Rupp, NJW 1967, S. 1651 f.; Hagedorn, NJW 1965, S. 904 ff. (nur bzgl. des Wehrstrafrechts und des Wehrdisziplinarrechts); Lambrecht, Disziplinarrecht, S. 226; Box Reig, LH Rodríguez Mourullo, S. 130; nur de lege ferenda Frister, StV 1987, S. 519 ff.; tendenziell auch Stratenwerth/Kuhlen, AT § 2 Rn. 50 f. Nachw. aus der wohl diesen Standpunkt einnehmenden norwegischen Rspr. bei Strandbakken, Fair trial, S. 250.

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Rechtsanwälte), und um sonstige Sanktionen, die regelmäßig (aber nicht immer) durch Verwaltungsbehörden verhängt werden (und, wenn auch nicht immer, verhängt werden dürfen). Es fragt sich, ob die Verhängung dieser Sanktionen einer Bestrafung derselben Tat entgegensteht. b) Der aus der vorliegenden Perspektive gebotene Weg dürfte bereits klar sein. Eine pauschale Lösung verbietet sich. Entscheidend sind vielmehr zwei Überlegungen: Erstens muss es selbstverständlich bei den zwei Sanktionen um die gleiche Tat gehen; und zweitens muss der ersten Sanktion schuldtilgende Wirkung beigemessen werden können. aa) So selbstverständlich wie die erste Voraussetzung auch ist, ist es im vorliegenden Zusammenhang nicht redundant, an sie expressis verbis zu erinnern.2670 Denn auf Grundlage der o. Kap. 2 D. VII. 1., 2. (S. 528 ff., 537 ff.) entwickelten Kriterien wird es häufig bereits an der Tatidentität fehlen.2671 (1) Die prozessuale Tat ist nicht bloß ein geschichtlicher Vorgang, sondern in einem Strafverfahren das, was angeklagt wird (s. o. Kap. 2 D. II. [S. 469 f.]), und die in der Anklage verkörperte Verdächtigung weist immer eine bestimmte Vorwurfsrichtung auf (s. o. Kap. 2 D. VII. 1. [S. 528 ff.]). Im Disziplinarverfahren und bei der Verhängung verwaltungsrechtlicher Sanktionen gilt das Anklageprinzip zwar nicht (s. o. Kap. 2 B. III. 3. [S. 406 f.]). Regelmäßig sind aber die Vorwurfsrichtungen, die bei der Verhängung verwaltungsrechtlicher Sanktionen berücksichtigt werden, andere als die, die für Strafgerichte ausschlaggebend sind. „Abgeurtheilt worden ist nur immer das, worüber der betreffende Richter überhaupt urtheilen kann. (Die rein disciplinare Seite der Sache kann der öffentliche Strafrichter nicht mitaburtheilen.)“ 2672 Als erstes Beispiel (einer sog. Ordnungsstrafe2673) nehme man die Situation, in der ein Prozessteilnehmer in der Gerichtsverhandlung jemanden tätlich angreift oder beschimpft.2674 Hier kommen sowohl eine Ordnungsstrafe wegen Ungebühr gem. § 178 GVG als auch die Straftatbestände des § 185 StGB oder § 223 StGB in Betracht.2675 Nach den o. Kap. 2 D. VII. 1. (S. 528 ff.) aufgestellten drei Re2670 Siehe das Sondervotum von Stevens und von Souter in: Hudson v. United States, 522 U.S. 93, 107 ff., 113 (1997). 2671 Etwas unklar, aber in dieselbe Richtung Meyer-Hentschel, ZBR 1963, S. 282: „Identität des Sachverhalts“ sei zwar gegeben, es fehle aber die „für die Anwendung des Grundsatzes ,ne bis in idem‘ zusätzlich zu fordernde Identität des Rechtssystems“; zust. Faust, ZBR 1967, S. 80. Ebenso Garcias Planas, ADPCP 1989, S. 116 (Identität des Unrechtsgehalts). 2672 v. Bar, Geschichte, S. 356. 2673 Wobei nicht sehr klar ist, war damit genau gemeint wird, s. bereits Schäfer, JR 1931, S. 173. 2674 Siehe LG Saarbrücken NJW 1968, 1686. 2675 LG Saarbrücken NJW 1968, 1686; Fliedner, AöR 99 (1974), S. 245; Schmidt-Aßmann, M/D-GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 290. Dies wird sogar vom Wortlaut des § 178 GVG

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

geln, die die normative Vorwurfsrichtung bestimmen, hat man es trotz der Identität der diese Vorschriften verwirklichenden Körperbewegungen nicht mit einer einheitlichen prozessualen Tat zu tun.2676 Denn Ungebühr, die eine Gerichtsverhandlung stört, und Beleidigung bzw. Körperverletzung sind weder ineinander enthalten noch miteinander vergleichbar noch bedeuten sie Vertiefungen des in dem anderen verkörperten Unrechtsgehalts. Ähnlich verhält es sich bei vielen Verstößen gegen das Disziplinar- und Berufsrecht: Der Arzt, der es unterlässt, einem Hilfsbedürftigen Hilfe zu leisten,2677 bricht zugleich seinen hippokratischen Eid, und der Anwalt, der einen Meineid leistet,2678 stellt dadurch seine Eignung, sich als vertrauenswürdiges Organ der Rechtspflege zu betätigen (§ 1 BRAO), grundlegend in Frage. Die bloße Ahndung aus § 323c oder § 154 StGB lässt diese weiteren Unwertdimensionen, die nur dem besonders Verpflichteten zugänglich sind und die das Ansehen des gesamten Berufsstandes beeinträchtigen können, unberücksichtigt.2679 Das strafrechtliche Unrecht beruht auf einem Erfolgsunwert, der aus einer Rechtsgutsverletzung oder Gefährdung besteht,2680 und einem Handlungsunwert, der im Wesentlichen in seiner objektiven Seite aus einem gefährlichen Verhalten,2681 in seiner subjektiven Seite aus der Kenntnis2682 (und nach h. M. auch aus dem Willen2683) dieser Gefährlichkeit zusammengesetzt ist. Die Formen nichtstrafrechtlichen Unrechts, um die es jetzt geht, können zwar, müssen aber nicht einen solchen Unwertgehalt verkörpern. In der Tendenz ist das sog. Ordnungsrecht eher großzügiger, das Disziplinar- und Berufsrecht eher strenger als das klargestellt: „vorbehaltlich der strafgerichtlichen Verfolgung“. Entsprechendes gilt im Falle einer von einem Strafgefangenen an einem Strafvollzugsbeamten begangenen Körperverletzung und der Disziplinarverfehlung nach § 102 Abs 1 i.V. m. § 82 Abs. 1 S. 2 StVollzG (KG StV 1987, 519). 2676 Die für uns ausschlaggebenden Erwägungen werden vom Gericht auch beiläufig genannt: „Rechtsgrund“ der Ordnungsstrafe sei es, „eine Sanktion zu verhängen wegen Verletzung der Würde und des Ansehens des Gerichts“, so dass das die Sanktion verhängende Gericht „nur einen eng begrenzten Ausschnitt dieser Tat unter einem Aspekt“ beurteile (OLG Saarbrücken NJW 1968, 1686 [1687]). 2677 So der Sachverhalt in BVerfGE 27, 180. 2678 So der Sachverhalt in BVerfGE 66, 337. 2679 Ebenso BVerfGE 27, 180 (186 f.); 66, 337 (356). Dies auch dann, wenn im Rahmen der Strafzumessung die besondere Rechtsstellung des Täters strafschärfend berücksichtigt wird (was, nebenbei gesagt, nicht geschieht, s. ausf. Lambrecht, Disziplinarrecht, S. 57 ff. m.w. Nachw.), denn erhöht wird der Unrechtsgehalt qua unterlassene Hilfeleistung oder Meineid, nicht qua Bruch eines hippokratischen Eids bzw. als Verrat an seiner Stellung als Organ der Rechtspflege. Man spricht gelegentlich von einem sog. „disziplinaren Überhang“ (s. Lochbrunner, ZBR 1963, S. 287; Lambrecht, Disziplinarrecht, S. 148 m.w. Nachw.). 2680 Statt aller Roxin, AT I § 2 Rn. 1 ff., § 10 Rn. 96 ff. 2681 Roxin, AT I § 10 Rn. 88 ff., § 11 Rn. 53 ff.; ausf. Frisch, Verhalten, S. 69 ff. 2682 Insb. Frisch, Vorsatz, S. 94 ff., 118 ff. 2683 Roxin, AT I § 10 Rn. 62 ff., § 12 Rn. 1 ff., 21 ff.

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Strafrecht.2684 Für das Disziplinar- und Berufsrecht können zusätzlich zu den (oder anstelle der) strafrechtlich relevanten Dimensionen Gesinnungen, Einstellungen, das Ansehen und sogar das Selbstbild des Berufs – „eine im besonderen Maße verpflichtende Berufsethik“ 2685 – eine Rolle spielen.2686 Das sog. Ordnungsrecht hat dagegen häufig mit Verstößen zu tun, die nicht notwendigerweise Rechtsgüter betreffen müssen. Die von der h. M. immer wieder geltend gemachte „Wesensverschiedenheit von Strafrecht und Disziplinarrecht“ 2687 beruht also zunächst darauf, dass Disziplinarsanktion und Strafe regelmäßig nicht auf dasselbe Unrecht reagieren, was unter Zugrundelegung des hier entwickelten nicht rein geschichtlich orientierten Tatbegriffs die prozessuale Folge hat, dass diese Sanktionen nicht ein „idem“ betreffen. (2) Es kann aber sein, dass eine Rechtsordnung dennoch genau dieselbe Tat im oben ausgeführten Sinne einmal als Auslöser einer Strafe, einmal als Auslöser einer außerstrafrechtlichen Sanktion vorsieht. Dies scheint bezüglich einzelner Verletzungen soldatischer Pflichten der Fall zu sein, die gem. § 23 Abs. 1 SG Dienstvergehen verkörpern, und der Straftat der Gehorsamsverweigerung gem. § 20 WStG,2688 oder des Dienstvergehens der Annahme von Belohnungen und Geschenken (etwa § 71 Abs. 1 i.V. m. § 77 BBG), das gleichzeitig eine strafbare Vorteilsannahme gem. § 331 StGB verkörpern kann.2689 Man könnte replizieren, auch hier liege keine Identität der Wertdimension vor, weil es beim außerstrafrechtlichen Verstoß immer um andere Belange als beim Strafrecht gehe.2690 Eine definitive Stellungnahme in diesem Streit würde eigent2684

Eb. Schmidt, Disziplinarrecht, S. 873 f. Eb. Schmidt, Disziplinarrecht, S. 864. 2686 H. Mayer, Zuchtgewalt, S. 18 f.; Everling, DJ 1937, S. 117 f.; Eb. Schmidt, Disziplinarrecht, S. 866 ff.; Faust, ZBR 1967, S. 79 f.; s. a. Finger, ZBR 1964, S. 8 f. Ferner BVerfGE 21, 378 (384); 21, 391 (403); 27, 180 (186 f.); dogmengeschichtlich bis zum ALR Behnke, ZBR 1963, S. 260 ff. 2687 BVerfGE 21, 378 (384); 21, 391 (407); 27, 180 (186); Laband, Staatsrecht I, S. 101; Faust, ZBR 1967, S. 80; ausf. m. v. Nachw. Stock, Amtsverbrechen, S. 208 ff. 2688 Von einem bloß quantitativen Unterschied spricht Hagedorn, NJW 1965, S. 902. 2689 Battis, BBG § 71 Rn. 3; in dem Sinne, dass in diesem Fall gleiches Unrecht vorliegt, Wittland, DJ 1936, S. 1607; ders. DJ 1937, S. 420; Lambrecht, Disziplinarrecht, S. 137; Rudolphi/Stein, SK-StGB vor § 331 (133. Lfg. 2012) Rn. 8. In Brasilien definiert das Umweltstraftatengesetz (Gesetz Nr. 9605 v. 1998) zunächst weit über 50 Straftatbestände (Art. 29–69, die gelegentlich aus mehreren Absätzen bestehen); als wäre dies nicht genug, sieht das Gesetz eine generalklauselartige Definition des Umweltvergehens („infração administrativa ambiental“) vor: „jede Handlung oder Unterlassung, die den rechtlichen Regeln der Nutzung, des Genusses, der Förderung, des Schutzes oder der Wiederherstellung der Umwelt widerspricht“ (Art. 70). Jede Straftat ist bei einer solchen zweifelsohne fragwürdigen Gesetzgebungstechnik automatisch eigenständig sanktionierbares Ordnungsunrecht. 2690 Everling, DJ 1937, S. 120: „Der Disziplinarrichter beurteilt gleiche Handlungen unter anderen Gesichtspunkten als der Strafrichter“; BVerfGE 21, 391 (405): andere Rechtsgüter; wohl auch Behnke, ZBR 1963, S. 266. 2685

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lich voraussetzen, dass man sich mit einigen klassischen Fragen beschäftigt, die hier nicht gelöst werden können, und zudem mit solchen, deren Relevanz im vorliegenden Zusammenhang nicht einmal erkannt worden ist. Zu dieser erster Gruppe von Fragen gehört in erster Linie die nähere Bestimmung des Wesens des disziplinarischen Unrechts (sog. Dienstvergehens) und des Ordnungsunrechts. Wer der Meinung ist, dass es bei ihnen immer um den Schutz von Rechtsgütern geht,2691 wird leichter zu Übereinstimmungen kommen können, als derjenige, der hier von qualitativer Verschiedenheit ausgeht. Dass die erste Position angesichts des soeben Ausgeführten (o. S. 677) nicht vertretbar ist, leuchtet ein. Vielmehr sind viele der Gesichtspunkte, denen diese Sonderrechte Rechnung tragen, solche, mit denen das Strafrecht nichts anfangen kann und soll, und dies gerade deshalb, weil diese Gesichtspunkte völlig rechtgutsindifferent sind. Man denke etwa an beamtenbezogene Dienstvergehen, die mit der Verletzung von Dienstkleidungspflichten oder von Pflichten zur Wahl eines bestimmten Wohnorts zu tun haben (§§ 74, 71 i.V. m. § 77 BBG). Wenn diese Gesichtspunkte idealiter mit der Verwirklichung eines Straftatbestands konkurrieren, wenn etwa der Verstoß gegen die Dienstkleidungsvorschriften gleichzeitig eine Straftat darstellt – der Polizist hat statt seiner Uniform die der Waffen-SS an (§ 86a StGB) –, liegen eindeutig zwei nicht aufeinander zurückführbare Unwertdimensionen vor, und von der dienstrechtlichen nimmt das Strafrecht bei § 86a StGB nicht einmal Kenntnis. Umgekehrt ist inzwischen unstreitig, dass nicht jede Straftat automatisch ein beamtenrechtliches Dienstvergehen darstellt.2692 Zu den hier noch kaum für relevant erachteten Problemen gehört insbesondere die Frage nach dem Wesen der strafrechtlichen Sonderdelikte: Wer im Banne der klassischen Formulierung der Pflichtdeliktslehre die Verletzung einer außerstrafrechtlichen Pflicht für strafunrechtsbegründend erklärt,2693 wird bei den oben genannten Sonderdelikten die Identität des Unrechts und somit auch der Tat zwingend bejahen müssen. Wenn man dagegen diese straftatbestandskonstitutive Sonderpflicht als eine strafrechtliche begreift,2694 muss man von unterschiedlichen 2691 Bzgl. des Dienstvergehens Wittland, DJ 1936, S. 1600 (aus nationalsozialistischer Sicht, „Gemeinschaftswidrigkeit“ als gemeines Kennzeichen von Straftat und Dienstvergehen); Baumann, JZ 1967, S. 659; Menger/Erichsen, VerwArch 59 (1968), S. 7; Kreuzer, NJW 1970, S. 507; in dieselbe Richtung auch Lochbrunner, DVBl 1965, S. 309; Stratenwerth/Kuhlen, AT § 2 Rn. 51. 2692 And. noch BDH ZBR 1962, 194 („ständige Rechtsprechung“); abl. schon Heffter, NArchCrimR 13 (1832), S. 60; im 20. Jahrhundert Lindgen, ZBR 1962, S. 138 ff.; Wiese, VerwArch 56 (1965), S. 358 ff.; Dau, DVBl 1968, S. 68 f.; relativierend bereits BDH NJW 1966, 688 (689): eine normalfahrlässige Körperverletzung im Straßenverkehr mit geringen Folgen begründe nicht notwendig ein Dienstvergehen. 2693 Grdl. Roxin, Täterschaft, S. 354; weiterführend Jakobs, AT § 7 Rn. 70 f. („institutionelle Zuständigkeit“); diesem folgend Sánchez-Vera, Pflichtdelikt, S. 76 ff. 2694 Schünemann, GA 1986, S. 331 ff.; ders. LK § 25 Rn. 42 ff.; Roxin, AT II, § 25 Rn. 271 ff.; Chen, Garantensonderdelikt, S. 111; Pariona, Plichtverletzung, S. 82 ff.

3. Kap.: Die erste Strafe

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Unwertdimensionen ausgehen, es sei denn, man liefert ein zusätzliches Argument im entgegengesetzten Sinne. Ein solches Argument könnte etwa sein, dass bei gleichzeitiger Verletzung von Dienstpflicht und strafrechtsspezifischer Sonderpflicht diese die Erste immer oder wenigstens regelmäßig miterfasst. Von einer Stellungnahme bezüglich dieser gerade angesprochenen Frage wird man hier aber absehen müssen. Es soll festgehalten werden, dass ein Problem der Doppelbestrafung selbstverständlich nur dann entstehen wird, wenn es um dieselbe Tat geht, und dass die o. Kap. 2 C. IV. (S. 433 ff.), D. VII. 1., 2. (S. 528 ff., 537 ff.) durchgeführte Verabschiedung des geschichtlich orientierten Tatbegriffs der h. M. die Folge hat, dass es im Verhältnis von Strafrecht und außerstrafrechtlichem bzw. verwaltungsrechtlichem Unrecht regelmäßig um unterschiedliche Taten gehen wird. Ein Problem doppelter Bestrafung ergibt sich deshalb in einer Vielzahl von Fällen schon von vornherein nicht. bb) (1) In den Fällen einer einheitlichen Tat, die häufiger oder seltener sein werden, je nachdem, welche Auffassung man zu den gerade beschriebenen Problemen vertritt, kommt es für die Frage, ob der ne bis in idem-Grundsatz einschlägig ist, noch darauf an, ob die erste Sanktionierung als schuldtilgende Strafe angesehen werden kann. M. a.W.: Entscheidend ist, in welchem Maße die einschlägige Sanktion unter den o. C. IV. 2. (S. 659) entwickelten Strafbegriff subsumierbar ist, also inwieweit angeborene Rechte direkt oder wenigstens indirekt entzogen werden.2695 Denn künstliche Strafen liegen offensichtlich nicht vor; vielmehr hat der Gesetzgeber durch die Aussonderung aus dem Kriminalstrafrecht zu erkennen gegeben, dass er die vorliegenden Maßnahmen nicht als Strafen einstuft. (2) Dem ist auch die h. M. sehr nahegekommen, wenn sie die von ihr vertretene Wesensverschiedenheit von Strafrecht und weiteren Sanktionssystemen damit begründet, dass ihre Sanktionen unterschiedliche Zwecke verfolgen:2696 Man sagt überwiegend, Strafen verfolgen den Zweck der Sühne, Disziplinar- und Ordnungsmaßnahmen seien dagegen eine „,Pflichtenmahnung‘, ein scharfer Anruf zur Pflichtenerfüllung“.2697 Dem schloss sich auch die Verfassungsrechtspre-

2695 Insofern erscheint die von Fletcher, Grammar, S. 229 f. gewonnene Einsicht, dass der Entzug eines Sonderrechts bzw. eines Privilegs begrifflich keine Strafe ist, als vollumfänglich wahr, aber nicht als die ganze Wahrheit. Sonderrechte und Privilegien sind nur eine Gruppe unter den erworbenen Rechten. 2696 Laband, Staatsrecht I, S. 485; Binding, BT 2/2 S. 400 f.; H. Mayer, Zuchtgewalt, S. 15, 18, 45; Stock, Amtsverbrechen, S. 270; Eb. Schmidt, Disziplinarrecht, S. 868, 871; Finger, ZBR 1964, S. 9; Faust, ZBR 1967, S. 80; s. a. Wiese, VerwArch 56 (1965), S. 370 f., der aber daraus folgert, dass der Sühnegedanke aus dem Disziplinarrecht zu verbannen sei (S. 371); aus der Rspr. PreußOVGE 61, 439 (442 f.); BVerfGE 21, 378 (384); 28, 264 (276). 2697 Eb. Schmidt, Disziplinarrecht, S. 868.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

chung an, der zufolge die berufs- und disziplinarrechtliche Sanktion „in erster Linie Zuchtmittel und – im Fall der Entlassung – eine Schutzmaßnahme“ darstelle.2698 Diese Argumentationsweise ist aber aus zwei bereits hervorgehobenen Gründen unbefriedigend. Erstens verkörpert sie eine Verwischung zwischen Strafbegriff und Legitimitätsbedingungen der Strafe, die aber nur dann zulässig ist, wenn nicht schon angeborene Rechte betroffen werden (s. o. C. V. [S. 661]). Im vorliegenden Zusammenhang ist dieser Fehler aber nicht so gravierend, weil die meisten außerstrafrechtlichen Maßnahmen, um die es hier geht, keine angeborenen Rechte berühren; es gibt jedoch Ausnahmen, wie wir bei der Diskussion über den Arrest sogleich sehen werden (s. u. S. 682). Zweitens bedeutet der Umstand, dass die Strafzwecke zum Anker der Argumentation gemacht werden, eine Verkennung, dass diese Zwecke sich nicht allein durch Strafen verfolgen lassen (s. o. C. V. [S. 661]). Das Besondere an der Strafe sind nicht die von ihr verfolgten Zwecke. Diese schiefe Argumentationsweise hat den an sich berechtigten Einwand herausgefordert, dass Strafe und ordnungs- bzw. berufs- und disziplinarrechtliche Sanktionen gleiche Zwecke, höchstens in unterschiedlicher Intensität, verfolgen würden.2699 So hat man hervorgehoben, dass weder das Disziplinarrecht sühnebzw. vergeltungsfrei sei,2700 noch spezialpräventive Erwägungen dem Strafrecht unbekannt seien.2701 Auf dieser Grundlage entstand auch eine differenzierende Auffassung, die meinte, für das Verhältnis von Strafrecht und Disziplinarrecht müsse ein Doppelbestrafungsverbot wenigstens in der Form gelten, dass nach einer Kriminalstrafe nur für „reinigende“ Disziplinarmaßnahmen Raum gegeben sei.2702 Dieser Einwand leidet an denselben Fehlern wie die herrschende Begründung.2703 Aus vorliegender Perspektive kann man die Möglichkeit einer solchen

2698

BVerfGE 21, 391 (404). Wittland, DJ 1936, S. 1604 ff.; Baumann, JZ 1964, S. 615; ders. JZ 1967, S. 658; Rupp, NJW 1967, S. 1651 f.; v. Weber, DVBl 1958, S. 298 f.; Kreuzer, NJW 1970, S. 507; Jakobs, AT § 3 Rn. 16 ff.; Lambrecht, Disziplinarrecht, S. 49 – und die in den zwei folgenden Fn. zitierten Stellungnahmen. 2700 Wittland, DJ 1936, S. 1606; Rupp, NJW 1967, S. 1651; Menger/Erichsen, VerwArch 59 (1968), S. 76; Lambrecht, Disziplinarrecht, S. 48 f. 2701 Wittland, DJ 1936, S. 1605 f.; Menger/Erichsen, VerwArch 59 (1968), S. 76 f.; Lambrecht, Disziplinarrecht, S. 47 f.; s. a. die feinsinnige Replik von Eb. Schmidt, Disziplinarrecht, S. 869 f., die von Lambrecht einfach wortlos übergangen wird. 2702 Lochbrunner, ZBR 1963, S. 286 f.; ders. DVerwBl 1965, S. 311; wohl auch Thieme, Öffentlicher Dienst, S. 80; Wiese, VerwArch 56 (1965), S. 369 f.; zumindest nahestehend ferner Baumann, JZ 1964, S. 616; ders. JZ 1967, S. 659; Rupp, NJW 1967, S. 1651. 2703 So am klarsten Wittland, DJ 1937, S. 240: „Da das Wesen einer Strafe durch ihren Zweck bestimmt wird, darf man mit Recht zwei Strafarten als wesensgleich bezeichnen, die denselben Zwecken dienen.“ Methodisch sauber indes Rudolphi/Stein, SK-StGB 133 Lfg. (2012), vor § 331 Rn. 8, mit einem abw. (viel zu weiten) Strafbegriff. 2699

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Übereinstimmung der Zwecke ohne Weiteres einräumen, ohne dass dies für die Frage des Vorliegens einer Strafe und damit der Anwendbarkeit des ne bis in idem-Grundsatzes von Relevanz sein müsste. Dennoch darf man sich für ein hinter diesem Einwand stehendes berechtigtes Anliegen nicht taub stellen. Dieses besteht darin, dass die außerstrafrechtliche Sanktionierung so schwerwiegend sein kann, dass sich die Frage stellt, welche Zwecke man mit der Verhängung einer Kriminalstrafe noch verfolgen möchte. In solchen Konstellationen erscheint es nicht völlig unvertretbar, die Strafe zu mildern oder sogar völlig auf sie zu verzichten.2704 Zwar wäre das aus der Perspektive der in der vorliegenden Arbeit vorausgesetzten Straftheorie nicht unbedenklich;2705 hier soll aber nur hervorgehoben werden, dass dies eine Überlegung wäre, die mit der Tilgung von Schuld wenig zu tun hat. Denn dieses Argument erkennt nicht dem Täter ein Recht zu, dass ihm keine Kriminalstrafe zugefügt wird, sondern behauptet unser fehlendes Interesse daran, ihn erneut zu sanktionieren. (3) Dagegen hat die h. A. an dem zweiten verbreitet gegen sie gerichteten Einwand keine Schuld: Man verweist darauf, dass beide Sanktionen die gleichen Wirkungen haben, so dass sich der Betroffene doppelt bestraft fühle, gleichgültig, wie man diese Sanktionen auch bezeichnen möchte.2706 In den vielzitierten Worten von Dürig: Es wird zweimal „in genau dieselbe Wunde“ geschlagen.2707 Auch dieser Umstand ist für die uns allein interessierende Tilgung strafrechtlicher Schuld streng genommen irrelevant. Denn nicht das Leiden des Täters, sondern der absichtliche Entzug angeborener Rechte als Reaktion auf sein Fehlverhalten tilgt seine Schuld. Dennoch kann man – ähnlich wie bei einer poena naturalis, s. o. III. 2. (S. 672 f.) – dieses Leiden aus Gründen der Billigkeit be2704 Bereits v. Bar, Geschichte, S. 353 f.; Binding, BT 2/2, S. 401; Laband, Staatsrecht I, S. 491. 2705 Siehe Greco, Lebendiges, S. 422 ff. – denn an sich delegiert der Gesetzgeber seine höchstpersönliche Aufgabe, Strafbares und Strafloses selbst zu bestimmen, an andere, was bei Zugrundelegung eines ernst gemeinten Gesetzlichkeitsprinzips nicht sein dürfte. 2706 Baumann, JZ 1964, S. 615: „[W]ie kann man Doppelreaktion mit Wesensverschiedenheit und Zweckverschiedenheit rechtfertigen wollen, wenn man dabei in einem großen Bereich zweckgleich und wesensgleich reagiert.“ Er beklagt sich über eine „Doppelvergeltung“ und einen „Verstoß gegen das Prinzip der materiellen Gerechtigkeit“ (S. 615). Lambrecht, Disziplinarrecht, S. 50 f.; ähnl. Menger/Erichsen, VerwArch 59 (1968), S. 77 (die auf die Wirkungen der Laufbahnstrafen für die Familie des Bestraften hinweist). 2707 Dürig, M/D-GG Art. 103 Abs 3 Rn. 302, zit. nach Lambrecht, Disziplinarrecht, S. 50, die dem zust. (Wegen der Unsitte, alte Auflagen von Loseblattkommentaren so zu behandeln wie aussortierte Blätter aus dem Schönfelder, konnte ich in keiner der von mir besuchten Bibliotheken das Original zur Hand nehmen. Die Passage ist in der Neubearbeitung von Schmidt-Aßmann nicht mehr zu lesen.)

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

rücksichtigen (zum Begriff s. o. Teil 1 Kap. 1 A. I. [S. 52]), was die konkrete Folge entweder einer mehr oder weniger großzügigen Anrechnung oder sogar eines Absehens von Strafe haben könnte.2708 c) Im Einzelnen heißt das: aa) Ein militärischer Arrest (§ 22 Nr. 5, § 26 WDO) stellt als Entzug des angeborenen Rechts der Fortbewegungsfreiheit bereits eine Strafe im ontologischen Sinn dar.2709 Wegen ein und desselben Fehlverhaltens ist deshalb eine zweite Bestrafung mangels vorhandener Schuld illegitim. Dem kommt das Bundesverfassungsgericht sehr nahe, wenn auch nicht im Ergebnis, sondern in seiner Begründung der Gebotenheit, die Verbüßung eines Arrests auf die spätere Freiheitsstrafe anzurechnen. Das Gericht stellt zunächst fest, dass Disziplinarrecht und Strafrecht wesensunterschieden seien. Insbesondere: „Die Kriminalstrafe trifft mit ihren beiden Hauptstrafen den Täter in seinem allgemeinen Staatsbürgerstatus, der Freiheit und dem Vermögen. Die disziplinare Strafe bezieht sich auf den besonderen Rechts- und Pflichtenstatus des Betroffenen.“ 2710 Danach argumentiert das Gericht, dass die disziplinarische Arreststrafe „auch Züge der Freiheitsstrafe des allgemeinen Strafrechts“ aufweise: „Von Bedeutung ist, daß der Soldat im Falle einer Bestrafung mit Arrest nicht nur in seinem dienstrechtlichen, sondern auch in seinem allgemeinen Status betroffen und daß ihm durch den Arrest die persönliche Freiheit entzogen wird.“ 2711 Wegen der Betroffenheit dieses Rechts könne der Arrest „nicht als ein bloß dienstinterner, disziplinarrechtlicher Vorgang gewertet werden“.2712 Bei der Bemessung der Kriminalstrafe sei der Arrest deshalb anzurechnen.2713 Von der verfassungsrichterlichen Dichotomie „allgemeiner Staatsbürgerstatus/ besonderer Rechts- und Pflichtenstatus“ ist es bis zu der hier vorgezogenen Dichotomie von „angeborenen/erworbenen Rechten“ kein langer Weg mehr. Der einzige Unterschied ist, dass das Verfassungsgericht zum allgemeinen Staatsbürgerstatus nicht nur, wie hier, die Freiheit, sondern auch das Vermögen rechnet. Dieser Unterschied ist indes nur ein wörtlicher. Denn bereits in der maßgeblichen, immer wieder zitierten Entscheidung ist davon die Rede, dass der Arrest eine „Sondererscheinung im Disziplinarrecht“ verkörpere.2714 Und in einer späteren Entscheidung, in der es um eine doppelte Sanktionierung mit kriminalstrafrechtlicher Geldstrafe und disziplinarrechtlicher Geldbuße ging, hielt man nicht 2708

Die o. in Fn. 2705 erwähnten Bedenken wären aber ebenfalls einschlägig. Im Erg. ebenso Menger/Erichsen, VerwArch 59 (1968), S. 78. 2710 BVerfGE 21, 378 (384). 2711 BVerfGE 21, 378 (385 f.). 2712 BVerfGE 21, 378 (386). 2713 BVerfGE 21, 378 (388). 2714 BVerfGE 21, 378 (386) – dies auch dann, wenn diese Wendung durch spezifisch rechtsgeschichtliche Gründe motiviert sein kann. 2709

3. Kap.: Die erste Strafe

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einmal eine Anrechnung für geboten,2715 was gerade keine Inkonsequenz darstellt,2716 sondern als eine intuitive Erfassung der hier für maßgeblich erklärten Sachgesichtspunkte angesehen werden kann. Nur ist das Gericht dadurch, dass es sich nicht dazu entscheiden konnte, aus der erkannten Übereinstimmung von Strafe und freiheitsentziehender Disziplinarmaßnahme die Folge des Verbots der kumulierenden Verhängung zu ziehen, auf halbem Wege stehen geblieben.2717 bb) Nach ähnlichen Grundsätzen lässt sich die Frage der schuldtilgenden Wirkung des Entzugs von Zulassungen, Lizenzen oder Genehmigungen oder der Kürzung und Streichung von Beihilfen und Zuwendungen lösen, wenn sie als Reaktion auf Fehlverhalten zugefügt werden.2718 Hier findet gerade keine Beeinträchtigung eines angeborenen Rechts statt. Zulassungen, Lizenzen und Beihilfen sind allesamt erworben.2719 Ebenso wird es sich beim Verlust eines Amtes, der Verhängung eines Berufsverbots oder der Gewerbeuntersagung verhalten.2720 Zwar gibt es ein angeborenes Recht darauf, sich beruflich zu betätigen, das positivrechtlich in Art. 12 GG/Art. 15 EuGRC seinen Niederschlag gefunden hat. Dieses Recht ist nichts anderes als eine Manifestation des angeborenen Rechts auf Freiheit. Es gibt aber kein angeborenes Recht darauf, einen bestimmten Beruf nach Belieben auszuüben. Vielmehr wird dieses Recht erst nach der Erfüllung der einschlägigen Qualifikationen erworben. cc) Entsprechendes gilt für die besonders harte Ausweisung eines Ausländers (§§ 53 ff. AufenthG). Das Recht auf Aufenthalt im Ausland ist ein erworbenes und kein angeborenes. Die Verbannung eines Inländers und erst recht die Ausbürgerung dürften dagegen wohl eine Strafe im ontologischen Sinne darstellen. Es ist nicht einfach, zu bestimmen, welches angeborene Recht betroffen wird. Man kann nicht darauf abstellen, dass man als Bürger eines bestimmten Staates geboren wird (gleichgültig ob die Regeln des ius sanguinis oder des ius solis gel-

2715 BVerfGE 27, 180 (190 ff.); diese Entscheidung wurde jedoch 4:4 zu getroffen. Dieselben Grundsätze wendet anschließend OLG Celle NJW 1971, 69 (68 f.) auf das Verhältnis von steuerrechtlichem Verspätungszuschlag gem. § 95 AO a. F. (heute: § 152 AO) und Geldstrafe an. And. OLG Hamm, NJW 1978, 1063, mit sehr verzwickter Argumentation; und auch der französische Conseil Constitutionnel, Dec. 96-378 v. 1996, Rn. 15, hierzu Guinchard/Buisson, Procédure pénale, S. 15. S. davor RGSt 58, 273. 2716 So aber Kreuzer, NJW 1970, S. 507 f.; Lambrecht, Disziplinarrecht, S. 42. 2717 Von einem Kompromiss sprechen zutreffend auch Rupp, NJW 1967, S. 1662; Menger/Erichsen, VerwArch 59 (1968), S. 77 f., die aber der Entscheidung im Erg. zust.; Kreuzer, NJW 1970, S. 507; Lambrecht, Disziplinarrecht, S. 37. 2718 Zu ihnen Satzger, Internationales und europäisches Strafrecht, § 8 Rn. 4; im Erg. auch Ransiek, NZWiSt 2012, S. 46. 2719 Ähnliche Argumentation in Cox, StLULJ 39 (1995), S. 1289 ff.: Der Entzug eines Privilegs sei keine Strafe. 2720 Ebenso EGMR Haarvig v. Norwegen, Beschw. Nr. 11187/05, v. 11.12.2007, The Law B (Entzug einer Arzt-Lizenz); EGMR Manasson v. Schweden, Beschw. Nr. 41265/ 98, v. 20.7.2004, The Law Rn. 5 (Untersagung, ein Taxiunternehmen zu führen).

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

ten). Denn ein solches Recht steht einem nicht kraft Menschseins zu. Die beste Formulierung ist deshalb, dass die Verbannung einem das Recht entzieht, unter den Seinen zu verbleiben,2721 und die Ausbürgerung das Recht, zu ihnen zu gehören.2722 In dieser Hinsicht unterscheidet sie sich von der Ausweisung eines Ausländers auch dann, wenn diese auf der Begehung einer Straftat beruht. Dem Ausländer wird nur das erworbene Aufenthaltsrecht entzogen, in einer Gesellschaft zu verbleiben, die nicht seine ist. dd) Erst recht keine schuldtilgenden Strafen sind andere Sanktionen wie der Verweis (§ 6 BDG; § 23 WDO) oder die wehrdisziplinarrechtliche Ausgangsbeschränkung (§ 25 WDO), disziplinarrechtliche Laufbahnstrafen wie die Zurückstufung (§ 9 BDO), das Beförderungsverbot oder die Dienstgradherabsetzung (§§ 60, 62 WDO).2723 Ebenso verhält es sich bei gegen das Vermögen gerichteten Disziplinarmaßnahmen (etwa Geldbußen, § 7 BDG; § 24 WDO; Kürzungen der Dienstbezüge, § 8 BDG; § 59 BDG; Aberkennung des Ruhegehalts, § 12 BDG; § 65 WDO), für die die Erwägungen, die o. II. 1. (S. 666 f.) bei der Behandlung von Geldbußen entwickelt worden sind, einschlägig sind. Diese Sanktionen dürfen sämtlich neben Strafen, sogar neben Geldstrafen verhängt werden, ohne dass der ne bis in idem-Grundsatz dem entgegensteht. d) Zuletzt sind vier Bemerkungen angebracht. aa) Das hier vorgeschlagene Kriterium der angeborenen Rechte bewährt sich gerade in solchen Fällen, bei denen eine nach der Schwere geleitete Bestimmung des Strafbegriffs an sich genötigt ist, von einer Strafe auszugehen. Dies hätte die fragwürdige Konsequenz, dass viele der soeben besprochenen Rechtsfolgen nur unter dem Vorliegen aller für Strafen geltenden materiellrechtlichen und prozessualen Legitimitätsbedingungen verhängt werden dürften.2724 Dass etwa eine Gewerbeuntersagung, die Ausweisung oder die Aberkennung eines Ruhegehalts einen Menschen härter und fühlbarer treffen können als eine Geldstrafe, lässt sich nicht bestreiten.

2721 Auch zu den Zeiten, wo die Verbannung ohne Urteil als prozessuale Antwort auf die Abwesenheit des Beschuldigten verhängt wurde, dachte man, dass mit dieser Maßnahme die Tat, deren Begehung der Beschuldigte durch seine Weigerung, sich der Justiz zu stellen, implizit gestehe, bestraft werden sollte (s. Esmein, Histoire, S. 63, mit Nachw. zu diesem frühen französischen Kontumazialverfahren). 2722 Von einer Strafe sprach im Erg. auch der amerikanische Supreme Court, wenn auch unter Anwendung eines ganzheitlichen Tests (s. o. 649x), U.S. Supreme Court, Kennedy v. Mendoza-Martinez, 372 U.S. 144, 165 ff. (1963). 2723 BVerfGE 21, 391. 2724 Dafür wohl Frister, StV 1987, S. 522 (wenn auch nur de lege ferenda), der nicht einmal auf die Schwere, sondern allein auf die Übelzufügung abstellt und deshalb einen bloß quantitiven Unterschied zwischen Strafe und Disziplinarmaßregel (und Geldbuße) postulieren kann.

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bb) Die hier gewonnenen Ergebnisse, die für das deutsche Recht regelmäßig eine zweite Verfolgung und Bestrafung für nicht gegeben erklären, werden auch von der in Deutschland herrschenden Meinung geteilt. Diese beruft sich aber in erster Linie auf ein in Art. 103 Abs. 3 GG vorgesehenes Merkmal, das nur mehrfache Bestrafungen „aufgrund der Vorschriften der allgemeinen Strafgesetze“ untersagt.2725 Allgemeine Strafgesetze sollen nach der Entstehungsgeschichte der Vorschrift, worauf sich auch das Bundesverfassungsgericht in seinen einschlägigen Leitentscheidungen berufen hat,2726 den Gegenbegriff zu „dem Dienststrafrecht, dem Ordnungsstrafrecht und dem Polizeistrafrecht“ bilden.2727 Wie o. Kap. 1 E. III. (S. 378) bereits angemerkt, haben wir dieses Merkmal im Rahmen unserer vorpositiv orientierten Betrachtung beiseitegelassen; hier wurden als Tatbestandsvoraussetzungen der materiellen Rechtskraft, die die Rechtsfolge der Sperrwirkung auslösen, allein die Tat und eine Strafe oder ein Strafverfahren angesehen. Die hier entwickelten Überlegungen liefern somit den notwendigen materiellen Rückhalt, auf den die Auslegung dieser unklaren Wendung des Verfassungstexts eigentlich angewiesen ist. Sie kommen zwar nicht immer, aber weitgehend zu demselben Ergebnis, das auf Grundlage der herrschenden Auslegung des Merkmals der allgemeinen Strafgesetze gewonnen wird. Sie können der heiklen methodischen Vorfrage nach dem Stellenwert des Willens des Verfassungsgebers ausweichen2728 und legen dar, weshalb dieser Wille nicht eine nackte Tatsache der Autorität verkörpert. Es bleibt dabei, dass die herrschende Auslegung vom Wortlaut her nicht geboten ist, da weder der Begriff der „Strafgesetze“ noch das Prädikat, dass es um „allgemeine“ Strafgesetze gehen muss, einen eindeutigen Gehalt aufweisen.2729 Unsere Erwägungen können somit bereits de lege lata als rationale Rekonstruktion der hinter diesem dunklen Merkmal stehenden Sacherwägungen verstanden werden.2730

2725 BVerfGE 21, 378 (383); 21, 391 (400 f.); 27, 180 (185); 28, 264 (276); 66, 337 (357); KG StV 1987, 519; Meyer-Hentschel, ZBR 1963, S. 281; Schulze-Fielitz, in: Dreier-GG, Art 103 Abs. 3 Rn. 22; Kunig, in: v. Münch/Kunig-GG, Art. 103 Rn. 41 f.; Frister, StV 1987, S. 520; Fahl, SpuRt 2001, S. 182 f.; Reschke, SpuRt 2001, S. 184. 2726 BVerfGE 21, 378 (383); 21, 391 (401); 27, 180 (185); 66, 337 (357); OLG Celle NJW 1971, S. 67. 2727 Vgl. JöR 1951, S. 744; s. a. Schmidt-Aßmann, M/D-GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 287. 2728 Abl. etwa Lambrecht, Disziplinarrecht, S. 31 ff.; allgemein krit. auch Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 56. 2729 Richtig Fliedner, AöR 99 (1974), S. 248 ff.; anders Frister, StV 1987, S. 520. Wiese, VerwArch 56 (1965), S. 208) möchte das Prädikat „allgemein“ sogar als Tautologie weglassen. 2730 Denn ohne diese Begründung erschiene es nicht einmal unvertretbar, Doppelbestrafungen nicht per se für unzulässig zu halten, sondern nur Doppelbestrafungen aufgrund allgemeiner Strafgesetze (so in der Tat Rudolphi/Stein, SK-StGB 133. Lfg. (2012), vor § 331 Rn. 9). Wenn Strafe aber Schuld tilgt (s. o. B. [S. 636 ff.]), dann ist eine Doppelbestrafung immer Bestrafung ohne Schuld.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

cc) Deshalb ist es nicht überraschend, wenn die verfassungsrechtliche Abhandlung von Fliedner, die wohl gründlichste Arbeit zum Thema, in der Sache dem hier vertretenen Standpunkt sehr nahe kommt. Es lohnt sich deshalb, den vorliegenden Standpunkt mit seinem kurz zu vergleichen. Fliedner setzt positivrechtlich beim Begriff der „allgemeinen Strafgesetze“ an und schlägt als Hauptkriterium für die Prüfung, ob eine mehrfache Bestrafung vorliegt, die Qualität des Unrechts vor: Er unterscheidet den „Schutz der Regeln, die der Aufrechterhaltung der Ordnung in der Gesamtgemeinschaft dienen“ einerseits, und den Schutz der „Ordnung innerhalb spezieller Lebensverhältnisse“ andererseits.2731 Hier wird dagegen vorgeschlagen, bereits beim Tatbegriff anzusetzen, und die o. Kap. 2 D. VII. (S. 528 ff.) angebotenen insbesondere normativen Identitätskriterien führen zu vielen weiteren Abschichtungen als diese aus vorliegender Perspektive zu undifferenzierte Dichotomie. Die für Fliedners Reflexionen leitende Befürchtung, keine „Dispositionsbefugnis des einfachen Gesetzgebers über den Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 3 GG“ entstehen zu lassen,2732 wird vom vorliegenden Standpunkt auch dadurch berücksichtigt, dass man in erster Linie auf vorpositive Grundlagen baut. Auf der anderen Seite führt das von Fliedner vorgeschlagene Kriterium auch dazu, jede Sanktionierung automatisch als Strafe anzusehen, solange sie auf ein Unrecht reagiert, das die Ordnung in der Gesamtgemeinschaft und nicht in einem spezielleren Kreis angreift. Deshalb meint Fliedner, dass eine eventuelle Herabstufung von § 248b StGB zu einem Ordnungsstraftatbestand nicht eine erneute Bestrafung zulässig machen sollte.2733 Nach vorliegendem Standpunkt ist das aber doch der Fall; denn aus den o. C. IV. 2. (S. 656 ff.) dargelegten Gründen macht es einen großen Unterschied, ob die zu verhängende Sanktion sich in eine Freiheitsstrafe verwandeln lässt oder nicht. dd) Zuletzt noch ein Wort zu den im positiven Recht vorhandenen Regelungen. Die vorliegenden Überlegungen bemühten sich allein um die Bestimmung der Grenzen, innerhalb deren eine Bestrafung trotz bereits zugefügter außerstrafrechtlicher bzw. verwaltungsrechtlicher Sanktionierung nach strengem Recht noch zulässig ist. Es ist bereits angemerkt worden, dass das positive Recht nicht den Rahmen des strengen Rechts ausschöpfen muss, und dass es vor allem aus Rücksichten der Billigkeiten davon absehen kann, wegen einer bereits erfolgten Ahndung eine Strafe zu verhängen, obwohl diese angesichts der noch nicht getilgten Schuld das Schuldprinzip nicht verletzen würde. Mit den uneinheitlichen und unübersichtlichen Regelungen einzelner Gesetze2734 werden wir uns in der vorliegenden Untersuchung also nicht beschäftigen. 2731 2732 2733 2734

Wiese, VerwArch 56 (1965), S. 209; Fliedner, AöR 99 (1974), S. 277. Fliedner, AöR 99 (1974), S. 259. Fliedner, AöR 99 (1974), S. 257 f., 275. Wiese, VerwArch 56 (1965), S. 217, 357.

3. Kap.: Die erste Strafe

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2. Verfall, Einziehung Die Rechtsprechung ordnet den Verfall (§§ 73 ff. StGB) überwiegend als Nicht-Strafe ein.2735 Die Begründungen, die man für diese an sich zutreffende Ansicht anbietet, lassen sich aus unserer Perspektive als Versuche deuten, den Willen des Gesetzgebers zu ergründen, was deshalb zulässig ist, weil man es hier nicht mit einer Maßnahme zu tun hat, die angeborene Rechte direkt oder indirekt betrifft. So meint man erstens, der Verfall sei präventiv-ordnend und nicht repressiv-vergeltend ausgerichtet,2736 was aber kein optimales Argument ist, weil Prävention kein Charakteristikum der Strafe ist, sondern einen Zweck darstellt, der auch von weiteren Maßnahmen verfolgt werden kann (s. o. C. V. [S. 661]). Eben diesen Fehler verkörpern die Gegenansichten, die aus der positivgeneralpräventiven Zwecksetzung des Verfalls seinen Strafcharakter herleiten möchten.2737 Man macht auch geltend, dass der Verfall keine Strafe sein könne, weil er keine Schuld voraussetze, was in der Tat ein wichtiges Indiz dafür liefert, dass der Gesetzgeber hier nicht von einer Strafe ausgehen wollte.2738 Verbreitet ist auch der Hinweis auf die Kondiktionsähnlichkeit2739 bzw. darauf, dass der Verfall eine rechtswidrige Vermögensverschiebung ausgleichen soll,2740 der nicht nur ein weiteres Indiz in diesem Sinne begründet, sondern auch in einer anderen Hinsicht aufschlussreich ist.2741 Denn im Wege einer Kondiktion verliert man Erlangtes, Erlangtes ist aber per definitionem nicht Angeborenes. Hier zeigt sich also der entscheidende Gesichtspunkt: Der Verfall betrifft keine angeborenen Rechte, weder unmittelbar noch, weil er sich nicht in eine Ersatzfreiheitsstrafe verwandeln lässt,2742 mittelbar. Künstliche Strafe ist er auch nicht, weil der Gesetzgeber ihn aus den genannten Gründen gerade nicht zur Strafe machen wollte. Er ist deshalb keine Strafe, kann keine Schuld tilgen; er kann neben 2735 BVerfGE 110, 1 (14 ff.); BGHSt 47, 260 (265); 47, 369 (373 f.); 51, 65 (67); 57, 79 (83); BGH NJW 1995, 2235 (2235 f.); NStZ 2001, 312; ebenso Güntert, Gewinnabschöpfung, S. 17 („Rechtsfolge eigener Art“); so auch die Motive zur Gesetzgebung, BT-Drs. 11/6623, S. 5 (ohne Begründung), 2736 So insb. BVerfGE 110, 1 (17 f., 22); BGHSt 47, 369 (373 ff.); Hackner, NStZ 2011, S. 430. Ein ähnliches Argument benutzte der amerikanische Supreme Court bei der Einziehung (= forfeiture), United States v. Ursery, 517 U.S. 267, 278 f., 291 (1996): sie sei „remedial“; zust. Thomas III, Double Jeopardy, S. 12; abl. S. Klein, IoLR 82 (1996), S. 196 ff., 208 ff. 2737 Weßlau, StV 1991, S. 231 f.; Hoyer, GA 1993, S. 421; im Erg. richtig BVerfGE 110, 1 (19 f.). 2738 Repräsentativ BGSt 47, 369 (375): „Weil der Verfall keine schuldbezogene individuelle Vorwerfbarkeit voraussetzt, kann und soll er nicht dem (individuellen) Schuldausgleich dienen“. 2739 BVerfGE 110, 1 (16). 2740 BGHSt 57, 79 (83). 2741 Abl. aber Eser, in: Sch/Sch-StGB vor §§ 73 ff. Rn. 19 („Zirkelschluss“). 2742 Etwa Lackner/Kühl, StGB § 43 Rn. 1; Joecks, MK-StGB § 73a Rn. 19.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Freiheits- und Geldstrafe verhängt und muss nicht einmal im Wege einer Anrechnung berücksichtigt werden.2743 Die besonderen Härten, zu denen das für den Verfall (und den Verfall des Wertersatzes, § 73a StGB) geltende Bruttoprinzip führen kann,2744 sind nicht unproblematisch, stellen aber keine Frage der Rechtfertigung einer Strafe dar.2745 Wer dies anders sieht, muss auch hohe Geldbußen zu Strafen erklären. Bei der Einziehung verhält es sich ähnlich. Im ontologischen oder übertragenen Sinne bildet sie keine Strafe. Für einige Formen der Einziehung (insb. für die Einziehung gem. § 74 Abs. 2 Nr. 1 StGB) wird zwar behauptet, der Gesetzgeber habe sie zur Strafe gemacht.2746 Der EGMR in einigen Entscheidungen von einer Strafe ausgegangen,2747 der amerikanische Supreme Court erklärte sie zuerst für zumindest strafähnlich,2748 aber doch zu keiner Strafe.2749 Auf eine bis in diese 2743 BGH NJW 1995, 2235; NStZ 2001, 312; OLG Celle wistra 2008, 399; Peglau, wistra 2009, S. 125. Bzgl. der Einziehung fordert BGH NStZ-RR 2012, 169; StV 2013, 565 vorsichtig eine „Berücksichtigung“, die keineswegs einer Anrechnung gleichkommt. 2744 Gutes Beispiel: BGHSt 51, 65: Der Angeklagte hatte aus Drogengeschäften in Kommission 161.000 A erlangt, davon nur 12.500 A für sich als Gewinnanteil behalten. Ob die Regelung des § 73c Abs. 1 StGB, die die Anordnung des Verfalls ausschließt, wenn sie eine „unbillige Härte“ verkörpern würde, die Probleme löst, lässt sich anzweifeln, wenn man bedenkt, dass in dem genannten Fall der Verfall der 161.000 A nicht als unbillige Härte angesehen worden ist (S. 69). Vielleicht lässt sich dieses Ergebnis aber aus Umständen, die mit dem konkreten Einzelfall zu tun haben, rechtfertigen (insb. S. 70 f.). 2745 Im Erg. BVerfGE 110, 1 (20 ff.); BGHSt 47, 260 (265); 47, 369 (373); BGH NJW 1995, 2235 f.; Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht AT, Rn. 436; and. eine verbreitete Auffassung, nach der die Umstellung auf das Bruttoprinzip den Verfall zur Strafe bzw. strafähnlichen Maßnahme gemacht habe, Weßlau, StV 1991, S. 231 f.; Eser, FS Stree/ Wessels, S. 844; ders. in: Sch/Sch-StGB vor §§ 73 ff. Rn. 19; Hoyer, GA 1993, S. 421; Dannecker, NStZ 2006, S. 683 f.; Saliger, NK-StGB Vorbem §§ 73 ff. Rn. 5; diff. Hellmann GA 1997, S. 521 f.; vorsichtig Perron, JZ 1993, S. 919 und Theile, ZJS 2001, S. 333. 2746 So etwa Wittig, Wirtschaftsstrafrecht § 11 Rn. 1 f.; zum Ganzen umf. Saliger, NK-StGB Vorbem §§ 73 ff. Rn. 33 ff., m.w. N. 2747 EGMR Phillips v. Vereinigtes Königreich, Beschw. Nr. 41087/98, Rn. 32; Sud Fondi SRL u. a. v. Italien, Beschw. Nr. 75909/01, v. 20.4.2009, Rn. 117 f. 2748 U.S. Supreme Court, Boyd v. United States, 116 U. S. 616, 634 (1886): Einziehung als „of quasi-criminal nature“; United States v. U.S. Coin & Currency, 401 U.S. 715, 718 (1971); One 1958 Plymouth Sedan v. Pennsylvania, 380 U.S. 693, 700 (1965): „quasi-criminal in character“; Austin v. United States, 509 U. S. 602, 619 ff. (1993). Bei den zwei ersten Entscheidungen ging es um die Freiheit von Selbstbelastung (5. Amendment), bei der dritten Entscheidung ging es um das 4. Amendment, das Schutz gegen Durchsuchungen und Beschlagnahmen gewährt und woraus die exclusionary rule abgeleitet wird, bei der Letzten um das 8. Amendment („Excessive bail shall not be required, nor excessive fines imposed, nor cruel and unusual punishments inflicted.“); in all diesen Vorschriften gilt ein umfassenderer Strafbegriff als der der double jeopardy-Klausel des 5. Amendments. Dafür, dass eine Einziehung sogar eine Strafe i. S. des double jeopardy verkörpern kann, Cox, StLULJ 39 (1995), S. 1267 ff., 1292 ff.; S. Klein, IoLR 82 (1996), S. 208 ff., 235 ff.

3. Kap.: Die erste Strafe

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Einzelheiten gehende Klärung dieser verwickelten Fragen muss hier aber verzichtet werden. 3. Schuldspruch und sonstige die Ehre betreffenden Sanktionen Es fragt sich zuletzt, wie es mit dem Schuldspruch steht. Ohne Zweifel ist er eine Legitimationsgrundlage und auch eine Rechtsgrundlage für die Verhängung einer Strafe. Darüber hinaus könnte es sein, dass dem Schuldspruch eigenständige Bedeutung zukäme.2750 Der Hauptgedanke wäre hier, dass „in der Bejahung der Schuldfrage eine große Härte gegen den Angeklagten (liegt): denn die Verkündung des Strafurteils kündet ihn urbi et orbi als Verbrecher“.2751 Einige gehen so weit, den Schuldspruch zur eigentlichen Strafe zu erklären: Das Urteil sei „nicht nur die Feststellung staatlicher Strafbefugnis, sondern eben mittels des Schuldspruchs selber schon Bestrafung“.2752 Der positivrechtliche Prototyp ist das Institut des Absehens von Strafe, das nicht nur bei der o. III. 2. (S. 672 f.) bereits angesprochenen Konstellation einer poena naturalis vorgesehen wird, sondern bei einer Vielzahl weiterer Fälle geringer Strafwürdigkeit oder -bedürftigkeit.2753 In solchen Fällen sieht bereits das positive Recht einen Schuldspruch ohne Strafausspruch vor.2754 Dass der Schuldspruch das kommunikationsbezogene Merkmal des Strafbegriffs verwirklicht, steht außer jedem Zweifel. Schuldsprüche verkörpern eine

2749 U.S. Supreme Court, United States v. Ursery, 517 U.S. 267, 278 ff. (1996), das die double jeopardy-Klausel zum Gegenstand hatte. 2750 Binding, Strafurteil, S. 310; Kohler, GA 1918, S. 317; Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 267; H. Mayer, GS 99, (1930), S. 110 ff.; ders. GS 99 (1930), S. 304; ders. GS 104 (1934), S. 341; ders. JW 1934, S. 297; Waiblinger, FS Pfenninger, S. 162, 167; Peters, ZStW 68 (1956), S. 377; Arndt, FS Schmid, S. 19; Wagner, GA 1972, S. 37 f.; Laubenthal, GA 1989, S. 24; Schild, ZStW 94 (1982), S. 42 f.; Ziemann, Rehabilitationsgedanken, S. 668 f.; wohl auch Dencker, Verwertungsverbote, S. 213; w. Nachw. bei Stuckenberg, Double Jeopardy, S. 21; aus der Rspr. BVerfGE 96, 231 (249). Aus nationalsozialistischer Sicht Dahm, Freisprechendes Urteil, S. 4, 20; H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 18. 2751 Binding, Strafurteil, S. 310. 2752 G. Schmidt, JZ 1966, S. 92 (Zitat); ebenso Arndt, FS Schmid, S. 16 ff.; s. a. Kühl, Unschuldsvermutung, S. 16, für den sich die Strafe in dieser Missbilligung sogar erschöpft; ebenso Günther, FS Lüderssen, S. 217 ff., 219, für den es einer Übelzufügung nicht einmal bedürfe; nahestehend Waiblinger, FS Pfenninger, S. 167; ebenso U.S. Supreme Court, Ball v. United States, 470 U.S. 856, 865 (1985); abl. Wagner, GA 1972, S. 36 f. 2753 Etwa im Allgemeinen Teil § 23 Abs. 3, § 46a, § 46b Abs. 1 S. 4 StGB; bei Staatsschutzdelikten § 83a Abs. 1, § 84 Abs. 4–5, § 86 Abs. 4, § 87 Abs. 3, § 89a Abs. 7, § 89b Abs. 5, § 91 Abs. 3, § 98 Abs. 2 StGB; bei Sexualstraftaten § 174 Abs. 4, § 182 Abs. 6 StGB; und ansonsten § 113 Abs. 4 S. 2, § 129 Abs. 5, 6, § 142 Abs. 4, § 157, § 158 Abs. 1, § 218a Abs. 4 S. 2, § 236 Abs. 5, § 266a Abs. 6, § 306e Abs. 1, § 314a Abs. 2, § 320 Abs. 2, § 330b Abs. 1 StGB. 2754 v. Weber, MDR 1956, S. 707.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Reaktion auf Fehlverhalten. Nicht so klar ist dagegen, ob er den Entzug eines angeborenen Rechts verkörpert. Denkbar wäre es, den Schuldspruch auf die Ehre zu beziehen. Man könnte sagen, dass die Ehre, oder modern gesagt: das allgemeine Persönlichkeitsrecht, ein angeborenes Recht sei, das vom Schuldspruch entzogen wird. Eine Komponente dieses Rechts könnte es sein, dass man als unbescholtener Bürger unter anderen Bürgern leben darf. Diese Argumentation überzeugt indessen nicht. Erste Zweifel entstehen bereits, wenn man den Sinn eines nicht rein kommunikativen Strafbegriffs wie des hier entwickelten bedenkt. Der obige Strafbegriff, der sowohl eine faktische als auch eine kommunikative Dimension aufweist, sollte den Blick dafür schärfen, dass der faktische Rechtsentzug, der eine bestimmte kommunikative Bedeutung hat, eine besondere Qualität aufweist (s. o. C. IV. 2. [S. 653 ff., 656 ff.]). Akzeptiert man, dass auch der Entzug der Ehre bzw. des Persönlichkeitsrechts für die faktische Dimension genügt, dann hat man eine Vergeistigung dieser faktischen Dimension vorgenommen. Denn die Beeinträchtigung der Ehre bzw. des Persönlichkeitsrechts ist hier nichts anderes als dasjenige, was schon den Inhalt des kommunikativen Elements im Strafbegriff ausmacht. Nur aus der Perspektive eines rein kommunikativen Strafbegriffs ist es konsequent, bereits im Schuldspruch eine Strafe zu erblicken. Die o. C. III. (S. 646 f.) gegen einen solchen Begriff gerichteten Einwände wären also einschlägig: Auf seiner Grundlage müsste man die Rede von Bush, in der Osama Bin Laden die Schuld für die Anschläge gegen die Zwillingstürme zugewiesen wurde, und den Bericht einer Wahrheitskommission als Strafen ansehen; es müsste möglich sein, Tote zu strafen. Der vorliegende, insofern „dualistische“ Strafbegriff muss dagegen darauf bestehen, dass Kommunikation, die sich nicht auch körperlich spürbar macht, noch keine Strafe sein kann. Zweitens und eigentlich entscheidend ist die Überlegung, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht höchst heterogene Gebilde erfasst,2755 die evidentermaßen nicht sämtlich angeboren sind. Es dürfte näher liegen, anzunehmen, dass ein Schuldspruch das allgemeine Persönlichkeitsrecht in einer konkreteren Dimension trifft, die man als Unbescholtenheit bezeichnen könnte und die als Eigenschaft zu definieren wäre, keine Straftaten begangen zu haben.2756 Es dürfte klar sein, dass eine solche Unbescholtenheit nur demjenigen zukommen kann, der 2755 Für eine Übersicht statt aller Dreier, in: Dreier-GG, Art. 2 Abs. 1 Rn. 70 ff.; Murswiek, in: Sachs-GG Art. 2 Rn. 68 ff. 2756 Sehr ähnl. bereits Bauer, Naturrecht, § 87, der zwei Dimensionen der Unbescholtenheit kennt, rechtliche und moralische (ebda.), und sie zutreffend als Komponenten der von ihm sog. „relativen Ehren, des guten Namens“, die als „das Resultat der freien Urtheile Anderer über den Werth eines Menschen“ unter die erworbenen Rechte eingeordnet werden, von der sog. „absoluten Ehre, die dem Menschen als solchem, ohne weitere Voraussetzungen zukommt (ursprüngliche Ehre, Ehre im engeren Sinn)“, scharfsinnig abgrenzt (§ 86).

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überhaupt die Fähigkeit hat, Straftaten zu begehen – was schon aus rechtlichen Gründen erst ab einem bestimmten Alter möglich ist (§ 19 StGB) –, und dies nicht tut. Unbescholtenheit wird deshalb durch die Nicht-Begehung von Straftaten erworben. Ihr Entzug begründet also keine Strafe. Davon ist die angeborene Ehre zu unterscheiden, die einem bereits als Mensch zukommt und deren Gehalt darin besteht, dass man von den anderen als ein gleicher Mensch geachtet wird. Diese angeborene Ehre wird nicht bereits durch den Schuldspruch beeinträchtigt,2757 sondern etwa durch die herkömmlichen Ehrenstrafen, die einen Menschen für immer mit einem diesen Status negierenden Stigma versahen. Diese waren durchaus Strafen; ihr Unterschied zum Schuldspruch ist aber augenfällig. 4. Maßregeln der Besserung und Sicherung Es wäre viel zu einfach, könnte man behaupten, dass es bei den Maßregeln der Besserung und Sicherung niemals um Strafen gehe und deshalb eine Schuldtilgung nicht in Betracht komme. Dass die Dinge auch hier etwas komplizierter liegen, belegt die neuere Entwicklung im Recht der (nachträglichen) Sicherungsverwahrung.2758 Das Bundesverfassungsgericht hatte zwar in einer früheren Entscheidung Strafe und Maßregel nicht wegen ihrer unterschiedlichen Begriffe, sondern wegen ihrer unterschiedlichen Zwecke voneinander abgegrenzt,2759 und damit Begriff und Legitimationsvoraussetzungen der Strafe miteinander verquickt.2760 Der EGMR hielt ihm vor, die Sicherungsverwahrung sei doch eine Strafe (i. S. v. Art. 7 Abs. 1 EMRK).2761 Deshalb musste das Verfassungsgericht in der jüngsten Entscheidung ein sog. Abstandsgebot betonen,2762 das sich aus der vorliegenden Perspektive unproblematisch rekonstruieren lässt: Es ist eine Rückbesinnung auf diese aus den o. C. III. (S. 643 f.) genannten Gründen gebotene Differenzierung von Begriff und Legitimationsvoraussetzung, die dazu führt, dass sich Strafe und Maßregel voneinander schon auf der begrifflichen Ebene unterscheiden müssen. Eine Maßregel ist etwas anderes als eine Strafe und nicht bloß eine Strafe, die spezialpräventive Zwecke verfolgt und von der Beachtung 2757 Ebenso Wagner, GA 1972, S. 36 f., der sich deshalb gegen die Einordnung als Strafe ausspricht. 2758 Hierzu instruktiv Höffler/Kaspar, ZStW 124 (2012), S. 87 ff.; Renzikowski, NJW 2013, S. 1638 ff. 2759 „Die Sicherungsverwahrung dient im Gegensatz zur Strafe nicht dem Zweck, begangenes Unrecht zu sühnen, sondern dazu, die Allgemeinheit vor dem Täter zu schützen“ (BVerfGE 109, 133 [174]). 2760 Noch schlechter verfuhr der amerikanische Supreme Court, Kansas v. Hendricks, U.S. 346 (1997), in der sogar das historische Argument, dass die Verwahrung traditionell als legitime Nicht-Strafe angesehen wird, im Vordergrund steht (S. 347, 363). 2761 M. v. Deutschland, Beschw. Nr. 19359/04, v. 17.12.2009, Rn. 122 ff. 2762 BVerfGE 128, 326 (374 ff.). Der Gedanke taucht schon in der ersten Entscheidung auf (BVerfGE 109, 133 [167]), spielt dort aber eine untergeordnete Rolle.

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des Schuldprinzips freigestellt ist. Eine solche wäre nicht eine Nicht-Strafe, sondern eine illegitime Strafe. Eine Sanktion, die angeborene Rechte entzieht, muss besonders darauf achten, nicht den objektiven Sinn einer Reaktion auf Fehlverhalten aufzuweisen. Lässt sich die Sicherungsverwahrung aus der Perspektive eines objektiven Betrachters kaum von einer Strafe unterscheiden, dann geht es in Wahrheit um eine Strafe im ontologischen Sinn. Das ist der tiefere Sinn des Abstandsgebots. Etwas, das denselben Bezugspunkt hat wie eine Strafe, nämlich ein angeborenes Recht, muss sich deshalb äußerlich deutlich genug von der Strafe unterscheiden können, um nicht zur Reaktion und somit selbst zur Strafe zu werden. In Fällen, in denen das passiert, wird trotz aller offensichtlichen Legitimationsprobleme Schuld getilgt. Eine das Abstandsgebot einhaltende Sicherungsverwahrung ist also keine Strafe; eine Sicherungsverwahrung aber, die dies nicht tut, ist durchaus eine Strafe.2763 Ebenso verhält es sich mit anderen sog. freiheitsentziehenden Maßregeln, die das angeborene Recht der Fortbewegungsfreiheit betreffen (§§ 63 ff. StGB). Die bloße Tatsache, dass sie spezialpräventiv ausgerichtet sind, schließt die Qualifizierung als Strafen noch lange nicht aus.2764 Denn Spezialprävention betrifft, wie auch die anderen sog. Straftheorien, die Rechtfertigung und nicht den Begriff der Strafe. Entscheidend ist vielmehr, dass diese Maßregeln so verhängt werden, dass nicht der objektive Eindruck entsteht, als würden sie eine Reaktion auf Fehlverhalten verkörpern. Nicht freiheitsentziehende Maßregeln dagegen können ihrerseits auch angeborene Rechte betreffen. Das ist beim Entzug einer Fahrerlaubnis (§ 69 StGB)2765 und bei einem Berufsverbot (§ 70 StGB) zwar nicht der Fall. Bei der Führungsaufsicht (§ 68 ff. StGB) liegen indes die Dinge nicht so klar.2766 Insbesondere stellt sich Frage, ob es keine Doppelbestrafung darstellt, wenn jemand nach voller Abbüßung einer Freiheitsstrafe unter Führungsaufsicht gestellt wird (§ 68f StGB).2767 Denkbar erscheint hier die Annahme, dass sich diese Maßregel gegen ein angeborenes Recht auf freie Lebensführung richtet. Wahrscheinlich wird die letzte Lösung dieser Frage eine tiefere Auseinandersetzung mit den Legitimitäts-

2763 Nur aber auch immerhin die halbe Wahrheit bei denjenigen, die meinen, die Sicherungsverwahrung sei eine Strafe, wie H. Mayer, AT, S. 185; Weichert, StV 1989, S. 271, und die deshalb in ihrer Anordnung neben einer Freiheitsstrafe eine unzulässige Doppelbestrafung erblicken (Weichert, StV 1989, S. 271; wohl auch Kinzig, NStZ 2004, S. 660 und Juchs, Ne bis in idem, S. 154 f.). 2764 So aber BVerfGE 91, 1 (27 ff.). 2765 Ebenso EGMR Nilsson v. Schweden, Beschw. Nr. 73661/01, v. 13.12.2005, The Law B. 2766 Keine Strafe, BVerfGE 55, 28 (30); Ostendorf, NK-StGB Vorbem. §§68–68g Rn. 1. 2767 In diesem Sinne Ostendorf, NK-StGB Vorbem. §§–68g Rn. 15; nahestehend Grünwald, ZStW 76 (1964), S. 664.

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grenzen und der Ausgestaltung der Führungsaufsicht voraussetzen. Eine Führungsaufsicht wird sich nur legitimieren lassen, falls sie allein rechtswidrige Handlungen und Handlungen, die ihnen unmittelbar vorgelagert sind, wie etwa das Sichbetrinken, zum Gegenstand hat. Zur Vornahme solcher Handlungen besteht in der Tat kein angeborenes Recht. Falls die Aufsichtsperson sich in die weitere Lebensführung des Betroffenen einmischt, dann kann in der Tat ein angeborenes Recht betroffen werden, so dass eine Strafe zu bejahen wäre; gleichzeitig wären wohl die Grenzen einer legitimierbaren Führungsaufsicht überschritten. Somit kann man im Ergebnis festhalten, dass die Verhängung einer Maßregel die Rechtsfolge des ne bis in idem-Grundsatzes gar nicht auslöst.2768 Nur ist nicht alles, was Maßregel heißt, in der Tat auch eine; es gibt Maßregeln, die verkappte Strafen (im ontologischen Sinne) sind, und die Verhängung einer solchen muss eventuell vorhandene Schuld tilgen sowie bei nicht vorhandener Schuld eine erneute Verfolgung erst recht unzulässig machen. 5. Schuldspruchunabhängige Auflagen a) Zuletzt fragt sich, ob Auflagen nach dem Vorbild derjenigen, die im deutschen Recht gem. § 153a StPO verhängt werden können, und die auch in anderen Rechtsordnungen vorhanden sind (etwa Frankreich: amendes forfaitares, Art. 529 ff. franzStPO;2769 Belgien: transaction, Art. 216bis beglStPO2770; Schottland: sog. fiscal fine2771), die Schuld zu tilgen vermögen. Charakteristisch für diese Auflagen ist, dass sie nicht erst am Ende eines eine Beweisaufnahme beinhaltenden und die Schuld autoritativ feststellenden Verfahrens verhängt werden können, sondern zu einem früheren Zeitpunkt; häufig werden sie nicht einmal von einem Gericht, sondern von der Staatsanwaltschaft oder der Verwaltungsbehörde verhängt. Das bedeutet, dass sie unabhängig von einem förmlichen Schuldspruch sind. Das deutsche positive Recht scheint für die hier im Mittelpunkt stehende Frage nach der Sperrwirkung dieser Maßnahmen eine Antwort zu haben: § 153a Abs. 1 S. 5 StPO bestimmt, dass bei Erfüllung der Auflage die Tat nicht mehr als Vergehen verfolgbar ist. Eine solche Vorschrift bedeutet noch nicht das Ende der Diskussion. Denn es bleibt sowohl die Frage, ob diese Vorschrift berechtigt ist, als auch eine Reihe von Problemen, die mit ihrer konkreten Reichweite zu tun haben. 2768 BVerfGE 55, 28 (30); 20, 365 (372); ebenso U.S. Supreme Court, Kansas v. Hendricks, 521 U.S. 346, 369 f. (1997) m. w. Nachw. And. Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 195, mit vordergründiger Argumentation. 2769 Näher Pradel, Procédure pénale, Rn. 617 ff. 2770 Näher Close, RevDPC 1986, S. 54 ff.; Vandermeersch, Éléments S. 229 ff., 459; ausf. Kniebühler, Ne bis in idem, S. 47 ff.; s. a. Gegenstand von BGH NStZ 1998, 149; NJW 1999, 1270. 2771 Hierzu etwa P. Duff, OJLS 14 (1994), S. 565 ff.

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b) Mit der äußerst schwierigen Frage nach der Legitimierbarkeit von schuldspruchunabhängigen Auflagen wird man sich hier nicht näher beschäftigen müssen.2772 Denn Schuld wird auch dann getilgt, wenn die verhängte Sanktion illegitim ist (s. o. B. [S. 639]). Nur ein Ausschnitt dieser Diskussion ist für uns von Bedeutung: nämlich die Frage, ob diese Auflagen Strafen sind oder nicht. Denn geht es um Strafen im ontologischen oder im abgeleiteten Sinne, dann wird die Schuld automatisch getilgt; in diesem Falle ist die zitierte Vorschrift der StPO wenigstens zum Teil bloß deklaratorisch, ein Zeichen davon, dass der Gesetzgeber das Richtige getroffen hat. Geht es bei den Auflagen aber nicht um Strafen im ontologischen oder im abgeleiteten Sinn, dann steht es weitgehend im Ermessen des Gesetzgebers, inwiefern er Auflagen eine schuldtilgende Bedeutung zuweisen will. aa) Das Meinungsspektrum ist geteilt. Eine Mindermeinung behauptet hier, dass die sogenannten Auflagen im Grunde genommen Strafen2773 oder wenigstens strafähnlich2774 seien. Das Hauptargument ist, dass eine solche Auflage sich nur unter der Annahme legitimieren lasse, dass der Betroffene schuldig sei. Die herrschende Meinung bestreitet dies, insbesondere mit drei Argumenten: Erstens setzen diese Auflagen die Zustimmung des Betroffenen voraus, so dass sie freiwillig und nicht zwangsweise zugefügt werden;2775 zweitens verweist man darauf, dass weder eine Schuldfeststellung noch ein Schuldspruch erfolgen,2776 und zuletzt auch darauf, dass keine Eintragung in das Strafregister stattfindet.2777 2772 Hierzu statt aller Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 14 Rn. 14 f. m. w. Nachw. 2773 Schmidhäuser, JZ 1973, S. 532, 533 („Strafcharakter“); wohl auch Grünwald, 50. DJT, S. C 18; ebenso Freund, GA 2005, S. 336 f., der die Vorschrift dennoch im Rahmen seiner Theorie des Strafverfahrens als angemessene Reaktion auf eine mögliche Straftat (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. III. 2. [S. 164 ff.]) legitimiert. 2774 Rudolphi, ZRP 1976, S. 168; Vogler, ZStW 89 (1977), S. 786; Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 224 f.; ders. Aktuelle Probleme, S. 52: „im Ergebnis punitive Sanktionen“; Kausch, Staatsanwalt, S. 50 ff., 57, 65; I. Müller, Rechtsstaat und Strafverfahren, S. 109; Walther, Rechtsbruch, S. 334; Dencker, ZStW 102 (1990), S. 64, insb. Fn. 43; Naucke, JJZG 2 (200/2001), S. 723 f.; Saliger, GA 2005, S. 169; in der Sache auch Duttge, ZStW 115 (2003), S. 559. Nahestehend diejenigen, die von einer Verletzung der Unschuldsvermutung sprechen, Dencker, JZ 1973, S. 150; Arzt, JuS 1974, S. 695 Fn. 13; Vogler, ZStW 89 (1977), S. 786; Kuhlen, Diversion, S. 44 ff.; Frister, Schuldprinzip, S. 96 f.; Steinberg, Richterliche Gewalt, S. 163 ff.; auch der AE-NÖV, der von der Ansicht ausging, Auflagen würden sich nur bei einem Schuldspruch rechtfertigen lassen; vorsichtig Gropp, JZ 1991, 810 f.; wohl auch Kühl, Unschuldsvermutung, S. 110 f., 116. Zu den Unklarheiten bezüglich des Begriffs der Strafähnlichkeit s. o. C. II. (S. 640 ff.). 2775 BT-Drs. 7/1261, S. 27 f.; Dreher, FS Welzel, S. 939; Rieß, NStZ 1981, S. 7; Gössel, FS Dünnebier, S. 138 f.; Fezer, ZStW 106 (1994), S. 33: Ohne Freiwilligkeit hätte man es mit einer Strafe zu tun; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 247; ders. Konzeptionen, S. 140; Beulke, LR-StPO § 153a Rn. 14; Weßlau, SK-StPO § 153a Rn. 8, 15; Meyer-Goßner, StPO § 153a Rn. 12; BVerfG NWJ 1990, 2741 (2742); BGHSt 28, 174 (176).

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bb) Dieser Streit leidet zum Teil darunter, dass keine Klarheit über den Begriff der Strafe besteht. (1) Die Mindermeinung, die hier eine Strafe bejaht, geht wenigstens implizit, gelegentlich aber auch explizit2778 von einem kommunikativen Verständnis der Strafe aus, das in ihr die Missbilligung eines Fehlverhaltens sieht. Diese Sichtweise ist aber unzutreffend, wie oben C. III. (S. 646 f.) schon dargelegt worden ist. (2) Für den Begriff der Strafe sind die meisten der von der herrschenden Meinung geltend gemachten Erwägungen ebenfalls irrelevant. Zwar lässt sich der Verweis auf die Zustimmung des Betroffenen nicht mit dem naheliegenden Einwand der fehlenden Freiwilligkeit widerlegen (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 3. [S. 272 f.]). Die Zustimmung des Betroffenen würde aber nur das Vorliegen einer Strafe ausschließen, wenn der Widerspruch zu dem Willen des Betroffenen ein Merkmal des Strafbegriffs wäre. Wäre dies aber der Fall, dann läge in dem Fall, in dem jemand sich freiwillig ergibt, gesteht und die „Strafe“ auf sich nimmt, also bei einem Raskolnikow, schon begrifflich keine Strafe vor. Die Möglichkeit der Sühne durch freiwillige Hinnahme der Strafe wäre bereits begrifflich undenkbar. Das kann nicht richtig sein. Der hier vorgeschlagene Strafbegriff enthält deshalb keinen Hinweis auf den Willen des Bestraften, also weder auf seine Zustimmung noch auf seinen Widerspruch. Die Strafe erfolgt nicht gegen den Willen des Betroffenen, sondern unabhängig von diesem Willen. (3) Das Fehlen eines Schuldspruchs ist im vorliegenden Zusammenhang auch irrelevant. Hinter diesem Argument steht ebenfalls ein kommunikativer Strafbegriff, der aber nicht auf den objektiven Sinn der Maßnahme abstellt, sondern auf den von ihr intendierten Sinn.2779 Erklärt man aber den intendierten Sinn für maßgeblich, dann öffnet man die Türe für beliebige Etikettenschwindel. Insbesondere aus diesem Grund wurde o. C. III. (S. 644) dafür plädiert, die kommunikative Komponente des Strafbegriffs aus einer objektiven Perspektive zu bestimmen. Aus unserer Sicht kann das Fehlen eines Schuldspruchs höchstens für die Legitimitätsfrage von Bedeutung sein; die begriffliche Frage nach dem Vorliegen einer Strafe bleibt davon völlig unberührt.

2776 BT-Drs. 7/1261, S. 27 f.; Dreher, FS Welzel, S. 938; Kunz, Bagatellprinzip, S. 73 ff.; Wolter, Aspekte, S. 60; Gössel, FS Dünnebier, S. 138; Fezer, ZStW 106 (1994), S. 33; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 248; Duttge, FS Karras, S. 458; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 14 Rn. 14; BVerfG NJW 1990, 2741 (2742); 1991, 1530 (1531); BGHSt 28, 174 (176); LG Bonn NJW 2001, 1736 (1737). 2777 Weßlau, Konsensprinzip, S. 42 ff.; Radtke, Konzeptionen, S. 140. 2778 So insbesondere Kühl, Unschuldsvermutung, S. 14 f.; ebenso Weigend, Anklagepflicht, S. 80; Gropp, JZ 1991, S. 811; and. Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 247 Fn. 89. 2779 Explizit Radtke, Konzeptionen, S. 149.

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(4) Ähnliches könnte man von der mangelnden Eintragung in das Strafregister sagen. Mit dem Argument hat man sich schon o. II. 1. (S. 668 f.) beschäftigt, als es darum ging, Geldstrafe und Geldbuße abzusondern. Es gehört nicht zum Strafbegriff, dass die einschlägige Maßnahme in das Strafregister eingetragen werden muss. Dies zu verlangen würde die Definition zirkelhaft machen: Wie schon angemerkt, gehört eine Sanktion in das Register, weil sie eine Strafe ist, und nicht umgekehrt. Das Argument kann höchstens als Indiz verstanden werden, dass der Gesetzgeber diese Auflagen nicht als Strafen deutet. Im vorliegenden Zusammenhang ist die Aussagekraft des Indizes aber schwächer als sonst, denn es bieten sich genügend alternative Erklärungsmöglichkeiten für die Entscheidung an, von einer Eintragung in das Strafregister abzusehen. Insbesondere kann dies auf der Erwägung beruhen, man wolle die Zustimmung zu einer solchen Auflage hinreichend attraktiv machen, was nicht mehr der Fall sein wird, wenn der Betroffene danach als Vorbestrafter gebrandmarkt wird. cc) Ausgangspunkt der eigenen Stellungnahme soll selbstverständlich der o. C. IV. 2., V. (S. 653 ff., 659 ff.), formulierte Strafbegriff sein. Von dieser Grundlage aus dürfte klar sein, dass Auflagen im Sinne von § 153a StPO weder im ontologischen noch im übertragenen Sinne Strafen darstellen. Denn weder direkt noch indirekt (i. S. v. aufschiebend bedingt) betreffen diese Auflagen angeborene Rechte. Den vorzüglichen Gegenstand dieser Auflagen bildet vielmehr das Vermögen, und auch die sonstigen Leistungen aller Art betreffen nicht die Fortbewegungsfreiheit, sondern bloß die allgemeine Handlungsfreiheit. Es könnte deshalb höchstens sein, dass man es hier mit Strafen im künstlichen Sinn zu tun hat. Diese Frage muss jede Rechtsordnung also für sich entscheiden. Das deutsche Recht hat in dieser Hinsicht seine Position relativ klar gemacht: Was ihre Verhängung anbelangt, sind Auflagen im Sinne von § 153a StPO keine Strafen im künstlichen Sinn. Am klarsten wird dies nicht nur am Fehlen des Schuldspruchs ersichtlich, sondern auch an der Möglichkeit, dass sie von der Staatsanwaltschaft verhängt werden, wenn auch vielfach nur mit Zustimmung des Gerichts (§ 153a Abs. 1 StPO). Nach ihrer Verhängung und Erfüllung wird diesen Auflagen aber strafklageverbrauchende Wirkung zuerkannt. Diese kann jedoch auf jeden Fall nicht allein auf einer Tilgung von Schuld beruhen. Denn die in der Vorschrift vorgesehene Sperrwirkung reicht weiter als der idem crimen, dessen Schuld durch eine Sanktion getilgt wird (o. B. [S. 638]): Als Vergehen darf die Tat nicht mehr verfolgt werden, unabhängig davon, ob die Verfolgungsbehörden andere Tatbestandsverwirklichungen zum Gegenstand ihrer Verdächtigung und auch zum Anlass der Auflagenverhängung gemacht haben oder nicht. Das bedeutet, dass die Sperrwirkung, die von Auflagen gem. § 153a StPO ausgeht, zum Teil auch auf den Gedanken der Rehabilitierung (bzw. der Tilgung der Prozessduldungsschuld) zurückgeführt werden muss. Das wird uns u. Kap. 4 F. II. 7. (S. 806 ff.) näher beschäftigen.

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6. Nicht staatliche Sanktionen Dass nicht staatlich verhängten Sanktionen, wie die der Sportverbandsgerichtsbarkeit, arbeitsrechtlichen Kündigungen aus wichtigem Grund, kirchlichen Exkommunikationen oder Bußen usw. keinerlei strafklageverbrauchende Wirkung zukommt, und sie höchstens ähnlich einer poena naturalis (s. o. III. 2. [S. 672 f.]) Berücksichtigung finden können, ist so selbstverständlich, dass sich weitere Ausführungen erübrigen. Mit einer Strafe hat man es schon von vornherein nicht zu tun, weil sie nicht vom Staat bzw. von einem staatsähnlichen Gebilde verhängt werden (s. o. C. III. [S. 645]). Diese Begriffsbestimmung ist nicht eine bloße Festsetzung, sondern beruht ihrerseits darauf, dass nur diese Subjekte Gewalt ausüben, woran es hier fehlt, da alle diese Sanktionen nur über denjenigen verhängt werden können, der sich freiwillig dem sanktionierenden Verband und seinen Regeln unterworfen hat. Das heißt natürlich nicht, dass diese Maßnahmen rechtlich unproblematisch seien,2780 sondern nur, dass sie ein anderes Problem darstellen, das den bereits weiten Rahmen des vorliegenden Untersuchungsgegenstandes überschreitet.2781 7. Beugemittel Die vielen in allen Rechtsgebieten vorgesehenen Mittel, mit denen das Recht versucht, jemanden zur Vornahme eines bestimmten Verhaltens, insbesondere zu einer bestimmten Leistung zu nötigen, sind auch keine Strafen. Von der Erzwingungshaft des Ordnungswidrigkeitenrechts (§§ 96 OWiG) war schon o. II. 1. (S. 667) die Rede; ein weiteres Beispiel sind die zivilprozessualen Institute des Zwangsgelds und der Zwangshaft (§ 888 ZPO).2782 Auch das Polizeirecht kennt 2780

Näher Meyer-Cording, Vereinsstrafe, insb. S. 53 ff., 100 ff.; ders. NJW 1966, S. 225 ff.; Feest, ZStW 85 (1973), S. 1125 ff.; Kaiser/Metzger-Pregizer (Hrsg.), Betriebsjustiz; Weiss, FS Lüderssen, S. 383 ff.; Neumann/Hassemer, NK-StGB Vorbem § 1 Rn. 213 ff. 2781 Bei einer Ahndung durch die Sportverbandsgerichtsbarkeit wurde von Reinhart, SpuRt 2001, S. 45 ff., 48; ders. SpuRt 2001, S. 184 f. ein Strafklageverbrauch vertreten, zwar nicht bezüglich gravierender Straftaten, sondern kleinerer Delikte (SpuRt 2001, S. 45 Fn. 1; krit. zu dieser eigenartigen Beschränkung Fahl, SpuRt 2001, S. 181). Eine Auseinandersetzung mit der Argumentation, die von so wenig Verständnis für den Sinn des ne bis in idem-Grundsatzes getragen wird, erübrigt sich (ausf. und überzeugend Fahl, SpuRt 2001, S. 181 ff.; Reschke, SpuRt 2001, S. 183 ff.: „abwegig“). Reinhart verleiht Sportverbänden das Recht, sich einen strafrechtsfreien Raum zu verschaffen, einen kleinen Staat im Staat zu begründen und ihren Mitgliedern Exemption vor staatlicher Strafverfolgung zu gewähren (ähnl., wenn auch nicht so pointiert, Fahl, SpuRt 2001, S. 182; zum Begriff der Exemption H. Mayer, Zuchtgewalt, S. 46 f.). Warum sollte nichts Vergleichbares gelten für das Mitglied im Golfclub, der wegen der Beleidigung oder Körperverletzung eines anderen Mitglieds aus dem Club ausgeschlossen wird, oder für den Katholiken, der nach seiner Beichte 100 Vaterunser als Buße leistet? 2782 Kuhnt, DR 1941, S. 2370; Lange, FS Engisch, S. 625; Olzen, in: Prüting/Gerlein-ZPO § 890 Rn. 1; RGZ 53, 181 (183); 77, 217 (222 f.); 115, 74 (84); a. A. Blomeyer, FS Heinitz, S. 695 f.

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die Beugemittel des Zwangsgelds, der Zwangshaft und des unmittelbaren Zwangs (etwa Art. 56 ff. BayPAG; §§ 50 ff. HSOG; §§ 53 ff. PolGNRW). Bei Ordnungsgeld und -haft (§ 890 ZPO) ist es etwas komplizierter: Während die Maßnahme des § 888 ZPO Handlungen erzwingen möchte, also auf Zukünftiges gerichtet ist, und deshalb nur als Beugemittel ohne reaktiven Charakter eingestuft werden kann, hat § 890 ZPO eine bereits erfolgte Unterlassung zum Bezugspunkt. Deshalb ist die Rechtsnatur der Maßnahme nach § 890 ZPO streitig.2783 Die zivilprozessrechtliche Kommentarliteratur schreibt ihr etwas zurückhaltend „repressiven Charakter“ zu,2784 die Rechtsprechung erklärte sie zunächst buchstäblich zur Strafe,2785 später sprach sie ihr „Strafelemente“ bzw. „Strafähnlichkeit“ zu.2786 Das Hauptanliegen bestand immer in der Begründung, dass auch hier das Schuldprinzip Beachtung finden sollte. Eine andere Auffassung zeigt sich unbeeindruckt und leugnet den Strafcharakter der Maßnahme gem. § 890 ZPO.2787 Aus unserer Perspektive muss hervorgehoben werden, dass man bei dieser Einordnungsfrage selten den ne bis in idem-Grundsatz vor Augen hat. Überwiegend wird von einer „Strafe i. S.v.“ gesprochen, nämlich im Sinne des Schuldprinzips; die Charakterisierung als Strafe soll auch bestimmte Züge des Rechtsinstituts erklären, insbesondere dass es auch dort Anwendung finden soll, wo mit einer Beugung des Willens des Betroffenen nicht mehr zu rechnen ist.2788 Nur vereinzelt hat man aus dem Strafcharakter bzw. der Strafähnlichkeit der Maßnahme gem. § 890 ZPO gefolgert, dass sie nicht neben einer Kriminalstrafe verhängt werden darf.2789 Von richtiger Kriminalstrafe spricht kaum einer; Strafe bzw. Strafähnlichkeit bedeutet hier wohl nur, dass das Schuldprinzip einschlägig sein muss (s. a. o. C. II. [S. 640 f.]). Der Umstand, dass es bei dieser Maßnahme um eine Reaktion auf Fehlverhalten geht, ist zwar von Relevanz, aber noch nicht allein ausschlaggebend. Auch 2783

Umf. Lange, FS Engisch, S. 625 ff. Etwa Gruber, MK-ZPO § 890 Rn. 2; Lackmann, in: Musielak-ZPO, § 890 Rn. 1; Brehm, in: Stein/Jonas-ZPO, § 890 Rn. 3. 2785 RGZ 36, 417 (418 ff.); 77, 217 (222 f.); 115, 74 (84); ebenso Kuhnt, DR 1941, S. 2370. 2786 BVerfGE 20, 323 (332 f.); 58, 159 (162 f.); 84, 82 (87 f.); 110, 1 (14). Ebenso E. Schulz, NJW 1963, S. 1095; Blomeyer, FS Heinitz, S. 692: Beugemittel und Strafe zugleich; Olzen, in: Prüting/Gerlein-ZPO § 890 Rn. 1: „strafähnlich (repressiv)“. Bzgl. eines ohne Androhung zulässigen polizeilichen Ordnungsgelds Schäfer, JR 1931, S. 171 ff. (Ordnungsstrafe). 2787 Lange, FS Engisch, S. 631 f.; W. Pastor, FS Heymanns Verlag, S. 451 ff.; Lindacher, ZZP 85 (1972), S. 243 f.; Theuerkauf, ZZP 77 (1964), S. 301 ff.; Schmidt-Aßmann, M/D-GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 290. 2788 Lindacher, ZZP 85 (1972), S. 240. 2789 Vor allem E. Schulz, NJW 1963, S. 1095 f.; krit. zu ihm Theuerkauf, ZZP 77 (1964), S. 300 ff.; dagegen für die Anwendbarkeit des ne bis in idem-Grundsatzes auch Kuhnt, DR 1941, S. 2379. 2784

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Geldbußen sind Reaktionen auf Fehlverhalten. Wenn aber eine derartige Reaktion auf Fehlverhalten zugleich die Freiheit des Betroffenen in Anspruch nimmt, dann sind angeborene Rechte mitbetroffen, so dass an einer Einordnung als Strafe kein Weg mehr vorbeiführt. Zumindest eine differenzierende Auffassung erscheint also geboten: Die Verhängung von Ordnungshaft gem. § 890 ZPO muss als Strafe im ontologischen Sinne angesehen werden. Beim Ordnungsgeld ist dies dagegen nicht zwingend, sondern Sache gesetzgeberischer Konvention; hier dürfte eher eine nichtstrafrechtliche Sanktion vorliegen. An sich dürfte eine doppelte Sanktionierung derselben Tat, einmal durch Ordnungshaft gem. § 890 ZPO und einmal durch Strafe, nicht erfolgen. Es sei aber betont, dass es regelmäßig an der Tatidentität fehlen wird. V. Zusammenfassung der einzelnen Ergebnisse Eine Strafe sogar im ontologischen Sinne stellen die Todesstrafe, die Leibesstrafe, der bürgerliche Tod und die Freiheitsstrafe dar; denn bei allen handelt es sich um Sanktionen, die angeborene Rechte als Reaktion auf Fehlverhalten entziehen. Die Untersuchungshaft berührt auch ein angeborenes Recht; sie ist nur solange als Nicht-Strafe anzusehen, als sie wegen einer strikten verfahrenssichernden Ausrichtung nicht den objektiven Sinn erhält, bereits eine Reaktion auf eine Straftat zu verkörpern. Strafen im abgeleiteten Sinn, also solche Sanktionen, bei denen ein angeborenes Recht indirekt, aufschiebend bedingt entzogen wird, stellen in erster Linie die Geldstrafen dar, die sich im Falle der Nichterbringung in eine Ersatzfreiheitsstrafe verwandeln lassen. So verhielt es sich auch bei der (für verfassungswidrig erklärten) Vermögensstrafe. Anders ist es bei Geldbußen (und Erzwingungshaft), beim Verwarnungsgeld und bei prozessualen Kostenentscheidungen, die allesamt nur das erworbene Recht des Vermögens betreffen. Die Strafaussetzung zur Bewährung stellt auch eine prototypische Strafe im abgeleiteten Sinne dar. Dem Gesetzgeber steht auch das Recht zu, Sanktionen, die angeborene Rechte weder direkt noch indirekt antasten, den strengeren Legitimationsvoraussetzungen von Strafen zu unterstellen und ihnen schuldtilgende Wirkung beizumessen. Zu dieser Fallgruppe der hier sogenannten Strafen im künstlichen oder konventionellen Sinn gehören Sanktionen, die gegen juristische Personen verhängt werden, und die den Täter aus seiner Tat treffenden Einbußen, die sog. poena naturalis. Bei disziplinarrechtlichen und weiteren „ordnungsrechtlichen“, „verwaltungsrechtlichen“ bzw. „außerstrafrechtlichen“ Sanktionen geht es grundsätzlich um Sanktionen, die sich in keine der drei obigen Gruppen einordnen lassen und deshalb nicht als Strafen anzusehen sind. Eine solche Sanktionierung steht deshalb einer späteren Bestrafung desselben Vorgangs regelmäßig nicht entgegen. Nur bei dem das angeborene Recht der Fortbewegungsfreiheit betreffenden Arrest

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

verhält es sich anders. Gewerbeuntersagungen, Beihilfekürzungen oder Steuerzuschläge sind alle auch keine Strafen. Man darf auch nicht übersehen, dass nach den eher engeren Grundsätzen, die hier für die Reichweite der prozessualen Tatidentität formuliert werden (s. o. Kap. 2 D. VII. 1. [S. 528 ff.]), diese außerstrafrechtliche Sanktionierung nicht einmal denselben Gegenstand haben wird wie diejenige, an die die spätere Bestrafung anknüpft. Keinerlei Strafe sind ferner der Verfall, die Einziehung, der bloße, nackte Schuldspruch und weitere die Ehre betreffende Sanktionen. Viele der Maßregeln der Besserung und Sicherung, vor allem die im Mittelpunkt der Diskussion befindliche Sicherungsverwahrung, berühren aber angeborene Rechte. Bei diesen muss darauf geachtet werden, dass sie nicht den Sinn erlangen, eine Reaktion auf eine Straftat zu verkörpern – eine theoretische Bestätigung des verfassungsrichterlichen Abstandsgebots. Ansonsten stellen sie schuldtilgende Strafen dar, und dies sogar im ontologischen Sinne. Auch schuldspruchunabhängige Auflagen wie die, die als Bedingungen einer Verfahrenseinstellung zu erbringen sind (§ 153a StPO), sind keine Strafen. Von den zivilprozessualen Beugemitteln (§§ 888, 890 ZPO) stellt nur die Ordnungshaft eine Strafe dar, und zwar im ontologischen Sinne.

E. Zusammenfassung zur ersten Strafe (Schuldtilgung) Jetzt gilt es nur, die Hauptergebnisse des Kapitels zusammenzufassen. Ein Bedürfnis für „abschließende Bemerkungen“ nach dem Vorbild der anderen Kapitel (etwa o. Kap. 2 F. II. [S. 628 ff.], u. Kap. 4 G. II. [S. 835 ff.]) besteht hier nicht. Die Tilgung von Schuld beseitigt dasjenige, was eine Strafe erst gegenüber dem Individuum rechtfertigt. Dies macht eine neue Bestrafung unmöglich. Schuld wird grundsätzlich durch Strafe getilgt. Deshalb gilt es, im vorliegenden Abschnitt den Begriff der Strafe zu erfassen, um bestimmen zu können, welchen Sanktionierungen eine derart schuldtilgende und deshalb auch die Strafklage verbrauchende Wirkung zukommt. Schuld verpflichtet nicht nur zur Duldung der Strafe, sondern auch zur Duldung des Verfahrens; neben einer Straferduldungsgibt es somit eine Verfahrenserduldungsschuld. Nur um Erstere geht es im vorliegenden Zusammenhang. Der Begriff der Schuldtilgung wird zunächst präzisiert. Wenn man sagt, dass die Verurteilung Schuld tilge, verwendet man ein pars pro toto, denn voll getilgt ist die Schuld selbstverständlich erst nach Abbüßung der Strafe. Die Unmöglichkeit einer erneuten Verfolgung vor Strafabbüßung beruht auf der Tilgung der Prozessduldungsschuld. Auch das Verbot, die Strafe für ungetilgte Schulddimensionen einer prozessualen Tat nachträglich zu erhöhen („Nachschlagsverbot“), beruht hierauf. Schuldtilgung ist auch unabhängig davon, ob die verhängte Strafe ansonsten legitim ist.

3. Kap.: Die erste Strafe

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Um den unklaren Begriff der Strafähnlichkeit, der je nach Kontext einen anderen Gehalt aufweist, geht es hier nicht; vielmehr möchte man einen Strafbegriff gewinnen, der nicht bloß die Maßnahmen bezeichnet, die Schuld zu tilgen vermögen, sondern auch den minimalen Bezugspunkt aller traditionellen strafbezogenen Garantien, von dem nullum crimen-Satz zum Gebot, dass sie nur durch Gerichte verhängt werden dürfen, oder zu der Unschuldsvermutung und insbesondere auch dem Doppelbestrafungsverbot. Die Suche nach dem Strafbegriff ist die Suche nach dem, was die Strafe besonders rechtfertigungsbedürftig macht; es geht also um die richtige Erfassung der Merkmale, die dazu führen, dass diese Maßnahmen nur unter äußerst restriktiven Bedingungen verhängt werden dürfen. Ein guter Strafbegriff muss zwischen dem, was er bezeichnet, also der Strafe, und ihren Legitimitätsbedingungen sauber unterscheiden; er muss Etikettenschwindel, also Fehlschlüsse vom Fehlen einer Legitimitätsbedingung auf das Nichtvorliegen einer Strafe, unmöglich machen; und er darf auch nicht durch seine zu große Reichweite das Besondere an der Strafe verfehlen, sie in diesem Sinne entwerten und dadurch indirekten Druck im Sinne einer Auflockerung der Legitimationsbedingungen einer Strafe ausüben. Bei der Strafe geht es immer um das Handeln des Staates oder eines staatsähnlichen Gebildes; Staatsähnlichkeit bedeutet hier, dass die Körperschaft Macht ausübt und einen Legitimitätsanspruch erhebt. Strafen werden auch als Reaktionen auf Fehlverhalten verhängt. Eine Strafe kann sich nicht in einem Missbilligungsurteil erschöpfen, wie es gelegentlich vertreten wird und wovon das Bundesverfassungsgericht auch nicht so weit entfernt sein dürfte; ansonsten wäre es etwa möglich, Tote zu bestrafen, und auch eine offizielle, beschuldigende Rede durch einen Repräsentanten des Staates würde eine Strafe sein. Für das Vorliegen einer Strafe ist etwas Zusätzliches erforderlich; dies ist nicht die besondere Schwere der Reaktion auf Fehlverhalten, es sei denn, man möchte einen Schadensersatz in Millionenhöhe zur Strafe erklären. Es reicht auch nicht, auf eine Vielzahl von Faktoren im Wege einer Art intuitiver Gesamtschau abzustellen, wie es der EGMR und der amerikanische Supreme Court tun. Ein angemessenes und klares qualitatives Kriterium liefert erst die Rückbesinnung auf dasjenige, was einer Vielzahl von Sanktionen, denen man unmöglich die Rechtsnatur als Strafe absprechen würde, gemeinsam ist: dass sie ein angeborenes Recht, also insbesondere Leben, Leib oder Freiheit betreffen, und nicht bloß ein erworbenes Recht, prototypisch Eigentum oder Vermögen. Der Entzug eines angeborenen Rechts, der als Reaktion auf Fehlverhalten verhängt wird, scheint immer eine Strafe verkörpern zu müssen; einen gesetzgeberischen Spielraum dürfte es hier nicht geben. Dies hat damit zu tun, dass solche Rechte einer inneren Schicht der Persönlichkeit anhaften, die deshalb – Instrumentalisierungsverbot – gegenüber dem öffentlichen Interesse, das nur einen Eingriff in erwor-

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

bene Rechte zu rechtfertigen vermag (man denke an die Enteignung), resistent sind. Solche Fälle haben wir unter der Kategorie der Strafen im ontologischen Sinn zu erfassen versucht. Gelegentlich wird ein angeborenes Recht durch eine Sanktion nicht direkt, sondern erst aufschiebend bedingt betroffen – man denke an die Ersatzfreiheitsstrafe für den Fall der Nichtzahlung der Geldstrafe. Wegen des Betroffenseins eines angeborenen Rechts wird man auch in solchen Situationen von Strafen sprechen müssen, nur von Strafen im abgeleiteten Sinn. Jenseits dieses Bereichs kann der Gesetzgeber frei darüber befinden, ob er weitere Sanktionen erst unter den für Strafen geltenden besonderen Legitimitätsbedingungen zufügen möchte. Tut er das, erhebt er die Sanktionen, die per se keine Strafen sind, durch seinen Willen zu Strafen; man kann von Strafen im konventionellen Sinn sprechen. Im letzten Abschnitt haben wir anhand dieser Kriterien die einzelnen positivrechtlich vorgesehenen Sanktionen durchgemustert; für eine thesenartige Zusammenfassung s. o. D. V. (S. 699 ff.). 4. Kapitel

Die erste Verfolgung „Once the judge has embarked upon his factfinding mission, the defendant is justified in concluding that his ordeal has begun; he is in the hands of his judge, and may expect the matter to proceed to a finish.“ (Powell, in: U.S. Supreme Court, Crist v. Bertz, 437 U.S. 28, 46 [1978]).

A. Einleitende Bemerkungen Auch die Duldung des Verfahrens ist ein Übel, das einen Ausgleich erheischt. Am deutlichsten wird dies, wenn der Täter am Ende des Strafverfahrens nicht verurteilt und bestraft wird, weil die eingangs formulierte Verdächtigung sich sogar widerlegen lässt. Es verhält sich aber nicht anders, wenn sich die Verdächtigung auch nur nicht bestätigen lässt. Das Gebot, nicht nur widerlegte, sondern auch nicht bestätigte Verdächtigungen am Ende des Verfahrens aufzuheben, hat sich als Bedingung dafür herausgestellt, dass überhaupt von vornherein verdächtigt werden darf (o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 6. [S. 312 ff.]). Denn das Verfahren wird zum großen Teil nicht im Interesse des Betroffenen, sondern der Gesellschaft durchgeführt. Kommt das Verfahren nicht zum Ergebnis der Schuld des Betroffenen, dann kann es nur dann legitim sein, wenn dem Betroffenen rechtlich nichts weggenommen wird, wenn seine Rechtssphäre im Ergebnis unvermindert bleibt. M. a.W.: Der Verfolgte ist am Ende der Verfolgung zu rehabilitieren. Rehabilitierung bedeutet Aufhebung der

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Verdächtigung, ergänzt um das Verbot, je wieder zu verdächtigen (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 6. [S. 312]). Auch der Schuldige, der ein Verfahren bis zur Feststellung seiner Schuld durch eine Verurteilung erduldet, steht in einer vergleichbaren Position. Das Verfahren, das er wegen seiner Schuld zu dulden verpflichtet ist, hat er erduldet. Er muss deshalb kein zweites Verfahren mehr dulden. Seine Prozesserduldungsschuld ist somit getilgt (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 2. c), 6. e) [S. 240 ff., 315 ff.]). Im vorliegenden Abschnitt geht es zum einen um die Bestimmung der prozessabschließenden Entscheidungen, denen eine derartige rehabilitierende Wirkung zukommt (etwa: Freisprüche, Einstellungsentscheidungen wegen Prozesshindernisse, Einstellungsentscheidungen aus Opportunitätsgründen usw.), zum anderen um die genauere Ausgestaltung dieser rehabilitierenden Wirkung selbst (volle oder beschränkte Rechtskraft, s. o. Kap. 1 A. I. [S. 330 ff.]). Nur Entscheidungen, die das Verfahren abschließen, sollen hier untersucht werden2790 – also nur sog. prozesserledigende oder prozessabschließende, im Gegensatz zu sog. laufenden Entscheidungen2791 –, da wenigstens nach den herrschenden, an dieser Stelle nicht zu bestreitenden Prämissen nur bei ihnen die Frage einer erneuten Verfolgung, also die Frage der Sperrwirkung und des ne bis in idem sinnvoll gestellt werden kann.2792 Damit sollen zugleich alle Fragen der formellen Rechtskraft streng ausgeklammert werden, was in der Diskussion nicht immer beachtet wird, wohl wegen des Umstands, dass materielle Rechtskraft nach dem herkömmlichen Konzept formelle Rechtskraft voraussetzt.2793 Ähnlich wie Schuld auch mittels einer illegitimen Strafe getilgt werden kann (s. o. Kap. 3 B. [S. 639]), wird man auch illegitimen Verfahren das Vermögen zusprechen müssen, den Beschuldigten zu rehabilitieren. Dies beruht auch hier in erster Linie auf der Erwägung, dass es ungerecht wäre, den Betroffenen, den man einer illegitimen Maßnahme unterzogen hat, noch einmal zu beanspruchen. Auch für die Bestimmung der eine Sperrwirkung entfaltenden prozessabschließenden Entscheidungen kommt es also auf die Legitimitätsfrage nicht an. 2790 2791

Ebenso Oster, Rechtskraft, S. 10; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 22. Zu dieser Unterscheidung s. P. Herzog, Rechtskraft, S. 4; Geppert, GA 1972,

S. 172. 2792 Dieses Bild wird sich im Laufe des Abschnitts dadurch relativieren, dass wir den Strafklageverbrauch früher eintreten lassen als die Beendigung des Verfahrens, s. insb. u. E. III. 1. e) dd) (S. 747 ff., 752). 2793 Weitgehend unbestritten, etwa Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht § 52 Rn. 5; Trepper, Rechtskraft, S. 10; and. aber Giovene, DPP V (1991), S. 424. Ein Beispiel für diese nicht so saubere Vermengung beider Fragen bietet die Argumentation in BGHSt 48, 331 (334), die aus der Unanfechtbarkeit des Einstellungsbeschlusses (§ 153a Abs. 2 S. 4 StPO) Folgen für den Strafklageverbrauch hat ziehen wollen (krit. Heghmanns, NStZ 2004, S. 634). Ein weiteres Beispiel, womit wir uns u. D. I. (S. 729 ff.) näher beschäftigen werden, ist der von Roxin und Schlüchter formulierte Versuch, die strafklageverbrauchende Wirkung von Beschlüssen aus der Regelung ihrer Anfechtbarkeit herzuleiten.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Der folgende Abschnitt soll in folgende Hauptteile untergliedert werden. An erster Stelle soll das herrschende Konzept näher beschrieben (u. B.) und einer grundlagenorientierten Kritik unterzogen werden (u. C. [S. 710 ff.]). Nach Darstellung und Kritik interessanter alternativer Konzepte (u. D. [S. 729 ff.]) soll aus der oben Kap. 1 D. (S. 371 ff.) entwickelten Begründung der Rechtskraft ein eigener Ansatz gewonnen werden (u. E. [S. 740 ff.]), der zuletzt anhand der einzelnen prozesserledigenden Entscheidungen des deutschen Strafprozessrechts positivrechtlich übersetzt werden soll (u. F. [S. 777 ff.]).

B. Das herrschende Konzept in seinen Grundzügen I. Beschreibung des herrschenden Konzepts 1. Das herrschende Konzept ist, wenigstens in seinen Grundideen, von bestechender Einfachheit. Es wird sich herausstellen, dass es in einigen dieser Hauptergebnisse auch richtig ist. Die Notwendigkeit, es zu überwinden, macht sich erst spürbar, wenn es Erscheinungen gegenübergestellt wird, die aus theoretischer Perspektive zwar immer als Anomalien gegolten haben, in praktischer Sicht aber fast die Mehrzahl der erledigten Fälle ausmachen. a) Die erste Stufe des Konzepts beruht auf der den reformierten Prozess mitkonstituierenden Abschaffung der absolutio ab instantia.2794 Es ist schwer, dieses „zwitterartige Geschöpf “ 2795 auf Grundlage der Kategorien der gegenwärtigen Prozessrechtsdogmatik angemessen einzuordnen.2796 Die Informalität, die dem gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahren innewohnte, war anscheinend so groß, dass man dazu raten konnte, bei einer absolutio ab instantia eher keine förmliche Entscheidung zu treffen.2797 Ob Sach- oder Prozessentscheidung2798 erscheint unklar; ausschlaggebend ist aber, dass die absolutio ab instantia das Verfahren ohne Stellungnahme zur Schuldfrage beendete. Vielleicht könnte man deshalb von einer Einstellung wegen Fehlens einer Sachurteilsvoraussetzung,2799 nämlich der Gewissheit über Schuld oder Unschuld des Angeklagten, sprechen.2800 2794

Zu ihr s. o. Kap. 1 C. VII. (S. 363). Zachariä, Gebrechen, S. 12; ähnl. S. 295. 2796 Zum Streit über die Rechtsnatur der Instanzentbindung Elben, Entbindung von der Instanz, S. 45 ff.; Schwarplies, Ne bis in idem, S. 53 ff. 2797 So Kleinschrod, ArchCrimR 1 (1797), S. 205 f. Die Begründung ist erschreckend: „Allein ist doch besser, den Beschuldigten ohne Urtheil zu entlassen. Denn auf diese Art weiß er nicht, was mit ihm geschieht; er dünkt sich sicher, und kann durch sein Betragen sich leicht einen neuen und vermehrten Verdacht zuziehen.“ 2798 Im letzten Sinne wohl Bauer, Lossprechung von der Instanz, S. 309 („Zwischenurtheil“); eindeutig Nagel, GS 36 (1884), S. 466. 2799 Wobei diese Sachurteilsvoraussetzung buchstäblich nur Voraussetzung des Sachurteils ist, und nicht, wie bei einer verbreiteten Umschreibung der Prozessvoraussetzungen häufig hervorgehoben wird (etwa Eb. Schmidt, Kolleg Rn. 323; Beulke, Strafpro2795

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Das reformierte Verfahren lässt die Prämisse fallen, dass Sachurteile die Gewissheit des Gerichts als Voraussetzung haben; diese ist nur für Verurteilungen erforderlich, bei Zweifeln muss Freispruch in der Sache erfolgen. Das bedeutet, dass das Hauptverfahren mit einem Sachurteil zu enden hat, unabhängig davon, ob es bei seiner Aufgabe der Wahrheitsfindung erfolgreich ist oder nicht. Auch das dem preußischen Verfahren noch bekannte Institut des Vorbehaltes einer anderweitigen Aburteilung, nach dem das Gericht am Ende des Verfahrens sein Sachurteil nur auf bestimmte Tatbestandsverwirklichungen einschränken, andere dagegen unentschieden lassen durfte, wurde für unzulässig erklärt.2801 Am Ende des Hauptverfahrens ist also ein Sachurteil zu fällen, Freispruch oder Verurteilung, welche ihrerseits in volle Rechtskraft erwachsen. Volle Rechtskraft bedeutet, dass die Sperrwirkung der Entscheidung, wenn überhaupt, erst unter den strengsten in der Rechtsordnung dafür vorgesehenen Bedingungen erfolgen darf (s. o. Kap. 1 A. I. 1. [S. 330]). b) Bei der zweiten und dritten Stufe des Modells geht es um die prozesserledigenden Entscheidungen, die vor dem Hauptverfahren gefällt werden. Das Modell unterscheidet richterliche und nicht-richterliche (insbesondere staatsanwaltschaftliche, aber auch polizeiliche2802) Entscheidungen. Die richterliche Prozesserledigung vor dem Hauptverfahren, deren Prototyp der deutsche Nichteröffnungsbeschluss oder die französische ordonnance de nonlieu darstellt,2803 erwächst in beschränkte Rechtskraft, d.h. sie hat eine gewisse Bestandskraft, ist aber trotzdem unter leichteren Bedingungen veränderbar als ein Urteil (nämlich solange keine neuen Tatsachen oder Beweismittel auftauchen, die für die Unrichtigkeit der Entscheidung sprechen).2804 c) Die nichtrichterliche Prozesserledigung vor dem Hauptverfahren, also vor allem die Entscheidung des Staatsanwalts, die Anklage nicht zu erheben, ist dagegen jederzeit revidierbar. Ihr kommt nicht einmal beschränkte Rechtskraft zu. zessrecht, Rn. 273), der Zulässigkeit des gesamten Verfahrens. Man darf auch nicht übersehen, dass die Kategorie der Prozesshindernisse bzw. der Prozessvoraussetzungen erst eine Schöpfung des späten 19. Jahrhunderts ist, s. näher Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 105 ff. 2800 Vgl. Bauer, Lossprechung von der Instanz, S. 302 f.; Henke, Handbuch IV, S. 737. Ziemba, Wiederaufnahme, S. 13 schlägt vor, die absolutio ab instantia als vorläufige Verfahrenseinstellung einzuordnen. 2801 Siehe oben Kap. 2 D. VIII. (S. 540 f.). 2802 Man erinnere sich nur an die polizeiliche Strafverfügung, die in Deutschland erst 1950 abgeschafft wurde, von der u. C. III. 3. (S. 727 f.) noch gelegentlich die Rede sein wird. 2803 Art. 188 franzStPO, der bei einer ordonnance de non lieu eine reprise de len présence de charges nouvelles gestattet, hierzu Guinchard/Buisson, Procédure pénale, Rn. 1845 ff. Zu einer Verkomplizierung, nämlich der Nichteröffnungsentscheidung aus rechtlichen Gründen, der häufig volle Rechtskraft zugemessen wird, s. u. Fn. 3068. 2804 Zum Begriff der beschränkten Rechtskraft s. o. Kap. 1 A. I. (S. 331).

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2. Es ist erstaunlich, dass dieses dreistufige Modell nicht nur der deutschen, sondern einer großen Anzahl von Strafverfahrensordnungen ohne größere Variationen zugrunde liegt.2805 Dies hat wohl damit zu tun, dass es bei ihm um eine Tradition geht, die sich auf das erste nachrevolutionäre französische Strafgesetzbuch von 1791 zurückführen lässt,2806 und die sich wohl durch Art. 246 und Art. 360 des Code d’Instruction Criminelle von 1808 verbreitet hat.2807 Die zuletzt zitierte Vorschrift, die uns schon o. Teil 1 Kap. 1 A. 3. (S. 63) und o. Kap. 2 D. IV. 1. (S. 487) begegnet ist, bestimmt die volle Rechtskraft der Sachentscheidung im Hauptverfahren: Jeder, der gesetzlich freigesprochen wird, darf wegen der gleichen Tat nicht mehr beschuldigt oder angeklagt werden.2808 Und Art. 246 bestimmt, dass bei einer richterlichen Nichteröffnungsentscheidung eine erneute Verfolgung erst bei neuen Belastungen, nouvelles charges, möglich ist.2809 Das Fehlen ausdrücklicher Bestimmungen über die nichtrichterlichen Erledigungsentscheidungen lässt darauf schließen, dass ihnen keinerlei Bestandskraft zukommt. 3. Auf den Punkt gebracht: Das herrschende Modell unterscheidet drei Stufen der Verfahrensbeendigung. Endet der Prozess durch richterliche Entscheidung im Hauptverfahren, erwächst die Entscheidung in volle Rechtskraft; endet er vor dem Hauptverfahren, aber noch durch richterliche Entscheidung, entsteht beschränkte Rechtskraft; endet er, noch bevor ein Richter sich mit der Sache beschäftigt, dann ist die Entscheidung uneingeschränkt revidierbar.

2805 Für Spanien s. Art. 641 spanStPO (sog. sobreseimiento provisional), hierzu Tribunal Supremo STS 6147/2012, II 3; Armenta Deu, Lecciones, S. 241, 251; in Italien ist eine „vorbereitende Verhandlung“ vor der Hauptverhandlung vorgesehen (udienza preliminare, Art. 416 ff. itStPO), die, falls sie mit einer sentenza di non luogo a procedere endet (Art. 425), eine Fortsetzung der Verfolgung (revoca della sentenza di non luogo a procedere) bei „nuove fonti di prova“ gestattet (Art. 434) (Parlato, ZIS 2012, S. 217; Tonini, Manuale, S. 587 ff., 589); für Portugal Cunha, Ne bis in idem, S. 557; für Argentinien J. Maier, Derecho procesal penal I, S. 625 ff.; für Brasilien Tigre Maia, BCESMPU 16 (2005), S. 51 ff. And. in den USA, s. FRCrimP 5.1 (f), sog. discharge of the defendant im preliminary hearing vor einem Berufsrichter, eine Entscheidung, die aber einer erneuten Verfolgung nicht entgegenstehen soll, dazu Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 42; man fragt sich, welchen Sinn eine solche Entscheidung überhaupt hat, s. u. E. III. 3. a) (S. 762). Man beachte auch die o. Fn. 2803 erwähnte Verkomplizierung. 2806 Vgl. Hélie, Traité III, S. 536; Rocco, Cosa giudicata I, S. 132; Correia, Caso julgado, S. 303. 2807 Zu diesen Vorschriften Hélie, Traité III, S. 537; Griolet, Chose jugée, S. 207 ff.; zur Wirkungsgeschichte außerhalb Frankreichs Correia, Caso julgado, S. 303 Fn. 1; Callari, Firmitas, S. 99 ff. 2808 „Tout personne acquittée légalement ne pourra plus être reprise ni accusée à raison du même fait.“ 2809 „Le prévenu à l’égard duquel la cour impériale aura décidé qu’il n’y a pas lieu au renvoi à l’une de ces cours, ne pourra plus y être traduit à raison du même fait, à moins qu’il ne survienne de nouvelles charges.“ Näher Hélie, Traité III, S. 617 ff.; Griolet, Chose jugée, S. 212 ff., 230 ff., 293 ff.; zum Begriff der nouvelles charges Philonenko, RSC 1954, S. 354 ff.; Guinchard/Buisson, Procédure pénale, Rn. 1847.

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II. Struktur des herrschenden, „klassischen“ Konzepts Nach näherem Hinsehen lässt sich das herrschende Modell – das von jetzt an als klassisches Modell bezeichnet werden soll – auf das Zusammenspiel dreier Merkmale zurückführen, deren gemeinsames Vorhandensein volle Rechtskraft begründet: Zunächst muss die voll rechtskräftige Entscheidung eine sein, die im Rahmen eines Hauptverfahrens, also einer die besten Kognitionsmöglichkeiten garantierenden Verfahrensform gewonnen wird, die regelmäßig die Hauptverhandlung sein wird. Entscheidungen, die im Vorverfahren oder in einem summarischen Verfahren gewonnen werden, sind bloß vorläufig. Zweitens muss es um eine Sachentscheidung gehen und nicht um ein bloßes Prozessurteil bzw. eine Einstellung. Drittens kommt nur Entscheidungen eines Gerichts, und nicht bloß der Staatsanwaltschaft, der Polizei oder eines Privatklägers, Rechtskraft zu. Diese drei Bedingungen bewegen sich auf unterschiedlichen Ebenen. Die Erste hat mit dem Zusammenhang, in dem die Entscheidung getroffen wird, zu tun; man könnte sie deshalb als situative bzw. kontextbezogene Bedingung einer voll rechtskräftigen Entscheidung bezeichnen. Die Zweite bezieht sich auf die Beschaffenheit der Entscheidung, die Dritte auf die Person des Entscheiders, so dass man einerseits von der objektiven, andererseits von der subjektiven Bedingung der vollen Rechtskraft einer Entscheidung sprechen könnte. Die letzte, subjektive Bedingung ist in einem bestimmten Sinne absolut, denn ohne sie tritt überhaupt keine Rechtskraft ein. Die zwei Ersten, also die objektive und die situative Bedingung, sind relativ, denn von ihnen hängt nur ab, ob es zur vollen oder zur beschränkten Rechtskraft kommt.2810 III. Verkomplizierungen Das klassische Modell beruht jedoch auf einer Sicht des Verfahrensgangs, die wohl nicht einmal den Verhältnissen des 19. Jahrhunderts voll gerecht wurde, vom heutigen Strafverfahren ganz zu schweigen. 1. Was das situative Merkmal, die Hauptverhandlung, anbelangt, wurde dies in Deutschland am augenfälligsten bereits beim Problem der Rechtskraft des Strafbefehls, wozu es eine über hundertjährige Kontroverse gab. Bei dieser Erledigungsform ergeht eine gerichtliche Sachentscheidung ohne Hauptverhandlung, was nach konsequenter Anwendung des herrschenden Modells zum Ergebnis der beschränkten Rechtskraft führt. Diese Lösung, die in der Tat lange Zeit von der Rechtsprechung vertreten wurde, wurde in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts endgültig verabschiedet (näher u. F. II. 9. [S. 810 ff.]). 2810 Und dies auch dann, wenn sie gleichzeitig fehlen, also wenn der Richter vor der Hauptverhandlung eine Prozessentscheidung trifft (Nichteröffnungsbeschluss aus prozessualen Gründen) – näher u. F. II. 2. (S. 788 ff.).

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2. Auch die für das objektive Erfordernis der Sachentscheidung als zentral ausgearbeitete Überwindung der absolutio ab instantia wurde von drei Seiten in Frage gestellt. a) Zunächst kam es im Zuge der Hinwendung zu der von Zivilprozessrechtlern entwickelten Lehre vom Prozessrechtsverhältnis (hierzu o. Teil 1 Kap. 2 C. II. 1. [S. 136 ff.]) zu einer Aufwertung der bis dahin eher undeutlich erfassten Kategorie der Prozessvoraussetzungen bzw. Prozesshindernisse, und damit zum Zugeständnis, dass auch im Hauptverfahren neben Freispruch und Verurteilung der Einstellung immer noch breiter Raum zukommen musste. Dies wird bereits an einem Vergleich zwischen dem heutigen § 260 Abs. 3 StPO2811 und der entsprechenden Vorschrift der RStPO von 1877 deutlich, die nur den fehlenden Strafantrag als Grund für ein Einstellungsurteil zu kennen schien.2812 Es ist bemerkenswert, dass das Gesetz nur den fehlenden Strafantrag erwähnt, und dies nicht nur, weil es bei ihm gerade um eine der dem materiellen Recht näher stehenden Prozessvoraussetzungen geht,2813 sondern insbesondere weil eine solche Einstellung voraussetzt, dass das Gericht die prozessuale Tat umfassend, also auch unter dem Gesichtspunkt eines Offizialdelikts mitgeprüft haben muss.2814 Es wird beispielsweise wegen gefährlicher Körperverletzung (§ 224 StGB) Anklage erhoben, die Offizialdelikt ist, die Hauptverhandlung ergibt aber, dass kein gefährliches Werkzeug usw. gegeben war, so dass im Ergebnis nur die Körperverletzung nach § 223 StGB verwirklicht sei, die aber Antragsdelikt ist (§ 230 Abs. 1 S. 1 StGB); ein Antrag ist nicht gestellt worden. Die Einstellung kann nur unter der Voraussetzung erfolgen, dass das Gericht vom Vorwurf des Offizialdelikts implizit freispricht. Die Entscheidung ist deshalb zum großen Teil eine echte Sachentscheidung. Die RStPO geht also davon aus, dass die wahren Prozessentscheidungen bereits vor der Hauptverhandlung ergehen.2815

2811 „Die Einstellung des Verfahrens ist im Urteil auszusprechen, wenn ein Verfahrenshindernis besteht“. 2812 „§ 259. (I) Die Hauptverhandlung schließt mit der Erlassung des Urtheils. Das Urtheil kann nur auf Freisprechung, Verurtheilung oder Einstellung des Verfahrens lauten. (II) Die Einstellung des Verfahrens ist auszusprechen, wenn bei einer nur auf Antrag zu verfolgenden strafbaren Handlung sich ergiebt, daß der erforderliche Antrag nicht vorliegt, oder wenn der Antrag rechtzeitig zurückgenommen ist.“ 2813 Über deren Einordnung bekanntlich auch Streit besteht, s. Kargl, NK-StGB Vor §§ 77 ff. Rn. 13 ff. m.w. Nachw. 2814 Richtig Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 226, der die Einstellung nach § 260 Abs. 2 RStPO als „verkappte Sachentscheidung“ bezeichnet; ders. JW 1928, S. 2249: „Sachentscheidung mit Vorbehalt“. 2815 Ebenso Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 227; ders. JW 1928, S. 2249. Bezeichnend auch Meves, GA 1888, S. 193 f., der meint, Urteile seien diejenigen Entscheidungen, die auf Grund einer Hauptverhandlung ergehen und die eine Antwort auf die Schuldfrage geben. Einstellungsurteile kannte er somit nicht. – Deshalb kam es wegen der Rezeption der Kategorie der Verfahrenshindernisse zu der Diskussion, ob Einstellungen wegen anderer Verfahrenshindernisse in Beschluss- oder (in Analogie zu § 260

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b) Zudem wurde die Möglichkeit geschaffen, dass das Gericht nach Eröffnung des Hauptverfahrens dem Sachurteil sogar ohne Verfahrenshindernisse aus dem Weg geht, nämlich mittels eines bloß auf Gründen der Opportunität basierenden Beschlusses (etwa § 153 Abs. 2, § 153a Abs. 2, § 153b Abs. 2, § 154 Abs. 2, § 154a Abs. 2, § 154b Abs. 4 StPO). c) Und zuletzt wurde sogar der Staatsanwaltschaft für bestimmte Fälle eine ähnliche Befugnis zuerkannt. Unter Einschränkung des in § 156 StPO vorgesehenen sog. Immutabilitätsprinzips 2816 wurde ihr insbesondere, aber nicht nur in Staatsschutzsachen das Recht zuerkannt, die Klage auch nach Beginn der Hauptverhandlung aus Gründen der Opportunität zurückzunehmen (§ 153c Abs. 4, 5, § 153d Abs. 2, § 153f Abs. 3 StPO). 3. Und mit diesem letzen Umstand kommt man auch zu der Fragwürdigkeit des subjektiven Erfordernisses einer gerichtlichen Entscheidung. Nicht nur wird der Staatsanwaltschaft in den gerade genannten Fällen das Recht gewährt, das Verfahren nach eigenem Gutdünken dem Gericht zu entziehen, sondern es entstehen auch in zwei weiteren Hinsichten Anlässe zu Zweifeln. a) Der Staatsanwaltschaft werden zahlreiche Möglichkeiten eines Absehens von der Anklageerhebung oder von der Verfolgung2817 aus Opportunitätsgründen zugesprochen (insb. § 153 Abs. 1, § 153b Abs. 1, § 153c Abs. 1, § 153d Abs. 1, § 153f Abs. 1, 2 StPO). Entgegen der gängigen entwicklungsgeschichtlichen Darstellung, die in der idyllisch-naiven Vorstellung der sich für ein striktes Legalitätsprinzip entscheidenden Väter der RStPO ihren Ausgang nimmt, ist dies kein neues Problem. Die deutsche Entscheidung für ein Legalitätsprinzip war vielmehr eine bewusste Abkehr von der französischen Tradition, die der StaatsanAbs. 2 RStPO) in Urteilsform zu ergehen hätten (näher Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 226 f., im Sinne der ersten Auffassung); s. a. Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 161 f. 2816 Vgl. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 15 Rn. 28. 2817 Einen praktischen Unterschied zwischen beiden Formulierungen gibt es nicht; zwar dürfte es der Absicht des Gesetzgebers entsprechen, mit der Bezeichnung „Absehen der Erhebung der öffentlichen Klage“, die bezeichnenderweise in § 153a Abs. 1 StPO auftaucht, das Erfordernis einer Durchermittlung bis zum genügenden Anlass zur Klageerhebung i. S. d. § 170 Abs. 1 StPO, also zum hinreichenden Verdacht, zur Anklagereife gemeint zu haben, was beim bloßen „Absehen von der Verfolgung“, wovon in § 153 Abs. 1 StPO die Rede ist, nicht erforderlich ist (BT-Drs. 8/976, S. 40; Schroeder, FS Peters I, S. 415; Kurth, NJW 1978, S. 2483). Aber auch in § 153b Abs. 1 StPO wird von Absehen von der Anklageerhebung gesprochen, ohne dass die h. A. ein derartiges Durchermitteln bis zum hinreichenden Verdacht für erforderlich hält (s. Weßlau, SKStPO § 153b Rn. 5 m.w. Nachw.). Es ist vielmehr eine Frage der Auslegung der einzelnen Einstellungsvorschrift, welche Anforderungen man an den Stand der Ermittlungen zu stellen hat, so dass beispielsweise unabhängig vom Wortlaut des § 153a Abs. 1 StPO gute Gründe dafür sprechen, Durchermittlung bis zur Anklagereife zu verlangen (Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 179; Weßlau, SK-StPO § 153a Rn. 25), wenn auch die Praxis hier bekanntlich anders vorgeht (am klarsten LG Bonn NJW 2001, 1736 [1738], in der sogar Rechtsfragen offen gelassen werden; selbe Feststellung in Hellmann, MDR 1989, S. 952). Zum Ganzen ähnl. wie hier Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 143 f.

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waltschaft die Befugnis zum sog. classement sans suite zumisst,2818 und die auch der vor dem Inkrafttreten der RStPO in Preußen bestehenden Rechtslage zugrunde lag.2819 Wenn man sich daran erinnert, dass nicht erst die Hauptverhandlung, sondern bereits das Ermitteln, sogar das Verdächtigen, ein rechtfertigungsbedürftiges Übel darstellt, das dem Betroffenen gegenüber begründet werden muss, liegt die Frage nahe, ob der Staatsanwaltschaft überhaupt die Macht verliehen werden darf, durch die Opportunitätseinstellungen, die qua nicht-richterliche Entscheidungen im Vorverfahren der Rechtskraft nicht fähig sein sollen, den Bürger unter Verdacht zu bringen, diesen Verdacht aber ungeprüft zu lassen (der somit weder bestätigt noch weggeräumt werden kann). b) Die Grenzen des tradierten Modells werden durch die seit 1974 bestehende Befugnis der Staatsanwaltschaft, im Vorverfahren sogar Sanktionen zu verhängen (§ 153a Abs. 1 StPO), vollends gesprengt. Dies wird vom Gesetzgeber selbst eingeräumt, der deshalb den Strafklageverbrauch in einer besonderen Bestimmung regelte (§ 153a Abs. 1 S. 5 StPO).2820 IV. Zwischenfazit Das herkömmliche „klassische“ Modell der strafklageverbrauchenden Entscheidungen beruht auf einer Unterscheidung von gerichtlichen Sachentscheidungen in der Hauptverhandlung, die in volle Rechtskraft erwachsen, gerichtlichen Entscheidungen vor der Hauptverhandlung, die in beschränkte Rechtskraft erwachsen, und zuletzt nicht-gerichtlichen Entscheidungen, die jederzeit abänderbar sind. Das Modell besteht also strukturell aus der Kombination dreier Merkmale: Sachentscheidung, Hauptverfahren, Gericht. Noch unabhängig davon, ob dieses Modell in seinen Grundlagen überzeugend und in seinen Ergebnissen zutreffend ist, konnte bereits festgestellt werden, dass sich die Wirklichkeit in dieses herrschende Konzept nicht so einfach einordnen lässt.

C. Rechtfertigung und Kritik des „klassischen“ Konzepts Bei dieser Beschreibung des herrschenden Modells und seiner Grenzen kann es selbstverständlich nicht verbleiben. Man wird auch nach den hinter diesem Modell stehenden, unausgesprochenen oder impliziten Gründen fragen müssen, und erst eine kritische Überprüfung dieser Gründe wird uns in die Lage versetzen, die gegebenenfalls vorhandenen Mängel als Impulse zur Entwicklung eines eigenen, alternativen Modells zu verwerten. 2818 Garraud, Traité I, Rn. 143; zum heutigen Stand Guinchard/Buisson, Procédure pénale, Rn. 1475 ff. 2819 Ausf. Dettmar, Legalität, S. 39 ff. 2820 Neu-Berlitz, Rechtskraft, S. 10: „neuartige Erscheinung“; Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 293: „Abkehr von der Tradition“.

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Es werden zwei Gruppen von Begründungen dargestellt, einerseits konstruktivistisch orientierte, die nicht einmal als Begründungen im eigentlichen Sinne bezeichnet werden dürften (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. II. 1. [S. 141 ff.]), andererseits die normativ orientierten. An ihnen soll nicht nur interne Kritik, d.h. Kritik, die die Thesen an Anforderungen innerer Konsistenz und Widerspruchsfreiheit misst, geübt werden. In erster Linie werden sie an der o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 6. d) (S. 301, 310 ff.) entwickelten Prozesstheorie und der daraus abgeleiteten Rechtskraftlehre (o. Kap. 1 D. [S. 371 ff.]) gemessen. I. Begriffskonstruktivistisches Modell: Konsumption des Strafklagerechts als eines Rechts auf gerichtliche Sachentscheidung in einer Hauptverhandlung Sehr naheliegend erscheint es, den Gedanken des Verbrauchs des Strafklagerechts beim Wort zu nehmen. So erklärt Rocco: „Jedes Recht im subjektiven Sinne hat naturgemäß seinen Anfang, seine Entwicklung und sein Ende; Geburt, Leben und Tod. Nicht verschieden verhält es sich beim Recht der Strafklage. Es entsteht wegen der rechtlich relevanten Tatsache der Begehung einer Straftat, es lebt fort mittels und auf Grund des Strafverfahrens und es stirbt eines natürlichen Todes durch das Urteil.“ 2821 Man könnte diesen Grundgedanken verfeinern, wenn man das Strafklagerecht als prozessualen Anspruch des klagenden Staates auf ein gerichtliches Urteil über seinen möglichen materiellen Strafanspruch definiert.2822 Dieser prozessuale Anspruch sei erst verbraucht, wenn es zu einem gerichtlichen Sachurteil kommt. Man könnte auch sagen, dieser prozessuale Anspruch beinhalte ferner das Recht, seine Behauptungen den besten von der jeweiligen Prozessordnung vorgesehenen Bedingungen der richterlichen Kognition unterwerfen zu können, und damit käme man zum Erfordernis der Hauptverhandlung. Diese Konstruktion ist indes – wie regelmäßig auch jede Konstruktion, s. o. Teil 1 Kap. 2 C. II. 1. (S. 142 f.) – keine Begründung, sondern eine schlichte Neubeschreibung des klassischen Modells. Warum man den Begriff der Strafklage so und nicht anders konstruiert,2823 wird nicht dargelegt. Bemerkenswert ist trotzdem, dass diese Beschreibung nicht aus einer objektiven oder neutralen Perspektive erfolgt, sondern aus der Perspektive des Klägers, also des verfolgenden Staates. Dass und weshalb es auf diese Perspektive ankommen muss, wird jedoch nicht dargelegt. Versucht man, dieses vermisste Argument nachzuliefern, hat man die Ebene der bloßen Konstruktion bereits hinter sich gelassen. 2821

Rocco, Cosa giudicata I, S. 193; ähnl. Passagen bei Binding, Strafurteil, S. 314 f. Dem sehr nahe in der Tat Binding, Handbuch, S. 809: „Klage als Anspruch auf Urteil“; Bettiol, Correlazione, S. 12. 2823 Für ein Beispiel einer alternativen Konstruktion s. u. E. III. 2. e) dd) (S. 755 und Fn. 2994), nämlich Cortés Dominguez, der die Klage als Recht auf ein Hauptverfahren definiert. 2822

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II. Normative Begründungsansätze Der Schritt auf die Ebene des Normativen, d.h. auf die Ebene der Gründe erfolgt also auch hier so gut wie von selbst. Es soll jetzt versucht werden, Gründe anzuführen, die für die Notwendigkeit der drei o. B. II. (S. 707) als ausschlaggebend ausgearbeiteten Voraussetzungen einer voll rechtskraftfähigen Entscheidung sprechen, nämlich Hauptverhandlung, Sachentscheidung und Gericht. Da die Relevanz dieser drei Merkmale, so einleuchtend wie sie nur ist, dennoch soweit ersichtlich niemals in der oben dargebotenen Schlichtheit dargestellt worden ist, findet man nicht immer eine gesonderte Begründung für die Notwendigkeit des einen isolierten Erfordernisses. Unter Inkaufnahme gewisser Überschneidungen soll hier der Versuch unternommen werden, die in der bisherigen Diskussion vorhandenen Sacherwägungen dahingehend zu ordnen, je nachdem, mit welchen der drei Bedingungen sie in erster Linie zu tun haben. Diese Sacherwägungen sollen im Lichte der gerade beschriebenen Schwierigkeiten (o. B. III. [S. 707 ff.]), insbesondere auch der hier entwickelten Prozesstheorie (o. Teil 1 Kap. 2 C., insb. VI. 6. [S. 301 ff.]) und Rechtskraftlehre (o. Kap. 1 D. [S. 371 ff.]), einer kritischen Prüfung unterzogen werden. 1. Das situative Erfordernis: Hauptverhandlung „Die Kraft der Urteile beruht wesentlich auf der Bedeutung der Hauptverhandlung.“ 2824 Nach der ursprünglichen Gestalt des klassischen Modells sollten nur die in den Hauptverhandlungen gewonnenen prozesserledigenden Entscheidungen in volle Rechtskraft erwachsen. Es fragt sich jetzt, warum. In der ausländischen Literatur findet man nicht selten ein formales Argument: Das Vorverfahren sei bloßes Verwaltungsverfahren, die also in dessen Rahmen erfolgende Prozessbeendigung deshalb materialiter ein Verwaltungsakt.2825 Verwaltungsakte seien grundsätzlich prekär und veränderbar. Hier soll nicht geprüft werden, ob die Einstufung der außerhalb der Hauptverhandlung ergehenden Prozesserledigung als Verwaltungsakt gemessen an dem Begriff des § 35 VwVfG zutreffend ist, zumal man sich immer noch fragen könnte, ob die Verfechter dieser These nicht von einem abweichenden, weil auch für abweichende Zwecke gebildeten Begriff des Verwaltungsakts ausgehen. Dieses Argument soll an dieser Stelle bloß deshalb beiseitegeschoben werden, weil es im Grunde das situative Erfordernis in dem subjektiven aufgehen lässt. Bei der Prüfung des subjektiven Erfordernisses wird man zu ihm zurückkommen (u. 3. [S. 721 ff.]). Die wichtigste Begründung für die Notwendigkeit einer Hauptverhandlung als situatives Erfordernis einer voll rechtskräftigen Entscheidung ist, dass nur eine 2824 2825

Peters, JR 1970, S. 392; s. a. RGSt 15, 112 (113). Bettiol, Correlazione, S. 91 ff.; Baffi, RIDP 1949, S. 688.

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unter solchen Umständen gewonnene Entscheidung die Garantie einer erschöpfenden Kognition in tatsächlicher Hinsicht bietet, m. a. W.: Nur die Hauptverhandlung stellt sicher, dass die Entscheidung den grundlegenden Prozesszwecken der Wahrheit und Gerechtigkeit entspricht.2826 „Beansprucht dieser Satz (der ne bis in idem-Satz, L.G.) seine Geltung im positiven Recht, so stellt er auch an dieses die Anforderung, daß das Verfahren so geordnet ist, daß es den Straffall so erschöpfend, als menschlich möglich ist, behandelt.“ 2827 Kehrseite davon ist die Annahme, dass Entscheidungen, die nur auf einer eingeschränkteren, wie man sagt: „summarischen“ Kognition beruhen, einer entsprechend schwächeren Rechtskraft zugänglich seien. Dies ist vor allem beim Nichteröffnungsbeschluss gem. § 204 StPO der Fall, der nach Aktenlage gefällt wird. Und dasselbe Argument hat über hundert Jahre lang die These der schwächeren Rechtskraft des Strafbefehls gestützt (ausf. u. F. II. 9. [S. 810 ff.]): Der Strafbefehl ergehe ohne Hauptverhandlung, d.h. ohne umfassende Kognition, weshalb er auch nicht der Verfolgung aus einem die Strafbarkeit erhöhenden, anderen Gesichtspunkt entgegenstehe.2828 Diese Ansicht leuchtet auf den ersten Blick ein. Nach näherer Überlegung erweist sich aber, dass sie nicht richtig sein kann. Ihr Grundmangel ist, dass sie einseitig aus der Perspektive der verfolgenden Gesellschaft formuliert wird; in den Kategorien der o. Teil 1 Kap. 2 C. III. 1. (S. 157 ff.) entfalteten Strafprozesstheorie verbleibt diese Ansicht auf der ersten Rechtfertigungsstufe. Denn der Staat bzw. die verfolgende Gesellschaft haben ein Interesse daran, einerseits nicht den Falschen zu bestrafen, denn regelmäßig wird eine Bestrafung des Falschen der allgemeinen Abschreckung nicht dienlich sein (o. Teil 1 Kap. 2 C. III. 3. [S. 181 ff.]), andererseits nicht den Richtigen straflos ausgehen zu lassen, da auch dies dem Zweck der allgemeinen Abschreckung nicht förderlich ist. Der Beschuldigte dagegen hat kein Interesse daran, dass die Wahrheit ermittelt wird, sondern nur das Recht, nicht bestraft zu werden, es sei denn, dass er tatsächlich schuldig ist (o. Teil 1 Kap. 2 C. III. 3. [S. 182 f.]). Es ist also Sache der Gesellschaft, darüber zu wachen, dass sie ihr Interesse nicht verfehlt; und auch Sache der Gesellschaft, sicherzustellen, dass sie bei der Verfolgung ihrer Interessen die Rechte der Unschuld nicht verletzt. Macht man die Abänderbarkeit der prozess2826 Siehe etwa Schanze, ZStW 4 (1884), S. 460; G. Schmidt, JZ 1966, S. 92; Hanack, FS Gallas, S. 349; Fezer, Verhandlung, S. 11 f., 30 f. (auf Grundlage einer „dialektischen“ Theorie der Wahrheitsgewinnung); ders. FS Baumann, S. 401; Achenbach, ZRP 1977, S. 88; Loos, JZ 1978, S. 599 f.; Geppert, Unmittelbarkeit, S. 140 f.; Schaal, GS Karlheinz Meyer, S. 441; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 331 ff.; BGHSt 38, 331 (336); BVerfGE 65, 377 (383); 74, 358 (372); BVerfG NJW 1995, 2024 (2025). 2827 M. Berner, Ne bis in idem, S. 3. 2828 Auch heute, nach Aufgabe dieser These durch die Rechtsprechung, schleicht sich das Argument durch eine Hintertür ein, wenn auch nicht mehr bei der Begründung der „eingeschränkten Rechtskraft“, sondern bei der erleichterten Wiederaufnahme gem. § 373a StPO; näher u. Kap. 6 D. VI. 4. (S. 989 ff.).

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abschließenden Entscheidung von der Frage abhängig, wie sorgfältig der Staat bzw. die Gesellschaft ihre Interessen verfolgen und ihre Pflichten gegenüber dem Beschuldigten erfüllen, dann heißt das, dass die Folgen der staatlichen Sorglosigkeit allein der Beschuldigte zu tragen hat. Je leichtfertiger die Rechtsordnung mit der Verhängung von Strafen umgeht, desto öfter wird es ihr gestattet, den Beschuldigten noch einmal durch einen erneuten Prozess in Anspruch zu nehmen.2829 Wenn überhaupt, sollte diese Sorglosigkeit den Beschuldigten, und nicht den Staat in die Lage versetzen, die Auflösung der Entscheidung und ihre Ersetzung durch eine bessere zu fordern.2830 Bei gerichtlichen Sachentscheidungen, die ohne Hauptverhandlung ergehen, also im Fall des Strafbefehls, könnte man gegen diese Erwägungen anführen, es bestehe immer noch die Möglichkeit des Einspruchs des Beschuldigten, mit der er die Durchführung einer Hauptverhandlung erzwingen könne. Dies wäre indes eine Fehldeutung der Funktion des Einspruchs für die Legitimierung des Strafbefehls. Der Beschuldigte hat keine Pflicht, zu seiner Verurteilung beizutragen, auch dann nicht, wenn sie der Wahrheit und Gerechtigkeit entspricht, sondern nur das Recht, sich gegen die der Wahrheit und Gerechtigkeit widersprechende Verurteilung zur Wehr zu setzen. Die Einspruchsbefugnis soll aus dem Betroffenen keinen Wahrer des Strafanspruchs machen. Aus ihrer Nichtgeltendmachung dürfen deshalb keine Schlussfolgerungen in dem Sinne gezogen werden, dass der Beschuldigte für unzureichende Kognition in Anspruch genommen werden darf. Die wahre Rolle der Einspruchsmöglichkeit im Rahmen der Rechtskraftlehre wird sich uns aber erst u. F. II. 9. (S. 810 ff., 813 f.) näher erschließen. Hier ist nur hervorzuheben, dass die Einspruchsmöglichkeit vielmehr die gerade behauptete These bestätigt, dass das Argument der schlechteren Kognitionsmöglichkeiten eher in die umgekehrte Richtung, nämlich zugunsten des Betroffenen, von Relevanz sein muss. Hätte er nicht einmal die Möglichkeit, ein die Richtigkeit der Entscheidung verbürgendes Verfahren zu erzwingen, dann wäre es äußerst schwer, ihm gegenüber zu begründen, dass er diese Entscheidung trotzdem zu akzeptieren hat. Nicht nur könnte das Schuldprinzip öfter verletzt werden. Die dadurch bedingte Erschwerung des rechtlichen Gehörs würde zudem wohl ein fundamentales Prinzip der Verfahrensgerechtigkeit verletzen (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 2. d) cc) [S. 256]), und sie ist es vor allem, die die Rechtskraft gegen den Betroffenen erklärt (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 2. d) cc) [S. 258], Teil 2 Kap. 1 D.

2829 Ähnl. bereits Rabe, NJW 1952, S. 1150; Jescheck, JZ 1957, S. 30; Schorn, Strafbefehlsverfahren, S. 105; Gantzer, Rechtskraft, S. 156 f.; Erbe, Strafbefehl, S. 197 f. – alle im Zusammenhang der Kritik an der beschränkten Rechtskraftwirkung des Strafbefehls. 2830 Das wird auch Folgen bei der Wiederaufnahme des Verfahrens haben, insbesondere für das Verständnis der Begriff der Eignung und der Neuheit bei der Wiederaufnahme eines Strafbefehls, s. u. Kap. 6 C. II. 3. b) cc), dd) (S. 921 f., 926 f.).

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[S. 372]). Gleichzeitig wird klar, dass sich der Staat aus der bequemen Wahl für einen weniger sicheren Lösungsweg keine neuen Rechte zusprechen darf. Als erstes wichtiges Fazit steht damit fest, dass die hier nicht in Zweifel gezogene Funktion der Hauptverhandlung, die bestmögliche Garantie für ein in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht richtiges Verfahrensergebnis zu gewähren, keinen Anhaltspunkt dafür bietet, beim Fehlen dieser Garantie an der Rechtskraft dieses Ergebnisses zulasten des Beschuldigten (aber durchaus zu seinen Gunsten) Abstriche zu machen. 2. Das objektive Erfordernis: Sachentscheidung „Res iudicata dicitur, quae finem controversiarum pronuntiatione iudicis accipit: quod vel condemnatione vel absolutione contingit.“ 2831 „Eine Konsumtion der durch eine strafbare Handlung dem Staat oder dem Verletzten erwachsenen strafrechtlichen Klage findet erst durch das Urtheil statt.“ 2832 „Die Anwendung dieses Grundsatzes (ne bis in idem, L.G) setzt aber den Verbrauch der Strafklage durch sachliche Erledigung derselben voraus“.2833 Prozessentscheidungen seien allesamt „der Rechtskraft schlechterdings unfähig“.2834 Es fragt sich jetzt, auf welchen Gründen diese, wie man sieht, seit Jahrhunderten vertretene Annahme, für die man unzählige weitere Nachweise angeben könnte,2835 beruht. a) Das am nächsten liegende Argument würde das objektive Erfordernis in dem situativen aufgehen lassen. Im deutschen Recht wird nur über die Sache, also über die Schuld- und Straffrage, im Wege des Strengbeweises, also im Rahmen einer Hauptverhandlung entschieden. Für bloße Prozessfragen gilt der sog. Freibeweis – sie können etwa auch durch ein Telefonat des Richters geklärt wer2831

Dig. 42.1.1.pr.1; ausdrücklich zitiert in RG Rspr. 3, 479. Motive, in: Hahn/Mudgan, Materialien, S. 206. 2833 RGSt 32, 50 (51); s. a. RGSt 19, 227 (229). 2834 Binding, Strafurteil, S. 320. 2835 Hélie, Traité III, S. 546; Hommey, Chose jugée, S. 39 f.; Hasenbalg, Öffentliche Klage, S. 165; Hirtz, Chose jugée, S. 197 f.; Glaser, GrünhutZ 12 (1885), S. 315; Kroschel, GS 52 (1896), S. 410; Bennecke/Beling, Lehrbuch, S. 411; Binding, Strafurteil, S. 314, 320; Nagler, GS 90 (1924), S. 426; Schlosky, GA 1927, S. 286; Gantzer, Rechtskraft, S. 125 f.: „Ohne materiellrechtliche Prüfung kein Strafklageverbrauch!“ (S. 126); Gössel, Strafverfahrensrecht, S. 271; Neu-Berlitz, Bestandskraft, S. 6; J. Maier, Derecho procesal penal I, S. 627; Coffey, JSIJ 5 (2005), S. 140; Pfeiffer, StPO § 260 Rn. 3; Pfeiffer/Hannich, KK-StPO Einl Rn. 170; Meyer-Goßner, StPO Einl Rn. 172. Aus der deutschen Rspr. RG RSpr. 3, 479; RGSt 9, 324 (331); 26, 150 (151); 32, 50 (51); 67, 315 (316); BVerfGE 12, 62 (66); BGHSt 10, 104 (106); 18, 1 (5); 32, 209 (210); aus der amerikanischen Rspr. U.S. Supreme Court, United States v. Perez, 22 U.S. 579, 580 (1824); and. heute, s. u. x. Relativierend bereits Schanze, ZStW 4 (1884), S. 460; Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 84 ff.; für uneingeschränkte Rechtskraft auch nicht sachbezogener Entscheidungen De Luca, Giudicato, S. 3 f.; genauer u. F. II. 4. (S. 794 ff.), 5. (S. 806 ff.). 2832

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den.2836 Auch wenn diese Überlegung sicherlich bei der Fundierung des herrschenden Konzepts eine Rolle spielt, würde gegen sie all dasjenige sprechen, was wir gerade zur Kritik des situativen Erfordernisses geltend gemacht haben. Ferner ist es zumindest denkbar, Sachfragen ohne eine Hauptverhandlung und Prozessfragen nur innerhalb einer solchen zu klären, was belegt, dass beide Erfordernisse logisch voneinander unabhängig sind. Es empfiehlt sich deshalb, nach weiteren Argumenten für das Erfordernis einer Sachentscheidung zu suchen. b) Eine interessante Überlegung bietet Arndt, der den von ihm sog. Wahrspruchcharakter bestimmter richterlicher Entscheidungen bemüht, von dem im Anschluss (u. 3. [S. 722 ff.]) eingehender die Rede sein wird. Die „Rechtskraftfähigkeit ist mit der Beweiskraft einer Entscheidung verbunden, also dem Gültigkeitsgrad in der Wahrheitsfrage. Deshalb kann in einer Gerichtsbarkeit die Rechtskraft voll nur Urteilen und nur Urteilen, die eine Begründung in der Sache aussprechen, zukommen.“ 2837 Dies erscheint aber befremdlich. Solange Prozessvoraussetzungen eine tatsächliche Grundlage haben – was übrigens von der Rechtsprechung sogar als wesensnotwendig erklärt wird2838 –, kann man auch über sie Wahrsprüche fällen. c) Ein zweites mögliches Argument würde die Prozesszwecke der Wahrheit und Gerechtigkeit und die viel beschworene dienende Rolle des Prozessrechts als Mittel der Verwirklichung des materiellen Rechts in Erinnerung bringen. Erst in der Sachentscheidung, als Entscheidung über den materiellen Strafanspruch, erreiche das Strafverfahren seinen Zweck, das materielle Strafrecht zu verwirklichen. Bereits unsere Terminologie deutet auf einen derartigen Zusammenhang hin: Die Bezeichnung materielle Rechtskraft suggeriert, dass es um eine Entscheidung über den materiellrechtlichen Strafanspruch geht; die res, um die es bei der res iudicata geht, ist die Frage nach dem Bestehen oder Nicht-Bestehen des materiellen Strafanspruchs. „Wenn es keine Entscheidung gibt, kann die Strafklage noch nicht verbraucht sein, weil die Strafklage ihren Zweck nicht mittels des Verfahrens allein, sondern mittels des Verfahrens und der Entscheidung erreicht.“ 2839 „. . . Prozessurteile können nicht als Urteile im wahren und eigent2836 Etwa Eb. Schmidt, Kolleg Rn. 323; Fischer, KK-StPO § 244 Rn. 8 ff.; Kühne, LR-StPO Einl K Rn. 44, beide m. w. Nachw.; krit. Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 82 f.; Többens, NStZ 1982, S. 185 ff.; Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 389 f.; Roxin/ Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 22 Rn. 23 (alle bzgl. Prozessvoraussetzungen); Peters, Strafprozeß, S. 339 und Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 40 (bzgl. Beweisverboten). 2837 Arndt, FS Schmid, S. 23. 2838 BGHSt 24, 239 (240); 32, 345 (351: „Verfahrenshindernisse knüpfen an Tatsachen an.“); 45, 108 (111 f.); w. Nachw. bei Rieß, FS 50 Jahre BGH, S. 816 – die Formulierung, womit die Rechtsprechung in den zwei ersten zitierten Entscheidungen den Bestrebungen, bei rechtsstaatswidriger Verzögerung oder Provokation ein Prozesshindernis zu postulieren, eine Absage erteilte. Krit. zu dieser Begriffsbestimmung Schroeder, JuS 1997, S. 229. 2839 Rocco, Decisione giudiziaria penale, S. 69.

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lichen Sinne angesehen werden, denn sie berühren und erschöpfen nicht die Sache und erwachsen nicht in Rechtskraft . . .“ 2840 Auch dieses Argument überzeugt nicht. Nicht nur ist die in ihm zum Ausdruck kommende dienende Rolle des Strafprozessrechts aus Gründen, die man o. (Teil 1 Kap. 2 C. III. 2. [S. 167], VI. 2. c) [S. 241 f.], insb. d) cc) [S. 251 ff.) ausführlich entwickelt hat, fragwürdig. In ihm verkörpert sich eine weitere Unzulänglichkeit, die sich am besten dadurch erschließt, dass man sich an die für die moderne Rechtskraftlehre als zentral ausgearbeitete Überwindung der absolutio ab instantia erinnert. Was ist ungerecht an der absolutio ab instantia? Die o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 6. d) (S. 301 ff.), Teil 2 Kap. 1 D. (S. 371 ff.) entwickelten Prozess- und Rechtskrafttheorien liefern die Antwort ohne irgendwelche Zwischenschritte.2841 Auch dann, wenn man von der Vielzahl der mit der Instanzentbindung historisch verknüpften Nebenfolgen absieht,2842 in denen ihre praktische Bedeutsamkeit in erster Linie gelegen haben dürfte,2843 ist das Institut bereits per se problematisch: Denn es bedeutet, dass man demjenigen, der das Verfahren geduldet hat, den geschuldeten Ausgleich seiner endgültigen Rehabilitierung verweigert. Insofern liegt in ihr eine Art „Perpetuation des Anklagezustandes“ 2844 oder, etwas präzi2840

Bettiol, Correlazione, S. 12. Die zeitgenössische Literatur hat dieses Rechtsinstitut einem umfassenden Generalangriff unterworfen, der aber im Einzelnen aus teilweise zweifelhaften Argumenten bestand. Man sagte, die absolutio ab instantia bedeute eine Verletzung des Grundsatzes actore non probante reus absolvitur (Ringelmann, Entbindungen von der Instanz, S. 191; Scholz, NArchCrimR 15 [1834], S. 405; Siegen, Absolution von der Instanz, S. 117; Mittermaier, Lehre vom Beweise, S. 471 f.; Zachariä, Grundlinien, S. 261; Müller, ZdStV 1 [1844], S. 26; hierzu zu Recht krit. Kleinschrod, ArchCrimR 1 (1797), S. 173: Aus dem Grundsatz folge nicht, dass die Lossprechung definitiv sein müsse; krit. a. Bauer, Lossprechung von der Instanz, S. 325 f.); sie verletze die Unschuldsvermutung (Mittermaier, Lehre vom Beweise, S. 472; Zachariä, NArchCrimR 1839, S. 388; dagegen überzeugend Bauer, Lossprechung von der Instanz, S. 326 f.); es gebe kein Zwischending zwischen Schuldig und Unschuldig (Ringelmann, Entbindungen von der Instanz, S. 191; Scholz, NArchCrimR 15 [1834], S. 399; Zachariä, NArchCrimR 1839, S. 388; Elben, Entbindung von der Instanz, S. 68, 77; überzeugende Replik bei Bauer, Lossprechung von der Instanz, S. 328 ff.: es gebe die Ungewissheit); zuletzt rügte man die Härte und Ungerechtigkeit der mit ihr regelmäßig verbundenen Nachteile, wie Haft, Unfähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter und Würden usw. (Zachariä, NArchCrimR 1839, S. 390 ff.), was zwar nicht bestritten wird, aber nicht die absolutio ab instantia selbst, sondern die mit ihr kontingent verbundenen Rechtsfolgen betrifft. 2842 Zu ihnen Kleinschrod, ArchCrimR 1 (1797), S. 207 ff.; ders. NArchCrimR 5 (1822), S. 9 ff., demzufolge diese Mittel „nicht ungerecht oder für die Unschuld gefährlich“ seien: „Denn der von der Instanz Entlassene bleibt immer ein zweideutiger Mensch“ (S. 11); Siegen, Absolution von der Instanz, S. 120 f.; Elben, Entbindung von der Instanz, S. 39 f., 56 ff. 2843 So ausdrücklich Carmignani, KritZRGA 1 (1829), S. 361 bezüglich der Möglichkeit, den Losgesprochenen unter Aufsicht zu stellen. 2844 Henke, Handbuch IV, S. 734, S. 736 (Zitat); ähnl. etwa Siegen, Absolution von der Instanz, S. 118: „er muss immer zwischen Furcht und Hoffnung schwebend besor2841

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

ser, ein „endloser Verdacht“.2845 Sogar der prominenteste Verfechter des Instituts, Anton Bauer, räumte den „unsicheren Zustand“ ein, in den sie den Losgesprochenen entlasse, „worin er stets zwischen Furcht und Hoffnung schwebend, jeden Augenblick wieder in Untersuchung gezogen zu werden besorgen muss“.2846 In Bauers Rechtfertigung kommt das Entscheidende klar zum Vorschein: Diese Belästigung sei „blos eine natürliche Folge des ungetilgt gebliebenen dringenden Verdachts und fällt dem Staate nicht zur Last“ 2847 – worin ersichtlich wird, dass die absolutio ab instantia gerade davon lebt, dass trotz der Durchführung eines Verfahrens ein ungetilgter Verdacht für fortbestehend erachtet wird.2848 Deshalb forderten die Väter des reformierten Prozesses, Prozesse sollten mit Freisprüchen oder Verurteilungen enden; nur für Letztere ist Gewissheit vonnöten, für Erstere reicht bereits der Zweifel. c) Es lohnt sich aber zu fragen, ob die o. B. III. (S. 707 ff.) beschriebenen Entwicklungen, namentlich die Durchsetzung der Lehre von den Prozesshindernissen und die gesetzliche Anerkennung des Einstellungsurteils (§ 260 Abs. 3 StPO) einerseits, die vielen auch für das Hauptverfahren geltenden gerichtlichen und sogar staatsanwaltschaftlichen Einstellungsmöglichkeiten aus Opportunitätsgründen andererseits, nicht dieselbe Ungerechtigkeit verkörpern. (1) Dass dies bei einer einseitigen, über den Kopf des Angeklagten hinweg beschlossenen Einstellung des Verfahrens aus Gründen des öffentlichen Interesses der Fall ist, leuchtet ohne Weiteres ein. Deshalb macht das Gesetz die Zustimmung des Betroffenen zur Voraussetzung vieler Einstellungsentscheidungen (§ 153 Abs. 2 S. 1; § 153a Abs. 2 S. 1; § 153b Abs. 2 StPO), die insofern als Vergen, dass der peinliche Process wider ihn erneuert werde“; Scholz, NArchCrimR 15 (1834), S. 400: „Aussetzung des Verfahrens, ein einstweiliges Beruhenbleiben des Untersuchungsprozesses, bis der Staat bessern Beweis der Schuld zu erbringen, resp. der Angeklagte das gegen ihn Vorgenommene zu entkräften im Stande seyn werde“; S. 411: „Umstand, daß der beschuldigte aber nicht freigesprochene Bürger in der That sich in fortwährender Untersuchung befindet . . .“; Zachariä, NArchCrimR 1839, S. 387 f.: Die absolutio ab instantia „läßt theils die Sache ganz unentschieden, ist also kein Urtheil; theils perpetuirt sie den Stand der Anschuldigung und kann mithin kein Enderkenntnis genannt werden; theils spricht sie nicht wirklich los, sondern verurtheilt den Angeklagten indirect zu lebenslänglicher Untersuchung, sobald der Richter irgend Stoff zur Fortsetzung derselben erhalten werde“; Müller, ZdStV 1 (1844), S. 19. Krit. zu dieser Beschreibung Bauer, Lossprechung von der Instanz, S. 307; Replik bei Müller, ZdStV 1 (1844), S. 19 ff. 2845 Scholz, NArchCrimR 15 (1834), S. 412. 2846 Bauer, Lossprechung von der Instanz, S. 340; ähnliche Beschreibung bei Kleinschrod, ArchCrimR 1 (1797), S. 217 f. 2847 Bauer, Lossprechung von der Instanz, S. 340; noch weiter geht Kleinschrod, ArchCrimR 1 (1797), S. 174: Der Verdacht entstehe meistens durch die Schuld des Losgesprochenen. 2848 Siehe genauso die Begriffsbestimmung von Elben, Entbindung von der Instanz, S. 47: Die absolutio ab instantia „ist das richterliche Urtheil, welches den Angeschuldigten von einer Strafe frei spricht, den vorhandenen Verdacht für nicht getilgt . . . ausspricht“.

4. Kap.: Die erste Verfolgung

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zicht auf sein individuelles Rehabilitierungsrecht gedeutet werden kann (näher u. F. 3. [S. 788 ff.]). Dies ist aber noch lange nicht bei allen Einstellungsentscheidungen im Hauptverfahren der Fall (§ 153c Abs. 4, § 153d Abs. 4, § 153f Abs. 3, § 154 Abs. 2, § 154a Abs. 2, § 154b Abs. 4 StPO). In allen solchen Fällen lebt in der Tat die absolutio ab instantia fort, und es kann gut sein, dass die in ihr seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder hervorgehobene Ungerechtigkeit auch diesen Opportunitätsvorschriften anhaftet. (2) Dies festzuhalten, ist wichtig, aber ungenügend. So radikal wie sich dies auch anhört: Auch bei Einstellungsurteilen wegen Prozesshindernissen verhält es sich nicht anders. Dagegen könnte man anführen, dass in der Konstellation eines Verfahrenshindernisses bereits von Gesetzes wegen keine Sachentscheidung hätte gefällt werden können. Damit liege die Sachlage völlig anders als bei den Opportunitätseinstellungen, denn bei ihnen bestehe durchaus diese Möglichkeit; es hänge nur vom Willen der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts ab, ob es zur Sachentscheidung kommen wird oder nicht. Dies mag zwar aus staatlicher Perspektive richtig sein. Aus einem staatsbezogenen Blickwinkel leuchtet die herrschende Auffassung ein: „Dem Kläger würde Unrecht geschehen, wenn er seines Klagerechts beraubt würde, ohne dass der Klagegegenstand selbst zur Aburteilung gestanden hätte“.2849 Auf Grundlage der hier entwickelten Rechtskraftlehre geht es aber in erster Linie um das Rehabilitierungsrecht des Verdächtigten. Seine Perspektive dürfte deshalb nicht unberücksichtigt bleiben. Und aus seiner Perspektive ist es grundsätzlich so – für die wichtigen Ausnahmen s. u. F. II. 4. (S. 794 ff.) –, dass zwischen der Konstellation einer opportunitätsbezogenen Einstellung in der Hauptverhandlung und eines Einstellungsbeschlusses wegen Prozesshindernissen gem. § 260 Abs. 3 StPO keine wesentlichen Unterschiede bestehen. Am besten lässt sich dies durch einen Fall aus der Rechtsprechung verdeutlichen, in dem wegen eines fehlerhaften Eröffnungsbeschlusses ein Verfahren trotz achttägiger Hauptverhandlung eingestellt wurde.2850 Folge davon war, dass der Betroffene nicht vor einem Neuanfang geschützt war. Mag sein, dass es im Fall um eine „indiskutable strafprozessuale Fehlentscheidung“, um einen „Verfahrensverstoß, wie er gröber nicht gedacht werden kann“, ging;2851 auch diejenigen, die eine Zurücknehmbarkeit des Eröffnungsbeschlusses befürworten, mussten dem Landgericht ihre Zustimmung dahingehend versagen, dass es diese Rücknahme erst nach begonnener Hauptverhandlung vorgenommen hat.2852 Man 2849

Bennecke/Beling, Lehrbuch, S. 411. LG Nürnberg-Fürth NJW 1983, 584. 2851 K. Meyer, JR 1983, S. 258; krit. auch Rieß, NStZ 1983, S. 247 ff.; Krack, Rehabilitierung, S. 65 ff.; LG Lüneburg NStZ 1985, 41. 2852 Ulsenheimer, NStZ 1984, S. 445; Hohendorf, NStZ 1985, S. 402; Hecker, JR 1997, S. 7. 2850

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

sollte sich aber fragen, warum es einen Unterschied machen soll, falls man nach achttägiger Hauptverhandlung gemerkt hätte, der Eröffnungsbeschluss würde fehlen oder wäre fehlerhaft, und man das Verfahren unabhängig oder sogar gegen den Willen des Beschuldigten einstellen würde. Vielleicht wären noch mehr Beweise zu erheben, vielleicht wären noch eine Vielzahl weiterer Tage erforderlich bis zur Spruchreife. Trotzdem wirkt es befremdlich, dass sich der Staat, der seinen eigenen Fehler erst spät merkt, dem Betroffenen ein zweites Verfahren zuzumuten traut. Verweigert man dem Angeklagten das Sachurteil (im Einzelfall dürfte es sogar um einen Freispruch gegangen sein2853), sollte man ihm wenigstens die Sicherheit geben, auf ewig in Ruhe gelassen zu werden. Die herrschende Auffassung, die nur Sachentscheidungen an der Rechtskraft teilhaftig werden lässt, stellt den Betroffenen in derartigen Situationen völlig schutzlos. Das objektive Erfordernis der Sachentscheidung wird erst recht fragwürdig, wenn man das aus der Prozesstheorie folgende (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 2. d) cc) [S. 257]) und auch allgemein anerkannte Prinzip ernst nimmt, dass es keine aktive Mitwirkungspflicht des Beschuldigten an dem gegen ihn gerichteten Strafverfahren gibt. Es ist grundsätzlich nicht seine Sache, für die Ordnungsgemäßheit des Verfahrensablaufs (d. h. für das Vorliegen der Prozessvoraussetzungen) Sorge zu tragen. Staatsanwaltschaft und Gericht gebührt diese Aufgabe. Beide haben vor der Eröffnung des Hauptverfahrens ausreichend Gelegenheit, sich um diese Aufgabe zu kümmern. Hiermit wird unverkennbar, wie sehr auch das objektive Erfordernis der Sachentscheidung aus der Perspektive der Gesellschaft gesehen, und somit die erste Rechtfertigungsstufe nicht wirklich überwunden wird: Denn erfüllen Staatsanwalt und Richter diese Aufgabe nicht, dann wird nicht der Staat, sondern der Beschuldigte in Anspruch genommen. Man merke auch, welcher Unterschied zu den o. Kap. 2 F. III. 4. (S. 560 ff.) ausführlich beschriebenen Konstellationen der normativen Kupierungen gegeben ist. Auch in Bezug auf diese kupierten Dimensionen der prozessualen Tat konnte der Staat kein Sachurteil fällen. Sie gehörten aber von Anfang an nicht zu dem Verfahren. Über sie wird nicht erst ein Sachurteil nicht gefällt; sie sind schon gar kein Gegenstand der Verdächtigung. Werden sie aber unrichtigerweise dazu gemacht, dann liegt die Situation der Überschreitung der äußersten Grenzen der prozessualen Tat vor (o. Kap. 2 D. VIII. [S. 541 f.]). Für diese Konstellation gilt auch, dass der Betroffene für die tatsächlich erbrachte Vorleistung der Duldung des Verfahrens zu rehabilitieren ist und dass dieser Anspruch ihm erst recht nicht bloß deshalb abgesprochen werden darf, weil bereits die Beanspruchung dieser Vorleistung rechtswidrig erfolgte. Nemo auditur propriam turpitudinem allegans. d) Auch die objektive Voraussetzung des klassischen Modells, nämlich das Erfordernis einer Sachentscheidung, erweist sich also nach näherem Hinsehen, ge2853

So auch K. Meyer, JR 1983, S. 258; LG Lüneburg NStZ 1985, 41.

4. Kap.: Die erste Verfolgung

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nauer: wenn man die Perspektive des Betroffenen ernst nimmt und nicht allein aus der Perspektive der Gesellschaftsinteressen heraus argumentiert, als unbegründet. 3. Das subjektive Erfordernis: Gericht „Der Verbrauch der Strafklage mit der Sperrwirkung, daß eine neue Strafverfolgung gegen denselben Täter wegen derselben Tat unzulässig ist (Art. 103 III GG), kann nur durch eine richterliche, nicht jedoch durch eine staatsanwaltschaftliche Entscheidung . . . eintreten“.2854 An letzter Stelle muss gefragt werden, wie es mit dem subjektiven Erfordernis der rechtskraftfähigen Entscheidung steht, also damit, dass es sich um die Entscheidung eines Gerichts handeln muss.2855 Entscheidungen insbesondere des Staatsanwalts erwachsen nicht in eine derartige Unveränderbarkeit.2856 Auch hier steckt die These bereits in der Terminologie, weniger in der deutschen Wendung, als vielmehr in der lateinischen res iudicata, die auch in den romanischsprachigen chose jugée, cosa giudicata oder coisa julgada bewahrt worden ist.2857 a) Eine traditionelle Begründung verweist auf die besondere Autorität gerichtlicher Entscheidungen. So meinte Binding: „unentbehrliche Voraussetzung für eine rechtskräftige Entscheidung ist ein geordnetes Verfahren vor irgend einem Gericht oder einer mit Gerichtsbarkeit ad hoc bekleideten Verwaltungsbehörde“.2858 „Das Urteil schöpft seine Autorität aus seinem Urheber, dem Staatsgericht, will sagen dem Staate (. . .)“.2859 Auch dann, wenn man aus heutiger Sicht Vorbehalte gegen die ad hoc mit Gerichtsbarkeit bekleidete Verwaltungsbehörde haben könnte, kann man diesen nebensächlichen Punkt außer Betracht lassen und sich dem Argument zuwenden, Gerichten würde im Vergleich zu bloßen Verwaltungsstellen eine besondere Autorität in der Bevölkerung zuerkannt. Problematisch an einer solchen Argumentation ist aber, dass, wenn Recht und Macht nicht für Synonyme gehalten werden, Autorität keine eigenständige Quelle von Gründen ist, sondern vielmehr auf andere, von ihr unabhängige Gründe angewie2854

BGHSt 37, 10 (11 f.). Siehe zusätzlich zu den in der nächsten Fn. Zitierten noch Rivello, RitDPP 1991, S. 484; Mancuso, Giudicato, S. 46; Della Monica, DDP-Agg IV (2008), S. 386; RGSt 67, 315 (316); BGHSt 37, 10 (11 f.); BVerfGE 12, 62 (66). 2856 Etwa Delius, GA 1895, S. 186; Oster, Rechtskraft, S. 9; Nagler, GS 111 (1938), S. 369; Angioni, RivPen 1954, S. 513; Görcke, ZStW 73 (1961), S. 580; Guarneri, NovDigIt XV (1968), S. 229; Berz, Rechtskraft, S. 104 f.; Geppert, Jura 1986, S. 312; Kintzi, FS Wasserburg, S. 901; Kunert, FS Wasserburg, S. 916; Schmidt-Aßmann, M/DGG Art. 103 Abs. 3 Rn. 296; RGSt 67, 315 (316); BGHSt 10, 104 (106); 37, 10 (11 f.); OLG Hamm VRS 5, 33; ausf. u. F. III. (S. 816 ff.). 2857 Siehe auch Radtke, Strafklageverbrauch, S. 159, der deshalb für staatsanwaltschaftliche Entscheidungen den neutraleren Terminus „Bestandskraft“ vorzieht (S. 160 f.). 2858 Binding, Strafurteil, S. 311. 2859 Binding, Strafurteil, S. 312. 2855

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

sen ist (s. o. Teil 1 Kap. 1 A. I. [S. 45 f.]; Kap. 2 C. II. 3. [S. 156 f.]). Autoritätsorientierte Argumente erreichen nicht einmal die erste Rechtfertigungsstufe, sondern sind ein Ausdruck eines prozessualen Machiavellismus (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. II. 3. [S. 155 ff.]). b) aa) Die Suche nach weiteren Gründen muss also fortgesetzt werden. Es bietet sich an, ein begriffliches oder, wenn man an dem konventionalistischen Beigeschmack dieser Bezeichnung Anstoß nimmt, intuitionistisches-wesensorientiertes Argument zu bemühen. Der Gedanke wäre hier, dass die Rechtskraftfähigkeit eine Art Wesensmerkmal der Entscheidungen ist, die Rechtsprechung verkörpern. So verstand Goldschmidt die Rechtskraft als Ziel des gerichtlichen Verfahrens2860 und diese wiederum als „Gerichtskraft“, also als „gerichtliche Geltung eines Anspruches als rechtlich begründet oder unbegründet“ 2861 – eine Ansicht aber, die wir o. Kap. 1 B. (S. 144) bereits wegen ihrer quasi-resignativen Kapitulation vor der Macht der Faktizität ablehnen mussten. Diese Gedanken greift dennoch, wenigstens seiner eigenen Selbstdeutung nach,2862 Arndt in seinen dogmengeschichtlich wichtigen Studien über das Wesen der Rechtsprechung auf. In einer noch zur Weimarer Zeit publizierten Abhandlung verstand er die Gerichtsbarkeit als „diejenige Tätigkeit des Staates, die den Rechten Rechtskraft verleihe“,2863 und die Rechtspflege als „diejenige Rechtserkenntnis, die vom Gesetz mit bindender Wirkung (Rechtskraft) ausgestattet ist“.2864 In der Nachkriegszeit wurden diese Gedanken erneut aufgegriffen und elaboriert. Ausgangspunkt der Überlegungen von Arndt ist die Ungewissheit und Entscheidungsbedürftigkeit des Rechts.2865 „Die Aufgabe der Rechtsprechung ist das Beheben der Rechtsungewißheit durch Rechtskraft.“ 2866 „Rechtsprechende Gewalt heißt: rechtskraftwirkende Entscheidung durch Wahrheits- und Rechtsprüfung um der Gewißheit willen“.2867 Die Rechtsprechungstätigkeit verkörpert deshalb einen Wahrspruch,2868 und darin liegt die Begründung, weshalb allein richterliche Ent-

2860 Goldschmidt, Prozeß, S. 151 ff. – hierzu o. Teil 1 Kap. 2 C. II. 1. (S. 138 ff.), Teil 2 Kap. 1 B. (S. 335 f.). 2861 Goldschmidt, Prozeß, S. 211 f. 2862 Siehe seine Bekenntnis zu Goldschmidt in Arndt, AöR 1932, S. 215. 2863 Arndt, AöR 1932, S. 215. 2864 Arndt, AöR 1932, S. 216. 2865 Arndt, FS Schmid, S. 11 f. 2866 Arndt, FS Schmid, S. 13. 2867 Arndt, FS Schmid, S. 15; s. a. ders. NJW 1959, S. 606 f.; ders. NJW 1959, S. 1230. 2868 Arndt, FS Schmid, S. 15; ders. NJW 1959, S. 607; ebenso Eb. Schmidt, MDR 1964, S. 630 f.; I. Müller, Rechtsstaat und Strafverfahren, S. 205; Kintzi, FS Wasserburg, S. 901; Kunert, FS Wasserburg, S. 916; Schnarr, NStZ 1991, S. 212; Pfeiffer/Hanich, KK-StPO Einl. Rn. 167; sehr nahestehend Barbarino, Rechtskraft, S. 19; Stern, Staatsrecht II, S. 898; implizit auch Töwe, GS 108 (1936), S. 25; Gössel, FS Dünnebier, S. 136.

4. Kap.: Die erste Verfolgung

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scheidungen der Rechtskraft fähig sind.2869 Diesem Gedanken folgte kein geringer als Eb. Schmidt: „Den Inhalt der gerichtlichen Sachentscheidung macht in tatsächlicher Hinsicht der ,Wahrspruch‘, in rechtlicher Beziehung der ,Rechtsspruch‘ aus. . . . Die Bedeutung, die im Hinblick auf diesen Inhalt der gerichtlichen Entscheidung zukommt, zeigt sich in den Wirkungen der Rechtskraft, in Wirkungen, die schon deshalb keiner staatsanwaltschaftlichen Entscheidung zukommen können, weil letztere niemals die Bedeutung eines ,Wahrspruchs‘ oder eines ,Rechtsspruchs‘ zu haben vermag.“ 2870 Auch außerhalb Deutschlands werden ähnliche, wesensorientierte Gedankenführungen vertreten. In Frankreich wurde vor allem früher die autorité de la chose jugée als wesentliche Eigenschaft der sog. actes jurisdictionnels, also der Justizakte, angesehen.2871 In Italien argumentierte bereits Rocco, dass der Staatsanwalt nicht Recht spreche, weil ihm die facultas ius dicendi fehle.2872 Dagegen bedeute Rechtsprechung die Sprechung des objektiven Willens des Gesetzes:2873 Rechtskraft sei „der Natur der richterlichen Gewalt inhärent“,2874 weil diese, anders als die Exekutive, nicht aus „wechselhaften und elastischen . . . Kriterien der Zweckmäßigkeit und Opportunität“ handle, sondern aus „absoluten, sicheren und unveränderbaren Kriterien der Wahrheit und Gerechtigkeit“: „[D]eshalb sollen diese Entscheidungen unverrückbar, unveränderbar und unantastbar sein, wie die Wahrheit selbst, die Vernunft selbst, die Gerechtigkeit selbst.“ 2875 bb) Dieses wesensorientierte Argument erscheint bereits aus methodischen Gründen suspekt. Denn es ist fragwürdig, inwiefern der behauptete Wesenszug der Rechtsprechung ihr von Natur aus zukommt. Ich möchte zwar nicht als Vertreter eines Nominalismus der Begriffe2876 oder auch nur der Rechtsbegriffe ver2869 Arndt, FS Schmid, S. 11; ders. NJW 1959, S. 607. Man merke, dass Arndt einen Begriff der Rechtskraft handhabt, der sich nicht nur in der negativen Dimension der Sperrwirkung erschöpft, sondern positive Dimensionen der Tatbestandswirkung (insb. FS Schmid, S. 31) und der Vollstreckbarkeit (ebda. S. 11) miteinbezieht. Auch bei Eb. Schmidt stehen die positiven Dimensionen der Rechtskraft im Vordergrund (ganz deutlich Eb. Schmidt, Kolleg, Rn. 318). 2870 Eb. Schmidt, MDR 1964, S. 631; s. a. ders. JR 1962, S. 470; ders. Kolleg, Rn. 318; ebenso auch Molière, JZ 1977, S. 193. 2871 Jèze, Droit administratif I, S. 254; Valticos, Chose jugée, S. 7 ff. (sehr ausf.); Gavalda, JCP I 1957, Nr. 1372 Rn. 8: Vollstreckbarkeit und Rechtskraft als „wesentliche Eigenschaften des Justizaktes (acte juridictionnel)“. Bei Jèze ist dieser Gedanke mit der Präsumptionstheorie der Rechtskraft verbunden (zu ihr o. Kap. 1 C. IV. [S. 352 ff.]), so dass er zugleich das nächste Argument vertritt: „L’acte juridictionell est une constation faite par le juge avec force de véritè légale“. 2872 Rocco, Decisione giudiziaria penale, S. 69. Ähnl. Manzini, Trattato IV, S. 443: „Die Rechtskraft ist eine Eigenschaft der gerichtlichen Entscheidungen.“ 2873 Rocco, Cosa giudicata I, S. 205 ff. 2874 Rocco, Cosa giudicata I, S. 205. 2875 Rocco, Cosa giudicata I, S. 206. Ähnliches Argument bei Oster, Rechtskraft, S. 10; v. Pestalozza, 36. DJT Bd. I, S. 1183. 2876 Vorsichtig bereits Greco, Lebendiges, S. 280 f.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

standen werden;2877 dennoch erscheint bis zum Beweis des Gegenteils die Annahme berechtigt, dass diese Begründung nichts anderes liefert als eine Instanz des viel kritisierten naturrechtlichen Zirkelschlusses, dessen Struktur darin besteht, in das vermeintliche Wesen des Begriffs alle Eigenschaften hineinzuschmuggeln, die später als Begründung dessen fungieren, was man aus diesem Wesen ableitet.2878 Es ist sehr bequem, ein wesensmäßiges Band zwischen Rechtsprechung und Rechtskraft zu behaupten; derjenige, der nach einer Begründung dieses Bandes fragt, nachdem er etwa festgestellt hat, dass es auch schwer abänderbare nicht-richterliche Entscheidungen gibt (wie die Einstellung gem. § 153a Abs. 1 StPO), wird trotzdem dadurch nicht schlauer und deshalb – bis zum Beweis des Gegenteils – einen Zirkelschluss vermuten dürfen.2879 cc) Der von Arndt gelieferte Versuch eines solchen Beweises befriedigt nicht, denn der behauptete Wahrspruchcharakter richterlicher Entscheidungen ist nach näherem Hinsehen nichts anderes als eine andere Beschreibung dessen, worin die Rechtskraft besteht. Denn Arndt versteht die Rechtskraft, wie bereits o. 2. (S. 716) angemerkt, als Wahrheit. Der Wahrspruch ist rechtskräftig, weil die Rechtskraft in nichts anderem bestehe als in der Wahrheit einer Entscheidung. Damit wird aber deutlich, dass man die Frage nur verschoben hat, und zwar auf ein Feld, auf dem man notwendigerweise der Verlierer sein wird. Denn dass Rechtskraft nicht notwendig der Wahrheit entsprechen muss, dass ihr Sinn vielmehr darin besteht, die Entscheidung unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt als fortbestehend auszuweisen, hat man bereits o. Kap. 1 C. IV. (S. 329 f.) dargelegt. Dies lässt sich auch rechtshistorisch belegen: Das gemeinrechtliche Inquisitionsverfahren, dessen Abschluss, weil es nicht einmal einen Staatsanwalt kannte, immer durch richterliche Entscheidung erfolgte, pflegte ein sehr distanziertes Verhältnis zur Rechtskraft (s. o. Kap. 1 C. IV., VIII. [S. 351 f., 362 ff.]).2880 Zuletzt geht auch das Handeln der Verwaltung von Wahrheit aus,2881 und darin liegt eher ein Grund, die Entscheidungen flexibel und revidierbar zu machen (s. insb. § 49 Abs. 2 Nr. VwVfG), als umgekehrt grundsätzlich an ihnen festzuhalten. dd) Ebenso wenig kann davon die Rede sein, dass nur die Gerichte „Recht sprechen“ in dem Sinne, dass nur sie Rechtsanwendung betreiben. Denn im Rechtsstaat ist die Exekutive an Gesetz und Recht gebunden (Art. 20 Abs. 3 2877 Denn die o. Teil 1 Kap. 2 B. III.–VII. (S. 119 ff.), Teil 2 Kap. 3 C. IV. 2. (S. 640 ff.) formulierten Begriffe des Verfahrens und der Strafe erhoben durchaus den Anspruch, keine bloßen Festlegungen, sondern den Sachen unter dem Gesichtspunkt ihrer Legitimitationsbedürftigkeit („Übel“) gerecht werdende Wesensbeschreibungen zu sein. 2878 Grdl. Welzel, Naturrecht, S. 225, 240 ff. 2879 Von einem Zirkel spricht auch Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 394; nahestehend Habscheid, MDR 1966, S. 3; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 354. 2880 Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 394. 2881 Habscheid, MDR 1966, S. 2.

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GG), so dass auch sie dauernd Recht anwenden muss. Es gibt „keinen Staatsakt, in dem nicht ein Element der Subsumtion eines Tatbestandes unter eine Rechtsnorm enthalten wäre“.2882 Weder bewegt sich die Exekutive in einem Bereich rechtsfreier Politik, noch beschränkt sich die Judikative darauf, Mund des Gesetzes zu sein. Dass der Verwaltung tendenziell mehr Handlungsfreiheit eingeräumt wird (Beurteilungsspielräume, Ermessen) als den Gerichten, begründet einen eher quantitativen als qualitativen Unterschied, einen Unterschied wohlgemerkt, der durch die zunehmende Beauftragung der Gerichte mit der Überprüfung nicht bloß der Rechtmäßigkeit des staatlichen Handelns, sondern auch der Frage, ob dieses Handeln dem öffentlichen Interesse entspricht – man denke nur an § 153 Abs. 2 StPO, der den Gerichten sogar die Aufgabe zuweist, über das „öffentliche Interesse an der Strafverfolgung“ zu entscheiden –, immer geringer wird.2883 ee) Aus ähnlichen Gründen ist die von Rocco gebotene Begründung fragwürdig, und zwar sowohl als Kennzeichnung der staatsanwaltschaftlichen als auch der richterlichen Tätigkeit. Auch unabhängig davon, ob das jeweilige Prozesssystem einen durchgehenden Verfolgungszwang kennt oder nicht, dürfte eine allein der Zweckmäßigkeit verpflichtete Staatsanwaltschaft, die sich gegenüber Erwägungen der Wahrheit und Gerechtigkeit völlig indifferent verhält, schwer erträglich sein. Und umgekehrt haben wir gerade hervorgehoben, wie auf die Gerichte mehr und mehr die Entscheidung über die Zweckmäßigkeit und das öffentliche Interesse staatlichen Handelns abgewälzt wird. ff) Zuletzt können Gerichte eine Vielzahl von Tätigkeiten ausführen, die materiell wohl eher der Verwaltung zuzuordnen sind und bei denen von Rechtskraft kaum die Rede sein kann. Das historisch wichtigste Beispiel ist die Betätigung als Untersuchungsrichter. Heute wäre in erster Linie an die Tätigkeit im Rahmen der Strafvollstreckung zu denken.2884 c) Ein weiterer Versuch könnte auf den Gedanken der Rechtssicherheit oder des Vertrauensschutzes verweisen, gewissermaßen als gebändigte verrechtsstaatlichte Neuauflage des obrigkeitsorientierten Autoritätsarguments. So behauptete der BGH in einer jüngeren grundlegenden Entscheidung zur Rechtskraftfähigkeit 2882 Thoma, Staatsgewalt, S. 128; ebenso Bachof, SJZ 1950, S. 163; v. Turegg, NJW 1953, S. 1202, der auch die Passage von Thoma zitiert; Gossrau, NJW 1958, S. 930; Niese, ZStW 70 (1958), S. 352. 2883 Vgl. insb. Haas, Strafbegriff, insb. S. 340 ff., der daraus sogar die provokante These ableitet, dass die deutschen Richter materiell keine Rechtsprechung ausüben, sondern verwalten würden. 2884 Ausf. Köhling, Strafrichter, S. 135 ff., 189. Siehe auch Haas, Strafbegriff, S. 349 ff., der hieraus seine provokante These herleitet, dass das erkennende Gericht im deutschen Strafprozessrecht eigentlich als exekutivistisches Organ handelt. Diese Thesen bieten für die Rechtskraftlehre ein zusätzliches Motiv, sich ernsthaft zu fragen, ob es auf die Unterscheidung zwischen richterlicher und staatsanwaltschaftlicher Entscheidung so sehr ankommen darf.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

der Einstellung gem. § 153 Abs. 2 StPO: „Der aus dem Rechtsstaatsgebot zu entwickelnde Vertrauensschutz erhält noch stärkeres Gewicht bei solchen Entscheidungen, die auf der Grundlage einer eigenständigen Verfahrensordnung durch einen unabhängigen Richter ergehen.“ 2885 Dennoch lässt sich aus zwei Gründen an der Stichhaltigkeit des Arguments zweifeln. Erstens beruht die Rechtskraft nach richtiger Auffassung nicht auf dem Gedanken der Rechtssicherheit, der unter anderem deshalb für mangelhaft erklärt wurde, weil er die Stärke der Rechtskraft nicht zu begründen vermochte (vgl. o. Kap. 1 C. II. [S. 346 ff.]). Zweitens geht es beim Vertrauensschutz sowieso nicht um den Schutz eines jeden faktisch bestehenden Vertrauens, sondern um den Schutz des berechtigten, schutzwürdigen Vertrauens. Man ist also auf weitere Kriterien angewiesen, die die Berechtigung bzw. die Schutzwürdigkeit des Vertrauens bestimmen. Dies erkennt auch der BGH, der sich nicht damit begnügen konnte, den Vertrauensschutz anzuführen, sondern auf einen weiteren Gesichtspunkt verwiesen hat, nämlich auf die Unabhängigkeit des Richters. d) Ihr wenden wir uns jetzt zu: Die Berechtigung der Verknüpfung von Rechtskraft und Gerichtsentscheidung könnte aus der richterlichen Unabhängigkeit folgen.2886 „Wenn seriöse, intelligente und gebildete Menschen eine ihr Urteil unterstellte Streitigkeit sorgfältig und unparteiisch untersuchen, besteht die Wahrscheinlichkeit . . . dass diese Richter die Streitigkeit der Wahrheit gemäß lösen werden“.2887 Solche Entscheidungen bieten eine viel höhere „Richtigkeitsgewähr“ 2888 als etwa Entscheidungen, die von einer exekutivischen, weisungsgebundenen Instanz getroffen werden. Von der anderen Seite her kommend: Verfahrensabschließende Entscheidungen, die nicht vom Gericht getroffen werden, sind letztlich reine Parteientscheidungen.2889 Ein rechtsstaatlich orientierter Gesetzgeber muss ihnen deshalb misstrauisch gegenüberstehen.2890 Für den Richter sei es charakteristisch, dass er als unbeteiligter, neutraler Dritter über einen ihn nicht persönlichen betreffenden Streit entscheidet.2891 Auch diesem zunächst einleuchtenden Gedanken ist nicht zu folgen. Erstens und eher nebensächlich ist der Umstand, dass die fehlende Abhängigkeit, d.h. die Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaft, keine notwendige Eigenschaft die2885

BGHSt 48, 331 (337). Dieser Gesichtspunkt taucht auch bei Manzini, Trattato IV, S. 442 auf, der hieraus den Spruch res iudicata pro veritate habetur rechtfertigt; und bei Eb. Schmidt, MDR 1964, S. 631 auf. 2887 Rocco, Cosa giudicata I, S. 238. 2888 BGHSt 48, 331 (339). 2889 Rocco, Decisione giudiziaria penale, S. 69; Guarneri, NovDigIt XV (1968), S. 229. 2890 Delius, GA 1895, S. 186. 2891 Grdl. Friesenhan, FS Thoma, S. 27; ebenso Ule, JZ 1958, S. 628; Köhling, Strafrichter, S. 50 ff., 83 f.; nahestehend Haas, DVBl 1957, S. 369 f. 2886

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ser Institution darstellt.2892 Eine weisungsfreie, den Gerichten weitgehend gleichgestellte Staatsanwaltschaft ist in der Reformliteratur nicht selten als Ideal formuliert worden,2893 und es gibt Länder, in denen die Staatsanwaltschaft so unabhängig wie die Richterschaft organisiert ist.2894 Zweitens und entscheidend ist, dass auch dieses Argument aus der Perspektive der Gesellschaft formuliert wird. Das wird insbesondere dann deutlich, wenn die Bedeutsamkeit einer bindenden Entscheidung über den Strafanspruch hervorgehoben wird, mit der Schlussfolgerung, dass eine derartig folgenschwere Entscheidung nur einem Gericht anvertraut sein dürfe.2895 Dass Entscheidungen in wichtigen Angelegenheiten wie dem Abschluss eines Strafverfahrens von unabhängigen Instanzen getroffen werden müssen, weil nur so eine höhere Richtigkeitsgewähr zu erreichen ist, ist für die Gesellschaft ein Gebot des eigenen Interesses und eine Pflicht gegenüber dem von einem Prozess Betroffenen. Die Gesellschaft und der sie repräsentierende Staat können deshalb auch hier (insofern ähnlich o. 1. [S. 713 ff.]) keine Vorteile daraus ziehen, dass sie diese Aufgaben nur ungenügend wahrnehmen. Es wäre ungereimt, wenn der Betroffene gerade dann sein Rehabilitierungsrecht einbüßen müsste, wenn der Staat seine Entscheidungen nicht durch ein unabhängiges Gericht, sondern durch eine weisungsabhängige Stelle wie die deutsche und französische Staatsanwaltschaft oder sogar durch eine schlichte Verwaltungsbehörde trifft. Zwar hat sich heute die richtige Auffassung durchgesetzt, Schuldsprüche seien den Gerichten vorbehalten; vor nicht allzu langer Zeit kannte das deutsche Recht aber Strafbescheide verschiedener Verwaltungsämter,2896 am prominentesten der Finanzämter,2897 und Strafverfügungen der Polizeibehörde,2898 deren

2892

Richtig Sarstedt, NJW 1964, S. 1754; Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 396. Etwa Sundelin, AllgdStRZ 1861, Sp. 297 ff.; Planck, 5. DJT, S. 225; Ortloff, GS 49 (1894), S. 313, 336, 348 ff.; ders. GrünhutsZ 23 (1896), S. 542; ders. AöR 1897, S. 130 f.; Binding, LZ 1917, Sp. 499; Gerland, DJZ 1931, Sp. 56; Roxin, DRiZ 1969, S. 387 f.; Rautenberg, NJ 2003, S. 174; tendenziell auch W. Maier, ZRP 2003, S. 387 ff.; s. a. Görcke, ZStW 73 (1961), S. 591 ff., 605 f. und Kohlhaas, Stellung der Staatsanwaltschaft, S. 60 ff., 66, die die Staatsanwaltschaft der Rechtsprechung zuordnen und das externe Weisungsrecht sogar für verfassungswidrig halten; zusammenfassend m. v. Nachw. Krebs, Weisungsgebundenheit, S. 103 ff. 2894 Beispielsweise Art. 127 § 1, Art. 128 § 5 Abs. 1 brasVerf.; tendenziell auch Italien, Art. 104 Abs. 1, Art. 107 S. 4 itVerf (näher früher Siegert, DRiZ 1956, S. 226; heute W. Maier, ZRP 2003, S. 389 ff.; Cordero, Procedura penale, S. 194; Chiavario, Diritto processuale penale, S. 135 f.); in diesem Sinne auch die Vorschläge der Errichtung einer europäischen Staatsanwaltschaft, Grünbuch der EU-Kommission v. 11.12. 2001, KOM (2001) 715, unter 4.1.1 (hierzu Rautenberg, NJ 2003, S. 170; krit. Satzger, StV 2003, S. 138, 139); und inzwischen den Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft, KOM (2013), 534, Art. 5 Abs. 1. 2895 Loos, JZ 1978, S. 594. 2896 Siehe etwa RGSt 22, 232 (Strafbescheide des Seemannsamtes); 39, 370 (Strafbescheid eines Landgerichtspräsidenten gegen einen Notar). 2897 Gegenstand von BVerfGE 22, 49. 2893

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

skandalöseste Zuspitzung die 13. Verordnung zum sog. Reichsbürgergesetz v. 1943 verkörperte, die in § 1 Abs. 1 bestimmte: „Strafbare Handlungen von Juden werden durch die Polizei geahndet.“ 2899 Strafen und Verurteilungen, die von der Verwaltung und nicht von Gerichten ausgesprochen werden, sind normativ inakzeptabel (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 2. d) cc) [S. 257]), jedoch ein sogar in europäischen Nachbarstaaten vorhandenes Faktum.2900 Der Hinweis, dass „derartigen lose organisierten Behörden . . . nicht ohne die zwingenden Gründe strafrichterliche Machtvollkommenheiten eingeräumt werden (dürfen), denen sie nicht gewachsen sind“,2901 ist aus der Perspektive der Gesellschaft zwar zutreffend, für den Betroffenen aber ein schwacher Trost, wenn dies außerdem zu bedeuten hat, dass er gegebenenfalls ein erneutes Verfahren wird erdulden müssen, nur weil das Erste nicht vor einem unabhängigen Richter erfolgt ist.2902 Eine solche richterliche Unabhängigkeit wirkt sich einseitig zugunsten des Staates aus, für den Einzelnen bedeutet sie in erster Linie die Bürde, sich bei Bedarf erneut zur Verantwortung ziehen zu lassen, um zu gewährleisten, dass dem Staat keine Strafansprüche verloren gehen, die dieser aus Bequemlichkeitsgründen seinen weisungsgebundenen Organen und nicht unabhängigen Gerichten anvertraut hatte. III. Fazit Aus alledem ergibt sich, dass das klassische Modell in seinen drei strukturellen Merkmalen brüchiger ist, als die anfangs notierten Schwierigkeiten es vermuten ließen. Wenn überhaupt ein konsistenter Gedanke in ihm Ausdruck findet, handelt es sich um einen aus der Perspektive des Staates oder bestenfalls der Gesellschaft ins Auge gefassten Belang, der den Rechten des Betroffenen, insbesondere seinem Rehabilitierungsanspruch als Ausgleich für seine vorgeleistete Duldung des Verfahrens, völlig indifferent gegenübersteht. Mögliche Strafansprüche sol2898 Gegenstand von RGSt 2, 211; 34, 165 (167); zur Sperrwirkung m.v.Nachw. Glaser, GrünhutsZ 12 (1885), S. 321 Fn. 30; Pfizer, GS 40 (1888), S. 356 ff.; Bennecke/ Beling, Lehrbuch, S. 667 f.; v. Hippel, Strafprozeß, S. 647. 2899 RGBl. I 1943, S. 372; an diese berüchtigte Vorschrift erinnert auch Habscheid, MDR 1966, S. 5. 2900 Vor allem in Österreich, das ein sog. Verwaltungsstrafverfahren nach dem VStG (Verwaltungsstrafgesetz) kennt (s. o. Fn. 2572). Zu den Rechtskraftproblemen Birklbauer, FS Miklau, S. 61 ff.; Lewisch, in: L/F/W-VStG § 30 Rn. 2 ff.; für Deutschland wegen der Anerkennung eines europäischen ne bis in idem-Grundsatzes gem. Art. 54 SDÜ bereits relevant geworden, s. BayOblG StV 2001, 263, das diesen Entscheidungen Rechtskraftwirkung abgesprochen hat. 2901 RGSt 22, 232 (234). 2902 Bzgl. der Strafbescheide der Finanzämter bestand eine Vorschrift, in der es hieß, die Bescheide stünden „einer rechtskräftigen Verurteilung gleich“ (§ 445 Abs. 1 S. 2 AO a. F.), was sowohl im Sinne der vollen Rechtskraft (etwa Kühn, AO § 446 Rn. 6, § 447 Rn. 4) als auch im Sinne einer schwächeren Rechtskraft nach dem Vorbild des Strafbefehls gedeutet wurde (so Barske/Gapp, Steuerstrafrecht, S. 110 f.); zur Rechtskraft des Strafbefehls sogleich u. F. II. 9. (S. 810 ff.).

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len nicht verloren gehen. Über sie (objektive Voraussetzung, Sachentscheidung) soll nur durch Einsatz der besten Aufklärungsmittel (situative Voraussetzung, Hauptverhandlung), von den vertrauenswürdigsten Menschen (subjektive Voraussetzung, Gerichte) entschieden werden – oder es darf alles erneut geschehen. An sich ist das kein unberechtigtes Anliegen, denn die Durchsetzung des Strafanspruchs bedeutet letztlich Generalprävention (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. III. 2. [S. 167]). Die Kehrseite davon ist aber, dass der Staat die Sache umso leichter erneut aufrollen kann, je leichtfertiger er sich um diese Aufgabe bemüht. Die Perspektive des Staates bzw. der Gesellschaft steht somit im Vordergrund. Das klassische Modell steht deshalb zumindest unter dem Verdacht des prozessualen Machiavellismus (dazu Teil 1 Kap. 2 C. II. 3. [S. 155 ff.]); dass es den Einzelnen instrumentalisiert, darüber besteht nicht nur ein Verdacht, sondern Gewissheit. Diese Blickverengung verwundert nicht, wenn man bedenkt, dass die verbreitetsten Begründungen der Rechtskraft, die diese auf den Gedanken der Rechtssicherheit oder des Rechtsfriedens zurückführen, immer noch auf der ersten Rechtfertigungsstufe bleiben (s. o. Kap. 1 C. II., III. [S. 344 ff., 350 ff.]). Dasselbe gilt für die überwiegend gebotene Rechtfertigung des Verfahrens (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. III. [S. 157 ff.]). Eine Verfahrenslehre, die das Rehabilitierungsrecht des Beschuldigten zu ihrem Angelpunkt erhebt und darin auch den Kern der Rechtskraftlehre erblickt, muss deshalb nach anderen Wegen suchen, die nicht nur Randkorrekturen, sondern eine grundlegende Weichenstellung verkörpern werden.

D. Neuere Konzepte Bevor dieser neue Weg eingeschlagen wird, ist es ratsam, sich den wenigen in der Literatur vorhandenen theoretisch ausgearbeiteten Gesamtkonzepten zuzuwenden. Ihnen ist gemeinsam, dass sie höchstens den Schritt zur Frage nach der Begründung der Rechtskraft versuchen, ohne die entscheidenden Mängel der überwiegend vertretenen Auffassungen zu erkennen oder überzeugend überwinden zu können. Insbesondere wird das klassische Modell einer bestenfalls punktuellen und nicht grundlegenden Kritik unterzogen.2903 Bereits deshalb sind sie zwar interessante Versuche, das tradierte Konzept zu verbessern, arbeiten aber dennoch eher an den Symptomen als an den Ursachen. I. Das anfechtbarkeitsorientierte Modell von Roxin und Schlüchter Einen Versuch, das herrschende Modell zu verfeinern, liefert das den Lehrbüchern von Roxin2904 und Schlüchter2905 zugrunde liegende System. Dass Sachur2903

Nur für Gantzer gilt das im geringeren Maße, s. u. II. (S. 731 ff.). Roxin, Strafverfahrensrecht, § 50 Rn. 20–23; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 52 Rn. 18–20. 2904

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

teile voll rechtskraftfähig sind, wird nicht in Frage gestellt. Auch Einstellungsurteile gem. § 260 Abs. 3 sind rechtskraftfähig, insofern sie ein endgültiges Verfahrenshindernis, wie die Verjährung, aussprechen2906 und eine Sachentscheidung beinhalten.2907 Der spezifische Beitrag des Modells bezieht sich auf die Bestimmung der Rechtskraft der Beschlüsse, also derjenigen Entscheidungen, die nicht in der Hauptverhandlung ergehen müssen. Das Modell versucht, aus der Ausgestaltung der Anfechtbarkeit der einzelnen Beschlüsse ihre Rechtskraftfähigkeit zu bestimmen. Es werden drei Stufen unterschieden.2908 Am Beispiel vor allem des Ablehnungsbeschlusses wegen offensichtlicher Unbegründetheit der Revision gem. § 349 Abs. 2 StPO wird gesagt, dass Beschlüsse, die mit der sofortigen Beschwerde angreifbar sind, in volle materielle Rechtskraft erwachsen.2909 Im anderen Extrem befinden sich die Beschlüsse, die mit der einfachen oder unbefristeten Beschwerde angefochten werden können, da sich aus § 306 Abs. 2 StPO ergebe, dass das Gericht diese Entscheidungen jederzeit zurücknehmen darf.2910 In einem Zwischenraum befinden sich die gerichtlichen Einstellungsbeschlüsse im Klageerzwingungsverfahren (§ 174 Abs. 1 StPO) und im Zwischenverfahren (§ 204 StPO), die kraft ausdrücklicher gesetzlicher Regelung ein erneutes Verfahren nur aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel gestatten (§ 174 Abs. 2, § 211 StPO).2911 Das Modell mag als Versuch, etwas Ordnung in das Chaos des positiven Rechts zu bringen, hilfreich sein. Es ist aber fragwürdig, ob die in ihm dargestellten Ergebnisse nicht eher zufällig zusammengesetzt sind, m. a. W., ob das Modell mehr bietet als eine Darstellung allgemein anerkannter Ergebnisse, ob es über die für die unterschiedliche Rechtskraftwirkung dieser Beschlüsse tragenden Gründe Rechenschaft zu geben vermag.2912 Dass dies nicht der Fall ist, wird bereits am Nichteröffnungsbeschluss gem. § 204 StPO ersichtlich, der zwar mit sofortiger Beschwerde anfechtbar ist, so dass er nach dem Modell in volle, und nicht bloß in beschränkte Rechtskraft erwachsen sollte.2913 Dass dieser Beschluss unter eine 2905

Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 601 f. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 52 Rn. 18; Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 601. 2907 Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 601. 2908 Weshalb Radtke, Strafklageverbrauch, S. 140, die Konstruktion „Dreistufenmodell der Rechtskraft“ nennt. 2909 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 52 Rn. 18; Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 602. 2910 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 52 Rn. 20; Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 601. 2911 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 52 Rn. 19; Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 602. 2912 Ähnl. Trepper, Rechtskraft, S. 57. 2913 Angemerkt von Radtke, Strafklageverbrauch, S. 141; Trepper, Rechtskraft, S. 57. 2906

4. Kap.: Die erste Verfolgung

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dritte Kategorie eingeordnet wird, ist fast ein Zugeständnis, dass die Einteilungskriterien, von denen das Modell ausgeht, unzureichend sind. Ein weiteres Problem des Modells ist auch, dass es nicht nur prozessabschließende, sondern auch laufende Entscheidungen in seine Überlegungen miteinbezieht, womit die Gefahr entsteht, dass materiell nicht zusammenhängende Probleme bloß wegen einer zufälligen Nähe zueinander als zusammengehörend betrachtet werden. Diese beiden Unzulänglichkeiten, also sowohl das Unvermögen des Modells, der prototypischen prozesserledigenden Entscheidung Rechnung zu tragen, als auch ihre Einbeziehung laufender Entscheidungen, beruhen auf einem anderen Grundfehler: Schon der Ansatz, die Parallelziehung zur Rechtsmittellehre, überzeugt nicht. Denn die Gründe, weshalb das Gesetz bei einem bestimmten Beschluss eine sofortige, einfache oder unbefristete Beschwerde für einschlägig hält, müssen keinen inneren Zusammenhang zu den Erwägungen aufweisen, die für die Rechtskraftfähigkeit dieser Entscheidungen ausschlaggebend sind.2914 Das Modell vermengt Fragen der formellen und der materiellen Rechtskraft.2915 II. Gantzer 1. Auch Gantzer wendet sich in erster Linie der materiellen Rechtskraft von Entscheidungen zu, die keine Urteile sind, also Beschlüssen und Verfügungen. Nur verfährt er besser, weil er von vornherein die laufenden bzw. verfahrensleitenden Entscheidungen von seiner Untersuchung ausschließt.2916 Seine Grundannahme ist eine uneingeschränkte Aneignung dessen, was wir o. C. II. 2. (S. 715 ff.) als objektive Voraussetzung der vollen Rechtskraft nach dem klassischen Modell bezeichnet haben: „Von einem Verbrauch der Strafklage kann nur die Rede sein, wenn der Prozeßgegenstand eine sachliche Erledigung gefunden hat.“ 2917 Interessant ist indes, dass er für diese These eine originelle Begründung liefert, die die Perspektive des Beschuldigten ernst nimmt: Erst die Behauptung eines Strafanspruchs verkörpere eine besondere Belastung,2918 die zum Entstehen eines „Anspruchs auf ,Reinwaschung‘„ führe, der seinerseits nur durch eine gerichtliche Entscheidung über den Vorwurf eingelöst werden könne.2919 Deshalb müsse auch die Entscheidung „endgültig sein, denn anders kann der Angriff auf die Würde des einzelnen nicht wieder ausgeglichen werden“.2920 „Demnach hat die Behauptung eines staatlichen Strafanspruchs zwei Wirkungen zur Folge: 2914

Ebenso Geppert, GA 1972, S. 172; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 141. Trepper, Rechtskraft, S. 57. 2916 Gantzer, Rechtskraft, S. 129. 2917 Gantzer, Rechtskraft, S. 124 – kursiv von mir. 2918 Gantzer, Rechtskraft, S. 133 f. Gantzer spricht grundrechtsdogmatisch schief von einem „Angriff auf die Würde des Beschuldigten“, S. 134. 2919 Gantzer, Rechtskraft, S. 135 – kursiv von mir. 2920 Gantzer, Rechtskraft, S. 136. 2915

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

1. das Gebot, über diese Behauptung (endgültig) zu entscheiden, 2. das Verbot, über diese Behauptung noch einmal zu entscheiden.“ 2921 Er betont aber, dass Formalentscheidungen häufig eine Sachentscheidung mitenthalten2922 – so verhält es sich etwa bei der o. B. III. (S. 708 f.) schon erwähnten Einstellung wegen fehlenden Strafantrags.2923 Das Vorhandensein einer Hauptverhandlung spielt also keine Rolle;2924 nur der Eröffnungsbeschluss sei entscheidend.2925 Alle nach Eröffnung des Hauptverfahrens ergehenden Sachentscheidungen seien also der materiellen Rechtskraft fähig.2926 Die Begründung erfolgt auch aus der Perspektive des Betroffenen: Ab der Eröffnung des Hauptverfahrens gehe es nicht mehr um die prozessuale Frage nach dem Vorhandensein eines hinreichenden Tatverdachts, sondern um den materiellen Strafanspruch, und gerade durch diese Behauptung werde „empfindlich in die Rechte des Beschuldigten eingegriffen.“ 2927 Die vor diesem Zeitpunkt ergehenden Entscheidungen – die Gantzer „prozesshindernde Beschlüsse“ nennt – könnten sich nicht auf den Strafanspruch, sondern nur auf einen Verdacht beziehen, und belasteten den Beschuldigten überhaupt nicht.2928 „Denn jeder Bürger muß damit rechnen, daß er im Zuge eines Strafverfahrens einmal verdächtig wird, eine Straftat begangen zu haben oder an ihr beteiligt gewesen zu sein.“ 2929 Das bedeutet, dass Entscheidungen im Vorverfahren erst recht rechtskraftunfähig sind. „Von einem Strafklageverbrauch kann demnach noch keine Rede sein, weil überhaupt noch kein Strafklagegebrauch stattgefunden hat.“ 2930 Interessant ist auch seine Ablehnung der beschränkten materiellen Rechtskraft.2931 Er sieht in ihr eine „Anstiftung zur beschränkten Sorgfalt“.2932 Die Rechtskraft sei einheitlich.2933 Das bedeutet insbesondere, dass der Nichteröffnungsbeschluss überhaupt nicht in Rechtskraft erwachse;2934 die Regelung des § 211 StPO, die ein Weiterverfolgen nur bei neuen Tatsachen oder Beweismitteln 2921 2922 2923 2924 2925 2926 2927 2928 2929 2930 2931 2932 2933 2934

Gantzer, Rechtskraft, S. 137. Gantzer, Rechtskraft, S. 126. Gantzer, Rechtskraft, S. 126. Gantzer, Rechtskraft, S. 137. Gantzer, Rechtskraft, S. 133, 137. Gantzer, Rechtskraft, S. 138. Gantzer, Rechtskraft, S. 133. Gantzer, Rechtskraft, S. 132. Gantzer, Rechtskraft, S. 132. Gantzer, Rechtskraft, S. 132. Gantzer, Rechtskraft, S. 183 ff. Gantzer, Rechtskraft, S. 185. Gantzer, Rechtskraft, S. 187. Gantzer, Rechtskraft, S. 140.

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für zulässig erklärt, beruhe also auf anderen Gründen, nämlich auf dem Anliegen, den Betroffenen „nicht immer wieder der Gefahr der Verfolgung und damit der Willkür der Strafverfolgungsbehörden auszusetzen“.2935 Rechtskraft im strengen Sinne sei dies aber nicht.2936 2. Das unbestreitbare und leider kaum gewürdigte Verdienst Gantzers ist, dass er als Erster dem Individuum Bürgerrechte in der Rechtskraftlehre zuerkennt. Eine ausführliche Kritik würde dem erst u. E. (S. 740 ff.) zu entwickelnden eigenen Standpunkt unangemessen vorgreifen, weshalb man sich an dieser Stelle damit begnügen wird, Zweifel anzumelden. a) Meine Zweifel beziehen sich in erster Linie auf die Art und Weise, wie Gantzer mit dem auch von ihm akzeptierten Erfordernis einer Sachentscheidung umgeht. Zwar bietet er, wie gesagt, eine neuartige, individualorientierte Begründung an, die nicht an den o. B. III. (S. 707 ff.) beschriebenen Unzulänglichkeiten des klassischen Modells leidet. Dennoch hat man den Eindruck, dass er wegen des an sich zustimmungswürdigen Anliegens, den Betroffenen nicht gegenüber erneuten Verfolgungen völlig schutzlos zu lassen, bestimmte Entscheidungen, die prima facie wie Prozessentscheidungen aussehen und von der Rechtsprechung auch als solche gehandhabt werden, in Sachentscheidungen umdeutet. Insbesondere ordnet er die gerichtlichen Opportunitätseinstellungen im Hauptverfahren gem. § 153 Abs. 2 und § 383 Abs. 2 StPO als Sachentscheidungen ein2937 und muss deshalb auch behaupten, dass sie volle Aufklärung und Überzeugung der Schuld voraussetzen.2938 Derartige Anforderungen widersprechen aber frontal dem prozessökonomischen Zweck dieser Einstellungsbefugnisse – denn wenn schon bis zur Überzeugung der Schuld aufgeklärt werden muss, warum nicht verurteilen, warum bloß einstellen? – und machen aus ihnen letztlich überflüssige „kleine Verurteilungen“. Die Frage, die sich Gantzer hätte stellen müssen und die wir hier stellen werden, ist, ob nicht auch dann, wenn ein bereits eröffnetes Hauptverfahren ohne Aufklärung und ohne Überzeugung abgeschlossen wird, dem Betroffenen genügend zugemutet worden ist, um ihm Rehabilitierung zu schulden. b) Ferner ist die Ablehnung der beschränkten Rechtskraft fragwürdig. Dass es nur eine Art von Rechtskraft geben könne, wird behauptet, aber nicht überzeugend begründet. Am Ende muss Gantzer selbst dem Nichteröffnungsbeschluss eine Sperrwirkung zuerkennen, und es fragt sich, ob sein Kreuzzug gegen die beschränkte Rechtskraft nicht eher eine Sache der Terminologie ist. 2935

Gantzer, Rechtskraft, S. 142. Gantzer, Rechtskraft, S. 142. 2937 Gantzer, Rechtskraft, S. 150 ff., 163 ff.; davor ebenso zu § 153 Abs. 3 a. F. (heute § 153 Abs. 2) StPO Hagemann, JR 1929, S. 117; Bernsdorf, Legalitätsprinzip, S. 43; Heinitz, JZ 1963, S. 133. 2938 Gantzer, Rechtskraft, S. 157 ff., 165. 2936

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

c) Dies ist aber nach näherem Hinsehen nicht der Fall – und genau hier liegt vielleicht die wichtigste Unzulänglichkeit des Ansatzes von Gantzer. Denn Gantzer sieht in der Rechtskraft, insofern ähnlich wie hier, eine Kompensation für einen Eingriff in die Sphäre des Verfolgten. Dieser Eingriff wird indes unzulänglich beschrieben. Der Verfolgte ist nach Gantzer erst beschwert, wenn gegen ihn ein Strafanspruch behauptet wird, und davor nicht nur weniger – was einen Anhaltspunkt hätte liefern können, die beschränkte Rechtskraft zu verstehen (wie u. E. III. 2. [S. 765 ff.]) –, sondern überhaupt nicht. Dass heißt, das Ermittlungsverfahren, die Anklageerhebung und das Zwischenverfahren bis vor dem Eröffnungsbeschluss sollen alle die Sphäre des Betroffenen gar nicht berühren. Gantzer hat es also nicht vermocht, aus seiner an sich bahnbrechenden Neuorientierung alles herauszuholen, was sie angeboten hatte. Dies wollen wir im Folgenden nachzuholen versuchen. III. P. Herzog 1. Der Hauptgedanke von Herzog ist ein eher unbesorgter Rückgriff auf Art. 103 Abs. 3 GG.2939 Aus dessen Rang ergebe sich, dass sich das Verfahrensrecht nach ihm zu richten habe, statt dass man umgekehrt dieses Prozessgrundrecht im Lichte des aktuellen Standes des Verfahrensrechts deute.2940 Daraus leitet er ohne weitere Zwischenschritte die Verfassungswidrigkeit jeder beschränkten Rechtskraft ab.2941 Die Rechtskraft ist für P. Herzog keine Besonderheit der Entscheidungsart Urteil.2942 Der maßgebliche Gesichtspunkt sei vielmehr allein, ob die Entscheidungen „den Vorgang in vollem Umfang erfassen und endgültig abschließen,“ was bei allen „prozeßabschließenden Sachentscheidungen und zweitens (bei) denjenigen prozeßabschließenden Formalentscheidungen [der Fall sei], die eine endgültige und den Vorgang in vollem Umfang erfassende Entscheidung verkörpern“.2943 Unter erneuter Berufung auf Art. 103 Abs. 3 GG meint er, dass alle der materiellen Rechtskraft fähigen Entscheidungen unterschiedslos einen Strafklageverbrauch zur Folge haben.2944 Er wendet sich dann insbesondere den Beschlüssen näher zu, um zu der damals im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehenden Frage der Rechtskraft des Strafbefehls Stellung zu nehmen. Der aus unserer Perspektive maßgebliche Gesichtspunkt (s. o. C. II. 1. [S. 713 f.]) wird leider nur en passant angesprochen: Es sei „nicht einzusehen, weshalb ein nach h. M. im Beschlussverfahren liegendes Risiko einer unvollständigen rechtlichen 2939 2940 2941 2942 2943 2944

P. Herzog, Rechtskraft, S. 95 ff. P. Herzog, Rechtskraft, S. 98. P. Herzog, Rechtskraft, S. 100 f. P. Herzog, Rechtskraft, S. 110. P. Herzog, Rechtskraft, S. 112. P. Herzog, Rechtskraft, S. 113 f.; ebenso Geppert, GA 1972, S. 173.

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bzw. tatsächlichen Aufklärung den Bürger treffen soll“;2945 denn Herzog zieht es vor, tiefer anzusetzen und bereits die These, dass allein die Hauptverhandlung allseitige Kognition garantiere, in Frage zu stellen.2946 Aus seiner Ablehnung der beschränkten Rechtskraft, worin er sich mit Gantzer einig ist, zieht er indes für den Nichteröffnungsbeschluss diametral entgegengesetzte Folgen. Er erwachse in (volle, weil es keine andere gebe) Rechtskraft: „Dieser Beschluß läßt sich nun, jedenfalls im vorliegenden Zusammenhang, mit einem freisprechenden Urteil auf eine Stufe stellen.“ 2947 Das heißt, dass die Vorschrift des § 211 StPO als „spezielle Form der Wiederaufnahme“ eingestuft wird.2948 2. Gegen Herzog lassen sich viele Bedenken geltend machen. Seine Arbeit ist kein Fortschritt im Vergleich zu derjenigen von Gantzer. Der verfassungsrechtliche Ausgangspunkt ist forciert und plump. Es ist leicht, weil selbstverständlich, zu behaupten, Art. 103 Abs. 3 GG sei maßgeblich, wenn nicht klar ist, was diese Vorschrift für die jetzige Sachfrage für Implikationen haben soll. Begibt man sich aber zu dieser dann gebotenen Konkretisierungsaufgabe, so folgt daraus bestenfalls eine Verschiebung der Rubrizierung, eine Umbenennung aller Sachfragen in solche der Auslegung dieser Vorschrift, schlimmstenfalls – und dieser Gefahr erliegt Herzog – ad hoc Behauptungen, die den ganzheitlichen, strukturell angelegten Charakter des Strafprozessrechts, in dem eine Frage nicht ohne Berücksichtigung des Ganzen gelöst werden kann (s. o. Teil 1 Kap. 1 A. II. 1. [S. 57 ff.]), verkennen. Deshalb ist in dieser Arbeit wiederholt davor gewarnt worden, zu früh die Axt des Verfassungsrechts zu schwingen (Teil 1 Kap. 1 C. [S. 107 ff.]; Teil 2 Kap. 2 B. IV. 8. [S. 421 ff.], D. IV. 4. a) [S. 502 ff.]). Mit derselben Unbesorgtheit, mit der das Bundesverfassungsgericht die zweite gewissensbedingte Ersatzdienstverweigerung des Zeugen Jehovas als eine Tat i. S. d. Art. 103 Abs. 3 erklären konnte (s. o. Kap. 2 B. IV. 8. [S. 422 f.], F. III. 4. c) bb) [S. 576 ff.]), versucht Herzog, die beschränkte Rechtskraft über Bord zu werfen. Es fragt sich aber, wie ernst diese Thesen gemeint sind. Denn § 211 StPO wird nicht für verfassungswidrig erklärt, sondern als konkretere Art der Wiederaufnahme verstanden. Es liegt nahe, nachzufragen, inwiefern sich diese These von der herrschenden unterscheidet, wenn man sich darin einig ist, dass die erneute Verfolgung nach einem Nichteröffnungsbeschluss bloß durch Erhebung einer 2945

P. Herzog, Rechtskraft, S. 115. P. Herzog, Rechtskraft, S. 117 f. 2947 P. Herzog, Rechtskraft, S. 131. 2948 P. Herzog, Rechtskraft, S. 135. Siehe davor M. Berner, Ne bis in idem, S. 30. Sein Hauptargument war aber, dass dieser Beschluss auf einer umfassenden Kognition beruhe: „Die dem Beschluß vorangehende Prüfung ist also die gleiche wie beim Urteil.“ Bei § 210 StPO a. F. gehe es deshalb um Wiederaufnahme. 2946

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

neuen Anklage und nicht durch das aufwändige formelle Wiederaufnahmeverfahren gem. §§ 359 ff. StPO durchzuführen ist. Einer ausdrücklichen Auflösung der früheren Entscheidung bedarf es in solchen Fällen nicht, was auch Herzog selbst einräumt.2949 Das heißt, dass auch Herzog zwei Arten rechtskräftiger Entscheidungen anerkennt: eine kräftigere, die erst nach einer formellen Auflösung verändert werden kann, und eine schwächere, die bereits unter bestimmten, weniger strengen Bedingungen ignoriert werden kann.2950 Und damit wird sogar das die Arbeit wohl beseelende Hauptanliegen vereitelt: die Kritik der beschränkten Rechtskraft des Strafbefehls. Denn wenn alles Rechtskraft ist, an der der Nichteröffnungsbeschluss im selben Sinne wie der Freispruch teilhat, dann besteht kein Hindernis, die (zwar nicht mehr beschränkt zu nennende) Rechtskraft des Strafbefehls genauso kräftig, besser: genauso schwach auszugestalten wie die des Nichteröffnungsbeschlusses – womit man bei der Meinung angekommen wäre, die Herzog gerade zu bekämpfen vorhatte. IV. Radtke 1. Das raffinierteste der bisher gebotenen Modelle entwickelt Radtke. Anders als Herzog erliegt er nicht der Versuchung unangemessener Vereinfachung, sondern setzt sich von vornherein das Ziel, ein gestuftes System, eine „Rangfolge der Sperrwirkung“ auszuarbeiten.2951 Im Gegensatz zu Herzog richtet er auch keine übertriebenen Erwartungen an Art. 103 Abs. 3 GG, sondern stellt nüchtern und bescheiden fest, dass die Vorschrift kaum konkrete Vorgaben für die Lösung des Problems hergibt.2952 Sein zentrales Argument ist ein solches der Systemgerechtigkeit; diese stelle zugleich eine Anforderung des allgemeinen Gleichheitssatzes, also von Art. 3 Abs. 1 GG dar.2953 Aus seiner ausführlichen Begründung der Rechtskraft im einem früheren Abschnitt seiner Monografie2954 möchte er explizit keine Rückschlüsse für das vorliegende Problem ziehen.2955 Radtke strukturiert sein System auf Grundlage der Unterscheidung zwischen der Form der Wiederaufnahme einerseits und materiellen Voraussetzungen der Wiederaufnahme andererseits.2956 2949

P. Herzog, Rechtskraft, S. 134. Dieselben Bedenken lassen sich gegen den Versuch von Nose, ZStW 82 (1970), S. 786 f. erheben, eine vor der Hauptverhandlung erfolgende Prozessbeendigung kraft eines von ihm sog. fehlenden Anklageinteresses in volle Rechtskraft erwachsen zu lassen. 2951 Radtke, Strafklageverbrauch, S. 307 f. 2952 Radtke, Strafklageverbrauch, S. 310. 2953 Radtke, Strafklageverbrauch, S. 311 f. 2954 Radtke, Strafklageverbrauch, S. 36 ff., insb. 51 ff. 2955 Radtke, Strafklageverbrauch, S. 279. 2956 Radtke, Strafklageverbrauch, S. 316 ff. 2950

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Bei der Form der Wiederaufnahme geht es um die Frage, ob die Veränderung der verfahrenserledigenden Entscheidung nach den Vorschriften der § 359 ff. StPO ergehen soll oder schlichtweg durch Einleitung eines erneuten Ermittlungsverfahrens und Erhebung einer erneuten Klage. Der erste, aufwändigere Weg sei erforderlich, wenn die Entscheidung auf einer richterlichen Überzeugung beruht.2957 Dies ist beim normalen Sachurteil und auch beim Strafbefehl, beim Bußgeldbeschluss gem. § 72 OWiG, beim Bußgeldurteil und beim Verwerfungsbeschluss gem. § 349 Abs. 2 StPO der Fall.2958 Entscheidungen, die auf Grundlage eines Anfangsverdachts oder eines hinreichenden Verdachts getroffen werden, dürften wegen ihrer geringeren Richtigkeitsgarantie bereits mittels eines weniger formalisierten Verfahrens verändert werden.2959 Bei den materiellen Wiederaufnahmevoraussetzungen gehe es um die Frage, „an welche Umstände die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens materiell grundsätzlich geknüpft werden kann.“ 2960 Nach einer kritischen Durchsicht einer Vielzahl an sich denkbarer Kriterien2961 erklärt Radtke nur drei von ihnen für maßgeblich. Sein erstes Kriterium ist der Umfang der Kognitionspflicht: Entscheidungen, bei denen das Gericht nicht zur vollständigen Aufklärung verpflichtet ist, sondern berechtigt ist, von einer vollständigen Ausübung der Kognitionspflicht abzusehen, begründeten eine weniger starke Sperrwirkung als Entscheidungen, die eine vollständige Ausübung der Kognitionspflicht zur Voraussetzung haben.2962 Zweitens stellt er auf die Zuverlässigkeit der Sachverhaltsaufklärung ab, also konkret darauf, ob die Entscheidung auf Grundlage einer eine größere Richtigkeitsgewähr bietenden Hauptverhandlung getroffen wird oder bloß nach Aktenlage.2963 Weil aber die Hauptverhandlung für die Beurteilung von Rechtsfragen keine Verbesserungen bietet, gestattet eine Entscheidung nach Aktenlage nur eine erneute Prüfung der tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen, nicht aber der rechtlichen Subsumtion.2964 Sein drittes Kriterium ist das Bestehen oder Nichtbestehen einer Begründungspflicht: dort, wo keine Begründungspflicht existiert (etwa bei den §§ 153 Abs. 2, 153a Abs. 2 StPO), werde man für eine Wiederaufnahme keine nova erfordern

2957 2958 2959 2960 2961 2962 2963 2964

Radtke, Strafklageverbrauch, S. Radtke, Strafklageverbrauch, S. Radtke, Strafklageverbrauch, S. Radtke, Strafklageverbrauch, S. Radtke, Strafklageverbrauch, S. Radtke, Strafklageverbrauch, S. Radtke, Strafklageverbrauch, S. Radtke, Strafklageverbrauch, S.

321. 321 f., 341. 322 f. 318. 323 ff., 326 ff. 329 ff., 331. 331 ff. 333.

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können.2965 Weil dies aber nichts anderes als eine dem System der Rechtskraft eigentlich fremde Korrektur von Subsumtionsfehlern bedeute, verlangt Radtke für eine Fortsetzung der Verfolgung, dass die Tat als zu einer höheren Deliktsstufe (von Vergehen auf Verbrechen) gehörig angesehen wird.2966 Daraus gewinnt er sein gestuftes System der Rechtskraft verfahrenserledigender Entscheidungen. Auf der ersten Stufe steht das Strafurteil als „oberer Fixpunkt“ der Skala, neben ihm der Verwerfungsbeschluss gem. § 349 Abs. 2 StPO.2967 Auf der zweiten Stufe befindet sich der Strafbefehl, der sich vom Strafurteil nur bezüglich der Zuverlässigkeit der Methoden der Sachaufklärung unterscheidet:2968 Deswegen sei eine umfassende Wiederaufnahme propter nova gerechtfertigt.2969 Die weitere im Gesetz enthaltene Voraussetzung, dass es um eine erneute Verfolgung als Verbrechen gehen müsse (§ 373a StPO), sei indes eine Folge der Systemgerechtigkeit im Vergleich zu § 153a Abs. 1 S. 5 StPO, der auch eine solche Voraussetzung kennt.2970 Auf der dritten Stufe steht der Nichteröffnungsbeschluss gem. § 204 StPO; die Entscheidung erfordert keine richterliche Überzeugung, so dass sie nicht erst unter den formellen Voraussetzungen der §§ 359 ff. StPO auflösbar sei, und wegen des geringeren Umfangs der Kognitionspflicht könne das Verfahren bei beliebigen nova auch zur Verfolgung bloßer Vergehen wiederaufgenommen werden.2971 Und auf einer parallelen, nicht niedrigeren Stufe (man könnte sie die Stufe 3b nennen) stünden die Beschlüsse gem. §§ 153a Abs. 2, 153 Abs. 2 StPO, die nur eine Wiederaufnahme zur Verfolgung von Verbrechen zuließen, ohne dass dazu nova erforderlich wären.2972 2. Wie eingangs gesagt, ist das von Radtke formulierte System eine beeindruckende Leistung, was ihre Originalität, Ausdifferenziertheit und auch positivrechtliche Plausibilität anbelangt. Insbesondere die Unterscheidung zwischen Wiederaufnahmeform und materiellen Wiederaufnahmevoraussetzungen ist eine willkommene Klärung, wenn es sich auch, wie u. Kap. 6 A. II. (S. 859 f.) näher ausgeführt werden soll, nicht empfiehlt, bei einer erneuten Anklageerhebung aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel von Wiederaufnahme zu sprechen. 2965 Radtke, Strafklageverbrauch, S. 335 ff., 338; im Anschluss an Loos, JZ 1978, S. 596 f., 600. 2966 Radtke, Strafklageverbrauch, S. 339. 2967 Radtke, Strafklageverbrauch, S. 347. 2968 Radtke, Strafklageverbrauch, S. 347. 2969 Radtke, Strafklageverbrauch, S. 347. 2970 Radtke, Strafklageverbrauch, S. 347. 2971 Radtke, Strafklageverbrauch, S. 349. Er fragt sich aber auch, ob angesichts der Tatsache, dass die Kognitionspflicht bei § 204 StPO weiter reicht als bei § 153a Abs. 2 StPO, es sich nicht empfehlen würde, eine Wiederaufnahme nach einem Beschluss gem. § 204 StPO vom Vorliegen eines Verbrechens abhängig zu machen, was er deshalb ablehnt, weil hiermit dieselben materiellen Wiederaufnahmevoraussetzungen gelten würden wie beim Strafbefehl. 2972 Radtke, Strafklageverbrauch, S. 350.

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a) Nach näherem Hinsehen tauchen jedoch Zweifel auf. Sie beruhen sämtlich darauf, dass Radtke, wie auch anfänglich betont, eine Anbindung des ganzen Gebäudes an die Rechtskrafttheorie nicht einmal versucht, sondern stattdessen Systemgerechtigkeit und einzelne Fixpunkte des positiven Rechts zum Ausgangspunkt seiner Erwägungen macht. Der Umstand, dass Radtke seine Erwägungen zur ratio der Rechtskraft nicht verwerten kann, dass er sein am Anfang der Monografie gemachtes Versprechen, ein System zu entwerfen, das sich „in die allgemeine strafprozessuale Rechtskraftlehre einfügen“ lassen sollte,2973 unerfüllt lassen muss, ist aber nicht nur Beweis, sondern auch implizites Geständnis, dass seine allgemeinere Rechtskraftlehre nicht in Ordnung sein kann.2974 Die Überzeugungskraft der einzelnen, von Radtke genannten Kriterien ist deshalb eher zufällig. Insbesondere beruhen auch sie, ähnlich wie das klassische Modell, auf einer Verkennung, dass es beim Strafklageverbrauch in erster Linie um ein Recht des Betroffenen gehe, nicht erneut in Anspruch genommen zu werden. In dieser Hinsicht bleibt Radtke leider hinter Gantzer zurück. b) Dass dies bei den beiden zuerst angeführten Kriterien von Radtke der Fall ist, nämlich dem Umfang der Kognitionspflicht und der Zuverlässigkeit der Sachverhaltsaufklärung, muss nicht erneut ausgeführt werden. Hier sind die o. C. II. 1. (S. 713 ff.) bei der Kritik der situativen Komponente des klassischen Modells entwickelten Erwägungen einschlägig: Je leichtfertiger der Staat mit der Wahrheitsfindung umgeht, desto mehr wird ihm das Recht zuerkannt, bei Bedarf noch einmal zu verfolgen. c) Aber auch Radtkes drittes Kriterium, das Vorhandensein einer Begründungspflicht, ist äußerst fragwürdig. Erstens besteht bei fehlender Begründung entgegen Radtke keine praktische Unmöglichkeit der Prüfung, ob es bei den Tatsachen oder Beweismitteln um nova geht, da der Maßstab für die Neuheit der Tatsachen nicht nur ihre Berücksichtigung in der einschlägigen Entscheidung (oder in einer früheren, wie etwa im Eröffnungsbeschluss2975), sondern auch ihre Berücksichtigungsfähigkeit ist, m. a. W.: die Tatsache, dass sie aus den Akten erschließbar waren.2976 Noch wichtiger ist aber eine zweite Überlegung. Denn nach Radtke soll die bequeme, arbeitssparende Vorgehensweise des Staates diesem das Recht geben, das Verfahren unabhängig von nova neu aufzugreifen, d.h. schlichte Rechtsfehler zu korrigieren. Radtke selbst ist die Problematik nicht völlig unbemerkt geblieben; nach der (wie gesehen unrichtigen) Behauptung, dass man ohne Begründung nicht klären könne, ob man es mit nova zu tun hat, erwägt er, ob man lege ferenda eine Begründungspflicht einführen sollte, was er aber als nicht 2973

Radtke, Strafklageverbrauch, S. 25. Zur Kritik bereits o. Kap. 1 C. II. (S. 349 u. Fn. 1342). 2975 So aber Loos, JZ 1978, S. 596 Fn. 72, im Zusammenhang seiner Überlegungen zur Sperrwirkung der Einstellung gem. § 153 Abs. 2 StPO. 2976 Paeffgen, SK-StPO § 211 Rn. 5. 2974

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

durchsetzungsfähig zurückweist.2977 Hier wird ersichtlich, auf welche schiefen Bahnen seine begründungstheoretisch verkürzte Perspektive gerät: Weil die Lobby der Justiz so einflussreich ist, dass die Einführung einer Begründungspflicht bei den Einstellungsentscheidungen gem. §§ 153a Abs. 2, 153 Abs. 2 StPO rechtspolitisch indiskutabel ist, muss sich der Beschuldigte auch bei bloßen Rechtsfehlern, also unabhängig von nova, mit einer zweiten Verfolgung derselben Tat abfinden.2978 Es leuchtet ein, dass dies nicht rechtens sein kann. V. Ausblick In der Arbeit von Gantzer befinden sich wertvolle, in der späteren Diskussion jedoch nicht verwertete Ansätze im Sinne eines Umdenkens der Rechtskraftlehre aus der Perspektive des Individuums. Auf dem von ihm aufgezeigten Weg wollen wir bleiben. Es ist zu hoffen, dass die aufwändig entwickelte allgemeine Strafprozesstheorie (o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 6. d) [S. 301 ff.]) und die daraus gewonnene Rechtskraftlehre (o. Kap. 1 D. [S. 371 ff.]) uns den sicheren Halt bieten, der es gestattet, auch dort voranzuschreiten, wo Gantzer aufhören musste.

E. Eigenes Modell: Rechtskraft als Verdachtstilgung bzw. Rehabilitierung I. Hinleitung zum Modell Man stelle sich also folgendes Schreckensbild eines Strafverfahrens vor: Ein Exekutivorgan, etwa die Staatsanwaltschaft oder sogar die Polizei, verdächtigt, erhebt Beweise, vernimmt den Beschuldigten, dokumentiert alles in einer umfassenden Akte, die aber nicht einem Gericht zur Beurteilung der Berechtigung der Verdächtigung vorgelegt wird, sondern höchstens – wenn nicht die Person, die die Sache eingeleitet und in der Sache ermittelt hat, auch diese letzte Aufgabe übernimmt – einem anderen Sachbearbeiter. Dieser beraumt keine neue Verhandlung an, sondern entscheidet auf Grundlage der Akten. Eines offiziellen Spruchs über die Schuld des Täters enthält sich die Behörde aber: Am Ende des Verfahrens kann zwar eine Strafe im ontologischen Sinne verhängt werden, jedoch beruht diese nicht auf einer offiziellen Feststellung der Schuld des Betroffenen,2979 so dass eine Entscheidung „in der Sache“ nicht getroffen wird. Der Punkt ist nicht, ob ein derart strukturiertes Strafverfahren, das gewisse Ähnlichkeiten zum früher bestehenden Modell der Strafverfügungen der Polizei 2977

Radtke, Strafklageverbrauch, S. 336 f. Dass Radtke als Ausgleich eine Verfolgung wegen einer Straftat einer höheren Kategorie verlangt, mutet als Versuch an, ad hoc an den Symptomen eines Fehlers statt an den wahren Ursachen anzusetzen. 2979 Insofern ähnlich dem Strafbefehl nach der bekannten Deutung von H. Mayer, F. II. 9. (S. 811). 2978

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und des Strafbescheids der Finanzbehörden aufweist, legitim wäre. Das ist unbestreitbar nicht der Fall.2980 Es soll allein gefragt werden, ob es gerecht sein kann, demjenigen, der ein derartiges Verfahren ohne Hauptverhandlung, ohne Sachentscheidung und ohne Richter erduldet, also ohne die drei Merkmale, auf die das klassische Modell abstellt (s. o. B. II. [S. 707 f.]), ein erneutes Verfahren aufzuzwingen, falls der Verdacht entsteht, das Ergebnis des Verfahrens erschöpfe nicht den ganzen Umfang der in der bereits untersuchten und bestraften Tat begründeten Schuld. Die Antwort liegt auf der Hand: Der Staat hat hier, wie wiederholt bei der Kritik des klassischen Modells ausgeführt, seine Aufgabe, im sozialen Interesse der Generalprävention ein der Wahrheit und Gerechtigkeit entsprechendes Verfahrensergebnis zu gewinnen, selbstverschuldet versäumt. Auf der anderen Seite hat das Individuum, das auch als Schuldiger keine Pflicht hat, an dem Verfahren aktiv mitzuwirken, seinen „Teil“ – die Duldung des Verfahrens – vollumfänglich abgeleistet. Jetzt gilt es, diesen Gedanken näher auszuformulieren (u. II.), in konkreteren, anwendbaren Kriterien zu präzisieren (u. III. [S. 777 ff.]) und anschließend in das positive Recht zu übertragen (u. F. [S. 777 ff.]). II. Rechtskraft als Verdachtstilgung bzw. Rehabilitierung: das Kriterium der Verdächtigungstiefe Dieser intuitiv unmittelbar einleuchtenden und aus der Perspektive der o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 6. d) (S. 301 ff.) entwickelten Prozesstheorie zwingend ergehenden Antwort, dass in einem solchen Schreckensbeispiel nicht das Individuum, sondern der Staat der Säumige ist, liegt die Vorstellung zugrunde, dass die Rehabilitierung des von einem Strafverfahren Betroffenen, also das Versprechen, dass er nie wieder wegen derselben Sache zur Verantwortung gezogen werden soll, eine unerlässliche Bedingung für die Legitimität der Verdächtigung darstellt. Das Verfahren darf anfangen, weil es enden soll, und zwar auf immer. Jetzt geht es nicht mehr um die Frage, worauf sich die Rehabilitierung zu beziehen hat, also nicht mehr um die Frage nach dem Tatbegriff (zu ihr o. Kap. 2 [S. 378 ff.]), sondern darum, ob eine Rehabilitierung überhaupt geschuldet ist, und, wenn ja, in welcher Stärke: ob normale oder beschränkte Rechtskraft gegeben ist. Dass es eine unterschiedlich kräftige Rechtskraft geben muss, die wir einerseits als normale Rechtskraft, andererseits als beschränkte Rechtskraft bezeichnet haben (s. o. Kap. 1 A. I. [S. 330 f.]), belegt nicht erst das positive Recht Deutschlands und einer Vielzahl anderer Staaten (s. o. B. I. [S. 706 f.]). Ausschlaggebend sind vielmehr Sacherwägungen, die schon im Rahmen unserer Kritik an Gantzers und P. Herzogs Versuchen einer Verabschiedung der Figur der beschränkten 2980 Aus vorpositiver Sicht liegt eine Verletzung mehrerer grundlegenden Regeln der Verfahrensgerechtigkeit vor (s. o. Teil 1 Kap. 2 VI. 2. d) cc) [S. 258]), aus verfassungsrechtlicher Sicht eine Missachtung von Art. 92 GG (insb. BVerfGE 22, 49 [79 ff.]).

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Rechtskraft zum Ausdruck gekommen sind (o. D. II. [S. 733 f.], III. [S. 735 f.]) und deren letzte Implikationen erst im Abschnitt über die Wiederaufnahme (zuungunsten) voll entfaltet werden sollen (u. Kap. 6 D. [S. 956 ff.]): dass es einerseits einen Moment gibt, in dem man sagen kann, der Betroffene habe das ganze Verfahren erduldet, aber dass auch vor diesem Punkt dem Betroffenen bereits etwas zugemutet worden ist, wofür man ihm einen Ausgleich schuldet. Nur weil die herrschende Auffassung den Zusammenhang von Rechtskraft und Rehabilitierung nicht erfasst hat, kann sie grundsätzlich erst der richterlichen Sachentscheidung in der Hauptverhandlung strafklageverbrauchende Wirkung zumessen; aus vorliegender Perspektive impliziert dies die inakzeptable Annahme, erst diese Entscheidung würde den Betroffenen belasten, und die qualifizierte Verdächtigung eines Menschen sei etwas, was man diesem Betroffenen gegenüber nicht wirklich rechtfertigen müsse und wofür erst recht kein Ausgleich geschuldet sei. Hier soll also der Versuch unternommen werden, die verschiedenen Stärken der Rechtskraft als Spiegelbild zur unterschiedlich geschuldeten Rehabilitierung des Betroffenen zu deuten. Weil aber die zwei Schnittstellen, von denen das klassische Modell ausgeht, vereinfacht gesagt: Nichteröffnungsbeschluss und Sachurteil, überwiegend2981 von der Perspektive der Gesellschaft aus festgelegt worden sind,2982 bleibt zu klären, wie ein Ansatz, der das individuelle Recht des Beschuldigten auf Rehabilitierung ernst nimmt, hier vorzugehen hat. Rehabilitiert wird man schon dafür, ein Strafverfahren geduldet zu haben, Teil 1 Kap. 2 C. VI. 6. d) (S. 312 ff.), und nicht erst für die Duldung einer richterlichen Sachentscheidung in einer Hauptverhandlung. Das Strafverfahren ist aus der Perspektive des Individuums eine qualifizierte Verdächtigung (s. o. Teil 1 Kap. 2 B. VI. [S. 129 ff.]). Die Leitlinie muss deshalb eine Größe sein, die man als Verdächtigungstiefe bezeichnen könnte. Denn die Rehabilitierung wird als Ausgleich für die Verdächtigung geschuldet, die der Betroffene hat erdulden müssen. III. Bestimmung der Verdächtigungstiefe 1. Einleitende Bemerkungen Dieser Gesichtspunkt der Verdächtigungstiefe ist ein eher quantitativer und metaphorischer. Daraus ergibt sich die doppelte Herausforderung, die man anschließend zu bewältigen versuchen soll. 2981

Ausnahme: Gantzer, s. o. D. II. (S. 731 ff.). Dies haben wir in voller Ausführlichkeit hauptsächlich bezüglich des Urteils ausgeführt (o. C. II. 1. [S. 713712 ff.]), d.h. hinsichtlich der in der Hauptverhandlung gefällten Sachentscheidung (zu dieser Definition u. F. I. 2. [S. 778]), obwohl unsere Erwägungen zum subjektiven Erfordernis der Rechtskraft (d.h. zur richterlichen Entscheidung, s. o. C. II. 3. [S. 723 ff.]) nach dem klassischen Modell auch eine Rekonstruktion der Ansicht über die beschränkte Rechtskraft des Nichteröffnungsbeschlusses bieten können. 2982

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Wegen des quantitativen, steigerbaren Charakters eines Kriteriums, das auf eine „Tiefe“ abstellt, besteht die erste Herausforderung darin, in diesem Kontinuum der Verdächtigungstiefe zwei qualitative Schnittstellen zu erkennen, die zum einen der normalen, zum anderen der beschränkten Rechtskraft zu entsprechen haben.2983 Die normale Rechtskraft, also die nur unter strengeren Bedingungen zu beseitigende Rehabilitierung, ist in den Fällen geschuldet, in denen man dem Einzelnen so viel zugemutet hat, dass es grundsätzlich nicht mehr akzeptabel ist, ihn noch einmal zur Verantwortung zu ziehen; die beschränkte Rechtskraft wird in den Situationen einschlägig sein, in denen der Einzelne zwar nicht unbehelligt bleibt, man aber bei Weitem nicht den ganzen Weg gegangen ist. Und weil der Redeweise einer Verdächtigungstiefe zugegebenermaßen eine metaphorische Aura anhaftet, muss es – als zweite Herausforderung – gelingen, dem Gedanken einen deskriptiven Gehalt zuzuweisen, ihn also zu operationalisieren, so dass eine gesicherte Anwendung im Einzelfall möglich wird. Dass dies kein von vornherein aussichtsloses Unterfangen sein dürfte, belegt schon die Tatsache, dass uns oben Kap. 2 D. VII. (S. 520 ff.) die in dieser Hinsicht vergleichbare Aufgabe der Operationalisierung der sog. Verdächtigungsrichtung durch eine Reihe von Regeln wohl auf befriedigende Weise gelungen ist. Es empfiehlt sich, hinten anzufangen, also bei der „vollen“ Verdächtigungstiefe als Voraussetzung der vollen Rechtskraft (u. 2.), um von diesem sicheren Hafen aus den Weg zur „mittleren“ Verdächtigungstiefe als Voraussetzung der beschränkten Rechtskraft zu finden (u. 3. [S. 761 ff.]). Aus unserer Auseinandersetzung mit Gantzer und P. Herzog (o. D. III., IV. [S. 731 ff., 734 ff.]) und aus dem, was bei der Einführung des Begriffs der Verdächtigungstiefe ausgeführt worden ist (o. II. [S. 741 ff.]), können wir mit relativer Sicherheit annehmen, dass es gewisse Entscheidungen gibt, prototypisch die Nichteröffnungsentscheidung, die nicht in volle Rechtskraft erwachsen. Das heißt, dass wir methodisch über zwei Fixpunkte verfügen: das Sachurteil, das als oberster Fixpunkt in volle Rechtskraft erwächst,2984 und als mittleren Fixpunkt den Nichteröffnungsbeschluss, der in beschränkte Rechtskraft erwächst.2985 2. Volle Verdächtigungstiefe, volle Rechtskraft Wir bemühen uns zuerst um die Bestimmung der Schwelle zur vollen Verdächtigungstiefe. 2983 Skeptisch zur Möglichkeit, eine ähnliche [s. u. e) dd) (S. 757 ff.)] Herausforderung zu überwinden, Thomas III, Double Jeopardy, S. 36, 85 f., 252. 2984 Ebenso Radtke, Strafklageverbrauch, S. 308: „Fixpunkt am oberen Ende der Rangskala“. 2985 Trepper, Rechtskraft, S. 83: Der Nichteröffnungsbeschluss nehme die „zentrale Stellung“ unter den Beschlüssen ein.

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a) Urteilsverkündung? Man könnte „oben“ anfangen. Weil, wenn es überhaupt so etwas wie voll rechtskräftige Entscheidungen gibt, Verurteilungen und Freisprüche dazu gehören müssen (oberster Fixpunkt, s. o. 1. [S. 743]), könnte man daran denken, den Zeitpunkt der Urteilsverkündung als denjenigen zu nehmen, in dem die volle Verdächtigungstiefe erreicht wird. Prozesse, die diesen Punkt überschreiten, die erst danach ihr Ende finden, hätten den Betroffenen voll belastet, so dass erst hier volle Rehabilitierung geschuldet wäre. Dies kann aber offensichtlich nicht überzeugen. Der Angeklagte, der von der Polizei vernommen wird, sich einen Verteidiger suchen muss, eine Anklageschrift zugestellt bekommt, sich Zeugen und weitere Beweismittel besorgt, zum vorgegebenen Verhandlungstermin vor Gericht erscheint, dort erneut vernommen wird, die Erhebung von ihn regelmäßig belastenden Beweisen erduldet und eigene Gegenbeweise zu erheben versucht, ein solcher Angeklagter hat ein Verfahren durchgemacht, und dies nicht nur unabhängig davon, ob das im Beratungszimmer versammelte Gericht sich im Sinne eines Freispruchs oder einer Verurteilung äußert, sondern auch und vor allem davon, ob sich das Gericht überhaupt zu einer Entscheidung entscheiden kann. Darin hat man auch die Ungerechtigkeit der absolutio ab instantia erblickt, nämlich in der Tatsache, dass sie trotz voller Verfahrensdurchführung die abschließende Entscheidung von der Bedingung der Gewissheit über die Tatsachenfragen abhängig machte (s. o. Kap. 1 C. VII. [S. 363 ff.], Kap. 4 C. II. 2. [S. 717 ff.]). Damit wird klar, dass die volle Verdächtigungstiefe bereits an einem Punkt vor der Urteilsverkündung (und auch vor der Gerichtsberatung) eintreten muss. b) Versetzung in den Anklagestand bzw. Eröffnung des Hauptverfahrens Man könnte auch beim untersten Fixpunkt ansetzen. Dass der Nichteröffnungsbeschluss keine volle Rechtskraft begründet, bedeutet nicht nur, dass die bloße Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft und ihre Kenntnisnahme durch ein Gericht noch keine volle Verdächtigungstiefe verkörpern, sondern dass diese erst zu einer späteren Phase im Verfahren erreicht werden kann. Diese Phase könnte darin bestehen, dass entschieden wird, die Anklage nicht abzuweisen, also das Verfahren fortzusetzen. Aus der Perspektive des Betroffenen bedeutet dies einen Statuswechsel, den man früher als Versetzung in den Anklagestand bezeichnete und der heute Änderung vom bloßen Beschuldigten bzw. Angeschuldigten zum Angeklagten genannt wird (§ 157 StPO). Wichtigste Rechtsfolge dieser Statusänderung für den Betroffenen ist, dass er dazu aufgefordert wird, vor Gericht zu erscheinen (Ladung2986, § 216 StPO); faktisch ist es zumindest emp2986 Zum Begriff s. statt aller Deiters, SK-StPO § 214 Rn. 3: „rechtsverbindliche Aufforderung, zu erscheinen“.

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fehlenswert, wenn er jetzt anfängt, seine Verteidigung vorzubereiten, etwa Zeugen zu suchen und gegebenenfalls laden zu lassen (§ 219 Abs. 1, § 220 Abs. 1 StPO), Beweise zu sammeln oder gegebenenfalls Beweisanträge zu stellen (§ 219 Abs. 2 StPO). „Er ist endgültig zum Angeklagten geworden, dessen Bestrafung von dem erkennenden Gericht mit aller Tatkraft gefordert wird.“ 2987 Es kann sein, dass das Verfahren zu diesem Zeitpunkt sein Ende findet, also nach Eröffnung des Hauptverfahrens, aber noch vor Beginn der Hauptverhandlung (etwa durch eine Einstellung gem. § 206a Abs. 1 StPO). Obwohl die einschlägigen Sacherwägungen noch nicht ausgearbeitet worden sind, sondern wir ihnen gerade auf der Spur sind, scheint diese Form der Verfahrenserledigung – wenigstens in der Regel2988 – viel näher am ersten Fixpunkt des Nichteröffnungsbeschlusses als am zweiten des Sachurteils nach einer Hauptverhandlung zu liegen, und zwar nicht bloß in zeitlicher, sondern auch in materieller Hinsicht. Deshalb kann man bereits an dieser Stelle die nicht unplausible Vermutung äußern, dass mit der bloßen Eröffnung des Hauptverfahrens bzw. der Versetzung in den Anklagestand noch nicht die Stufe der vollen Verdächtigungstiefe erreicht werde. Worin aber diese materielle Hinsicht besteht, was dieser Prozessphase noch fehlt, um von voller Verdächtigungstiefe sprechen zu können, das bleibt alles noch offen. c) Beginn der öffentlichen Hauptverhandlung Wir kommen dem entscheidenden Gesichtspunkt näher, der Rahmen wird zunehmend enger. Irgendwo nach der Eröffnung des Hauptverfahrens und vor der Urteilsverkündung bzw. Gerichtsberatung ist dieser Punkt erreicht, und ein starker Kandidat könnte die Situation der Hauptverhandlung an sich sein. Die Belastungen der Hauptverhandlung für den Angeklagten sind vielfach beschrieben worden, insbesondere von soziologischer Seite. Sie ist, wie o. Teil I Kap. 2 B. IV. (S. 123 f.) gesehen, als „Degradierungszeremonie“ 2989 oder sogar als eigenständige Strafe vor der Strafe2990 charakterisiert worden, und dies vor allem, weil sie von Beginn an, also schon bei der Bekanntmachung des in der Anklage verkörperten Vorwurfs, die öffentliche Ausstellung des Angeklagten an einer Art modernem Pranger bedeutet. Semper aliquid haeret, erst recht wenn die Verdächtigung in der formalisierten und öffentlichen Hauptverhandlung thematisiert wird. Allein der Umstand, dass eine Vielzahl beruflich qualifizierter und sozial angesehener Menschen mehrere Stunden damit zubringt, sich in einem Ge2987

Nagler, GS 111 (1938), S. 343. Denn die Vorschrift wird nicht nur auf Beschlüsse im Zwischenverfahren, sondern auf alle Beschlüsse außerhalb der Hauptverhandlung, d.h. auch in der Revisionsinstanz, angewandt (s. etwa Ha. Schneider, KK-StPO § 206a Rn. 4). 2989 Garfinkel, AJS 61 (1956), S. 420 ff. 2990 Siehe die o. Fn. 385 Zitieren. 2988

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richtssaal zu sammeln und mit der Verdächtigung des Angeklagten zu beschäftigen, belegt, dass die Sache ernst sein muss, und damit ist es mit dem Ruf des Beschuldigten bereits dahin. So überzeugend wie sich diese Argumentation auch anhören mag, entpuppt sie sich nach näherer Überlegung als fehlgeleitet, und dies aus ähnlichen Erwägungen wie diejenigen, die bereits dagegen gesprochen haben, sie ganz am Anfang der Entwicklung unserer Strafprozesstheorie für die Bestimmung des Übels des Strafverfahrens zu verwerten (s. o. Teil 1 Kap. 2 B. IV. [S. 123 ff.]). Zwar kann die Öffentlichkeit des Verfahrens auch eine Last sein; im Allgemeinen ist aber die Alternative eines schriftlichen und geheimen Verfahrens eine ungemein schlimmere, die an sich zwar nicht mehr die Ehre bzw. das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Betroffenen gefährdet, aber im Gegenzug andere, wohl wichtigere Belange. Diese kann man im vorliegenden Zusammenhang noch nicht im Einzelnen aus der oben formulierten Theorie ableiten, aber zu ihnen wird in letzter Hinsicht wohl sogar die Stellung des Beschuldigten als Prozesssubjekt gehören, da hinter verschlossenen Türen keiner wissen kann, ob der Beschuldigte so behandelt wird, wie es seinem Status als Prozesssubjekt entsprechen würde. Deshalb kann es sein, dass insbesondere Unschuldige in der öffentlichen Hauptverhandlung nicht nur eine Beschmutzung ihres Namens, sondern auch eine Gelegenheit zu dessen Reinigung erblicken und sie deshalb also gutheißen, wenn auch zugegeben werden muss, dass es den meisten Beschuldigten nicht so geht. Der Kampf um den Öffentlichkeitsgrundsatz soll hier nicht ausgetragen werden. Für die vorliegende Fragestellung interessiert allein, ob man in der öffentlichen Hauptverhandlung die Zuspitzung des spezifischen, das Strafverfahren konstituierenden Übels erblicken kann. Um diese These zu widerlegen, braucht man nicht einmal zu behaupten, dass die Alternative des schriftlich-heimlichen Verfahrens schlimmer wäre, sondern bloß, dass sie denkbar und sogar, dass sie existent ist. Das kann aber offensichtlich nicht die Schlussfolgerung berechtigen, gegen den Betroffenen sei deshalb kein eigentliches Strafverfahren durchgeführt worden, so dass ihm auch deshalb keine Rehabilitierung geschuldet werde. Die volle Verdächtigungstiefe muss deshalb unabhängig davon sein, ob das Hauptverfahren öffentlich oder heimlich gestaltet ist. Allein die öffentliche Bekanntmachung des Verdachts in einem Gerichtssaal kann nicht ausschlaggebend sein. d) Beginn der Beweisaufnahme aa) Wir stehen noch an derselben Stelle wie am Ende des vorletzten Abschnitts. Die volle Verdächtigungstiefe wird irgendwo im Hauptverfahren erreicht; wo genau, steht aber noch offen. Vielleicht lohnt es sich, zu der Situation zurückzukehren, in der sich das Gericht für seine Beratung zurückzieht, sich aber dann weigert, zu entscheiden, wie bei der absolutio ab instantia oder dem Vorbe-

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halt einer anderweitigen Aburteilung. Die Ungerechtigkeit derartiger Erledigungsformen besteht darin, dass sie, wie wiederholt gesagt wurde, dem Beschuldigten sein Rehabilitierungsrecht abschneiden. Es besteht nämlich eine starke Intuition in dem Sinne, dass der Betroffene, der in allen diesen Konstellationen den Prozess bis zum Ende erduldet hat, in diesem Sinne „das Seine“ getan hat. Was ist aber dieses Seine? bb) Es liegt nahe, die Metapher eines Kartenspiels heranzuziehen. Es erschiene unbillig oder unfair, wenn es dem Staat gestattet wäre, die Karten neu auszuteilen, sobald er von einem Trumpf seines Gegenspielers erfährt, nachdem er seinen Gegner durch die Drohung mit der hier sogar folgenschweren Niederlage gezwungen hat, sein Blatt zu zeigen. Eine solche Argumentation beruht aber auf einem Verständnis des Strafverfahrens als einem Spiel, das aus mehreren, o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 2. d) bb) (S. 246 ff.) ausgeführten Gründen abgelehnt werden muss. Dennoch führt sie in eine richtige Richtung; sie muss nur von diesen irreleitenden Implikationen bereinigt werden. cc) Der ausschlagegebende Gesichtspunkt offenbart sich, wenn man zur These des Strafverfahrens als qualifizierter Verdächtigung zurückkehrt und sich auf die Merkmale zurückbesinnt, die die Qualifiziertheit der Verdächtigung begründeten (s. o. Teil 1 Kap. 2 B. VI. [S. 131 ff.]). (1) Eine Verdächtigung, als Zutrauen von etwas Schlechtem, nannten wir aus zwei Gründen qualifiziert: wegen eines subjektiven Merkmals, nämlich dass der Staat derjenige ist, der sie äußert, und wegen des objektiven Merkmals, dass es bei ihr um das Zutrauen der Begehung einer Straftat geht. Diese objektive Komponente weist nach näherer Betrachtung sowohl eine vergangenheitsbezogene als auch eine zukunftsbezogene Dimension auf. Die vergangenheitsbezogene Dimension besteht schlicht darin, dass die Tatsache, dass jemand eine Straftat begangen hat, einen ehrenrührigen Charakter hat und diesen Menschen als schlechten Bürger erscheinen lässt. Die zukunftsbezogene Dimension liegt ihrerseits darin, dass die Begehung einer Straftat die Verhängung einer Strafe zur Folge haben kann. Eine Verdächtigung, man habe möglicherweise etwas Strafbares begangen, die von einer mit der Aufgabe der Strafverfolgung betrauten Person geäußert wird, beinhaltet insofern immer zugleich die Drohung, man werde hierfür eine Strafe erleiden müssen. (2) Den Anknüpfungspunkt für die Bestimmung der Verdächtigungstiefe werden diese beide Dimensionen der Verdächtigung liefern, die, wie o. Teil 1 Kap. 2 B. VI. (S. 131 f.) bereits angedeutet, steigerungsfähig sind. (a) Die vergangenheitsbezogene Dimension der qualifizierten Verdächtigung ist graduierbar. Zwar ist es eine ontologische Frage, die von vornherein feststeht, unabhängig davon, ob die Tat begangen worden ist oder nicht. Die Verdächtigung ist aber ein epistemischer und kein ontologischer Begriff; sie hat mit der Kennt-

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nis der Wirklichkeit und nicht mit der Wirklichkeit selbst zu tun. Je besser diese Kenntnis wird, desto mehr verdichtet sich das Möglichkeitsurteil zum Wahrscheinlichkeitsurteil und bis zu dem für eine Verurteilung erforderlichen Gewissheitsurteil. (b) Vergleichbares lässt sich von der zukunftsbezogenen Dimension, von der Drohung, behaupten. Je näher das Verfahren seinem Ende rückt, desto augenfälliger wird diese Drohung. (3) Es fragt sich aber, ob sich ein Punkt ausmachen lässt, an dem die Quantitätssteigerung in Qualität umschlägt. (a) Bei der vergangenheitsbezogenen Dimension lässt sich ein solcher Moment durchaus finden. Jedes Verfahren, das nach Wahrheit sucht, wird Beweise erheben müssen über die Frage, ob der Verdächtige sich tatsächlich so verhalten hat, wie verdächtigt. Einige dieser Beweise werden nur erhoben, damit die Verdächtigung überhaupt als solche formuliert werden kann. Andere, die in einem mündlichen Verfahrenssystem regelmäßig im Hauptverfahren erhoben werden, sollen dazu dienen, die Verdächtigung zu überprüfen, oder in herkömmlicher Sprache: sollen als Urteilsgrundlage benutzt zu werden. Dieser Moment, also der Moment der Gewinnung der Urteilsgrundlagen, ist die Schnittstelle, nach der wir gesucht haben, denn hier tritt eine völlig neuartige Belastung für den Beschuldigten ein. Sobald also die Erhebung der für die Entscheidung über den Wahrheitsgehalt der Verdächtigung benutzbaren Beweise im Gange ist, bekommt das Verfahren eine neue Qualität. Ab jetzt wird die Frage thematisiert, ob der Verdächtigte den Gegenstand des Verdachts wirklich begangen hat, m. a. W., ob das Verfahren mit einem Schuldspruch und mit einer Strafe enden soll. Der Betroffene muss jetzt nicht bloß seine Verteidigung vorbereiten, wie es o. b) (S. 746 f.) der Fall war, sondern wird, unter einer Drohung mit dem empfindlichen Übel einer möglichen Verurteilung und Bestrafung, genötigt, sich zu verteidigen. Zwar kennt das heutige Strafverfahren ein Schweigerecht; trotzdem stellt die Erhebung der als Urteilsgrundlage benutzbaren Beweise für den Betroffenen die Zumutung dar, etwas dagegen zu unternehmen oder die Kosten seines Nichtstuns zu tragen. Anhand einer Metapher, einer viel angemesseneren, als der des Kartenspiels: Mit der Beweisaufnahme fängt der Staat an, den Sarg des Betroffenen zuzunageln. Dem Betroffenen wird weder zugemutet, dass er beim Zunageln mithilft (Schweigerecht, nemo-tenetur), noch, dass er sich dem nicht widersetzt (Verteidigungsrecht). In den Sarg muss er sich dennoch begeben bzw. sich tragen lassen,2991 und im Sarg muss er während des ganzen Verfahrens liegen bleiben. 2991 Dies ist in einem Verfahren, in dem der Angeklagte bei der Hauptverhandlung anwesenheitspflichtig ist (§ 231 StPO; krit. Volk, FS Böttcher, S. 213 ff.; ders. FS E. Müller, S. 711 f.; Püschel, StraFo 2012, S. 495), besonders sichtbar; aber jedes Verfahren, auch ein unwidersprochener Strafbefehl oder ein Verfahren in absentia, das

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Falls dem Staat das Zunageln doch nicht gelingen sollte, wird er deshalb nicht verlangen können, dass sich der Betroffene wieder dorthinein begibt. Es fragt sich nur, ob die Erreichung der vollen vergangenheitsbezogenen Verdächtigungstiefe am Anfang oder am Ende der Beweisaufnahme geschieht. Denkbar erschiene zunächst, die Durchverhandlung bis zur Schuldspruchreife zu verlangen. Das Problem damit wäre, dass nach Abschluss des Vorgangs der Beweiserhebung, also nachdem die Gewinnung der Entscheidungsgrundlagen abgeschlossen ist, die Belastung, etwas dagegen tun zu müssen bzw. die Folgen seines Nichtstuns zu tragen, in der Form nicht mehr da ist. Auf die Beratungen des Gerichts kann der Beschuldigte sowieso nicht mehr einwirken. Aber auch darüber, wann die Beweisaufnahme abgeschlossen wird, hat er nur beschränkten Einfluss, nämlich vor allem durch die Stellung von Beweisanträgen. Materiell muss die Beweisaufnahme soweit reichen, bis der Sachverhalt hinreichend aufgeklärt ist und das Gericht seine Überzeugung gewonnen hat; wann dieser Punkt erreicht wird, bestimmt in erster Linie das Gericht. Das bedeutet also, dass grundsätzlich bereits beim Eintritt in diese Phase der Gewinnung der Urteilsgrundlagen die Verdächtigungstiefe ihre volle Höhe erreichen muss. Ab diesem Moment muss der Beschuldigte handeln. Schon die Entscheidung des Staates, die Verdächtigung so ernst zu nehmen, dass Beweise über sie zur Begründung seines möglicherweise eine Strafe verhängenden Urteils aufgenommen werden, muss er verantworten können. (b) Die Entscheidungsgrundlagen, um deren Gewinnung man sich bemüht, sollen das Sachurteil tragen, das in einer Verurteilung oder einem Freispruch bestehen wird. Damit ist man schon bei der zukunftsbezogenen Dimension der qualifizierten Verdächtigung, also bei der in ihr verkörperten Drohung mit einer Verurteilung bzw. Bestrafung. Auch bei ihr lässt sich eine Schnittstelle ausmachen, an der die Drohung eine andere Qualität erreicht und somit akut wird. Das zeigt sich am besten am Beispiel eines schriftlichen Verfahrens, d.h. eines Verfahrens, bei dem bereits die Ermittlungsakten eine hinreichende Entscheidungsgrundlage darstellen, welche also in einer Frühphase gewonnen wird. Der Untersuchungsführer, sei es ein Untersuchungsrichter, sei es ein Staatsanwalt, bildet seine Akte, die insofern nicht nur aus Ermittlungsergebnissen, sondern aus voll verwertbaren Beweisen besteht; diese muss aber noch einem anderen Spruchkörper weitergeleitet werden, dem erkennenden Gericht. Es leuchtet ein, dass die Drohung, verurteilt zu werden, nicht vor dem Moment akut wird, in dem diese Weiterleitung stattgefunden hat. Davor konnte der Betroffene noch nicht verurteilt werden. wohl nicht notwendigerweise illegitim sein muss (s. Ubertis, Processo senza imputato, S. 175 ff.; EGMR Krombach v. Frankreich, Beschw. Nr. 29731/96, v. 13.5.2001, Rn. 83 ff.; Sejdovic v. Italien, Beschw. Nr. 56581/00, v. 1.3.2006, Rn. 86 ff.), mutet dem Betroffenen Vergleichbares zu.

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Es fragt sich, ob sich die Zuspitzung der Verurteilungsgefahr nicht erst zu einem späteren Zeitpunkt ergibt, etwa zu dem, in dem sich das Gericht zur Beratung zurückzieht. Jedoch wird man ab dem Moment, in dem das erkennende Gericht anfängt, sich mit der Sache zu befassen, schwerlich einen neuen qualitativen Sprung bis zum Urteil ausmachen können. Denn die nächste Gerichtsentscheidung, die nicht nur eine Prozessfrage (wie etwa einen Beweisantrag), sondern die Sache zum Gegenstand hat, wird diejenige sein, die die Anklage für begründet erklären kann. Darauf wird es für die zukunftsbezogene Dimension der Verdächtigung ankommen müssen: Sie tritt ein, wenn die nächste Sachentscheidung des Gerichts diejenige sein kann, die den Beschuldigten verurteilt. (4) Die gebotene Begründung erkennt dem Verfolgten also schon vor dem Abschluss des Verfahrens ein Recht darauf zu, nicht erneut verfolgt zu werden. Es kommt nicht auf eine reelle Sachentscheidung an, sondern auf ihre Möglichkeit. Es fragt sich nur, ob hier nicht eine Präzisierung hinsichtlich der Frage notwendig ist, ob der Beschuldigte nicht auf dieses Recht verzichten kann. Denn vielen Beschuldigten kann die Aussicht darauf, erst nach Abschluss des Verfahrens auf immer in Ruhe gelassen zu werden, weniger attraktiv erscheinen als die Gewissheit, sich schon heute über sein gerade laufendes Verfahren keine Sorgen mehr machen zu müssen, und dies auch dann, wenn die Sorgen übermorgen neu entstehen müssen. Positivrechtlich denke man hier an die Einstellung gem. § 153 Abs. 2 StPO, die laut Gesetz in jeder Lage des Verfahrens zulässig ist, also auch nach dem Anfang der Beweisaufnahme, und die grundsätzlich von der Zustimmung des Angeklagten abhängig ist. Unten F. II. 3. (S. 788 ff.) werden wir uns näher mit der Rechtskraftfähigkeit dieser Entscheidung beschäftigen. Es sei aber schon vorweggenommen, dass ihr heutzutage niemand mehr volle Rechtskraftwirkung zumisst. Käme es aber allein auf den Beginn der Beweisaufnahme an, würde man hier anders entscheiden müssen. Dies hätte jedoch die missliche Folge, dass der Staat unter den Druck geraten würde, das Verfahren immer bis zur vollen Aufklärung des Prozessgegenstands durchzuführen, damit ihm keine übersehenen Strafansprüche verloren gingen. Gerade dem Beschuldigten dürfte in so einer Situation am wenigsten gedient sein. In der Tat wird man dem Beschuldigten nicht die Möglichkeit wegnehmen dürfen, dass sein Verfahren früher abgeschlossen wird, auch dann, wenn der Staat nur unter der Voraussetzung dazu bereit ist, dass der Beschuldigte sein an sich begründetes Rehabilitierungsrecht aufgibt. Denn die Rehabilitierung war ein Ausgleich für die Duldung einer Verfolgung, die den Verfolgten vor allem einer Verurteilungs- und Bestrafungsgefahr aussetzte, die er nicht mehr in der Hand hatte. Durch seine Zustimmung bzw. durch ihre Verweigerung wird ihm gerade eine bestimmte Kontrolle über sein Schicksal zuerkannt. Das bedeutet auch, dass, wenn sich der Beschuldigte mit einer Verfahrensbeendigung vor dem Sachurteil für einverstanden erklärt, ihm durch diese sofortige, wenn auch nicht im starken Sinne bestandskräftige Beendigung nichts weggenommen wird. Er kann

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den Prozess auf das Risiko der ungünstigen Sachentscheidung hin dulden und damit das Recht der vollen Rechtskraft erwerben oder er kann seine jetzige, wenn auch nicht so bestandskräftige Ruhe höher einschätzen als eine, die zwar stärker ist, aber in einer für ihn zu fernen Zukunft liegt. Was unbedingt verhindert werden muss, sind Einstellungen zwecks Vermeidung eines Freispruchs2992 und somit der vollen Rechtskraft; es kann aber sein, dass ihm der Freispruch viel zu unsicher oder viel zu fernliegend erscheint, und in solchen Fällen muss der Betroffene urteilen dürfen, was für ihn wertvoller ist, sofortige oder definitive Ruhe. Dies ist auch mit den bei der allgemeinen Strafprozesstheorie entwickelten Grundsätzen vereinbar. Im Abschnitt über das Konsensprinzip sprachen wir uns gegen die Annahme aus, dass jede Verzichtsentscheidung im Strafverfahren per se unter wirksamkeitsausschließendem Zwang erfolge, und begründeten, dass dem Konsens zwar keine materiellrechtliche, aber durchaus prozessuale Wirkung zugemessen werden durfte (o. Teil 1 Kap. 2 C. III. 3. [S. 261 ff., 272 ff.). Die Rehabilitierung ist prozessualer Natur (o. Teil 2 Kap. 1 D. [S. 372 f.]). Eine Schranke des Konsenses könnte sich auch dann ergeben, wenn es sich bei der Rehabilitierung um eine grundlegende Anforderung der Verfahrensgerechtigkeit handeln würde, ähnlich dem Folterverbot oder dem nemo iudex in causa suaGrundsatz (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. III. 2. d) cc) [S. 258 ff.]). Dies scheint deshalb nicht der Fall zu sein, weil, mit einer eher bildlichen und zugegeben etwas verschwommenen Umschreibung, die Anforderungen der Verfahrensgerechtigkeit eher mit der Stellung des Betroffenen innerhalb des Verfahrens zu tun haben; er muss im Verfahren als mitgestaltendes, mitkommunizierendes Subjekt ernst genommen werden, damit das Verfahren und sein Ergebnis nicht als bloße Gewaltakte über ihn ergehen. Die Rehabilitierung hat vielmehr mit der Frage zu tun, warum das Verfahren überhaupt beginnen darf und warum es einen endgültigen Abschluss haben muss. Zudem, und jetzt weniger bildlich, wird Rehabilitierung als Ausgleich dafür gewährt, ein Verfahren dulden zu müssen; dort, wo der Beschuldigte eine Fortsetzung des Verfahrens sogar erzwingen kann, kann Rehabilitierung nicht im gleichen Ausmaße geschuldet sein. 2992 Siehe die eigentlich skandalösen Zahlen, die frühe empirische Untersuchungen ans Licht gebracht haben: Ahrens, Einstellung, S. 132 ff., 156 ff., 159 f., der in seiner 1978 veröffentlichen empirischen Erhebung herausfand, dass 52,2% der Einstellungen nach § 153 Abs. 2, und 22,9% derjenigen nach § 153a Abs. 2 StPO von der Sorge der Vermeidung eines Freispruchs getragen waren; nach den 1982 veröfffentlichten Erhebungen von Hertwig, Einstellung, S. 119 geschah das sogar in 26,9% der Fälle einer Einstellung nach § 153 Abs. 2, § 153a Abs. 2 StPO. Die Bekämpfung solcher freispruchsvermeidender Einstellungen steht im Mittelpunkt der amerikanischen Diskussion über das sog. „attachment“ des jeopardy (s. u. e) dd) [S. 757 ff.]), etwa Thomas III, Double Jeopardy, S. 230; U.S. Supreme Court, Green vs. United States, 355 U.S. 184, 188 (1957); auch mit einem beeindruckenden geschichtlichen Beispiel U.S. Supreme Court, Arizona v. Washington, 434 U.S. 497 (1978), 505 Fn. 17 und Powell, in: 437 U.S. 28, 42 (1978).

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(5) Zusammengefasst: Die volle Verdächtigungstiefe, die den Anspruch auf volle Rehabilitierung begründet, beruht auf zwei Merkmalen: Beginn der Gewinnung der Entscheidungsgrundlagen einerseits, Fehlen weiterer Zwischensachentscheidungen bis zur verfahrensabschließenden Sachentscheidung andererseits. In einem mündlichen Verfahren treten diese zwei Momente mit dem Beginn der Beweisaufnahme ein. Nach Überschreitung dieser Schwelle kann nur der Beschuldigte über sein Recht auf volle Rehabilitierung disponieren, wenn die in diesem Recht verkörperte Aussicht weniger bedeutsam erscheint als sofortige, wenn auch weniger bestandssichere Ruhe. e) Zweifel und Präzisierungen Die Zweifel an der Tragfähigkeit des gerade entwickelten Gedankengangs nehmen nicht weniger als fünf Seiten ein. Gleichzeitig bieten sie eine Gelegenheit dazu, das gerade vorgeschlagene Kriterium für das Eintreten von voller Rechtskraft zu präzisieren. aa) Strafverfahren ohne Beweisaufnahme Erstens könnte man dieselbe Methode, derer man sich oben gegen das klassische Modell bedient hat, gegen den hier formulierten Gedankengang anwenden (insb. o. C. II.). Diese Methode bestand darin, sich unterschiedliche Schreckensbilder von Strafverfahrenssystemen auszudenken, die so konstruiert wurden, dass immer eines der Merkmale, an das die zu kritisierende Auffassung für die Entstehung der Rechtskraft knüpfte (Hauptverhandlung, Sachentscheidung, Gericht), hinweggedacht wurde. Könnte man nicht auch meinen, es lasse sich ein Strafverfahren ohne Beweisaufnahme denken, und daraus schließen, dass einem Staat, der so leichtfertig ist, unabhängig von einer Beweisaufnahme Strafen zu verhängen, unmöglich das Recht zuerkannt werden darf, bei Fehlern noch einmal von vorn anzufangen? In der Tat. Dass Verfahren ohne Ermittlungen und deshalb auch ohne Beweisaufnahme denkbar sind, haben wir oben versucht, darzulegen. Beweise sind aber nur für denjenigen relevant, der die Wahrheit für wichtig erachtet und der glaubt, sie noch nicht in Besitz zu haben (o. Teil 1 Kap. 2 C. III. 3. [insb. S. 186 ff.]). Deshalb haben wir nicht auf die Beweisaufnahme per se, sondern auf die Gewinnung der Entscheidungsgrundlagen abgestellt. Erst mit der Beweisaufnahme fängt man an, die Grundlagen für die mögliche Bestrafung des Verdächtigten als gegeben oder nicht gegeben zu erklären, und erst in diesem Moment kommt das Gericht in die Lage, in seiner nächsten Sachentscheidung eine Verurteilung auszusprechen. Würde eine Verfahrensordnung statt auf eine Beweisaufnahme auf Gottesurteile, Zweikämpfe oder sogar auf das Würfeln setzen, dann würde in dem Moment, in dem diese Mittel zur Anwendung kommen, ebenfalls die volle Verdächtigungstiefe erreicht. Sind die Würfel geworfen oder die Schwerter gezo-

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gen und geschwungen worden, dann ist es grundsätzlich ungerecht, wieder von vorne zu beginnen. Das Abstellen auf die Beweisaufnahme ist also in der Tat nur sinnvoll, wenn das Strafverfahren sich der Ermittlung der Wahrheit verpflichtet hat, woran es aus vorpositiven Gründen auch gebunden ist (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. III. 3. [insb. S. 181 ff.]). Strafverfahren ohne Beweisaufnahme kennen trotzdem einen Moment, in dem die Entscheidungsgrundlagen gewonnen werden und in denen die für die qualifizierte Verdächtigung konstitutive Bedrohung mit einer Bestrafung eine besondere Zuspitzung erfährt. Auf diesen Moment muss es für die volle Sperrwirkung ankommen. bb) Strafverfahrenssysteme mit Entscheidungen auf Grundlage von Akten Von schriftlichen Prozessen war bereits kurz bei der Formulierung unserer These die Rede (s. o. d) [S. 749]). Jetzt soll etwas näher auf sie eingegangen werden. Man sollte es sich nicht zu einfach machen, etwa mit der Behauptung, dass ein derartiges Verfahren aus diesem oder jenem Grund illegitim wäre. Auch dann, wenn dieses kritische Urteil im Ergebnis berechtigt wäre, muss man bedenken, dass die Illegitimität eines Verfahrens keinen Grund liefern kann, es zu wiederholen. Die individualschützenden Komponenten der Rechtskraft sind deshalb von der Legitimitätsfrage grundsätzlich unabhängig (s. a. o. Kap. 3 B. [S. 639]). Diese Annahme hat übrigens die im jetzigen Kapitel immer wiederkehrende Argumentation mit Schreckensbildern eines Strafverfahrens überhaupt erst möglich gemacht. Wir haben aber den Eintritt der vollen Verdächtigungstiefe auf zwei Merkmale zurückgeführt: die Gewinnung der Entscheidungsgrundlagen und das Fehlen weiterer Zwischensachentscheidungen bis zur verfahrensabschließenden Sachentscheidung. Im mündlichen Verfahren treten beide Momente in der Beweisaufnahme zusammen ein; im schriftlichen Verfahren wird die erste Schwelle früh überschritten, und zwar nicht gleichzeitig mit der zweiten. Die Frage ist also allein, wann die zweite Schwelle überschritten wird, wann es also zu einer qualitativen Zuspitzung der Drohung kommt. Kennt das Verfahren ein Anklageprinzip, dann wird im gesamten Zeitraum vor der Anklageerhebung eine derartige Situation noch nicht eingetreten sein, weil die Bestrafungsgefahr erst aktuell wird, nachdem die Entscheidung, Anklage zu erheben, getroffen wurde. Das heißt, dass vor der Versetzung in den Anklagestand von einer Duldung des Verfahrens, als Duldung einer konkreten Drohung mit Bestrafung, nie die Rede sein kann. Wenn ein Verfahren also so strukturiert ist, dass das Gericht auf Grundlage der Verfahrensakten die Entscheidung über die Verhängung einer Strafe treffen darf, dann werden die Entscheidungsgrundlagen in einem früheren Moment gewonnen,

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und nicht erst in einer Beweisaufnahme. Der qualitative Sprung zur vollen Verdächtigungstiefe tritt aber erst mit der Annahme der Anklage durch das Gericht ein, also mit der Versetzung in den Anklagestand bzw. dem Eröffnungsbeschluss.2993 cc) Erduldung von prozessualen Zwangsmaßnahmen? Man könnte sich fragen, ob es nicht in der Konsequenz des vorliegenden Kriteriums liegt, auch prozessualen Zwangsmaßnahmen eine Relevanz für die Rechtskraftfrage zuzuerkennen. Versteht man die Verdächtigungstiefe als Anzeichen für den gebotenen Ausgleich für die mit einem Verfahren verbundenen Zumutungen, dann könnte gesagt werden, dass diese auch dann einen Höhepunkt erreichen, wenn Untersuchungshaft verhängt wird. Dies erschiene befremdlich, weil die Verhängung von Zwangsmaßnahmen nach herkömmlicher Auffassung mit der Rechtskraft gar nichts zu tun hat, und könnte deshalb einen Angelpunkt für eine reductio ad absurdum des vorliegenden Ansatzes liefern. Es wäre aber ein Missverständnis des Begriffs der Verdächtigungstiefe, wenn man sie als Funktion der Verhängung von prozessualen Zwangsmaßnahmen deuten würde. Oben Teil 1 Kap. 2 B. IV. (S. 122 ff.) hat man sorgfältig die Verdächtigung, als das für jedes Strafverfahren konstitutive Übel, von einzelnen Zwangsmaßnahmen unterschieden, die konkrete Verfahren aufweisen können, aber nicht begriffsnotwendig müssen. Für einzelne Zwangsmaßnahmen muss ebenfalls ein Instrumentalisierungsverbot gelten, was bedeutet, dass auch für sie Kompensationsmechanismen vorgesehen werden müssen, die die Sphäre des Betroffenen wenigstens aus rechtlicher Perspektive unvermindert fortbestehen lassen (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 6. d) [S. 312 ff.]). Diese Kompensationsmechanismen sind aber nicht die Verdachtstilgung bzw. Rehabilitierung. Diese soll allein das jedes Verfahren verkörpernde Übel der Verdächtigung ausgleichen, das unabhängig davon eintritt, ob es im Rahmen des konkreten Prozesses zu einer Beschlagnahme, Durchsuchung oder Verhaftung kommt. dd) Strafklageverbrauch vor Verfahrensende (1) Die hier vorgeschlagene Ansicht, die in einem schroffen Bruch mit der Tradition Rechtskraft nicht mehr als Eigenschaft der verfahrensabschließenden 2993 Wie es sich genau im deutschen Strafbefehlsverfahren verhält, wird uns u. F. II. 9. (S. 810 ff.) näher beschäftigen. Das bedeutet aber noch nicht, dass der Nichteröffnungsbeschluss in einem solchen Verfahren nicht in scheinbare Rechtskraft, sondern in volle Rechtskraft erwachsen müsste. Wird der zweite Teil des Verfahrens nicht eröffnet, dann ist die Zuspitzung der Verurteilungsgefahr eigentlich noch nicht eingetreten; es wäre noch ein sachlicher Beschluss des Gerichts erforderlich, bis es in die Situation gerät, den Betroffenen verurteilen zu dürfen.

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Entscheidung begreift, sondern das für den Strafklageverbrauch ausschlaggebende Merkmal in einer Größe erblickt, die mitten im Verfahren eintritt, wird vielen sicherlich sonderbar erscheinen. Im Grunde genommen wird hier nichts anderes behauptet, als dass ein Strafverfolgungsrecht bereits verbraucht sein kann, obwohl die Strafverfolgung eigentlich noch läuft. Ist das nicht ein Widerspruch, ein augenfälliger Beleg, dass etwas aus den Fugen geraten sein muss? Zwar mag aus einer begriffskonstruktivistischen Perspektive, die dem o. C. I. (S. 711) zitierten Satz von Rocco zugrunde liegt, in dem vom Strafklagerecht als ein sich von der Geburt (Anklagerhebung) bis zum Tod (Sachurteil) entwickelndes Wesen die Rede war, unvorstellbar sein, dass sich die Dinge so verhalten, wie hier behauptet wird. Nach näherem Hinsehen beruht diese Ansicht auf wenig mehr als einer Festlegung des Begriffs der Strafklage als einer Klage auf ein Sachurteil. Wenn man dem einen anders festgelegten Begriff der Klage entgegensetzt, der diese nicht mehr auf das Sachurteil, sondern auf die Beweisaufnahme bzw. (bei schriftlichen Verfahren) auf die Zurkenntnisnahme der Akten bezieht, würden die Probleme verschwinden.2994 Dieser Begriff hätte sogar noch den konstruktivistischen Vorzug, besser erklären zu können, warum das Gericht bei Fällung seiner Sachentscheidung nicht an die Anträge des Anklägers gebunden ist. Der wahre Kampf kann also nicht auf begriffskonstruktivistischem Boden ausgetragen werden. Hier hat man es mit einer weiteren Instanz des o. Teil 1 Kap. 2 C. II. 1. (S. 141) angesprochenen Problems des Esels des Buridan zu tun: Zwei in sich konsistente und deskriptiv nicht völlig kontraintuitive Konstruktionen können einander nicht ohne petitio principii widerlegen. Der wahre Kampf ist vielmehr der, ob es bei der Bestimmung der Rechtskraft um die Interessen der Gesellschaft oder um das Recht des verfolgten Individuums geht. Der tradierten Auffassung liegen, wie o. C. III. (S. 728 ff.) dargelegt, die Ersteren zugrunde. (2) Dennoch soll hier noch gezeigt werden, dass die vorliegende These eines Strafklageverbrauchs vor Strafverfahrensende so revolutionär auch nicht ist, dass sie vielmehr Phänomene widerspiegelt, die man aus dem Alltag kennt; das römische Recht stand ihr nicht völlig fremd gegenüber; die amerikanische double jeopardy Lehre geht von ihr aus und sie hat sich gelegentlich auch zwischen den Zeilen der von der herrschenden Auffassung bemühten Argumentation blicken lassen. (a) Im Alltag ist es überhaupt keine Seltenheit, dass den Grund, weshalb etwas nicht wiederholt werden darf, nicht erst der Abschluss dieses etwas bildet, son2994 In Spanien hat die wichtigste bisher geschriebene einschlägige Monografie, nämlich die von Cortés Domínguez, genau eine solche Konstruktion vertreten: Das Klagerecht sei nicht als Recht auf ein Sachurteil, sondern als Recht auf ein Hauptverfahren zu verstehen (Cortés Domínguez, Cosa juzgada, S. 24, 91 f., 103); die Eröffnung des Hauptverfahrens verbrauche deshalb das Klagerecht (Cortés Domínguez, Cosa juzgada, S. 125 f., 132, 150 ff.).

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dern bereits die Überschreitung einer früheren Schwelle. Das Juristen an erster Stelle einfallende Beispiel wird wohl das Staatsexamen sein. Ist man nach rechtswirksamer Anmeldung zur Staatsprüfung zugelassen worden, dann kommt es nicht mehr darauf an, ob man die Klausuren abgibt, nicht einmal darauf, ob man sie schreibt. Man denke auch an die Entwertung einer Fahrkarte oder einer Kinoeintrittskarte oder an den Besuch eines all-you-can-eat Buffets: Ob man die Fahrt antritt, den Film anschaut oder das Essen tatsächlich bis zum Kann-nichtmehr in sich hineinstopft, ist gleichgültig. Die Tatsache, dass wir es gewohnt sind, Strafverfahren anders zu betrachten und hier das Wiederholungsverbot erst an der Abschlussentscheidung und nicht an der Überschreitung einer bestimmten früheren Schwelle festzumachen, ist also keine Selbstverständlichkeit, sondern beruht vielmehr darauf – und das muss erst erkannt werden –, dass die Rechtskraftslehre herkömmlich aus der Perspektive der gesellschaftlichen Interessen formuliert worden ist. Der Staat lässt das Individuum erst in Ruhe, weil er sich sicher genug sein kann, nicht zu viel damit zu verlieren. Deshalb hat die vorliegende Ansicht ebenso wenig Probleme mit Berufungen und mit der Zurückverweisung des Verfahrens an ein anderes Gericht zur erneuten Hauptverhandlung nach erfolgreicher Revision (§ 354 Abs. 2, 3 StPO) wie ein Buffet-Restaurant damit, dass man sich noch einen Teller holt.2995 Erst nach Abschluss des Verfahrens verändert sich diese Situation; m. a. W.: Erst mit der Wiederaufnahme zuungunsten hat die vorliegende Ansicht ein Problem, und das ist gut so, weil die Wiederaufnahme zuungunsten in der Tat ein äußerst problematisches Institut ist, das uns aber erst u. Kap. 6 D. (S. 956 ff.) näher beschäftigen soll. (b) Die beschränkte Naturgegebenheit des klassischen Modells, nach dem erst der Abschluss des Verfahrens die Strafklage verbraucht, wird auch vom römischen Recht in Frage gestellt, das bereits der litis contestatio, also der Einlassung des Beklagten konsumierende Wirkung zusprach.2996 (c) Am lehrreichsten dürfte hier der Seitenblick auf das amerikanische Strafverfahren sein. Das englische Strafverfahren steht noch auf traditionellem Boden: Erst ein Sachurteil, conviction oder acquittal, verbraucht die Strafklage und gibt dem Beschuldigten die pleas des autrefois convict oder autrefois acquit.2997 Das amerikanische Recht hat sich in seiner Entwicklung hiervon verselbständigt.2998 Hielt man auch ursprünglich an dem Erfordernis einer Sachentschei-

2995 Zu der im angelsächsischen Raum verbreiteten These, der double-jeopardyGrundsatz verbiete Rechtsmittel gegen Freisprüche s. u. Kap. 5 E. II. (S. 848 ff.). 2996 Ausf. Savigny, System VI, S. 24 ff., 267 f. m. v. Nachw.; Valticos, Chose jugée, S. 48; and. Rocco, Cosa giudicata I, S. 60 ff. 2997 Spencer Bower/Kingcome Turner, Res Judicata, S. 394 f.; Coffey, JSIJ 5 (2005), S. 132 f.

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dung fest,2999 wurde dies allmählich gelockert, gerade weil man das Verbot des double jeopardy in erster Linie aus der Perspektive des Betroffenen (wenn auch mehr aus einer interessens- als einer rechtsbezogenen) zu verstehen suchte. Nach diesem neuen Ansatz gibt es einen Zeitpunkt noch vor der Sachentscheidung, in dem die Gefahr, das jeopardy, präsent wird: In diesem Sinne spricht man von der Frage nach dem „attachment“ des jeopardy.3000 „A defendant is placed in jeopardy once he is put to trial before a jury, so that, if the jury is discharged without his consent, he cannot be tried again“.3001 Diese Schwelle besteht bei Verfahren vor der Jury in deren Beeidigung,3002 denn ab diesem Zeitpunkt stehe dem Beschuldigten ein Recht zu, von dem einen Gericht abgeurteilt zu werden, das er gerade vor sich hat.3003 Bei Verfahren vor Berufsrichtern (sog. bench trials) ist dieser Zeitpunkt bei der Beeidigung des ersten Zeugen erreicht.3004 „. . . a defendant is placed in jeopardy in a criminal proceeding once the defendant is put to trial before the trier of the facts, whether the trier be a jury or a judge“.3005 Zusätzlich zu dieser Begründung mit einem Recht auf „sein“ Schwurgericht führt man gerade auch für diese Fälle eine zweite Begründung an, die uns schon o. Kap. 2 B. IV. 3. (S. 414 f.) begegnet ist: die Vermeidung von harassment, da es dem Ankläger nicht gestattet sein könne, seine Verfolgung vor dem Sachurteil zu unterbrechen, um später wieder von vorne anzufangen.3006 Und in diesem Zusammenhang wurde der Satz ausgesprochen, den wir zum Motto des vorliegenden Kapitels erhoben haben: Mit dem „beginning of the factfinder’s work“ ist der 2998 Zum Ganzen auch Thomas III, Double Jeopardy, S. 87 ff. Einige Autoren unterscheiden deshalb scharf zwischen dem double jeopardy und der res judicata, so etwa Casad/Clermont, Res Judicata, S. 22 f. 2999 U.S. Supreme Court, United States v. Perez, 22 U.S. 579, 580 (1824). 3000 Etwa U.S. Supreme Court, Crist v. Bretz, 437 U.S. 28 (1978); s. a. Arizona v. Washington, 434 U.S. 497, 503 (1978); aus der Lit. Sigler, Double Jeopardy, S. 39 ff.; Westen/Drubel, SCR 1978, S. 97 ff.; Bowen Poulin, ArizStLJ 27 (1995), S. 963 ff.; Coffey, JSIJ 5 (2005), S. 130 ff.; Herrmann, Wiederaufnahme, S. 677; Saltzburg/Capra, American Criminal Procedure, S. 1505; s. a. ModelPenC, Section 1.08 (4). 3001 U.S. Supreme Court, Green vs. United States, 355 U.S. 184, 188 (1957). Die Entscheidung hing nicht allein von dieser Begründung ab (S. 191), sondern postuliert in solchen Fällen einen impliziten Freispruch. 3002 U.S. Supreme Court, Downum v. United States, 372 U.S. 734, 736 (1963); Richardson v. United States, 468 U.S. 317, 325 (1984). 3003 372 U.S. 734, 736 (1963); 400 U.S. 470, 480, 484 (1971); 434 U.S. 497, 503 (1978); Marshall, ebda., S. 519; zust. Bouwen Poulin, VillLR 39 (1994), S. 638, 643 ff.; Rudstein, MoLR 65 (1995), S. 611. Insofern hat man es eigentlich mit einer Regel des Jury-Verfahrens zu tun, die nicht notwendig auf den rationes der materiellen Rechtskraft beruht (so auch Powell, in: 437 U.S. 28, 46 [1978]). 3004 437 U.S. 28, 35 (1978); 437 U.S. 28, 37 Fn. 15 (1978) für Verfahren ohne Jury; Justices of Boston Mun. Ct. v. Lydow, 466 U.S. 294, 309 (1984); allgemein dafür Powell, ebda., S. 41. 3005 United States v. Jorn, 400 U.S. 470, 479 (1971). 3006 372 U.S. 734, 736 (1963); 434 U.S. 497, 508 (1978); 437 U.S. 28, 35 (1978); Blackmun, ebda., S. 38 f.; Powell, ebda., S. 52.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Beschuldigte „in the hands of his judge, and may expect the matter to proceed to a finish“.3007 Der Satz lässt sich von der fragwürdigen Zurückführung auf die ratio der Unterbindung von harassment (s. o. Kap. 1 B. IV. 3. [S. 412 ff., 414 f.], Kap. 2 C. VI. 3. [S. 454 f.]) loslösen und auch auf die hier entwickelten Erwägungen i. S. eines Rechts auf Rehabilitierung nach Duldung eines Verfahrens zurückführen. Nun erkennt man eine Reihe von Ausnahmen an, bei denen eine Verfahrensbeendigung trotz des attachment of jeopardy einer erneuten Verfolgung nicht entgegenstehen soll. Dies soll insbesondere dann der Fall sein, wenn die erste Verhandlung (Trial) wegen einer „manifest necessity“ beendet werden musste.3008 Hauptbeispiel hierfür ist der Fall, in dem sich die Jury, die nur einstimmig entscheidet, nicht einigen kann, die sog. hung jury.3009 Die Begründung ist besonders aufschlussreich, weil sie auch den Unterschied zwischen einem Ansatz, der auf ein Individualinteresse (Vermeidung von harassment) abstellt, das als Interesse immer verrechenbar bleibt, und einem Ansatz wie dem hier entwickelten verdeutlicht, der von abwägungsfesten Rechten ausgeht: Das Interesse des Beschuldigten, nicht erneut verfolgt zu werden, habe vor „society’s interest in giving the prosecution one complete opportunity to convict those who have violated it’s laws“ zu weichen.3010 In der Literatur hat sich vor allem Thomas III um eine Theorie der strafklageverbrauchenden frühzeitigen Prozessbeendigung verdient gemacht.3011 Sein Ausgangspunkt sind selbstverständlich die Sachentscheidungen, die als Wahrsprüche (verdicts) einer erneuten Verfolgung entgegenstehen.3012 Es gebe zudem acquittal equivalents, also Fälle, in denen die Prozessbeendigung, die keinen Freispruch darstellt (also die dismissal, wohl das Analogon zu unserem Einstellungsurteil), einem solchen gleichwertig ist. Das ist erstens dann der Fall, wenn der Prozess wegen unzureichenden Beweises abgebrochen wird,3013 und auch dann, wenn 3007

Powell, in: 437 U.S. 28, 46, 51 f. (1978). U.S. Supreme Court, Gori v. United States, 367 U.S. 364, 368 ff. (1961); 400 U.S. 470, 486 f. (1971); 434 U.S. 497, 505 (1978); Marshall, ebda., S. 519; 437 U.S. 28 (1978); zum Ganzen auch R. Brown, UCLALR 19 (1972), S. 807 ff.; Saltzburg/Capra, American Criminal Procedure, S. 1513 ff. Dieser Maßstab wird zu Recht als wenig klar gerügt, Sigler, Double Jeopardy, S. 45. 3009 U.S. Supreme Court, United States v. Perez, 22 U.S. 579 (1824); Logan v. United States, 144 U.S. 263 (1892); Dreyer v. Illinois, 187 U.S. 71, 72 f. (1902); Keerl v. Montana, 213 U.S. 135 (1909); United States v. Sanford, 429 U.S. 14 (1976); Richardson v. United States, 468 U.S. 317, 323 ff. (1984); s. a. Ex parte Lange, 85 U.S. 163, 173 f. (1873); Arizona v. Washington, U.S. 497, 509 (1978); Douglas, in: Gori v. United States, 367 U.S. 364, 370 (1961); Zalman, Criminal Procedure, S. 483; s. zu England B. Huber, Wiederaufnahme, S. 266. 3010 U.S. Supreme Court, Arizona v. Washington, U.S. 497, 509 (1978). 3011 Thomas III, Double Jeopardy, S. 35 ff., 68 f., 234. 3012 Thomas III, Double Jeopardy, S. 215 ff. 3013 Thomas III, Double Jeopardy, S. 230 f., 234 f. 3008

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eine realistische Freispruchchance des Beschuldigten bestand.3014 Kerngedanke dieser zweiten Fallgruppe ist, dass „defendants should not be deprived of their right to go to verdict when they have a realistic chance of an acquittal.“ 3015 (d) Auch die h. M. zeigt zwischen den Zeilen, dass sie diesen Einsichten nicht so fern liegt, wie man denken könnte. Das intuitive Unbehagen gegen die absolutio ab instantia, dessen Prämissen wir hier nur zu Ende denken wollen, hat dazu geführt, dass man, wie wir schon bei Gantzer gesehen haben und u. F. 3., 4. (S. 790 m. Fn. 3153, S. 796 m. Fn. 3177) erneut sehen werden, in viele Einstellungsentscheidungen Sachentscheidungen hineindeutet, um bereits nach dem tradierten Modell zum Strafklageverbrauch zu kommen. Am deutlichsten dürfte dies wohl in BGHSt 18, 381 (384 f.) geschehen sein.3016 Hier hatte das Instanzgericht „die Hauptverhandlung durchgeführt und nach eingehender Beweisaufnahme und Beweiswürdigung ausgesprochen, daß die Feststellungen eine Verurteilung . . . nicht rechtfertigen“. Statt aber freizusprechen, hat das Instanzgericht das Verfahren durch Beschluss eingestellt, weil es die eigene Unzuständigkeit angenommen hatte. Der BGH argumentiert: „. . . die Entscheidung des Schöffengerichts (ist) der Sache nach kein Beschluß, sondern ein Urteil . . ., und zwar ein freisprechendes Urteil, weil für eine Einstellung jeder sachliche Grund fehlte“ (S. 385). In seiner zustimmenden Anmerkung kommt Eb. Schmidt den hier ausgearbeiteten Gesichtspunkten sehr nahe: Es sei „bis zur sachlichen Entscheidungsreife durchverhandelt“ worden.3017 Auf die „Sollentscheidung“ komme es an.3018 Der Unterschied zum vorliegenden Ansatz wird aber in der denkbaren Konstellation ersichtlich, in der der „sachliche Grund für Einstellung“ nicht mehr fehlen würde. Hier würden sich der BGH und Eb. Schmidt gegen den impliziten Freispruch entscheiden, da die „Sollentscheidung“ auf Einstellung lauten würde, während wir dagegen sagen würden, dass dies alles den Betroffenen nichts angeht und dass er für die ganze Tat, wegen der er bis zur Entscheidungsreife zur Verantwortung gezogen wurde, rehabilitiert zu werden verdient. ee) Begriffsjurisprudenz Der wohl schwerste unter den zu erwartenden Einwänden ist ein methodischer. Man könnte den Sinn und insbesondere die wissenschaftliche Redlichkeit des gesamten Gedankengangs in Frage stellen, dessen Grundidee es vereinfacht gesagt war, das Verfahren als qualifizierte Verdächtigung zu beschreiben, dieser wiederum bestimmte Eigenschaften zuzuweisen, insbesondere die Bedrohung mit einer Verurteilung und Bestrafung, um später unter Rückgriff auf die Beschrei3014 3015 3016 3017 3018

Thomas III, Double Jeopardy, S. 245. Thomas III, Double Jeopardy, S. 253. Zust. Eb. Schmidt, JZ 1963, S. 715. Eb. Schmidt, JZ 1963, S. 715. Eb. Schmidt, JZ 1963, S. 715.

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bung und auf die für maßgeblich erklärte Eigenschaft konkrete Schlussfolgerungen zur Rechtskraftfähigkeit abzuleiten. Ist das nicht eine Instanz der seit über 100 Jahren verpönten Inversionsmethode der Begriffsjurisprudenz,3019 die – ähnlich dem gerade kritisierten naturrechtlichen Zirkelschluss (o. C. II. 3. [S. 724 f.]) – in einem ersten Schritt in einen Begriff ohne größere Begründungslasten Merkmale einbezieht, aus dem später wie aus dem Hut eines Zauberers konkrete Schlussfolgerungen abgeleitet werden? Dies wäre aber eine sehr unwohlwollende Deutung dessen, was man bisher zu unternehmen versucht hat. Zwar hat man in der Tat den Begriff der Verdächtigung als Leitlinie benutzt, um das Problem der Bestimmung der vollen Rechtskraft zu lösen. Diesen Begriff hat man aber nicht durch eine willkürliche Festlegung gewonnen. Von der Einsicht geleitet, dass Legitimität nicht aus bloßer Faktizität folgt, sondern dass Recht und Macht sich unterscheiden müssen (s. o. Teil 1 Kap. 1 A. I., D. [S. 41 ff., 116 ff.]), kamen wir zum Problem, das factum des Strafverfahrens als rechtens darzulegen. Konkreter verstanden wir dieses Problem als eines der Rechtfertigung des im Strafverfahren verkörperten Übels (s. o. Teil 1 Kap. 2 B. III. [S. 119 ff.]); und weil Übel demjenigen gegenüber gerechtfertigt werden müssen, dem sie zugefügt werden, m. a. W., weil es ein Instrumentalisierungsverbot gibt, mussten wir versuchen, das Übel des Verfahren aus der Sicht des vom Verfahren betroffenen Individuums zu erfassen (s. o. Teil 1 Kap. 2 B. IV. [S. 122 ff.]). Wir untersuchten mehrere Versuche in diesem Sinne und kamen zu dem Ergebnis, nur die Verdächtigung, als Zutrauung von etwas Schlechtem, sei in jedem Strafverfahren verkörpert (s. o. Teil 1 Kap. 2 B. IV. [S. 128]). Wir belegten durch mehrere Erwägungen, dass dies bereits im Alltag ein rechtfertigungsbedürftiges Übel darstellt (s. o. Teil 1 Kap. 2 B. VI. [S. 130 f.]). Im Strafverfahren, wo der Betroffene der Begehung von Straftaten verdächtigt wird und wo der Staat als derjenige auftritt, der die Verdächtigung äußert, ist dies erst recht der Fall. Darauf beruht dann auch die Qualifiziertheit der Verdächtigung (s. o. Teil 1 Kap. 2 B. VI. [S. 131 ff.]). Dass wir an vorliegender Stelle teilweise zu diesen Erwägungen zurückkehren, ist also keine Begriffsjurisprudenz, sondern wird vielmehr von der hier entwickelten Begründung der Rechtskraft geboten, die nicht mehr Interessen der Gesellschaft, sondern Rechte eines nicht instrumentalisierbaren Individuums, insbesondere das Recht, einen Ausgleich für seine Vorleistung der Verfahrenserduldung gewährt zu bekommen (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 6. d) [S. 312 ff.], Teil 2 Kap. 1 D. [S. 371 ff.]), zum Angelpunkt hat. f) Zusammenfassung Damit haben wir es geschafft, in der Zuspitzung der in der Verdächtigung enthaltenen Drohung einer Verurteilung bzw. Bestrafung den für den Eintritt der vol3019

Insb. Heck, Rechtsgewinnung, S. 18 ff.

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len Rechtskraft maßgeblichen Gesichtspunkt auszuarbeiten. Diese Schwelle wird erreicht, wenn man beginnt, die Grundlagen des Sachurteils zu gewinnen und bis zu diesem Urteil keine Zwischensachentscheidungen mehr erforderlich sind. Konkret heißt das, dass in einem Verfahren, bei dem nicht nach Aktenlage über Verurteilungen entschieden wird, der Beginn der Beweisaufnahme einen vollen Strafklageverbrauch zur Folge haben muss; in einem Verfahren mit Verurteilungen auf Grundlage bloßer Akten wird dies bereits im Zeitpunkt der früher sog. Versetzung in den Anklagestand der Fall sein. Damit sind Kriterien gewonnen worden, die die Perspektive des Individuums ernst nehmen, da sie auf dasjenige abstellen, worauf es im vorliegenden Zusammenhang allein ankommen darf: ob das Individuum bereits so viel erduldet hat, dass sich ein erneutes Verfahren gegen ihn wegen derselben Sache grundsätzlich nicht mehr rechtfertigen lässt. 3. Mittlere Verdächtigungstiefe: beschränkte Rechtskraft a) Das herrschende Konzept: das Vorverfahren als Internum aa) Nach dem klassischen Modell war der Nichteröffnungsbeschluss das Musterbeispiel einer bloß beschränkte Rechtskraft begründenden Entscheidung (o. B. I. [S. 705 f.]). Dieses Konzept macht es sich einfach. Erst mit dem Übergang des Verfahrens an das Gericht wird beschränkte Rechtskraft in Betracht kommen. Verbleibt das Verfahren noch in den Händen der Staatsanwaltschaft, ist jede Verfahrensbeendigung nur provisorisch, beschlossen unter dem Vorbehalt, dass man sich nicht umentscheidet.3020 Dies leuchtet zwar intuitiv ein, aber auch in diesem Bereich könnten sonstIntuitionen etwas suspekt sein, da sie bereits auf unserer Vertrautheit mit dem klassischen Modell beruhen könnten, das uns demzufolge als etwas Natürliches erschiene (insofern nicht unähnlich der o. Kap. 2 C. II. [S. 429 f.] beobachteten Sachlage). Gleichzeitig muss einer Betrachtung, die die Rechtskraft in erster Linie aus der Perspektive des Individuums versteht, das scheinbare Paradoxon auffallen, dass eine weniger rechtsstaatlich-gesicherte Entscheidung den Beschuldigten schlechter stellt. Am deutlichsten wird das, wenn man den heutigen Zustand mit demjenigen vergleicht, der galt, als es die gerichtliche Voruntersuchung noch gab (§§ 176 ff. a. F. RStPO3021). Allein die Tatsache, dass ein Untersuchungsrichter und nicht mehr ein Staatsanwalt den Prozess leitete, führte dazu, dass die Entscheidung, das Verfahren nicht fortzusetzen – man nannte sie Außerverfolgungssetzung (§ 188 Abs. 1, § 196 Abs. 1, § 202 Abs. 2 a. F. RStPO) –, durch einen Beschluss stattfand, der als Unterart des Nichteröffnungsbeschlusses (§ 200 a. F. 3020 3021

Näher m.w. Nachw. u. F. III. (S. 816 ff.). Ich zitiere jetzt aus der Originalfassung v. 1877.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

RStPO) auch in beschränkter Rechtskraft erwuchs (§ 210 a. F. RStPO). Heute wird stattdessen der Staatsanwalt schlicht nach § 170 Abs. 2 StPO einstellen, eine Entscheidung, die nach ganz herrschender Auffassung immer erneut überprüft werden darf.3022 Gibt es eine Begründung für diese unterschiedliche Regelung?3023 bb) Jede Begründung, die auf besondere Qualitäten richterlicher Entscheidungen hinweist, erscheint nach dem o. C. II. 3. (S. 723 ff.) Ausgeführten fragwürdig. Denn die schlechtere Qualität der nicht-richterlichen Entscheidung hat nicht der Betroffene zu vertreten. Nicht er hat für die Güte eines Verfahrens zu sorgen. Wenn überhaupt, müsste ein anderer Faktor hier ausschlaggebend sein. Es fragt sich nur, welcher. cc) Vielleicht hilft es, sich vorzustellen, wie es wäre, wenn die richterliche Entscheidung die gleiche Bestandskraft hätte, wie sie die staatsanwaltschaftliche nach h. M. hat.3024 Der Staatsanwalt müsste den Nichteröffnungsbeschluss bzw. die Außerverfolgungssetzung nicht einmal anfechten; er dürfte schlicht eine neue, inhaltlich aber identische Klage erheben und hoffen (oder bei konkurrierenden und erst recht bei beweglichen Zuständigkeiten sogar sicherstellen), dass sie einem anderen Gerichtskörper zugeteilt wird. Diese Vorgehensweise dürfte er beliebig wiederholen, bis er einmal Erfolg hat. Damit wird Folgendes klar: Wenn man schon die Einrichtung eines Zwischenverfahrens mit einem Eröffnungsbeschluss vorsieht – also die Tatsache, dass der Ankläger die Sache nicht direkt zur Hauptverhandlung bringen kann, was denkbar ist, im sog. beschleunigten Verfahren gemacht wird (§ 418 Abs. 1 S. 1 StPO) und in der Reformdiskussion immer wieder vorgeschlagen wurde3025 –, dann muss die Nichteröffnungsentscheidung auch etwas bedeuten. Weniger als beschränkte Rechtskraft kann ihr in der Tat nicht zukommen, soll die gesamte Einrichtung ihren Sinn nicht verlieren. Dies liefert eine weitere Bestätigung dafür, dass die Rechtskraftwirkung des Nichteröffnungsbeschlusses als unterer Fixpunkt nicht in Frage gestellt werden kann. dd) Es bleibt aber noch die Frage, ob es aus der Perspektive des Beschuldigten einen Unterschied macht, dass dieser Punkt, nämlich der Übergang der Sache an ein Gericht, überhaupt erreicht wird. Der Faktor, nach dem wir suchen und von dem die h. A. wenigstens implizit auch ausgehen dürfte, ist ein eher staatsrechtlicher, der aber zugleich die Beschuldigtenperspektive miteinbezieht. Er besteht in der Annahme, dass die staatsanwaltschaftliche Entscheidung, das Verfahren nicht fortzusetzen und keine Anklage zu erheben, ein interner Vorgang sei. Erst durch die Anklageerhebung wird die Verfolgungsentscheidung externalisiert. 3022

Nachw. u. Fn. 3277. Selbstverständlich könnte man zum Schluss kommen, dass diese Differenzierung unberechtigt sei – was wir u. F. III. (S. 816 ff.). teilweise auch vertreten werden. 3024 So verhält es sich tatsächlich in den USA, s. o. Fn. 2805. 3025 Siehe Nachw. o. Teil 1 Kap. 1 A. I. (S. 51 Fn. 75). 3023

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Diesen Gesichtspunkt hat Bohnert in seiner unkonventionellen und äußerst gedankenreichen Monografie am besten beschrieben und (wohl auch) verteidigt. Interne Entscheidungen „genügen sich im Willensentschluß selbst, nach dem sich das weitere Verfahren richtet. Kommt es zur Deklaration, ist diese bloß Mitteilung einer Entscheidung, nicht diese selbst“.3026 Solche Entscheidungen seien ein traditionelles „Proprium der Staatsanwaltschaft, seit es sie gibt und seit sie in Deutschland übernommen wurde“.3027 Diese Tradition verkürze sogar die verfassungsrechtliche Lage,3028 insbesondere Art. 19 Abs. 4 GG,3029 für das heutige Vorverfahren, das eine Fortsetzung des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens verkörpere.3030 Obwohl die Verfassung umfassenden Rechtsschutz gegen alle Akte der öffentlichen Gewalt gebiete, gewährt man gegen das Ermittlungsverfahren selbst keinen Rechtsschutz. Somit sei eine Entscheidung getroffen worden „zwischen dem Rechtsweg der §§ 23 ff. EGGVG und der Grundstruktur des Strafverfahrens, zwischen Verfassung und Tradition“.3031 Durch mehrere fragwürdige Begründungen – etwa die begriffskonstruktivistische These, dass vieles von dem, was sich im Ermittlungsverfahren ereignet, insbesondere die Abschlussentscheidung selbst, „Prozessakt“ und kein überprüfbarer „Justizverwaltungsakt“ i. S. d. § 23 EGGVG sei3032 – sei vertreten worden, dass die Abschlussentscheidung, Anklage zu erheben oder davon abzusehen, einer Überprüfung im Wege eines Rechtsschutzverfahrens entzogen sei.3033 Im Ergebnis aber stimmt Bohnert dem zu, weil die Abschlussentscheidung keine Außenwirkung habe,3034 sondern „immer interner Vorgang des Staates zu sich selbst“,3035 „ein Insichgeschäft des Staates“ 3036 sei. Nicht einmal die Anklageerhebung habe Außenwirkung: Gestützt auf § 201 StPO, der bestimmt, dass nach Anklagerhebung erst das Gericht dem Angeschuldigten die Anklageschrift mitteilt, meint Bohnert, das Gesetz verstehe die Anklage als Vorgang zwischen zwei Staatsbehörden, dem die Beteiligung des Ange-

3026

Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 18. Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 18. 3028 Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 18. 3029 Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 54 f. 3030 Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 21 ff. 3031 Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 54. 3032 Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 46 ff. 3033 Ein solches ist weder die Dienstaufsichtsbeschwerde noch das Klagerzwingungsverfahren, in dem der Antragstelle als Sachwalter des Legalitätsprinzips auftritt (ausf. zu beiden Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 289 ff., 329 ff.). Wir lassen dahingestellt, ob die Deutung des Justizverwaltungsakts als Akt mit Außenwirkung richtig ist (dagegen Keller, GA 1983, S. 498 f.). 3034 Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 55 ff., 62 f., 184 ff. 3035 Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 191. 3036 Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 395. 3027

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

schuldigten erst nachfolge.3037 Die Unüberprüfbarkeit beruhe auch darauf, dass die sachlichen Voraussetzungen dieser Entscheidung keinerlei Bindungswirkung entfalten. Das Legalitätsprinzip sei aus mehreren Gründen „wesentlich unbestimmt“,3038 das Opportunitätsprinzip erst recht.3039 Bezüglich der Entscheidung, ob angeklagt wird oder nicht, befinde sich der Beschuldigte also notwendig in der Schwebe: „[N]ach Aufnahme des Strafverfahrens ist der Beschuldigte hinsichtlich der genannten Schwebung absolut rechtlos“.3040 „Das Ermittlungsverfahren wird trotz § 163a Abs. 1 S. 1 StPO grundsätzlich ohne den Beschuldigten geführt.“ 3041 Wenn nicht einmal die Entscheidung, Anklage zu erheben, eine Externalisierung bedeutet, dann erst recht nicht die Entscheidung, nicht anzuklagen, sondern einzustellen: Eine solche Entscheidung ist aus der Perspektive des Gesetzes „für den Beschuldigten rechtlich gar nicht vorhanden“.3042 Folge davon sei unter anderem, dass all diesen Entscheidungen – mit Ausnahme der Einstellung gem. § 153a StPO, die auch unmittelbare Außenwirkung hat3043 – keinerlei Bindungswirkung zukomme.3044 Und hiermit bietet Bohnert seine Antwort auf unsere Ausgangsfrage nach dem Grund für die unterschiedliche Behandlung der Sperrwirkung richterlicher Abschlussentscheidungen: Dieser Grund bestehe darin, „daß richterliche Verfahren generell offiziell und staatsanwaltliche generell intern sind“.3045 Erst bei dem Austritt aus dem internen Bereich, der normalerweise mit der Mitteilung der Anklage erfolgt, gelegentlich aber, nämlich bei einer Einstellung gem. § 153a Abs. 1 StPO bereits früher, kann von Bindungswirkungen die Rede sein.3046 Bohnert zeigt ungeschminkt, inwiefern diese Annahmen auch bedenklich sind. Mit der Abschaffung der Voruntersuchung ist „die Staatsanwaltschaft selbst Verfolgungsbehörde, freier und unüberwachter als es der Inquisitionsrichter je war.“ 3047 Das strafprozessuale Vorverfahren, das dem Beschuldigten eine reine Objektstellung zuweise,3048 befinde sich in einem augenfälligen Kontrast zur Gesamttendenz des öffentlichen Rechts, Staatshandeln transparent zu machen.3049 Der an die Stelle des Inquisitionsrichters getretene Staatsanwalt sei eigentlich ein 3037 3038 3039 3040 3041 3042 3043 3044 3045 3046 3047 3048 3049

Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 57. Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 95 ff., 129 (Zitat). Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 141 f. Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 185. Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 185. Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 185. Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 380. Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 291 ff. Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 292. Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 395. Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 44. Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 239 ff. Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 185.

4. Kap.: Die erste Verfolgung

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„Vor-Richter vor dem Richter der Hauptverhandlung“: „Sein Verfahren ist geheim, intern, reines Staatsverfahren, ohne deutlichen Anfang, ohne formelle Einteilungen, ohne echte Beteiligung irgend einer anderen Person, aktenförmig beendet durch eine Abschlußentscheidung ohne Rechtskraft und ohne Bindungswirkung (vgl. insb. § 156 StPO).“ 3050 Dennoch hält Bohnert diesen prekären Zustand für legitim. Es müsse vor jedem externen Strafverfahren eine Phase interner Vorüberlegung geben.3051 Wer versucht, diese Phase zu formalisieren, aufzuhellen und zu externalisieren, „zwingt den Staat und seine Organe entweder zum Rückgang in ein Vor-Vorverfahren oder zur Unüberlegtheit oder zur Ohnmacht, indem er aus idealistischen Gründen das Verfahren im Extremfall ruiniert“.3052 Bohnerts Gedankenführung besticht durch ihre Konsequenz und Aufrichtigkeit. Ihre Prämissen werden von der h. A. explizit oder weniger implizit auch geteilt, was sich an mehreren Stellen äußert. Hierfür nur zwei Beispiele: Zur Ablehnung des Rechtsschutzes gegen die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wird argumentiert, dieses sei bloß vorbereitenden Charakters3053 und berühre die Rechtssphäre des Beschuldigten nicht;3054 grundsätzlich sieht das Gesetz erst für einzelne Strafverfolgungsmaßnahmen, nicht aber für die Strafverfolgung per se eine Entschädigung vor (§ 1 ff. StrEG).3055 ee) Nach alledem, was im Rahmen unserer o. Teil 1 Kap. 2 (insb. S. 122 ff.), entwickelten Strafprozesstheorie behauptet wurde, dürfte von selbst einleuchten, dass man die These vom internen Charakter des Vorverfahrens bis zur Anklageerhebung entschieden ablehnen muss. (1) Der Grund, weshalb man sie ablehnen muss, ist aber nicht die Tatsache, dass im Vorverfahren einzelne Maßnahmen mit unverkennbarer Außenwirkung möglich sind – prototypisch die Untersuchungshaft.3056 Dies bestreitet auch Bohnert nicht,3057 und nicht hierauf beruht die These des Vorverfahrens als internum, die sich auch auf das „nackte“ Vorverfahren bezieht. Auch die vorgesehenen Pflichten, die Einstellung des Verfahrens dem Beschuldigten mitzuteilen (§ 170 3050

Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 407. Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 420, 425. 3052 Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 425. 3053 Rieß, NStZ 1982, S. 435; BVerfG NJW 1984, 1451 (1452); OLG Karlsruhe NStZ 1982, 434 (434, 435); OLG Jena NStZ 2005, 343 (343). 3054 Siehe Nachw. o. Fn. 407; auch Gantzer, der die Perspektive des Betroffenen zum Angelpunkt seiner Rechtskraftlehre machte, meinte, bei der staatsanwaltschaftlichen Einstellung könne deshalb vom Strafklageverbrauch nicht die Rede sein, weil die Klage noch nicht erhoben worden ist, Rechtskraft, S. 130 Fn. 434. 3055 Siehe oben Teil 1 Kap. 2 C. VI. 6. e) (S. 318). 3056 So aber Radtke, Strafklageverbrauch, S. 358. 3057 Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 57 Fn. 67. 3051

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Abs. 2 S. 2 StPO), sind im vorliegenden Zusammenhang irrelevant. Denn sie verkörpern unbestritten keine Entscheidung, sondern nur einen Kommunikationsakt, und ihre unbekümmerte Lückenhaftigkeit – nur in besonderen Fällen hält sie der Gesetzgeber für statthaft – lässt sich, wenn überhaupt, nur als Bestätigung der These des internen Charakters des Vorverfahrens deuten.3058 Ähnliches sollte man zum Vermerk über den Abschluss der Ermittlungen gem. § 169a StPO sagen, der zwischen einem Ermittlungs- und einem Entschließungsteil des Vorverfahrens eine Zäsur markieren soll.3059 Dieser Vermerk ist keine mit Außenwirkung versehene Entscheidung, sondern folgt ihr nach.3060 Die Tatsache, dass bis dahin vieles undokumentiert bleiben durfte, spricht eher für die Annahme eines rein internen Vorverfahrens als dagegen. (2) Zunächst sollte daran erinnert werden, dass dasjenige, was wir die „Rechtsschutzperspektive“ genannt haben, nicht mit der Perspektive der Gründe verwechselt werden darf (s. o. Teil 1 Kap. 1 C. [S. 107 f.]). Es mögen vielleicht gute Gründe vorhanden sein, keinen sofortigen Rechtsschutz gegen die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens oder gegen bestimmte, in dessen Rahmen getroffene Entscheidungen vorzusehen. Der wichtigste unter ihnen, an dessen Berechtigung trotz gewichtiger Bedenken3061 hier nicht gezweifelt werden soll, ist, dass man die mündliche, konzentrierte Hauptverhandlung nicht entleeren sollte. Wie dem auch sei, dieser Gesichtspunkt ist für die Frage, ob die Sphäre des Individuums berührt wurde oder nicht, ob das Vorverfahren in diesem Sinne ein Internum oder ein Externum ist, zweitrangig. Denn diese Frage ist eine rein (strafprozessrechts-)theoretische. Bei ihr spielen nämlich just die Gesichtspunkte eine Rolle, auf die wir uns berufen haben, um das individuelle Übel des Strafverfahrens zu erfassen (o. Teil 1 Kap. 2 B. VI. [S. 122 ff.]). (3) Auf diese Gesichtspunkte sollten wir uns auch jetzt zurückbesinnen. Ein Vorverfahren kann ad rem stattfinden und zunächst nur der Klärung einer Tat ohne Täter gelten. Ab einem gewissen Punkt konkretisiert sich der Verdacht auf eine bestimmte Person; sie wird der Begehung der Tat verdächtigt. Eine Verdächtigung, als Zutrauen von etwas Schlechtem, ist sogar im Alltag etwas Schwerwiegendes und ihre Schwere wird dadurch potenziert, dass sie (subjektiv) vom mächtigen und für legitim angesehenen Staat geäußert wird, (objektiv) die Begehung einer Straftat zum Gegenstand hat und gleichzeitig eine Drohung mit der Zufügung einer Strafe verkörpert. Diese Merkmale machen aus der Verdächtigung eine qualifizierte Verdächtigung. Wenn es ein Instrumentalisierungsverbot gibt, darf dies dem unschuldigen Einzelnen nur angetan werden, wenn seine Rechtssphäre am Ende intakt bleibt, was durch einen Ausgleich gewährleistet werden 3058 3059 3060 3061

So auch Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 19. Etwa Erb, LR-StPO § 169a Rn. 1. Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 16, 17. Siehe Nachw. o. Fn. 407.

4. Kap.: Die erste Verfolgung

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muss. Dieser Ausgleich ist das Versprechen, den Beschuldigten am Ende des Verfahrens zu rehabilitieren. Bereits das Ermittlungsverfahren, das von der Staatsanwaltschaft durchgeführt wird, weist alle Merkmale auf, die die Qualifiziertheit der Verdächtigung begründen. Mit oder ohne die Möglichkeit des sofortigen Rechtsschutzes ist ein solches Verfahren für den Betroffenen nichts Gleichgültiges, sondern eine beachtliche Belastung. Dies hängt auch nicht von seiner Kenntnis ab. Die Bekanntgabe ist – in grundrechtsdogmatischer Terminologie – nicht der Eingriff, sondern Teil dessen Rechtfertigung. (4) Daraus ergibt sich die unterste relevante Schnittstelle, der Punkt, ab dem eine Rehabilitierung und somit Rechtskraft geschuldet wird: der Punkt, an dem eine solche Verdächtigung bereits stattgefunden hat. Insofern geht es um dieselben Fragen, die man im Zusammenhang der Belehrungspflichten und Zwangsmaßnahmen mit dem Begriff des Beschuldigten zu lösen versucht. Auch für die Rechtskraftlehre muss es darauf ankommen, ob sich die Verfolgung, also die qualifizierte Verdächtigung, auf eine Person konzentriert hat, m. a. W., ob eine (explizite oder implizite) Inkulpation stattgefunden hat.3062 b) Gehalt: Beschränktes und Vollkommenes in der beschränkten Rechtskraft Nicht erst die Eröffnung des Hauptverfahrens belastet. Bereits die von einer staatlichen Stelle durchgeführte Verdächtigung belastet. Diese Belastung ist ausgleichsbedürftig, und zwar zumindest mittels einer schwächeren Form der Rechtskraft. aa) Wir haben Rechtskraft als Unveränderbarkeit einer Entscheidung bestimmt, und Unveränderbarkeit als Unabhängigkeit der Entscheidung von ihren tragenden Prämissen präzisiert (o. Kap. 1 A. I. [S. 328 ff.]). Volle Rechtskraft liegt vor, wenn die Entscheidung grundsätzlich nur unter strengeren Bedingungen aufgelöst werden kann. Bei der beschränkten Rechtskraft darf dies bereits unter leichteren Bedingungen erfolgen. 3062 Zur Bestimmung dieses Begriffs Merle, FS Hugueney, S. 113 ff.; Kohlhaas, NJW 1965, S. 1255 f.; v. Gerlach, NJW 1969, S. 776 ff.; Fincke, ZStW 95 (1983), S. 945 ff.; Grau, Defensa del imputado, S. 47 ff.; Guinchard, RSC 1997, S. 618 f.; Kühne, LRStPO Einl J Rn. 72; Eisenberg, Beweisrecht Rn. 505 ff.; López Yagües, Imputado, S. 26 ff.; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 25 Rn. 11; Meyer-Goßner, StPO Einl Rn. 76 ff.; Rogall, FS Frisch, S. 1199 ff.; aus der Rspr. BGHSt 37, 48 (51 f.); 38, 314 (227 f.); EGMR Deweer v. Belgien, Beschw. Nr. 6903/75, v. 27.2.1980, Rn. 42 ff., 46; Eckle v. Deutschland, Beschw. Nr. 8130/78, v. 15.7.1982, Rn. 73; U.S. Supreme Court, Escobedo v. Illinois, 378 U.S. 478, 485 ff. (1964). Auch hier muss gelten, dass Zwangsmaßnahmen in der Regel, aber nicht automatisch eine solche Inkulpation verkörpern, denn es gibt Zwangsmaßnahmen, die sich auch gegen Dritte richten, etwa v. Gerlach, NJW 1969, S. 779 Fn. 35.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Näher haben wir an obiger Stelle die beschränkte Rechtskraft nicht charakterisieren können. Denn dort ging es nur darum, den Gegenstand der Untersuchung vorläufig und noch ohne eine ausgearbeitete Theorie zu bestimmen. Jetzt gilt es, dies nachzuholen, also zu klären, worin die Beschränktheit der beschränkten Rechtskraft genauer bestehen soll. bb) Rechtskraft ist Unveränderbarkeit, Unveränderbarkeit ist Fortbestehen und Sperrwirkung trotz Wegfalls der tragenden Prämissen; die tragenden Prämissen sind faktischer und rechtlicher Natur. Deshalb lassen sich – zumindest auf den ersten Blick – zwei Formen beschränkter Rechtskraft unterscheiden, eine faktische und eine rechtliche. (1) Die Sperrwirkung bis zum Wegfall der faktischen Prämisse, also bis zur Entdeckung neuer Tatsachen oder Beweismittel, ist die allgemein anerkannte Form der beschränkten Rechtskraft. Vielfach spricht man von Rechtskraft rebus sic stantibus,3063 Rechtskraft nach Aktenlage3064 oder von auflösend bedingter Rechtskraft.3065 Die herrschende Auffassung rechtfertigt dies aus der Perspektive des verfolgenden Staates: Vor dem Hauptverfahren sind nur Möglichkeitsurteile auf beschränkter Grundlage getroffen worden, so dass man sich die Befugnis vorbehalten müsse, auf verbesserter Grundlage ein neues, richtigeres Urteil zu fällen.3066 Dasselbe Ergebnis lässt sich aber auch aus unserer individualbezogenen Perspektive gewinnen: Der verdächtigende Staat hat den Betroffenen noch nicht in die akute Gefahr gebracht, eine Verurteilung und deshalb eine Strafe zu erleiden. Er ist deshalb nicht gehalten, das Individuum auf Dauer in Ruhe zu lassen. Wer einen anderen einseitig mit einer Verdächtigung belastet, muss aber gewissenhaft vorgehen. Das bedeutet konkret, dass er wenigstens aus den Umständen, die er kennt und die wir als verdachtsbegründende Umstände bezeichnet haben (o. D. VII. 2. [S. 536 f.]), die richtigen Schlüsse ziehen soll. Es ist seine Aufgabe, diese Schlüsse zu ziehen; deshalb rechtfertigen erst neue Umstände, dass er sich mit der Sache erneut beschäftigt. (2) Die Konstellation des Wegfalls der rechtlichen Prämisse ist etwas komplizierter. Vom klassischen Modell her argumentiert man, dass, anders als bei der faktischen Prämisse, keine Möglichkeitsaussagen gefällt würden, sondern dass sich der Urteilende hier in derselben Situation befinde wie auch ein Gericht am Ende einer Hauptverhandlung.3067 Der Wegfall allein der rechtlichen Prämisse, 3063

Dani, DDP XII (1997), S. 148; Jannelli, Cosa giudicata, S. 606. Manzini, Trattato IV, S. 218. 3065 Siehe die Nachw. o. Fn. 1241. 3066 Früher Glaser, GrünhutsZ 12 (1885), S. 333 f.; heute Schneider, KK-StPO § 211 Rn. 1; Stuckenberg, LR-StPO § 211 Rn. 1. Bezüglich der in der itStPO v. 1930 vorhandenen sog. sentenza istruttoria (ähnlich der deutschen Außerverfolgungsetzung durch den Untersuchungsrichter) Santoro, Manuale, S. 546. 3067 Nagler, GS 111 (1938), S. 363; Lüttger, GA 1957, S. 211; Bloy, GA 1980, S. 163 f.; Bruns, GS H. Kaufmann, S. 267; Nierwetberg, NStZ 1989, S. 213; Radtke, 3064

4. Kap.: Die erste Verfolgung

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also der, die ohne gleichzeitiges Bekanntwerden neuer Tatsachen oder Beweismittel entsteht, sei also nichts anderes als eine Korrektur eigener Subsumtionsfehler. Aus diesem Grund rechtfertige eine Korrektur der rechtlichen Prämisse keine erneute Entscheidung.3068 Auch aus den vorliegenden Grundlagen kommt man zum selben Ergebnis. Die gerade erwähnte Pflicht, mit den Tatsachen, die man kennt, gewissenhaft umzugehen und daraus die passenden Schlüsse zu ziehen, bedeutet nichts anderes als die Unmöglichkeit der nachträglichen Korrektur von Rechtsfehlern zulasten des betroffenen Individuums. Gestattet man die Korrektur von Rechtsfehlern, dann wird der Einzelne, der bereits durch einen einseitigen Akt zum Verdächtigten erklärt worden ist, für die schlechte Arbeit der Verfolgungsperson pönalisiert. Obwohl er an dem ganzen Vorgang seiner Verfolgung keine aktiven Mitwirkungspflichten hat, zwänge man ihn indirekt dazu, seinem Verfolger bei der richtigen Subsumtion zu assistieren, um eine beschränkte Rehabilitierung zu erlangen. Damit würde die Rehabilitierung nicht mehr als Ausgleich für die negative Leistung der Duldung des Verfahrens geschuldet, sondern würde positive Kollaboration mit der Verfolgung der eigenen Person voraussetzen. „Ich bedanke mich dafür, dass Sie vorhaben, dem gegen mich gerichteten Betrugsverdacht nicht mehr

Strafklageverbrauch, S. 219, 220; zugespitzt Potthoff, JR 1951, S. 681: Rechtsfragen ließen sich im Büro sogar besser entscheiden als in der Haupverhandlung. 3068 Hélie, Traité III, S. 629 f.; Motive, in: Hahn/Mudgan, Materialien, S. 174; Glaser, GrünhutsZ 12 (1885), S. 335; Nagler, GS 111 (1938), S. 369; Potthoff, JR 1951, S. 679, 681; P. Herzog, Rechtskraft, S. 131; Gössel, Strafverfahrensrecht, S. 121; Schneider, KK-StPO § 211 Rn. 5; Stuckenberg, LR-StPO § 211 Rn. 8; aus der Rspr. RGSt 46, 67 (69 f.); BGHSt 7, 64 (65); 18, 225 (226 f.). In dem eher unter französischem Einfluss stehenden Kreis wird formuliert, dass eine Nichteröffnung (non lieu) aus rechtlichen Gründen (mangelnde Strafbarkeit, Verjährung, Amnestie) dem Freispruch gleichstehe, die aus faktischen Gründen erlaube bei „nouvelles charges“ eine Wiedereröffnung des Verfahrens, etwa Griolet, Chose jugée, S. 294; Gavalda, JCP I 1957, Nr. 1372 Rn. 51; Guarneri, NovDigIt XV (1968), S. 230; Bouzat/Pinatel, Traité II, S. 1473; Pacelli, Processo Penal, S. 50, 66, 67; Guinchard/Buisson, Procédure pénale, Rn. 1825; s. a. instruktiv J.-F. Bohnert/Lagodny, NStZ 2000, S. 638 f. Es ist aber fraglich, ob damit dieser Entscheidung eine stärkere Wirkung zugemessen wird als dem deutschen Nichteröffnungsbeschluss. Denn es wird nicht sauber genug zwischen Prozessgegenstand und Prozessstoff unterschieden (zur Unterscheidung s. o. Kap. 2 B. 1. [S. 379 f.]) bzw. man nimmt bei neuen Tatsachen oder Beweismitteln häufig eine neue prozessuale Tat an, die deshalb von der angeblich „absoluten“ Rechtskraft der auf Rechtsgründen beruhenden non lieu-Entscheidung nicht erfasst wird: so ganz deutlich Bouzat/Pinatel, die als Beispiel für eine zulässige Neuverfolgung anführen, dass neue Tatsachen entdeckt werden, die zu einer anderen rechtlichen Einordnung der Tat führen, die ihrerseits eine Verlängerung der Verjährungsfrist zur Folge hat. Einige Entscheidungen lassen aber Zweifel an dieser Deutung entstehen, wie etwa Cassazione Penale CassPen 1998, 838, in der es heißt, dass eine Nichteröffnung (sentenza di non luogo a procedere) wegen des Eintretens eines Strafaufhebungsgrundes (hier: Amnestie) nicht einmal beim Wegfall dieses Grundes aufhebbar ist. Wie dem auch sei: Weniger als neue Tatsachen oder Beweismittel erlauben keine erneute Verfolgung; ob ein Rechtssystem noch mehr verlangen möchte, ist nicht zuletzt Sache der Billigkeit (s. o. Teil 1 Kap. 1 A. I. [S. 52]).

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

nachzugehen. Prüfen Sie aber bitte, ob nicht auch eine Unterschlagung vorliegen könnte“ – ein solches Schreiben erwartet man von keinem Beschuldigten; es kann ihm deshalb auch nicht schlechter gehen, falls er keinen solchen Brief an seinen sachbearbeitenden Staatsanwalt richtet. (3) Nach dem Gesagten wird in den Fällen beschränkter Rechtskraft nur der Fortfall der faktischen, nicht aber der rechtlichen Prämissen eine Veränderung der Entscheidung gestatten. Bezüglich der rechtlichen Prämissen einer Entscheidung besteht insofern immer volle Rechtskraft. Es ergeben sich noch einige Zweifel oder Einwände, die eine gute Gelegenheit bieten, diese These zu präzisieren und abzusichern.3069 (a) Man könnte sich auch fragen, ob sich dies mit der in den meisten Staaten vorhandenen3070 Weisungsgebundenheit des einzelnen Staatsanwalts verträgt.3071 Wie ist es, wenn bei einer umstrittenen Rechtsfrage, bei der sich der bearbeitende Staatsanwalt im beschuldigtenfreundlichen Sinne entschieden und deswegen das Verfahren eingestellt hat, nachträglich eine Weisung kommt, die entgegengesetzte Auffassung zu vertreten? Auch dann, wenn man diese Weisung für verbindlich hält,3072 kann dies an dem hier gewonnenen Ergebnis nichts ändern. Denn die Staatsanwaltschaft ist nicht nur ein hierarchisches, sondern auch ein einheitliches Gebilde. Nicht der sachbearbeitende Staatsanwalt, sondern die Staatsanwaltschaft selbst hat die Einstellung verfügt. Die interne Weisung eines vorgesetzten Staatsanwalts trifft deshalb ins Leere, weil sie eigentlich als Anweisung ergeht, ein Verfahren wieder aufzugreifen, ohne dass die dafür erforderliche Voraussetzung, nämlich der Wegfall der faktischen Grundlagen der Entscheidung, vorhanden ist. M. a.W.: Akzeptiert man, dass Weisungen die Grenzen des Rechts einzuhalten haben, dass rechtswidrige Weisungen unverbindlich sind, dann ist die Frage nach der Reichweite des Weisungsrechts in dem Sinne sekundär, dass eine Schranke, die aus guten, rechtlich beachtlichen Gründen postuliert worden ist, nicht mit einem Hinweis auf das Weisungsrecht in Frage gestellt werden darf. (b) Die Konstellation aber, die wohl den stärksten Grund liefern könnte, an der These zu zweifeln, nach der die Beschränktheit der beschränkten Rechtskraft sich allein auf die faktischen und nicht auf die rechtlichen Prämissen einer Entscheidung bezieht, ist die der belastenden Rechtsprechungsänderung. Das klassische 3069 Auf weitere Einwände, die eher dagegen gerichtet sind, dass man staatsanwaltschaftlichen Verfügungen strafklageverbrauchende Wirkung zumisst, wird erst u. F. III. 1. (S. 821 ff.) näher eingegangen. 3070 Siehe oben C. II. 3. (S. 727 f.). 3071 Niederreuther, DJ 1936, S. 772; Töwe, GS 108 (1936), S. 28. 3072 So Peters, Strafprozeß, S. 165; Wohlers, SK-StPO, § 146 GVG Rn. 12; and. Dünnebier, JZ 1961, S. 315; Eb. Schmidt, MDR 1964, S. 716 f.; Roxin, DRiZ 1969, S. 386 f.

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Beispiel ist hier die Herabsetzung der Schwelle der absoluten Fahruntüchtigkeit von einer BAK von 1,3 ‰ auf 1,1 ‰.3073 Zugegeben: Derjenige, der vor der Veröffentlichung dieser Entscheidung in einem derartigen Fall deshalb die Einstellung verfügt bzw. das Verfahren nicht eröffnet hat, hätte eventuell nicht einmal wissen können, dass er es mit strafbarem Verhalten zu tun hatte, dass seine Subsumtion also falsch war. Aber den Beschuldigten geht das alles nicht an. Hier erkennt man den Unterschied zwischen einem Ansatz, der auf das Können der staatlichen Instanzen3074 oder auf ihre Sanktionierung bzw. Disziplinierung3075 abstellt, und dem vorliegenden, der allein das Rehabilitierungsrecht des Beschuldigten zu seinem Angelpunkt macht. Die Anwendung von Recht erfolgt auf eigene Verantwortung der staatlichen Instanzen. Nicht die staatlichen Instanzen sollen für falsche Rechtsanwendung sanktioniert werden, sondern der Beschuldigte hat ein Recht darauf, dass diese Instanzen auf die ihnen bekannten Tatsachen das Recht richtig anwenden. Dies ist unabhängig von der bekanntlich umstrittenen Frage, ob die Staatsanwaltschaft an eine feste höchstrichterliche Rechtsprechung gebunden ist oder nicht,3076 und erst recht von dem Vorhandensein eines sog. stare decisis, also bindender Präjudizien, im einzelnen Rechtssystem.3077 Denn nicht einmal die von Anfang an falsche Rechtsanwendung darf korrigiert werden. Deshalb ließe sich sogar ein argumentum a fortiori bilden: Wenn schon Fehler, die von Anfang an begangen wurden, hingenommen werden müssen, dann erst recht die „Fehler“, die erst nachträglich als solche erkennbar sind. Von besonderer praktischer Relevanz sollte diese Situation indes nicht sein. Falls man bis zur höchstrichterlichen Entscheidung nicht einmal dazu zu kommen pflegte, an die Strafbarkeit eines bestimmten Verhaltens zu denken – man erinnere sich nur an die Beschneidungsproblematik vor der Entscheidung des LG 3073 BGHSt 37, 89; s. a. Neu-Berlitz, Bestandskraft, S. 71. Zum Ganzen Leite, GA 2014, S. 220 ff. 3074 Stellvertretend Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 387, 389 f.; näher o. Kap. 2 C. VII. 1. (S. 461 ff.). 3075 Stellvertretend Achenbach, ZStW 87 (1975), S. 87 ff.; näher o. Kap. 1 C. VI. (S. 358 ff.). 3076 Dagegen etwa Lüttger, GA 1957, S. 211 f.; Eb. Schmidt, MDR 1961, S. 271 ff.; ders. MDR 1964, S. 718; Roxin, DRiZ 1969, S. 387; ders. DRiZ 1997, S. 115 f.; Roxin/ Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 9 Rn. 14; Wohlers, SK-StPO, vor §§ 141 ff. GVG Rn. 17; dafür BGHSt 15, 155 (158 ff.); Dünnebier, JZ 1961, S. 314 (wenn auch die Staatsanwaltschaft zu beurteilen habe, ob es um „gefestigte“ Rspr. geht); Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 62 (mit eigenständiger Bestimmung des Kriteriums der „gefestigten“ Rspr.); diff. Breneselovic, Bindung, S. 135 ff. – alle m.w. Nachw. 3077 Umso weniger kann es darauf ankommen, ob die Rechtsprechungsänderung eine Veränderung der Rechtslage herbeiführt oder nicht (so aber Neu-Berlitz, Bestandskraft, S. 72 f.). Denn im zweiten Fall wäre die neue Entscheidung bloße Änderung einer Rechtsauffassung (so auch Neu-Berlitz, Bestandskraft, S. 72 f.), im ersten Fall wäre sie aber rückwirkende Strafbarkeitsbegründung.

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Köln3078 –, wird es mangels Anfangsverdachts regelmäßig bereits an einem Ermittlungsverfahren fehlen. (c) Auch dann, wenn man das Gewicht der gerade entwickelten Gründe gegen die Möglichkeit, nach abgeschlossenem Verfahren bloße Rechtsauffassungen zu verändern, anzuerkennen bereit ist, erscheint es zumindest denkbar, dass man dies trotzdem zulässt, unter der Voraussetzung, dass andere Kompensationsmechanismen vorhanden sind. So schlägt Radtke vor, die Vorschrift von § 153a Abs. 1 S. 5 StPO, die eine erneute Verfolgung nur bei einer Strafbarkeit als Verbrechen zulässt, aber kein Wort zu nova enthält, so zu deuten, dass die Strafbarkeit nach einer höheren Deliktskategorie als die, die ausdrücklich Gegenstand der ersten Verfolgung war, der Ausgleich dafür ist, dass das Gesetz hier ausnahmsweise die Korrektur bloßer Rechtsfehler zulässt.3079 Diese These vermag indes nicht zu überzeugen.3080 Wer einen Bürger einmal durch seine qualifizierte Verdächtigung in Anspruch genommen hat, ist, wie ausgeführt, daran gehalten, mit den ihm bekannten Tatsachen gewissenhaft umzugehen. Die passenden rechtlichen Schlüsse aus diesen Tatsachen hat er deshalb selbst zu ziehen. Radtkes Vorschlag gewährt den staatlichen Instanzen ein Recht zum unsorgfältigen Umgang mit dem Verdächtigten. Das Erfordernis, dass bei einem Verbrechen und nicht schon bei einem anderen Vergehen die Verfolgung derselben Tat erneut aufgenommen werden darf, kann deshalb nur als Zusatz zum Erfordernis von nova verstanden werden, niemals aber an dessen Stelle treten. (d) Das letzte Argument wäre ein rechtspolitisches: ob die in der beschränkten Rechtskraft einer Entscheidung verkörperte Unmöglichkeit, Rechtsfehler zu korrigieren, wenn diese Korrektur den Betroffenen belastet, hinnehmbar ist. Beim Nichteröffnungsbeschluss ist dies bereits allgemeine Auffassung.3081 In der Tat ist diese Entscheidung dadurch, dass ein Richter sie trifft und dass die Staatsanwaltschaft ihre Überprüfung durch ein höheres Gericht mittels sofortiger Beschwerde veranlassen kann (§ 210 Abs. 2 StPO), kein großes Problem. Bei staatsanwaltschaftlichen Entscheidungen ist dies indes nicht so. Hier bestehen bekanntlich nur die völlig unzulänglichen Kontrollmechanismen der Dienstaufsichtsbeschwerde und des Klageerzwingungsverfahrens (§§ 172 ff. StPO). Das ist aber eher ein weiteres Argument gegen die im deutschen positiven Recht seit 3078 LG Köln NJW 2012, 2128. Inzwischen ist die Straflosigkeit vom Gesetzgeber ausdrücklich klargestellt worden (§ 1631d BGB), näher Hörnle/Huster, JZ 2013, S. 328 ff. 3079 So etwa Radtke, Strafklageverbrauch, S. 339. 3080 Hier ist davon abzusehen, dass Radtke wohl nur deshalb zu ihr kommt, weil er durch eine ungebührende Überbewertung der fehlenden Begründung dieser Entscheidung der Ansicht ist, man könne keine nova verlangen (krit. bereits o. D. III. [S. 739 f.]). 3081 Siehe unten F. II. 2. (S. 788 ff.).

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über 100 Jahren erfolglos kritisierte,3082 seit dem Einzug des Opportunitätsgrundsatzes noch potenzierte3083 unkontrollierte Einstellungsmacht der Staatsanwaltschaft als etwas, das man gegen die beschränkte Rechtskraft anführen könnte. Hier wie sonst ist es keine Sache des Beschuldigten, sicherzustellen, dass eventuell gegebene staatliche Strafansprüche nicht verspielt werden. (4) Das Ergebnis lautet also, dass die einzige Form der beschränkten Rechtskraft, die als rehabilitierende Kompensation in Betracht kommt, die der Rechtskraft rebus sic stantibus bzw. der auflösend bedingten Rechtskraft ist, also die Unveränderbarkeit der Entscheidung bis zum Bekanntwerden neuer Tatsachen oder Beweismittel (sog. nova). Weniger als das darf der Staat dem Verfolgten nicht anbieten. Ein Wegfall allein der rechtlichen Grundlagen einer Entscheidung kann eine Veränderung der Entscheidung zulasten des Betroffenen nicht rechtfertigen. c) Ergänzung: der Tatbegriff vor Anklageerhebung Nach der Einführung und Begründung der „Grundregel“, der zufolge die prozessuale Tat, die von der Anklage bestimmt wird, auch den Gegenstand des Verfahrens, des Urteils und der Sperrwirkung darstellt (s. o. Kap. 2 D. III. [S. 470 ff.]), lehnten wir alle Versuche ab, diese Regel aufzulockern, und verwarfen vor allem den hier sog. inkongruent-dynamischen Tatbegriff (o. Kap. 2 D. IV. [S. 484 ff.]). Wir mussten aber offen lassen, wie es sich mit der strafprozessualen Tat vor Anklageerhebung verhielt und haben versprochen, die Frage zu einem späteren Zeitpunkt aufzugreifen (s. o. Kap. 2 D. IV. [S. 485 f.]). Nach der Klärung des „Wesens“ des Vorverfahrens, vor allem, dass es bei ihm um kein internum des Staates geht, sondern dass es bereits ein ausgleichsbedürftiges Übel verkörpert, ist die Gelegenheit dazu gekommen. Im Vorverfahren – vor allem dann, wenn es keine richterliche Voruntersuchung gibt – liegt die Sache allein in den Händen des potenziellen Anklägers. Was aber diese Sache ist, weiß häufig nicht einmal er selbst genau. Sinn des Vorverfahrens ist es vielmehr gerade auch, dies zu klären und für die eventuell zu erhebende Anklage einen präzisen Gehalt zu gewinnen. Der Tatbegriff des Vorverfahrens trägt also notwendigerweise verschwommene Konturen. Am besten lässt er sich mit der Formel des geschichtlichen Vorgangs umschreiben, die die h. M. zur Bestimmung des Tatbegriffs des Hauptverfahrens benutzt (s. o. Kap. 2 C. IV. [S. 431 ff.]). Denn ob ein Vorwurf aus dem Gemenge des geschichtlichen Vorgangs ausgeschieden oder darin einbezogen wird, kann immer auch uno acto erfolgen, solange alles in der Hand einer einzigen Person liegt. Wir sahen, dass erst die Arbeitsteilung eine Fixierung des Gehalts der prozessualen Tat ermöglicht (o. Kap. 2 B. III. 5. [S. 405 ff.]). Ergibt sich ein Hinweis darauf, dass es der Ver3082 3083

Statt aller Gneist, Vier Fragen, S. 21 ff. Siehe bereits v. Scanzoni, JW 1924, 1642 ff.; Mannheim, JW 1924, S. 1646 ff.

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dächtige war, der ein Opfer in einer Schlägerei getötet hat, stellt sich aber nach weiterer Aufklärung heraus, dass er nur eine schwere Körperverletzung herbeigeführt haben soll, dann wird nicht wegen der Tötung eingestellt und erneut wegen Körperverletzung beschuldigt, sondern das Vorverfahren wird schlicht fortgesetzt. Erst mit der Anklageerhebung verändert sich das, weil es, wie o. Kap. 2 E. III. 10. dargelegt, einen wichtigen Unterschied macht, ob dem Betroffenen vorgeworfen wird, die höchstpersönlichen Güter von A oder von B verletzt zu haben. Das Vorverfahren wird erst dann eingestellt, wenn die gesamte Schlägerei nichts mehr enthält, was dem Betroffenen möglicherweise vorgeworfen werden kann. Erst dann kommt es zu der o. 2. beschriebenen beschränkten Rechtskraftwirkung. Damit wird zugleich bestätigt, wie verfehlt die herrschende Formel ist. Sie verwendet für das Hauptverfahren einen Tatbegriff, der eigentlich das relativ formlose Vorverfahren vor Augen hat. Es zeigt sich noch einmal, dass der geschichtlich orientierte Tatbegriff der h. M. das Überleben des gemeinrechtlichen Spezialinquirenten im reformierten Strafverfahren verkörpert. IV. Erweiterung des Modells: Verfahrensgerechtigkeit Bis zu diesem Moment haben wir die Rechtskraftfähigkeit von Entscheidungen allein in ihrer beschuldigtenfreundlichen, buchstäblich strafklageverbrauchenden bzw. auf den ne bis in idem-Grundsatz bezogenen Dimension behandelt. Die materielle Rechtskraft und die Sperrwirkung wirken aber nicht nur zugunsten, sondern auch zulasten des Betroffenen; er muss eine Entscheidung, auch dann hinnehmen, wenn er sie gerne verändert hätte (o. Kap. 1 C. IV. [S. 358 f.], D. [S. 371 ff.]). Jetzt gilt es, das Modell auch auf diese Dimensionen der Sperrwirkung zu erweitern. Die rationes, die die materielle Rechtskraft in ihren sich zugunsten und zulasten des Beschuldigten auswirkenden Dimensionen tragen, decken sich nicht völlig (s. o. Kap. 1 D. [S. 371 ff.]). Die ratio des Schuldprinzips bzw. der Schuldtilgung wirkt sich symmetrisch aus: Der Angeklagte muss die Bestrafung noch ungetilgter Schuld dulden, ebenso wie der Staat nach dieser Bestrafung die Finger davon lassen muss. Dagegen begründet die Rehabilitierung einseitig die beschuldigtenfreundlichen, die Verfahrensgerechtigkeit einseitig die beschuldigtenbelastenden Seiten der Sperrwirkung. Man könnte sich sogar fragen, ob das nicht zu einer Asymmetrie der Rechtskraftbegründung zugunsten und zulasten des Beschuldigten führen müsste, in dem Sinne, dass eine prozessbeendende Entscheidung, die das Strafklagerecht verbraucht, aus der Perspektive des Beschuldigten noch nicht das Aus verkörpert.3084 Eine solche Asymmetrie wird sich durchaus ergeben. Erfreulicherweise ist sie aber von eher geringfügigem Ausmaß; im Wesentlichen kommt es zwischen den 3084

Ähnl. Thesen in Westen, MichLR 78 (1980), S. 1003.

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Erfordernissen auf beiden Seiten zu einer Entsprechung. Denn die Merkmale, auf die wir für die Begründung der vollen Verdächtigungstiefe abgestellt haben – Gewinnung der Entscheidungsgrundlagen einerseits, Fehlen einer Zwischensachentscheidung bis zur möglichen Verurteilung andererseits (s. o. III. 2. d) [S. 747 ff., 752]) –, müssen auch und gerade wegen der Belastung und Gefahren, die sie bedeuten, zentrale Bezugspunkte für ein richtiges Konzept der Verfahrensgerechtigkeit bedeuten. Die Möglichkeit, als Prozesssubjekt am Verfahren teilzunehmen und sein Ergebnis zu beeinflussen, muss vor allem dann präsent sein, wenn die Entscheidungsgrundlagen gewonnen werden und wenn es keine wichtigen Schwellen bis zur Verurteilung mehr gibt. Der einzige wichtige Unterschied, der eine kleine und deshalb auch regelmäßig zu vernachlässigende Asymmetrie zur Folge hat, ist der Umstand, dass die Bestimmung der vollen Verdächtigungstiefe bereits an den Anfang der Beweisaufnahme knüpfen musste, während die Verfahrensgerechtigkeit es erfordert, dass der Beschuldigte bis zur Beendigung dieser Phase und eigentlich bis vor dem Zeitpunkt, in dem das Gericht sich zur internen Beratung zurückzieht (positivrechtlich: letztes Wort, § 258 StPO), als mitwirkendes Subjekt anerkannt wird. V. Spielräume des Gesetzgebers nach oben und nach unten Wir haben zwei Schnittstellen ausgemacht, denen zwei verschiedene Rechtskraftintensitäten entsprechen; wie wir für das deutsche Recht näher ausführen werden (u. F. [S. 777 ff.]), kennen die einzelnen positiven Rechte aber eine Vielzahl weiterer Formen der Sperrwirkung. Das steht den hier formulierten Ausführungen nicht entgegen; unsere zwei Rechtskraftintensitäten bezeichnen nur ein Minimum dessen, was ein Staat, der jemandem eine Inkulpation oder sogar eine Beweisaufnahme zugemutet hat, schuldet: keine Verfolgung auf denselben Tatsachengrundlagen oder überhaupt keine Verfolgung. Dem Staat ist es aber nicht untersagt, mehr zu leisten als geschuldet. Das wird er vor allem im Bereich der beschränkten Rechtskraft tun, in dem eine Vielzahl der einzelnen im positiven Recht vorgesehenen Voraussetzungen als Spezifizierung der für die erneute Verfolgung notwendigen neuen Tatsachengrundlage angesehen werden können. Der Gesetzgeber begnügt sich also in solchen Fällen nicht mit schlichten nova, sondern mit irgendwie qualifizierten nova. Ebenso wenig ist der Gesetzgeber daran gehindert, zusätzliche prozessuale Hürden aufzustellen, sozusagen „kleine Wiederaufnahmeverfahren“ vorzusehen, so dass die Fortsetzung der Verfolgung nicht schon, wie im deutschen Recht, durch schlichte Neuerhebung der Anklage erfolgt, sondern zunächst ein eigenständiges Vorverfahren zur Beseitigung der Sperrwirkung voraussetzt.3085 Im vorliegenden Zusammenhang gibt es, anders

3085 So geschieht es in Italien mittels des Verfahrens der revoca della sentenza di non luogo a procedere, Art. 434 ff. itStPO, näher Dani, DDP XII (1997), S. 153 ff.

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als beim Tatbegriff, nichts mit der dort sog. Grundregel Vergleichbares, deren Missachtung eine Vielzahl von Spannungen zur Folge hatte (s. o. Kap. 2 D. III. [S. 484 ff.]). Spielräume nach oben gibt es hier also durchaus. Man könnte trotzdem weiter nachfragen und eine fundiertere Antwort verlangen. Warum war dort Billigkeit ein Problem, hier aber nicht? Das ist in der Tat schwer zu sagen. Man kann zunächst darauf verweisen, dass die oben festgestellten Spannungen, die auch und gerade bei beschuldigtenfreundlichen „Dynamisierungen“ des Tatbegriffs entstanden, sich hier nicht beobachten lassen. Wenn man diesem Phänomen auf den Grund zu gehen versucht, lässt sich vermuten, dass es damit zu tun hat, dass es einen Unterschied macht, ob man mehr als geschuldet oder schon völlig ungeschuldet leistet. Der beschuldigtenfreundlich orientierte dynamisch-inkongruente Tatbegriff führte deshalb zu Spannungen, weil er eine zweite Verfolgung verbot, obwohl es nicht einmal eine erste gegeben hatte. Die erste Verfolgung hatte einen anderen Gegenstand. Im vorliegenden Zusammenhang gibt es dagegen durchaus eine erste Verfolgung. Vielleicht hilft es auch, daran zu erinnern, dass jede Verfolgung eines Unschuldigen einen Rest an Ungerechtigkeit verkörpert (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 6. d) [S. 314]). Wenn nicht einmal der nach strengem Recht geschuldete Ausgleich voll befriedigt, kann man gegen Billigkeit wenig anführen. Diese Überlegung ist aber im vorherigen Zusammenhang überhaupt nicht einschlägig, da es bezüglich des Gegenstands, der nicht einmal implizit angeklagt oder abgeurteilt worden ist, überhaupt kein Verfahren gegeben hat und somit auch gar nichts, was den Betroffenen als Ungerechtigkeit belasten könnte. Es lässt sich aber vermuten, dass auch hier Grenzen nach oben existieren werden und dass wir nur keinen Anlass hatten, sie zu ergründen, weil kein ersichtliches System sie auszuschöpfen sucht. Wenn aber ein Verfahren staatsanwaltschaftliche oder sogar polizeiliche Einstellungen zu voll rechtskräftigen Entscheidungen erheben würde, dann lässt sich mit einer gewissen Sicherheit vermuten, dass dies auch Mogeltricks zur Folge haben würde, die insbesondere in Gestalt einer Verengung des Tatbegriffs bzw. einer Vermengung von Prozessgegenstand und Prozessstoff auftreten würden. Nach unten sieht die Sache indes anders aus. Denn dort, wo es um das Rehabilitierungsrecht des Betroffenen geht, stehen dem Gesetzgeber keinerlei Spielräume zu. Nimmt er sie trotzdem wahr, dann instrumentalisiert er den Beschuldigten, dem er ein Übel auferlegt, ohne ihn angemessen zu kompensieren.3086 Aber auch in einer weiteren Hinsicht sind bei der Bestimmung der rechtskraftfähigen Entscheidungen die vorpositiven Spielräume enger als die, die bei der Bestimmung des Tatbegriffs ausgearbeitet worden sind. Bei der strafprozessualen Tat konnte das vorpositive Anklageprinzip und die von ihm abgeleitete Grundre3086 Zu undifferenziert deshalb Loos, JZ 1978, S. 593 f.; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 312, die von einem breiten legislatorischen Spielraum sprechen.

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gel nur einen sehr weiten Rahmen abstecken, innerhalb dessen eine Reihe weiterer, sekundärer Erwägungen den konkreten Ausschlag geben konnten (o. Kap. 2 D. V.–VII. [S. 510 ff.]). Unsere konkreten Schlussfolgerungen konnten deshalb allein für das deutsche Strafprozessrecht als System, das die äußersten Grenzen dieses Rahmens zu erschöpfen sucht, Verbindlichkeit beanspruchen (s. o. Kap. 2 E. [S. 545 ff.]). Im jetzigen Zusammenhang sind die Spielräume des nationalen Gesetzgebers aber enger, da er die zwei Hauptformen der Rechtskraft nicht unterschreiten darf. VI. Fazit: Die zwei Schnittstellen der Verdächtigungstiefe; volle und beschränkte (genauer: rebus sic stantibus) Rechtskraft Versteht man die materielle Rechtskraft in erster Linie aus der Perspektive des Beschuldigten, also als den ihm geschuldeten Ausgleich dafür, das Verfahren erduldet zu haben, wird es für die Bestimmung der rechtskraftfähigen verfahrensabschließenden Entscheidungen darauf ankommen, zu welcher „Phase“ des Verfahrens sie ergehen. Die Belastung durch ein Verfahren, das die für die Verurteilung erforderlichen Grundlagen gewinnt und den Betroffenen wegen des Umstands, dass bis zur Endentscheidung keine Zwischensachentscheidungen mehr erforderlich sind, einer akuten Verurteilungs- und Bestrafungsgefahr aussetzt (in einem mündlichen Strafverfahren also: der Beginn der Beweisaufnahme), ist mit voller Rechtskraft zu kompensieren, also mit einer Sperrwirkung, die, wenn überhaupt, nur unter relativ schweren Bedingungen zu beseitigen ist. Aber auch die qualifizierte Verdächtigung, die ein Individuum zum Verfolgten, also zum Beschuldigten macht, belastet, so dass eine nach dem Zeitpunkt der Inkulpation erfolgende Beendigung des Verfahrens das Recht begründet, nur aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel, und vor allem nicht aufgrund einer bloßen Änderung der Rechtsauffassung, erneut in Anspruch genommen zu werden (beschränkte Rechtskraft).

F. Die einzelnen Entscheidungen I. Vorbemerkungen 1. Die Aufgabe Im Folgenden sollen die einzelnen prozessbeendenden Entscheidungen des deutschen positiven Rechts anhand der zwei ausgearbeiteten Kriterien untersucht werden. Nur gelegentlich und eher in den Fußnoten werden vergleichbare Entscheidungen ausländischer Prozessordnungen erwähnt werden. Aus theoretischer Sicht ist eine solche Selbstbeschränkung zwar nicht geboten; vielmehr dürfte das Gegenteil, also eine umfassende Einbeziehung ausländischer Entscheidungen sogar erforderlich sein, um den von der Theorie formulierten Universalitätsan-

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

spruch (s. o. E. V. [S. 775 f.]) glaubhaft einzulösen. Die Entscheidung im Sinne der Selbstbeschränkung musste dennoch getroffen werden, weil die Bestimmung der bei einer bestimmten verfahrensabschließenden Entscheidung erreichten Verdächtigungstiefe ein Verständnis des gesamten Prozessablaufs erforderlich macht. Die Gefahren, hier in Dilettantismus zu entgleiten (s. o. Teil 1 Kap. 1 C. [S. 113]), wären einfach viel zu groß gewesen. 2. Terminologische Festlegungen Dass nur prozessbeendende bzw. -abschließende Entscheidungen untersucht werden sollen, ist bereits am Anfang des Abschnitts angemerkt worden (o. A. [S. 703]). An vorliegender Stelle sind in erster Linie terminologische Bemerkungen vonnöten. In den Dschungel der insbesondere zu der Zeit begriffskonstruktivistischer Tendenzen (s. o. Teil 2 Kap. 2 C. II 1 [S. 135 ff.]) vorgeschlagenen Differenzierungen3087 wollen wir uns nicht begeben. Hier geht es nur darum, hinreichend präzise Arbeitswerkzeuge zu gewinnen, um das Problem der Bestimmung der Rechtskraftfähigkeit der einzelnen prozessabschließenden Entscheidungen ohne Missverständnisse angehen zu können. Alle prozessabschließenden Handlungen der dem Staat zuzuordnenden Prozesssubjekte, also sowohl des Gerichts als auch der Staatsanwaltschaft, sollen im Folgenden Entscheidung heißen. Trotz meiner im methodischen Teil dieser Arbeit bekundeten Sympathie (s. o. [Teil 1 Kap. 1 A. II. [S. 60]) evoziert der Ausdruck Erkenntnis eher die richterliche Sachentscheidung, eigentlich das Sachurteil und ist (leider) sogar dort außer Gebrauch geraten. Entscheidungen werden üblicherweise nach dem Inhalt oder der Form unterteilt. Dem Inhalt nach lassen sich Prozessentscheidung und Sachentscheidung unterscheiden. Eine Sachentscheidung ist eine Entscheidung über die „Sache“, also über den Prozessgegenstand.3088 Prozessentscheidungen sind alle weiteren Entscheidungen.3089 Der Form nach unterscheidet die deutsche Strafprozessordnung bei richterlichen Entscheidungen Urteile, Beschlüsse und Verfügungen. Die Begriffe werden nicht immer völlig gleich bestimmt.3090 Überwiegend nennt man Urteile die Ent-

3087 Siehe vor allem Goldschmidt, Prozess, S. 495 ff.; Eb. Schmidt, Lehrkommentar I, Rn. 221 ff. 3088 Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 224; Peters, ZStW 68 (1956), S. 374 f. 3089 Etwas and. Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 224; Peters, ZStW 68 (1956), S. 374 – Entscheidungen, die lediglich das Verfahren betreffen; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 48 Rn. 1. 3090 Siehe etwa Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 224 f.; Eb. Schmidt, Lehrkommentar I Rn. 221 ff.; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 23 Rn. 1 ff.; ausf. Gantzer, Rechtskraft, S. 9 ff., 14 ff.; Trepper, Rechtskraft, S. 23 ff.

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scheidungen, die eine mündliche Verhandlung und eine öffentliche Verkündung voraussetzen;3091 Beschlüsse werden hingegen selten präzise definiert, sondern eher umschrieben, nämlich als Entscheidungen, die vor allem nicht notwendig eine Hauptverhandlung voraussetzen.3092 Mit der sog. Verfügung – unabhängig davon, wie man zu diesem Begriff steht3093 – wird man sich hier nicht beschäftigten müssen, weil gerichtliche Verfügungen niemals prozessabschließend wirken.3094 Da die Einordnung als Urteil oder Beschluss, so relevant wie sie auch sein mag,3095 für die Bestimmung der Rechtskraftfähigkeit irrelevant ist (s. o. C. II. 1. [S. 713 ff.]), empfiehlt es sich, diese Ausdrücke hier überhaupt nicht zu definieren. Die Ausdrücke sollen vielmehr als Eigennamen gebraucht werden, um bestimmte konkrete prozessabschließende Entscheidungen des (deutschen) Strafprozessrechts zu bezeichnen, die als Urteil oder Beschluss bezeichnet werden. Sobald Streit darüber besteht, ob eine bestimmte prozessabschließende Entscheidung in Beschlussform oder als Urteil ergehen soll,3096 werden wir schlicht von Entscheidung sprechen, um somit dem Problem auszuweichen. Es ist klar, dass es keine logisch notwendige Entsprechung zwischen Form und Inhalt der Entscheidung gibt. Urteile sind nicht notwendig Sachentscheidungen, Beschlüsse nicht notwendig Prozessentscheidungen.3097 Verurteilung ist das Urteil, das die Schuldfrage bejaht, also die Verdächtigung für bestätigt erklärt. Freispruch ist das Urteil, das die Schuldfrage verneint, also die Verdächtigung für nicht bestätigt erklärt. Verurteilung und Freispruch sind also immer Sachentscheidungen, nämlich Sachurteile. Weil vom logischen Standpunkt aus nichts gegen eine Stellungnahme zur Schuldfrage durch Beschluss spricht, kann es auch Sachentscheidungen geben, die keine Urteile sind (Hauptbeispiel: Strafbefehl). Einstellung ist die prozessabschließende Entscheidung, die weder Verurteilung noch Freispruch ist. Es kann deshalb Einstellungsurteile und -beschlüsse geben, es gibt Einstellungen als Sach- und als Prozessentscheidungen. 3091 BGHSt 8, 383 (384); geringfügig abw. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 23 Rn. 1, § 48 Rn. 1; Stuckenberg, LR-StPO § 260 Rn. 12; und Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 488, die alle zufügen, dass Urteile instanzabschließenden Charakter haben. Teilw. abweichende Definition bei Meves, GA 1888, S. 103 f., der nur Sachurteile kannte. 3092 Siehe die Umschreibungen in Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 134; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 23 Rn. 2. 3093 Krit. etwa Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 13 Fn. 1. 3094 Geppert, GA 1972, S. 172 Fn. 57; Trepper, Rechtskraft, S. 59. 3095 Siehe BGHSt 8, 383 (385 f.). 3096 Wie früher bezüglich der Einstellung wegen fehlenden Strafantrags in der Hauptverhandlung (§ 260 Abs. 2 StPO a. F.), s. Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 226 f.; und auch bezüglich der Entscheidung nach § 371 Abs. 2 StPO (für Beschluss RGSt BGHSt 8, 383 [384 ff.]; für Urteil RGSt 28, 148). 3097 Gantzer, Rechtskraft, S. 21; BGHSt 8, 383 (385).

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3. Die weitere Vorgehensweise Die wichtigsten prozessabschließenden Entscheidungen des deutschen positiven Strafprozessrechts sollen jetzt hinsichtlich ihrer Rechtskraftfähigkeit untersucht werden. Nahestehende Entscheidungen fremder Prozessrechte sollen bei Gelegenheit kurz in den Fußnoten erwähnt werden. Allein die Verdächtigungstiefe ist für die Zuweisung der Rechtskraftfähigkeit einer Entscheidung maßgeblich. Dass die naive Heranziehung des Verfassungsrechts3098 hier ebenso wenig weiterhilft wie bei der Frage nach dem Tatbegriff (s. o. Teil 2 Kap. 2 B. IV. 8. [S. 421 ff.], D. IV. 4. a) [S. 502 ff.]), wird, erst recht nach unserer gegen Herzog gerichteten Kritik (s. o. D. III. [S. 735 f.]), nicht überraschen.3099 Das zu erzielende Ergebnis hängt insofern auch hier (ähnl. wie bei der Frage nach den schuldtilgenden ersten „Strafen“, s. o. Kap. 3 D. [S. 662]) in keiner Weise von der Stelle ab, an der die einzelne Entscheidung zur Erörterung kommt. Möglich wäre sogar eine alphabetisch gegliederte Erörterung. Vorzugswürdig erscheint dennoch eine locker phänomenologisch orientierte Herangehensweise, nach dem Vorbild unserer Behandlung der einzelnen Fallgruppen beim prozessualen Tatbegriff (o. Kap. 2 F. I. [S. 545 ff.]). Eine anspruchsvolle Systematisierung ist nicht erforderlich;3100 man soll sich von den klareren zu den weniger klaren Konstellationen bewegen und zuerst dasjenige behandeln, was bezüglich eines weiteren Fragenkreises präjudiziell ist. In einer ersten Gruppe sind also sämtliche richterliche prozessabschließende Entscheidungen zu behandeln. Anzufangen ist mit den Sachurteilen, also vor allem dem Freispruch und der Verurteilung (u. II. 1.), anschließend ist der Nichteröffnungsbeschluss zu erörtern (u. II. 2. [S. 788 ff.]). Danach sollen die Einstellungen untersucht werden, zuerst die Einstellungen aus Opportunitätsgründen ohne Auflagen (u. II. 3. [S. 788 ff.]), danach vor allem die „gebundenen“ Einstellungsentscheidungen, also die wegen mangelnder Prozessvoraussetzungen (u. II. 4., 5. [S. 794 ff.]). Nach einer Diskussion anderer Einstellungsbeschlüsse (u. II. 6. [S. 806 f.]) behandelt man die Opportunitätseinstellungen mit Auflagen (u. II. 7. [S. 806 f.]) und wegen anderweitiger Verfolgung (u. II. 8. [S. 808 f.]). Es folgt die Diskussion des traditionsreichen Problems des Strafbefehls (u. II. 9. [S. 810 ff.]), und an letzter Stelle wird zu den übrigen Entscheidungen kursorisch Stellung bezogen (u. II. 10. [814 ff.]). Die zweite große Gruppe beinhaltet die prozessabschließenden Entscheidungen der Staatsanwaltschaft: an erster Stelle die Einstellung wegen Fehlens eines 3098 Beispielsweise Potthoff, JR 1951, S. 679; P. Herzog, Rechtskraft, S. 95 ff. (zu ihm o. D. III. [S. 734 ff.]); Neu-Berlitz, Bestandskraft, S. 33 ff., 48 (zu ihr u. III. 1. [S. 818 ff.]). 3099 Loos, JZ 1978, S. 599; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 309 f.; Trepper, Rechtskraft, S. 68, 174. 3100 Versuch einer Systematisierung bei Bloy, GA 1980, S. 160 ff., 183.

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hinreichenden Verdachts (u. III. 1. [S. 816]), anschließend die wichtigsten opportunitätsorientierten Einstellungen, u. a. die Entscheidungen gem. § 153 Abs. 1 StPO (u. III. 2. a) [S. 825 ff.]), § 154 I StPO (u. III. 2. b) [S. 827 f.]) und § 153a Abs. 1 StPO (u. III. 2. c) [828]), und zuletzt die weiteren Möglichkeiten einer Prozessbeendigung durch die Staatsanwaltschaft (u. III. 2. d) [S. 828 ff.]). II. Richterliche Entscheidungen 1. Sachurteile a) Freispruch aa) Der Freispruch ist das Urteil, das die Schuldfrage im ablehnenden Sinne entscheidet, also die Verdächtigung für nicht bestätigt erklärt. Er ist die rehabilitierende Entscheidung par excellence. Die vom Freispruch herrührende Rehabilitierung ist nicht nur eine rein rechtliche, wie es dem Begriff entspricht, von dem man in dieser Arbeit ausgeht (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. IV. 6. d) [S. 312]), sondern häufig auch eine soziologisch-faktische.3101 So sagt Peters, Freisprüche verkörpern nicht bloß eine negative Größe, sondern eine positive, nämlich die „ausdrückliche Bestätigung der Unangetastetheit der Sozialstellung“ des Angeklagten.3102 Aus unserer Perspektive ist aber nicht diese positive, sondern allein die negative Dimension des Freispruchs von Relevanz: die in ihm verkörperte formelle Behauptung, dass die Verdächtigung sich nicht bestätigen konnte. Nach dem o. E. II., III. 2. d) [S. 741 ff., 747 ff.] Ausgeführten dürfte klar sein, dass genauer betrachtet nicht einmal der Freispruch als solcher, sondern die ihm vorausgehende volle Verdächtigungstiefe die ausschlaggebende Größe ist. Der Staat hat sich die Verdächtigung so weitgehend angeeignet, dass er das Verfahren regelmäßig bis zum Ende, also bis zur Zuspitzung der Bestrafungsgefahr, d.h. der (sogar kompletten) Beweisaufnahme durchgeführt hat. Deshalb entfaltet der Freispruch volle Rechtskraftwirkung – nicht weil er freispricht, sondern weil der Prozess in einem Zeitpunkt beendet wird, nachdem dem Angeklagten die Duldung der Zuspitzung der Bestrafungsgefahr in Gestalt des Anfangs der Beweisaufnahme zu-

3101 Dies spiegelt sich in den Diskussionen über die Frage eines Rechts auf Freispruch wider, die unter der Fahne eines solchen soziologisch-faktisch verstandenen Rehabilitierungsbegriffs geführt wird; hierzu umfassend Sternberg-Lieben, ZStW 108 (1996), S. 733 ff. (der sein Ergebnis aus dem im allgemeinen Persönlichkeitsrecht verankerten öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch zur Beseitigung der durch die Hauptverhandlung erfolgenden Rufsbeeinträchtigung ableitet) und Krack, Rehabilitierung, S. 22 ff. (mit ähnlichem Ergebnis, S. 76); s. a. Steinberg, Richterliche Gewalt, S. 103 ff. 3102 Siehe auch Peters, ZStW 68 (1956), S. 377; s. a. ders. Strafprozeß, S. 503 („Anspruch auf Rechtsruhe“).

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gemutet worden ist. Im Gegenzug hierzu muss volle Rehabilitierung angeboten werden. Freisprüche führen also zu voller Rechtskraft.3103 Dass es auf das Negative ankommt, wird auch daran ersichtlich, dass die Rehabilitierungswirkung des Freispruchs unbestrittenermaßen nicht nur dasjenige erfasst, was ausdrücklich im freisprechenden Urteil erwähnt wird, sondern die ganze Tat, die Gegenstand des Verfahrens war.3104 Insoweit verhält sich der Freispruch spiegelbildlich zur Anklage, die implizite Bestandteile hatte. bb) Obwohl sich dies alles für uns selbstverständlich anhören mag, mussten diese Einsichten lange erkämpft werden. Denn nicht immer ist die Unschuld des Angeklagten am Ende des Verfahrens positiv erwiesen. Das lange Zeit herrschende Verständnis des Verfahrens als Magd des materiellen Rechts führte nicht nur zu der o. Kap. 1 C. IV., VII. (S. 351 ff., 362 ff.) mehrmals angesprochenen distanzierten Haltung zur Rechtskraft, sondern auch zu dem Bestreben, den in (weitgehend wiederaufnahmefähige, dennoch in unserem Sinne „volle“) Rechtskraft erwachsenden Freispruch allein in den Fällen erwiesener Unschuld für statthaft zu erklären.3105 Das Problem war also lange Zeit, was mit dem am Ende des Prozesses noch fortbestehenden Verdacht zu tun sei, wie dieser Verdacht zu tilgen sei. Eine Lösung erblickte man in der Folter: So schlug Clarus vor, den Inquisiten, dessen Schuld am Ende des Verfahrens immer noch unbewiesen bleibt, gegen den aber zugleich ein Verdacht fortbesteht, bis zu drei Mal der Folter zu unterwerfen; lasse sich auch dann kein voller Schuldbeweis erbringen, sei der Inquisit freizusprechen, aber rebus sic stantibus.3106 Dem setzte Carpzov entgegen, dass

3103 Küßner, GA 1855, S. 205; Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 267; Eb. Schmidt, Kolleg Rn. 330; Peters, Strafprozeß, S. 504; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 76: „heute nicht mehr bestritten“; Grünewald, ZStW 120 (2008), S. 566. BGHSt 5, 323 (330); 15, 259 (259); BVerfGE 12, 62 (66); für Art. 54 SDÜ BGHSt 46, 307 (309). Schroeder vermutet sogar, dass der ne bis in idem-Grundsatz sich historisch vor allem am Freispruch entwickelt habe, denn das Verbot erneuter Bestrafung ist doch selbstverständlich (JuS 1997, S. 228 mit rechtsgeschichtlichen Nachw.); dies bestätigt sich auch an der historisch grundlegenden Vorschrift des Art. 360 Code d’Instruction Criminelle v. 1808, die nur vom „gesetzlich Freigesprochenen“ sprach (für den Text s. o. Fn. 1916; ausf. zur Durchsetzung der Idee der Rechtskraft bei materiell fehlerhaften Freisprüchen in Frankreich Astaing, Erreur in favorem, S. 7 ff.). 3104 Siehe bereits RGSt 7, 355 (358); 35, 367 (372); s. a. La Rocca, Fatto, S. 106 ff., 111 ff. (cosa giudicata implicita negativa), der aber der o. Kap. 2 E. III. 9. (S. 611 ff.) abgelehnten These der Alternativität sehr nahekommt. 3105 Siehe Preußische Criminal-Ordnung v. 1805, § 414: „Die völlige Freisprechung, welche sich auf den vollen Beweis der Unschuld gründet, bewirkt jederzeit eine Befreiung von der Untersuchung wegen eben desselben Verbrechens. Gründet sie sich aber auf den Mangel an Beweisen; so findet eine Erneuerung derselben statt, wenn dazu eine neue rechtlich begründete Veranlassung vorhanden ist“; und auch Bayerisches Strafgesetzbuch v. 1813, 2. Teil, Art. 353. 3106 Clarus, Receptarum sententiarum, Liber V, § Fin., Quaestio XXI, Rn. 36.

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die Folter den Verdacht tilge, und leitete daraus die Gebotenheit einer definitiven Freisprechung ab.3107 Er schlug indes zwei weitere Mittel der Verdachtstilgung vor: die poena extraordinaria, also eine nach richterlichem Ermessen gemilderte Bestrafung;3108 und den sog. Reinigungseid.3109 Carpzov verstand diesen als ein Mittel der Wahrheitserforschung, nämlich als eine Art psychische Folter: Die Weigerung des Eids war ein Geständnis, die Tat begangen zu haben, die Eidesleistung bewirkte dagegen die Reinigung vom verbleibenden Verdacht.3110 Rechtsfolge des Reinigungseids war also auch der definitive Freispruch.3111 Noch im 19. Jahrhundert wurde der Reinigungseid eingesetzt, neukonzipiert als Recht des Angeklagten, sich vom Verdacht zu reinigen und der absolutio ab instantia zu entgehen, die ihn auf immer einer erneuten Verfolgung aussetzte und ihm eine Reihe weiterer Einschränkungen auferlegte (s. o. Kap. I C. VII. [S. 363 f.]).3112 Voraussetzungen des Reinigungseids waren Unbescholtenheit und Religiosität des Inquisiten,3113 ein schwacher Verdacht3114 und eine eher leichtere Straftat.3115 Die vierte Alternative zum Freispruch war die, die den Verdacht nicht tilgte: die mehrmals angesprochene absolutio ab instantia, die in den Fällen einschlägig war, in denen ein stärkerer Verdacht vorhanden war, also ein Verdacht, der ausreichte, um den Betroffenen in den Anklagestand zu versetzen.3116 Somit kannte das gemeine Recht ein ausdifferenziertes System unterschiedlicher Freisprüche. 3107 Carpzov, Practica nova, Pars III, Quaestio CXXV, Rn. 5; zust. Kleinschrod, Lossprechung von der Instanz, S. 175; zu Carpzovs Lehre auch Elben, Entbindung von der Instanz, S. 30 ff. 3108 Carpzov, Practica nova, Pars III, Quaestio CXVI, Rn. 51 ff.; Carmignani, KritZRGA 1 (1829), S. 259 f.; Preußische Criminal-Ordnung v. 1805, §§ 405–408. 3109 Carpzov, Practica nova, Pars III, Quaestio CXVI, Rn. 58 ff. 3110 Carpzov, Practica nova, Pars III, Quaestio CXVI, Rn. 61 ff.; krit. Globig/Huster, Abhandlung, S. 364 f.; Abegg, NArchCrimR 14 (1834), S. 132; Heffter, NArchCrim 14 (1834), S. 56; Mittermaier, Lehre vom Beweise, S. 484; v. Wieck, NArchCrimR 1840, S. 355 ff. (m. ausf. Nachw.); Henke, Handbuch IV, S. 555 f. 3111 Carpzov, Practica nova, Pars III, Quaestio CXVI, Rn. 77; ob dies in der Praxis auch immer vorgekommen ist, steht auf einem anderen Blatt; Gegenteiliges bei v. Wieck, NArchCrimR 1840, S. 346. 3112 Unter seinen Verteidigern: Henke, Handbuch IV, S. 557; Heffter, NArchCrim 14 (1834), S. 51 ff.; Zachariä, NArchCrimR 1839, S. 395; völlig abl. Abegg, NArchCrimR 1834, S. 131 f.; Mittermaier, Lehre vom Beweise, S. 485 f.; v. Wieck, NArchCrimR 1840, S. 355 ff., 367 ff.; Bauer, Lossprechung von der Instanz, S. 348 ff. (als Verfechter der absolutio ab instantia). 3113 Henke, Handbuch IV, S. 557: nur demjenigen ist ein Reinigungseid eröffnet, der „als ein unbescholtener wahrheitsliebender Mann gilt, und an dessen Religiosität nicht zu zweifeln ist“; ebenso Heffter, NArchCrim 14 (134), S. 46 ff. Die Praxis scheint hier nicht so streng vorgegangen zu sein, s. v. Wieck, NArchCrimR 1840, S. 345 f.; Bauer, Lossprechung von der Instanz, S. 349. 3114 Henke, Handbuch IV, S. 558. 3115 Siehe Henke, Handbuch IV, S. 558 (krit.). 3116 Scholz, NArchCrimR 15 (1834), S. 406.

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Aus heutiger Sicht ist man auf den ersten Blick eher dazu geneigt, die Reihe von vergessenen Prozessfiguren vorschnell als alten Staub vom Tisch zu räumen. Es lohnt sich aber durchaus, sie in Erinnerung zu bringen. Denn sie nehmen alle ihren Ausgang in einem Phänomen, mit dem jedes Strafprozessrecht notwendig zu tun haben wird, nämlich mit dem Phänomen der am Ende des Verfahrens nicht auszuschließenden Möglichkeit der Schuld des Betroffenen. Sie beruhen alle auf dem Bestreben, diesen verbleibenden Verdacht zu tilgen, ein Bedürfnis, das nur deshalb bestand, weil man noch nicht eingesehen hatte, dass die Duldung des Verfahrens dem Einzelnen gegenüber nur unter der Bedingung legitimierbar ist, dass das Verfahren selbst diese Tilgung verkörpert. Diese Figuren sind deshalb augenfällige Warnungen vor dem Holzweg, das Rehabilitierungsrecht des Betroffenen nicht ernst zu nehmen. Dass diese Warnung nicht ohne Anlass wiederholt wird, soll an mehreren Stellen klargemacht werden. cc) Es bestätigt sich also, dass der Wortlaut des Art. 103 Abs. 3 GG („mehrmals bestraft“) nicht buchstäblich genommen werden darf, dass auch Freisprüche die Rechtsfolge des ne bis in idem-Grundsatzes auslösen. Interessanterweise hat die Umschreibung des ne bis in idem-Grundsatzes in Art. 8 Nr. 4 AMRK genau den umgekehrten Fehler begangen, nur vom Freigesprochenen zu sprechen. In dieser Hinsicht verfährt Art. 14 VII IPbpR, in dem sowohl vom Freigesprochenen als auch vom Verurteilten die Rede ist, besser. Gerade angesichts solcher Zufälligkeiten wird die Notwendigkeit einer Rückbesinnung auf das Vorpositive ersichtlich. b) Verurteilung Verurteilung ist das die Schuldfrage bejahende Urteil; die Verdächtigung hat sich bestätigt (s. o. I. 2. [S. 779]). Man könnte denken, eine Verurteilung führt zur Bestrafung, diese zur Schuldtilgung, diese zur Rechtsfolge des ne bis in idem-Grundsatzes. Dies wäre aber, wie schon hervorgehoben, unzureichend. Erstens erschöpft die Verurteilung so gut wie niemals den ganzen Gehalt dessen, was Gegenstand der Verdächtigung war. Schuldtilgung bezieht sich aber auf das fait qualifié (o. Kap. 3 B. [S. 638]). Diese ganze Differenz zwischen dem, wofür der Betroffene verurteilt wird, und dem, dessen er verdächtigt wurde und worauf die Beweisaufnahme gerichtet wurde oder hätte gerichtet werden können, m. a. W., die Differenz zwischen dem, wofür er schuldig gesprochen wurde, und dem, wofür man ihn hätte schuldig sprechen können, wird nicht von der Schuldtilgung im engeren Sinne, sondern von der Tilgung der Prozessduldungsschuld erfasst (s. o. Kap. 3 B. [S. 637 ff.]). Denn die Leistung der Verfahrenserduldung durch den Verfolgten muss den ganzen Inhalt der Verdächtigung, also die die ganze prozessuale Tat erfassende Tilgung zur Folge haben. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Verurteilung materiell nicht vom Freispruch. Auch bei der Verurteilung ist allein der Umstand entscheidend, dass das

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Verfahren einen Punkt überschritten hat, in dem man damit anfing, die Grundlagen der Endentscheidung zu gewinnen, und in dem die Gefahr der Verurteilung und der Verhängung einer Strafe akut war. Der Unterschied zum Freispruch liegt allein darin, dass sich diese Gefahr auch realisiert. Dem, was sich realisiert hat, entspricht die Tilgung der Straferduldungsschuld;3117 dem, worauf sich die Gefahr bezog, dem also, was sich hätte realisieren können, entspricht die Tilgung der Prozessduldungsschuld, die sich in ihrer Reichweite also mit der Rehabilitierung deckt. Zweitens können Verurteilungen ergehen, ohne dass es zur Verhängung einer schuldtilgenden ersten „Strafe“ kommt, sogar ohne dass eine Strafe im konventionellen Sinne verhängt wird.3118 Das klarste Beispiel dafür ist die Verhängung einer Maßregel nach einer Verurteilung: Obwohl die Maßregel grundsätzlich keine Schuld tilgt (o. Kap. 3 D. IV. 4. [S. 691 ff.]), ist die Tatsache, dass das Verfahren auch die Gefahr einer Bestrafung verkörperte, Grund genug, um den Betroffenen nicht erneut dieser Gefahr aussetzen zu dürfen. Auch Verurteilungen erwachsen also in volle Rechtskraft.3119 c) Sachurteil im Sicherungsverfahren Auch dann, wenn die Maßregel im Wege des Sicherungsverfahrens verhängt werden soll (§§ 413 ff. StPO), kann das Gericht aus eigener Initiative das Verfahren in ein normales Strafverfahren verwandeln (§ 416 StPO). Bis dieser Übergang aber stattgefunden hat, besteht für den Beschuldigten nicht immer eine akute Verurteilungs- und Bestrafungsgefahr; denn die Übergangsverfügung ist nicht immer Prozessentscheidung (so § 416 Abs. 3 StPO, weil sie in erster Linie die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten zum Gegenstand hat), sondern auch Sachentscheidung, insofern sie die Schuldfähigkeit des Beschuldigten zum Gegenstand hat (§ 416 Abs. 1, 2 StPO). Deshalb begründet ein Sicherungsverfahren nicht immer auch die unmittelbare Gefahr einer Bestrafung. An sich wäre es möglich, zwischen der Konstellation des auf Schuldunfähigkeit und des auf Verhandlungsunfähigkeit beruhenden Sicherungsverfahrens zu differenzieren und nur Letzterem strafklageverbrauchende Wirkung zuzumessen. Die h. M., die von einer grundsätzlichen Gleichstellung von Straf- und Sicherungsverfahren ausgeht, schreibt der abschließenden Sachentscheidung volle Rechtskraft zu, deren Sperrwirkung auch einer Strafverfolgung entgegensteht.3120 Dies dürfte auch 3117

Die noch Vollstreckung der Strafe voraussetzt, s. o. Kap. 1 D. (S. 373). Für diesen Begriff s. o. Kap. 3 C. V. (S. 661 f.). 3119 Küßner, GA 1855, S. 205; Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 267; Kühne, LRStPO, Einl K Rn. 83; Meyer-Goßner, StPO Einl Rn. 169, 172; s. a. Armenta Deu, Lecciones, S. 251. 3120 Fischer, KK-StPO § 414 Rn. 22 f.; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 66 Rn. 10. 3118

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dem Willen des Gesetzgebers entsprechen, der wohl in der Hinsicht des Strafklageverbrauchs nicht zwischen den Formen des Sicherungsverfahrens differenzieren wollte. Insofern würde der Gesetzgeber um der Einfachheit und Einheitlichkeit der Regelung willen von dem abweichen, was der ne bis in idem-Grundsatz als Mindestanforderung verlangt; das ist ihm, anders als beim Tatbegriff, wo Spannungen entstehen (s. o. Kap. 2 D. IV. 1. [S. 484 ff.]), nicht verwehrt (s. o. E. V. [S. 775 ff.]). 2. Nichteröffnungsbeschluss (§ 204 StPO) und vergleichbare Entscheidungen (§ 174, § 383 Abs. 1 S. 1 StPO) a) Der Eröffnungsbeschluss ist die Entscheidung des mit der Anklage befassten Gerichts, das Hauptverfahren zu eröffnen (§ 199 Abs. 1 StPO). Da es dabei um eine laufende Entscheidung geht, müssen wir uns nur mit dem Nichteröffnungsbeschluss beschäftigen, also mit der Entscheidung dieses Gerichts, „das Verfahren vorläufig einzustellen“ (§ 199 Abs. 1 StPO; s. a. § 204 StPO). Bezüglich seiner Rechtskraftfähigkeit liegen beim Nichteröffnungsbeschluss die Verhältnisse relativ klar. Als Prototyp der prozessbeendigenden Entscheidungen, die nach der Inkulpation und vor Beginn der Zuspitzung der Verurteilungsund Bestrafungsgefahr gefällt werden, erwächst er in beschränkte Rechtskraft, so dass das Verfahren nur bei nova fortgesetzt werden kann.3121 Dies lässt auch das Gesetz zweifelsfrei erkennen (insb. § 211 StPO). Gelegentlich führt man zur Begründung an, dies beruhe auf dem bloß prozessualen Charakter der Entscheidung, da diese Entscheidung lediglich die (prozessuale) Frage des hinreichenden Verdachts und nicht die (materiellrechtliche) Frage des Strafanspruchs thematisiere.3122 Diese Einordnungsfrage ist aber aus unserer Perspektive wenigstens für die Lösung des vorliegenden Problems irrelevant. Es sei aber die Anmerkung gestattet, dass es schwer ist, an der These der rein prozessualen Natur des Nichteröffnungsbeschlusses festzuhalten, wenn die 3121 Hasenbalg, Öffentliche Klage, S. 63, 163 ff.; v. Schwarze, Wiederaufnahme, S. 327; v. Kries, Rechtsmittel, S. 413; Schanze, ZStW 4 (1884), S. 465; Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 366; Nagler, GS 90 (1924), S. 426; ders. 111 (1938), S. 369; Eb. Schmidt Lehrkommentar I, Rn. 326; Spinellis, Rechtskraft, S. 42; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 320; Kleinknecht, FS Bruns, S. 478; Gössel, Strafverfahrensrecht, S. 121; Peters, Strafprozeß, S. 467; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 222 f.; Kühne, LRStPO Einl. K Rn. 103; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 52 Rn. 19; s. a. Abegg, GS 9 (1857), S. 262, der weitere Konstellationen für das Wiederaufgreifen des Verfahrens kennt. Binding, Strafurteil, S. 313 benutzt den schiefen Ausdruck einer „Analogie der absolutio ab instantia“. Aus der Rspr. RGSt 7, 13, 295 (297 ff.); 32, 50 (51); 46, 67 (69 f.); 56, 91; 56, 351 (351 f.); 60, 99 (100 f.); 62, 153 (154); 65, 291 (292); BGHSt 18, 225 (225 f.); siehe auch Motive, in: Hahn/Mudgan, Materialien, S. 173 f. 3122 Etwa Gantzer, Rechtskraft, S. 132; Neu-Berlitz, Bestandskraft, S. 30 f.; in der Sache auch Dani, DDP XII (1997), S. 148.

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Eröffnung deshalb abgelehnt wird, weil die in der Anklage geschilderten Vorgänge vom Gericht für tatbestandslos oder gerechtfertigt erklärt werden.3123 Der Eröffnungsbeschluss ist dagegen zweifelsohne zugleich Sachentscheidung; nur unter dieser Voraussetzung ist es möglich, dass die Zuspitzung der Verurteilungsgefahr im o. E. III. 2. d) (S. 749 f.) definierten Sinne nicht bereits vor dessen Fällung eingetreten ist. b) Dass der Nichteröffnungsbeschluss nicht zur vollen Rechtskraft des Sachurteils führt, ist über Generationen nur vereinzelt bestritten worden. Die Ansicht von P. Herzog hat uns schon beschäftigt; wir haben sie als in sich inkonsistente, weitgehend bloß terminologische These kritisiert (o. D. III. [S. 735 ff.]). Ähnliche Auffassungen haben im 19. Jahrhundert Nagel und im 20. Jahrhundert Geppert geäußert.3124 Nagel behauptete, es bestehe ein bloß gradueller Unterschied zwischen der Nichteröffnungsentscheidung und dem rechtskräftigen Endurteil.3125 Bei beiden gehe es um eine von einem Gericht3126 gefällte Sachentscheidung.3127 Als Ergebnis misst er dem Nichteröffnungsbeschluss „wirkliche Rechtskraft“ zu, so dass er „mit einem Endurtheile auf gleiche Stufe gestellt erachtet werden“ könne.3128 Dem erteilte aber das Reichsgericht bereits in seiner frühen Rechtsprechung eine Absage.3129 Hauptargument des Gerichts war, dass der Nichteröffnungsbeschluss mit dem Sachurteil nicht auf einer Ebene stehe.3130 Fast hundert Jahre später behauptete Geppert, dass eine auflösend bedingte Rechtskraft eine contradictio in adjecto sei.3131 Die beschränkte Rechtskraft sei seines Erachtens ein spezieller Fall der Wiederaufnahme, und es bestehe die Notwendigkeit, die entsprechenden Wiederaufnahmeregeln gesetzlich festzulegen.3132 Im Grunde genommen kann man auf die o. D. III. (S. 735 ff.) gegen P. Herzog formulierten Einwände verweisen. Dass es nur eine Rechtskraftform gebe und 3123 Insofern richtig Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 620 (er zieht daraus aber die schiefe Schlussfolgerung, aus prozessualen Gründen erfolgende Nichteröffnungsbeschlüsse würden überhaupt nicht in Rechtskraft erwachsen, dazu abl. u. S. 788 f.). Siehe auch Peters, ZStW 68 (1956), S. 381 ff., 385, der trotz des an sich prozessualen Charakters dieser Entscheidungen in ihnen vorweggenommene Freisprüche vorfindet und sie deshalb „versteckte Parallelentscheidung“ nennt; und Leone, GS Rocco II, S. 140 f., 145 (bezüglich der sog. archiviazione des frühen italienischen Rechts). 3124 Löwe, RStPO, 3. Aufl. § 210 Anm. 5 (schon in der 5. Aufl., 1888, § 210 Anm. 5 vertritt Löwe die h. A.); Geyer, Lehrbuch, S. 650; w. N. bei Nagel, GS 36 (1884), S. 447; Giehl, Wiederaufnahme, S. 12 ff. (der den Gegenstandpunkt vertrat). 3125 Nagel, GS 36 (1884), S. 464. 3126 Nagel, GS 36 (1884), S. 468. 3127 Nagel, GS 36 (1884), S. 465. 3128 Nagel, GS 36 (1884), S. 468. 3129 RGSt 13, 295 (297 ff.). 3130 RGSt 13, 295 (298). 3131 Geppert, GA 1972, S. 173. 3132 Geppert, GA 1972, S. 174.

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die beschränkte Rechtskraft eine contradictio in adjecto sei, ist ein terminologischer Einwand, der auf einem unangemessen vereinfachten und undifferenzierten Begriff der Rechtskraft beruht.3133 Auch dann, wenn man die erneute Verfolgung gem. § 211 StPO als Wiederaufnahme bezeichnet, und auch dann, wenn man wie Geppert für eine genauere Regelung dieses Verfahrens plädiert, bleibt es dabei, dass diese erneute Verfolgung unter leichteren Bedingungen möglich ist.3134 Insofern entpuppt sich die Behauptung der freispruchsgleichen Rechtskraft des Eröffnungsbeschlusses als terminologischer Kunstgriff, der die noch fortbestehenden Unterschiede bloß in die Wiederaufnahmedogmatik verschiebt. c) Es fragt sich, ob dies auch beim Ablehnungsbeschluss wegen einer fehlenden Prozessvoraussetzung zu gelten hat. Gelegentlich wird vertreten, dass in solchen Fällen nicht einmal beschränkte Rechtskraft entstehe.3135 Nach dem Gesagten kann dies aber keinen Unterschied machen; erst wenn neue Tatsachen oder Beweismittel den Wegfall oder die irrtümliche Annahme des Prozesshindernisses begründen, wird man das Verfahren fortsetzen dürfen. d) Genauso wie mit der Nichteröffnungsentscheidung verhält es sich bei der Verwerfung des Antrags auf Klageerzwingung (§ 174 Abs. 1 StPO; vgl. die ausdrückliche gesetzliche Regelung in Abs. 2)3136 und beim Beschluss, die Privatklage zurückzuweisen (§ 383 Abs. 1 S. 1 StPO).3137 3. Gerichtliche Opportunitätseinstellungen wegen Geringfügigkeit (§ 153 Abs. 2 StPO; auch § 383 Abs. 2 StPO, § 31a Abs. 2 BtMG, § 47 Abs. 1 Nr. 1 JGG) a) Bei Vergehen räumt das Gesetz dem Gericht die Möglichkeit ein, das Verfahren nach Anklageerhebung einzustellen, wenn die Schuld des Angeschuldigten als gering anzusehen wäre und kein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht (§ 153 Abs. 2 StPO). Dazu bedarf es der Zustimmung der Staatsanwaltschaft und grundsätzlich auch des Angeschuldigten. Welche Bestandskraft dieser Entscheidung zukommt, ist umstritten. aa) Die Entwicklung in der Rechtsprechung verlief nicht geradlinig.3138 In einer ersten wichtigen Entscheidung, die § 153 Abs. 3 a. F. StPO zum Gegenstand 3133

Im Sinne eines komplexeren Begriffs bereits Kap. 1 A. I. (S. 328 ff.). Geppert, GA 1972, S. 174 Fn. 1. 3135 So Trepper, Rechtskraft, S. 44 f., 94; Pfeiffer/Hanich, KK-StPO Einl Rn. 170; Kühne, Strafprozessrecht Rn. 619; abl. Stuckenberg, SK-StPO § 211 Rn. 4. Siehe auch BGHSt 7, 64 (ein Fall einer Nichteröffnung wegen vermeintlich fehlenden Strafantrags). 3136 Näher Wohlers, SK-StPO § 174 Rn. 12 ff.; Graalmann-Scheerer, LR-StPO § 174 Rn. 14 ff. 3137 Velten, SK-StPO § 383 Rn. 17; Hilger, LR-StPO § 383 Rn. 17; Senge, KK-StPO § 383 Rn. 9. 3134

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hatte, behauptete das Reichsgericht, dass eine erneute Verfolgung als „Verbrechen“ möglich sei.3139 Hauptargument des Reichsgerichts war eine Deutung dieser Einstellungsform als Prozessentscheidung: Es erblickte in ihr eine „Ermächtigung des Gerichts, von einer den Prozeßgegenstand in seiner Gesamtheit erledigenden Entscheidung abzusehen“,3140 im Sinne einer „den Prozeßgegenstand nicht erschöpfende[n], wesentlich formelle[n] Einstellung“.3141 Eine beschränkte Bindungswirkung trete dennoch ein, weil „bei unveränderter Rechtsgrundlage“ (wohl: nova)3142 „keine nochmalige Prüfung der auf dem Gebiete des Ermessens liegenden Voraussetzungen“ der Einstellung erfolgen dürfe.3143 Später äußerte sich das Reichsgericht in dem Sinne, dass die vom Gesetz aus Erwägungen der Prozessökonomie vorgesehene reine Prozessentscheidung „beschränkte“ Rechtskraft begründe: Eine erneute Verfolgung sei bei nova zulässig, die der Einstellungsentscheidung die Grundlage entziehen.3144 In einer letzten Entscheidung sagte das Reichsgericht, eine erneute Verfolgung sei ohne Weiteres zulässig, und es mache „keinen grundsätzlichen Unterschied . . ., ob die den Verbrechenstatbestand ergebenden Tatsachen dem Gerichte nicht oder nicht sämtlich bekannt gewesen sind oder ob es den Sachverhalt aus Rechtsirrtum nur als Vergehen und nicht (oder: nicht auch) als Verbrechen aufgefaßt hat“.3145 Der BGH hatte zunächst nur entschieden, dass eine Verfolgung als Verbrechen möglich bleibe.3146 In Entscheidungen von Oberlandesgerichten hieß es einmal, eine Verfolgung unter einem neuen rechtlichen Gesichtspunkt sei zulässig, eine Neubewertung der opportunitätsbezogenen Merkmale (damals: Geringfügigkeit der Schuld und der Folgen) nicht,3147 ein anderes Mal, dies sei bei einer Verfolgung als Verbrechen oder unter einem anderen Gesichtspunkt, der eine erhöhte Strafbarkeit begründe, der Fall.3148 Dieser schwankenden Linie dürfte wohl eine in der amtlichen Sammlung veröffentlichte Entscheidung ein Ende gesetzt haben (BGHSt 48, 331): Unter Berufung auf das Rechtsstaatsprinzip und den Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes (S. 334) wird gesagt, dass eine Entscheidung, die von einem unabhängigen Richter getroffen wird (S. 337), eine besondere „Richtigkeitsge3138

Siehe auch Radtke, Strafklageverbrauch, S. 183 ff.; Trepper, Rechtskraft, S. 99 f. RGSt 65, 291 (294). 3140 RGSt 65, 291 (293); zust. Radtke, Strafklageverbrauch, S. 192. 3141 RGSt 65, 291 (293 f.). 3142 Anders die Lektüre von Loos, JZ 1978, S. 598. Siehe auch Beling, JW 1931, S. 2819; Potthoff, JR 1951, S. 680: Ob nova erforderlich sind, hatte das RG in dem Fall nicht zu entscheiden. 3143 RGSt 65, 291 (294). 3144 RG DJ 1941, 845 (846). 3145 RGSt 75, 121 (123). 3146 BGH MDR 1954, 151; 399; ebenso OLG Celle NJW 1966, 1329 (1330); OLG Hamm GA 1993, 231. 3147 BayObLG JR 1965, 350. 3148 OLG Hamburg JZ 1963, 131 (132). 3139

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währ“ biete (S. 339), die zu einer erhöhten Bestandskraft führen müsse. Weil diese Bestandskraft nicht weiter reichen könne als die der Einstellung gem. § 153a Abs. 2 StPO (S. 334), meint der BGH, auch bei der Einstellung gem. § 153 Abs. 2 StPO reiche es für eine erneute Verfolgung aus, dass die Tat sich nachträglich als Verbrechen herausstelle, unabhängig davon, ob diese Änderung auf neuen Tatsachen oder nur auf einer Bewertungsänderung beruhe (S. 335).3149 bb) In der Literatur werden die unterschiedlichsten Meinungen vertreten.3150 Vielfach wird die mittlere Ansicht des Reichsgerichts vertreten, also beschränkte Rechtskraft angenommen,3151 zum Teil auch mittels einer Analogie zu §§ 211, 174 Abs. 2 StPO und § 47 Abs. 3 JGG.3152 Eine Extremposition möchte, in der Regel unter Einordnung dieser Einstellung als Sachentscheidung, von voller Rechtskraft ausgehen.3153 Das Gericht müsse nämlich vor dieser Einstellung die prozessuale Tat umfassend gewürdigt haben, insbesondere mit Hinblick darauf, ob die Tat nicht auch ein Verbrechen sei. Auffällig ist, dass diese Stellungnahmen alle vor der Einführung von § 153a StPO mit seiner eigenständigen Rechtskraftregelung erfolgten (Abs. 1 S. 4 i.V. m. Abs. 2 S. 2); denn wenn selbst bei der Opportunitätseinstellung mit Auflagen eine erneute Verfolgung als Verbrechen möglich sein soll, erscheint es schwierig, hinsichtlich der „gratis“ Einstellung gem. § 153 Abs. 2 StPO mehr Großzügigkeit walten zu lassen. Von diesem Punkt aus ist es kein großer Schritt bis zum Vorschlag der analogen Heranziehung der Rechtskraftregelung des § 153a StPO.3154 Was dies konkret bedeutet, hängt selbstverständlich davon ab, wie man diese Rechtskraftfähigkeit der Einstellungsentscheidung gem. § 153a Abs. 2 StPO deutet. Das Gesetz stellt klar, dass eine neue Verfolgung als Vergehen unzulässig ist; ob nova erforderlich sind, sagt das Gesetz aber nicht, was zu einem diesbezüglichen Streit geführt hat (s. u. 7. 3149 Siehe zu dieser Entscheidung noch Heghmanns, NStZ 2004, S. 634 f.; Weßlau, SK-StPO § 153 Rn. 57. 3150 Ausf. Trepper, Rechtskraft, S. 101 ff. 3151 Nagler, GS 90 (1924), S. 426, mit der Begründung, dass keine Sachentscheidung vorliegt; Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 366; ders. JW 1931, S. 2818, mit dem Argument, dass es bei § 153 Abs. 2 (damals: Abs. 3) StPO in der Sache um eine Rückgängigmachung des Eröffnungsbeschlusses gehe; Peifer, Rechtskraft, S. 165 ff.; Kleinknecht, JR 1965, S. 351; Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 406.2; Heghmanns, NStZ 2004, S. 635; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 52 Rn. 19. 3152 Beling, JW 1931, S. 2818; Kleinknecht, JR 1965, S. 351; ders. FS Bruns, S. 482 (weil sogar die Sachentscheidung, die die Eröffnung des Hauptverfahrens mangels hinreichenden Verdachts ablehnt, nach § 211 StPO geregelt wird); Heghmanns, NStZ 2004, S. 635; Beulke, JR 2005, S. 39 (der nur §§ 211, 174 Abs. 2 StPO heranzieht). 3153 Loening, JR 1925, Sp. 344; Schlosky, GA 1927, S. 288 („Einzelamnestie“); Gerland, Strafprozeß, S. 162; Hagemann, JR 1929, S. 117 f.; Bernsdorf, Legalitätsprinzip, S. 43 f. (m. v. Nachw.); K. Schäfer, JR 1931, S. 176 f.; Potthoff, JR 1951, S. 681; Gantzer, Rechtskraft, S. 150 ff., insb. S. 157, 162: prozesserledigende Sachentscheidung, die nach Eröffnung des Hauptverfahrens gefällt worden ist; P. Herzog, Rechtskraft, S. 49. 3154 Loos, JZ 1978, S. 598; Trepper, Rechtskraft, S. 116 f.

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[S. 806 f.]). Die meisten geben sich mit letzterer Voraussetzung zufrieden, halten also eine erneute Verfolgung schon bei einem Verbrechen auch ohne nova für zulässig.3155 Es gibt auch komplexere Auffassungen, vor allem die, die eine Verfolgung als Verbrechen ohne nova zulässt, ansonsten nova für erforderlich hält.3156 b) aa) Dass der Verzicht auf nova inakzeptabel ist, wurde schon o. E. III. 3. b) (S. 767 ff., 773) begründet: Jedes Verfahren, das die Schwelle der Inkulpation überschreitet, muss dem Betroffenen diese Belastung mindestens durch eine Rechtskraft rebus sic stantibus kompensieren. Es ist ein Recht desjenigen, der vom Staat einseitig unter Verdacht gestellt wird, dass der Staat aus den ihm bekannten Tatsachen die richtigen Schlüsse zieht. Weniger als in beschränkte (rebus sic stantibus) Rechtskraft kann also die Entscheidung nicht erwachsen. Es fragt sich deshalb bloß, ob ihre Sperrwirkung noch weiter geht. bb) Die Einstellung gem. § 153 Abs. 2 StPO ist laut Gesetz „in jeder Lage des Verfahrens“ möglich, so dass die Möglichkeit besteht, das Verfahren auch nach begonnener Beweisaufnahme – also nach Überschreitung der Schwelle zur vollen Verdächtigungstiefe – enden zu lassen. Nach den obigen Grundsätzen (o. E. III. 2. d) [S. 747 ff., 752]) müsste eine solche Verfahrensbeendigung volle Sperrwirkung gegen jede erneute Verfolgung der prozessualen Tat entfalten. Die Regelung der Einstellung gem. § 153 Abs. 2 StPO enthält indes eine Besonderheit, die dieses Ergebnis auszuschließen vermag: Die Verfahrensbeendigung lässt sich nicht über den Kopf des Betroffenen hinweg beschließen, sondern ist von seiner Zustimmung abhängig. Das Zustimmungserfordernis, das bereits vor dem Beginn der Beweisaufnahme den anerkannten Sinn hat, dem Interesse des Betroffenen an einem Freispruch zu entsprechen,3157 gewinnt bei einer nach diesem Zeitpunkt erfolgenden Einstellung die zusätzliche Bedeutung eines Verzichts auf die an sich geschuldete volle Rehabilitierung (s. o. E. III. 2. d) [S. 750 ff.]). Das bedeutet auch, dass, wenn das Gesetz die Opportunitätseinstellung ohne Zustimmung des Betroffenen für zulässig erklären würde, eine nach Beginn der Beweisaufnahme erfolgende, darauf beruhende Verfahrensbeendigung grundsätzlich die Sperrwirkung der vollen Rechtskraft entfalten müsste. Die Originalfassung des gerichtlichen Einstellungsbeschlusses aus Opportunitätsgründen (§ 153 Abs. 3 StPO a. F.) setzte eine solche Zustimmung des Betroffenen gerade nicht 3155 Heinitz, JZ 1963, S. 133; Eb. Schmidt, Lehrkommentar I, Rn. 327; Loos, JZ 1978, S. 596 f., 598 f.; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 338 f., 343 f.; Trepper, Rechtskraft, S. 116 f.; Kühne, JZ 2004, S. 743; zugeneigt Geppert, Jura 1986, S. 318. 3156 Gössel, Strafverfahrensrecht, S. 295; Schmidt-Aßmann, M/D-GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 296; Rieß, LR-StPO 24. Aufl. § 153 Rn. 87 ff.; Beulke, JR 2005, S. 37; ders. LRStPO § 153 Rn. 90 ff.; Weßlau, SK-StPO § 153 Rn. 57; Meyer-Goßner, StPO § 153a Rn. 37 f. 3157 Weßlau, SK-StPO § 153 Rn. 50.

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voraus.3158 Dieser Einstellung müsste richtigerweise die Rechtsfolge der vollen Rechtskraft zukommen, und dies wurde in der Tat von vielen angenommen, wenn auch mit abweichender Begründung.3159 In § 153 Abs. 2 S. 2 StPO sieht das jetzige Gesetz auch die Möglichkeit vor, auf eine Zustimmung des Betroffenen zu verzichten. Da es aber sämtlich um Konstellationen geht, in denen das Ausbleiben des Beschuldigten von der Hauptverhandlung auf einer eigenen Entscheidung von ihm beruht, wäre es wenigstens denkbar, bereits in diese Entscheidung die Zustimmung mit der Einstellung und somit auch den Verzicht auf das eigene Rehabilitierungsrecht hineinzudeuten. Doch könnte man dies aber erst dann annehmen, wenn der Betroffene über diese für ihn möglicherweise ungünstigen Rechtsfolgen auch belehrt worden ist. cc) Zuletzt ist zu klären, ob die Regelung von § 153a StPO, die ein Wiederaufgreifen der Verfolgung nur bei Verbrechen und nicht schon bei anderen bzw. nicht so schweren Vergehen für zulässig erklärt, hier einschlägig ist, wie dies der BGH behauptet hat, und insbesondere auch, ob im Falle einer Verfolgung als Verbrechen auch Subsumtionsfehler korrigierbar sind. Das Argument, dies folge daraus, dass bei einer Einstellung gem. § 153 Abs. 2 keine Begründungspflicht existiert, wurde bereits oben abgelehnt (s. o. D. IV. [S. 739 f.]).3160 Als weitere Begründung würde sich deshalb der schlichtere Rückgriff auf die Rechtskraftregelung der Einstellung mit Auflagen anbieten. Dass die Rechtskraftregelung von § 153a StPO auch für die Einstellung gem. § 153 StPO von Relevanz ist, lässt sich nicht bestreiten. Dies folgt notwendig daraus, dass die ad hoc konzipierten Vorschriften sich teilweise in ihren Anwendungsbereichen decken. Man stelle sich vor, A und B seien des Vergehens der Körperverletzung gem. § 223 StGB angeklagt. A’s Verfahren wird unter einer Auflage, etwa Wiedergutmachung oder Zahlung eines Geldbetrags an die Staatskasse gem. § 153a Abs. 2 StPO eingestellt, B’s Verfahren dagegen ohne Gegenleistung bereits nach § 153 Abs. 2 StPO. Wenn sich nachträglich ergibt, dass die Tat eigentlich ein Verbrechen war (etwa § 226 StGB), wäre es sinnwidrig, wenn A, der für die Einstellung seines Verfahrens eine Gegenleistung aufbringen musste, eine erneute Verfolgung zu befürchten hätte, nicht aber B, der seine Einstellung gratis bekommen 3158

Bernsdorf, Legalitätsprinzip, S. 42. Nachw. o. Fn. 3153. 3160 Eine weitere Begründung dieses Ergebnisses bietet Heinitz, JZ 1963, S. 133: Weil das Gesetz diese Einstellungsform nur für Vergehen vorsehe, sei im Fall eines Verbrechens die Einstellung schlicht unbeachtlich. Eine unbeachtliche Entscheidung entfalte keinerlei Sperrwirkung. Eine Stellungnahme zu diesem Argument setzt eine Klärung des Stellenwerts der Kategorie der unbeachtlichen oder nichtigen Entscheidungen voraus; dies muss einer weiteren Unterschung vorbehalten bleiben, so dass dieses Argument im vorliegenden Zusammenhang beiseite gelegt werden muss (im Erg. abl. Trepper, Rechtskraft, S. 103 f.; abl. auch Potthoff, JR 1951, S. 680, der vor Heinitz schrieb). 3159

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hat. Bereits deshalb dürfte die früher vertretene Ansicht, nach der die Einstellung gem. § 153 Abs. 2 zur vollen, freispruchsgleichen Rechtskraft führe, heute nicht vertretbar sein. Die Rechtskraftregelung für die Einstellung mit Auflagen hat für § 153 StPO zumindest die Bedeutung eines Deckels: Kräftiger als die Rechtskraft der „entgeltlichen“ Einstellung gem. § 153a StPO darf die der „gratis“ Einstellung gem. § 153 StPO nicht sein.3161 Die Frage ist also, ob dies auch in umgekehrter Richtung gilt – in dem Sinne, dass die Rechtskraftwirkung der Einstellung gem. § 153 StPO Abs. 2 auch nicht schwächer sein dürfte als die der Einstellung mit Auflagen, dass also die Rechtskraftwirkungen beider Einstellungsentscheidungen gleich stark sein müssten. Es ist nicht ersichtlich weshalb. Die zwei Einstellungsformen beruhen auf unterschiedlichen Voraussetzungen und sind insofern miteinander wenig vergleichbar.3162 Vor allem die Tatsache, dass eine von ihnen etwas kostet, die andere „gratis“ zu bekommen ist, ist ein starkes Argument dafür, dass die Rechtskraftwirkung der Einstellung gem. § 153 StPO schwächer sein sollte.3163 Zudem ist zu bedenken, dass aus grundsätzlichen, theoretisch fundierten Überlegungen nur zwei Stärken der Rechtskraft differenziert werden können, die volle und die beschränkte (rebus sic stantibus) Rechtskraft (s. o. E. III. 2. d), 3. b) [S. 747 ff., 767 ff.]); weitere Zwischenformen sind Schöpfungen des Gesetzgebers, die er deshalb selbst, durch ausdrückliche Regelung, als seinem Willen entsprechend kundgeben muss. Gerade an einer solchen ausdrücklichen Regelung fehlt es bei der Einstellung gem. § 153 Abs. 2 StPO; vielmehr hat der Gesetzgeber beiden Vorschriften in einem einzelnen Gesetzgebungsakt ihre noch geltende Fassung gegeben und keinen Anlass gesehen, eine Rechtskraftbestimmung auch bei der Einstellung ohne Auflagen vorzusehen.3164 Es gibt deshalb weder ein schlüssiges Argument dafür, dass man eine Verfolgung nur als Verbrechen zulässt, noch dafür, dass man bei Verbrechen auf nova verzichtet. Eine Einstellung gem. § 153 Abs. 2 StPO führt zur rebus sic stantibus Rechtskraft, nicht mehr und nicht weniger. Es darf aber nicht verkannt werden, dass diese Sperrwirkung für den Betroffenen ziemlich wertlos ist. Denn die Voraussetzungen einer solchen Einstellungsentscheidung sind derart verschwommen, dass alles Mögliche ein novum sein kann, das eine Verfolgung zu rechtfertigen vermag. Ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung kann sogar durch später entdeckte spezialpräventive Ge3161 Im Erg. auch Loos, JZ 1978, S. 596; Trepper, Rechtskraft, S. 103; Rieß, LR-StPO 24. Aufl. § 153 Rn. 87 („evident“); Beulke, JR 2005, S. 37; ders. LR-StPO § 153 Rn. 90. 3162 Ebenso Beulke, JR 2005, S. 37; Weßlau, SK-StPO § 153 Rn. 57. 3163 Heghmanns, NStZ 2004, S. 634; Beulke, JR 2005, S. 39; ders. LR-StPO § 153 Rn. 90. 3164 Heghmanns, NStZ 2004, S. 634; Beulke, JR 2005, S. 39; ders. LR-StPO § 153 Rn. 89.

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sichtspunkte oder wegen der Häufung von ähnlichen Fällen begründet werden.3165 Das ist kein Problem der Rechtskraftlehre, sondern des Opportunitätsprinzips. Wer dieses in der Tat nicht unbedenkliche Ergebnis nicht haben möchte, muss an anderer Stelle ansetzen als an der Rechtskraftlehre. c) Als Ergebnis ist der anscheinend herrschenden Auffassung beizupflichten. Die Einstellung gem. § 153 Abs. 2 StPO entfaltet – solange sie mit Zustimmung des Betroffenen erfolgt – beschränkte Rechtskraft. Eine erneute Verfolgung ist bereits bei neuen Tatsachen oder Beweismitteln möglich, die für das Vorliegen eines Verbrechens oder auch bei einem Vergehen für das Fehlen der geringen Schuld oder das Vorliegen eines öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung sprechen. d) Entsprechendes gilt für die im BtMG vorgesehene Einstellungsmöglichkeit für den Fall des Eigenverbrauchs (§ 31a Abs. 2 BtMG)3166 und auch für die im Privatklageverfahren vorgesehene opportunitätsorientierte richterliche Einstellungsentscheidung (§ 383 Abs. 2 StPO). Weil diese letzte Einstellungsform unabhängig von der Zustimmung des Angeklagten möglich ist,3167 muss sie, falls sie erst nach Beginn der Beweisaufnahme erfolgt, zu voller, freispruchsgleicher Rechtskraft führen; erfolgt sie erst davor (aber nach Anklageerhebung3168), dann entsteht Rechtskraft rebus sic stantibus.3169 Bei einer Einstellung gem. § 47 Abs. 1 Nr. 1 JGG wird diese Sperrwirkung sogar ausdrücklich vom Gesetz angeordnet (Abs. 3), was als Zusatzargument im Sinne der hier vertretenen Auffassung angeführt werden kann. 4. Einstellungsurteil wegen Prozesshindernissen (§ 260 Abs. 3 StPO) a) § 260 Abs. 3 StPO schreibt für den Fall eines „Verfahrenshindernisses“ die Prozessbeendigung durch Einstellungsurteil vor. Bezüglich der Rechtskraftwirkung dieser Entscheidung ist der Streitstand weniger unübersichtlich als bei der vorherigen, opportunitätsorientierten Einstellung. Die Meinungen gehen trotz unterschiedlicher Ergebnisse nicht von unterschiedlichen Prämissen aus. Für ausschlaggebend hält man die Einordnung dieser Einstellung als Prozess- oder Sachentscheidung; nur bei Sachentscheidungen sei Rechtskraft gegeben. Grundsätz3165

Beide Beispiele in Loos, JZ 1978, S. 595. Siehe hierzu Weber, BtMG § 31a Rn. 65, 159; Patzak, in: Körner-BtMG, § 31a Rn. 143 – beide Anhänger der o. b. Fn. 3156 genannten Ansicht, die bei nova oder Verfolgung als Verbrechen ein erneutes Verfahren für zulässig erachtet. 3167 Siehe Velten, SK-StPO § 383 Rn. 21. 3168 Denn im Privatklageverfahren ist das Vorverfahren in der Tat ein Internum, s. u. Kap. 5 D. I. (S. 843 ff.). 3169 Siehe auch OLG Bremen NJW 1959, 353 und OLG Neustadt/Weinstr. NJW 1961, 2363, die beide aber einen vom Angeklagten gestellten Wiederaufnahmeantrag zu entscheiden hatten, den sie mangels Beschwer zurückgewiesen haben. 3166

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lich sieht man Einstellungsurteile, gerade weil sie auf Prozesshindernissen beruhen, als Prozessentscheidungen an, die der materiellen Rechtskraft nicht fähig seien.3170 Früher leiteten viele daraus ab, dass eine Sperrwirkung gar nicht gegeben sei.3171 Heute nimmt man indes überwiegend an, dass auch diesen Prozessentscheidungen eine bestimmte Sperrwirkung zukomme: Denn sie stellen fest, dass kein Prozesshindernis gegeben sei, und diese Feststellung habe bindende Wirkung für künftige Entscheidungen, auch dann, wenn sie sich als falsch erweisen sollte. Die Entscheidung entfalte also „eine Sperrwirkung nach Maßgabe ihres Inhalts“.3172 Daraus folgt, dass man zwischen behebbaren (formal fehlerhafte Anklage, mangelnder Strafantrag, fehlender bzw. unwirksamer Eröffnungsbeschluss,3173 Verhandlungsunfähigkeit,3174 fehlende örtliche Zuständigkeit) und unbehebbaren bzw. endgültigen Verfahrenshindernissen (Verjährung,3175 mangelnde Strafmündigkeit) zu unterscheiden habe: Einstellungsurteile, die auf Letzteren beruhen, führten im Ergebnis zu einem in seinen Wirkungen dem Freispruch gleichen Strafklageverbrauch.3176 Ferner enthalten einige Einstellungs3170 Etwa Giehl, Wiederaufnahme, S. 5; Schlosky, GA 1927, S. 288; Gössel, Strafverfahrensrecht, S. 294; Schmidt-Aßmann, M/D-GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 295; Marxen/ Tiemann, Wiederaufnahme, Rn. 22; Schoreit, KK-StPO § 260 Rn. 48; Stuckenberg, LRStPO § 260 Rn. 123. 3171 Kleinknecht, FS Bruns, S. 480 f.; Ranft, Strafprozeßrecht, Rn. 1868; RGSt 26, 150 (151); manchmal wird schlicht gesagt, die Einstellung wegen Prozesshindernissen stehe der Erhebung einer neuen Anklage nicht entgegen, BGH LM § 207 StPO Nr. 5; BayObLG JR 1986, 430 (432); OLG Köln NJW 1981, 2208; OLG Frankfurt NStZ 1987, 573 (573 f.). 3172 So Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 271; in der Sache auch v. Hippel, Strafprozeß, S. 374; wohl ebenso Pfeiffer/Hanich, KK-StPO Einl Rn. 170. In diesem Sinne aus italienischer Sicht (bzgl. der Einstellungsurteile – sentenze di non doversi procedere – der Art. 529, 531 itStPO) bereits Art. 345 itStPO, und auch Leone, Manuale, S. 744 f.; Callari, Firmitas, S. 20, 145; Mancuso, Giudicato, S. 60, 489 ff., mit der Bemerkung, ein anderes Gericht dürfe nicht die Verfolgbarkeitsfrage anders entscheiden (S. 491). 3173 BGH LM § 207 StPO Nr. 5; OLG Köln NJW 1962, 1359; NJW 1981, 2208; BayObLG JR 1986, 430 (431); OLG Frankfurt NStZ 1987, 573. 3174 BGH wistra 1986, 69 (hier erfolgte die Einstellung nicht durch Urteil, sondern durch Beschluss). 3175 RGSt 66, 51 (53): „Eine Einstellung wegen Verjährung läßt die erneute Verfolgung wegen desselben strafbaren Gesichtspunkts ebensowenig zu, wie eine Freisprechung wegen nicht erwiesener Schuld“; BayObLGSt 1970, 115; BayObLG VRS 77 (1989), 136. 3176 Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 601; Többens, NStZ 1982, S. 186; Peters, Strafprozeß, S. 517 f.; Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme, Rn. 23; Kühne, LR-StPO Einl. K 86 f.; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 52 Rn. 18; Kniebühler, Ne bis in idem, S. 25; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 656; Schoreit, KK-StPO § 260 Rn. 48; Paeffgen, SK-StPO § 206a Rn. 31g; Stuckenberg, LR-StPO § 260 Rn. 123; Meyer-Goßner, StPO Einl. Rn. 172 (bei sog. „Bestrafungsverboten“), § 260 Rn. 48; nahestehend Griolet, Chose jugée, S. 294 f.; Barbarino, Rechtskraft, S. 50; und M. Berner, Ne bis in idem, S. 25 f.; Peters, Strafprozeß, S. 517 f.; BayObLG VRS 77 (1989), 136. Im Ergebnis sehr nahestehend das italienische Recht, das in einer gesetzlichen Vorschrift (Art. 345 itStPO) ausdrücklich bestimmt, dass bei dem nachträglichen Entfallen eines

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urteile wenigstens in versteckter Form eine Sachentscheidung, und diese Urteile möchte man in volle Rechtskraft erwachsen lassen.3177 Auf Grundlage der früheren Gesetzesfassung, die die Kategorie des Verfahrenshindernisses noch nicht kannte und bloß den Fall der Einstellung wegen fehlenden Strafantrags erwähnte (§ 259 Abs. 2 StPO a. F.; s. bereits o. B. III. [S. 708 f.]), wurde nicht selten vertreten, alle Einstellungsurteile würden in volle, freispruchsgleiche Rechtskraft erwachsen.3178 Beling konnte deshalb hier von einem „latenten Freispruch“ sprechen.3179 b) Der hier vertretene Standpunkt dürfte nach den obigen Ausführungen (s. E. III. 2. d), 3. b) [S. 747 ff., 767 ff.]) bereits klar sein. aa) Ein Einstellungsurteil ergeht erst nach Abschluss der Beweisaufnahme (s. § 260 Abs. 1 StPO), also zu einem Zeitpunkt, bei dem die volle Verdächtigungstiefe längst überschritten worden ist. Die Regel muss deshalb sein, dass ein Prozess, der soweit voranschreitet, das Gebot auslöst, den Betroffenen durch volle Rechtskraft zu rehabilitieren. Insofern stehen späte Einstellungsentscheidungen einem Freispruch grundsätzlich gleich. Die Tatsache, dass solche Einstellungen mit rein verfahrensrechtlichen Fragen zu tun haben können und dass über die Verdächtigung selbst nicht entschieden worden ist, spielt für sich genommen keine Rolle (s. o. C. II. [S. 715 ff.]). Man hatte damit begonnen, die Entscheidungsgrundlagen zu gewinnen, und der Betroffene befand sich in der Situation der akuten Verurteilungs- und Bestrafungsgefahr, was ihn dazu berechtigt, nach Verfahrensabschluss grundsätzlich auf immer in Ruhe gelassen zu werden. Insofern bestand auch dann, wenn das Ergebnis des Verfahrens keine Stellungnahme zur Schuldfrage enthält, die Möglichkeit einer solchen Stellungnahme. Wenn man dem Angeklagten nicht – insofern vergleichbar der Regel bei Opportunitätseinstellungen – die Befugnis zuerkennen möchte, der Einstellung zu widersprechen und das Fällen einer ihn voll rehabilitierenden Entscheidung zu erzwingen, muss man wenigstens allen Einstellungen, die nicht auf seinem Antrag beruhen, volle strafklageverbrauchende Wirkung zumessen. Hat er indes selbst das Gericht auf das Verfahrenshindernis aufmerksam gemacht, wird man dieses Verhalten als Verzicht auf die Rehabilitierung deuten können (s. o. E. III. 2. d) [S. 750 ff.]). Prozesshindernisses eine erneute Verfolgung zulässig ist (hierzu Mancuso, Giudicato, S. 60). 3177 Bennecke/Beling, Lehrbuch, S. 411; Giehl, Wiederaufnahme, S. 6; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 390; Grünwald, ZStW-Beiheft 1974, S.116; Gössel, Strafverfahrensrecht, S. 294; Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 601; Peters, Strafprozeß, S. 518; WeberKlatt, Wiederaufnahme, S. 173; Stuckenberg, LR-StPO § 260 Rn. 124; Gössel, LR-StPO vor § 350 Rn. 44; RGSt 46, 363 (368); 66, 51 (54); BayObLG VRS 77 (1989), 136. 3178 Giehl, Wiederaufnahme, S. 6; Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 271 f. 3179 Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 272; ebenso Bennecke/Beling, Lehrbuch, S. 411.

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Dies gilt erst recht, wenn das Verfahrenshindernis in Wahrheit nicht einmal vorliegt und die Einstellung durch Täuschung durch den Beschuldigten erwirkt wird.3180 In seiner Täuschung liegt nämlich eine Weigerung, das Verfahren zu dulden; es geschieht dem Beschuldigten deshalb nicht Unrecht, wenn ihm deswegen die Gegenleistung der Rehabilitierung versagt wird. bb) Es wird wohl etwas Befremden erwecken, dass hier bei Prozesshindernissen der Vorschlag unterbreitet wird, zwischen Einstellungen zu differenzieren, die auf einem Antrag des Betroffenen beruhen und solchen, die auf Initiative der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts ergehen. Die konstruktivistisch-orientierte Kategorie der Prozesshindernisse, von der es heißt, dass auf sie von Amts wegen in jeder Lage des Verfahrens zu erkennen ist, vermochte zu verdecken, dass auch hier das Rehabilitierungsrecht des Beschuldigten auf dem Spiel steht. Versucht man, den Konstruktivismus in der Lehre von den Prozesshindernissen zu überwinden, kommt die weitgehend in Vergessenheit geratene Problematik klar zum Vorschein. Deutet man Prozesshindernisse als Konkretisierungen des Prozesszwecks des Rechtsfriedens,3181 dann würde eine nicht in Rechtskraft erwachsende Einstellung nichts anderes als ein Vorrang des kollektiven Interesses am Rechtsfrieden vor dem individuellen Recht auf Rehabilitierung, also eine offene Instrumentalisierung des Einzelnen verkörpern. Wenn man dagegen Prozesshindernisse individualistisch neudeutet, als Ausflüsse eines Rechts auf Freiheit von Prozessbeteiligung,3182 müsste daraus die Konsequenz gezogen werden, dass derartige Einstellungen nicht ohne Berücksichtigung des Willens des Betroffenen ergehen dürften. So weit wollen wir indes nicht gehen.3183 Es soll nur die Stichhaltigkeit einer Argumentation, die in bester begriffsjuristischer Manier aus dem Wesen der Verfahrenshindernisse fühlbare Schlussfolgerungen zieht, angezweifelt werden, und dies erst recht, wenn diese praktisch zu bedeuten haben, dass über das Rehabilitierungsrecht des Beschuldigten über seinen Kopf hinweg verfügt wird. c) Dieses Ergebnis lässt sich durch eine Reihe von Zusatzüberlegungen bestätigen. Es lässt sich als folgerichtige Entwicklung einiger tragender geschichtlicher Wurzeln des liberalen Strafverfahrens deuten; ihre Ergebnisse sind keineswegs revolutionär, sondern entsprechen in vielen Fällen dem, was auch die h. A. durch nicht immer einwandfreie Umwege vertritt; und sie kann vorstellbare Einwände auch gut überstehen.

3180 Für ein Beispiel beim Einstellungsbeschluss gem. § 206a StPO sogleich u. 5. (S. 804 f.). 3181 Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 204. 3182 Steinberg, Richterliche Gewalt, S. 124, 194; davor Nose, ZStW 82 (1970), S. 800. 3183 Zweifel an der Richtigkeit von Steinbergs These sind bereits o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 5. b) (S. 292 ff.) geäußert worden.

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aa) Erstens lässt sich die hier vorgeschlagene Gleichbehandlung von Prozessund Sachentscheidung ohne Reibungen in unsere geschichtliche Rekonstruktion des Kampfes gegen die absolutio ab instantia einordnen (insb. o. Kap. 1 C. VII. [S. 363 f.]; o. B. II., C. II. 2. [S. 704 ff., 717 ff.]). Denn einen Unterschied zwischen einer Einstellung wegen Prozesshindernissen, die nach einer Auffassung als Prozessentscheidung zu keiner Sperrwirkung führen soll, und einer absolutio ab instantia gibt es aus der Perspektive des Beschuldigten nicht (s. o. C. II. 2. [S. 719]). Die Versagung der Rechtskraft bedeutet in beiden Situationen die Ungerechtigkeit, dass der Beschuldigte trotz der vollen Duldung des Verfahrens erneut in Anspruch genommen wird. Es ist nicht uninteressant, anzumerken, dass die absolutio ab instantia wenigstens nach der Beschreibung von Kleinschrod nicht nur bei der Konstellation fehlender Gewissheit statthaft war, sondern auch bei „Nichtigkeiten“, die in unseren Kategorien nicht so sehr Revisionsgründen, sondern Prozesshindernissen, wie insbesondere der mangelnden Zuständigkeit entsprechen würden.3184 „Manchmal ist die Untersuchung einer Sache nichtig, und kann deswegen keine Entscheidung erfolgen . . .“ 3185 Die absolutio ab instantia ermögliche dann, „daß die Untersuchung auf eine Zeit verschoben wird . . ., wo man Mittel hat, den Beweis entweder zu vermehren, oder die Nichtigkeit zu heilen.“ 3186 Dem entsprach auch das ursprüngliche Konzept der RStPO. Wie mehrmals angemerkt (v. a. o. B. III. [S. 708 f.]), kannte das Gesetz die Kategorie des Einstellungsurteils wegen Prozesshindernissen als allgemeine Kategorie überhaupt nicht, sondern lediglich die Regelung der Einstellung beim fehlenden Strafantrag. Hier geht es aber um eine Entscheidung, bei der die Tat auch unter anderen Gesichtspunkten und insofern erschöpfend geprüft wird (s. o. B. III. [S. 708]). Das war nicht ein Versehen, sondern Teil des gesetzgeberischen Konzepts. In den Worten Belings: Der Gedanke des Gesetzes sei, „daß prozeßerledigende Formalentscheidungen im allgemeinen ihrem Wesen nach überhaupt nicht in das Hauptverfahren gehören. . . . Kommt es erst im Hauptverfahren zu solcher Formalerledigung, so bedeutet das, daß das Hauptverfahren zwecklos aufgewendet worden ist, regelmäßig sogar, daß es unzulässig war“.3187 Den Betroffenen deshalb einer

3184 Kleinschrod, ArchCrimR 1 (1797), S. 181 ff., 199; ebenso Zachariä, Grundlinien, S. 260 und Müller, ZdStV 1 (1844), S. 20 nennen etwa die Inkompetenz des Richters und die Fehlerhaftigkeit des Libells als von der Praxis anerkannte Gründe einer absolutio ab instantia. And. Elben, Entbindung von der Instanz, S. 48: nur bei Mangel an Beweisen sei die absolutio ab instantia statthaft. 3185 Kleinschrod, ArchCrimR 1 (1797), S. 169. 3186 Kleinschrod, ArchCrimR 1 (1797), S. 170. 3187 Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 227; ders. JW 1928, S. 2249 – für Beling sollte deshalb in allen Fällen fehlender Prozesshindernisse ein Einstellungsbeschluss und kein -urteil ergehen, s. o. Fn. 2815; Feisenberger, GA 1910, S. 176; s. a. Eb. Schmidt, Kolleg, Rn. 322: bei Vorhandensein von Verfahrenshindernissen sei „tunlichst dafür zu sorgen“,

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erneuten Verfolgung auszusetzen, würde bedeuten, dass man eventuelle Fehler auf seine Kosten korrigiert. Die RStPO kannte deshalb kein Urteil, das nicht in volle Rechtskraft erwuchs. Auch das Prozessurteil des fehlenden Antrags enthielt ein verstecktes Sachurteil und war deshalb bis auf die durch normative Kupierung ausgeschiedene Dimension (s. o. Kap. 2 E. III. 4. b) cc) [S. 568]) rechtskraftfähig. Das RG konnte demzufolge behaupten, dass nach dem Eröffnungsbeschluss „für den Angeklagten ein gesetzliches Recht auf Feststellung der Schuldfrage in öffentlicher und mündlicher Verhandlung“ bestehe.3188 Einige sagen noch heute, dass nach begonnener Hauptverhandlung der Angeklagte ein Recht „auf eine den Prozeß endgültig erledigende Entscheidung“ 3189 oder sogar auf „Rehabilitierung“ 3190 habe. Anscheinend hat bereits die Entdeckung der allgemeinen Kategorie der Verfahrenshindernisse, die ein Einstellungsurteil gestatten, und nicht erst die Einführung der gerichtlichen Opportunitätseinstellung nach begonnener Hauptverhandlung3191 die Strafprozesslehre unvorbereitet getroffen hat.3192 Augenfällig wird dies bei Kohlhaas. Er schrieb: „Die entscheidende Zäsur des Strafverfahrens ist der Eröffnungsbeschluß. . . . Der Angeklagte hat ab diesem Zeitpunkt den unabdingbaren Anspruch darauf, durch Urteil freigesprochen zu werden, falls der Schuldnachweis nicht zu erbringen ist.“ 3193 Wir haben diese Thesen in zweierlei Hinsicht abgeschwächt: Nicht im Eröffnungsbeschluss, sondern erst im Beginn der Beweisaufnahme erblicken wir die entscheidende Schnittstelle (s. o. E. III. 2. d) [S. 747 ff.]); und uns geht es weniger um den Freispruch durch Urteil als um die Freiheit von einer erneuten Verfolgung. Das Zitat von Kohlhaas ist auch wegen des ihm unmittelbar folgenden Satzes aussagekräftig: „Auf die Fälle der Einstellung des Verfahrens durch Gerichtsentscheid nach §§ 206a, 260 Abs. 3 StPO braucht nicht näher eingegangen zu werden.“ In einer zweiseitigen Entscheidungsanmerkung in der Tat nicht; eine Habilitationsschrift darf hingegen Schwierigkeiten nicht ausweichen. Denn dass hier ein Widerspruch vorliegt, bleibt meisdass es nicht zur Hauptverhandlung kommt. Auf den Gedanken eines Strafklageverbrauchs kommt Eb. Schmidt trotzdem nicht. 3188 RGSt 60, 323 (326); ähnl. Peters, JW 1925, S. 927, der hieraus folgerte, dass die Opportunitätseinstellung nach § 153 Abs. 3 a. F. (heute § 153 Abs. 2) StPO nach Eröffnung des Hauptverfahrens nicht mehr zulässig sei!; zust. Meyer-Goßner, NJW 1970, S. 416. Vor Inkrafttreten der RStPO Hasenbalg, Öffentliche Klage, S. 67, der nur eine Ausnahme kennt. 3189 Bernsdorf, Legalitätsprinzip, S. 44. 3190 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 44 Rn. 11; s. a. Rieß, NStZ 1983, S. 248. 3191 So aber Bernsdorf, Legalitätsprinzip, S. 34. 3192 Ebenso Schöneborn, MDR 1975, S. 6 ff., der eine „Neigung“ feststellt, „das in der StPO vorgesehene Verfahrensgefüge im Hinblick auf jene Prozeßhindernisse weitgehend zu suspendieren“. 3193 Kohlhaas, NJW 1968, S. 26; zust. K. Meyer, JR 1983, S. 259.

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tens ungesagt.3194 Durch eine Erweiterung der strafklageverbrauchenden Wirkung von Einstellungsurteilen soll versucht werden, diesen Widerspruch auflösen. bb) Die Rezeption der zivilprozessualen Kategorie der Prozesshindernisse, die von Amts wegen in jeder Lage des Verfahrens zu berücksichtigen seien,3195 verbunden mit der Annahme, dass nur Sachurteile in volle Rechtskraft erwachsen, würde für sich genommen das Ergebnis begründen, dass bei Einstellungsurteilen nicht volle, sondern nur beschränkte Rechtskraft vorliege. Dies entspricht dennoch, wie gerade gesehen (o. a], S. 795 f.), nicht der herrschenden Auffassung, die in vielen Fällen zu demselben Ergebnis kommt wie wir. (1) Dies ist am klarsten bei Einstellungen wegen unbehebbarer Prozesshindernisse der Fall, bei denen man die Unmöglichkeit einer erneuten Verfolgung vertritt. Die dafür gelieferte Begründung ist aber höchst fragwürdig: Man sagt, das Fehlen des Prozesshindernis werde verbindlich festgestellt, womit man eine ansonsten so gut wie nie bejahte und deshalb suspekte positive Feststellungswirkung der richterlichen Entscheidung anerkennt. Ob man es mit dem Behaupteten wirklich ernst meint, ist zweifelhaft.3196 Denn die Folge davon wird selten ausdrücklich gezogen: nämlich dass es unmöglich sei, Fehler, insbesondere solche tatsächlicher Art, im Nachhinein zu korrigieren.3197 Man hat eher harmlose Fälle vor Augen, die wenig Probleme bereiten, etwa den der nachträglichen Aufhebung des anzuwendenden Straftatbestands und den des fehlenden Strafantrags. Wird der einschlägige Straftatbestand aufgehoben, macht es auf den ersten Blick keinen Unterschied, ob das Verfahren wegen eines unbehebbaren Prozesshindernisses eingestellt wird3198 oder ob freigesprochen wird.3199 Man denke ferner an das Beispiel des Strafantrags: Wird der von dem Einstellungsurteil vermisste fehlende Strafantrag gestellt, soll eine erneute Verfolgung zulässig sein; war er dagegen schon gestellt worden, so dass sein Mangel irrtümlich angenommen wurde, soll dieser Irrtum nicht mehr korrigierbar sein. Weniger harmlos wird die Sache bei anderen unbehebbaren Verfahrenshindernissen, am klarsten beim Tod.3200 Nichts ist unbehebbarer als der Tod. Meint man aber wirklich, dass bei einer Einstellung des Verfahrens wegen des Todes des 3194 Zu den wenigen Ausnahmen gehören Ulsenheimer, NStZ 1984, S. 443; Hecker, JR 1997, S. 6; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 44 Rn. 11. 3195 RGSt 64, 183 (187 f.); 66, 172 (173); 67, 53 (55). 3196 Zweifelnd auch Trepper, Rechtskraft, S. 43. 3197 Zu den wenigen, die dies ausdrücklich behaupten, W. Schmidt, KK-StPO § 362 Rn. 10; Stuckenberg, LR-StPO § 206a Rn. 113; explizit dagegen Giehl, Wiederaufnahme, S. 7; Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 175; Gössel, LR-StPO vor § 359 Rn. 43. 3198 Dafür etwa BayObLG JR 1970, 270. 3199 Dafür (wohl mit besseren Gründen) Küper, JR 1970, S. 273. 3200 Auf die Diskussion, ob der Tod des Beschuldigten das Verfahren von selbst beende oder bloß ein Verfahrenshindernis begründe, dessen Vorliegen in einem Beschluss

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Angeklagten nur dann ein erneutes Verfahren zulässig wäre, wenn er auferstünde, nicht aber, wenn der Tod irrtümlich angenommen worden sei? Vor Kurzem musste sich der BGH mit einem Fall beschäftigen, in dem der Angeklagte nach Einlegung seiner Revision seinen Tod vortäuschte und sich einen Einstellungsbeschluss erschlich;3201 wir werden uns gleich näher mit dieser Situation beschäftigen (u. 5. [S. 804 f.]). Gleiches hätte aber auch innerhalb des Hauptverfahrens passieren können: Der Angeklagte fingiert auf der Heimfahrt von der Hauptverhandlung einen tödlichen Unfall.3202 Selbstverständlich hat der BGH diese Einstellung nicht für unveränderbar erklärt.3203 Würde man in einem derartigen Fall volle Rechtskraft annehmen, wäre nur dann, wenn die engen Voraussetzungen der § 362 Nr. 1, 2 StPO zufällig erfüllt wären, eine Wiederaufnahme zuungunsten möglich.3204 Damit wird klar, dass der Unterscheidung zwischen behebbaren und unbehebbaren Verfahrenshindernissen keine ausschlaggebende Bedeutung zukommen darf.3205 Sie ist ein in ihrem Bestreben, nicht aber in ihrer Ausführung billigenswerter Versuch, die Starrheit des Grundsatzes, dass Prozessentscheidungen rechtskraftunfähig sind, zu relativieren. (2) Auch die Tatsache, dass viele Einstellungsentscheidungen, wie die schon von der RStPO vorgesehene Einstellung wegen fehlenden Strafantrags, eigentlich Sachentscheidungen verkörpern, nähert die h. A. im Ergebnis dem vorliegenden Standpunkt an. (3) Nicht unerwähnt sollte auch die allgemein anerkannte Möglichkeit bleiben, trotz eines Prozesshindernisses bei Freispruchreife freizusprechen statt bloß einzustellen.3206 Dadurch möchte man dem Betroffenen nicht nur die soziologischfaktischen Vorzüge des Freispruchs zusichern, sondern auch seine kräftigere Rechtskraft.3207 Hier wird vorgeschlagen, wenigstens das Zweite dadurch zu erfestgestellt werden muss (näher Kühl, NJW 1978, S. 977 f.; ders. FS Meyer-Goßner, S. 715 ff.; BGHSt 45, 108), kann man hier nicht eingehen. 3201 BGHSt 52, 119. 3202 Beispiel von Trepper, Rechtskraft, S. 49. 3203 Im Erg. ebenso das italienische Recht, Art. 69 Abs. 2 itStPO; ausf. hierzu Mancuso, Giudicato, S. 485 ff.; vielfach sagt die Lehre, es gebe in diesem Fall ein nichtiges Urteil (sentenza inesistente), so etwa Guarneri, NovDigIt XV (1968), S. 230; Leone, Manuale, S. 745; Rivello, RitDPP 1991, S. 519 f.; Giovene, DPP V (1991), S. 427; s. a. Callari, Firmitas, S. 144. 3204 Eine Wiederaufnahme wäre nicht einmal dann einschlägig, wenn der schlaue Angeklagte auch ein Angeber ist und „sich des Verbrechens . . . rühmt“ (in den Worten der Motive, in: Hahn/Mudgan, Materialien, S. 264), denn der Wiederaufnahmegrund des § 362 Nr. 4 StPO ist kraft seines Wortlauts nur bei einem Freispruch anwendbar; Wiederaufnahmegründe zulasten sind nicht analogiefähig, s. u. Kap. 6 A. III. (S. 863, 974). 3205 Im Erg. ebenfalls abl. Trepper, Rechtskraft, S. 43. 3206 Hierzu etwa Rieß, FS 50 Jahre BGH, S. 839 ff.; Schoreit, KK-StPO § 260 Rn. 50; diff. Meyer-Goßner, Prozessvoraussetzungen, S. 27 ff. 3207 Siehe OLG Stuttgart NJW 1968, 1296, nach dem die Versagung dieser Sperrwirkung den Betroffenen beschwert.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

reichen, dass man das Einstellungsurteil, das ohne den Willen des Beschuldigten erfolgt, dem Freispruch hinsichtlich seiner Sperrwirkung völlig gleichstellt. cc) Es sind einige Einwände zu erwarten. (1) Führt die vorliegende Auffassung nicht zu einer übertriebenen Verschwendung von Strafklagerechten und zu einer ungebührenden Besserstellung des Beschuldigten? Das ist nicht der Fall. Wie gesehen unterscheiden sich die hier gewonnenen Ergebnisse nicht so weitgehend von denen, die bereits allgemein vertreten werden: Die überwiegende Auffassung kennt die Konstruktion der unbehebbaren Verfahrenshindernisse und einer angeblichen Feststellungswirkung des Einstellungsurteils und die These vom Vorrang des Freispruchs vor der Einstellung. Zweitens besteht Einvernehmen über normative Kupierungen der prozessualen Tat. Die übrig bleibenden Konstellationen, in denen eine Einstellung nur nach vorliegender Auffassung und nicht nach der h. M. zum vollen Strafklageverbrauch führen würde – erst im Beratungszimmer entdeckt man, dass es an der Prozessvoraussetzung der Anklage oder des Eröffnungsbeschlusses fehlt, oder dass sie fehlerhaft sind;3208 ein Strafantrag wird erst in der Hauptverhandlung zurückgenommen3209 –, sind solche, in denen die vorliegende Auffassung zu wohl besseren, weil dem Rehabilitierungsrecht des Betroffenen entsprechenden Ergebnissen führt. Aber nicht einmal, wenn man die Dinge anders bewerten und dieses Ergebnis für unwillkommen erachten würde, ergäbe sich ein Einwand gegen den hier vertretenen Standpunkt, sondern vielmehr eine weitere Rechtfertigung für eine mittlere Strafverfahrensphase, nach dem Vorbild des deutschen Zwischenverfahrens, das mit einem Eröffnungs- oder Ablehnungsbeschluss endet. Der Eröffnungsbeschluss, dessen Existenzberechtigung über Generationen immer wieder angezweifelt worden ist,3210 hätte demnach nicht nur eine Garantie- und Kontrollfunktion,3211 sondern auch die Funktion, einen grundlosen Verbrauch der Strafklage zu verhindern. Er bietet die beste Gelegenheit, das Vorhandensein von Prozesshindernissen sorgfältig zu prüfen, so dass die Einleitung der Beweisaufnahme ein vom Staat allein verantwortbares Risiko darstellt. In Staaten, die eine solche Zwischenphase nicht kennen,3212 muss zu einem anderen Punkt dafür gesorgt werden, dass man keine von vornherein sinnlose Beweisaufnahme vornimmt. Zuletzt sollte die Frage gestellt werden, worauf es denn beruht, dass Verfahrenshindernisse zwingend die Einstellung des Verfahrens zur Folge haben sollen. 3208

So ein Fall in OLG Köln NJW 1962, 1358 (1358 f.). RG GA 1908, 431 (432). 3210 Siehe die Nachw. o. Fn. 75. 3211 Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 361. Häufig wird auch der Gesichtspunkt der Ökonomie erwähnt, z. B. Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 361. 3212 Etwa Japan, s. Kato, JFL Aichi Univ. 153 (2000), S. 3. 3209

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Dass ein solcher Satz schlechte Begriffsjurisprudenz darstellt, belegt schon die Konstellation mangelnder sachlicher Zuständigkeit, an die nicht mit der Beendigung des Verfahrens, sondern mit seiner Weiterleitung an das zuständige Gericht reagiert wird (§ 270 StPO). Beim Eröffnungsbeschluss oder beim Strafantrag soll es nicht nur möglich sein, sie zu einem späteren Zeitpunkt nachzuholen – der Erste soll bis vor der Vernehmung des Angeklagten zur Sache,3213 der Zweite sogar erst in der Revisionsinstanz nachholbar sein3214 –, sondern man sollte vor allem beim Ersten die Frage stellen, ob dessen Fehlen statt einer Einstellung nicht schlicht eine Rückversetzung des Verfahrens in die dem Fällen dieser Entscheidung vorgelagerte Situation zur Folge haben sollte.3215 (2) Gegen die hier vorgeschlagene Gleichbehandlung von Prozess- und Sachentscheidung bezüglich ihrer Sperrwirkung könnte man ferner anführen, dass über Prozesshindernisse im Wege des Freibeweises entschieden wird,3216 so dass ihre Bejahung eine geringere Richtigkeitsgarantie biete als die Stellungnahme zur Schuld und Straffrage. Die geringere Sorgfalt der Wahrheitsermittlung darf dem Betroffenen seinen Rehabilitierungsanspruch aber nicht entziehen (s. o. C. II. [S. 713 ff.]). Vielmehr könnte man das Argument umkehren und in der Gleichheit der Sperrwirkung einen Grund erblicken, mit einer im Vordringen befindlichen Auffassung3217 auch bei Verfahrenshindernissen das Strengbeweisverfahren für einschlägig zu halten.3218 c) Auf den Punkt gebracht: Alle „späten“, d.h. nach Beginn der Beweisaufnahme erfolgenden Prozessbeendigungen, die unabhängig vom Willen des Betroffenen erfolgen, müssen ihn von erneuter Verfolgung freistellen, und dies ohne Rücksicht darauf, ob es um eine Sach- oder Prozessentscheidung geht, oder ob die Entscheidung auf Gründen der Opportunität oder auf Verfahrenshindernissen beruht. 5. Einstellungsbeschluss wegen Prozesshindernissen (§ 206a StPO) Weil Verfahrenshindernisse in jeder Lage des Verfahrens zu beachten sind, müssen sie nicht erst im Urteil festgestellt werden. Vorzugswürdig ist es aber, wie gerade gesehen (s. o. 4. [S. 798 ff.]), dass sie vor der Hauptverhandlung, insbesondere vor dem Beginn der Beweisaufnahme festgestellt werden, und dem trägt § 206a StPO Rechnung. Eine Regelung der Rechtskraftfähigkeit dieser Einstellungsentscheidung enthält das Gesetz ebenso wenig wie bei § 260 Abs. 3 StPO. Das Meinungsspektrum ist sehr unklar, dürfte aber folgendermaßen zu 3213 3214 3215 3216 3217 3218

BGHSt 29, 224. RGSt 68, 120 (124): s. a. BGHSt 3, 73 (74); 29, 224 (228). Dieselbe Frage in OLG Köln NJW 1962, 1358 (1358 f.). BGHSt 46, 307 (309). Nachw. o. Fn. 2836. Ein solches Argument bei Többens, NStZ 1982, S. 186.

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charakterisieren sein: Überwiegend scheint man davon auszugehen, dass sich beide Vorschriften hinsichtlich ihrer Sperrwirkung gleichen.3219 Man überträgt auf diesen Beschluss also die Lösung, die bereits zu § 260 Abs. 3 StPO diskutiert wurde, nämlich eine Sperrkraft nach Maßgabe des Inhaltes der Entscheidung, mit der Unterscheidung zwischen behebbaren und unbehebbaren Verfahrenshindernissen.3220 Folge davon ist, dass Änderungen der Tatsachen zwar ein erneutes Prozedieren rechtfertigen, Änderungen des Kenntnisstandes aber nicht. Eine Korrektur von Tatsachenfehlern soll nicht möglich sein.3221 Eine andere Auffassung möchte demgegenüber bloß Rechtskraft rebus sic stantibus in Analogie zu § 211 StPO annehmen.3222 Ähnliche Zweifel wie die gerade bezüglich des Einstellungsurteils geltend gemachten sind auch hier einschlägig, nur teilweise unter umgekehrtem Vorzeichen. Denn war dort die Möglichkeit erneuter Verfolgung bei einer Einstellung aus „behebbaren“ Prozesshindernissen das Problem, wird hier umgekehrt die Frage brisant, ob die fehlerhafte Bejahung eines unbehebbaren Prozesshindernisses in der Tat unkorrigierbar sein und jeder weiteren Verfolgung ein Ende setzen muss. Das BayObLG hatte bereits 1970 einen Fall zu entscheiden, in dem wegen des Übersehens einer die Verjährung unterbrechenden Verfügung das Verfahren gem. § 206a StPO im Zwischenverfahren eingestellt wurde. Das Gericht erklärte den Fehler für nicht mehr korrigierbar.3223 Gut zehn Jahre später hatte aber das OLG Köln mit einem Fall zu tun, in dem erst nach einer formell rechtskräftigen Einstellung wegen fehlenden Eröffnungsbeschlusses dieser in den Ersatzhandakten der Staatsanwaltschaft gefunden wurde. Die Möglichkeit einer erneuten Anklageerhebung wurde aber vom Gericht ausdrücklich hervorgehoben.3224 Und vor Kurzem erging eine Entscheidung des BGH, die die praktische Bedeutung der Diskussion augenfällig belegt.3225 Es ging um einen Angeschuldigten, der durch Vortäuschung seines Todes eine Einstellung gem. § 206a StPO zu erwirken 3219 BGHSt 52, 119 (120 f.); Trepper, Rechtskraft, S. 45; Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme Rn. 36; Ziemann, HRRS 2008, S. 367 (and. freilich S. 368); Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 656; Stuckenberg, LR-StPO § 206a Rn. 113; Meyer-Goßner, StPO § 206a Rn. 11. 3220 So Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme Rn. 36; Paeffgen, SK-StPO § 206a Rn. 31 g; in der Sache auch Stuckenberg, LR-StPO § 206a Rn. 114. 3221 So ausdrücklich BayObLGSt 1970, 115 – zu dieser Entscheidung siehe den weiteren Text. 3222 Peters, JR 1970, S. 392 f.; Kleinknecht, FS Bruns, S. 479; Möllman, §§ 206a, 206b StPO, S. 163; OLG Köln NJW 1981, 2208; BayObLG JR 1986, 430 (432). Siehe auch die vereinzelte, bereits o. D. II. (S. 733 ff.) kritisierte Auffassung von Gantzer, Rechtskraft, S. 175, die dieser Entscheidung volle Rechtskraft zumisst. 3223 BayObLGSt 1970, 115. 3224 OLG Köln NJW 1981, 2208; der Einstellungsbeschluss erging erst auf der Ebene der Berufung. 3225 BGHSt 52, 119.

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wusste.3226 Weil der Tod das „unbehebbarste“ aller Verfahrenshindernisse ist, müsste eine Auffassung, die von einer Rechtskraft nach Maßgabe des Inhalts der Entscheidung ausgeht, dem Angeschuldigten Verfolgungsfreiheit gewähren. Der BGH macht selbstverständlich nicht mit. Er sagt, die Korrektur von Entscheidungen, die auf Tatsachenirrtümern beruhen, müsse „jedenfalls“ dann möglich sein, wenn der Irrtum durch ein täuschendes Verhalten des Beschuldigten herbeigeführt worden ist.3227 Der BGH beruft sich dann auf den Rechtsgedanken des § 362 StPO, insbesondere von Nr. 1 und 2, und entnimmt ihnen den Grundsatz, dass die Wiederaufnahme zuungunsten zulässig ist, wenn die Entscheidung auf Grundlage von Beweisergebnissen erfolgte, die auf Täuschung beruhten.3228 Denn der Einstellung gem. § 206a StPO dürfe keine stärkere Rechtskraftwirkung zugemessen werden als einem Freispruch.3229 Wie man auf Grundlage der hier entwickelten Grundsätze zu entscheiden hat, dürfte klar sein. Ergehen diese Einstellungen im Zwischenverfahren, also vor der Beweisaufnahme, entsteht Rechtskraft rebus sic stantibus. Ergehen sie danach, erwachsen sie in volle Rechtskraft, es sei denn, der Einstellungsgrund wird auf Antrag des Beschuldigten bejaht oder ist von ihm vorgetäuscht worden. Es ist aus mehreren Gründen rätselhaft, weshalb sich der BGH des aufwändigen argumentativen Umwegs der analogen Heranziehung von Wiederaufnahmevorschriften bedienen musste. Dieser Umweg ist auch fragwürdig.3230 Denn der Sinn der Wiederaufnahme zulasten besteht gerade darin, dass eine scheinbare Duldung des Verfahrens vorliegt und deshalb das Rehabilitierungsrecht möglicherweise verletzt sein kann (näher u. Kap 6 D. I. 2. [S. 957 ff.]). Auf diesen Besonderheiten beruht der weitgehend anerkannte Ausnahmecharakter der Wiederaufnahme zulasten, der auch jede analoge Erweiterung unzulässig macht (s. u. Kap. 6 B. VI. 4. [S. 863]). Das Wiederaufnahmerecht kann zudem nicht herangezogen werden, um die Rechtskraft einer Entscheidung zu begründen, weil es diese vielmehr schon voraussetzt. Bestenfalls kann es vorsichtig als heuristisches Argument gebraucht werden (bereits o. Kap. 2 B. IV. 6. [S. 417 ff.]). Zudem war es ein glücklicher Zufall, dass hier die Täuschung mittels einer Urkundenfälschung erfolgte; wie wäre es aber, wenn sich die Sache anders ereignet hätte, 3226 Freilich erst in der Revisionsinstanz, womit sich die äußerst interessante zusätzliche Frage stellte, wie das Verfahren fortgeführt werden sollte – der BGH möchte den Beschluss aufheben und das Verfahren in dem Stand fortsetzen, in dem es sich befand (BGHSt 51, 119 [123 f.]). Diese Frage gilt aber der formellen und nicht der uns allein interessierenden materiellen Rechtskraft und muss deshalb hier undiskutiert bleiben (zu ihr Peters, JR 1970, S. 393; Jahn, JuS 2008, S. 460; Rieß, NStZ 2008, S. 298). 3227 BGHSt 52, 119 (121); dem folgend Meyer-Goßner, StPO § 206a Rn. 11. 3228 BGHSt 52, 119 (121 f.). 3229 BGHSt 52, 119 (122 f.). 3230 Zu Recht krit. Jahn, JuS 2008, S. 460; Ziemann, HRRS 2008, S. 365 ff.; Paeffgen, SK-StPO § 206a Rn. 31 b; eher billigend Kühl, NJW 2008, S. 1010; Rieß, NStZ 2008, S. 298.

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ähnlich wie im o. 4. (S. 801 bei Fn. 3202) vorgestellten Beispiel? Keiner der gesetzlich vorgesehenen Wiederaufnahmegründe würde dann zur Sachlage passen.3231 Was bliebe, wären nova, also § 211 StPO. Und diese richterliche Kreativität wird umso verblüffender, wenn man einsieht, dass dem BGH eine vom Ergebnis „passende“ Ansicht zur Verfügung stand.3232 Die passende Meinung ist zudem noch richtig: Denn der Einstellungsbeschluss gem. § 206a StPO findet nach der Inkulpation, aber vor dem Beginn der Beweisaufnahme statt; das Verfahren erreicht somit bloß mittlere Verdächtigungstiefe, so dass beschränkte (rebus sic stantibus) Rechtskraft eintritt.3233 6. Weitere Einstellungsbeschlüsse (§§ 205, 206 b StGB) Nichts anderes kann für die weiteren im Gesetz vorgesehenen Einstellungsbeschlüsse im Zwischenverfahren gelten. Bei § 205 StPO gibt es keinen Raum für Zweifel. Das Gesetz bestimmt selbst, dass die Einstellung, die wegen eines in der Person des Angeschuldigten liegenden Hindernisses der Hauptverhandlung erfolgen muss, bloß „vorläufig“ ist. Auch für § 206b StPO müssen dieselben Überlegungen einschlägig sein.3234 Zwar gibt es gewichtige Stimmen, die dieser Einstellung freispruchsgleiche Rechtskraft zuerkennen wollen.3235 Entdeckt man aber wegen erst später aufgetauchter Tatsachen oder Beweismittel, dass die prozessuale Tat unter einer anderen Rechtsvorschrift strafbar ist, dann ist kein Grund ersichtlich, weshalb man die Sache auf sich beruhen lassen sollte. 7. Einstellungsentscheidung mit Auflagen (§ 153a Abs. 2 StPO) Das Meinungsspektrum zur Rechtskraftfähigkeit der Einstellung gem. § 153a Abs. 2 StPO ist angesichts der expliziten Regelung des Abs. 1 S. 4 nicht so bunt. 3231

Trepper, Rechtskraft, S. 49. Wenn man mit Rechtsprechungskritikern unterstellt, der BGH würde sich ergebnisorientiert die eine Literaturmeinung aneignen, die ihm gerade passe, so insb. Schünemann, FS Roxin I, S. 6. Laut Zeugnis von BGH-Richtern Nack, GA 2006, S. 343 (bzgl. der Anwendbarkeit der Organisationsherrschaft auf die Unternehmensleitung) und Fischer, FS Hamm, S. 64 f. entscheidet die Rechtsprechung eher selbständig ohne Rücksichtnahme auf die Literatur. 3233 Die weitere Frage, in welcher Form diese Fortsetzung der Verfolgung geschehen sollte, ob durch Rücknahme der Einstellungsentscheidung (so Gössel, LR-StPO § 362 Rn. 22: förmlicher Aufhebungsbeschluss) oder durch Erhebung einer neuen Anklage (dafür Ziemann, HRRS 2008, S. 365 f.), müssen wir hier nicht behandeln. 3234 Loos, AK-StPO § 206b Rn. 9; Seidl, KMR-StPO, § 206b Rn. 16; Möllman, §§ 206a, 206b StPO, S. 163. 3235 Etwa Paeffgen, SK-StPO § 206b Rn. 15; Stuckenberg, LR-StPO § 206b Rn. 22; Meyer-Goßner, StPO § 206b Rn. 12; wohl auch Bloy, GA 1980, S. 165. 3232

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Das Gesetz schreibt selbst vor, nach Erfüllung der Auflage oder Weisung sei eine erneute Verfolgung der Tat nur als Verbrechen möglich. Streitig ist allein, ob nova zu verlangen sind3236 oder ob das Gesetz auch Subsumtionsfehler für korrigierbar erklärt,3237 vorausgesetzt, die neue Subsumtion führe zu einer höheren Deliktsstufe als die, von deren Vorliegen man zur Zeit der Einstellungsentscheidung ausging (die nur bei Vergehen möglich ist). Zwei extreme, aber vereinzelt gebliebene Auffassungen gibt es noch: eine extrem restriktive, die die Sperrwirkung auf den Gesichtspunkt einschränken will, unter dem die Einstellung erfolgt ist (insoweit ähnlich wie bei der Verwarnung, s. § 56 Abs. 4 OWiG und hierzu o. Kap. 3 D. II. 1. [S. 669 f.]);3238 und eine, die eine Wiederaufnahme nur unter Einhaltung der § 359 ff. StPO für zulässig hält, die also der Einstellung volle Rechtskraft zumisst.3239 Dass nova erforderlich sein müssen, kann angesichts des o. E. III. 3. b) (S. 767 ff., 773); 3. (S. 791 ff.), 5. (S. 805) mehrmals Ausgeführten nicht mehr zweifelhaft sein. Oben Kap. 3 D. IV. 5. (S. 693 ff.) haben wir offen gelassen, ob die Auflagen und Weisungen als schuldtilgende Strafe anzusehen waren, und hervorgehoben, dass, selbst wenn man dies annehmen würde, dies bloß die Folge hätte, dass der idem crimen nicht mehr verfolgt werden dürfte. Weil § 153a Abs. 1 S. 5 StPO jede weitere Verfolgung derselben prozessualen Tat als Vergehen ausschließt und weil keine Schuldigsprechung erfolgt, muss die Regelung auf anderen Gedanken beruhen, vor allem dem der Rehabilitierung. Dies ist auch sachgerecht, denn es ist durchaus ein Verfahren gegen den Beschuldigten durchgeführt worden – und hier liegt der Unterschied zu der Verwarnung, die ohne vorausgehendes Verfahren zugefügt wird und deshalb keinen angemessenen Anknüpfungspunkt für irgendwelche Rückschlüsse auf die Sperrwirkung der Einstellung gem. § 153a Abs. 2 StPO bieten kann.3240 Die Einstellung ist auch in jeder Lage des Verfahrens möglich, d.h. auch nach bereits angefangener Beweisaufnahme, was an sich die Folge der vollen Rechtskraft zeitigen sollte. Das Gesetz sieht aber die Zustimmung des Betroffenen vor. Diese Zustimmung ist nicht nur Voraussetzung der Legitimierbarkeit der Aufla3236

Kleinknecht, FS Bruns, S. 482; Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 406.2. Gössel, Strafverfahrensrecht, S. 295; Loos, JZ 1978, S. 598; Radtke, Strafklageverbrauch. S. 350; Trepper, Rechtskraft, S. 118; Beulke, LR-StPO § 153a Rn. 99; Meyer-Goßner, StPO § 153a Rn. 54; wohl auch Schmidt-Aßmann, M/D-GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 296. 3238 Schäfer, LR-StPO, 23. Aufl. Einl Kap. 12 Rn. 45 ff.; Molière, JZ 1977, S. 193. 3239 Gantzer, Rechtskraft, S. 167; die Ansicht von Hellmann, MDR 1989, S. 952 ff., und Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme, Rn. 30, 34 bezieht sich nur auf die Wiederaufnahme zugunsten; zu ihr u. Kap. 6 A. III. (S. 864). 3240 Gegen diese Einschränkungsversuche auch Loos, JZ 1978, S. 597 f.; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 158 f., 195; Beulke, LR-StPO § 153a Rn. 97. 3237

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gen und Verzicht auf einen möglichen Freispruch, sondern auch Verzicht auf die volle Rechtskraft (s. o. E. III. 2. d) [S. 750 ff.]), insofern ähnlich wie bei der Einstellung gem. § 153 Abs. 2 StPO (s. o. 3. [S. 791 f.]). Da aber die vorliegende Einstellung nicht „gratis“, sondern „entgeltlich“ zu bekommen ist, bietet der Gesetzgeber als Gegenleistung noch die Freistellung vor jeder weiteren Verfolgung als Vergehen an. Genauer betrachtet erfolgen sogar drei Zustimmungserklärungen: Zuerst stimmt der Betroffene der vorläufigen Einstellung zu, da er die Erfüllung der erteilten Auflagen und Weisungen zusagt. Dadurch, dass er dieser Zusage auch entspricht, stimmt er konkludent der endgültigen Einstellung zu. Bei einer späten Einstellung muss auch der Nichtgewährung voller Rehabilitierung zugestimmt werden. Als Gegenleistung für die Übernahme der Auflage bestimmt der Gesetzgeber, dass das novum, das eine Erneuerung der Verfolgung gestattet, hier die Strafbarkeit als Verbrechen begründen muss. Beiläufig sei auch daran erinnert, dass die Einstellung gem. § 153a StPO die gesamte prozessuale Tat – auch das Verbrechen oder eventuell mitverwirklichte Ordnungswidrigkeiten – erfasst; eine „normative Kupierung“ (s. o. E. III. 4. b) ff) [S. 592 f.]) findet nicht statt.3241 8. Einstellung wegen anderweitiger Verfolgung (§ 154 Abs. 2, § 154b Abs. 4 StPO) § 154 StPO sieht die Möglichkeit einer Einstellung vor, wenn der Beschuldigte schon wegen einer anderen Tat mit einer Strafe oder Maßregel sanktioniert werden soll und die im einzustellenden Verfahren zu erwartende Rechtsfolge im Vergleich dazu nicht mehr beträchtlich ins Gewicht fällt (Abs. 1 Nr. 1) oder nicht in angemessener Frist zu erwarten ist (Abs. 1 Nr. 2). § 154b StPO erlaubt eine Einstellung, wenn der Beschuldigte wegen derselben Tat einer ausländischen Regierung ausgeliefert wird (Abs. 1), oder wenn dies wegen einer anderen Tat geschieht, ohne dass die hierzulande zu erwartende Strafe ins Gewicht fällt (Abs. 2), zuletzt auch, wenn der Beschuldigte aus Deutschland ausgewiesen wird (Abs. 3).3242 Das Gesetz lässt keinen Zweifel daran entstehen, dass diese Einstellungen bloß vorläufig sind, und bestimmt in einer besonderen Vorschrift, unter welchen Bedingungen eine erneute Verfolgung zulässig ist (§ 154 Abs. 3–5, 3241 Anders BGH StV 2013, 3 (= NZWiSt 2013, 218), demzufolge die Einstellung eines Verfahrens wegen § 266a StGB nicht einer Verfolgung als Ordnungswidrigkeit (§ 23 Abs. 1 Nr. 1 AEntG) entgegenstehe; dieses Ergebnis wäre, wenn überhaupt, nur auf Grundlage des o. Kap. 2 D. VII. (S. 520 ff.) vertretenen, stark normativen Tatbegriffs begründbar. Hierzu zwiespältig F. Schmidt, NZWiSt 2013, S. 223 f., der einerseits der Entscheidung zustimmt, andererseits ihre unsichere Bestimmung des Tatbegriffs rügt. 3242 § 154a StPO gehört nicht in den vorliegenden Zusammenhang, weil die Vorschrift zu einer normativen Kupierung der prozessualen Tat führt (s. bereits o. Kap. 2 E. III. 4. b) ff) [S. 572]).

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§ 154 b Abs. 4 StPO). Kerngedanke dieser Vorschriften ist es, dass eine Einstellung, deren Grund eine anderweitige Verfolgung ist, also auch die Erwartung einer Sanktion von bestimmtem Gewicht, haltlos wird, sobald es nicht mehr zu dieser Verfolgung oder Sanktionierung kommt. Aus unserer Perspektive lassen sich diese besonderen Voraussetzungen als gesetzliche Konkretisierung und Qualifizierung des novums deuten, das hier für die Überwindung der an sich statthaften rebus sic stantibus Rechtskraft erforderlich sein soll. Falls diese Bedingungen nicht eintreten, d.h. falls die anderweitige Verfolgung sich wie erwartet weiterentwickelt, zweifelt also niemand, dass die eingestellten Taten nicht mehr verfolgt werden dürfen.3243 Das Problem ist indes, dass diese Einstellungen laut Gesetz „in jeder Lage“ (§ 154 Abs. 2 StPO) möglich sind3244 – also auch nach der Erreichung der vollen Verdächtigungstiefe, d.h. nach bereits begonnener Beweisaufnahme. Ob der Angeklagte dem zustimmt oder nicht, ist hier – anders als bei § 153 Abs. 2 StPO und auch bei § 153a StPO – wenigstens vom Wortlaut her irrelevant. Im Klartext: Das Gesetz disponiert über das Rehabilitierungsrecht des Angeklagten und opfert es bedenkenlos dem verfolgten Zweck einer Vereinfachung des Verfahrens. Es gibt wohl nur drei Wege, um diese Einstellungsmöglichkeiten mit dem Rehabilitierungsrecht des Betroffenen zu versöhnen. Man könnte zunächst denken, diese späten Einstellungen in volle Rechtskraft erwachsen zu lassen. Dies wäre aber mit dem Gesetz, das die Einstellung selbst als „vorläufig“ qualifiziert (§ 154 Abs. 2; § 154b Abs. 4 StPO) und besondere Bedingungen aufstellt, unter denen ein Wiederaufgreifen der Verfolgung möglich ist, nicht mehr verträglich. Das ganze Konzept dieser Einstellungsvorschriften würde aus den Angeln gehoben. Eine zweite Lösung bestünde darin, diese Einstellungen ab begonnener Beweisaufnahme überhaupt nicht mehr zuzulassen. Auch dies wäre mit dem Wortlaut zumindest von § 154 Abs. 2 StPO, der die Einstellung in jeder Lage für zulässig erklärt, unvereinbar. Darüber hinaus und wichtiger – nicht nur, aber auch angesichts der Tatsache, dass der Wortlaut von § 154b Abs. 4 StPO hier keine derartige Sperre enthält – wäre das eine zu grobe Lösung, denn der Betroffene, und um sein individuelles Rehabilitierungsrecht geht es hier, wird in den meisten Fällen wohl mit der Einstellung einverstanden sein. Und somit kommt man zur dritten, vorzugswürdigen Lösung: Die Einstellungen, die erst nach bereits begonnener Beweisaufnahme stattfinden, müssen mit Zustimmung des Betroffenen erfolgen. Gegen diese Lösung spricht zwar das systematische Argument, dass das Gesetz im Zusammenhang der Opportunitätseinstellungen explizit die Zustimmung 3243

Siehe bereits RGSt 70, 338 (340). Bei § 153 StPO fehlt es an einer entsprechenden Wendung; es gibt aber keinen Grund zur Annahme, dies solle anders sein (ebenso Beulke, LR-StPO § 154b Rn. 10). 3244

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des Betroffenen erwähnt, wenn es sie für erforderlich hält, und das teleologische Argument, dass damit dem justizpolitischen Entlastungszweck der Einstellungsbefugnisse nicht gedient wird. Ohne dies zu leugnen, dürfte die Anforderung einer nicht geschriebenen Voraussetzung der Zustimmung des Betroffenen mit der Einstellung noch nicht die Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung überschreiten. Die dadurch entstehenden Reibungen sind der angemessene Preis, die ein theoretisch fundierter Ansatz an eher zweckmäßigkeitsorientierte und weitgehend ad hoc eingeführte Regelungen zu entrichten bereit sein muss. 9. Strafbefehl Das seit dem Erlass der RStPO wohl meistdiskutierte Rechtskraftproblem betraf den Strafbefehl.3245 Die RStPO enthielt eine Vorschrift folgenden Wortlauts: „Ein Strafbefehl, gegen welchen nicht rechtzeitig Einspruch erhoben worden ist, erlangt die Wirkung eines rechtskräftigen Urtheils“ (§ 450).3246 Das Reichsgericht deutete die Vorschrift aber so, dass die von ihr gemeinten Wirkungen nur die Vollstreckbarkeit und die Anfechtbarkeit, nicht aber die Rechtskraft seien.3247 Vielmehr sei von einer beschränkten Rechtskraftwirkung des Strafbefehls auszugehen. Insbesondere aufgrund des summarischen Charakters des Strafbefehlsverfahrens bestehe kein Hindernis, die Tat später unter einem neuen rechtlichen Gesichtspunkt zu verfolgen, der im Strafbefehlsverfahren nicht berücksichtigt worden sei und eine erhöhte Strafbarkeit begründe.3248 In einzelnen Entscheidungen hielt man eine erneute Verfolgung auch ohne nova für zulässig, und zwar zur bloßen Korrektur einer falschen rechtlichen Würdigung an sich bekannter Tatsachen,3249 wie etwa bei einem Übersehen eines Strafschärfungsgrundes.3250 Diese Rechtsprechung wurde vom BGH fortgeführt, der bereits sehr früh vom BVerfG zugesichert bekam, dass Art. 103 Abs. 3 GG an diesen Grundsätzen nicht gerüttelt habe, sondern vielmehr eine Rezeption des vorverfassungsrechtlichen Gesamtbildes verkörpere.3251 3245

Zur Geschichte des Problems bis zur Nachkriegszeit Vogler, Rechtskraft, S. 6 ff. Die entsprechende heutige Vorschrift spricht nicht mehr von den Wirkungen eines rechtskräftigen Urteils, sondern davon, dass der Strafbefehl „einem rechtskräftigen Urteil gleich (stehe)“ (§ 410 Abs. 3 StPO). 3247 Etwa RGSt 4, 243 (245). 3248 RGSt 4, 243 (245); 9, 321 (323); 14, 358 (360); 15, 112 (113); 28, 83 (84 f.); 29, 156 (157); 46, 53 (54 f.); 50, 237 (239); 52, 183 (184); 52, 241 (242); 54, 283 (285 f.); 56, 251 (253); 65, 291 (292 f.); 76, 250 (251); BGHSt 3, 13 (14 ff.); 6, 122 (123); 9, 10 (11); 17, 101 (103, 110); 18, 141 (142); 28, 69; OLG Frankfurt MDR 1952, 55. 3249 RGSt 15, 112 (113); 52, 241 (243); krit. H. Mayer, GS 99 (1930), S. 122 f. Fn. 52; Vogler, Rechtskraft, S. 85; Hellmer, JuS 1963, S. 312: „[N]icht Gedankenfehler des Gerichts, sondern Ermittlungsfehler (sollen) ausgeglichen werden“. 3250 RGSt 52, 241 (242 f.). 3251 BVerfGE 3, 248; s. a. BVerfGE 21, 378 (388). 3246

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Die Literatur, die sich zunächst massiv gegen die höchstrichterliche Rechtsprechung stellte,3252 stimmte dem allmählich sowohl in der Begründung als auch im Ergebnis weitgehend zu: Die beschränkte Rechtskraft des Strafbefehls folge aus dessen summarischem Charakter.3253 Zu den wenigen, die eine anspruchsvollere Begründung lieferten, gehörte H. Mayer: Er verstand das Strafbefehlsverfahren als ein Unterwerfungsverfahren ohne Tatsachenfeststellungen, dessen Entscheidung auf Grundlage bloßen Verdachts und nicht einer richterlichen Überzeugung getroffen werde; hieraus folgerte er, dass der Strafbefehl der Rechtskraft nur beschränkt fähig sei.3254 Eine starke, beim Erlass der RStPO sogar wohl überwiegende, aber zur Mindermeinung verkümmerte Gegenauffassung folgte dem aber nicht und sprach Strafbefehlen volle, sachurteilsgleiche Rechtskraft zu.3255 Einige Vertreter dieser Position gingen von wesentlich engeren Tatbegriffen aus, so dass sich in anderer Hinsicht eine Beschränkung der Rechtskraftwirkung ergab.3256 Der Impuls zum Kurswechsel kam nicht von der Dogmatik des Strafbefehls, sondern von außen. Das 1968 in Kraft getretene OWiG enthielt Bestimmungen

3252

Siehe die Nachw. u. Fn. 3255. Schanze, ZStW 4 (1884), S. 481; Eichhorn, GS 38 (1886), S. 411; Weidenhaupt, Rechtskraft, S. 34 ff.; Giehl, Wiederaufnahme, S. 9 f.; Klee, DStrZ 1922, Sp. 230; Schlosky, GA 1927, S. 328; E. Wolter, Rechtskraft, S. 35 f.; Nagler, ZAkDR 1939, S. 401; Oehler, FS Rosenfeld, S. 157; Kohlhaas, MDR 1952, S. 56 (mit bemerkenswerter Begründung, die aus pragmatischen Gründen offen für eine „Durchbrechung der Rechtskraft“ eintritt); ders. ZStW 77 (1965), 563 ff., 576 (mit etwas verfeinerter Begründung, insb. S. 573 ff.); Eb. Schmidt, JZ 1954, S. 706; ders. JR 1962, S. 470; Spinellis, Rechtskraft, S. 126 ff.; Bruns, JZ 1960, S. 586; Hellmer, JuS 1963, S. 313. Schöneborn, MDR 1974, S. 531 Fn. 32; Kleinknecht, FS Bruns, S. 483 f. Ähnl. die Materialien, in: Hahn/Mugdan, S. 268 („gegen amtsrichterliche Strafbefehle [findet] ein Antrag auf Wiederaufnahme nicht statt“), worauf sich auch das RG berief (RGSt 4, 243 [246]). 3254 H. Mayer, GS 99 (1930), S. 101 ff.; zust. Eb. Schmidt, JR 1962, S. 470; ders. Lehrkommentar I Rn. 325; G. Schmidt, JZ 1966, S. 94 – Analogie zum zivilprozessrechtlichen Mahnverfahren; krit. Vogler, Rechtskraft, S. 23 ff., 87. Im Ausland versuchte man gelegentlich den Strafbefehl auf die zweifelhafte Figur des quasi-Vertrags zurückzuführen, so Rocco, Decisione giudiziaria penale, S. 71 f. 3255 M. Berner, Ne bis in idem, S. 44 ff.; v. Kries, Lehrbuch, S. 596 f., 742; Reiffel, GA 44 (1896), S. 129 ff.; Birkmeyer, Strafprozeßrecht, S. 676, 770; Friedlaender, ZStW 18 (1898), S. 690 ff.; Barbarino, Rechtskraft, S. 55; P. Merkel, ZStW 35 (1914), S. 554 ff.; Oster, Rechtskraft, S. 56 f.; Binding, Strafurteil, S. 318; Oetker, Rechtsgang 1 (1913), S. 18 ff.; Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 475 Fn. 1; Gerland, Strafprozeß, S. 463; v. Hippel, Strafprozeß, S. 644; Rabe, NJW 1952, S. 1150; Jescheck, JZ 1957, S. 30 f.; Vogler, Rechtskraft, S. 85 ff., 102; Schorn, Strafbefehlsverfahren, S. 104 f.; Molière, Rechtskraft des Bußgeldbeschlusses, S. 66 ff., 71; Erbe, Strafbefehl, S. 198 f.; Rieß, GA 1977, S. 86; Peters, Strafprozeß, S. 565; tendenziell Barthel, Begriff der Tat, S. 110. Zwiespältig Pfizer, GS 40 (1888), S. 345: Zwar soll der Strafbefehl wegen des Gesetzeswortlauts volle Rechtskraft begründen; im Erg. vertritt Pfizer aber den Standpunkt des RG, weil er die Aburteilung einer Tat unter einem rechtlichen Gesichtspunkt, auf den der Strafbefehl nicht passt, für nichtig hält, S. 350 f. 3256 So insb. Vogler und Peters, wie vorherige Fn. 3253

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über die Sperrwirkung in §§ 84 Abs. 2 S. 2, 85 Abs. 3 S. 2; ebenso verhielt es sich bei der 1974 eingeführten Einstellung mit Auflagen und Weisungen gem. § 153a Abs. 1 S. 4 (jetzt S. 5), Abs. 2 S. 2 StPO. Vereinfacht gesagt sollte die Verfolgung als Ordnungswidrigkeit nach dem OWiG oder als Vergehen im Rahmen eines zur Einstellung gem. § 153a StPO führenden Verfahrens eine bestimmte Sperrwirkung entfalten, in dem Sinne, dass eine erneute Verfolgung als Ordnungswidrigkeit bzw. als Vergehen unzulässig ist, eine neue Verfolgung als Verbrechen durchaus möglich bleibt. Mehr und mehr wurde aus diesen Bestimmungen für den Strafbefehl gefolgert, es sei sinnwidrig, wenn der Strafbefehl zu einem schwächeren Strafklageverbrauch führen würde als andere summarische Verfahren.3257 Dieses Argument fand beim BVerfG Gehör, als es erneut Anlass hatte, sich mit der Frage zu beschäftigen.3258 Nicht Art. 103 Abs. 3 GG, sondern Art. 3 Abs. 1 GG diente dem Gericht als Anknüpfungspunkt für die Änderung seiner früheren Auffassung. Denn die inzwischen eingeführten Normierungen des Verbots nochmaliger Strafverfolgung durch die zitierten Vorschriften des OWiG und der Einstellung mit Auflagen, die Entscheidungen zum Gegenstand haben, die auch im Rahmen eines summarischen Verfahrens gewonnen werden, hätten dazu geführt, dass man die Rechtskraft des Strafbefehls mindestens genauso weit reichen lassen sollte. Konkret bedeute das, dass nur eine erneute Verfolgung als Verbrechen zulässig sei.3259 Daraufhin beschloss der Gesetzgeber 1987, der Vorschrift ihren heutigen Wortlaut zu geben, also nicht mehr von der „Wirkung eines rechtskräftigen Urteils“ zu sprechen, sondern davon, dass der Strafbefehl dem rechtskräftigen Urteil „gleichstehe“ (§ 410 Abs. 3 StPO). Damit sei gemeint, dass der Strafbefehl voll rechtskräftig werde. Nur rechtfertigten die eingeschränkteren Kognitionsmöglichkeiten dieses summarischen Verfahrens eine erleichterte Wiederaufnahme zulasten des Betroffenen, die jenseits der strengen Sonderfälle des § 362 StPO bereits bei neuen Tatsachen oder Beweismitteln für möglich erklärt wurde, vorausgesetzt freilich, es gehe um eine erneute Verfolgung als Verbrechen (§ 373a StPO).3260 Heute bestreitet niemand mehr, dass der Strafbefehl in Rechtskraft erwächst;3261 nicht ohne ein gewisses Recht wird das Problem als „gelöst“ eingestuft.3262 3257 Etwa Kleinknecht, StPO, 32. Aufl. § 410 Anm. 2 B; Grünwald, ZStW-Beiheft 1974, S. 129 f.; Molière, Rechtskraft des Bußgeldbeschlusses, S. 72 ff.; ders. JZ 1977, 192 ff. (der aber § 153a StPO als Anknüpfungspunkt des Arguments ablehnt); Schäfer, LR-StPO 23. Aufl. Rn. 22 ff.; Achenbach, ZRP 1977, S. 87; ders. NJW 1979, S. 2022 f.; Rieß, GA 1977, S. 86 (nur an § 84 Abs. 2 S. 2 OWiG anknüpfend); Groth, NJW 1978, S. 200 f.; Gössel, Strafverfahrensrecht, S. 295 (an die Rechtskraftbestimmung des § 153a Abs. 1 S. 5 StPO anknüpfend); abl. BayObLG NJW 1976, 2139. 3258 BVerfGE 65, 377 (380 ff., 384 ff.); s. die im Wesentlichen zust. Anm. von Neumann, NJW 1984, S. 779 f.; distanzierter Kühne, JZ 1984, S. 376. 3259 BVerfGE 65, 377 (385 f.). 3260 BT-Drs. 10/1313, S. 33; s. davor Friedlaender, ZStW 18 (1898), S. 699; P. Merkel, ZStW 35 (1914), S. 565 ff.; Achenbach, ZRP 1977, S. 90.

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In der Tat dürften die Ergebnisse sich weitgehend aus der Lektüre des Gesetzes erschließen. Dass der Strafbefehl zum einen voll rechtskräftig wird, zugleich aber leichter auflösbar ist, lässt sich nicht bestreiten. Von voller Rechtskraft muss man noch sprechen, solange die Entscheidung erst unter strengen Bedingungen auflösbar ist (s. o. Kap. 1 A. I. [S. 330 f.]). Aus unserer Perspektive muss deshalb nur versucht werden, die innere Logik der gesetzlichen Regelung anhand der hier dargebotenen Theorie auszuleuchten. Volle Rechtskraft folgt aus der Überschreitung der vollen Verdächtigungstiefe (s. o. E. II. [S. 741 ff.]), also aus der Gewinnung der Entscheidungsgrundlage und aus der Akutisierung der Gefahr einer Verurteilung und Bestrafung des Verfolgten (s. o. E. III. 2. d) [S. 747 ff., 752]). Auf den ersten Blick scheint bei einem Strafbefehl, der „Beschluss mit Schuld- und Rechtsfolgenausspruch“ ist,3263 ein solcher Punkt notwendig überschritten zu sein. Der Schein trügt indes. Denn wäre dies der Fall, dann müsste die Entscheidung, die den Erlass des Strafbefehls ablehnt, ein vollrechtskräftiger, insofern freispruchsgleicher Beschluss sein, da die Bestrafungsgefahr ein Prognoseurteil verkörpert, an deren Richtigkeit Nachträgliches nichts verändern kann. Das Gesetz selbst bestimmt aber, dass der Beschluss, der den Erlass des Strafbefehls ablehnt, dem Nichteröffnungsbeschluss gleichsteht (§ 408 Abs. 2 S. 2 StPO).3264 Somit hat der Gesetzgeber die sonderbare, soweit ersichtlich selten bemerkte Situation geschaffen, dass ein Richter hier zwar verurteilen, nicht aber freisprechen darf. Man kann sich fast an den alten Satz erinnern, dessen Richtigkeit hier nicht behauptet wird, dass: „Nemo qui condemnare potest, absolvere non potest“.3265 Eine derartige Asymmetrie, die den Verdacht entstehen lässt, dass hier eine Verletzung des Rehabilitierungsrechts des Beschuldigten vorliegen könnte, muss aufgelöst werden. Die Lösung besteht darin, zuzugeben, dass die volle Rechtskraft des Strafbefehls nicht darauf beruhen kann, dass er erst nach Erreichung der vollen Verdächtigungstiefe verhängt wird. Vielmehr besteht wegen der Befugnis des Beschuldigten, die Hauptverhandlung durch seinen Einspruch (§ 410 StPO) zu erzwingen, aus seiner Perspektive keine gefährlichere Situation als die eines Eröffnungsbeschlusses. Die Einspruchsmöglichkeit versetzt den Beschuldigten in die Lage, die bisher noch vorliegenden Entscheidungsgrundlagen als solche aufzulösen und die Gefahr der Verurteilung um einen Schritt nach hinten zu schieben. Dass der Gesetzgeber sich entschieden hat, diesem „Eröffnungsbeschluss“ mit Verurteilung und Strafe eine volle Rechtskraftwirkung zuzuerkennen, beruht 3261 Siehe unmittelbar nach Erlass der Gesetzesänderung Meurer, JuS 1987, S. 886; Kirch, Strafbefehlsverfahren, S. 64; Meyer-Goßner, NJW 1987, S. 1167 f.; später Ranft, Strafprozeßrecht, Rn. 2328; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 68 Rn. 13. 3262 Detmer, Begriff der Tat, S. 344. 3263 Kleinknecht, FS Bruns, S. 483, 3264 Siehe auch BayObLG NStZ 1983, 418. 3265 Dig. 50, 17, 37, zit. nach Frhr. von Löw, Einleitung, S. 233.

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also nicht auf Gründen zwingenden Rechts, sondern auf der Billigkeit im weiten Sinne. Auch die Rechtskraftregelung des § 153a StPO beruht, wie o. 7. (S. 806) dargelegt wurde, nicht auf zwingendem Recht. Die verfassungsorientierte Argumentation sollte nicht den Blick dafür trüben, dass die Sachen sehr wohl unterschiedlich geregelt werden dürften. Würde man nämlich – was zugegeben nicht zu erwarten ist, dennoch logisch möglich bleibt – § 153a StPO streichen, entfiele eine wichtige Grundlage für die auf Art. 3 Abs. 1 GG basierende Argumentation. Der Gesetzgeber hat sich insbesondere aus Gründen der Ressourcenschonung dafür entschieden, die häufigere Straflosigkeit von Vergehen hinzunehmen, und diese Entscheidung muss selbstverständlich respektiert werden. Aus Gründen des strengen Rechts wäre der Gesetzgeber in der Tat nur dazu gezwungen, so weit zu gehen, wie das Reichsgericht auch gegangen ist,3266 also beschränkte Rechtskraft in der Form der Rechtskraft rebus sic stantibus zu gewähren. Das zusätzliche Erfordernis der erhöhten Strafbarkeit war auch gut begründet, denn die Straferduldungsschuld hat nur das crimen, nicht das factum zum Gegenstand; und weil kein voller Prozess erduldet worden ist, ist die Prozesserduldungsschuld auch nicht getilgt. Dies sind keine de lege lata folgenlosen Erwägungen. Vielmehr liefern sie die allein haltbare Erklärung dafür, dass die volle Rechtskraft leichter auflösbar sein kann (§ 373a StPO). Denn versteht man die Rechtskraft zum großen Teil als individuelles Recht des Verfolgten (auf Rehabilitierung und Schuldtilgung), dann kann dieses Recht nicht davon abhängig sein, ob der Staat bei seiner Wahrheitsermittlung sorgfältig oder sorglos vorgegangen ist, ob er sich einer Hauptverhandlung oder – in den Worten Bindings, der für das Strafbefehlsverfahren nicht gerade schwärmte3267 – „dieses ganzen würdelosen Verfahrens“ 3268 bedient (s. o. C. II. 1. [S. 713 ff.]). Die Ersparnisse des Staates gehen den Beschuldigten gar nichts an. Dieses Argument führt aber nicht nur dazu, dass die Zuverlässigkeit der Kognitionsmethode für die Bestimmung des Strafklageverbrauchs irrelevant sein muss, sondern ebenfalls dazu, dass sie keinerlei Bedeutung bei der Begründung einer Wiederaufnahme zuungunsten haben kann (s. u. D. VI. 4. [S. 989 ff.]). 10. Sonstige prozessabschließende Entscheidungen Meinungsverschiedenheiten gibt es noch über eine Vielzahl weiterer prozessabschließender Entscheidungen. Ein Problem ist hier, dass es häufig mehr um 3266 Von den Ausreißern der Korrektur von Subsumtionsfehlern abgesehen (s. o. Fn. 3249 f.). 3267 Binding, LZ 1917, Sp. 503: „Ein Verfahren, noch viel schlechter wie selbst der sog. summarische Inquisitionsprozeß, bei dem doch immer eine Vernehmung des Angeschuldigten stattfand, ist das moderne Inquisitionsverfahren, das auf Erlaß eines amtsrichterlichen Strafbefehls . . . abzielt.“ 3268 Binding, LZ 1917, Sp. 503.

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Fragen der formellen als der materiellen Rechtskraft geht. Nur zu Ersterer soll hier etwas ausgesagt werden. Verfahrensbeendigungen, die im Rahmen eines Rechtsmittels erfolgen, das gegen Urteile gerichtet ist, also Berufungen und Revisionen erfolgen grundsätzlich immer nach Überschreitung der Schwelle zur vollen Verdächtigungstiefe. Bei Einstellungen aus Gründen der Opportunität oder wegen Prozesshindernissen sind dieselben Erwägungen einschlägig, die o. 3.–5. (S. 788 ff.) entwickelt worden sind. Allgemein wird angenommen, dass beim Verwerfungsbeschluss wegen Unzulässigkeit gem. § 349 Abs. 1 StPO eine nachträgliche Korrektur tatsächlicher Fehler möglich bleibt;3269 für den Verwerfungsbeschluss wegen offensichtlicher Unbegründetheit gem. § 349 Abs. 2 StPO, der in volle, urteilsgleiche Rechtskraft erwachsen soll,3270 soll das hingegen unzulässig sein.3271 Die Frage der Rücknehmbarkeit dürfte eher die formelle als die materielle Rechtskraft betreffen; hinsichtlich Letzterer, also der strafklageverbrauchenden Wirkung, wird es auf die allgemeinen Regeln ankommen, so dass regelmäßig bei beiden Beschlüssen eine erneute Verfolgung unzulässig sein wird. Gleiches muss für den Beschluss gem. § 349 Abs. 4 StPO gelten.3272 Auch der Freisprechungsbeschluss im Rahmen des Wiederaufnahmeverfahrens (§ 371 StPO) erwächst in volle Rechtskraft.3273 Der Beschluss, einen Antrag auf Wiederaufnahme als unzulässig abzulehnen (§ 368 Abs. 1 StPO), verbraucht nur das Wiederaufnahmevorbringen.3274 Gelegentlich wird die Differenzierung hinzugefügt, dass dies nur bei sachlicher Prüfung der Fall sei.3275 Auf vorliegender Grundlage ist diese Differenzierung indes nur bei der Wiederaufnahme zugunsten am Platze. Bei der Wiederaufnahme zulasten ist das ebenso wenig der Fall wie beim Nichteröffnungsbeschluss wegen mangelnder Prozessvoraussetzung (s. o. II. 2. [S. 788 ff.]).

3269 Dafür RGSt 59, 419 (420); BGH NJW 1951, 771; OLG Jena NStZ-RR 1997, 10; Meyer-Goßner, StPO § 349 Rn. 23a; mit Einschränkungen Gericke, KK-StPO § 349 Fn. 46, 47. 3270 BGHSt 17, 94 (95, 97); BGH MDR 1956, 52 (53); R. Schmitt, JZ 1961, S. 17 f.; Geppert, GA 1972, S. 174 ff.; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 235 ff.; Meyer-Goßner, StPO § 349 Rn. 24. 3271 BGHSt 17, 94 (97); Gericke, KK-StPO § 349 Fn. 46, 47; Meyer-Goßner, StPO § 349 Rn. 24. 3272 Gericke, KK-StPO § 349 Fn. 46, 47. 3273 Henkel, JZ 1956, S. 504; Gössel, LR-StPO § 371 Rn. 31; Hohmann, in: R/HStPO § 371 Rn. 13. 3274 OLG Braunschweig NJW 1966, 993 (994); HansOLG Hamburg JR 2000, 380; Oster, Rechtskraft, S. 55 f.; Loos, AK-StPO § 372 Rn. 9; Gössel, JR 2000, S. 383; ders. LR-StPO § 372 Rn. 22 m.w. Nachw. Fn. 700 (zugleich zur Verwerfung des Wiederaufnahmeantrags wegen mangelnder Begründetheit); W. Schmidt, KK-StPO § 368 Rn. 20. Ebenso die Bestimmung von Art. 465 portStPO. 3275 Rieß, NStZ 1981, S. 275; Stern, NStZ 1993, S. 412.

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III. Prozessbeendigung durch die Staatsanwaltschaft Hiermit können wir uns der zweiten großen Gruppe prozessabschließender Entscheidungen des deutschen Strafverfahrensrechts zuwenden, nämlich den staatsanwaltschaftlichen. Das klassische Konzept macht es sich einfach: Es misst ihnen überhaupt keine Rechtskraft zu.3276 Das hier entwickelte rehabilitierungsorientierte Modell kommt zu einem diametral entgegengesetzten Ergebnis: Für den Strafklageverbrauch darf es überhaupt keinen Unterschied machen, ob der Prozess durch die Hände eines Staatsanwalts oder eines Richters seinen Abschluss findet. Dies wäre aus einer Perspektive, die ihn in erster Linie als Ausgleich für die Belastung des Verfahrens deutet, erst dann möglich, wenn die Entscheidung durch eine unabhängige, neutrale Instanz den Betroffenen mehr belasten würde als die Entscheidung durch eine weisungsgebundene und, wegen des moralischen Gewichts der Verdächtigung, notwendigerweise nicht neutrale Instanz. Es kommt also auch bei staatsanwaltschaftlichen Entscheidungen allein darauf an, ob sie in einer Phase des Verfahrens erfolgen, in der die Verurteilungsund Bestrafungsgefahr sich schon akutisiert hat (dann volle Rechtskraft), oder in einer Phase, in der wenigstens eine gegen den Betroffenen gerichtete Verdächtigung formuliert worden ist (dann beschränkte Rechtskraft in Form der rebus sic stantibus Rechtskraft). Beginn der Beweisaufnahme und Inkulpation sind auch hier die maßgeblichen Schwellen; anhand dieser Kriterien sollen die einzelnen staatsanwaltschaftlichen Entscheidungen näher betrachtet werden. 1. Die Einstellung wegen mangelnden hinreichenden Tatverdachts (§ 170 Abs. 2 StPO) a) Zu den Rechtskraftwirkungen der Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft gem. § 170 Abs. 2 StPO schweigt das positive Recht. Die herrschende Meinung nimmt an, dass überhaupt kein Strafklageverbrauch eintritt.3277 Der Beschluss soll „beliebig abänderlich“ sein:3278 Nicht erst das Auftauchen neuen

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Siehe oben Fn. 2856. RGSt 67, 315 (316); BGH NStZ-RR 2012, 102 Nr. 26; OLG Hamm VRS 58, 33; LG Gießen StV 1984, 327; M. Berner, Ne bis in idem, S. 4; v. Kries, Lehrbuch, S. 485; Delius, GA 1895, S. 186; Birkmeyer, Strafprozeßrecht, S. 596; Schlosky, GA 1927, S. 288; Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 357; Peters, ZStW 68 (1956), S. 382; ders. Strafprozeß, S. 467; Eb. Schmidt, MDR 1964, S. 631; Tiedemann, JR 1964, S. 7; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 315; Gantzer, Rechtskraft, S. 130 Fn. 434; Gössel, Strafverfahrensrecht, S. 98; Loos, JZ 1978, S. 594; Bloy, GA 1980, S. 162 Fn. 3, S. 164; Peters, Strafprozeß, S. 461; Geppert, Jura 1986, S. 312; Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 291; Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 21 Fn. 1; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 656; Schmid, KK-StPO § 170 Rn. 23; s. a. Görcke, ZStW 73 (1961), S. 580. Von einer „einhelligen Ansicht“ sprach noch Neu-Berlitz, Bestandskraft, S. 1, m.w. Nachw. in Fn. 4. 3278 v. Kries, Lehrbuch, S. 485. 3277

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Materials,3279 sondern auch eine Neubewertung der Sach- und Rechtslage,3280 gleichgültig, ob sie auf einem äußeren Anlass beruht, wie etwa einem Wechsel des Sachbearbeiters,3281 einer Rechtsprechungsänderung3282 oder einer Weisung (§ 145 GVG),3283 oder ob der Sachbearbeiter seine frühere Auffassung aus eigener Initiative neu überlegt, machen eine erneute Entscheidung möglich. Das Ergebnis erscheint dermaßen evident, dass man sich häufig nicht einmal die Mühe gibt, es zu begründen.3284 Ein wichtiges formelles Argument ist ein positivrechtlicher Umkehrschluss aus § 174 Abs. 2, § 211 StPO: Da das Gesetz nur richterlichen Entscheidungen beschränkte Rechtskraft zuspricht, dürfe man annehmen, dass staatsanwaltschaftliche Entscheidungen einer solchen Wirkung bar seien.3285 Dieses Argument ist indes schwach.3286 Ob ein Umkehrschluss oder eine Analogie statthaft sind, lässt sich nicht anhand des Gesetzestextes, sondern erst auf Grundlage einer inhaltlichen Erwägung erkennen. Eine solche könnte das im vorliegenden Zusammenhang häufig herangezogene Legalitätsprinzip liefern.3287 Das Problem ist aber, dass dieser Gesichtspunkt zu einem Zirkel führt. Denn es besteht keine Pflicht, auch dann Klage zu erheben, wenn sie verbraucht ist. Man muss also bereits wissen, ob sie verbraucht ist, bevor man behaupten kann, das Legalitätsprinzip gebiete ihre Erhebung. Die für die h. A. maßgeblichen materiellen Argumente haben wir bereits o. C. II. 3. (S. 723 ff.) bei der Kritik an dem subjektiven Erfordernis des herrschenden Rechtskraftkonzepts zur Kenntnis genommen. Sie alle lassen aber außer Acht, dass sich aus der mangelnden Einschaltung eines neutralen Richters kein Vorteil für den verfolgenden Staat und kein Nachteil für das verfolgte Individuum ableiten lassen sollten. b) Allmählich macht sich aber eine Tendenz spürbar, für eine gewisse Bestandskraft der staatsanwaltschaftlichen Einstellung gem. § 170 Abs. 2 StPO zu plädieren.

3279 v. Kries, Lehrbuch, S. 485 f.; Birkmeyer, Strafprozeßrecht, S. 596; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 315. 3280 v. Kries, Lehrbuch, S. 486; Oster, Rechtskraft, S. 10; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 315. 3281 Peters, Strafprozeß, S. 462. 3282 Peters, Strafprozeß, S. 461. 3283 v. Kries, Lehrbuch, S. 486; Birkmeyer, Strafprozeßrecht, S. 516; Oster, Rechtskraft, S. 10; Loos, JZ 1978, S. 594. 3284 Richtig Neu-Berlitz, Bestandskraft, S. 20; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 272. 3285 Delius, GA 1895, S. 186; Loos, JZ 1978, S. 594; Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 291. 3286 Im Erg. auch Radtke, Strafklageverbrauch, S. 277 f. 3287 Eb. Schmidt, MDR 1964, S. 631; Loos, JZ 1978, S. 594, 599; krit. Neu-Berlitz, Bestandskraft, S. 27; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 153 f., 360 ff., dessen Replik dem Legalitätsprinzip eigentlich jede Bedeutung abspricht.

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aa) Einer der Ersten war hier Rieß, der willkürliche Meinungsänderungen dadurch ausschließen möchte, dass er für die Erneuerung der Verfolgung einen sachlich einleuchtenden Grund fordert.3288 Diese Sichtweise kann nicht für falsch erklärt werden; ob sie aber einen nennenswerten Unterschied zur herrschenden Auffassung bedeutet, ist zweifelhaft, wenn man bedenkt, dass das Willkürverbot ein allgemeiner Rechtsgrundsatz ist, dessen Geltung für jedes staatliche Handeln auch von der h. A. nicht in Frage gestellt wird. Es fragt sich ferner, was ein sachlich einleuchtender Grund ist, wann er nicht mehr vorhanden sein sollte; denn grundsätzlich wird man sogar für die schlichte Änderung einer Rechtsauffassung anführen können, dass die neue Auffassung die allein rechtsgemäße sei, und es ist unklar, ob und weshalb dies als sachlich einleuchtender Grund nicht mehr ausreichen sollte. bb) (1) Es mehren sich Stimmen, die aus einem Seitenblick in das Verwaltungsrecht und in die dortigen Regeln zur Bestandskraft begünstigender Verwaltungsakte Einfälle für eine Neubestimmung der Rechtskraft bei staatsanwaltschaftlichen Einstellungsentscheidungen zu gewinnen hoffen. Loos, der wohl als Erster im vorliegenden Zusammenhang auf den öffentlich-rechtlichen Gedanken des Vertrauensschutzes hingewiesen hat, hat noch gezögert, daraus eine erhöhte Bestandskraft der Einstellung wegen fehlenden hinreichenden Verdachts abzuleiten. Da es um eine bloß vorläufige Entscheidung gehe, bestehe kein tauglicher Vertrauensgegenstand.3289 Der Gedanke wurde aber von Neu-Berlitz aufgegriffen. Auf Grundlage des staatsrechtlichen Vertrauensschutzprinzips,3290 das als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips bindende Anforderungen an das Strafverfahrensrecht stelle,3291 schlägt sie eine „verfassungskonforme Auslegung“ der Regelungen der Rechtskraft staatsanwaltschaftlicher Verfügungen vor.3292 Es gebe einen Konflikt zwischen den Interessen des Beschuldigten und der Staatsanwaltschaft. Wegen der vielen Belastungen durch das Ermittlungsverfahren3293 habe der Beschuldigte ein anerkennungswürdiges Interesse an einer abschließenden Entscheidung.3294 Die Staatsanwaltschaft habe dagegen ein Interesse daran, ihre auf unzureichender Grundlage getroffene Entscheidung korrigieren zu dürfen.3295 Der Konflikt sei aber durch den Vertrauensgrundsatz zu überwinden: „Der vormals Beschuldigte muß sich darauf verlassen können, daß die einmal gegebene

3288 Rieß, FS Schäfer, S. 197; ders. NStZ 1981, S. 9; ihm folgend Hilger, JR 1985, S. 95; Kühne, JZ 2004, S. 744. 3289 Loos, JZ 1978, S. 594. 3290 Neu-Berlitz, Bestandskraft, S. 33 ff. 3291 Neu-Berlitz, Bestandskraft, S. 39. 3292 Neu-Berlitz, Bestandskraft, S. 48. 3293 Neu-Berlitz, Bestandskraft, S. 48 ff. 3294 Neu-Berlitz, Bestandskraft, S. 52 f. 3295 Neu-Berlitz, Bestandskraft, S. 56 f.

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Begründung der Staatsanwaltschaft bindend ist.“ 3296 Weil es um den Schutz des Vertrauens des Beschuldigten geht, ist eine „Vertrauensgrundlage“ erforderlich, nämlich die Mitteilung der Einstellungsgründe.3297 Neu-Berlitz leitet eine Mitteilungspflicht aus der Menschenwürde und dem im Rechtsstaatsprinzip verankerten Rechtssicherheitsgedanken ab.3298 Inkonsequent räumt sie aber ein, dass es Fälle gibt, in denen das öffentliche Interesse einer Begründung entgegenstehe3299 – womit das öffentliche Interesse der Menschenwürde übergeordnet wird. Zusätzlich fordert sie einen „Vertrauenszustand“, nämlich dass der Betroffene auf den Bestand der Entscheidung tatsächlich vertraut hat. Dies sei nicht gegeben, wenn er die Entscheidung durch unlautere Mittel erwirkt hat oder er ihre Fehlerhaftigkeit objektiv kennt.3300 Das heißt, dass eine Veränderung der Einstellungsentscheidungen grundsätzlich neue Tatsachen oder Beweismittel erfordert.3301 Weil aber die Entscheidungsgründe die Grundlage des Vertrauens darstellten, könnten auch Gesichtspunkte, die bekannt waren, aber keinen Eingang in die Begründung gefunden haben, ein erneutes Aufgreifen rechtfertigen.3302 Den elaboriertesten Versuch bietet hier noch einmal Radtke. Er wendet sein für richterliche Entscheidungen entwickeltes Modell (s. o. D. IV. [S. 736 ff.]) auch auf staatsanwaltschaftliche Verfügungen an.3303 Eine Begründung für diese Erweiterung erblickt er im Gleichbehandlungsgebot und im verfassungsrechtlichen Prinzip des Vertrauensschutzes, dem er entnimmt, dass das Vertrauen des Beschuldigten in die Bestandskraft einer staatsanwaltschaftlichen Einstellungsverfügung grundsätzlich schutzwürdig sei.3304 Er argumentiert anschließend in zwei Schritten: Zuerst sei von einer Gleichbehandlung von Einstellungen nach § 170 Abs. 2 StPO und den Opportunitätseinstellungen auszugehen, weil es bei beiden um wertende Entscheidungen mit erheblichen Spielräumen gehe.3305 Die Einstellungsverfügung nach § 170 Abs. 2 StPO beruhe ihrerseits auf gleichen Voraussetzungen wie richterliche Einstellungsbeschlüsse nach §§ 174 Abs. 1, 204 StPO, so dass sich eine Gleichbehandlung hinsichtlich der Sperrwirkung rechtfertige.3306 Jedoch sieht sich Radtke durch den eindeutigen Willen des Gesetzgebers gehindert, diese Schlussfolgerung bereits de lege lata zu ziehen.3307 3296 3297 3298 3299 3300 3301 3302 3303 3304 3305 3306 3307

Neu-Berlitz, Bestandskraft, S. 578. Neu-Berlitz, Bestandskraft, S. 60 ff. Neu-Berlitz, Bestandskraft, S. 62 f. Neu-Berlitz, Bestandskraft, S. 63. Neu-Berlitz, Bestandskraft, S. 65. Neu-Berlitz, Bestandskraft, S. 58 f. Neu-Berlitz, Bestandskraft, S. 69 f. Radtke, Strafklageverbrauch, S. 366. Radtke, Strafklageverbrauch, S. 356 ff. Radtke, Strafklageverbrauch, S. 364 f. Radtke, Strafklageverbrauch, S. 365. Radtke, Strafklageverbrauch, S. 379 f.

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Zuletzt sei noch Kühne erwähnt, der bei einem „Einstellungsversprechen“ der Einstellung aus Vertrauensschutzerwägungen eine bestimmte Bestandskraft zuerkennen möchte.3308 (2) Wenn auch diese Bemühungen in eine zu billigende Richtung weisen, beruhen sie auf Grundlagen, die aus mehreren Gründen verfehlt sind. (a) Zuerst ist die Berufung auf Vertrauen inhaltsleer, was hier schon daran ersichtlich wird, dass sich auf der einen Seite Loos auf den Gedanken beruft, um der Einstellung gem. § 170 Abs. 2 StPO jede Bestandskraft abzusprechen, andererseits Neu-Berlitz und Kühne daraus die entgegengesetzte Schlussfolgerung ziehen. Dies beruht schlicht darauf, dass Vertrauen per se rechtlich unbeachtlich ist. Erst schutzwürdiges Vertrauen hat rechtliche Bedeutung, und die Frage, ob dies der Fall ist, müsste erst beantwortet werden. Es besteht deshalb die Gefahr, im Kreise zu argumentieren. Der Zirkel wird besonders deutlich, wenn Loos sagt, die Entscheidung sei vorläufig und deshalb kein Vertrauensgegenstand. Aber auch Neu-Berlitz, die der Mitteilung von Entscheidungsgründen eine Bindungswirkung zumisst, bleibt im Zirkel verhaftet: Denn ob diesen Gründen eine solche Bindungswirkung zukommt, ob sie mehr sind als bloße Nachrichten,3309 ist gerade die Frage. Dafür spricht nicht zuletzt, dass, wie Neu-Berlitz selbst einsieht, nicht immer eine derartige Mitteilung erforderlich ist. Heißt das also, dass der Staat umso weniger gebunden ist, je weniger transparent er handelt, je weniger er über seine Machtausübung Rechenschaft ablegt? Auch in der Begründung von Kühne ist der Zirkel unüberschaubar: Denn wirksam kann ein Versprechen nur sein, wenn das Versprochene zulässig ist; ein Versprechen des Staatsanwalts, einen auf frischer Tat gefassten Mörder nicht zu verfolgen, ist unverbindlich. (b) Wichtiger noch ist aber, dass die Anleihe bei dem öffentlichen Recht und seinem Vertrauensschutzprinzip im vorliegenden Zusammenhang fehl am Platze ist. Es geht bei der Rechtskraft nicht um Schutz des Vertrauens (s. o. Kap. 1 C. II. [S. 347 ff.]), sondern in erster Linie um Ausgleich für die Prozesserduldung (s. o. Kap. 1 D. [S. 371 ff.]). Deshalb kann es nicht auf einen „Vertrauenszustand“ ankommen: Fast jeder Schuldige weiß, dass er schuldig ist, und wird deshalb nicht auf den Bestand einer angesichts seiner Schuld notwendig verbesserungsfähigen Einstellungsentscheidung vertrauen können.3310 Es kann nicht dringend genug vor einem Einzug des Vertrauensschutzgedankens in die strafprozessuale Rechtskraftlehre gewarnt werden: Der Vertrauensschutzgedanke erodiert die Rechtskraft, macht aus ihr ein Recht bloß des Unschuldigen und führt in letzter Konsequenz zurück zur schwachen Rechtskraft des gemeinrechtlichen Inquisitionsver3308 3309 3310

Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 602 f. Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 291. Siehe auch Radtke, Strafklageverbrauch, S. 279 und o. Fn. 1342.

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fahrens (s. o. Kap. 1 C. VII. [S. 362 ff.]). Dessen Ergebnisse sind zwar historisch mit der materiellen Wahrheit bzw. mit der Gerechtigkeit begründet worden; der Vertrauensschutzgedanke würde sie aber ebenfalls stützen können, denn es leuchtet ein, dass niemand auf den Bestand einer Entscheidung vertrauen darf, deren unwahre Grundlagen er kennt. d) Der hier einzuschlagende Weg ist ein ganz schlichter; nach dem, was o. E. III. 3. b) (S. 767 ff.) ausgeführt worden ist, ist er auch bereits vorgezeichnet. Die Einstellungsentscheidung, die nach einer Inkulpation erfolgt, muss immer in Rechtskraft rebus sic stantibus erwachsen. Derjenige, der jemanden verdächtigt, muss gewissenhaft vorgehen. Er muss deshalb aus allen ihm bereits bekannten Tatsachen die passenden Schlussfolgerungen ziehen. Reicht das nicht, um eine Anklageerhebung zu rechtfertigen, muss eingestellt werden; dann aber kann die Sache erst bei Bekanntwerden neuer Tatsachen oder Beweismittel wieder aufgegriffen werden. Nur die Einstellung eines gegen Unbekannt durchgeführten Ermittlungsverfahrens lässt unbeschränktes Neuaufgreifen zu. e) Was bleibt, ist nur die Absicherung des eigenen Standpunkts, indem man den zu erwartenden Einwänden zuvorkommt. aa) Zunächst könnte man die Praktikabilität der behaupteten Thesen in Frage stellen. Die Einstellung mangels hinreichenden Verdachts (und auch die Opportunitätseinstellungen im Vorverfahren) wird regelmäßig ohne Begründung getroffen (Nr. 88 RiStBV; anders beim Nichteröffnungsbeschluss, § 204 Abs. 1 StPO), so dass man nicht richtig weiß, auf welchen faktischen und rechtlichen Grundlagen die Entscheidung beruht. Ein Großteil der Einstellungsentscheidungen (e contrario § 170 Abs. 2 S. 2 StPO) muss dem Betroffenen nicht einmal mitgeteilt werden, so dass er nicht einmal erfährt, dass gegen ihn ein Ermittlungsverfahren durchgeführt worden war. Wie soll sich der Beschuldigte gegen ein erneutes Ermittlungsverfahren zur Wehr setzen, wenn er häufig nicht einmal von der Einstellung des früheren Verfahrens erfahren hat? Dass dies aber keine Gründe sind, um dem Verfolgten sein Rehabilitierungsrecht abzusprechen, liegt auf der Hand und wurde bereits o. D. IV. (S. 739 f.) in Auseinandersetzung mit Radtke hervorgehoben. Dort wurde auch daran erinnert, dass die Prüfung der Neuheit der Tatsachen oder Beweismittel nicht durch einen Vergleich mit der Entscheidungsbegründung, sondern auch mit den Verfahrensakten durchgeführt werden muss, da nicht neu nicht bloß die Tatsachen sind, die nicht berücksichtigt worden sind, sondern die, die bekannt, also aktenkundig waren. Zuletzt ist die Möglichkeit, dass der Betroffene von einem früheren Ermittlungsverfahren und deshalb von einem bestehenden Rehabilitierungsrecht nicht einmal weiß, so dass er hilflos auf den guten Willen des Staatsanwalts und seines Eröffnungsrichters angewiesen ist, kein Grund, ihm auch dieses Recht zu verweigern. Vielmehr ist dies ein wichtiges, weiteres Argument dafür, dass ein sich völlig hinter dem Rücken des Verfolgten entfaltendes Ermittlungsverfahren eine

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unerträgliche Erscheinung ist.3311 Wenn man aus verständlichen Gründen („Gefährdung des Untersuchungszwecks“) den Beschuldigten nicht zu früh in die Sache einweihen möchte, müssen andere Kontrollmechanismen eingeführt werden, etwa eine Proto-Verteidigung.3312 Wie dem auch sei, das Fehlen eines Kontrollmechanismus darf niemals ein Grund sein, einem an sich begründeten Recht Anerkennung zu versagen, sondern vielmehr liefert das Recht einen Grund, einen Kontrollmechanismus einzuführen. bb) Auch ein rechtspolitischer Einwand liegt nahe: Wenn der staatsanwaltschaftlichen Einstellung gem. § 170 Abs. 2 StPO eine rebus sic stantibus Rechtskraft zugemessen wird, ist dann nicht zu befürchten, dass Verfahren einfach nicht formell eingestellt, sondern in der Schwebe gehalten würden? Dass diese Gefahr bestünde, möchte ich nicht bestreiten. Sie wäre aber aus mehreren Gründen kein beachtliches Gegenargument gegen die hier vertretene Auffassung. Erstens sollte man sich fragen, weshalb die Staatsanwaltschaft die Sache lieber unentschieden lassen würde, wenn bereits neue Tatsachen oder Beweismittel die Fortsetzung der Verfolgung gestatten. Nur bei unklaren Rechtsfragen könnte dies anders sein; aber gerade hier liefert die vorliegende Auffassung ein willkommenes Motiv dafür, dass der sachbearbeitende Staatsanwalt sich vor seiner Einstellungsentscheidung gut informiert. Zweitens sind nicht eingestellte einstellungsreife Ermittlungsverfahren bereits heute ein Problem, das Gegenstand einer besonderen Diskussion ist. Vielfach wird deshalb eine Einstellungspflicht für den Fall postuliert, dass sich der Anfangsverdacht nicht zum hinreichenden Verdacht verdichtet.3313 Dass die h. M. eine solche Pflicht entweder nicht anerkennt oder nicht für justiziabel hält,3314 muss uns nicht stören. cc) Was bleibt, ist also höchstens das vage Gefühl, dass die hier vertretene Auffassung nicht richtig sein könne. Dieses Gefühl beruht aber schlicht darauf, dass man es nicht anders kennt (s. o. E. III. 2. a) [S. 761]). Die Erweiterung des Blickfelds erweist sich deshalb als besonders bereichernd. (1) Es ist bemerkenswert, dass der vorliegende Standpunkt in der deutschen Reformdiskussion gerade von einigen vertreten worden ist, die für die Abschaf3311 Im Sinne einer möglichst frühzeitigen Unterrichtung des Beschuldigten Rieß, FS Geerds, S. 513 f.; E. Müller, Einleitungsverfügung, S. 681 ff., der sogar für eine formalisierte und begründete Einleitungsverfügung der Staatsanwaltschaft plädiert. 3312 Grdl. Schünemann, etwa GA 2008, S. 333 f.; ders. ZIS 2009, S. 493. 3313 Neu-Berlitz, Bestandskraft, S. 56; Rieß, FS Geerds, S. 506, 515 ff.; ders. FS Roxin I, S. 1324 ff. (der de lege ferenda für ein Einstellungserzwingungsverfahren eintritt); Füßer/Viertel, NStZ 1999, S. 116 ff. (die bereits de lege lata für einen Rechtsschutz im Wege der Untätigkeitsklage gem. § 27 EGGVG plädieren); Satzger, 64. DJT, S. C 80 ff. (auch für die Einführung eines Einstellungserzwingungsverfahrens). In Österreich ist die Möglichkeit der Einstellungserzwingung gesetzlich vorgesehen (§ 108 östStPO), hierzu Miklau, FS Böttcher, S. 131 ff. 3314 BVerfG NStZ 1984, 228 (229); ansatzweise and. BGHZ 20, 178 (181 f.); dezidiert and. Terbach, Einstellungserzwingungsverfahren, S. 108 ff., 168 ff.

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fung der Voruntersuchung plädierten. Der E 1919, der die damals noch vorhandene gerichtliche Voruntersuchung abzuschaffen vorschlug, wies im Gegenzug der Einstellung durch die Staatsanwaltschaft im Vorverfahren dieselbe Sperrwirkung zu wie der Außerverfolgungssetzung.3315 (2) Es sei auch erwähnt, dass der hier vertretene Standpunkt im Wesentlichen auch der Regelung des österreichischen Rechts entspricht (§ 193 Abs. 2 östStPO), und dass in Italien die Frage umstritten ist.3316 Am interessantesten erscheint hier aber der Beitrag der portugiesischen Literatur, auf den ich etwas näher eingehen möchte. Correia argumentiert u. a. auf Grundlage des klassischen Rechtskraftkonzepts: Im Grunde sei die Einstellungsentscheidung wegen Fehlens des hinreichenden Verdachts eine an die Staatsanwaltschaft delegierte richterliche Entscheidung,3317 der deshalb dieselbe Wirkung zukommen müsse wie einer Außerverfolgungsetzung bzw. einem richterlichen Nichteröffnungsbeschluss: Erst nova rechtfertigen ihre Revidierung.3318 Als zweites Argument führt er die ansonsten hilflose Lage des Beschuldigten an, der jederzeit wieder mit einer Fortsetzung des Verfahrens rechnen müsse.3319 Figueiredo Dias stimmt dem ersten Argument zu3320 und beruft sich zusätzlich auf den Disziplinierungsgedanken,3321 den wir o. Teil 1 Kap. 1 A. II. 6. (S. 83 f.), Teil 2 Kap. 1 C. VI. (S. 358 ff.) abgelehnt haben. Als weiteres Argument führt er die im Ermittlungsverfahren verkörperte Belastung des Beschuldigten an,3322 was unserer Begründung bereits nahesteht, und übersieht nicht die Kardinalfrage, die in Systemen, die vom Modell des Untersuchungsrichters zum Modell des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens

3315 Goldschmidt, JW 1920, S. 239. Es ist bemerkenswert, dass sogar ein Vertreter der „Strafprozesserneuerung“ wie Niederreuther, DJ 1936, S. 772 die Frage nicht ungestellt ließ, ob die von den nationalsozialistischen Reformen vorgesehene Abschaffung der gerichtlichen Voruntersuchung nicht eine beschränkte Rechtskraftwirkung der staatsanwaltschaftlichen Einstellungsverfügung zur Folge haben müsse; wegen des Weisungsrechts verneinte er sie aber. 3316 Siehe Art. 414 Abs. 1 itStPO, demzufolge bei einem staatsanwaltschaftlichen decreto di archiviazione (Art. 408 ff. itStPO), der sogar richterlicher Bestätigung bedarf (Art. 409 itStPO), eine Fortsetzung des Verfahrens bei „Bedarf neuer Ermittlungen“ (esigenza di nuove investigazioni) zulässig sein soll. Der Ausdruck wird überwiegend als Abwesenheit jeglicher Sperrwirkung verstanden (so etwa Tonini, Manuale, S. 567; Lozzi, Lezioni, S. 788 f., der dem krit. gegenübersteht; a. A. vor allem Dalia, Archiviazione, S. 141 f.; zum Streit Galantini, DDP XII [1997], S. 170 f., mit einer differenzierenden eigenen Auffassung); man darf aber nicht übersehen, dass die Fortsetzung des Verfahrens eine richterliche Entscheidung voraussetzt. 3317 Correia, RLJ 99 (1966), S. 49. 3318 Correia, RLJ 99 (1966), S. 50. 3319 Correia, RLJ 99 (1966), S. 50. 3320 Figueiredo Dias, Direito processual penal, S. 413. 3321 Figueiredo Dias, Direito processual penal, S. 418. 3322 Figueiredo Dias, Direito processual penal, S. 414 f.

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übergangen sind, besonders augenfällig ist: „ob der Beschuldigte nach der Einstellung deshalb geringeren Schutz verdient, weil diese von der Staatsanwaltschaft und nicht vom Richter angeordnet wird“.3323 Vor allem aber Cunha rückt die Stellung des Einzelnen in den Mittelpunkt seiner Argumentation:3324 Die Inkulpation charakterisiert er richtigerweise als einen belastenden, einseitigen Akt, der den Betroffenen „den Interessen der Rechtspflege ,unterordnet‘“.3325 Er beruft sich auf eine „Reziprozitätsregel“:3326 „Zum ,Beschuldigten‘ darf man nur dann jemanden erheben, wenn und soweit es möglich und zumutbar ist, über den betroffenen Bürger eine erschöpfende Ermittlung durchzuführen.“ 3327 Es werden auch noch interessante Zusatzargumente angeführt. Zuerst verweist er auf Wertungswidersprüche, die sich bei der Behandlung der Verjährung ergeben: Dadurch, dass sie durch die Inkulpation unterbrochen wird (in Deutschland s. § 78c StGB), steht derjenige, gegen den bereits ein Ermittlungsverfahren gerichtet worden ist, schlechter da als jemand, der von Anfang an nichts hat erdulden müssen.3328 Dass die Entscheidung nicht von einem Richter getroffen wird, erkennt er als Umstand, der nicht zuungunsten des Beschuldigten sprechen darf.3329 (3) Zuletzt könnte der Blick auf die parallel laufende europarechtliche Entwicklung die Bereitschaft erhöhen, nicht nur richterlichen Entscheidungen strafklageverbrauchende Wirkung zuzumessen. In der Gözutök-Entscheidung ging es um eine Einstellung mit Auflagen, ähnlich dem deutschen § 153a StPO, so dass die Annahme von Strafklageverbrauch aus deutscher Perspektive so besonders auch nicht erscheint.3330 Aus unserer Perspektive erscheint die Turansky-Entscheidung interessanter, in der es zu einer Einstellung durch die slowakische Polizei gekommen ist, eine Einstellung, die zudem nicht nur ohne Auflagen erfolgte, sondern sowohl die Strafbarkeit des Verhaltens des Beschwerdeführers bzw. Verjährung annahm als auch – etwas widersprüchlich – vor seiner Inkulpation erfolgte, da er nur als Zeuge vernommen worden war.3331 Eine solche Entscheidung sei deshalb keine „rechtskräftige Aburteilung“ i. S. v. Art. 54 SDÜ, weil ihr nach slowakischem Recht keine strafklageverbrauchende Wirkung zukam.3332 Bemerkenswert ist, dass das EuGH der Tatsache, dass es um eine polizeiliche Entscheidung ging, keinerlei Bedeutung zugesprochen hat.

3323 3324 3325 3326 3327 3328 3329 3330 3331 3332

Figueiredo Dias, Direito processual penal, S. 415. Cunha, Ne bis in idem, S. 559 f. (Fn. 4). Cunha, Ne bis in idem, S. 560. Cunha, Ne bis in idem, S. 559. Cunha, Ne bis in idem, S. 560. Cunha, Ne bis in idem, S. 560. Cunha, Ne bis in idem, S. 561. EuGH Rechtssache C-187/01 und C-385/01, v. 11.2.2003 Rn. 25 ff., insb. Rn. 31. EuGH Turansky, Rechtssache C-491/07, v. 22.12.2008, Rn. 22. EuGH Turansky (Fn. 3331), Rn. 31 ff., 39 f.

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e) Zusammengefasst: Die Einstellung gem. § 170 Abs. 2 StPO führt zu einer rebus sic stantibus Rechtskraft, sobald das Verfahren gegen einen bestimmten Beschuldigten und nicht bloß gegen Unbekannt durchgeführt worden ist. 2. Opportunitätsbezogene Einstellungen a) „Gratis“ Einstellungen im Vorverfahren (insb. § 153 Abs. 1 StPO; auch § 153b Abs. 1, § 153c Abs. 1, § 153d Abs. 1, § 153f Abs. 1, 2; § 45 Abs. 1 JGG) Anhand derselben Kriterien ist die Frage der strafklageverbrauchenden Wirkung von auf Opportunität beruhenden Einstellungsverfügungen zu lösen, deren Prototyp im deutschen Strafverfahrensrecht § 153 Abs. 1 StPO darstellt. Diese Entscheidungen bilden in Systemen, die kein Legalitäts-, sondern ein Opportunitätsprinzip kennen (z. B. Frankreich3333), sogar die Regel. Die Diskussionslage ist eher homogen: Nach ganz herrschender Auffassung kommt diesen Verfügungen keinerlei strafklageverbrauchende Wirkung zu.3334 Abweichende Auffassungen sind gelegentlich vorgeschlagen worden, Gefolgschaft konnten sie nicht finden. Diejenigen, die für ein erneutes Verfolgen einen „sachlich einleuchtenden Grund“ verlangen,3335 vertreten nicht wirklich eine andere Auffassung, da man der h. A. nicht die Ansicht unterstellen kann, sie würde sich für die Zulässigkeit sachlich unbegründeter, also willkürlicher Verfolgungen einsetzen (s. o. 1. [S. 818]). Loos hat versucht, aus dem Gedanken, dass die Bewertung des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung originäre Kompetenz der Staatsanwaltschaft sei, eine beschränkte Sperrwirkung abzuleiten: Die Entscheidung, die in Wahrnehmung dieser Kompetenz getroffen wird, dürfe hinsichtlich der Bewertung des öffentlichen Interesses nicht mehr verändert werden.3336 Ob dies auch dann der Fall sein müsse, wenn neue Tatsachen zur Kenntnis der Staatsanwaltschaft gelangen, lässt er offen.3337 Soweit ersichtlich treten nur Kühne und Radtke dezidiert für eine bestimmte Sperrwirkung ein: Sie möchten die Einstellung gem. § 153 Abs. 1 StPO gleich behandeln wie die Einstellung

3333

Vitu, Das französische Strafverfahren, S. 28 f. RGSt 67, 315 (316); BGH MDR 1954, 151; BGHSt 10, 104 (106 f., zu § 45 Abs. 1 S. 3 JGG a. F.); Bernsdorf, Legalitätsprinzip, S. 54; Schäfer, JR 1931, S. 176; Gantzer, Rechtskraft, S. 139 Fn. 434; Heinitz, JZ 1963, S. 132; Eb. Schmidt, Lehrkommentar, § 153 Rn. 17; Loos, JZ 1978, S. 594; Geppert, Jura 1986, S. 317; Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 298; Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 406.3; Trepper, Rechtskraft, S. 101; Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 21 Fn. 1; Schmid, KK-StPO § 170 Rn. 23; Meyer-Goßner, StPO § 153a Rn. 37. 3335 Rieß, NStZ 1981, S. 9. 3336 Loos, JZ 1978, S. 595. 3337 Loos, JZ 1978, S. 595. 3334

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gem. Abs. 2.3338 Für Radtke bedeutet das Sperrwirkung nur bezüglich einer erneuten Verfolgung als Vergehen, und dies unabhängig von nova.3339 Kühne baut seine Argumentation hingegen auf dem grundsätzlichen Erfordernis der gerichtlichen Zustimmung auf (Abs. 1 S. 1); bezüglich der vielen ohne richterliche Zustimmung möglichen Verfügungen (Abs. 1 S. 2) erkennt er aber, dass das Argument nicht einschlägig ist. Für sie beruft er sich auf die Rechtsprechung des EuGH, der der staatsanwaltschaftlichen Entscheidung eine solche Wirkung zuerkannt habe.3340 In der Rechtsprechung gibt es nur vereinzelte Entscheidungen eher unterer Gerichte, die der h. M. entgegentreten. Eine Entscheidung des AG Gießen gestand der Einstellung gem. § 153c Abs. 1 Nr. 3 StPO strafklageverbrauchende Wirkung zu;3341 die argumentativ eher dünne Entscheidung3342 wurde prompt aufgehoben.3343 Vor Kurzem beschloss das AG Verden, dass eine Einstellung nach § 153 Abs. 1 StPO, die unter richterlicher Zustimmung erfolgt, nur bei nova rückgängig gemacht werden dürfe.3344 Keinem dieser Argumente ist zu folgen. Radtkes Argumentation beruht auf Grundlagen, die bereits an mehreren Stellen für fragwürdig erklärt worden sind (o. D. IV. [S. 739 ff.], E. III. 3. b) [(S. 767 ff., 773], F. II. 3. [S. 791 f.]). Kühnes Argumentation ist ad hoc. Warum eine richterliche Zustimmung für die Rechtskraftfähigkeit einer Entscheidung von Relevanz sein muss, wird nicht dargelegt. Und die schlichte Tatsache, dass der EuGH sich in einem bestimmten Sinne entschieden hat, liefert noch lange keinen Grund, das nationale Recht dem blindlings anzupassen (s. a. o. Kap. 2 B. IV. 9. [S. 425 ff.], D. IV. 4. b) [S. 506 ff.]). Auch die Gedankenführung von Loos überzeugt nicht; anders als Kühne lässt sie sich auf eine Theorie zurückführen, nämlich die, wonach Entscheidungen, die im Rahmen des Sachbereichs getroffen werden, der dem Entscheidungsträger zusteht, von diesem nicht mehr abgeändert werden dürfen. Das Problem dieser Annahme ist freilich, dass sie allein aus der Perspektive des Staates formuliert wird. Für den Beschuldigten macht es keinen Unterschied, welcher staatlichen Stelle 3338 Radtke, Strafklagevebrauch, S. 371 ff.; Kühne, JZ 2004, S. 744; früher wohl auch Gerland, Strafprozeß, S. 162. 3339 Radtke, Strafklagevebrauch, S. 376. 3340 Kühne, JZ 2004, S. 744. 3341 AG Gießen StV 1984, 238. 3342 Die Entscheidung fängt damit an, die Diskussion über die strafklageverbrauchende Wirkung des richterlichen Einstellungsbeschlusses gem. § 153 Abs. 2 (bzw. Abs. 3 a. F.) StPO aufzurollen und behauptet, § 153 und § 153c seien „strukturell gleichartig“; der Umstand, dass hier die Einstellung durch staatsanwaltschaftliche Verfügung erfolgt, sei irrelevant, weil sich die Entscheidung „faktisch als eine prozeßerledigende Sachentscheidung“ darstelle. Danach werden die Floskeln des Willkürverbots und des Vertrauensschutzes angeführt (S. 239). 3343 LG Gießen StV 1984, 327. 3344 AG Verden StV 2011, 616.

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die ihn betreffende Entscheidung eigentlich gebührt. Wie der Staat die einzelnen Angelegenheiten im Rahmen der Durchsetzung seines Strafanspruchs intern verteilt, sollte sich nicht extern zulasten des Betroffenen auswirken. Und die h. A. beruht ihrerseits auf der o. E. III. 3. a) (S. 761 ff.) zu Genüge kritisierten Annahme, die Einstellungsentscheidung gem. § 153 Abs. 1 StGB sei eine bloß interne Sache.3345 Wieder bringt Bohnert hier die Sache auf den Punkt: „Das Gesetz ist offenkundig der Auffassung, die Einstellung, insbesondere die kraft Opportunität, sei für den Beschuldigten rechtlich gar nicht vorhanden“.3346 War dies bereits bei der Einstellung gem. § 170 Abs. 2 StPO unzutreffend, also bei einer Einstellung, die das Nichthinreichen des Verdachts ausdrücklich erklärt, dann erst recht bei einer Einstellung, die zu der Frage nach dem hinreichenden Verdacht nicht eindeutig Stellung bezieht, sondern die nur sagt, die Sache sei es nicht wert, geklärt zu werden.3347 Das hier zu vertretende Ergebnis dürfte also klar sein: Die Einstellung gem. § 153 Abs. 1 StPO kann keine geringere Sperrwirkung haben als eine gem. § 170 Abs. 2 StPO (hierzu o. 1. [S. 816 ff.]); und sie kann keine unterschiedliche Sperrwirkung haben als eine Entscheidung gem. § 153 Abs. 2 StPO, wenn sie – wie es bei § 153 Abs. 1 notwendig der Fall sein muss – vor dem Beginn der Beweisaufnahme erfolgt (hierzu o. II. 3. [S. 788 ff.]). Die Einstellung muss deshalb in beschränkte Rechtskraft rebus sic stantibus erwachsen. Wie bereits bei der Erörterung der Bestandskraft der Einstellung gem. § 153 Abs. 2 StPO angemerkt wurde (s. o. II. 3. [S. 793]), ist dies kein sonderlich bedeutsamer Schutz: Zwar sind nova erforderlich, aber letztlich weiß nur der Staatsanwalt, welche dieser neuen Umstände für das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung eine Rolle spielen. Das ist aber ein Problem, das nicht die Rechtskraftlehre zu lösen hat. b) Einstellung gem. § 154 Abs. 1, § 154b Abs. 1–3 StPO und § 154c StPO Entsprechendes lässt sich zur Einstellung gem. § 154 Abs. 1 StPO sagen. Man hält sie überwiegend für nicht bestandkräftig, und meint, dass die Einschränkungen des § 154 Abs. 3, 4 StPO, die auch für die Einstellung nach § 154b gelten sollen (Abs. 4 S. 2), nur für die richterliche Verfahrenseinstellung gelten.3348 Darauf deutet der Wortlaut der Vorschriften hin, und man muss diese Auslegung auch nicht in Frage stellen. Aus unserer Perspektive ist allein wichtig, dass eine Fortsetzung des Verfahrens ohne das Hinzukommen neuer Umstände, die etwa 3345

Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 299. Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 185. 3347 Corts, JA 1976, S. 307: „Eingriff in das Recht, unbemakelt aus dem Ermittlungsverfahren hervorzugehen“. 3348 BGHSt 30, 165; 37, 10 (13); BGH NStZ-RR 2007, 20; OLG Nürnberg StV 2011, 401 (402). 3346

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fragwürdig erscheinen lassen, ob die zu erwartende Sanktion nicht beträchtlich ins Gewicht fallen soll, nicht möglich ist; die schlichte Umentscheidung, die Taten doch zu verfolgen, reicht nicht aus. Der Einstellung gem. § 154c StPO misst man überwiegend ebenfalls keine Rechtskraft zu.3349 Von der kurzlebigen Entscheidung des AG Gießen war schon o. a) (S. 826 f.) die Rede.3350 In der Lehre bemühen sich einige vereinzelt darum, diesen Standpunkt zu relativieren. So berufen sich manche auf den Vertrauensgrundsatz, um wenigstens im Falle eines Einstellungsversprechens der Einstellung eine Bestandskraft zuzuerkennen,3351 andere auf den fair trial-Grundsatz, der eine bloße Bewertungsänderung ausschließe.3352 Laut BGH führt die abredewidrige Fortsetzung der Verfolgung bestenfalls zu einer Strafmilderung.3353 § 154 c enthält aber aus prozesstheoretischer Perspektive kaum Spezifika.3354 Aus unserer Perspektive muss auf die Notwendigkeit von nova hingewiesen werden. Eine nicht auf neuen Umständen beruhende Änderung der Bewertung der Schwere der Tat bzw. der Unerlässlichkeit der Sühne gestattet keine erneute Aufnahme eines bereits eingestellten Verfahrens. c) Einstellung mit Auflage (§ 153a Abs. 1 StPO) Auch für die Einstellung mit Auflage gem. § 153a Abs. 1 StPO gilt die o. II. 7. (S. 806) bereits erwähnte ausdrückliche Gesetzesregelung, die nach Erfüllung der Auflage oder Weisung nur eine Verfolgung als Verbrechen zulässt (Abs. 1 S. 5). Auf die dortigen Ausführungen sei verwiesen. Auch hier wird gestritten, ob nova erforderlich sind oder nicht,3355 und auch hier muss man folgern, dass das der Fall ist.3356 d) „Späte“ Einstellungsentscheidungen Grundsätzlich verliert die Staatsanwaltschaft mit dem Eröffnungsbeschluss die Möglichkeit, die Klage zurückzunehmen (§ 156 StPO). Das Gesetz erkennt der 3349 Schmöe, NJW 1956, S. 212 (and. aber de lege ferenda); Krause, MSchrKrim 1969, S. 216; ders. FS Spendel, S. 553. 3350 AG Gießen StV 1984, 238. 3351 So Kühne, Strafprozessrecht Rn. 602 f., 605; s. a. Loos, JZ 1978, S. 595. Krit. zur These des bindenden Verfolgungseinstellungsversprechens Radtke, Strafklageverbrauch, S. 260 f. 3352 Beulke, LR-StPO § 154c Rn. 12; Weßlau, SK-StPO § 154c Rn. 11. 3353 BGHSt 37, 10 (14). 3354 Richtig insoweit Radtke, Strafklageverbrauch, S. 257, 262. 3355 Dagegen Geppert, Jura 1986, S. 318. 3356 Bereits die vorläufige Einstellung hat eine bestimmte Bestandskraft, da sie nicht widerrufen werden darf, während der Beschuldigte sich um die Erfüllung der Auflage bemüht, s. LG Kleve StV 2013, 146 (147).

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Staatsanwaltschaft jedoch ausnahmsweise die Befugnis zu, dies sogar wesentlich später zu tun (§ 153 c Abs. 4, 5; § 153d Abs. 2; § 153f Abs. 3; § 411 Abs. 3 S. 1 StPO). Hier müssen dieselben Grundsätze gelten, die o. II. 3. (S. 788 ff.) bezüglich der Einstellung gem. § 153 Abs. 2 StPO entwickelt worden sind. Die Staatsanwaltschaft hat nicht das Recht, manipulativ den Eintritt der vollen Rechtskraft dadurch zu verhindern, dass sie nach begonnener Beweisaufnahme eine Einstellung des Verfahrens erzwingt. Es bestehen deshalb zwei Möglichkeiten. Entweder bedarf eine solche Einstellung der Zustimmung des Beschuldigten (so bei § 411 Abs. 3 S. 1, der auf § 303 StPO verweist), und in diesem Fall erwächst sie in Rechtskraft rebus sic stantibus; oder sie ist auch ohne dessen Zustimmung möglich (§ 153 c Abs. 4, 5;3357 153d Abs. 2; 153f StPO3358), dann muss als Ausgleich volle Rechtskraft bezüglich der verfolgten Tat eintreten. IV. Zusammenfassung der einzelnen Ergebnisse Sachurteile (Freisprüche und Verurteilungen) erwachsen in volle Rechtskraft, weil sie zu einem Zeitpunkt ergehen, in dem das Verfahren die Schwelle zur vollen Verdächtigungstiefe überschritten hat: Die Erhebung der Entscheidungsgrundlagen hat nicht nur begonnen, sondern ist sogar vollendet worden; zudem befand sich der Beschuldigte im Fall des Freispruchs in der konkreten Gefahr, verurteilt zu werden, und im Fall der Verurteilung hat sich diese Gefahr sogar realisiert. Das Sachurteil im Sicherungsverfahren müsste an sich nur zur vollen Rechtskraft hinsichtlich einer Strafverfolgung führen, wenn es um ein Sicherungsverfahren wegen Verhandlungsunfähigkeit ginge; der Gesetzgeber ist aber hier großzügiger gewesen als die Theorie und hat sich entschieden, allen Formen des Sicherungsverfahrens strafklageverbrauchende Wirkung zuzumessen. Der Nichteröffnungsbeschluss führt nur zur eingeschränkten Rechtskraft in Form der Rechtskraft rebus sic stantibus; ebenso verhält es sich mit der Abweisung eines Klageerzwingungsantrags und einer Privatklage (§ 174, § 383 Abs. 1 S. 1 StPO). Bei gerichtlichen Opportunitätseinstellungen wegen Geringfügigkeit (§ 153 Abs. 2 StPO; § 383 Abs. 2 StPO, § 31a Abs. 2 BtMG, § 47 Abs. 1 Nr. 1 JGG), die nach Beginn der Beweisaufnahme erfolgen, steht dem Betroffenen nur dann kein volles Rehabilitierungsrecht zu, wenn er das Recht hat, die definitiv strafklageverbrauchende Sachentscheidung durch Verweigerung seiner Zustimmung zu

3357 Anders die h. M., die von keinerlei Rechtskraftwirkung ausgeht, s. Weßlau, SKStPO § 153c Rn. 32; Beulke, LR-StPO § 153c Rn. 35; ebenso Gantzer, Rechtskraft, S. 168 (weil die vorhandene Sachprüfung nicht den Strafanspruch, sondern die Sicherheitsinteressen des Staates zum Gegenstand habe). 3358 Anders die h. M., wenn sie sich überhaupt zur Frage äußert, etwa Beulke, LRStPO § 153f Rn. 44.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

erzwingen. Da die meisten dieser Einstellungsformen in der Tat von der Zustimmung des Betroffenen abhängen, wird man ihnen keine volle Rechtskraftwirkung zusprechen müssen. Dieselben Grundsätze müssen auch für Einstellungsurteile wegen Prozesshindernissen (§ 260 Abs. 3 StPO) gelten. Ergehen sie nach Beginn der Beweisaufnahme und über den Kopf des Beschuldigten hinweg, dann müssen sie in volle Rechtskraft erwachsen. Nur dann, wenn die Bejahung des Prozesshindernisses auf einem Antrag des Beschuldigten oder sogar auf einer auf ihn zurückgehenden Täuschung beruht, ist das nicht der Fall. Für Einstellungsbeschlüsse wegen Prozesshindernissen (§ 206a StPO) gelten dieselben Grundsätze, nur mit dem Unterschied, dass sie in der Regel vor dem Beginn der Beweisaufnahme erfolgen werden, so dass in diesem Fall nur beschränkte Rechtskraft eintreten wird. Die vorläufige Einstellung gem. § 205 StPO führt zu einer Rechtskraft rebus sic stantibus, bei der das Gesetz selbst bestimmt, welche nova eine Fortführung des Verfahrens rechtfertigen. Bei der Einstellung gem. § 206b StPO hängt die Sperrwirkung davon ab, ob die Prozessbeendigung vor oder nach Beginn der Beweisaufnahme erfolgt. Die Einstellung mit Auflagen (§ 153a Abs. 2 StPO) bedarf der Zustimmung des Betroffenen, führt deshalb nicht zur vollen Rechtskraft, und dies auch dann nicht, wenn sie erst spät, nach begonnener Beweisaufnahme erfolgt. Das Gesetz bestimmt, dass eine Verfolgung als Verbrechen möglich bleibt; weil dieser Einstellung notwendig eine Beschuldigung vorausgehen muss, ist diese Rechtskraftbestimmung als Spezifizierung des zur erneuten Verfolgung verlangten novums zu verstehen. Ohne ein novum ist eine Fortsetzung der Verfolgung nicht zulässig. Die Einstellung wegen anderweitiger Verfolgung (§ 154 Abs. 2, § 154b Abs. 4 StPO), wenn sie vor Beginn der Beweisaufnahme erfolgt, entfaltet beschränkte Rechtskraft; das Gesetz präzisiert in § 154 Abs. 3–5, § 154b Abs. 4 StPO die nova, die eine erneute Verfolgung ermöglichen sollen. Wenn diese Einstellungen aber nach Beginn der Beweisaufnahme erfolgen, muss man die Zustimmung des Betroffenen als zusätzliches Erfordernis verlangen. Beim Strafbefehl wird man im Ergebnis eigentlich der früheren These der beschränkten Rechtskraftwirkung Recht geben müssen. Sie beruht indes nicht auf der summarischen Kognition des Strafbefehlsverfahrens, sondern darauf, dass durch die Einspruchsmöglichkeit dem Beschuldigten die Möglichkeit gegeben wird, die Erreichung der Schwelle zur vollen Verdächtigungstiefe hinauszuzögern. Der Strafbefehl beschwert den Beschuldigten nicht mehr als ein Eröffnungsbeschluss. Das Gesetz ist hier großzügig und, auch in Ausführung eines verfassungsrichterlichen Machtworts, verleiht dem Strafbefehl volle Rechtskraft (§ 410 Abs. 3 StPO). Für weitere prozessabschließende Entscheidungen (insb.

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§ 349 Abs. 1, 2, § 368 Abs. 1, § 371 StPO) siehe die bereits knapp gehaltenen o. II. 10. (S. 814 f.) entwickelten Ausführungen. Der herkömmliche Grundsatz, nach dem der Prozessbeendigung durch die Staatsanwaltschaft keinerlei Bestandskraft zukomme, muss verabschiedet werden. Alle Einstellungsverfügungen, die nach der Inkulpation erfolgen, haben die Unmöglichkeit der erneuten Verfolgung bis auf das Bekanntwerden neuer Tatsachen oder Beweismittel zur Folge. So verhält es sich bei der Einstellung wegen mangelnden hinreichenden Tatverdachts (§ 170 Abs. 2 StPO), bei opportunitätsbezogenen Einstellungen, solange sie im Vorverfahren erfolgen (insb. § 153 Abs. 1 StPO), bei der Einstellung gem. § 154 Abs. 1, § 154b Abs. 1–3 StPO und auch gem. § 154c StPO. Bei der Einstellung mit Auflage (§ 153a Abs. 1 StPO) verlangt der Gesetzgeber ein novum besonderer Qualität, das die Verfolgung als Verbrechen begründet; ohne novum darf das Verfahren aber entgegen einer verbreiteten Auffassung nicht fortgeführt werden. „Späte“ Einstellungsverfügungen, verstanden als solche, die erst nach begonnener Beweisaufnahme erfolgen und die das Gesetz ausnahmsweise, aber immerhin vorsieht, führen grundsätzlich zur vollen Rechtskraft, es sei denn, sie dürfen nur unter Zustimmung des Beschuldigten erfolgen.

G. Fazit I. Zusammenfassung In diesem Abschnitt haben wir uns um eine Bestimmung der prozessbeendenden Entscheidungen bemüht, die in dem Sinne unveränderbar sind, dass sie Verfahren zu verhindern vermögen, die gegen sie gerichtet sind. Wir gingen vom herrschenden, hier als „klassisch“ bezeichneten Konzept aus, das drei paradigmatische Prozessbeendigungsstadien unterscheidet, das Urteil, den Nichteröffnungsbeschluss und das Vorverfahren, und das die Rechtskraft entsprechend abstuft: Das Urteil erwächst in volle Rechtskraft, es darf, wenn überhaupt, nur unter strengeren Bedingungen verändert werden; der Nichteröffnungsbeschluss erwächst in beschränkte Rechtskraft, d.h. er ist auch grundsätzlich bestandsfest, leistet aber gegen Veränderungen relativ weniger Widerstand; die Verfahrensbeendigung im Vorverfahren ist ihrerseits völlig unverbindlich und steht einer Fortsetzung der Verfolgung in keiner Weise entgegen. Im Anschluss haben wir die innere Struktur des Modells rekonstruiert. Die Rechtskraftfähigkeit einer Entscheidung beruht demnach auf drei Merkmalen. Zunächst einer situativen, kontextbezogenen Voraussetzung: Nur Entscheidungen, die in einer Hauptverhandlung, also mittels des besten Kognitionsmittels gewonnen werden, erwachsen in volle Rechtskraft; an zweiter Stelle eine objektive Voraussetzung: Nur Entscheidungen über die Sache, über den Gegenstand des Verfahrens werden voll rechtskräftig; und drittens eine subjektive Voraussetzung,

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nämlich dass es um Entscheidungen einer mit Gerichtsbarkeit versehenen Person gehen muss. Wir haben nicht nur festgestellt, dass die positiven Rechtsordnungen zahlreiche Zwischenerscheinungen kennen, die sich in dem Modell nicht befriedigend akkommodieren lassen (vor allem Einstellungen der Staatsanwaltschaft gem. § 153a StPO), sondern uns vor allem der wenig gestellten Frage zugewandt, weshalb man von diesen drei Voraussetzungen ausgeht. Es ergab sich, dass die drei Voraussetzungen in erster Linie die Sicherstellung des Strafanspruchs des Staates bezwecken. Dem Staat soll erst ein möglicher Strafanspruch verloren gehen, wenn mittels zuverlässiger Kognition über den Anspruch selbst (und nicht bloß über eine Nebenfrage) von den vertrauenswürdigsten, weil unabhängigen Personen entschieden worden ist. Das Problem des Modells ist aber seine Kehrseite: Immer trägt der Beschuldigte die Kosten der staatlichen Sorgfaltslosigkeit, weil er bei Fehlern der Entscheidung erneut in Anspruch genommen werden darf. Wenn nur fragwürdige Mittel der Wahrheitsfindung eingesetzt werden, konkret: ein summarisches Verfahren, der Strafbefehl, dann muss der Beschuldigte mit einer erneuten Verfolgung rechnen. Gleiches gilt, wenn der Staat sich am Ende des Verfahrens weigert, eine Sachentscheidung zu fällen (genau die Situation der gemeinrechtlichen absolutio ab instantia), und wenn man dem Beschuldigten sogar das Recht vorenthält, dass ein Richter über seine Strafe entscheidet (man erinnere sich an die Strafverfügungen der Polizei). Das klassische Modell belohnt den Staat, wenn er mit seinem Strafanspruch leichtfertig umgeht. Eine Strafverfahrenstheorie und die aus ihr folgende Rechtskraftlehre, die die Perspektive des Individuums ernstnehmen, können sich mit einer solchen Sachlage nicht zufriedengeben. Es wurde anschließend auf die sonstigen in der Literatur vorhandenen Modelle zur Erklärung der Rechtskraftfähigkeit der einzelnen prozessbeendenden Entscheidungen, insbesondere der Beschlüsse, eingegangen. Das anfechtbarkeitsorientierte Modell, das von Roxin und Schlüchter vorgeschlagen worden ist, ist vor allem deshalb fragwürdig, weil es Fragen der formellen und der materiellen Rechtskraft nicht scharf genug voneinander differenziert. Gantzer macht den in der Begründung äußerst wichtigen Schritt, die Rechtskraftfähigkeit als Funktion des belastenden Charakters der Entscheidungen für das Individuum zu verstehen. In den Ergebnissen vermag er aber nicht, das Potenzial seines Ansatzes auszuschöpfen; nur Sachentscheidungen misst er strafklageverbrauchende Wirkung zu, die relative Bestandskraft des Nichteröffnungsbeschlusses muss er sogar auf völlig fremde rationes zurückführen. P. Herzog versucht, alle Ergebnisse seiner Arbeit, vor allem die Ablehnung der Kategorie der beschränkten Rechtskraft, unmittelbar aus Art. 103 Abs. 3 GG herzuleiten, der aber zu den sehr konkreten Fragen, um die es jetzt geht, sehr wenig bietet. Das raffinierte und ausdiffenzierte Modell von Radtke entbehrt einer solideren Begründung, da Radtke – zu Recht – davor zurückschreckt, die Rechtskraftfähigkeit der Entscheidung auf den Gedanken des Vertrauensschutzes zurückzuführen, in dem er aber die zentrale Begrün-

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dung der Rechtskraft gesehen hatte. Deshalb beruhen seine Konstruktionen auf einer Reihe von fragwürdigen, teilweise ad hoc Annahmen, wie etwa der Erwägung, dass die Stärke der Rechtskraft einer Entscheidung sogar davon abhängen darf, ob sie mit einer Begründung versehen wird oder nicht. Im Anschluss haben wir uns um einen eigenen Weg bemüht, der die Erkenntnisse, die die das Individuum nicht instrumentalisierende Strafverfahrens- und Rechtskraftlehre bietet, in diesem Bereich konsequent fortsetzt. Der zentrale Gedanke ist der der Rehabilitierung oder Verdachtstilgung, die demjenigen, der ein Verfahren erduldet hat, als Ausgleich geschuldet ist. Es musste bestimmt werden, was es bedeutet, ein Verfahren erduldet zu haben. Die zwei Rechtskraftintensitäten, die des Urteils und die des Nichteröffnungsbeschlusses, als relative Fixpunkte auch für unsere Reflexionen, deuten darauf hin, dass es eine steigende Intensität der Belastung durch das Verfahren geben muss, zwei Schwellen, deren Überschreitung einmal zur beschränkten, einmal zur vollen Rechtskraft führt. Wir haben uns der Metapher der „Verdächtigungstiefe“ bedient und gesagt, volle Rechtskraft werde bei voller Verdächtigungstiefe begründet, beschränkte Rechtskraft bei einer entsprechend geringeren Verdächtigungstiefe. Die Aufgabe bestand deshalb darin, dieses quantitative und metaphorische Kriterium zu präzisieren. Die Kritik an der absolutio ab instantia belegt, dass volle Rehabilitierung nicht erst beim Sachurteil geschuldet sein darf. Wir haben nach anderen Anknüpfungspunkten gesucht (Urteilsverkündung, Versetzung in den Anklagestand bzw. Eröffnung des Hauptverfahrens, Beginn der öffentlichen Hauptverhandlung), und sind erst beim Beginn der Beweisaufnahme fündig geworden. Denn dieser Zeitpunkt verkörpert die Zuspitzung der im Verfahren notwendig verkörperten Belastung. Die Belastung, die für das Strafverfahren konstitutiv ist, hatten wir als eine Verdächtigung beschrieben – jemand wird verdächtigt, etwas Schlechtes getan zu haben –, die dadurch qualifiziert wird, dass sie vom Staat ausgesprochen wird, (vergangenheitsbezogen) die Begehung einer Straftat zum Gegenstand hat und (zukunftsbezogen) die Drohung mit einer Verurteilung und Bestrafung enthält. Diese zwei letzten Komponenten der Verdächtigung lassen sich nach näherem Hinsehen graduieren. Uns geht es um qualitative Sprünge, welche sich ausmachen lassen. Man kann sagen, dass die vergangenheitsbezogene Seite der Verdächtigung eine neue Dimension erhält, wenn das Verfahren in die Phase gerät, in der begonnen wird, die Grundlagen der Endentscheidung zu erheben; und dass dies bei der zukunftsbezogenen Seite dann der Fall ist, wenn derjenige, der die Endentscheidung treffen soll, in die prozessuale Lage versetzt wird, dies unmittelbar zu tun, d.h. ohne dass davor weitere sachbezogene Entscheidungen getroffen werden müssten. Dieser Moment wird in einem mündlichen Strafverfahren wie dem deutschen mit der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung erreicht. Vor dem Abschluss des Strafverfahrens kann es für den Beschuldigten wichtiger sein, auf endgültige Ruhe zu verzichten und damit sofortige Ruhe zu erkaufen; auf seinen an sich bereits begründeten Rehabili-

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tierungsanspruch darf er deshalb bis zum Abschluss des Verfahrens verzichten. Wir haben einige Präzisierungen vorgenommen und vor allem zu zeigen versucht, dass der Gedanke, dass die Strafklage schon verbraucht sein kann, bevor das Verfahren seinen Abschluss gefunden hat, kein Unding ist. Hiervon wird unter anderem im amerikanischen Strafverfahren ausgegangen. An nächster Stelle wandten wir uns der beschränkten Rechtskraft zu. Stein des Anstoßes war für uns vor allem die Frage, warum sie erst bei einer Entscheidung des Richters über den Antrag des Staatsanwalts erreicht werden soll, was erst recht unerklärlich wurde, nachdem man in Erinnerung gebracht hatte, dass die sog. Außerverfolgungssetzung durch den Untersuchungsrichter, der funktional ein Staatsanwalt war, Strafverfolgung betrieb, aber immerhin als Organ der dritten Gewalt unabhängig und weisungsfrei war, nach dem früheren Recht, das die richterliche Voruntersuchung kannte, in beschränkte Rechtskraft erwuchs. Wieder scheint es, als sei der Beschuldigte gerade dort gegen eine zweite Verfolgung schutzlos, wo ihm die Rechtsordnung auch die Garantien für die Rechtsstaatlichkeit der ersten Entscheidung verweigert. Wir stießen auf die von der h. M. mehr oder weniger klar vertretene, erst von Bohnert mit voller Offenheit begründete These, dass das Vorverfahren ein bloßes internum des Staates verkörpere, das die Rechtssphäre des Beschuldigten gar nicht berühre. Diese These haben wir als unzutreffend zurückgewiesen, womit wir dazu kommen mussten, bereits in der Inkulpation die erste Schwelle zu erblicken, deren Überschreitung notwendig mit einem beschränkten Strafklageverbrauch ausgeglichen werden muss. Erst dann sind wir dazu gekommen, die nähere Gestalt dieses bisher immer bloß als beschränkt charakterisierten Strafklageverbrauchs zu bestimmen. Er bedeutet, dass eine Fortsetzung der Verfolgung nur unter der Bedingung erfolgen darf, dass neue Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die der früheren Entscheidung ihre Grundlage entziehen. Bloß rechtliche Bewertungsänderungen genügen demgegenüber nicht, und dies nicht erst, weil in dieser Hinsicht keine Kognitionsbeschränkungen bestehen – aus unserer Kritik am klassischen Modell muss deutlich geworden sein, dass die schlechtere Kognition nicht auf Kosten des dem Beschuldigten geschuldeten Ausgleichs gehen darf –, sondern weil das Recht, einseitig zu verdächtigen, nur unter der Bedingung erträglich ist, dass man mit den Tatsachen, die man kennt, gewissenhaft umgeht und aus ihnen die passenden rechtlichen Schlüsse zieht. Danach wurde das Modell, das bisher aus der beschuldigtenfreundlichen Säule der Rehabilitierung abgeleitet wurde, auf die sich gegen den Beschuldigten auswirkende Säule der Verfahrensgerechtigkeit erweitert. Es ergab sich aber eine weitgehende Übereinstimmung: Der Moment der Gewinnung der Entscheidungsgrundlagen und der Möglichkeit des Treffens der verfahrensbeendenden Sachentscheidung sind auch aus dieser Hinsicht maßgeblich, weil der Beschuldigte, der das Ergebnis des Verfahrens hinzunehmen verpflichtet werden soll, gerade an diesen zwei Momenten als Rechtssubjekt aktiv mitwirken dürfen muss. Der ein-

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zige Unterschied besteht darin, dass nicht schon der Eintritt in diese Phase, sondern ihr Ende der maßgebliche Bezugspunkt sein muss. An letzter Stelle haben wir die einzelnen verfahrensbeendenden Entscheidungen des deutschen positiven Rechts an diesen Kriterien gemessen. Die einzelnen Ergebnisse sind schon o. F. V. (S. 829 ff.) zusammengefasst worden. Die größte Verschiebung im Vergleich zur tradierten Auffassung war, dass alle Entscheidungen, die das Verfahren nach dem Eintritt in die Beweisaufnahme beenden, dem Beschuldigten grundsätzlich ein Recht geben, dass gegen ihn nicht erneut verfahren wird, unabhängig davon, ob es um Sach- oder Prozessentscheidungen geht, um Entscheidungen, die auf Opportunität basieren, oder um richterliche oder staatsanwaltschaftliche Entscheidungen. Auf dieses Recht kann der Beschuldigte freilich verzichten, nämlich durch Zustimmung zu einer Opportunitätseinstellung oder durch einen Antrag auf Einstellung wegen eines Prozesshindernisses. Diese Einstellungen dürfen aber nicht über den Kopf des Beschuldigten hinweg beschlossen werden, weil ihm sein Rehabilitierungsrecht nicht entzogen werden darf. II. Abschließende Bemerkungen zu den rechtskraftfähigen Entscheidungen Unsere Überlegungen nahmen ihren Ausgangspunkt in der Darstellung und Kritik desjenigen, was wir als klassisches Modell der rechtskraftfähigen Entscheidung bezeichneten, das die volle Rechtskraft als Funktion dreier Merkmale ansah: einer von einem Gericht (subjektive Voraussetzung) in einer Hauptverhandlung (situative Voraussetzung) gefällten Sachentscheidung (objektive Voraussetzung). Wir haben zuerst gezeigt, dass dieses Modell, zum einen durch die Vielzahl anderer verfahrensabschließender Entscheidungen, die nicht diese drei Merkmale aufweisen, aber den Betroffenen trotzdem von erneuter Verfolgung freistellen sollten, überfordert ist. Unsere Kritik setzte aber tiefer an: Die drei Merkmale entpuppten sich nach näherem Hinsehen als Verkörperung des Bestrebens, keine Strafansprüche des Staates zu verschwenden. Je leichtfertiger der Staat mit der Verwirklichung seines Strafanspruchs umgeht, desto leichter wird es ihm gemacht, es bei Bedarf erneut zu probieren. Das Recht des Einzelnen, nicht ein weiteres Mal verfolgt zu werden, ist demgegenüber nicht von Belang. Das Interessante ist, dass diese Zusammenhänge von ihren Vertretern selten in der Offenheit, wie sie hier dargestellt worden sind, verteidigt wurden. Vielleicht war es kein Zufall, dass die Autoren, die oben für die Begründung der drei Merkmale des Modells angeführt werden konnten, überwiegend lange nach Abschluss der großen Reformbewegung des 19. Jahrhunderts schrieben. Die Sorgen der Autoren, die zur Reformzeit schrieben und sich um die Überwindung des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens kümmerten, richteten sich vornehmlich gegen ein anderes Institut: die absolutio ab instantia, die infolge dieser Kritik endgültig mit der RStPO verschwand. Diese Kritik wurde durchaus mit Berufung auf das

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Recht des Individuums begründet, nicht ewig Inkulpat zu bleiben und nicht einem endlosen Verdacht unterworfen zu sein. Der Abschluss des Verfahrens müsse eine Tilgung des Verdachts mit sich bringen. Es liegt deshalb nahe, zu fragen, wie es von der individualistisch begründeten Kritik an der absolutio ab instantia zu dem dem Strafanspruch verpflichteten und insofern quasi-machiavellistischen klassischen Modell kommen konnte. Vielleicht war es so, dass durch eine Reihe von Bestimmungen, die die RStPO in ihrer ursprünglichen Form kannte, sich beide Ansätze nicht spürbar voneinander unterschieden. Es gab kaum Einstellungsurteile; das einzige der RStPO bekannte Einstellungsurteil ist der zu 98% eine Sachentscheidung verkörpernde Fall des fehlenden Strafantrags. Die Kategorie der Prozessvoraussetzungen kannte man noch nicht. Opportunitätseinstellungen in der Hauptverhandlung waren der RStPO ebenfalls unbekannt; die Vorgängervorschrift zu § 154 StPO, § 208 a. F. RStPO, ermöglichte eine Einstellung lediglich im Zwischenverfahren. Das bedeutet, dass die Kritiker der absolutio ab instantia nichts gegen die RStPO zu sagen hatten; sie stellte das Recht des Beschuldigten auf Rehabilitierung dadurch sicher, dass sie ihm so gut wie durchgehend ein Recht auf eine gerichtliche Sachentscheidung in der Hauptverhandlung zuerkannte. Der Beschuldigte betrat den Gerichtssaal womöglich unsicher, ob er freigesprochen oder verurteilt werden sollte, aber nicht darüber, ob die Sache ihre definitive Erledigung finden würde. Es bestand somit eine Art Harmonie zwischen dem Recht des Beschuldigten und den Sorgen des Staates um seinen Strafanspruch. Die weitere Entwicklung machte diese Übereinstimmung aber immer prekärer. Wie man sich denken konnte, ging es um keine prästabilisierte, sondern bloß um eine künstliche Harmonie, weil zwischen Rechten des Einzelnen und Zwecken des Machthabers oder der Gesellschaft jede Harmonisierung immer kontingent bleibt. Einstellungsurteile wegen Verfahrenshindernissen und späte Opportunitätseinstellungen aus Opportunitätsgründen führten dazu, dass der Beschuldigte sich nicht mehr sicher sein konnte, ob am Ende des Verfahrens eine Sachentscheidung gefällt werden sollte. Ab diesem Zeitpunkt war es eigentlich geboten, dass man Partei nimmt, entweder auf der Seite der gedanklichen Tradition, die die Kritik an der absolutio ab instantia belebte, oder der entgegensetzten, mit ihr nur vorläufig verbundenen Tradition, die sich um die Sicherstellung des staatlichen Strafanspruchs kümmerte. Ob sehenden Auges oder nicht: Literatur und Rechtsprechung entschieden sich für den zweiten Weg. Ähnlich wie beim Tatbegriff wird also klar, dass die Überwindung des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens in einer weiteren Hinsicht fehlgeschlagen ist. Hier war es nicht schon die RStPO, sondern die nachträgliche Entwicklung, die den Weg zurück in die Vergangenheit suchte. Im vorliegenden Abschnitt wurde also versucht, den alternativen, nicht eingeschlagenen Weg zu gehen, sich ein Modell vorzustellen, das vom selben Geist

5. Kap.: Die Sperrwirkung

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belebt ist wie die Kritik an der absolutio ab instantia. Inwieweit der hier gemachte Versuch konsistent und überzeugend erscheint, müssen andere beurteilen. Es wird schon viel gewonnen sein, wenn wenigstens erkannt wird, dass man im Rahmen der heutigen Lehre von den rechtskraftfähigen Entscheidungen von Annahmen ausgeht, die zu einem guten Teil die vernichtende Kritik, die Zachariä, Mittermaier und viele andere an der absolutio ab instantia geübt haben, nicht überlebt hätten. 5. Kapitel

Die Sperrwirkung Nach der aufwändigen Klärung der Tatbestandsseite der materiellen Rechtskraft bleibt die demgegenüber relativ simple Bestimmung der Rechtsfolge ihres Eintretens. Materielle Rechtskraft ist Unveränderbarkeit der Entscheidung nicht nur innerhalb des Verfahrens, in dem sie ergeht. Auch andere Verfahren über denselben Gegenstand sind ausgeschlossen, was Sperrwirkung genannt wird (s. o. Kap. 1 A. I. [S. 330]). Insofern wirkt sich die materielle Rechtskraft sowohl zugunsten als auch zuungunsten des Betroffenen aus (s. o. Kap. 1 C. IV. [S. 358 f.], D. [S. 371 ff.]). Hier ist also nur zu klären, was nicht mehr einer Veränderung zugänglich ist (u. A.) und wogegen die Sperrwirkung genau sperrt (u. B.).

A. Das Unveränderbare an der materiell rechtskräftigen Entscheidung Überwiegend heißt es, die Rechtskraft erfasse nicht die Gründe der Entscheidung,3359 sie dürften aber zur Auslegung der Entscheidung herangezogen werden.3360 Rechtskräftig soll nur der Tenor bzw. die Entscheidungsformel werden.3361 Diese Behauptungen sind in der Tendenz richtig, aber präzisierungs- und ergänzungsbedürftig. Die Präzisierung: Maßgeblich ist nicht die formelle Differenzierung zwischen Tenor bzw. Formel und Gründen, sondern die materielle Differenzierung zwi3359 Griolet, Chose jugée, S. 180, 252 ff.; Kroschel, GS 52 (1896), S. 412 f.; Pfeiffer/ Hanich, KK-StPO Einl Rn. 167; Lucarelli, Giudicato, S. 91 f.; RGSt 46, 420 (422); BGH NJW 1952, 432; BGHSt 30, 378 (383); Cassazione Penale RivPen 1989, 530. Wohl and., aber sehr unklar Mancuso, Giudicato, S. 81 ff. 3360 Kroschel, GS 52 (1896), S. 411; Oster, Rechtskraft, S. 15, 46; Leone, Manuale, S. 746; RGSt 66, 51 (54); BGH NJW 1952, 432; Cassazione Penale RivPen 1989, 530. 3361 Anunziata, GiustPen 1968/3, Sp. 630 ff., 636; Schmidt-Aßmann, M/D-GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 295; Pfeiffer, StPO § 260 Rn. 2; Callari, Firmitas, S. 52 f.; Schoreit, KK-StPO § 260 Rn. 8.

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schen Entscheidung und Gründen.3362 Die Entscheidung erwächst in Rechtskraft. Der Umstand, dass die Tenorierung unangemessen viele Gründe enthält, oder dass umgekehrt der eigentliche Inhalt der Entscheidung erst in der Begründung bekannt gemacht wird, kann für die Rechtskraftwirkung keine Bedeutung haben. Wohl wegen der in Deutschland hohen redaktionellen Qualität von Gerichtsentscheidungen wurde ein Bedürfnis, zwischen Tenor und Entscheidung zu differenzieren, nicht wirklich akut. Ferner beruht diese Terminologie darauf, dass man auf Grundlage des klassischen Modells (o. Kap. 4 B. II., C. II. 3. [S. 707 ff., 723 ff.]) allein richterlichen Entscheidungen Rechtskraft zumisst. Wenn man, wie hier, auch staatsanwaltschaftlichen Verfügungen Rechtskraftwirkung zuerkennt (insb. o. F. III. [S. 816 ff.]), dann muss derselbe Gedanke sprachlich anders erfasst werden: Unveränderbar wird dasjenige, was die prozessbeendende Entscheidung in ihrem Ergebnis beinhaltet; also die Verurteilung, der Freispruch oder die Einstellung. Auf die Gründe für diese Ergebnisse kommt es nicht an. Auch der Strafausspruch wird unveränderbar. Ob den Entscheidungsgründen eine positive Bedeutung zukommt, soll in der vorliegenden Arbeit nicht untersucht werden (s. o. Einleitung [S. 37 f.]). Es gibt Fälle, in denen eine solche Wirkung in der Tat sehr naheliegt: Man denke insbesondere an den berühmten französischen Gavarini-Fall, in dem jemand, der von dem Vorwurf ungenehmigter ärztlicher Betätigung freigesprochen wurde, nachdem er die Genehmigung vorweisen konnte, seine Betätigung fortgesetzt hat und später wegen desselben Vorwurfs angeklagt worden ist,3363 oder an den vom Reichsgericht entschiedenen Fall, in dem jemand, der wegen des Vertriebs unzüchtiger Schriften freigesprochen wurde, weil das Erstgericht ihren unzüchtigen Charakter abgelehnt hatte, erneut wegen des weiteren Vertriebs desselben Materials zur Verantwortung gezogen wurde.3364 Eine Lösung für diese Fälle soll hier aber nicht angeboten werden.3365 Hier ist nur anzumerken, dass man, wenn

3362 Bereits Kroschel, GS 52 (1896), S. 414 ff.; heute Grinover, FS Figueiredo Dias III, S. 862. 3363 Siehe Hélie, Traité III, S. 592; Griolet, Chose jugée, S. 253. 3364 RGSt 5, 101 (103); s. a. RGSt 46, 420. In Italien wurde zeitweilig entschieden, dass ein Freispruch aus Rechtsgründen den Beschuldigten auch vor künftigen Strafverfahren schütze (Cassazione Penale RitDP 1935, 407), was aber ein Ausreißer gewesen sein dürfte (denn im entgegengesetzen Sinne etwa Cassazione Penale RivPen 1954/2, 591; [Sezioni Unite] CassPen 1966, 33 [34]; aus der Lehre ebenfalls Satta, RitDP 1935, S. 407 ff.; Gallantini, RitDPP 1981, S. 101). Es ist aber unklar, ob sich die zuerst zitierte Entscheidung wirklich auf die Rechtskraft beruft, da sie zugleich einen schuldausschließenden Irrtum der Beschuldigten postuliert (S. 410 f.). 3365 Die Sperrwirkung im Gavarini-Fall abl. Hélie, Traité III, S. 592; Griolet, Chose jugée, S. 253 f.; and., der Cassation zust., Hirtz, Chose jugée, S. 235. Für Sperrwirkung in den vom Reichsgericht entschiedenen Fällen Binding, Strafurteil, S. 355. Eine Wiederaufnahme gegen die Gründe eines Strafurteils, so wie dies aus nationalsozialistischer

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man die Rechtskraft nicht als Gebot des Ansehens der Gerechtigkeit oder Ausdruck der Wahrheit oder der Gerechtigkeit deutet (s. o. Kap. 1 C. I., IV., VII. [Bd. 1, S. 338 ff., 351 ff., 360 ff.]), keinen zwingenden Grund haben wird, in diesen Fällen den Gründen der früheren Entscheidung Bindungswirkung zuzuerkennen.3366

B. Das von der Sperrwirkung Gesperrte I. Keine neue Strafe Klar dürfte zunächst sein, dass bei getilgter Schuld oder erfolgter Rehabilitierung keine erneute Bestrafung derselben Tat möglich ist. All das, was o. Kap. 3 D. (S. 662 ff.) als Strafe im ontologischen, abgeleiteten oder auch im künstlichen Sinn ausgearbeitet worden ist, darf bei Gegebensein der Tatbestandsvoraussetzungen der materiellen Rechtskraft nicht mehr verhängt werden. Das heißt, dass eine Ahndung als Ordnungswidrigkeit grundsätzlich möglich bleibt, ebenso wie die Verhängung der meisten Disziplinarsanktionen.3367 Wenn der Gesetzgeber auf eine solche Sanktionierung verzichtet (etwa § 16 Abs. 1 WDO; § 4 BayDO; § 14 LDG NRW; § 115b BRAO) oder sich für eine Anrechnung entscheidet (etwa § 16 Abs. 2 WDO), tut er dies aus Gründen, die nicht zwingend aus dem ne bis in idem-Grundsatz folgen, sondern sogar auf Billigkeit (s. o. Kap. 1 A. I. [S. 52]) beruhen mögen. Dies ist offensichtlich, wenn bereits eine Strafe verhängt und vollstreckt worden ist, denn dann ist die Schuld für das idem crimen getilgt worden und es gibt nichts, was man noch strafen könnte. Wenn die Sperrwirkung allein auf der Schuldtilgung beruhen würde, wäre sie aber nur bei einer Bestrafung einschlägig. Ihre zweite Säule ist aber der Gedanke der Rehabilitierung oder Verdachtstilgung (s. o. Kap. 1 D. [S. 371 ff.]). Ist der Verfolgte rehabilitiert bzw. der Verdacht getilgt, darf es auch – wie sogleich näher ausgeführt werden soll (u. II.) – kein erneutes Verfahren mehr geben. Ein Verfahren ist aber eine Legitimitätsbedingung der Strafe, die sie von einem bloßen Akt der Gewalt unterscheidet (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. IV. 2. d) cc) [S. 252 ff.]). Die eventuell vorhandene, ungetilgt verbliebene Schuld würde für sich genommen eine erneute Strafe zulassen; ein Verfahren ist aber rechtlich nicht mehr möglich, und hiermit entfällt auch die rechtliche Möglichkeit, eine legitime Strafe zu verhängen.

Sicht gefordert wurde (H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 72 f.), wird es ebenso wenig geben können. 3366 Den Zusammenhang von Präsumptionstheorie und Erstreckung der Rechtskraft jenseits der Entscheidungsformel betont auch Valticos, Chose jugée, S. 51. 3367 Aus dem älteren Schrifttum Barbarino, Rechtskraft, S. 43; anders Heffter, NArchCrimR 1832, S. 174 f.; Mittermaier, NArchCrimR 1850, S. 517 f.

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II. Keine erneute qualifizierte Verdächtigung Die Duldung des ersten Verfahrens muss im Fall des Freispruchs mit der Rehabilitierung, also mit der Tilgung des Verdachts honoriert werden (s. o. Kap. 4 F. II. 1. a) [S. 781 ff.]); aber auch im Fall der Verurteilung tilgt der Betroffene durch die Verfahrenserduldung eine Komponente seiner Schuld, die wir als Verfahrenserduldungsschuld bezeichnet haben (s. o. Kap. 4 F. II. 1. b) 784 ff.; s. a. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 6. e) [S. 316 f.], Teil 2 Kap. 3 B. [S. 637 ff.]). Dies hat die offensichtliche Folge, dass keine qualifizierte Verdächtigung des Betroffenen mehr erfolgen darf. Verboten ist also alles, was das Ziel verfolgt, den bereits Verfolgten wegen derselben Tat zu bestrafen: also nicht erst die Bestrafung, das Urteil, die Gerichtsverhandlung, die Verfahrenseröffnung oder die Anklageerhebung, sondern bereits eine gegen ihn gerichtete Einleitung eines Ermittlungsverfahrens,3368 jede Inkulpation. Jeder Anfangsverdacht in Bezug auf den Betroffenen wegen der schon verfolgten Tat hat sich bereits im Schoße der Rehabilitierung erledigt. Es kann höchstens ein Ermittlungsverfahren eröffnet werden, um festzustellen, ob es um dieselbe Tat geht.3369 Das ist aber keine Ausnahme, sondern gerade eine Konsequenz des Gesagten: Denn in einem solchen Fall ist man dabei, eine Verdächtigung wegen einer anderen Tat zu formulieren.3370

C. Prozessuales Allgemein ordnet man die rechtskräftige Aburteilung strafprozessdogmatisch als Verfahrenshindernis gegen jede erneute Verfolgung ein.3371 Dies ist aus 3368 Schmidt-Aßmann, in: M/D-GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 301; Grünewald, ZStW 120 (2008), S. 566 (m. Nachw. des öffentlich-rechtlichen Schrifttums in Fn. 129); J. Maier, Derecho procesal penal I, S. 601 f.; Mancuso, Giudicato, S. 493 ff.; für die USA Stuckenberg, Double Jeopardy, S. 6; noch offen gelassen in BVerfGE 3, 248 (255). Nicht erst die Eröffnung eines Hauptverfahrens – so aber v. Kries, ZStW 5 (1886), S. 19 f., mit dem Argument, erst ab diesem Zeitpunkt bestehe ein Prozessrechtsverhältnis. Krit. zur Ausblendung des Ermittlungsverfahrens in der Lehre vom Prozessrechtsverhältnis bereits o. Kap. 1 Teil 2 C. II. 1. (S. 146 f.). 3369 v. Kries, ZStW 5 (1886), S. 21 f.; Schmidt-Aßmann, M/D-GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 301. 3370 Weitere Problemfelder können nicht aufgegriffen werden; ob die Auslieferung Strafverfolgung darstellt, ist streitig und muss hier noch offen gelassen werden (dagegen OLG München StV 2013, 313 [314]; krit. Brodowski, StV 2013, S. 339 ff.); bejahendenfalls hätte man eine reibungslose Rechtfertigung für die Auslieferungsschranken des § 9 IRG. 3371 Fliedner, AöR 99 (1974), S. 279; Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 383; MeyerGoßner, Prozessvoraussetzungen, S. 10, 37; Paeffgen, SK-StPO Anhang § 206a Rn. 17. In der Sache die Rspr., wenn auch nicht immer ausdrücklich die dogmatische Kategorie erwähnt wird: RGSt 41, 152 (153 f.); 43, 60 (61); 72, 99 (102); 56, 351 (351); BGHSt 5, 323 (328); 9, 190 (192); 20, 323 (328); BGH NJW 1952, 432. Aus der früheren Lit. M. Berner, Ne bis in idem, S. 49. Für die (vergleichbare) prozessuale Behandlung im

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der Perspektive einer rein prozessualen Rechtskraftslehre (hierzu o. Kap. 1 B. [S. 337 ff.]) auch nur konsequent.3372 Es fragt sich aber, ob dies auch dann gilt, wenn man die Rechtskraft im Sinne der hier formulierten Drei-Säulen-Theorie auch teilweise materiellrechtlich deutet (s. o. Kap. 1 D. [S. 372 f.]): Denn die Säule der Schuldtilgung ist eine materiellrechtliche. 3373 Sollte dies statt einer Einstellung sogar einen Freispruch zur Folge haben? Die Antwort gab bereits das Reichsgericht, das auch von einer gemischt materiellrechtlichen-prozessrechtlichen Rechtsnatur der Rechtskraft ausging: „Die Frage, ob ein Strafverfahren prozessuell zulässig ist, geht der Frage voran, ob in dem Verfahren materiell eine Strafe verhängt werden darf “.3374 In der Tat ist eine erneute Bestrafung materiellrechtlich unzulässig; jedes erneute Verfahren ist es auch, weshalb sich die dogmatische Einstufung als Verfahrenshindernis rechtfertigt. In der ausländischen Literatur, in der die Differenzierung zwischen zwei Klassen von Prozesshindernissen verbreitet ist, wird die Rechtskraft nicht nur als Prozesshindernis, sondern gelegentlich präziser als Fall des Fehlens einer Strafklagebedingung eingeordnet.3375 Die Kategorisierung hat zum einen den Vorteil, bestimmte Eigentümlichkeiten der Rechtskraft klarer zum Ausdruck zu bringen, die damit zusammenhängen, dass das, was man nicht mehr verfolgen kann, ebenso wenig Gegenstand einer Anklage bilden kann. Die Kategorisierung soll aber nicht den Blick dafür abstumpfen, dass nicht erst die Anklageerhebung, sondern bereits die gegen einen Inkulpaten gerichteten Ermittlungen unzulässig sind. Nach h. M. muss das Vorhandensein der Rechtskraft von Amts wegen in jeder Lage des Verfahrens, d.h. auch in der Revisionsinstanz,3376 geprüft werden.3377 common law, wo man die Kategorie der Prozesshindernisse nicht kennt, s. Coffey, JSIJ 5 (2005), S. 125 ff. 3372 Den Zusammenhang zwischen dogmatischer Einordnung und Rechtsnatur der Rechtskraft betonen Barbarino, Rechtskraft, S. 75; Beling, JW 1928, S. 2249; Gantzer, Rechtskraft, S. 117. 3373 Siehe auch Schroeder, JuS 1997, S. 229, der aber noch strenger zwischen materiellrechtlichem Doppelbestrafungsverbot und prozessualer. Rechtskraft unterscheidet (s. bereits o. Fn. 1448). 3374 RGSt 41, 152 (153); ebenso Peters, ZStW 68 (1956), S. 388 f. (auch auf Grundlage einer teilweise materiellrechtlichen Rechtskraftbegründung, s. o. Kap. 1 D. [S. 372 f., insb. Fn. 1448]). 3375 Etwa Leone, Manuale, S. 742; ähnl. Schanze, ZStW 4 (1884), S. 484: Konsumption der Klagebefugnis. 3376 Abl. aber Cassazione Penale CassPen 2000, 399 (mit der Begründung, dass die Prüfung von Tatfragen erforderlich wäre); 2000, 1300; inzw. anders Cassazione Penale CassPen 2010, 4251, mit dem Argument, dass hier keine bloße Tatfrage, sondern ein Verfahrensfehler vorliege. Zum Ganzen Belfiore, CassPen 2010, S. 4253 ff. 3377 Hélie, Traité III, S. 539; Glaser, GrünhutsZ 12 (1885), S. 339; Rivello, RitDPP 1991, S. 524; Mancuso, Giudicato, S. 494; Callari, Firmitas, S. 145; Velten, SK-StPO § 264 Rn. 58; Guinchard/Buisson, Procédure pénal, Rn. 1423; BGHSt 9, 190 (192); BGH NJW 1952, 432; s. a. Art. 649 comma 2 itStPO.

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Im Ausland argumentiert man überwiegend teleologisch: Weil die Rechtskraft auf Erwägungen des öffentlichen Interesses, insbesondere auf der Rechtssicherheit (s. o. Kap. 1 C. II. [S. 344 ff.]) beruhe, müsse ihr Vorhandensein folgerichtig unabhängig vom Willen des verfolgten Individuums erkannt werden.3378 Inzwischen herrscht eine begriffskonstruktivistische Argumentation, die aus der Einordnung als Verfahrenshindernisse automatisch folgert, dass eine Prüfung von Amts wegen in jeder Lage des Verfahrens zu erfolgen habe. Dem wird man im Ergebnis zustimmen können, auch wenn man weder die kollektivistische noch die konstruktivistische Begründung teilt. Ein Staat, der einen Legitimitätsanspruch glaubwürdig erheben möchte, muss sicherstellen, niemandem ein Verfahren aufzuerzwingen, der ein solches wegen derselben Tat bereits erduldet hat. Zuletzt ein Wort zur Anwendbarkeit des in dubio pro reo-Grundsatzes. Denkbar wäre eine begriffskonstruktivistische Argumentation: Die Rechtskraft sei ein Prozesshindernis, für solche gelte der in dubio-Grundsatz nicht. Hier wird man dem aus mehreren Gründen nicht folgen können. Wenn der Rechtskraft erstens auch zum Teil materiellrechtliche Bedeutung zukommt, wird dies wenigstens bezüglich der Frage, ob die Schuld getilgt ist, d.h. ob bereits eine Strafe verhängt und vollstreckt wurde, anders sein müssen.3379 Ob darüber hinaus der in dubioGrundsatz auch für die rein prozessualen Dimensionen der materiellen Rechtskraft anwendbar ist, sollte man nicht nach konstruktivistischer Argumentation von der allgemeineren Frage abhängig machen, ob dieser Grundsatz auch auf Prozessvoraussetzungen Anwendung findet,3380 sondern eigenständig auf Grundlage insbesondere der rationes der Rechtskraft lösen. Der Umstand, dass der Beschuldigte womöglich seine Prozessduldungspflicht schon erfüllt hat, ist für die Legitimität einer Verfolgung viel zu grundlegend, als dass der Staat hier sehenden Auges Risiken eingehen darf. Deshalb muss man bei Zweifeln von einer erneuten Verfolgung absehen.3381 3378 Griolet, Chose jugée, S. 319; Hirtz, Chose jugée, S. 191 f.; Rocco, Cosa giudicata I, S. 211 f.; Najarian, Chose jugée, S. 56; Bouzat/Pinatel, Traité II, S. 1476; Bachelet, Non bis in idem, S. 161; Guinchard/Buisson, Procédure pénal, Rn. 1423; Cassation Criminelle, JCP II 1961, Nr. 12223. Zu den letzten, die in Deutschland so argumentierten, gehört Schanze, ZStW 4 (1884), S. 486. 3379 Ebenso Reinicke, NJW 1949, S. 556 f.; anders OGHBrZ NJW 1949, S. 556; Schwarz, NJW 1950, S. 125. 3380 Dafür Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 390; nur im Erg. Fezer, Strafprozeßrecht, Rn. 165; Paulus, FS Seebode, S. 290; Kühne, LR-StPO Einl K Rn. 44. Zweifel über die Möglichkeit einer einheitlichen Lösung in BGHSt 18, 274 (277); BayOblG NJW 1968, 2118 (2218 f.). 3381 Im Erg. Giovene, DPP V (1991), S. 427; Schoreit, KK-StPO § 260 Rn. 62; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 128. BGH StV 1989, 190; BayOblG NJW 1968, 2118, mit dem aus unserer Perspektive nebensächlichen Argument, die Nichtverfolgung sei hier das kleinere Übel (2219); für den nahestehenden Fall der Rechtshängigkeit ebenso KG StV 1989, 197. Abl. die italienische Rspr., etwa Cassatione Penale CassPen 1982, 234; 2004, 3654, die dem Beschuldigten die Beweislast aufbürdet.

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D. Sonderfragen An nächster Stelle sollen die Konsequenzen der oben entwickelten Begründung für zwei besonders gelagerte Konstellationen gezogen werden, die der Privatklage und die der Popularklage. Sie lassen sich anhand derselben Prinzipien lösen, die auch für die bisher im Mittelpunkt unserer Untersuchung stehende öffentliche Anklage gelten, und sind nur auf eine zusätzliche theoretische Prämisse angewiesen, die es jetzt kursorisch zu entwickeln gilt. I. Sperrwirkung und Privatklage Die meisten Rechtsordnungen kennen die Möglichkeit der Einleitung eines Strafverfahrens durch eine Privatklage. Mit der Legitimität dieses Rechtsinstituts muss man sich nicht beschäftigen.3382 Aus der Perspektive der vorliegenden Theorie, die das Verfahren von vornherein unter dem Blickwinkel der für staatliches Handeln geltenden Legitimitätsanforderungen betrachtet, ist das Privatklageverfahren eine untypische Erscheinung. Hier fängt der Prozess als qualifizierte, d.h. staatlich formulierte Verdächtigung erst spät an. Die erste Phase, in der die Verdächtigung formuliert wird, befindet sich in privaten Händen, womit es auch an der subjektiven Komponente der Qualifiziertheit der Verdächtigung fehlt, nämlich daran, dass sie vom Staat herrührt. Der ganze Vorgang vor der Einleitung der Privatklage ist also eine interne Angelegenheit des Klageberechtigten, so dass dort von einem Strafklageverbrauch nicht die Rede sein kann. Diese Überlegungen fungieren gleichzeitig als interessante Bestätigung der Kritik, die man o. Kap. 4 E. III. 3. a) (S. 765 ff.) gegen die These vom internen Charakter des staatlichen Ermittlungsverfahrens formuliert hat: Denn die h. A. beruht auf einer offensichtlich inakzeptablen Gleichsetzung von staatlichem Ermittlungsverfahren und privaten Ermittlungen. Und ab dem Moment der Anklageerhebung gelten die allgemeinen Grundsätze, die man o. Kap. 4 E. II.–IV., VI. (S. 741 ff., 777 f.) ausgearbeitet hat: Wird das Verfahren in der mittleren Phase beendet, besteht Rechtskraft rebus sic stantibus (s. a. § 383 Abs. 1 S. 1 StPO, von dem bereits o. Kap. 4 F. II. 2. [S. 788] die Rede war); endet das Verfahren erst nach begonnener Beweisaufnahme, dann erwächst die Entscheidung in volle Rechtskraft, wenn sie ohne Zustimmung des Angeklagten erfolgt. Dies muss insbesondere für den Fall gelten, in dem die Klage gem. § 391 Abs. 1 StPO zurückgenommen wird. Bezüglich des Privatklägers geht das Gesetz weiter als die hier formulierten Grundsätze: Die zurückgenommene Anklage darf unabhängig davon, ob die Zu3382 Sehr krit. etwa R. Schmitt, ZStW 89 (1977), S. 641 f.; für Abschaffung Koewius, Privatklage, s. 166 ff.; Meyer-Goßner, StPO Vor § 374 Rn. 1; vorsichtig in diesem Sinne Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 254.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

rücknahme früh oder spät, mit oder ohne Zustimmung des Beklagten erfolgt, nicht erneut erhoben werden (§ 392 StPO). Die vom Gesetz verlangte Zustimmung des Angeklagten, wenn diese Rücknahme erst nach Beginn der Vernehmung zur Sache erfolgen soll (S. 2), hat deshalb hier nicht mehr die Kraft eines Verzichts auf das Rehabilitierungsrecht (s. o. Kap. 4 E. III. 2. d) [S. 752 f.]), sondern nur die Wirkung eines Verzichts auf die Sachentscheidung. Die h. M. versteht die strafklageverbrauchende Wirkungen der Rücknahme als eine bloß „relative“: Nur der Klageberechtigte, der seine Klage zurückgenommen hatte, wird an einer erneuten Erhebung gehindert.3383 Dem wird man nur deshalb zustimmen können, weil § 391 Abs. 1 S. 2 StPO in schöner Bestätigung der hier entwickelten Theorie die Rücknahme ab Beginn der Vernehmung des Angeklagten zur Sache, d.h. ab Erreichung der vollen Verdächtigungstiefe, von der Zustimmung des Angeklagten abhängig macht. Der die Klage zurücknehmende Privatkläger verliert das Recht, erneut vorzugehen, bloß weil die Rechtsordnung ihm das folgenschwere Recht der Privatklage nur zur einmaligen Benutzung gewährt.3384 Es fragt sich nur, ob diese Grundsätze auch im Verhältnis zu den eventuell vorhandenen weiteren Klageberechtigten gelten, unter denen nicht nur Privatpersonen3385, sondern auch die öffentliche Anklagebehörde3386 sein können. Ausschlaggebend muss hier sein, dass der Privatkläger kein eigenes Recht auf Strafe wahrnimmt,3387 sondern als Treuhänder eines fremden subjektiven Strafrechts auftritt, das dem Staat zusteht.3388 Durch die Regelung der Privatklage erklärt der Staat sein Einverständnis damit, dass er sich vom Privatkläger im Prozess vertreten lässt. Deshalb verliert der Staat das Recht der Anklage, als hätte er es selbst ausgeübt, und deshalb kann dieses Recht auch weder von seiner öffentlichen Anklagebehörde noch von anderen Strafklageberechtigten wahrgenommen

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Meyer-Goßner, StPO § 392 Rn. 3; Velten, SK-StPO, § 392 Rn. 5. Bereits Hasenbalg, Öffentliche Klage, S. 169. 3385 Positivrechtlich: weitere „Verletzte“ i. S. v. § 374 I StPO. 3386 Vgl. § 376 StPO, der bei allen Privatklagedelikten die Möglichkeit der Erhebung der öffentlichen Klage offen hält. 3387 So aber Carrara, Del giudizio penale, § 861 Fn. 1 (S. 113); Binding, Strafprozeßprinzipien, S. 207: „eigenes Genuguungsbedürfnis“; ders. Privatklageverfahren, S. 221; H. Mayer, JZ 1955, S. 604; Peters, Strafprozeß, S. 198. Trotzdem treten Binding und Peters für den umfassenden Strafklageverbrauch ein, s. u. Fn. 3389. 3388 Biener, GS 7 (1855), S. 437; Planck, Darstellung, S. 162; Barbarino, Rechtskraft, S. 87; Oster, Rechtskraft, S. 16; E. Wolter, Rechtskraft, S. 40; v. Hippel, Strafprozess, S. 265; Eb. Schmidt, Lehrkommentar Vorbem § 374 Rn. 1; Bohnert, Abschlußentscheidung, S. 94; Nunes da Silveira, Juízo de admissibilidade, S. 190. Die heutige Literatur drückt sich vorsichtiger aus; von Stellvertretung, Treuhand und dergleichen ist selten ausdrücklich die Rede, sondern man sagt, dass der Privatkläger den staatlichen Strafanspruch verfolge (Meyer-Goßner, StPO vor § 374 Rn. 5; Merz, in: R/H-StPO § 374 Rn. 3; Hilger, LR-StPO vor § 374 Rn. 6). Nach Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 125 ist der Staat Partei im materiellrechtlichen Sinne; im prozessrechtlichen Sinne ist es aber der Kläger selbst, der im eigenen Namen Rechtsschutz beantragt. 3384

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werden (§ 375 Abs. 3 StPO).3389 Der berechtigte Vertreter handelt anstelle des Vertretenen, so dass dieser ein von jenem verbrauchtes Recht weder selber ausüben noch an einen anderen delegieren darf. Aus der Erwägung, dass der Privatkläger kein eigenes, sondern ein fremdes Recht treuhänderisch wahrnimmt, folgt umgekehrt, dass die Verfolgung durch eine öffentliche Verfolgungsbehörde auch das Klagerecht des Privatklägers zum Erlöschen bringt.3390 Die im Gesetz vorgesehenen Teilnahmerechte anderer (insb. § 375 Abs. 2, § 377 Abs. 2 StPO) sollen einen Ausgleich dafür bieten, dass das Klagerecht aller mit der Rechtskraft erlischt.3391 II. Popularklage Einige Rechtsordnungen kennen auch die Figur der Popularklage, d.h. einer Strafverfolgung, die weder von einer öffentlichen Anklagebehörde noch von einem Verletzten vorangetrieben wird, sondern von jedermann.3392 Mit der Legitimation dieser Rechtsfigur wird man sich hier nicht beschäftigen,3393 zumal die Bestimmung des Strafklageverbrauchs davon unabhängig ist (s. o. Kap. 3 B. [S. 639], Kap. 4 A. [S. 703]). Es verhält sich hier vergleichbar wie bei der Privatklage, die ihrerseits keine wesentlichen Unterschiede zur öffentlichen Anklage aufweist, sondern nur die Einführung einer zusätzlichen Prämisse erforderlich macht, nämlich die, dass es bei den einzelnen Klagen nicht um selbstständige, sondern um abgeleitete Strafklagerechte geht. Genauso verhält es sich hier: Der einzelne Bürger, der hier den Verdächtigungsvorgang einleitet, handelt als Repräsentant des strafberechtigten

3389 Im Erg. RGSt 3, 362 (363 ff.); 7, 437 (440); Hasenbalg, Öffentliche Klage, S. 173 f.: Glaser, GrünhutsZ 12 (1885), S. 331 f.; Barbarino, Rechtskraft, S. 87 f.; Binding, Privatklageverfahren, S. 220; ders. Strafurteil, S. 322, 329; Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 268; Peters, Strafprozeß, S. 198; Hilger, LR-StPO, § 375 Rn. 8; MeyerGoßner, StPO § 375 Rn. 13 ff. 3390 Im Erg. RGSt 11, 128 (130). 3391 Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 269. 3392 Insbesondere in Spanien wird die Popularklage nicht nur im Gesetz (Art. 101 spanStPO), sondern sogar in der Verfassung verbürgt (Art. 125 spanVerf), näher Armenta Deu, Lecciones, S. 83 ff. Brasilien kennt eine „subsidiäre Popularklage“, die im Falle der Nichterhebung einer öffentlichen Anklage statthaft ist und sogar im Grundrechtskatalog der Verfassung aufgelistet wird, Art. 5 LIX brasVerf, näher Pacelli, Processo penal, S. 164 ff. 3393 Befürwortend Gneist, Vier Fragen, S. 37 ff., 50 (auf den sich fast alle späteren deutschen Autoren beriefen); Ortloff, GS 49 (1894), S. 281; ders. AöR 1897, S. 121; Liszt, Prinzip der Strafverfolgung, S. 29 ff.; Goldschmidt, Reform, S. 21; Mannheim, JW 1924, S. 1650 f.; Tiedemann, ZRP 1992, S. 108; krit. etwa Wach, FS Binding, S. 15: „unmöglich“; Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 87; Binding, Drei Grundfragen, S. 12: die subsidiäre Popularklage als „nationales Unglück“ (zust. Stock, FS Rittler, S. 309); Gössel, FS Dünnebier, S. 144.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Staates und nicht für sich selbst.3394 Der Staat will sich vertreten lassen, was sich aus dem Vorhandensein der Popularklage ergibt. Deshalb muss die Wahrnehmung einer Popularklage von einem umfassenden Strafklageverbrauch begleitet sein.3395 Die Gegenauffassung wäre, in den Worten von Carrara, ein „juristisches Ungeheuer“,3396 das die Bürger der von Binding insofern zu Recht kritisierten „Kalamität der Massenklägerei“ ausliefern würde.3397 Gegen die naheliegende Gefahr, hierdurch Strafklagerechte wegen der klägerischen Sorgfaltslosigkeit zu verspielen, muss die Rechtsordnung, die sich zur Anerkennung der Popularklage entscheidet, Vorsorge treffen. Früher kannte man die Verurteilung des erfolglosen Klägers ad poenam talionis3398 oder die Einsperrung auch des Klägers in Untersuchungshaft.3399 Aus heutiger Perspektive werden nur andere Mittel statthaft sein: etwa die Möglichkeit einer Bestrafung wegen Verleumdung3400 und das Erfordernis einer Kautionsentrichtung.3401 Es kann auch sein, dass eine Rechtsordnung, die eine Popularklage kennt, spezielle Wiederaufnahmegründe vorsieht, insbesondere für den Fall der Kollusion zwischen Ankläger und Angeklagtem.3402

E. Zwei Exkurse I. Rechtshängigkeit Nach der herrschenden Auffassung hat die Problematik der Rechtshängigkeit buchstäblich genommen nicht unmittelbar mit der materiellen Rechtskraft bzw. mit dem ne bis in idem-Grundsatz zu tun. Denn diese verbieten zwei Verfolgungen hintereinander und beschäftigen sich nicht mit dem Problem gleichzeitiger Verfolgungen.3403 So sprach das Reichsgericht vorsichtig von „verwandten 3394 Köstlin, Wendepunkt, S. 42; Zachariä, Gebrechen, S. 265; ders. Handbuch II, S. 657; Carrara, Del giudizio penale, § 861 Fn. 1 (S. 112); wohl auch Armenta Deu, Lecciones, S. 83 f. 3395 Hélie, Traité III, S. 570, mit Zitat der römischen Quellen; Zachariä, Handbuch II, S. 657; heute Cortés Domínguez, Cosa juzgada, S. 70 f., 73; Gómez Colomer, Derecho jurisdicional III, S. 108, 420. 3396 Carrara, Del giudizio penale, § 861 Fn. 1 (S. 120). 3397 Binding, Drei Grundfragen, S. 13. 3398 Für das französische Recht des 13. bis 16. Jahrhunderts Esmein, Histoire, S. 84 f. 3399 So die Carolina, Art. 12 („Von verhefftung des anklägers bis er bürgschafft gethan hat“); s. dazu Leue, Anklage-Prozeß, S. 55 f.; vgl. m. Nachw. zu anderen Gesetzgebungen Esmein, Histoire, S. 57. 3400 Gneist, Vier Fragen, S. 54; Binding, Strafprozeßprinzipien, S. 182. 3401 Mannheim, JW 1924, S. 1650. 3402 So bereits das römische Akkusationsverfahren, s. Tuozzi, Giudicato penale, S. 6; Sotgiu, Revisione, S. 48 f. m.w. N. Ein solcher Wiederaufnahmegrund wäre nach den u. Kap. 6 D. I. 2., V. 1. (S. 957 f., 972 ff.) zu entfaltenden Legitimitätskriterien zulässig. 3403 Ebenso Eichhorn, GS 38 (1886), S. 408; Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 220; Bertel, Identität der Tat, S. 31; RGSt 41, 108 (109).

5. Kap.: Die Sperrwirkung

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Grundsätzen“.3404 Materiell betrachtet sind hingegen dieselben Erwägungen, die bei nachträglichen Verfolgungen einschlägig sind, auch für gleichzeitige Verfolgungen von Relevanz: Die Prozessduldungspflicht kann sich nur auf die Duldung eines einzigen Verfahrens beziehen, denn ein weiterer Rehabilitierungsanspruch neben dem Ersten ist redundant und deshalb wertlos. Das zweite Verfahren ist notwendigerweise Belastung ohne Ausgleich. Und aus einer Perspektive, die die Sperrwirkung nicht mehr an den Abschluss des Verfahrens knüpft (s. o. Kap. 4 E. III. 2. e) dd) [S. 754 ff.]), gibt es einen Punkt, ab dem sich beide Rechtsinstitute überschneiden: Ab Beginn der Beweisaufnahme steht sowohl das Verfahrenshindernis der Sperrwirkung als auch dasjenige der anderweitigen Rechtshängigkeit einer erneuten Verfolgung entgegen. Insofern spricht nichts dagegen, auch das Verbot gleichzeitiger Verfolgungen beim ne bis in idem-Grundsatz zu verorten.3405 Auch in einer anderen Hinsicht führen die hier vorgeschlagenen Gedanken zu Verschiebungen. Die h. A. begreift das Ermittlungsverfahren als internum (s. o. Kap. 4 E. III. 3. a) [S. 761 ff.]); folgerichtig deutet sie Rechtshängigkeit als Gerichtshängigkeit;3406 da es keine gerichtliche Voruntersuchung mehr gibt, heißt das, dass das Verfahren mit der Eröffnung des Hauptverfahrens rechtshängig werde.3407 M. a.W., erst mit der Externalisierung der Verfolgung greife das Verbot ein, zwei Verfolgungen gleichzeitig zu durchführen. Dass dies aus vorliegender Perspektive nicht anerkannt werden darf, leuchtet nach dem o. (s. o. Kap. 4 E. III. 3. a) [S. 765 ff.]) Gesagten ein. Aus dem hier vertretenen Standpunkt, der bereits im Ermittlungsverfahren eine erhebliche Belastung des Betroffenen er-

3404 RGSt 29, 174 (178 – Zitat); 56, 251 (253); 67, 53 (54); s. a. BGHSt 38, 54 (57), der das Verbot gleichzeitiger Strafverfahren wegen derselben Tat unmittelbar aus Art. 103 Abs. 3 GG gewinnt. In Italien hat die Rspr. in einem weiteren Beispiel strukturblinder Wortlautexegese (zu einem anderen Beispiel s. o. Kap. 2 D. IV. 3. [S. 493 ff.]) lange Zeit behauptet, das Gesetz verbiete ein erneutes Verfahren erst bei einer „unanfechtbar“ gewordenen verfahrensabschließenden Entscheidung (Art. 90 itStPO v. 1930; Art. 649 Abs. 1 itStPO), so dass einer zweiten, gleichzeitigen Klageerhebung nichts entgegegenstehe. Diese Auffassung wurde 1976 für verfassungskonform erklärt (Corte Costituzionale GiurCost 1976, 32 [34 f.]; krit. Lozzi, GiurCost 1976, S. 1596 ff.; Sesta, GiustPen 1977/1, Sp. 188 ff.). Eine definitive Wende ergab sich erst 2005 insb. durch eine Entscheidung der Sezioni Unite (entsprechend dem Großen Senat) der Cassazione, CassPen 2006, 28 (33 ff.; davor aber etwa Cassazione Penale CassPen 2000, 399; 2003, 3861); zum Ganzen Normando, Giudicato, S. 36 ff.; Mancuso, Giudicato, S. 422 ff.; Jeangey, Ne bis in idem, S. 200 ff., alle m.w. Nachw.). Siehe auch La Rocca, Fatto, S. 99: Verbot gleichzeitiger Verfolgungen als „präventiver Schutz der Rechtskraft“. 3405 Im Erg. bereits Birkmeyer, Strafprozeßrecht, S. 681; s. a. and. Leone, Trattato III, S. 339 Fn. 36. 3406 Eb. Schmidt, Lehrkommentar I, Rn. 175. Ebenso Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 217. 3407 Schoreit, KK-StPO § 156 Rn. 5; Beulke, LR-StPO § 151 Rn. 12; BGHSt 14, 11 (17); 29, 224 (229). Von Eröffnung der Untersuchung sprachen noch RGSt 42, 1 (4 f.); 58, 85 (88).

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

kennt, muss man ein grundsätzliches Verbot folgern, nicht erst gerichtliche Verfahren, sondern auch Ermittlungsverfahren nebeneinander laufen zu lassen. Dieses Verbot greift aber, wie gesagt, nur grundsätzlich. Denn es muss berücksichtigt werden, dass es in der frühen Phase, in der die staatlichen Organe noch dabei sind, die Verdächtigung zu formulieren, noch an einem hinreichend stabilen Gegenstand fehlen kann (s. o. Kap. 2 D. IV. [S. 485 f.], Kap. 4 E. III. 3. c) [S. 773 ff.]). Sobald aber dieser Gegenstand greifbar genug wird, sollte man darauf achten, dass nicht mehrere Verfahren gegen denselben Beschuldigten parallel durchgeführt werden. Dass dies bei den heutigen technischen Möglichkeiten völlig unproblematisch sichergestellt werden könnte, lässt sich nicht bezweifeln. II. Rechtsmittel gegen Freispruch Zuletzt sollten wir uns kurz der Frage widmen, ob die im common law traditionelle Unmöglichkeit der Einlegung eines Rechtsmittels gegen einen Freispruch, so befremdlich wie sie für uns wirken mag, nicht in der Konsequenz des o. Kap. 4 E. III. 1. d) (S. 750 ff., 752) entfalteten Standpunkts liegt, für den nicht mehr das Urteil, sondern die Beweisaufnahme der wichtigste Angelpunkt für die Bestimmung des Strafklageverbrauchs ist. Die Regelung, dass Freisprüche immer definitiv sind, wird regelmäßig unter Berufung auf den Gedanken der double jeopardy begründet;3408 vom amerikanischen Supreme Court ist sie sogar zu der „vielleicht fundamentalsten Regel in der Geschichte des Rechts des double jeopardy“ erklärt worden.3409 Auch in Deutschland sind vereinzelt gebliebene Plädoyers gegen die Möglichkeit, Freisprüche anzufechten, geäußert worden.3410 Genauer betrachtet sollen nicht alle Rechtsmittel gegen den Freigesprochenen unzulässig sein, sondern nur diejenigen, die zur Notwendigkeit einer erneuten Verhandlung (retrial) führen; ist es möglich, den gerügten Rechtsfehler ohne Erneuerung der Verhandlung zu beseitigen, soll das Verbot des double-jeopardy dem nicht entgegenstehen.3411 3408 U.S. Supreme Court, United States v. Sanges, 144 U.S. 310, 313 (1892); United States v. Ball, 163 U.S. 662, 670 ff. (1896); Kepner v. United States, 195 U.S. 100, 126 ff. (1904); Green vs. United States, 355 U.S. 184, 188 (1957); Fong Foo v. United States, 369 U.S. 141, 143 (1962); United States v. Jenkins, 420 U.S. 358, 369 f. (1975); United States v. Martin Linen Supply Co., 430 U.S. 564, 571 ff. (1977); United States v. Scott, 437 U.S. 82, 90 f. (1978), der die Regel dahingehend präzisiert, dass nur Freisprüche aus tatsächlichen Gründen endgültig seien; Smalis v. Pennsylvania, 476 U.S. 140 (1986); aus der Literatur etwa Westen/Drubel, SCR 1978, S. 122 ff., 130 ff.; J. Maier, FS Hirsch, S. 944; Pattenden, CLR 2000, S. 972, 979; Saltzburg/Capra, American Criminal Procedure, S. 1492 f. 3409 U.S. Supreme Court, United States v. Martin Linen Supply Co., 430 U.S. 564, 571 (1977). 3410 Vor allem Knoche, DRiZ 1971, S. 299; ders. DRiZ 1972, S. 26 f., freilich ohne Berufung auf den ne bis in idem-Grundsatz; krit. Bech, ebda., S. 201 ff., mit Replik von Knoche, S. 283 f.; und J. Maier, sogleich im Text.

5. Kap.: Die Sperrwirkung

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Nach näherem Hinsehen ergibt sich aber, dass das Prinzip so ernst auch nicht genommen wird.3412 Traditionell kannten einige amerikanische Einzelstaaten Rechtsmittel gegen Freisprüche; dies waren aber regelmäßig Staaten, deren Verfassungen keine double jeopardy-Vorschrift enthielten, und die Entscheidung des Supreme Court, die sich für die Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung in Connecticut aussprach, erging zu einer Zeit, als man noch dachte, dass die double jeopardy-Klausel des 5. Amendment der Bundesverfassung für die Einzelstaaten nicht bindend sei,3413 eine Prämisse, die inzwischen längst aufgegeben wurde.3414 Andere common law-Staaten wie Irland3415 und insbesondere England3416 haben sich aber vom traditionellen Standpunkt verabschiedet.3417 Uns geht es aber nicht um Rechtsvergleichung, sondern um Gründe (s. o. Teil 1 Kap. 1 B. IV. [S. 94 ff.]), konkreter darum, ob die behauptete Illegitimität einer Anfechtung des Freispruchs aus der Rechtskraftlehre, noch konkreter, aus dem Rehabilitierungsrecht des Beschuldigten folgt. Würde wirklich jede Wiederholung der Hauptverhandlung, insbesondere der Beweisaufnahme, ein Recht desjenigen verletzen, der dies schon einmal hat erdulden müssen, dann könnte es die o. Kap. 4 E. III. e) dd) (S. 758) erwähnte Möglichkeit, bei einer nicht entscheidungsbereiten Jury erneut zu verhandeln, auch nicht geben.3418 Für eine Reihe weiterer Konstellationen postuliert man Ausnahmen vom vermeintlichen Verbot, deren Grundlagen keinen näheren Bezug zum Verbot des double jeopardy aufweisen.3419 Aus unserer Perspektive entsteht das Wiederholungsverbot erst, wenn das Verfahren zum endgültigen Abschluss kommt; auch eine Pflicht, ruhende Verfahren endgültig einzustellen, haben wir vorsichtig postuliert (s. o. Kap. 4 F. III. 1. [S. 822]). Insofern kann man der bereits von Justice Holmes vorgeschlagenen Konstruktion eines „continuing jeopardy“, das bis zum Abschluss des Verfahrens anhält, vorsichtig zustim3411 U.S. Supreme Court, United States v. Wilson, 420 U.S. 332, 344 f., 352 f. (1975); United States v. Jenkins, 420 U.S. 358, 365 (1975). 3412 Überblick zum heutigen Stand in Rizzolli, SNE 15 (2010), S. 83 ff. 3413 U.S. Supreme Court, Palko v. Connecticut, 302 U.S. 319 (1937). 3414 U.S. Supreme Court, Benton v. Maryland, 395 U.S. 784, 794 (1969). 3415 Siehe Coffey, JSIJ 5 (2005), S. 141 m. N. 3416 Zur Entwicklung Spencer, CLR 2006, S. 679 f.; zum konkreten Anlass, nämlich der Nichtverfolgung eines gewissen Gary Dobson wegen des Mordes an Stephen Lawrence, der zu einem einflussreichen Bericht führte, dem sog. Fitzpatrick, JCL 2003, S. 150 f.; Starmer, CLR 2012, S. 531; zur heutigen Rechtslage Dennis, CLR 2004, S. 620 ff.; aus deutscher Sicht Hörnle, ZStW 117 (2005), S. 822 ff., 827. 3417 New South Wales, Queensland, Südaustralien, s. Hamer, CLR 2009, S. 63 m. Nachw. Fn. 1. 3418 Ähnlich bereits Holmes, in: U.S. Supreme Court, Kepner v. United States, 195 U.S. 100, 134 f. (1904); und M. Jones, JCLC 38 (1947), S. 388, die daraus ihr Argument für die Zulässigkeit von Rechtsmitteln der Staatsanwaltschaft ableitet. 3419 Vgl. die Liste in Comley, YLJ 35 (1926), S. 676 f.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

men3420 – ich sage vorsichtig, weil diese Figur nur der Veranschaulichung und der Auslegung des Wortlauts des 4. Amendments der amVerf dient, nicht aber den wahren Grund verkörpert, weshalb man Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft gegen einen Freispruch zulassen sollte. Wenn der Grund für das Verbot also nicht ein richtig verstandener double jeopardy-Grundsatz ist,3421 und umso weniger bloße Tradition, nach dem Motto, dass „in this country“ die Dinge so seien,3422 muss nach weiteren möglichen Gründen gesucht werden. Man wird schnell fündig: Der eigentliche Grund hinter dieser Ansicht liegt nicht in der Rechtskraftlehre bzw. im double jeopardy, sondern in der Ideologie des Jury-Systems,3423 das, wie o. Teil 1 Kap. 1 A. (S. 52 f.) bereits kurz angedeutet, einer rationalen Begründung nicht zugänglich ist. Die Jury wird für omnipotent gehalten,3424 ihr wird das Recht oder wenigstens die Macht zuerkannt, gegen die Beweislage freizusprechen – sog. jury nullification3425 –, und sie sei in ihren Entscheidungen souverän (die überwiegend nicht einmal begründet werden müssen,3426 was bereits für sich Ausdruck von Willkür ist3427). Nicht nur wird die Idee der Laiengerichtsbarkeit vernichtet, wenn Berufsrichter die Entscheidung verändern dürfen.3428 Es macht nicht einmal Sinn, eine derart ungebundene Entscheidung, die Maßstab ihrer eigenen Richtigkeit ist,

3420 Holmes, in: U.S. Supreme Court, Kepner v. United States, 195 U.S. 100, 134 ff. (1904); zust. Comley, YLJ 35 (1926), S. 680; Anonym, YLJ 47 (1938), S. 492 f.; Anonym, StLR 11 (1959), S. 758 f., insb. Fn. 112; Amar, YLJ 106 (1997), S. 1841, 1842 ff.; s. a. Langbein, Comparative Criminal Procedure, S. 85 f., der den Gedanken für logisch schlüssig erklärt. 3421 Comley, YLJ 35 (1926), S. 676, 678; Amar, YLJ 106 (1997), S. 1841; Strazella, NotreDameLR 73 (1997), S. 3 ff.; Thomas III, Double Jeopardy, S. 221; Spencer, CLR 2006, S. 687 f.; sogar Westen, MichLR 78 (1980), der im Respekt vor den Wahrsprüchen der Jury eines der drei „Gesichter“ des double jeopardy erblickt (S. 1004 ff.), erklärt diesen Gedanken für ursprünglich dem double jeopardy fremd (S. 1033 f.). 3422 Darauf stellt insb. U.S. Supreme Court, Kepner v. United States, 195 U.S. 100, 130 (1904) ab. 3423 Zusätzlich zu den folgenden Fn. bereits Feuerbach, Geschwornen-Gericht, S. 152 ff.; Esmein, Histoire, S. 328, 428; Westen/Drubel, SCR 1978, S. 130 ff.; Westen, MichLR 78 (1980), S. 1012 ff., 1017 f.; Amar, YLJ 106 (1997), S. 1841 (der auch das due process Prinzip miterwähnt); ders. Constitution, S. 123; Klein/Chiarello, TexLR 77 (1998), S. 361 f.; J. Maier, Derecho procesal penal I, S. 636; Pattenden, CLR 2000, S. 985. 3424 M. w. N. Schwinge, Kampf, S. 110 ff. 3425 Hierzu näher Matravers, Jury nullification, S. 71 ff.; Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 57; Stuckenberg, Double Jeopardy, S. 14. Umstritten, krit.: Binding, Drei Grundfragen, S. 31 f.; Rothwax, Guilty, S. 219; dezidiert apologetisch Butler, YLJ 105 (1995), S. 677 ff.; in dieselbe Richtung Fraser, BuffCLR 3 (2000), S. 827 f.; vorsichtig, aber positiv eingestellt Stuntz, Collapse, S. 285 ff. 3426 Jackson, Trial, S. 134: „Sphinx-like verdict“. 3427 Siehe oben Bd. 1, Fn. 94. 3428 J. Maier, FS Hirsch, S. 946.

5. Kap.: Die Sperrwirkung

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durch Rechtsmittel zu überprüfen.3429 Im Klartext: Die ungebundene Willkür der Jury verträgt keine Überprüfung. Eine Berufung auf Willkür ist aber keine Begründung. Davon abgesehen, ist diese „Begründung“ ihrerseits nicht frei von Unstimmigkeiten. Denn nicht nur Freisprüche der Jury, sondern auch die von Berufsrichtern werden in gleicher Weise für unangreifbar gehalten,3430 obwohl Berufsrichtern diese power to nullify überhaupt nicht zukommt.3431 Und vor allem: Mit dem Recht darauf, kein zweites Verfahren zu dulden, hat all dies nichts zu tun. J. Maier hat aber versucht, eine vom Institut des Geschworenengerichts unabhängige Begründung für diese Deutung des ne bis in idem-Grundsatzes zu bieten: Er meint, dass eine Strafe oder Maßregel erst vollzogen werden dürfe, wenn die sie verhängende Entscheidung im Fall der Anfechtung eine Bestätigung durch eine höhere Gerichtsinstanz erfährt – es bestehe insofern eine „Analogie zur Erhöhung der Treffgenauigkeit mathematischer Operationen durch Wiederholung der Rechnung“.3432 Wenn ein Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft erst in der letzten Instanz Erfolg hat, dann müsste das Rechtssystem ein zusätzliches Rechtsmittel des Angeklagten dagegen vorsehen.3433 Dies folge aus dem Recht auf eine zweite Instanz. Diese These wirft Fragen auf, die den vorliegenden Rahmen weitgehend sprengen: vor allem, ob ein solches Recht auf eine „zweite Instanz“ besteht (s. a. Art. 14 Abs. 5 IPpbR; Art. 2 EMRK-ZP 7), oder, wie man hierzulande zu sagen pflegt, ob es Rechtsschutz nicht nur durch Gerichte, aber auch gegen Gerichte geben muss,3434 und ob dieses Recht den Inhalt hat, dass man jeden ungünstigen Prozessausgang erneut überprüfen lassen kann. Wie dem auch sei: Ersichtlich wird dabei, dass man nicht gerade auf Grundlage der rationes des ne bis in idem-Grundsatzes argumentiert, sondern andere Erwägungen heran-

3429

Bereits Feuerbach, Geschwornen-Gericht, S. 33 Fn. Siehe die Fälle in U.S. Supreme Court,Kepner v. United States, 195 U.S. 100, 128 (1904); United States v. Jenkins, 420 U.S. 3258, 365 f. (1975); United States v. Martin Linen Supply Co., 430 U.S. 564, 571 (1977); Smalis v. Pennsylvania, 476 U.S. 140 (1986); Price, Warden v. Vincent 538 U.S. 634 (2003); Westen/Drubel, SCR 1978, S. 134; Saltzburg/Capra, American Criminal Procedure, S. 1499 f. – für eine Beschränkung auf Sprüche der Jury aber Westen, MichLR 78 (1980), S. 1020; Pattenden, CLR 2000, S. 981 f. 3431 So dass die gelegentlich bemühte Analogie zur Jury-Entscheidung (so insb. U.S. Supreme Court United States v. Jenkins, 420 U.S. 358, 366 [1975]) nicht überzeugt. 3432 J. Maier, FS Hirsch, S. 945. 3433 J. Maier, Derecho procesal penal I, S. 635 f.; ders. FS Hirsch, S. 946. Im Erg. ebenso Knoche, DRiZ 1972, S. 26 f. in einem argumentativ dürftigen Kurzbeitrag. 3434 Dagegen die h. A., s. BVerfGE 11, 263 (265); 15, 275 (280); 49, 329 (40); 76, 93 (98); ausf. Nachw. bei Voßkuhle, Rechtsschutz, S. 146 ff.; im öffentlichen Recht zeichnen sich aber Bewegungen im Sinne einer Relativierung dieses Satzes ab, s. insb. Voßkuhle, Rechtsschutz, S. 255 ff.; s. a. Schmidt-Aßmann, M/D-GG Art. 19 Abs. 4 Rn. 96 ff. 3430

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

zieht.3435 Die Verortung des Problems als eines des ne bis in idem-Grundsatzes beruht also auf dem vordergründigen Umstand, dass eine zweite Verhandlung durchgeführt wird, ist aber sachlich nicht gerechtfertigt. Zuletzt sollte man Zweifel darüber anmelden, ob die Regel im Ergebnis dem Beschuldigten überhaupt zugutekommt. Man darf nicht vergessen, dass der Tatbegriff streng akkusatorischer Verfahren eng ist; warum soll die Staatsanwaltschaft also Berufung oder Revision einlegen, wenn sie eine Menge weiterer Strafvorschriften zur Verfügung hat, die eine eigenständige neue Anklage tragen könnten? Es wurde sogar die Vermutung geäußert, dass die vor allem in den USA zu verzeichnende ständige Vermehrung von scheinbar überflüssigen Strafvorschriften auf dem Anliegen des Staates beruht, wenigstens eine Gelegenheit zur Verurteilung sicherzustellen.3436 Wieder könnte man es mit dem o. Kap. 2 D. III. (S. 484 ff.) an einem anderen Beispiel festgestellten Phänomen unerwünschter Spannungen zu tun haben, die beschuldigtenfreundlich gemeinte, aber eigentlich unbegründete Regelungen hervorrufen können.

F. Zusammenfassung Materiell rechtskräftig und deshalb auch in weiteren Verfahren unveränderbar wird nur die Entscheidung, nicht ihre Gründe, also der Freispruch, die Verurteilung oder die Einstellung. Die Entscheidung steht nicht nur einer erneuten Bestrafung, sondern bereits einer erneuten Verfolgung entgegen. Bei Vorliegen einer materiell rechtskräftigen Verfahrensbeendigung fehlt es an einer Prozessvoraussetzung bzw. an einer Strafklagebedingung. Weil dem Staat in solchen Fällen ein Verfolgungsrecht überhaupt nicht zusteht, kann dieser Mangel in jeder Lage des Verfahrens beachtet werden; der in dubio pro reo-Grundsatz ist anwendbar. Für die Privatklage gelten im Wesentlichen die gleichen Grundsätze, die in den vorherigen Kapiteln ausgearbeitet wurden, mit dem Zusatz, dass die Rechtskraft gegenüber allen anderen Klagebefugten gilt, da der Privatkläger prozessual ein fremdes Recht zu Strafen vertritt. Gleiches lässt sich zu der Popularklage ausführen. Das Verbot einer Mehrzahl gleichzeitiger Verfolgungen derselben Tat (Rechtshängigkeit) lässt sich materiell weitgehend auf dieselben rationes zurückführen, die auch den ne bis in idem-Grundsatz tragen. Auch formell bestehen große Überschneidungen. Die überkommene Auffassung, die Rechtshängigkeit erst als Gerichtshängigkeit begreift, muss als Ausfluss der These vom Vorverfahren als internum abgelehnt werden. Grundsätzlich sollte bereits mit der Inkulpation ein Verbot entstehen, mehrere Verfahren gleichzeitig durchzuführen. 3435 Richtig Harlan, in: U.S. Supreme Court, Benton v. Maryland, 395 U.S. 784, 812 f. (1969); Thomas III, Double Jeopardy, S. 259. 3436 Mayers/Yarbrough, HarvLR 1960, S. 14.

6. Kap.: Auflösung der materiellen Rechtskraft

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Die These der Unzulässigkeit von Rechtsmitteln gegen einen Freispruch, die im amerikanischen Raum regelmäßig mit dem double jeopardy in Verbindung gebracht wird, beruht nicht darauf, sondern auf den fragwürdigsten Seiten des schon hinreichend fragwürdigen Instituts der Jury, nämlich auf seiner Macht, gesetzesfrei freizusprechen. 6. Kapitel

Auflösung der materiellen Rechtskraft: Kleines System der strafprozessualen Wiederaufnahme „Die Wiederaufnahme soll nicht deshalb erfolgen, weil der unschuldig Verurteile ein Interesse an ihr hat, sondern weil er auf sie ein Recht hat.“ (Fazy, Revision, S. 67).

A. Einleitung I. Gegenstand und Anliegen des Kapitels 1. Tatbestand und Rechtsfolge der materiellen Rechtskraft sind somit geklärt; wir wissen bereits, was sie erfasst (die prozessuale Tat, s. o. Kap. 2), wann sie entsteht (mit einer ersten Strafe und/oder ersten Verfolgung, s. o. Kap. 3, 4), und was von ihr verhindert wird (o. Kap. 5). Die letzte der o. Einleitung (S. 33 f.) genannten „klassischen“ Fragen, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit noch geklärt werden müssen, betrifft die Auflösung der materiellen Rechtskraft. Das Recht der Wiederaufnahme ist eine äußerst verwickelte Materie. Im vorliegenden Rahmen können allein die grundsatzorientierten Fragen betrachtet werden. Auch wenn nicht zu leugnen ist, „wie stark das materielle Wiederaufnahmerecht mit der formalen Struktur des Wiederaufnahmeverfahrens verflochten ist“,3437 und dass die praktische Bedeutsamkeit der Ausgestaltung des Verfahrens keineswegs unterschätzt werden darf,3438 wird man sich hier diesen Fragen nur am Rande widmen können.3439 Das vorliegende Kapitel bietet deshalb keine Rekonstruktion des geltenden Wiederaufnahmerechts, sondern behandelt allein die Aspekte, die einen direkten Bezug zur materiellen Rechtskraft und zum ne bis in idem-Grundsatz haben. Beispielsweise müssen Maßregeln, die nicht als erste 3437 Dohna, GA 1936, S. 18; die Passage wird von H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 61 zust. zit. 3438 Fazy, Revision, S. 244: „Ist das Verfahren (der Wiederaufnahme, L.G.) mangelhaft, besteht die Gefahr, dass auch die liberalsten Gesetzesvorschriften tote Buchstabe verbleiben“; Deml, Wiederaufnahme, S. 169, mit Berufung auf Alsberg. 3439 Zu ihnen etwa Peters, Fehlerquellen III, S. 111 ff.; Wasserburg, Wiederaufnahme, S. 72 ff., 226 ff.; Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme, Rn. 292 ff.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Strafe eingestuft werden konnten (s. o. Kap. 3 D. IV. 4. [S. 691 ff.]), und für die der ne bis in idem-Grundsatz nur indirekt gilt (s. o. Kap. 4 F. II. 1. c) [S. 784 ff.]), deshalb außer Betracht bleiben.3440 Die Wiederaufnahme zugunsten eines bereits Verstorbenen, die zu vielen wichtigen grundlagenorientierten Fragen Anlass gibt, wird auch ausgeklammert, weil von Toten bisher nur die Rede war, um daran zu erinnern, dass sie nicht bestraft und auch nicht verfolgt werden dürfen (s. o. Kap. 3 C. III. [S. 647]). In erster Linie wird es hier also um die grundsätzliche Legitimierbarkeit einer Wiederaufnahme, sowohl zugunsten als auch zulasten des Angeklagten, gehen (u. C. D. [S. 898 ff., 956 ff.]): Es soll versucht werden, in Auseinandersetzung mit abweichenden Auffassungen, aus der o. Kap. 1 D. (S. 371 ff.) entwickelten Rechtskraftlehre für die beiden Formen der Wiederaufnahme eine Grundlage zu schaffen. Insofern soll ein kleines System der prozessualen Wiederaufnahme gebildet werden; damit ist gemeint, dass Fragen der materiellen Struktur im Vordergrund stehen. Es sollen dann die Wiederaufnahmeziele (u. C. II. 2., III. 3., D. IV. [S. 903 ff., 941 ff., 971 f.]) und -gründe (C. II. 3., III. 4., D. V. [S. 935 ff., 945 ff., 917 ff.]) der Wiederaufnahme zugunsten und zulasten entwickelt werden. Bevor diese materiellen Fragen untersucht werden können, sind einige Vorfragen begrifflicher Art zu klären (u. II. [S. 856 ff.]), ebenso wie knapp der Kreis der wiederaufnahmefähigen Entscheidungen, also der Gegenstand der Wiederaufnahme, zu bestimmen ist (u. III. [S. 861 ff.]); und am Ende des Abschnitts wenden wir uns zwei konkreten Fragen zu, die deshalb ausgewählt wurden, weil sie einen engen Bezug zu den davor gezeichneten Grundlagen aufweisen, nämlich die einer möglichen Befristung für die Wiederaufnahme und die der Ausgestaltung eines Wiederaufnahmegrunds als eines absoluten oder relativen (u. E. I., II. [S. 994 ff., 996 ff.]). 2. Hier wie sonst ist die Arbeit bemüht, Argumente zu entwickeln, die einen Anspruch auf universelle Geltung erheben können. Im Vergleich zu den o. Kap. 2, 3 und 4 behandelten Fragen des prozessualen Tatbegriffs, der ersten Strafe bzw. rechtskraftfähigen prozessabschließenden Entscheidungen weist das Gebiet der Wiederaufnahme aber drei augenfällige Besonderheiten auf, die dem vorliegenden Abschnitt seinen besonderen Charakter verleihen werden. Zunächst geht es bei der Wiederaufnahme um ein Gebiet, das vom positiven Recht detailliert geregelt ist. Konnte man deshalb bezüglich der anderen Fragen die vorpositive Theorie nahezu unverändert dem positiven Recht zugrunde legen, 3440 Zu ihnen Radtke, ZStW 110 (1998), S. 297 ff.; Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme, Rn. 99 ff. Dies soll nicht als Stellungnahme und erst recht nicht als indirekte Rechtfertigung für die in der Praxis herrschende „Vollstreckungslösung“ verstanden werden, derzufolge die Veränderung der im Urteil verhängten Maßregel ohne Antastung des Urteils vorzunehmen ist (etwa OLG Frankfurt NJW 1978, 2347; OLG Hamm NStZ 1982, 300; krit. Radtke, ZStW 110 [1998], S. 308 f., 309 ff.; Marxen/Tiemann, Rn. 107).

6. Kap.: Auflösung der materiellen Rechtskraft

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wird dies bei dem Recht der Wiederaufnahme nur beschränkt der Fall sein. Viele der vorliegenden Überlegungen werden deshalb nur de lege ferenda verwertbar sein; der Abschnitt wird zum guten Teil grundlagenorientierte Kritik des positiven Rechts sein müssen. Und gerade weil das detaillierte positive Recht seit vielen Generationen als unbefriedigend angesehen wird,3441 gibt es in dem Bereich eine ausgiebige Reformliteratur, die fast so alt ist wie die Strafprozessordnung selbst.3442 Diese Reformvorschläge, die einen Höhepunkt in den siebziger Jahren erreichten und die einen Bezug zu den Grundlagen des Wiederaufnahmerechts nicht scheuten, sollen hier Berücksichtigung finden. Zuletzt und wohl aus demselben Grund, also der Unzufriedenheit mit dem positiven Recht, verfügt man in dem Bereich über relativ viele rechtsvergleichende Studien in deutscher Sprache.3443 Dies wird es erleichtern, dem Anspruch der universellen Rechtswissenschaft, die eigenen Ansichten immer im Dialog mit den Gedanken aus anderen Rechtsordnungen zu entwickeln, gerecht zu werden.3444 3. Bei der Wiederaufnahme lässt sich besonders schön beobachten, wie sogar die herrschende Meinung intuitiv die Ebene der materiellen Gründe von derjenigen der positivrechtlichen Übersetzung unterscheidet, auf deren klare Trennung o. Teil 1 Kap. 1 C. (S. 107 ff.) bestanden wurde. Zum einen wird versucht, wichtige Erwägungen, die im Gesetz keine Anerkennung finden, irgendwie in der mehr oder weniger zufälligen Wortwahl der Vorschriften unterzubringen. Das klarste Beispiel dürfte der Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 5 StPO sein: 3441 v. Kries, Rechtsmittel, S. 411; Giehl, Wiederaufnahme, S. 57; Binding, Strafanspruch, S. 293 Fn. 27; v. Hentig, Wiederaufnahmerecht, Vorwort; H. Mayer, GS 99 (1930), S. 314: „systemlose Durchbrechung eines Prinzips“; O. L. Walter, Wahrheit und Rechtskraft, S. 75; H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 27; Hirschberg, Fehlurteil, S. 113: „Mißgeburt der Gesetzgebung“; Knoche, DRiZ 1971, S. 299; Wasserburg, ZRP 1997, S. 414; s. a. BRAK Denkschrift, S. 74. 3442 Aus späterer Zeit insb. Knoche, DRiZ 1971, S. 299 ff.; Dippel, GA 1972, S. 97 ff.; Peters, Fehlerquellen II, S. 315 ff.; J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 11 ff.; Deml, Wiederaufnahme, S. 11 ff.; Wasserburg, Wiederaufnahme, S. 10 ff.; Rieß, NStZ 1994, S. 153 ff.; van Essen, Kriminalistik 1996, S. 762 ff.; Stoffers, ZRP 1998, S. 173 ff.; Scherzberg/Thiée, ZRP 2008, S. 80 ff.; Marxen/Tiemann, ZIS 2008, S. 188 ff.; Schöch, FS Maiwald, S. 769 ff.; Gössel, LR-StPO vor § 359 Rn. 188 ff.; Frister, SK-StPO vor § 359 Rn. 28 ff.; alle m.w. Nachw. 3443 Insb. der Sammelband Jescheck/Meyer (Hrsg.), Wiederaufnahme; s. a. Rosenblatt, ZStW 26 (1906), S. 101 ff.; und aus jüngerer Zeit Swoboda, HRRS 2008, S. 188 ff. 3444 Ebenso wie schon bei der materiellen Rechtskraft (s. o. Fn. 11) muss auf eine rechtsgeschichtliche Darstellung des Wiederaufnahmerechts verzichtet werden, was nach der hier praktizierten geschichtlich-analytischen Methode (s. o. Teil 1 Kap. 1 C. [S. 112 f.]) keineswegs als Geringschätzung der Bedeutung dieser Erkenntnisquelle missdeutet werden sollte. Zur Geschichte der Wiederaufnahme etwa Remeis, Wiederaufnahme, S. 11 ff.; Sevestre, Révision, S. 13 ff.; Lemoine, Révision, S. 21 ff.; Prebois, Révision, S. 15 ff.; Ravizza, DigIt XX/2 (1913), S. 133 ff.; Deml, Wiederaufnahme, S. 5 ff.; Dean, Revisione, S. 19 ff.; und die Aufsätze in Gouron u. a. (Hrsg.), Error iudicis.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Ursprünglich zur Erfassung von Fehlern, die den tatsächlichen Grundlagen des Schuldspruchs anhafteten, konzipiert, wurde er mit der Anerkennung der endgültigen Einstellung als Wiederaufnahmeziel (obwohl das Gesetz nur den Freispruch nennt) auf gewisse Verfahrensfehler erweitert, die man noch unter das Merkmal der „Tatsachen“ subsumieren konnte (s. u. C. II. 2. d) [S. 915 ff.]). Auf der anderen Seite bemüht man sich darum, Vorschriften, die sich inzwischen als unbegründet erwiesen haben, aber wie lebende Leichen noch unter uns weilen, nach Möglichkeit unschädlich zu machen. Das wird am Umgang mit § 363 Abs. 1 StPO deutlich, der Strafzumessungswiederaufnahmen wesentlich erschwert (näher u. C. II. 2. b), c) [S. 903 ff., 911 ff.]). Wegen dieses etwas freieren Umgangs mit dem Gesetz ist also ein Zustand eingetreten, in dem es zwischen der Oberfläche der positivrechtlichen Regelungen und der materiellen Tiefenstruktur keine klaren Entsprechungen mehr gibt. Ein materieller Gedanke findet in unterschiedlichen Vorschriften einen teilweisen Ausdruck, einer Vorschrift liegen andererseits verschiedene materielle Gedanken zugrunde. Uns geht es in erster Linie um die materielle Tiefenstruktur; deshalb ist von einem „kleinen System“ gesprochen worden. Die Darstellung soll sich also an ihr orientieren. In Kauf zu nehmen ist damit, dass bestimmte positivrechtliche Vorschriften, vor allem § 359 Nr. 3 StPO, in ihrer Behandlung zerrissen werden müssen. An gewissen Stellen wird es sich deshalb schon der Übersichtlichkeit halber empfehlen, sozusagen in einer kleinen positivrechtlichen Bilanz auch den umgekehrten Weg nachzuzeichnen, der von den Vorschriften zu den gelegentlich heterogenen, in ihnen zum Ausdruck kommenden materiellen Erwägungen führt (insb. C. IV. [S. 952 ff.]). II. Begriffliche Vorfragen: zum „Wesen“ der Wiederaufnahme des Verfahrens 1. Die Wiederaufnahme des Verfahrens, die Gegenstand des vorliegenden Kapitels ist, bezeichnet allein die Konstellation der Auflösung der materiell voll rechtskräftigen Entscheidung durch das Subjekt, das an sich an die rechtskräftige Entscheidung gebunden ist.3445 Genauer geschieht das durch Beseitigung ihrer für die materielle Rechtskraft charakteristischen negativen Dimension (s. o. Kap. I A. I. [S. 330]), d.h. ihrer Sperrwirkung. Nach einer erfolgreichen Wiederaufnahme darf die Entscheidung neu gefällt werden; die alte Entscheidung ist nicht mehr verbindlich, sondern wird von der neuen ersetzt. Man beachte, dass nach diesem Begriff die Wiederaufnahme nicht formell als eine bestimmte Verfahrensform zu verstehen ist, sondern materiell, nämlich als 3445 Teilw. anders Pfenninger, SchwJZ 1947, S. 165: „Alle Möglichkeiten nun, die gestatten, fehlerhafte Urteile trotz Rechtskraft auf dem Rechtsweg zu verbessern, fassen wir unter dem Ausdruck der Wiederaufnahme . . . zusammen.“

6. Kap.: Auflösung der materiellen Rechtskraft

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Auflösung der materiell voll rechtskräftigen Entscheidung. Eine Wiederaufnahme muss also nicht notwendig in einem besonderen Verfahren nach dem Vorbild der §§ 359 ff. StPO erfolgen; eine Wiederaufnahme liegt auch dann vor, wenn nach einer voll rechtskräftigen Entscheidung ein erneutes Verfahren über dieselbe Tat durchgeführt wird. Das ist wichtig, weil, wie o. Kap. 4 E. V. (S. 775) schon gesehen, es Rechtsordnungen gibt, die ein „kleines Wiederaufnahmeverfahren“ für die Veränderung nur beschränkt rechtskräftiger Entscheidungen wie eines Nichteröffnungsbeschlusses vorsehen; dies sind keine Wiederaufnahmen im materiellen Sinne. Das bedeutet auch, dass, wenn zwei Staaten sich dazu verpflichten, die Rechtskraft der Entscheidungen gegenseitig anzuerkennen, eine erneute Verfolgung derselben Tat durch den jeweils anderen Staat materiell eine Wiederaufnahme verkörpert, und dies auch dann, wenn anstelle eines formellen Wiederaufnahmeantrags schlicht eine neue Anklage erhoben wird. Auch die o. Kap. 2 D. IV. 1. (S. 484 ff.) nicht beschuldigtenfreundlich orientierte Variante des dynamisch-inkongruenten Tatbegriffs, für die der Gegenstand der Anklage weiter reicht als der der Sperrwirkung, gestattet erneute Verfolgungen derselben Tat durch jemanden, der eigentlich an die Entscheidung gebunden war; materiell handelt es sich ebenfalls um eine Wiederaufnahme. Um eine Wiederaufnahme in diesem Sinne handelt es sich nur, wenn die Auflösung gerade vom Subjekt veranlasst wird, das an die Entscheidung gebunden ist. Es wäre nicht sehr ungenau zu sagen, dass Bindung in diesem Sinne weitgehend Beschwer bedeutet; diese Formulierung wird aber deshalb nicht übernommen, um nicht die Fragen nach der möglichen Beschwer durch Freisprüche aufzuwerfen.3446 Es ist wichtig, einzusehen, dass die Entscheidung zwei Subjekte verpflichtet, die Parteien, also den Beschuldigten und den Staat, und dies gerade in den Dimensionen der Entscheidung, die die Parteien zu dulden verpflichtet sind, obwohl sie sie als belastend empfinden können und gerne verändert hätten. Die Entscheidungsdimensionen indessen, die die Parteien in diesem Sinne nicht beschweren, können von der Partei verändert werden, ohne dass man von einer Wiederaufnahme sprechen kann. 2. Wenn es im folgenden Abschnitt um die Legitimität einer in diesem Sinne materiell verstandenen Wiederaufnahme geht, soll untersucht werden, wann die zwei Subjekte, die zur Hinnahme einer sie gegebenenfalls beschwerenden Entscheidung verpflichtet sind, also der Staat und der Beschuldigte, von dieser Pflicht entbunden sind und deshalb das Recht haben, sich um ihre Veränderung zu bemühen. Es sollen also die Mittel, die das positive Recht zur Auflösung der materiellen Rechtskraft durch die an sie gebundenen Personen vorsieht, also die Vorschriften des §§ 359 ff. StPO bzw. die Wiederaufnahme im formellen Sinne, wenigstens in ihren Grundzügen im Lichte dieser Legitimitätsbedingungen neu

3446

Zu ihnen knapp o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 6. d) (S. 317).

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

gedeutet werden. Die Wiederaufnahme im formellen Sinne ist also das Gewand, durch das das positive Recht den Legitimitätsanforderungen für materielle Wiederaufnahmen zu genügen versucht. 3. Deshalb kann die Rechtsordnung eine Vielzahl von Situationen der Rechtskraftdurchbrechung vorsehen, alle zugunsten des Beschuldigten, die keine Wiederaufnahme verkörpern und deshalb hier nicht untersucht werden müssen. Für Deutschland denke man nur an die Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand (§§ 44 ff. StPO), die Erstreckung der Revision auf Mitverurteilte (§ 357 StPO) oder die Urteilsverfassungsbeschwerde (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Andere Staaten gehen noch weiter und geben dem Vollstreckungsgericht in gewissen Situationen, wie etwa bei Abschaffung des angewandten Strafgesetzes, die Möglichkeit, rechtskräftige Verurteilungen zu widerrufen.3447 Die wohl wichtigste aller Formen der Rechtskraftdurchbrechung ist die Begnadigung, die gerade dort, wo das positive Recht dem Betroffenen Trost versagt, immer einschlägig sein kann. Spezielle Gesetze haben die Beseitigung von Urteilen von sog. Unrechtsregimes wie dem Dritten Reich oder der DDR zum Gegenstand.3448 Möglich ist auch eine Aufhebung durch einen sonstigen außergewöhnlichen Rechtsakt, wie unmittelbar durch ein Gesetz selbst (etwa § 1 NS-AufhG). Weil diese Maßnahmen alle vom Staat veranlasst werden, um den Beschuldigten zu begünstigen, stellen sie zwar eine Auflösung der materiellen Rechtskraft, aber keine Wiederaufnahme im materiellen Sinne dar. 4. Andere ausländische Rechtsinstitute, die nicht Wiederaufnahme heißen, können indes durchaus eine solche verkörpern. Dies ist zumindest zum Teil bei der unbefristeten außerordentlichen Nichtigkeitsbeschwerde der Fall, die in Österreich zur Korrektur von Rechtsfehlern vorgesehen wird (§ 23 östStPO) und für die auch in Deutschland vor allem de lege ferenda plädiert wird.3449 Sofern sie nicht vom Beschuldigten, sondern vom Staat (in Österreich vom Generalprokurator) eingelegt werden darf, und nicht nur zugunsten, sondern auch gegen den Beschuldigten eingesetzt werden kann, handelt es sich materiell um eine Wiederaufnahme zulasten. Wiederaufnahmen im materiellen Sinne sind auch die amerikanischen Rechtsbehelfe der motion for a new trial, die auch gegen rechtskräftige Verurteilungen zulässig ist,3450 und des writ of error coram nobis wegen Verfah-

3447 Ausführlich Normando, Rimedi rivocatori, S. 135 ff.; Troisi, Errore giudiziario, S. 150 ff. 3448 Insb. des NS-AufG v. 1998 und des StrRehaG, ausf. (auch zu weiteren Gesetzen) Gössel, LR-StPO vor § 359 Rn. 180 ff. 3449 Dafür Oetker, DWBl 1896, S. 89 ff.; ders. Rechtsgang 1 (1913), S. 16; Suchomel, FS Bumke, S. 137 ff.; für Beibehaltung zu der Zeit, als es sie noch gab, Schönke, SchwZStR 62 (1947), S. 96 f.; Gianturco, Error juris, S. 33 ff., 61 ff.; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 394 Fn. 1; abl. J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 120 f. 3450 Rule 33 FedRCrimP; Herrmann, Wiederaufnahme, S. 691 ff.

6. Kap.: Auflösung der materiellen Rechtskraft

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rensfehlern,3451 nicht aber des writ of habeas corpus,3452 das nicht das Urteil aufzuheben, sondern nur den Beschuldigten in Freiheit zu setzen bezweckt.3453 5. Es dürfte klar sein, dass nach diesen Bestimmungen die erneute Anklageerhebung nach einem Nichteröffnungsbeschluss keine Wiederaufnahme verkörpert, und dies nicht erst im formellen, sondern bereits im materiellen Sinne. Gelegentlich spricht man aber auch im Zusammenhang von § 211 StPO, also einer erneuten Anklageerhebung wegen nova nach einer Prozessbeendigung durch einen Nichteröffnungsbeschluss, von einer Wiederaufnahme.3454 Das Gesetz benutzt die Wendung „Wiederaufnahme der Klage“. Hier wurde dagegen vorgezogen, das Wort „Wiederaufnahme“ im Zusammenhang der Auflösung dieser hier sog. beschränkten Rechtskraft überhaupt nicht zu benutzen. Denn es gibt wichtige materielle Unterschiede zwischen der Konstellation der Wiederaufnahme des Verfahrens und der bloßen „Wiederaufnahme der Klage“, die durch eine unpassende Terminologie nicht verwischt werden sollen.3455 Nach den Ausführungen des vorletzten Abschnitts (o. Kap. 4 E. II., III. [S. 741 ff.]) dürfte bereits klar sein, worin dieser Unterschied besteht: Es ist nicht einerlei, ob ein Verfahren bis zur vollen Verdächtigungstiefe geduldet worden ist, oder ob nur eine Inkulpation vorliegt. Volle Verdächtigungstiefe muss mit einem besonders bestandsstarken Rehabilitierungsrecht honoriert werden. Bei einer Wiederaufnahme des Verfahrens im eigentlichen Sinne ist der Eingriff in das Rehabilitierungsrecht des Betroffenen deshalb von völlig unterschiedlicher Qualität. Zwischen den zwei Wegen der Verfahrensfortsetzungen bestehen also nicht nur formelle Unter3451 United States Code, Title 28, § 2255; zu diesem Rechtsbehelf instruktiv Herrmann, Wiederaufnahme, S. 697 f. 3452 Herrmann, Wiederaufnahme, S. 700 ff.; ausf. Berkowitz, Habeas corpus, S. 39 ff. 3453 Herrmann, Wiederaufnahme, S. 702. 3454 So Lobe, GS 110 (1938), S. 249; P. Herzog, Rechtskraft, S. 135; s. a. BGHSt 18, 225 (226): In einer bestimmten Hinsicht bestünde zwischen beiden „kein grundsätzlicher Unterschied“. Siehe auch Radtke, Strafklageverbrauch, S. 315 f., der zwar den hier sogleich behaupteten materiellen Unterschied zwischen beiden Konstellationen nicht verkennt, aber einen weiten Begriff der Wiederaufnahme vorzieht, der auch die Einleitung eines neuen Verfahrens ohne eine formelle Auflösung des Ergebnisses des früheren Verfahrens erfasst (und deshalb etwa § 211 StPO als Wiederaufnahmevorschrift deutet); für ihn gibt es also zwei Formen der Wiederaufnahme, §§ 359 ff. StPO und die erneute Anklageerhebung (S. 316 ff.). Bezüglich der riapertura dell’istruzione des früheren italienischen Rechts Lozzi, Enc. Dir. XVIII (1969), S. 918; ders. Ne bis in idem, S. 9 f. 3455 Im Erg. ebenso Ortloff, GS 23 (1871), S. 200; v. Kries, Rechtsmittel, S. 414 Fn. 228; v. Schwarze, Wiederaufnahme, S. 327; Giehl, Wiederaufnahme, S. 12 (auf Grundlage einer autoritätsorientierten Rechtskraftlehre); Santoro, Manuale, S. 546 f.; Eb. Schmidt, Lehrkommentar, § 211 Rn. 8: „Mit der Wiederaufnahme i. S. §§ 359 ff. hat das neue Verfahren gar nichts zu tun“; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 317 f.; Vanni, EncDir XL (1991), S. 169 ff.; Dani, DDP XII (1997), S. 148 f. (bzgl. der revoca della sentenza di non luogo a procedere); Jannelli, Cosa giudicata, S. 605 ff.; RGSt 13, 295 (297 f.), mit Berufung auf den Gesetzeswortlaut („Wiederaufnahme der Klage“); 48, 89 (92).

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

schiede.3456 Diesem Umstand sollte am besten dadurch terminologisch Rechnung getragen werden, dass allein im Fall der Auflösung der vollen Rechtskraft von einer Wiederaufnahme gesprochen wird. 6. Zugleich lässt sich der vielfach gebrauchte, aber selten definierte Begriff der sog. Ergänzungsklage3457 präzise erfassen, vor allem auch in seinem Unterschied zur echten Wiederaufnahme des Verfahrens. Eine Ergänzungsklage hat mit einem anderen Prozessgegenstand zu tun als das Erstverfahren; das Ersturteil soll dennoch verändert werden, damit der Beschuldigte keinen Nachteil davon hat, dass gegen ihn zwei Verfahren durchgeführt werden mussten. Dies wird am deutlichsten bei der Vorschrift, die eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung ermöglicht (§ 55 StGB), und die auf Ergänzungsklagen für idealiter konkurrierende verschiedene prozessuale Taten analog anzuwenden ist (s. o. Kap. 2 C. VI. 1. [S. 451]):3458 Mittels dieser Vorschrift kann der im ersten Urteil enthaltene Strafausspruch durch das Zweiturteil verändert werden. Der Beschuldigte wird durch diese Änderung ebenfalls besser gestellt, als wenn zwei selbständige Strafaussprüche gegen ihn ergehen müssten. Die Wiederaufnahme hat dagegen denselben Prozessgegenstand wie das Erstverfahren und verändert die Entscheidung gerade in der Hinsicht, in der der Antragsteller an sich gebunden wäre, sie zu akzeptieren. Wiederaufnahme und Ergänzungsklage unterscheiden sich also bereits materiell und nicht bloß formell.3459 7. Demgegenüber ist die alte begriffskonstruktivistische Frage danach, ob die Wiederaufnahme als selbstständiges Verfahren3460 oder als Fortsetzung des früheren Verfahrens3461 zu konzipieren ist, zweitrangig.3462 Im Grunde genommen handelt es sich bei dieser klassischen Streitfrage um ein Epiphänomenon, um 3456

So aber RGSt 43, 150 (152). Dass Ergänzungs- bzw. Vervollständigungs- oder Nachklagen sich in ihrem Wesen nicht von normalen Klagen unterscheiden, heben zutreffend Vogler, Rechtskraft, S. 100 f.; und Noftz, Prozeßgegenstand, S. 155 hervor. And. Hall, DRW 1941, S. 327, der unter Ergänzungsklage eine erneute Klage wegen derselben Tat versteht. 3458 Man vergesse nicht, dass nach dem hier vertretenen Tatbegriff Idealkonkurrenz eher gegen als für prozessuale Tatidentität spricht, s. o. D. VII. 1. (S. 531 f.), E. III. 5. (S. 582). 3459 Küßner, GA 1855, S. 198; Nagler, ZAkDR 1939, S. 402; Vogler, Rechtskraft, S. 100; verkannt von Busch, ZStW 68 (1956), S. 7. 3460 v. Schwarze, Wiederaufnahme, S. 326; Grünwald, ZStW-Beiheft 1974, S. 94; Vanni, Enc. Dir. XL (1991), S. 158; Gómez Colomer, Derecho jurisdicional III, S. 421; Cortés Domínguez, Derecho procesal penal, S. 573. 3461 So Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 431 Fn. 1; R. Neumann, Wiederaufnahme, S. 3 Fn. 2; Janitti Piromallo, Revisione, S. 31 („Auferstehung des Prozessverhältnisses“); Arndt, FS Schmid, S. 23; H. Günther, MDR 1974, S. 98; Callari, Revisione, S. 71, der in bester konstruktivistischer Manier daraus folgert, dass die Wiederaufnahme zulasten den ne bis in idem-Grundsatz gar nicht antaste. 3462 Radtke, Strafklageverbrauch, S. 320 Fn. 57. Zur beschränkten Aussagekraft begriffskonstruktivistischer Ansätze bereits o. Teil 1 Kap. 2 C. II. 1. (S. 141 ff.). 3457

6. Kap.: Auflösung der materiellen Rechtskraft

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eine strukturell-formelle Manifestation verschiedener materieller Prämissen. Konkret: Ein Verfahren, das als reine Suche nach der materiellen Wahrheit und Gerechtigkeit konzipiert ist, ist prinzipiell endlos. Diesem Bild näherte sich das gemeinrechtliche Inquisitionsverfahren, das deshalb die o. Kap. 1 C. IV., VII. (S. 351 f., 362 ff.) wiederholt angemerkten Schwierigkeiten mit der Rechtskraft hatte. In einem solchen Verfahren wäre die Wiederaufnahme eher als bloße Fortsetzung des Verfahrens zu beschreiben.3463 Aus der gebotenen Begründung, weshalb Verfahren enden und dieser Abschluss in Rechtskraft erwachsen muss (o. Kap. 1 D. [S. 371 ff.]), erkennt man bereits, dass die Wiederaufnahme nur als neues Verfahren begriffen werden kann. Aus diesen konstruktiven Beschreibungen wird sich indes nichts folgern lassen, was nicht bereits aus den ihnen zugrunde liegenden materiellen Prämissen gefolgert werden könnte. Deshalb wird im weiteren Verlauf des Abschnitts von derartigen Modellen kein argumentativer Gebrauch gemacht. III. Gegenstand der Wiederaufnahme 1. Zuletzt scheinen einige Worte über den Gegenstand der Wiederaufnahme angebracht. Im Grunde genommen dürfte man sich hier inhaltlich mit einem großen Verweis nach oben, nämlich auf Kap. 4 begnügen. Eine Wiederaufnahme kann nur dort in Betracht kommen, wo eine materiell rechtskräftige, d.h. eine volle (und nicht bloß rebus sic stantibus) Sperrwirkung entfaltende verfahrensabschließende Entscheidung vorliegt. Gegenstand der Wiederaufnahme sind in der Theorie also die Entscheidungen, die ein Verfahren beenden, nachdem es die Stufe der vollen Verdächtigungstiefe erreicht hat (im Einzelnen s. o. Kap. 4 F. II., III. [S. 777 ff.]). 2. Der Schritt von der vorpositiven Theorie zu dem positiven Recht ist jedoch nicht frei von Komplikationen. a) Dass eine Wiederaufnahme Urteile zum Gegenstand haben darf, ist bereits dem Wortlaut von §§ 359, 362 StPO zu entnehmen. Dass es sich um Sachurteile handeln müsse,3464 wäre auf Grundlage des abgelehnten klassischen Konzepts, das nur Sachentscheidungen Sperrwirkung zumisst (o. Kap. 4 B. II., C. II. 2. [S. 707 ff., 715 ff.]), konsequent. Für die Wiederaufnahme bestünde aus einer solchen Sicht schon kein Bedürfnis. Dem entspricht aber nicht die heute h. M. und noch weniger die oben vertretene Ansicht (s. vor allem Kap. 4 F. II. 4. [S. 794 ff.]). Der Wortlaut des Gesetzes verlangt keine Sachurteile, wir müssen nicht päpstlicher als der Papst sein. 3463

J. Schulz, FS OLG Oldenburg, S. 196. Dafür RGSt 19, 321 (323); HansOLG Hamburg JR 2000, 380 (381); Bennecke/ Beling, Lehrbuch, S. 598; Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 431; E. Mayer, Wiederaufnahme, S. 6 f.; Gantzer, Rechtskraft, S. 77; Meyer-Goßner, StPO vor § 359 Rn. 4; Kühne, Strafprozessrecht Rn. 1108. 3464

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

b) Bei Beschlüssen sieht die Sache etwas schwieriger aus. Im Wortlaut von §§ 359, 362 StPO werden sie nicht genannt; viele sprechen sich deshalb gegen ihre Wiederaufnahmefähigkeit aus.3465 Man darf dabei aber nicht vergessen, dass man Beschlüsse lange Zeit auch für rechtskraftunfähig hielt; die Wiederaufnahmeunfähigkeit war insofern bloß die Kehrseite davon. Diese Entscheidungen waren nicht erst wiederaufnahmeunfähig, sondern zunächst nicht einmal wiederaufnahmebedürftig. Für den praktisch wichtigsten aller verfahrensabschließenden Beschlüsse, nämlich den Strafbefehl, führte der Gesetzgeber eine Sonderregelung ein, die eine Wiederaufnahme ausdrücklich für zulässig erklärte (§373a StPO) und einen lange andauernden Streit etwas abmilderte.3466 Zu den meisten weiteren Beschlüssen äußerte er sich indessen nicht; aus § 373a StPO leiten einige den Umkehrschluss ab, dass andere Beschlüsse wiederaufnahmeunfähig seien,3467 andere benutzen die Vorschrift als Anknüpfungspunkt für eine Analogie im Sinne der Wiederaufnahmefähigkeit sonstiger Beschlüsse.3468 Parallel zu den Tendenzen, Beschlüsse als materiell rechtskraftfähig anzuerkennen, besteht aber eine unverkennbare Bestrebung, die Wiederaufnahme auch bei allen voll rechtskraftfähigen Entscheidungen für statthaft zu erachten.3469 Die Liste bleibt regelmäßig gleich: Von den verfahrensabschließenden Beschlüssen3470 sollen vor allem die Beschlüsse nach § 206b, § 349 Abs. 2, 4, § 371 Abs. 2 StPO im Wege

3465 HansOLG Hamburg JZ 1951, 185; OLG Bremen NJW 1959, 353; LG Hamburg MDR 1975, 246; LG Freiburg/Br. JR 1979, 161 (162); AG Lahn-Gießen MDR 1980, 595; LG Hamburg NStZ 1991, 149 (150); OLG Stuttgart NStZ-RR 1996, 176; OLG Zweibrücken NStZ 1997, 55 (55 f.); HansOLG Hamburg JR 2000, 380 (381); OLG Stuttgart wistra 2001, 239; E. Mayer, Wiederaufnahme, S. 7. 3466 Ausf. zu diesem Streit im früheren Schrifftum, das vor allem den Strafbefehl vor Augen hatte (§ 373a StPO wurde zuerst 1943 und nach seiner Beseitigung endgültig 1950 eingeführt, s. Eb. Schmidt, Lehrkommentar II § 373a Rn. 1), Giehl, Wiederaufnahme, S. 8 ff.; O. L. Walter, Wahrheit und Rechtskraft, S. 12 ff.; R. Neumann, GA 72 (1927), S. 180 ff.; ders. Wiederaufnahme, S. 15 ff.; heute Gössel, LR-StPO vor § 359 Rn. 49 ff. m.w. Nachw. 3467 Etwa HansOLG Hamburg JZ 1951, 185; OLG Bremen NJW 1959, 353; LG Hamburg MDR 1975, 246; LG Hamburg NStZ 1991, 149 (150); HansOLG Hamburg JR 2000, 380 (381); krit. zu dem Umkehrschluss Gantzer, Rechtskraft, S. 193 f. 3468 Geppert, GA 1972, S. 177. 3469 BGHSt 45, 37 (39: „in Ausnahmefällen“); BGH MDR 1985, 447 (448); OLG Neustadt/Weinstr. NJW 1961, 2363; OLG Oldenburg NJW 1962, 1169; OLG Saarbrücken NStZ-RR 2003, 180; LG Bremen StV 1990, 311; v. Kries, Rechtsmittel, S. 416 f.; Gantzer, Rechtskraft, S. 193 ff.; Hanack, JR 1974, S. 115; Lemke, ZRP 1978, S. 282 f.; Groth, MDR 1980, S. 595 f.; R. Hohmann, NStZ 1991, S. 507 f.; Schall, FS Stree/Wessels, S. 751; Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme, Rn. 29 ff.; Gössel, LR-StPO vor § 349 Rn. 50 ff. 3470 Denn ein Großteil der Diskussion und auch der in diesem Abschnitt angegebenen Fundstellen bezieht sich nicht in erster Linie auf verfahrensabschließende Beschlüsse, sondern auf Beschlüsse, die die Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen (umf. allein zu diesem Problem Schall, FS Stree/Wessels, S. 735 ff.).

6. Kap.: Auflösung der materiellen Rechtskraft

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der Wiederaufnahme angreifbar sein.3471 Man sagt, hier gehe es um Beschlüsse, die Urteile vertreten oder ersetzen,3472 oder um Beschlüsse, die eine verfahrensabschließende Sachentscheidung enthalten.3473 Eine ausgeglichene Stellungnahme muss zwischen der Wiederaufnahme zugunsten und zulasten unterscheiden. Die Wiederaufnahme zulasten verkörpert einen empfindlichen Eingriff in das Rehabilitierungsrecht desjenigen, der ein Verfahren erduldet hat (näher u. D. I. 2. [S. 957 ff.]). Sie ist deshalb nicht analogiefähig, sondern auf den gesetzlichen Numerus clausus beschränkt. Solange der Gesetzgeber den Wortlaut des § 362 StPO also nicht in dieser Hinsicht ergänzt, solange dort allein von Urteilen die Rede ist, muss man ihn beim Wort nehmen. Nur dort, wo der Gesetzgeber Beschlüsse ausdrücklich für wiederaufnahmefähig erklärt, wie beim Strafbefehl (§ 373a StPO), ist eine Wiederaufnahme zulasten des Beschuldigten zulässig. Deshalb kommt eine Wiederaufnahme bei allen Beschlüssen, die den Betroffenen nicht beschweren, nicht in Betracht (insb. §§ 206a, 206b, 153 Abs. 2, 349 Abs. 4 StPO). Das ist insbesondere beim Beschluss gem. § 349 Abs. 4 StPO unbefriedigend und sollte im Wege einer Gesetzesänderung verbessert werden. Bei einer Wiederaufnahme zugunsten ist man nicht auf vergleichbare Weise an den Gesetzeswortlaut gebunden. Hier muss man bedenken, dass die Entscheidung des Gesetzgebers, Verfahren einfacher auszugestalten und auch ohne Hauptverhandlung im Wege bloßer Beschlüsse zu erledigen, nicht immer auch für den Beschuldigten eine Entlastung bedeutet. Dort, wo dies nicht der Fall ist, also wo der Beschuldigte trotz Fehlens eines Urteils (wie bei einer „späten“, d.h. nach begonnener Beweisaufnahme erfolgenden Einstellung gem. § 153a Abs. 2 StPO) oder eines urteilsmäßigen Verfahrensabschlusses (wie bei Beschlüssen gem. § 349 Abs. 1, 2 StPO) einer akuten Verurteilungs- und Bestrafungsgefahr ausgesetzt worden ist, wird die verfahrenserledigende Entscheidung Sperrwirkung entfalten, unabhängig davon, ob sie in Beschluss- oder Urteilsform ergeht (s. o. Kap. 4 C. II. 1. [S. 713 ff.], F. I. 2. [S. 779 f.]). Wenn diese Beschlüsse, insbesondere im Fall einer endgültigen Einstellung nach § 153a Abs. 2 StPO, den Betroffenen nahezu wie Urteile beschweren und ihnen dieselbe Unveränderbarkeit zukommt wie rechtskräftigen Urteilen, ist es ungerecht, dem Betroffenen die Möglichkeit abzusprechen, dagegen mittels der Wiederaufnahme vorzugehen.3474 3471 Loos, AK-StPO vor § 359 Rn. 10; Eisenberg, JR 2007, S. 360, die beide auch den Beschluss nach § 206b StPO erwähnen; dem ist nicht zu folgen, weil ein solcher Beschluss den Angeklagten nicht beschwert, so dass nur eine (unzulässige, siehe gleich im Text) Wiederaufnahme zuungunsten in Betracht käme; Gössel, LR-StPO vor § 349 Rn. 54. 3472 Eisenberg, JR 2007, S. 360. 3473 Loos, AK-StPO vor § 359 Rn. 10; Gössel, LR-StPO vor § 359 Rn. 51. 3474 Häufig sagt man, dass, wenn schon Urteile wiederaufnahmefähig sind, Beschlüsse dies erst recht sein müssen; R. Schmitt, JZ 1961, S. 17; Groth, MDR 1980,

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Wenn sie ihn gar nicht beschweren, wie etwa § 153 Abs. 2 StPO, ist, solange man den Beschlüssen, die „spät“ erfolgen, strafklageverbrauchende Wirkung zuerkennt, eine Wiederaufnahme zugunsten nicht am Platz.3475 Besondere Schwierigkeiten könnten höchstens bei zwei Konstellationen auftauchen. Zunächst haben wir erkannt, dass staatsanwaltschaftliche verfahrensabschließende Verfügungen zum Teil volle Rechtskraft zur Folge haben können; vor allem ging es um den Fall einer Rücknahme der Anklage, die erst nach Beginn der Beweisaufnahme erfolgte (s. o. Kap. 4 F. III. 2. d) [S. 828 ff.]).3476 In diesen Fällen wird es aber an einer Beschwer des Beschuldigten fehlen. Ein justiziables Recht, seine Unschuld durch einen Freispruch förmlich bestätigt zu bekommen, steht ihm nicht zu (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 6. e) [S. 317]). Hier entstehen also nach näherem Hinsehen keine Probleme. Die einzig schwierige Konstellation könnte die einer Einstellungsverfügung gem. § 153a Abs. 1 StPO sein. Man stelle sich vor, der an sich unschuldige, aber vorsichtige Beschuldigte stimmt dem Angebot der Staatsanwaltschaft zu, erfüllt die Auflage, so dass das Verfahren gegen ihn eingestellt wird. Nachträglich kommt er in den Besitz von Beweismitteln, die zu einem Freispruch führen könnten, so dass er nicht einmal eine Auflage hätte zahlen müssen. Vor allem Hellmann möchte hier die Wiederaufnahme gem. § 359 Nr. 5 StPO analog anwenden.3477 Es dürfte aber mehr dafür sprechen, in dieser Einstellungsentscheidung, die grundsätzlich nicht in volle Rechtskraft erwächst (s. o. Kap. 4 F. III. 2. c) [S. 828 ff.]), trotz der Verhängung der Auflage keine Beschwer des Beschuldigten zu erblicken, wenn man ihm sowieso kein Recht zuerkennt, das Verfahren bis zum Beweis seiner Unschuld fortzutreiben (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 6. e) [S. 317]). Sein schutzwürdiges Interesse bezieht sich allein auf die Erstattung der erbrachten Leistungen; dafür stehen ihm aber sonstige Mittel zur Verfügung.3478 S. 596; Gössel, JR 2000, S. 384; Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme, Rn. 30; OLG Oldenburg NJW 1962, 1169; LG Bremen StV 1990, 311. Dem kann nur bezüglich der Wiederaufnahme zugunsten zugestimmt werden. Bei der Wiederaufnahme zulasten wäre dies eine unzulässige Analogie. I.S. der Wiederaufnahmeunfähigkeit der Einstellung gem. § 153a Abs. 2 StPO aber OLG Frankfurt a. M. NJW 1996, 3353. 3475 Teilw. übereinstimmend OLG Zweibrücken NJW 1996, 2246. 3476 Dafür auch Hellmann, MDR 1989, S. 956; zust. Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme, Rn. 34 f. 3477 Grdl. Hellmann, MDR 1989, S. 953 ff.; zust. Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme, Rn. 30, 34. 3478 Materiell könnte in diesem Fall ein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch gegeben sein (im Einzelnen hierzu etwa Maurer, Verwaltungsrecht, § 29 Rn. 20 ff.), obwohl nicht so eindeutig ist, ob die Leistungen rechtsgrundlos erfolgt sind, da das gesamte Verfahren nach § 153a StPO keine Stellung zur Schuldfrage nimmt und nur auf dem an sich durchaus bestehenden Verdacht beruht. Wie dem auch sei, es erschiene inakzeptabel, dass jemand, dem auf Grundlage eines bloßen Verdachts eine Leistung abverlangt worden ist, eines Verdachts, den er nachträglich möglicherweise widerlegen kann, sich mit dem Verlust des Geleisteten abfinden müsste. Dieselbe Sorgen, die der

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Dem Beschuldigten ist wenig gedient, wenn er auf den Leidensweg der Wiederaufnahme verwiesen wird.

B. Zur Legitimierbarkeit einer Auflösung der materiellen Rechtskraft Die zentrale Frage ist also, inwiefern sich ein Recht auf eine Auflösung der Rechtskraft durch den an sie Gebundenen begründen lässt. Es fragt sich dabei, welche Leitgedanken eine Rolle spielen müssen. Die herrschende Auffassung geht zutreffend davon aus, dass die Wiederaufnahme aus der Rechtskraftlehre heraus entwickelt werden muss.3479 Grundsätzlich sollte sich aus der Begründung der Rechtskraft spiegelbildlich die Begründung der Wiederaufnahme ergeben: Die Wiederaufnahme wird in den Fällen zu legitimieren sein, in denen die Gründe, die die Rechtskraft tragen, nicht (oder nicht mehr) bestehen. Ähnlich wie bei den Verfahrens- und Rechtskraftbegründungen wird man hier konstruktivistische und normative Ansätze und bei Letzteren verschiedene Rechtfertigungsstufen unterscheiden können. I. Begriffskonstruktivistische Ansätze Begriffskonstruktivistische Ansätze wollen auch hier einen logischen Widerspruch auflösen. Ihr Ausgangspunkt ist der prima facie Widerspruch zwischen der Idee der materiellen Rechtskraft und der Wiederaufnahme, wobei Erstere o. Kap. 1 A. I. (S. 328 ff.) als Unveränderbarkeit einer Entscheidung definiert worden ist und Letztere eine solche Veränderung verkörpert. Sie sind getragen von dem zu billigenden Anliegen, die Vorbehalte gegen eine traditionell als Feindin der Rechtskraft gedeutete Wiederaufnahme dadurch abzumildern, dass man beide miteinander versöhnt. So versuchte Janitti Piromallo den Widerspruch dadurch zu beseitigen, dass das erste Glied des Widerspruchsverhältnisses weggeleugnet wird: Die Wiederaufnahme richtet sich gegen Urteile, die eigentlich nichtig sind.3480 Mit der Frage nach der Nichtigkeit von Urteilen wird man sich hier nicht befassen können. Es ist aber zweifelhaft, ob in dem Zusammenhang der Wiederaufnahme von Staat sich um seinen Strafanspruch macht, weswegen er sich eine Korrektur der Einstellungsentscheidung bei einer Verfolgung als Verbrechen vorbehält (§ 153a Abs. 1 S. 5 StPO), müssen auch dort angebracht sein, wo es um eine Korrektur zugunsten des Betroffenen geht. 3479 Grünwald, ZStW-Beiheft 1974, S. 95; Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 87; Neumann, ZStW 101 (1989), S. 56; Wasserburg/Eschelbach, GA 2004, S. 339; Vanni, EncDir XL (1991), S. 161; abl. Leone, Tratatto III, S. 331. 3480 Janitti Piromallo, Revisione, S. 19 f.; nahestehend Bellantoni, Revisione, S. 14.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

einer Nichtigkeit gesprochen werden sollte.3481 Erstens bedeutet die von der Rechtskraft garantierte Unveränderbarkeit einer Entscheidung, dass die Entscheidung unabhängig von ihrer Richtigkeit gilt (s. o. Kap. 1 A. I. [S. 329 f.]); es mutet deshalb sonderbar an, dass die Entscheidung wegen eines Fehlers, der eventuell nicht einmal zu vermeiden war, nicht mehr gelten soll. Zweitens und vor allem ist der Gebrauch des Terminus Nichtigkeit (inesistenza) im vorliegenden Zusammenhang zumindest irreführend. Denn die Kategorie wird überwiegend dazu eingesetzt, Entscheidungen zu bezeichnen, die derart fehlerhaftig sind, dass sie keinerlei Rechtswirkungen entfalten und deshalb eigentlich nicht einmal einer Aufhebung bedürften.3482 II. Wiederaufnahme als Aufrechterhaltung der Autorität gerichtlicher Entscheidungen 1. Die Rechtskraftbegründung, die die Unabänderlichkeit der Entscheidung in erster Linie als Ausfluss ihrer Autorität und ihres Ansehens begreift (s. o. Kap. 1 C. I. [S. 338 ff.]), muss die Wiederaufnahme gerade dort für angebracht erachten, wo das Beibehalten der Entscheidung für deren Autorität und Ansehen noch schädlicher wäre. Dies wird nicht schon bei jedem Fehler der Fall sein, sondern eher bei solchen, die zu einem öffentlichen Ärgernis führen. Die autoritätsorientierte Deutung der Rechtskraft führt somit zu einer äußerst restriktiven Regelung der Wiederaufnahme. Diese Deutung ist nicht nur historisch von besonderer Relevanz, sondern lässt sich noch im früheren und auch gegenwärtigen deutschen Recht der Wiederaufnahme gut spüren. a) Historisch ist zuerst daran zu erinnern, dass die autoritätsorientierte Rechtskraftlehre die wichtigste materielle Stütze der Präsumptionstheorie des französischen Rechts darstellt (s. o. Kap. 1 C. IV. [S. 352 f.]), die ihrerseits bei den französischen Wiederaufnahmeregelungen, die auch für die deutsche Entwicklung einflussreich gewesen sind, mittragend war.3483 Wie es die Begründung des Reformgesetzes v. 29. Juni 1867 sagte, gelte bis zum Urteil die Unschuldsvermutung; danach sei aber das, was man dem Beschuldigten schuldete, dem Urteil geschuldet. Die Wahrheit des Urteils sei also zu vermuten.3484 Diese Vermutung 3481 Abl. auch Cristiani, Revisione, S. 102, mit dem Argument, dass sich die Wiederaufnahme gegen rechtmäßige Urteile richtet. 3482 Etwa Oetker, DWBl 1896, S. 88; ders. Rechtsgang 1 (1913), S. 14; Leone, RIDP 1936, S. 33; Santoro, Manuale, S. 412 f.; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 52 Rn. 25 ff. 3483 Mittragend, weil weitere Erwägungen, vor allem die Idee der unfehlbaren Jury, für diese Überhöhung der Rechtskraft von Relevanz waren, s. u. V. 2. (S. 886 f.). 3484 Siehe Sevestre, Révision, S. 7, mit Zitat und zust. Auf die Autorität der Entscheidungen berufen sich auch Sevestre, Révision, S. 6 ff.; Le Berte, Révision, S. 1 f.; Ravizza, DigIt XX/2 (1913), S. 126; Berenini, NuDigIt XVIII (1939), S. 526; Bouzat/Pinatel, Traité II, S. 1458.

6. Kap.: Auflösung der materiellen Rechtskraft

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wird erst bei einem erwiesenen Irrtum,3485 einem „erreur mathématiquement démontrée“ entkräftet.3486 Lange Zeit kannte das auf diesen Grundlagen beruhende nachrevolutionäre französische Strafprozessrecht, das zuerst sogar glaubte, ohne jegliche Wiederaufnahme auszukommen,3487 nur drei Wiederaufnahmegründe:3488 dass zwei Urteile einander derart widersprechen, dass sie mehrere wegen einer Straftat schuldig sprechen, die nur von einer Person begangen worden sein kann; das Bekanntwerden von Urkunden, die belegen, dass das getötete Opfer noch lebe, oder der Fall einer falschen Zeugenaussage, wegen der aber bereits ein Haftbefehl erlassen oder eine Anklage erhoben worden sein müsste.3489 Erst 1895 wurde in dieses „ängstliche und kleinliche System“ 3490 eine Wiederaufnahme propter nova gesetzlich eingefügt.3491 Aus deutscher Perspektive warf man der französischen Regelung Prinzipienlosigkeit vor,3492 was aber nicht völlig zutreffend ist: Die Regelungen sind vielmehr ein konsequenter Ausdruck einer Haltung, nach der die Rechtskraft in erster Linie als Ausdruck der Autorität hochzuachten ist.3493 Widersprüchliche Entscheidungen schaden dieser Autorität. Gleiches geschieht bei einem frei herumlaufenden „Toten“, dessen Status als Lebender sogar vom Staat durch Urkunden anerkannt worden ist: Die schiere Existenz dieses lebenden „Toten“, während sein Mörder hinter Gittern sitzt, spricht der Justiz Hohn. Ähnlich verhält es sich in dem Fall, in dem der Staat so sehr davon überzeugt ist, dass der Zeuge des Erstverfahrens falsch ausgesagt hat, dass dieser bereits strafrechtlich verfolgt wird: Die Erschütterung der in der richterlichen Entscheidung verkörperten Autorität wird also durch eine weitere richterliche Entscheidung erfol-

3485 Carfora, DigIt XIII/4 (1900), S. 279, 280; Berenini, NuDigIt XVIII (1939), S. 526. 3486 So der Abgeordnete Chelot, zit. n. Fazy, Revision, S. 32 f.; ebenso Sevestre, Révision, S. 7 f.; rückblickend Durand, Erreur judiciaire, S. 92. 3487 Näher u. V. 2. (S. 886 ff.). 3488 Zu dieser Regelung Hélie, Traité IX, S. 520 ff.; Rheingans, Rechtskraftlehre, S. 39 f.; zu ihrer Rezeption in Italien Orano, Revisione, S. 26 ff. Für den übersetzten Text s. J. Schulz, FS OLG Oldenburg, S. 201; zur Entstehungsgeschichte Fazy, Revision, S. 30 ff. 3489 Schwarze, NArchCrimR 1851, S. 554. 3490 Fazy, Revision, S. 27. 3491 Siehe Gassin, RSC 1963, S. 266 Fn. 1; in Italien erfolgte dies erst später, nämlich in der itStPO v. 1913, Art. 538 Nr. 2 (s. Janitti Piromallo, Revisione, S. 67 f.); gefordert wurde die Wiederaufnahme propter nova von Orano, Revisione, S. 152. 3492 Etwa Arnold, GS 3/1 (1851), S. 53 ff.; Schwarze, NArchCrimR 1851, S. 555; ders. GS 25 (1873), S. 414: „Halbheit, Principlosigkeit und Unklarheit“; ders. Wiederaufnahme, S. 333; Zachariä, Handbuch II, S. 674 („prinziplose Casuistik“); Remeis, Wiederaufnahme, S. 85; H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 22. 3493 J. Schulz, FS OLG Oldenburg, S. 202 f., der als weitere Gründe für diese restriktive Haltung die Idee des Schwurgerichts und die freie Beweiswürdigung nennt (S. 203 ff.).

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

gen.3494 In diesen Fällen verhält es sich sämtlich so, dass „dem Urteil entweder durch die Natur der Sache oder durch ein anderes Urteil widersprochen wird“.3495 Auch in der erst 1896 erfolgenden Anerkennung der Wiederaufnahme propter nova äußerte sich die restriktive Einstellung: Nova sollten erst eine Wiederaufnahme rechtfertigen, wenn sie „der Beschaffenheit sind, die Unschuld zu beweisen (établir)“.3496 Das ist Ausdruck des gerade erwähnten Gedankens, dass erst der sichere Irrtum die Autorität der Gerichtsentscheidungen gefährde. Nicht nur in den materiellen Wiederaufnahmegründen, sondern auch und insbesondere in der prozessualen Ausgestaltung der Wiederaufnahme, die hier nur am Rande interessiert (s. o. A. I. [S. 853 f.]), äußerte sich die restriktive Haltung. So wurde die Cassation zum zuständigen Gericht für Wiederaufnahmeanträge erklärt;3497 und lange Zeit sprach man dem Betroffenen das Recht ab, sein Wiederaufnahmebegehren direkt an die Gerichte zu richten, sondern verwies ihn auf den allein antragsberechtigten Justizminister – bei der Wiederaufnahme propter nova sogar bis 1989!3498 Bouzat/Pinatel rechtfertigten diese Beschränkung noch 1970 mit dem Argument, dass sie erforderlich sei, denn bei der Wiederaufnahme propter nova verhalte es sich so, dass „les pourvois téméraires étant à craindre“.3499 3494

Siehe auch Fazy, Revision, S. 71 (krit.). Hélie, Traité VIII, S. 523. 3496 Siehe Jardin, Erreurs judiciaires, S. 105 ff.; Le Berte, Révision, S. 99 ff.; Prebois, Revision, S. 75 ff., alle krit.; S. Mayer, Révision, S. 113 (etwas abw. freilich S. 119); Sevestre, Révision, S. 197 ff., beide zust.; rückblickend Maunoir, Revision, S. 43 (Gesetzestext), 49 ff.; die Rechtsprechung interpretierte die Vorschrift eher großzügig und begnügte sich wortlautwidrig mit ernsthaften Zweifeln an der Schuld (Maunoir, Révision, S. 50; Bouzat/Pinatel, Traité II, S. 1462 beide m. Nachw.; ebenso Grebing, Wiederaufnahme, S. 327, ebenfalls m. Nachw.). Inzwischen heißt es expressis verbis, dass das novum bloß einen Zweifel an der Schuld des Verurteilten herbeiführen müsse (Art. 622 Nr. 4 franzStPO). Eine ähnliche Entwicklung gab es in Italien: Die itStPO v. 1930 bestimmte noch bis zur Reform von 1965, dass die nova den Freispruch „offensichtlich machen“ (redono evidente) müssten (Art. 554 Nr. 4) (s. zu dieser Reform Dalia, RitDPP 1965, S. 794 ff.); in der itStPO v. 1990 ist hingegen davon die Rede, dass sie die Gebotenheit des Freispruchs „belegen“ (dimostrano) müssen (Art. 630 c] itStPO). Die alte Vorschrift scheint jedoch wortlautgetreu interpretiert worden zu sein, s. etwa Berenini, NuDigIt XVIII (1939), S. 528 (die Unschuld müsse sich aus dem novum „sicher und unzweideutig“ ergeben); Santoro, Manuale, S. 682; Mele, ArchPen 1960, S. 42; Galli, NovDigIt XVI (1969), S. 1209. Zum Ganzen J. Bosch, Wiederaufnahme, S. 371 f.; Callari, Revisione, S. 187. In Spanien, das noch eine Vorschrift gleichen Wortlauts wie die frühen/früheren französischen und italienischen Vorschriften kennt (Art. 954 Abs. 4 spanStPO), verlangt die Rspr. zweifelsfreie Feststellung der Unschuld (aus jüngerer Zeit etwa ATS 7931/2013, II.2; ATS 7203/2013, II.2; ATS 6929/ 2013, II.2; ATS 6928/2013, II.2). 3497 Diese Zuständigkeitszuweisung machte in Kontinentaleuropa Geschichte, s. Art. 11 Abs. 4 d, Art. 455 portStPO; Art. 557, 558 itStPO v. 1930 (die itStPO v. 1990, Art. 633 Abs. 1 S. 2, verlagerte diese Zuständigkeit auf das Berufungsgericht [„corte d’appello“], s. Presutti, Revisione, S. 7; Callari, Firmitas, S. 219). 3498 Hierzu bereits o. Kap. 1 C. I. (S. 343). 3499 Bouzat/Pinatel, Traité II, S. 1464. 3495

6. Kap.: Auflösung der materiellen Rechtskraft

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b) Auch in Deutschland hat dieses Verständnis der Wiederaufnahme besondere Bedeutung, und dies sowohl in der Wissenschaft als auch in Rechtsprechung und Gesetzgebung. aa) In der Wissenschaft berufen sich viele namhafte Autoren auf den Autoritätsgedanken, um den Sinn der Rechtskraft und ihrer Auflösung zu erklären.3500 Der Prominenteste von allen dürfte Binding gewesen sein, der meinte, dass die Wiederaufnahme allein „um des ergangenen Urteils Willen“ erfolge.3501 Die Beschränkungen der Rechtskraft ergeben sich aus seiner Perspektive daraus, dass „der Staat sich schämte, gewisse Urteile, behaftet mit einem starken Schein der Unhaltbarkeit den Parteien dauernd aufzunötigen“.3502 Und Eb. Schmidt schrieb: „Jedes Fehlurteil schadet der Autorität der Gerichte.“ 3503 Die Wiederaufnahme deutete er folgerichtig als Schutz der Urteile in ihrem Wahrspruchcharakter.3504 In der heutigen Welt, in der Autorität schlechte Presse hat, hütet man sich eher davor, sich mit der Binding’schen Offenheit autoritätsbezogener Begründungen zu bedienen. Bezeichnend ist die Ausdrucksweise von Loos, der meint, dass die unbeschränkte Neuüberprüfbarkeit gerichtlicher Entscheidungen „das Funktionieren der Strafrechtspflege, sowohl was ihre Ressourcen als auch was ihre Befriedungskompetenz (,Ansehen‘) angeht, ausschließt“.3505 Bei der Diskussion einzelner Fragen zeigt sich aber trotzdem, dass auf den Hinweis auf das Ansehen der Rechtspflege nicht gerne verzichtet wird, um die Rechtskraft gegen die Wiederaufnahme in Schutz zu nehmen.3506 Hier haben auch gegenwärtige Autoren weniger Bedenken, auch ohne Anführungszeichen von Autorität, Ansehen und dergleichen zu sprechen. bb) Diese Ansicht hat eine ganz greifbare praktische Kehrseite. Die Wiederaufnahme muss aufs Notwendigste beschränkt werden, im Idealfall auf die Fälle, 3500 Zusätzlich zu den in den nächsten Fn. Zitierten noch Marquardsen, GS 3/2 (1851), S. 40 („Würde des Gesetzes“); Waser, GS 3/2 (1851), S. 377; Hamm, DJZ 1905, Sp. 714; E. Mayer, Wiederaufnahme, S. 3; R. v. Pestalozza, 36. DJT Bd. I, S. 1183; Neumann, Wiederaufnahme, S. 2; Wunderer, DJZ 1936, Sp. 157; Pfenninger, Rechtsmittel, S. 344; Loos, AK-StPO vor § 359 Rn. 4; Pfeiffer, FS Graßhoff, S. 271. 3501 Binding, Strafanspruch, S. 295. 3502 Binding, Strafanspruch, S. 293 f. 3503 Eb. Schmidt, Kolleg Rn. 339. 3504 Eb. Schmidt, Kolleg Rn. 437. 3505 Loos, AK-StPO vor § 359 Rn. 4. 3506 Beispielsweise Arnold, GS 3/1 (1851), S. 46; Schwarze, NArchCrimR 1851, S. 562; Winkler, GS 78 (1911), S. 347, 353; O. L. Walter, Wahrheit und Rechtskraft, S. 23, 79; Peters, ZStW 56 (1935), S. 54; ders. Strafprozeß, S. 668; ders. Fehlerquellen III, S. 41; Stock, FS Mezger, S. 449 ff.; Lampe, GA 1968, S. 33; Schroeder, in: Eckert, ZStW 84 (1972), S. 948; Deml, Wiederaufnahme, S. 138; Bottke, NStZ 1981, S. 137; Kato, ZIS 2006, S. 354; Eisenberg, JR 2007, S. 368. Siehe noch die üblichen Deutungen des Wiederaufnahmegrunds der Amtspflichtverletzung des Richters (§§ 359 Nr. 3, 362 Nr. 3 StPO, u. C. II. 3., 4. a) [S. 943], D. VI. 3. [S. 986 ff.]) und des glaubhaften Geständnisses (§ 362 Nr. 4 StPO, u. D. VI. 1. [S. 982]).

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

in denen die Beibehaltung des Urteils ein öffentliches Ärgernis zur Folge hätte. In Frankreich schrieb Trebutién: „Die Wiederaufnahme, im Grundsatz legitim und erforderlich, würde zu einer sozialen Bedrohung (danger social), wenn sie nicht mit großer Sorgfalt geregelt und mit äußerster Zurückhaltung gewährt wird.“ 3507 Hierzulande gab es ähnliche Mahnungen zur Vorsicht: „Bei der Frage wegen Stärkung der Rechtskraft kommt es nicht darauf an, ob das Urteil . . . ein ,gutes‘ ist, denn jede rechtskräftige Entscheidung hat schon um ihrer selbst willen Anspruch auf thunlichste Wahrung ihrer Autorität. Unzweifelhaft wird diese am besten durch Verhinderung oder Erschwerung der Anfechtung des Urtheils gesichert.“ 3508 Vor allem angesehene Praktiker äußerten sich in aller Offenheit im vergleichbaren Sinne. Der Reichsgerichtsrat Schwarz schrieb 1928, damit die Sprüche der Gerichte „das für eine geordnete Rechtspflege unentbehrliche Ansehen der Volksgenossen genießen“, dürften sie nur äußerst sorgfältig getroffen werden. „Sind sie einmal gesprochen und rechtskräftig geworden, so würde das Vertrauen zur Strafrechtspflege schwer untergraben werden, wenn der Staat eine leichtfertige Aufhebung der Entscheidung zuließe, die vorher in seinem Namen als Wahrspruch erlassen ist“.3509 Und der Reichsgerichtsrat Schultz warnte davor, dass jeder erfolgreiche Wiederaufnahmeantrag schon allein wegen der Verschlechterung der Beweislage die große Wahrscheinlichkeit eines Freispruchs begründe: „Und nun bedenke man, welchen Eindruck derartige Freisprechungen auf die Allgemeinheit machen . . . wie sie das Vertrauen in unsere Strafrechtspflege erschüttern, Verbrecher zu Märtyrern stempeln und Sträflinge zu Wiederaufnahme-Anträgen anreizen“.3510 „Eine Ueberzahl von Wiederaufnahme-Sachen schädigt das Ansehen der Strafrechtspflege, macht unnütze Mehrarbeit und unverhältnismäßige Kosten, da beinahe jede Sache den ganzen Instanzenzug noch einmal in Gang setzen kann.“ 3511 Man müsse bedenken, dass „durch das Wiederaufnahmeverfahren ja die Rechtskraft eines Urteils angegriffen wird und daher strenge Anforderungen zu stellen sind.“ 3512 cc) Auch in der seit jeher als übermäßig restriktiv empfundenen Gesetzgebung sind viele Züge vorhanden, die sich am natürlichsten als Manifestation einer solchen Haltung des Respekts vor der Autorität der Rechtskraft deuten lassen. Mit 3507

Trebutién, Cours II, S. 579. West, GS 54 (1899), S. 202. 3509 Schwarz, DJZ 1928, Sp. 1294. Die Passage geht so weiter: „Daher muß der Gesetzgeber die Wiederaufnahme an erschwerte Bedingungen knüpfen . . .“. 3510 Schultz, JR 1928, S. 235; ähnliche Befürchtungen bei Hamm, DJZ 1905, Sp. 711. Die zitierten Sätze tauchen im Zusammenhang seiner Verteidigung einer vorgeschlagenen Neuformulierung des § 359 Nr. 5 StPO auf, nach der die neuen Tatsachen oder Beweismittel entweder ergeben müssten, dass der Angeklagte unschuldig ist oder dass kein begründeter Verdacht gegen ihn mehr vorliegt; zu ihr die berechtigte Kritik von Lippmann, in: DJZ 1906, Sp. 994 f. 3511 Schultz, JR 1929, S. 237. 3512 W. Schmidt, NJW 1958, S. 1333. 3508

6. Kap.: Auflösung der materiellen Rechtskraft

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den meisten von ihnen, die eher mit Berufung auf Belange der Rechtssicherheit begründet werden, wird man sich im weiteren Verlauf des Kapitels näher beschäftigen; jetzt soll nur ein einziges, nur historisch relevantes Beispiel aufgegriffen werden, nämlich die „leidige“ 3513 Regelung des § 364 StPO. Nach dieser Vorschrift setzt eine Wiederaufnahme, die auf die Behauptung einer Straftat gegründet ist, grundsätzlich das Vorhandensein einer rechtskräftigen Verurteilung wegen dieser Straftat voraus. In S. 2 wird ausdrücklich klargestellt, dass die Wiederaufnahme propter nova (§ 359 Nr. 5 StPO) von dieser fühlbaren Beschränkung, die nichts anderes als ein „in dubio contra reum“ verkörpert,3514 befreit ist. S. 2 ist aber der Vorschrift erst nachträglich zugefügt worden; davor war die durch die Bestimmung geklärte Frage lange Zeit umstritten.3515 Hauptargument für die restriktive Auffassung, die auch die Wiederaufnahme gem. § 359 Nr. 5 StPO dem Regime des § 364 unterstellen wollte, wenn das novum eine Straftat war, war die „Stärkung der Autorität der Rechtskraft“,3516 konkreter der o. S. 868 gerade gesehene französische Gedanke, dass die Autorität des früheren Urteils erst durch ein weiteres Urteil in Frage gestellt werden dürfe.3517 2. Gegen diesen Ansatz ist kein neuer Einwand erforderlich. Es reicht aus, zu wiederholen, was bereits gegen die autoritätsbezogene Begründung der Rechtskraft angeführt worden ist (s. o. Kap. 1 C. I. [S. 341 ff.]): Erstens und empirisch ist es völlig unklar, wie sich die Richtigkeit und Falschheit einer Entscheidung zu der Autorität der Gerichte genau verhält. Zweitens und normativ sollte daran erinnert werden, dass Autorität für sich genommen keinen Grund liefert, sondern ihrerseits auf Gründe angewiesen ist, wenn sie mehr sein möchte als ein nackter prozessualer Machiavellismus (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. II. 3. [S. 155 ff.]). III. Das herrschende Konzept: Wiederaufnahme als Rückschlag der Gerechtigkeit gegen die Rechtssicherheit 1. Für die herrschende Auffassung, die schon die Rechtskraft als Triumph der Rechtssicherheit (oder auch des Rechtsfriedens) über die Gerechtigkeit ver3513

Rosenfeld, 36. DJT Bd. I, S. 1152. v. Hentig, Wiederaufnahmerecht, S. 66. 3515 Dafür KG JW 1927, 2073; OLG Oldenburg DJZ 1912, 927; West, ZStW 16 (1896), S. 250 ff.; ders. GS 54 (1899), S. 180 ff.; ders. GS 61 (1902), S. 149 f.; B. Ullmann, Wiederaufnahme, S. 22 f. Dagegen Rosenblatt, GS 53 (1897), S. 451 ff.; Ditzen, ZStW 18 (1898), S. 60 ff.; Löwenstein, DJZ 1901, Sp. 358 f.; Giehl, Wiederaufnahme, S. 27; v. Lilienthal, DStrZ 1914, Sp. 163; v. Hentig, Wiederaufnahmerecht, S. 68 Fn. 3, S. 95 f.; Rosenfeld, 36. DJT Bd. I, S. 1152 ff.; O. L. Walter, Wahrheit und Rechtskraft, S. 34; Schneidewin, JZ 1957, S. 538 f.; ausf. zum Ganzen m.v.Nachw. R. Neumann, Wiederaufnahme, S. 78 ff. 3516 West, GS 54 (1899), S. 186, 202. 3517 v. Kries, Lehrbuch, S. 702; West, ZStW 16 (1896), S. 248; s. a. Schultz, JR 1929, S. 236: „[E]ntgegengesetze Feststellungen in den beiden Verfahren über die behauptete Straftat (müssen) unbedingt vermieden werden . . .“. 3514

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

steht,3518 liegt es nahe, die Wiederaufnahme als Situation zu deuten, in der die Gerechtigkeit zurückschlägt und die Oberhand gewinnt.3519 Die der Rechtskraft zugrunde liegende Abwägung führe zwar im Regelfall zu einem Vorrang der 3518

Vgl. o. Kap. 1 C. II., III. (S. 344 ff., 350 ff.). Remeis, Wiederaufnahme, S. 1 ff.; Zachariä, Handbuch II, S. 674; v. Kries, GA 1878, S. 169 f.; Schanze, ZStW 4 (1884), S. 457; Glaser, GrünhutZ 12 (1885), S. 308; v. Kries, Lehrbuch, S. 701 f.; Birkmeyer, Strafprozeßrecht, S. 95 f., 734; Bennecke/Beling, Lehrbuch, S. 598; B. Ullmann, Wiederaufnahme, S. 2; Nagler, GS 73 (1909), S. 223; Giehl, Wiederaufnahme, S. 4, 44: „Widerstreit zwischen der formellen und der materiellen Wahrheit“; Gerland, Strafprozeß, S. 436; O. L. Walter, Wahrheit und Rechtskraft, S. 10; Doerner, Wiederaufnahme, S. 428 f.; Pinatel, Fait nouveau, S. 2; Dohna, DStR 1936, S. 17 f.; Lobe, GS 110 (1938), S. 253; E. Wolter, Rechtskraft, S. 43; Grau, DJ 1943, S. 354; Exner, Strafverfahrensrecht, S. 11, 74, 86; Maunoir, Revision, S. 34; Eb. Schmidt, Lehrkommentar II, Vorbem §§ 359 ff. Rn. 4; Dickersbach, Wiederaufnahme, S. 2, 55; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 394; Lampe, GA 1968, S. 38, 47; Gantzer, Rechtskraft, S.189 f.; P. Herzog, Rechtskraft, S. 119; Dippel, GA 1972, S. 106; Tjong, Wiederaufnahme, S. 399; Ziemba, Wiederaufnahme, S. 7 ff.; Figueiredo Dias, Direito processual penal, S. 44; J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 37; Deml, Wiederaufnahme, S. 1, 39 ff. („Polarität von Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit“); Wasserburg, ZStW 94 (1982), S. 924; ders. ZRP 1997, S. 412; Neu-Berlitz, Bestandskraft, S. 7; Peters, Strafprozeß, S. 668; Neuhaus, Tatbegriff, S. 159; Laubenthal, GA 1989, S. 21; Gössel, NStZ 1993, S. 565; Stern, NStZ 1993, S. 409; Loos, AK-StPO vor § 359 Rn. 1; Art. Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 195; Pfeiffer, FS Graßhoff, S. 271; Stoffers, ZRP 1998, S. 174; Dean, Revisione, S. 1 f.; Eschelbach, KMR-StPO vor § 359 Rn. 4; Lonati, CassPen 2002, S. 3182; Kniebühler, Ne bis in idem, S. 34; Ziemann, ARSP-Beiheft 103 (2005), S. 137; ders. JR 2006, S. 413; ders. HRRS 2008, S. 366; Kato, ZIS 2006, S. 354; Vogel, FS Schroeder, S. 887; Eisenberg, JR 2007, S. 360; Grünewald, ZStW 120 (2008), S. 547, 565 f., die aber meint, dieser Konflikt sei kein Spezifikum des Wiederaufnahmerechts; Pfeiffer/Hanich, KK-StPO Einl Rn. 169; Conde Correia, Caso julgado, S. 21; Cortés Domínguez, Derecho procesal penal, S. 571; Letzgus, FS Geppert, S. 789, 793; Troisi, Errore giudiziario, S. 106; Mancuso, Giudicato, S. 96; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 1 Rn. 4, § 57 Rn. 1 (hier unter dem Dach des Rechtsfriedens); Beulke, Strafverfahrensrecht, Rn. 585; wohl auch Glaser, GS 36 (1884), S. 120 f.; Binding, Strafurteil, S. 338; Mele, ArchPen 1960, S. 41 und Ziemann, ARSP-Beiheft 103 (2005), S. 134, wenn auch einschränkend S. 138 ff. Aus der deutschen Rspr. BGHSt 39, 75 (78); 45, 37 (38); 48, 153 (159); 48, 331 (337); BVerfGE 22, 322 (329); BVerfG MDR 1975, 468 (469); NJW 1990, 3193 (3194); NJW 1994, 510; NJW 1995, 2024; StV 2003, 225; HansOLG Hamburg JR 2000, 380 (382); ähnl. die Rspr. des EGMR, z. B. Kiselev v. Russland, Beschw. Nr. 75469/01, v. 29.1.2009, Rn. 26; Fedorov v. Russland, Beschw. Nr. 63997/00, v. 26.2.2009, Rn. 29 („the power to reopen criminal proceedings must be exercised by the authorities so as to strike, to the maximum extent possible, a fair balance between the interests of the individual and the need to ensure the effectiveness of the system of criminal justice“, d.h., es komme darauf an, „if serious legitimate considerations outweigh the principle of legal certainty“); s. a. die italienische Rspr., Corte Costituzionale GiurCost 1969, 384 (391 f.); Cassazione Penale CassPen 2007, 2726 (2728); die portugiesische Rspr. Tribunal Constitucional Acórdão 301/2006, Rn. 4; und die spanische Rspr., Tribunal Supremo ATS 8694/2013, II.2; ATS 8693/2013, II.2; STS 4759/2013, II.2; ATS 7931/2013, II.2; ATS 7203/2013, II.2; ATS 6929/2013, II.2. Eher von Rechtsfrieden als von Rechtssicherheit sprechen Lampe, GA 1968, S. 39; Hanack, JZ 1973, S. 394; Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 106 ff., 115. Materiell bedeutet das keinen großen Unterschied; nur ist die Neigung, dass man den Begriff des Rechtsfriedens gegensatzaufhebend deutet, etwas größer (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. III. 4., 5. [S. 188 f., 196 f.]), was nicht zu derart erheblichen Verschiedenheiten 3519

6. Kap.: Auflösung der materiellen Rechtskraft

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Rechtssicherheit vor der Gerechtigkeit. In bestimmten Extremsituationen verhalte es sich aber genau umgekehrt, so dass die Rechtssicherheit der Gerechtigkeit zu weichen habe. Nicht selten argumentiert man hier ähnlich wie die Radbruch’sche Formel: Die Rechtssicherheit muss zurückstehen, wenn ansonsten die Ungerechtigkeit ein unerträgliches Maß erreichen würde.3520 2. Nach der oben Kap. 1 C. II. (S. 346 ff.) ausführlich entwickelten Kritik an einem Rechtskraftverständnis, das auf der Rechtssicherheit beruht, kann es nicht mehr überraschen, wenn das von der h. M. vertretene Wiederaufnahmekonzept auch zurückgewiesen wird. a) Denn erstens kann kein Grund des Gemeinwohls, und deshalb auch keine Rechtssicherheit, die Bestrafung eines Unschuldigen rechtfertigen.3521 Alles andere wäre eine Instrumentalisierung. Es ist nicht nur so, dass sein Interesse die Rechtssicherheit oder den Rechtsfrieden überwiegt, sondern Unschuld und Rechtssicherheit bzw. Rechtsfrieden lassen sich nicht auf eine Ebene bringen; vor der Unschuld sind Rechtssicherheit und Rechtsfrieden von keinerlei Gewicht. Die Wiederaufnahme zugunsten des Beschuldigten kann also nach dem herrschenden Konzept nicht befriedigend erklärt werden (näher u. C. I. [S. 898 ff.]). b) Ein umgekehrtes Problem ergibt sich bei der Begründung der Wiederaufnahme zulasten des Beschuldigten. Würde die Rechtskraft, also die erschwerte Abänderbarkeit einer Entscheidung,3522 allein auf dem in erster Linie gesellschaftsbezogenen Interesse an Rechtssicherheit beruhen, dann hätte man mit allen o. Kap. 1 C. II. (S. 346 ff.) genannten Schwierigkeiten zu kämpfen; vor allem wäre es bei gravierenden Straftaten besonders schwer, eine Rechtskraft überhaupt anzuerkennen (s. o. S. 348 f.).3523 c) Das Abstellen auf Abwägungen ist zudem aus denselben Gründen fragwürdig, die o. Teil 1 Kap. 2 C. V. 1. (S. 224 ff.) in unserer Kritik von Abwägungsansätzen ausgearbeitet wurde. aa) Zunächst gibt es methodische Bedenken. Im vorliegenden Bereich, bei dem es um die Rechtskraft und ihre Auflösung geht, kommen Abwägungen regelmäßig bloß zu verschwommenen Tendenzen, die von konkreten subsumtionsfähigen

führt, die es rechtfertigen würden, dass man beide auch hier getrennt voneinander behandelt. Siehe zuletzt BT-Drs. 13/3594, S. 5. 3520 Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 430; Stree, In dubio pro reo, S. 86; J. Meyer, ZStW 84 (1972), S. 909 f.; Deml, Wiederaufnahme, S. 59; Ziemann, ARSP-Beiheft 103 (2005), S. 141; ders. Rehabilitationsgedanken, S. 679; s. a. Saliger, Radbruchsche Formel, S. 71 ff. 3521 Anders Barbarino, Rechtskraft, S. 23: „Allein dieses Opfer kann und muss vom Staate im Interesse der Aufrechthaltung der ganzen Rechtsordnung verlangt werden“. Insoweit richtig Conde Correia, Caso julgado, S. 187 f. 3522 Zu dieser Begriffsbestimmung vgl. o. Kap. 1 A. I. (S. 328 f.). 3523 Tendenziell auch Grünewald, ZStW 120 (2008), S. 547 f.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Regeln immer noch ein großes Stück entfernt sind.3524 Das bedeutet, dass der letzte Schritt von der Abwägung zur Regel immer nur Sache der Dezision bleibt, die von den Gründen, die die Abwägung leiten, nicht hinreichend bestimmt wird. Gerade für die Fragen, die der Gesetzgeber entweder gar nicht oder wohl unbefriedigend gelöst haben soll, wie etwa die Wiederaufnahmefähigkeit von rechtlich und nicht nur faktisch fehlerhaften Entscheidungen (näher u. C. II. 3. c) [S. 926 ff.]) und die Strafzumessungswiederaufnahme (die von § 363 StPO weitgehend ausgeschlossen wird, näher u. C. II. 2. b) [S. 903 ff.]), können mit Berufung auf ein solches Begründungsmuster die verschiedensten Schlussfolgerungen gezogen werden.3525 Das ist für das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse unbefriedigend; man sollte sich erst mit einer Abwägung abfinden, wenn die Möglichkeiten, abwägungsfeste Positionen zu ergründen, aus denen auch klare Regeln gefolgert werden können, ausgeschöpft sind (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. V. 1. [S. 223 f.]). Erst recht abzulehnen ist die unter einigen Vertretern des Abwägungsansatzes vorhandene Neigung, die Frage nach den Grenzen der Wiederaufnahme als „weltanschaulich-politisches Werturteil“ hochzustilisieren3526 (eigentlich zu degradieren, s. o. Teil 1 A. II. 4., S. 66 f.), als gäbe es hier keine „richtigen“ Lösungen.3527 Dass Abwägungen nicht immer zu der einzig richtigen Lösung führen, ist zwar richtig.3528 Das heißt aber lange noch nicht, dass es nichts mehr gibt als Weltanschauung und Politik und dass Vernunft und Gründe keine Rolle mehr zu spielen haben.3529 bb) Das Hauptproblem ist aber kein bloß methodisches, sondern ein inhaltliches: Durch die Zurückführung der Wiederaufnahme auf eine grundlegende Abwägung wird die Ausgestaltung dieses Rechtsinstituts als eine dem Konsequentialismus verwandte Maximierungs- und Optimierungsaufgabe aufgefasst; unübersteigbare Rechte, die womöglich eine Rolle spielen könnten, werden von einem Ansatz, der seinen Ausgangspunkt in einer „Gegenüberstellung von öffentlichem und Individualinteresse“ erblickt,3530 bereits von Anfang an verfehlt.3531

3524 Siehe J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 37 ff., der zu Recht vor der Gefahr warnt, aus dem Grundansatz der Abwägung (den auch er vertritt) vorschnell und problemverkürzend konkrete Lösungen abzuleiten. 3525 Ähnl. Rieß, GA 1980, S. 436, gegen Deml. 3526 Etwa Deml, Wiederaufnahme, S. 43 (Zitat); ebenso Hanack, JZ 1973, S. 394; Peters, Strafprozeß, S. 79; davor v. Pestalozza, 36. DJT Bd. I, S. 1182, 1187 f. (auf Grundlage einer autoritätsorientierten Begründung der Rechtskraft). 3527 In diesem Sinne ausdrücklich Deml, Wiederaufnahme, S. 44; Peters, Strafprozeß, S. 79; ähnl. Eb. Schmidt, Lehrkommentar II, Vorbem §§ 359 ff. Rn. 5: „Eine Ideallösung gibt es hier nicht“. 3528 Vgl. o. Teil 1 Kap. 2 C. V. 1. (S. 223 f.). 3529 Oben Teil 1 Kap. 1 II. 4. (S. 66 ff.). 3530 Schöneborn, MDR 1975, S. 441.

6. Kap.: Auflösung der materiellen Rechtskraft

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Für eine Auffassung, die unübersteigbare Rechte des Individuums zum Angelpunkt der Strafprozesstheorie erklärt (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 6. d) [S. 301, 310 ff.]), und aus ihnen den Kern der Rechtskraftlehre herleitet (s. o. Kap. 1 D. [S. 371 ff.]), ist das nicht nur ein Schönheitsfehler, sondern das Grundgebrechen der herrschenden Wiederaufnahmeauffassung schlechthin. Denn hierauf lässt sich die weitgehend unbestrittene Gelassenheit zurückführen, mit der die h. M. die Rechte des Betroffenen umgeht. Diese Schwierigkeiten werden vor allem dann deutlich, wenn Vertreter des herrschenden Konzepts behaupten, dass die Verurteilung des Unschuldigen deshalb kassiert werden müsse, weil sie das Rechtsempfinden der Allgemeinheit beeinträchtige. 3532 Man interessiert sich nur für die Belange des Einzelnen, weil man bestimmte Folgen des Desinteresses für die Allgemeinheit befürchtet; der Einzelne wird also zum Instrument fremder Interessensverfolgung. cc) Auch dieser Ansatz hat eine praktische Kehrseite. Verhielt es sich bei der autoritätsorientierten Begründung so, dass erst der autoritätserschütternde Fehler zu beseitigen war, also derjenige, der das öffentliche Ärgernis erregt (s. o. II. [S. 869 f.]), ist hier eine solche restriktive Tendenz immer noch vorhanden, wenn auch in einer etwas gemilderten Form. Man hat keine Probleme damit, dem Einzelnen die Hinnahme bestimmter Ungerechtigkeiten zuzumuten, solange sie nicht so schwerwiegend sind, dass bereits das allgemeine Empfinden mitbetroffen wird: „Andererseits muß auch der Verurteile sich die Einhaltung einer gewissen Fehlergrenze gefallen lassen . . .“.3533 Nur „offenbares Unrecht“ müsse beseitigt werden;3534 die Wiederaufnahme interessiere sich allein für „Härtefälle“.3535 Auf dieser Grundlage besteht die Grundaufgabe des Wiederaufnahmerechts in der Bestimmung der „beachtlichen Fehlergrenze“.3536 Dieses angebliche „Grundprinzip des Wiederaufnahmerechts, daß nur wirklich Rechtsfrieden gefährdende Unrichtigkeiten zu beseitigen sind“,3537 ist nichts anderes als eine offene Instrumentalisierung des Betroffenen; ausschlaggebend ist nicht sein Recht, sondern das Interesse anderer. Wenn es ein abwägungsresistentes Recht gibt, nur innerhalb der Grenzen seiner Schuld bestraft zu werden 3531

Zu dieser Gefahr von Abwägungslehren bereits o. Teil 1 Kap. 1 C. V. 1. (S. 225 ff.). 3532 Etwa SPD-Gesetzesentwurf, BT-Drs. 13/3594, S. 7. 3533 Winkler, GS 78 (1914), S. 348 (Zitat); ähnl. Pfenninger, Rechtsmittel, S. 345; s. a. das immer wiederkehrende Argumentationsmuster in BT-Drs. 13/3594, S. 5 ff. 3534 Hamm, DJZ 1905, Sp. 711. 3535 Wasserburg, ZRP 1997, S. 413. 3536 Ausdruck von Nagler, GS 73 (1909), S. 223. 3537 Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme Rn. 78 (Zitat); s. a. H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 14, 57; Deml, Wiederaufnahme, S. 60 ff.; J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 39; Saliger, Radbruchsche Formel, S. 76 f.; Ziemann, Rehabilitationsgedanken, S. 679.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

(Schuldprinzip), dann ist nicht ersichtlich, wie soziale Belange der Rechtssicherheit oder des Rechtsfriedens es einzuschränken vermögen. Wenn es ein abwägungsresistentes Recht gibt, nach voller Duldung eines Verfahrens in Ruhe gelassen zu werden (Rehabilitierung), leuchtet auch nicht ein, wie das soziale Interesse an „Gerechtigkeit“ dagegen angeführt werden kann. dd) Man könnte viele konkrete Beispiele anführen, in denen sich die hier kritisierte Gefahr verwirklicht hat. Mit einigen werden wir uns im Laufe des Abschnitts näher beschäftigen, etwa die vom Gesetz zur Beschränkung von Strafzumessungswiederaufnahmen vorgesehene Zwangsjacke des § 363 StPO (s. u. C. II. 2. b) [S. 903 ff.]), Widerstände gegen die Anerkennung einer Wiederaufnahme wegen Rechtsfehlern (näher u. C II. 3. c) [S. 911 ff.], III. 4., 5. [S. 926 ff.]) und vor allem eine zu strenge Prüfung der Geeignetheit des Wiederaufnahmevorbringens (s. u. C. II. 3. b) cc) [S. 924 ff.]). Die jetzt anzuführenden Beispiele sind deshalb solche, die eher geschichtliche Bedeutung haben und zu denen man deshalb nicht zurückkehren wird: die These der Sozialgefährlichkeit der Wiederaufnahme propter nova, die Wiederaufnahmeunfähigkeit von Verurteilungen wegen Bagatellstraftaten und die Beschränkung der Wiederaufnahmeziele auf bestimmte Freisprüche. (1) Wie gesagt (o. II. [S. 867 f.]) konnte sich das französische Recht erst spät, nämlich 1895, für die Einführung einer Wiederaufnahme wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel entscheiden. Auch in Deutschland standen viele diesem Rechtsinstitut zumindest misstrauisch gegenüber. Man erblickte in der Möglichkeit, die Rechtskraft wegen neuer Erkenntnisse aufzulösen, nichts weniger als eine soziale Gefahr.3538 So beklagte sich der Kommentator John kurz nach Erlass der RStPO über die Wiederaufnahme zugunsten aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel: Das Gesetz habe „zwar nicht die Rechtskraft der Urtheile überhaupt, wohl aber die Rechtskraft der Urtheile bezüglich der Entscheidung über die Schuldfrage über Bord geworfen; dieß sei aber auch mit Vollständigkeit geschehen“.3539 Ebenso urteilte Löwe, dass der Gesetzgeber mit § 359 Nr. 5 StPO (damals § 399 Nr. 5) zu weit gegangen sei, so dass „eine besonders strenge und sorgfältige Prüfung aller auf diesen Grund gestützten Anträge geboten sein wird, wenn anders nicht aus der Bestimmung eine Gefahr für die Strafrechtspflege erwachsen soll“.3540 Diese Passage ist bis zur 22. Auflage des von Löwe begründeten Kommentars lediglich unter Streichung der Modulierung „besonders“ beibehalten worden.3541 Erst fast 100 Jahre später hat sich Dünnebier in 3538 Siehe Nachw. für diese Einstellung in der französischen Lit. des 19. Jahrhunderts bei Durand, Erreur judiciaire, S. 89, 95. 3539 John, Strafprocessordnung, S. 78. 3540 Löwe, StPO 5. Auflage, § 399 Anm. 20 (die Passage wird bereits von Hirschberg, MSchrKrimPsych 21 (1930), S. 408 krit. zitiert). Vergleichbare Passagen bei Oetker, JW 1930, S. 1839. 3541 Kohlhaas, LR-StPO 22. Aufl. § 359 Anm. 17.

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der 23. Auflage von ihr ausdrücklich distanziert.3542 Diese Bedenken wirkten sich konkret auf die Dogmatik des Begriffs der Eignung i. S. v. § 359 Nr. 5 aus, zu dem man in Kürze zurückkehren wird (u. C. II. 3. cc) [S. 924 ff.]). Das lässt sich sehr schön bei v. Kries beobachten, der auch der Wiederaufnahme wegen neuen Tatsachen oder Beweismitteln kritisch gegenübersteht sowie dem Gesetzgeber vorhält, er sei zu weit gegangen,3543 und auf dieser Grundlage in den Gesetzestext die in ihm nie vorhandene Einschränkung hineinliest, dass die nova die Unrichtigkeit des Urteils „mit apodiktischer Gewißheit darthun“ müssten.3544 Ein solcher Vorschlag, Wiederaufnahmen erst bei Gewissheit der Unschuld zu gestatten, ist in der früheren Reformdiskussion immer wieder gemacht worden.3545 (2) Gerade in der Behandlung von Bagatellstraftaten wird der Gedanke, dass kleine Ungerechtigkeiten vom Betroffenen hinzunehmen sind, am klarsten sichtbar.3546 Die französische Regelung des Code d’Instruction Criminelle v. 1808 erklärte die Wiederaufnahme nur bei Verbrechen für zulässig;3547 erst viel später wurde sie auf Vergehen erweitert (1895).3548 Übertretungen sind aber noch heute wiederaufahmeunfähig (s. Art. 622 franzStPO)!3549 In Italien verlief die Entwicklung ähnlich,3550 bis das Verfassungsgericht 1969 die beschränkte Zulässigkeit der Wiederaufnahme bei Übertretungen für verfassungswidrig erklärte.3551 3542 Dünnebier, LR-StPO 23. Aufl. § 359 Rn. 29 – zugleich betont er, dass die Wiederaufnahme nicht schon bei Möglichkeit eines Irrtums zuzulassen und anzuordnen ist, sondern erst bei Wahrscheinlichkeit. In den seit der 24. Aufl. von Gössel vorgelegten Kommentierungen ist vom Satz soweit ersichtlich keine Spur mehr zu finden. 3543 v. Kries, Rechtsmittel, S. 428 ff. 3544 v. Kries, Rechtsmittel, S. 429. 3545 In diesem Sinne vor allem das E 1905, s. die Protokolle Bd. 1 S. 276 ff., Bd. 2 S. 260; Hamm, DJZ 1905, Sp. 711; Winkler, GS 78 (1914), S. 353 ff.; Dahm, Freisprechendes Urteil, S. 15 Fn. 20; zu Recht krit. Lippmann, DJZ 1906, Sp. 994; Giehl, Wiederaufnahme, S. 48 ff. 3546 Man könnte sagen, diese Einschränkungen seien eher Ausfluss des autoritätsorientierten Konzepts; dem wird man nicht widersprechen können. Vielmehr soll erkannt werden, dass zwischen dem autoritätsorientierten und dem herrschenden rechtssicherheits- bzw. rechtsfriedenbezogenen Abwägungsansatz starke Kontinuitäten bestehen, wie sogleich hervorgehoben werden soll (u. S. 879 ff.). 3547 Fazy, Revision, S. 33 f. 3548 Jardin, Erreurs judiciaires, S. 90; Fazy, Révision, S. 67. 3549 Siehe nur Pradel, Procédure pénale, Rn. 1013; dies billigend S. Mayer, Révision, S. 112; krit. Lemoin, Révision, S. 174 f.; Sevestre, Révision, S. 181 f.; Fazy, Revision, S. 67. 3550 Die itStPO v. 1930 hielt die Wiederaufnahme bei Übertretungen nur dann für zulässig, wenn die Verurteilung wegen Gewerbs- oder Gewohnheitsmäßigkeit erfolgte, Alf. Rocco, Relazione, S. 113, unmittelbar nach den gerade erwähnten Passagen; Sotgiu, Revisione, S. 68 f.; Berenini, NuDigIt XVIII (1939), S. 527, beide zust. Die itStPO v. 1913 schloss sogar jede Wiederaufnahmemöglichkeit bei Übertretungen aus, s. Ravizza, DigIt XX/2 (1913), S. 127 (krit.). 3551 Corte Costituzionale GiurCost 1969, 384; zu der Entscheidung, deren Angelpunkt eine (fragwürdige) Verletzung des Gleichbehandlungsgebots (S. 394 ff.) war, s.

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Und in Deutschland war bei polizeilichen Strafverfügungen eine Wiederaufnahme unzulässig,3552 und der o. A. III. (S. 862) kurz erwähnte Streit über die Möglichkeit einer Wiederaufnahme bei Strafbefehlen, der später von § 373a StPO geklärt wurde, erschöpfte sich nicht in einem Auslegungsproblem – § 359 StPO spricht nur von „Urteil“ –, sondern betraf zugleich die Frage, ob Strafbefehlssachen es überhaupt verdienen, wiederaufgenommen zu werden. De lege ferenda wurden weitergehende Einschränkungen der Wiederaufnahme für Bagatellen sowohl von nationalsozialistisch orientierten Autoren3553 als auch von Peters vertreten.3554 Den Spruch „De minimis non curat praetor“ anzuführen, wäre nahezu heuchlerisch – die Gerichte interessieren sich durchaus für minima, aber nur wenn es um das Strafen geht, nicht, wenn das Schuldprinzip auf dem Spiel steht. Der Anerkennung eines abwägungsfesten Schuldprinzips würde es demgegenüber allein entsprechen, dass überall dort, wo man die Sache für so wichtig erklärt, dass über sie ein Schuldspruch und eine Strafe ergehen sollen, das Recht des Individuums, nur gemäß seiner Schuld verurteilt und bestraft zu werden, Gehör finden muss.3555 (3) Die Betonung der Rechtssicherheit hatte, wenn nicht in Deutschland, so doch in anderen Staaten die weitere Folge, dass gelegentlich nicht erst die Eignung, sondern schon die Wiederaufnahmeziele eingeschränkt wurden: Nur bestimmte, qualifizierte Verurteilungen sollte einer Wiederaufnahme fähig sein (von einer Strafzumessungswiederaufnahme ist selbstverständlich gar nicht die Rede). Diesen Weg schlug vor allem die italienische StPO v. 1930 ein. Das ihr zugrundliegende faschistische Rechtskraftverständnis ist besonders lehrreich, weil es die vorbildhafte Amalgamierung zwischen den autoritäts- und den rechtssicherheits- bzw. rechtsfriedensorientierten Ansätzen zeigt, die zugleich dasjenige belegt, was sogleich behauptet werden soll: dass zwischen diesen Ansätzen ein Verhältnis glatter Kontinuität besteht. Die offizielle Begründung der itStPO v. 1930 erinnert zuerst an den hohen Wert der Rechtskraft, die auf Rechtssicherheit und Rechtsruhe (sicurezza e quiete sociale) beruhe.3556 Bei diesen Belangen gehe es um „allgemeine Erfordernisse, die über den Einzelfall notwendig hinausgehen.“ 3557 Deshalb – und hier hat man fast ein déjà vu, denn Ähnliches hätte genauso gut von einem Vertreter des in Deutschland herrschenden Ansatzes stamGalli, GiurCost 1969, S. 390 ff.; J. Bosch, Wiederaufnahme, S. 362 f. Siehe auch vor der verfassungsgerichtlichen Entscheidung Pretore di Giovine, RitDPP 1964, 922, und dazu Dosi, RitDPP 1964, S. 922 ff. 3552 Verfassungsrechtlich bestätigt in BVerfGE 22, 322 (328) – eine Prüfung am Schuldprinzip erfolgte indes nicht. 3553 H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 33. 3554 Peters, FS Kern, S. 355 f., 358; ders. Fehlerquellen II, S. 320. 3555 In der Sache auch Fazy, Revision, S. 34, 67, 242; ähnl. Sotgiu, Revisione, S. 70 f. 3556 Alf. Rocco, Relazione, S. 113. 3557 Granata, GiustPen 1950/3, Sp. 5.

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men können – sei die Wiederaufnahme auf diejenigen Fälle zu beschränken, in denen sie durch „offensichtliche und gravierende Gründe der Gerechtigkeit“ geboten sei.3558 Daraus wurde gefolgert, dass die Wiederaufnahme nur die Freisprechung bezwecken durfte, weil der Verurteilte die Tat nicht begangen habe oder weil die Tat nicht stattgefunden habe,3559 eine Beschränkung, die erst 1965 gelockert wurde.3560 1939 rechtfertigte Berenini die Beschränkung auf folgende Weise: „[W]eil in solchen Fällen das Fehlurteil ein bloß relatives ist, ist es nicht derart schwer und versursacht nicht die soziale Unruhe, um eine Verletzung des Prinzips der Unwiderruflichkeit des Gerichtsurteile zu rechtfertigen.“ 3561 dd) Die drei Beispiele, vor allem das Letzte, sind insbesondere deshalb lehrreich, weil sie, entgegengesetzten Beteuerungen zum Trotz,3562 zeigen, dass die Berufung auf die Rechtssicherheit bzw. den Rechtsfrieden nicht einen Gegensatz zum alten autoritätsorientierten Ansatz darstellt, sondern seine modernisierte, sublimierte, politisch korrekte Fortsetzung verkörpert.3563 Wie gesagt, hat Autorität heutzutage einen schlechten Namen; die Post-achtundsechziger Welt glaubt, in ihr Bismarck’schen cum Adenauer’schen Staub zu riechen. Unterschiede gibt es durchaus: Rechtssicherheit ist zweifelsohne ein Rechtswert; von prozessualem Machiavellismus kann deshalb nicht mehr die Rede sein. Aus der Perspektive des betroffenen Individuums bleibt indes alles wie vorher; ob im Interesse des Machthabers oder der Gesellschaft, beide Male wird er nicht nach dem behandelt, was er verdient, sondern nach dem Gutdünken anderer. Die vielbeklagte restriktive Handhabung der Wiederaufnahme durch Gerichte, die These, dass es bei ihr um ein ausnahmsweise gewährtes Mittel gehe, mit der wir uns u. V. 4. (S. 892 ff.) noch gesondert beschäftigen sollen, findet nicht allein in der alten autoritätsorientierten Auffassung, sondern auch im herrschenden Abwägungsansatz eine theoretische Rechtfertigung. Damit soll nicht verkannt werden, dass es keineswegs darum gehen kann, jede (möglicherweise, denn aus der Perspektive des Wiederaufnahmegerichts gibt es selten Gewissheiten) fehlerhafte rechtskräftige Entscheidung einer Überprüfung zu unterziehen.3564 Es muss eine Auslese geben; nur dürfen die Kriterien, die die 3558 Ebenso Berenini, NuDigIt XVIII (1939), S. 526: Wenn die Wiederaufnahme zur „Korrektur aller Fehlurteile, auch derjenigen geringerer Schwere, eingesetzt würde, würde das Prinzip der Rechtskraft jeden Bestand und Wert verlieren.“ 3559 Berenini, NuDigIt XVIII (1939), S. 529: Wiederaufnahme sei nur bei dem „voll unschuldigen“ Verurteilten zulässig; sehr krit. Leone, RDPP 1956, S. 171 f. 3560 Erst mit der neuen itStPO (Art. 631) kam man aber dazu, alle Freisprüche, auch denjenigen wegen mangelnden Beweises, als zulässige Wiederaufnahmeziele anzusehen, s. etwa Spangher, DDP XII (1991), S. 134. 3561 Berenini, NuDigIt XVIII (1939), S. 530. 3562 Kleinknecht, GA 1961, S. 52. 3563 Zu den Wenigen, die dies erkannt haben, gehört F. Bauer, JZ 1952, S. 211; sehr nahestehend auch Leone, RDPP 1956, S. 177. 3564 Insofern richtig J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 41.

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Auslese zu leiten haben, nicht bloß die Interessen der Gesellschaft sein. Die große Herausforderung einer Theorie des Wiederaufnahmerechts besteht gerade darin, in Fortsetzung einer den Einzelnen nicht instrumentalisierenden Prozessund Rechtskrafttheorie nicht instrumentalisierende Kriterien für die Zulässigkeit bzw. Gebotenheit der Auflösung der Rechtskraft zu entwickeln. Genau das soll im vorliegenden Abschnitt versucht werden. IV. Versöhnungsmodelle Es gibt auch einige Versuche, den Gegensatz zwischen Rechtskraft und Wiederaufnahme, also zwischen Unveränderbarkeit und Veränderung, abzumildern, aufzulösen und im Hegel’schen Sinn aufzuheben. Der verschwommene Begriff des Rechtsfriedens, der alles in seinen Schoß aufzunehmen bereit ist, hätte es am leichtesten, hier eine solche Rechtfertigung zu bieten. Die interessanten, vor allem, aber nicht nur in der italienischen Literatur vorhandenen Ansätze gehen etwas raffinierter vor. Sie erheben die für die Wiederaufnahme zentrale Voraussetzung des novums zum Angelpunkt ihrer Argumentation und entwickeln daraus zwei verschiedene Argumentationsstränge. Den Widerspruch zwischen Rechtskraft und Wiederaufnahme soll es deshalb nicht geben, entweder weil das novum gar nicht vom ersten Urteil und somit von der Rechtskraft erfasst wurde, oder weil das novum bereits per se, bloß durch sein Bekanntwerden, die Rechtskraft in Frage gestellt habe, so dass das förmliche Wiederaufnahmeverfahren vielmehr dazu diene, diese gestörten Verhältnisse zu entstören. Ein Beispiel für die erste Strategie bietet Hans Joachim Müller. Zuerst versucht er die Gegensätze, von denen der herrschende Abwägungsansatz ausgeht (s. o. III.), abzuschwächen: „Es handelt sich also nicht mehr um die Frage, ob Rechtskraft oder materielle Wahrheit, sondern um eine sinnvolle Abgrenzung.“ 3565 Die Forderung nach endgültiger Erledigung einer Angelegenheit stelle auch die materielle Gerechtigkeit, wenn nur unwesentliche Verstöße gegen sie vorliegen; und umgekehrt könne die Rechtssicherheit selbst bei erheblichen Gerechtigkeitsverstößen eine Änderung der Entscheidung rechtfertigen.3566 Sein konkreteres Argument ist aber, dass das novum nicht Gegenstand des ersten Verfahrens gewesen sei. „Idem“ sei nur die Tat „in der Gestalt, wie sie sich in der Hauptverhandlung genau dargestellt hat“.3567 Neue Tatsachen und Beweismittel können an der Rechtskraft des Urteils nicht teilhaben.3568 Rechtskraft bedeute deshalb nur „bedingte Unabänderlichkeit“,3569 d.h. unter der Bedingung, dass 3565 3566 3567 3568 3569

H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 15. H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 14. H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 20. H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 20. H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 23.

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keine nova entstehen.3570 Die Wiederaufnahme sei deshalb keine Durchbrechung der Rechtskraft.3571 Beispiele für die zweite Strategie, der zufolge nicht die Wiederaufnahme, sondern das novum per se den Widerspruch verkörpere, so dass die Wiederaufnahme nicht mehr der Feind, sondern vielmehr der Helfer der Rechtskraft ist, bieten die kursorischen Bemerkungen von Goltdammer und die monografisch entwickelten Gedanken Cristianis. Im 19. Jahrhundert meinte Goltdammer, dass die Rechtskraft eine Präsumption für die Erschöpfung des Stoffs verkörpere, die aber vom novum entkräftet werde.3572 Die Wiederaufnahme widerspreche der Rechtskraft also nicht. Der Rechtskraft seien bereits durch das novum die Grundlagen entzogen worden. In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts versuchte Cristiani, die Rechtskraft und die Wiederaufnahme auf den Gedanken der Rechtsgewissheit (certeza del diritto) zurückzuführen. Diese werde aber von Antinomien beeinträchtigt.3573 Die Rechtsgewissheit habe eine psychologische und eine rechtliche Dimension: Die erste bestehe darin, dass das richterliche Urteil von der Gemeinschaft als Ausdruck der Wahrheit angesehen werde,3574 die zweite beziehe sich auf die positive Feststellungwirkung des Urteils.3575 Das Urteil stelle die Tat und den Täter fest.3576 Darüber hinaus enthalte es einen vollstreckbaren Befehl.3577 Das Bekanntwerden neuer Tatsachen, die den im Urteil enthaltenen Feststellungen widersprechen, bedeute einen Widerspruch zur Rechtsgewissheit in ihren zwei Dimensionen, also eine Antinomie;3578 Sinn der Wiederaufnahme ist es dann, diese „Gewissheitskrise“ und damit auch die Antinomie aufzuheben.3579 „Das Urteil, das dem Wiederaufnahmeantrag statt gibt, führt nicht dazu, eine Gewissheit, die nicht angetastet werden sollte, zu zerstören, sondern setzt eine neue Gewissheit an die Stelle der vorherigen, die bereits praktisch durch das Entstehen einer Antinomie gebrochen war . . .“.3580 Der Auffassung, die in der Wiederaufnahme das Mittel zur Beseitigung eines Fehlurteils erblickt, erteilt er eine Absage, weil das Fehlurteil seiner Ansicht nach keine rechtliche Größe verkörpere.3581 3570

H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 23 f. H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 24 f., 89 ff. 3572 Goltdammer, GA 1858, S. 665. 3573 Cristiani, Revisione, S. 9; ihm folgend Dean, Revisione, S. 7 f.; Troisi, Errore giudiziario, S. 108; ähnl. a. Marchetti, Revisione, S. 926. 3574 Cristiani, Revisione, S. 15. 3575 Cristiani, Revisione, S. 32 ff. 3576 Cristiani, Revisione, S. 41. 3577 Cristiani, Revisione, S. 32 f., 39. 3578 Cristiani, Revisione, S. 15, 94 ff. 3579 Cristiani, Revisione, S. 52, 80 f. 3580 Cristiani, Revisione, S. 100. 3581 Cristiani, Revisione, S. 103 f.; ebenso Dean, Revisione, S. 7. 3571

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Neuerdings hat sich Callari beiden Argumentationsstrategien zugleich angeschlossen (obwohl diese sich eigentlich logisch ausschließen). Nova führen seines Erachtens nicht nur zu einer Antinomie;3582 gleichzeitig meint er, dass nova, weil sie per definitionem im Laufe des ersten Verfahrens unbekannt waren, von der Rechtskraft eigentlich gar nicht erfasst würden.3583 Die Wiederaufnahme soll diesen Mangel korrigieren: Sie erhöht den Gewissheits- und Wahrheitswert des Urteils.3584 Sie ist also entgegen der herrschenden Auffassung keine Antithese zur Rechtskraft.3585 Wiederaufnahme und Rechtskraft haben ein inniges Verhältnis zueinander, da beide der Rechtssicherheit dienen; dieses Verhältnis wird nicht nur als ein solches der Dialektik, sondern der „Wesensgleichheit“ beschrieben.3586 Von diesem streng rechtlichen Standpunkt unterscheidet er einen bloß metarechtlichen bzw. politischen,3587 demzufolge die Wiederaufnahme die Beseitigung eines Fehlurteils, also einer Verletzung der materiellen Gerechtigkeit bezwecke.3588 Im Anschluss an Cristiani behauptet er, dass es aus streng rechtlicher Perspektive das Fehlurteil eigentlich nicht gebe; für das Recht existiere ein solches vielmehr erst, nachdem die Wiederaufnahme Erfolg gehabt habe.3589 Auf der einen Seite kann man ein gewisses Verständnis für das von diesen Autoren verfolgte Anliegen äußern, durch die Versöhnung von Wiederaufnahme und Rechtskraft zu einem Abbau der Vorbehalte gegen die Wiederaufnahme beizutragen.3590 Ein gangbarer Weg besteht hier aber nicht. Auch in diesen Ansätzen erkennt man das insb. o. Teil 1 Kap. 2 C. V. 2. (S. 232 f.) gerügte Problem gegensatzaufhebender Begründungen, schweren Fragen mittels unscharfer Dachbegriffe, hier des der Rechtsgewissheit, aus dem Weg zu gehen.3591 Nicht zu verkennen ist zudem, dass diese Ansätze stark begriffskonstruktivistisch angehaucht sind; insbesondere die Verbannung materieller, gerechtigkeitsorientierter Erwägungen auf die Ebene des „Metarechtlichen“, worauf letztlich auch die These beruht, dass das Recht das Fehlurteil nicht kenne, bedeutet letztlich, dass auch hier die Gefahr besteht, dass die eigentlichen Fundamentalfragen nicht einmal gestellt werden (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. II. 1. [S. 142]).

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Callari, IP 9 (2006), S. 253; ders. Revisione, S. 51. Callari, Firmitas, S. 216 f.; ders. Revisione, S. 22. 3584 Callari, IP 9 (2006), S. 248 ff., 253 ff.; ders. CassPen 2006, S. 307; ders. Firmitas, S. 252, 263 f.; ders. Revisione, S. 51 ff. 3585 Callari, CassPen 2006, S. 307 f.; ders. Revisione, S. 25 ff. 3586 Callari, Firmitas, S. 264 (Deutsch im Original). 3587 Callari, Firmitas, S. 252 ff.; ders. Revisione, S. 34 ff., 41 ff. 3588 Callari, Firmitas, S. 252 ff.; ders. Revisione, S. 39 f. 3589 Callari, IP 9 (2006), S. 252; ders. Revisione, S. 44 ff. 3590 Siehe auch J. Bosch, Wiederaufnahme, S. 355. Hiervon ist aber H. J. Müller auszunehmen, dessen eigentliches Anliegen es ist, die Wiederaufnahme zulasten zu erleichtern. 3591 Ähnl. Vanni, Enc. Dir. XL (1991), S. 159 f. 3583

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Die Thesen sind auch in sich fragwürdig. Denn das beschriebene Verhältnis zwischen novum und Rechtskraft, ob es sich als ein Verhältnis der Indifferenz oder des Widerspruchs darstellt, liegt nur unter der o. Einl. (S. 37 f.) und insb. in Kap 5 A. (S. 838 f.) für zweifelhaft erklärten Prämisse vor, dass man der Rechtskraft positive Feststellungswirkungen zuschreibt, dass man also die Rechtskraft nicht nur auf die Entscheidung, sondern auch auf die Entscheidungsgründe bezieht. Wenn die materielle Rechtskraft aber allein die Entscheidung erfasst, also den Freispruch, die Verurteilung (und Strafausspruch) oder die Einstellung (s. o. Kap 5 A. [S. 837 ff.]), und wenn diese Entscheidung unabhängig davon fortbesteht, ob ihre faktischen und rechtlichen Grundlagen richtig sind (s. o. Kap. 1 A. I. [S. 329 f.]), dann besteht in der Tat ein unleugbarer Widerspruch zwischen Rechtskraft und Wiederaufnahme. Wie auch vorhin bei der Begründung der Rechtskraft (s. o. Kap. 1 B. [S. 337 ff.]), wird sich der Widerspruch weder auf einer begriffslogischen Ebene auflösen noch mittels eines unscharfen Dachbegriffs aufheben lassen, sondern ist der unerlässliche Ausgangspunkt dafür, dass man sich um eine tiefergehende normative Begründung bemüht.

V. Die Begründung aus der dreisäuligen Rechtskraftlehre Die Rechtskraftlehre darf nicht mehr allein von Interessen der Gesellschaft ausgehen, sondern muss die Perspektive des Einzelnen, vor allem seine Rechte ernst nehmen – das war ein zentraler Kerngedanke der o. Kap. 1 D. (S. 371 ff.) entwickelten dreisäuligen Rechtskraftlehre. Aus ihr lassen sich spiegelbildlich die für die Wiederaufnahme leitenden Gedanken gewinnen, die anschließend konkretisiert werden sollen. Die Wiederaufnahme legitimiert sich aus dem Wegfall der Säulen, auf denen die Rechtskraft, d.h. die Unabänderlichkeit der prozessabschließenden Entscheidung, steht. Die Rechtskraft wirkt sich sowohl zuungunsten als auch zugunsten des Betroffenen aus; dem entsprechen spiegelbildlich die anerkannten Rechtsinstitute der Wiederaufnahme zugunsten und zulasten. Der Beschuldigte muss die Entscheidung als unveränderbar hinnehmen, weil sie seiner Schuld entspricht (Schuldprinzip, Schuldtilgung) und weil er an dem Zustandekommen der Entscheidung mitwirken durfte (Verfahrensgerechtigkeit). Daraus folgt, dass Wiederaufnahme zugunsten des Beschuldigten erstens möglich sein muss, wenn eine Verurteilung seine Schuld verfehlt, zweitens auch dann, wenn diese Verurteilung nicht auf einem Mindestmaß an Verfahrensgerechtigkeit beruht. Für den Staat gilt die Entscheidung als unveränderbar, weil er dem bereits Verfolgten einen Ausgleich für das Erdulden der Verfolgung schuldet (Rehabilitierung, Tilgung der Prozessduldungsschuld). Deshalb muss sich die Wiederaufnahme zuungunsten auf den Gedanken zurückführen lassen, dass eine Rehabilitierung dort nicht mehr geschuldet ist (bzw. die Prozessduldungsschuld nicht

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mehr getilgt ist), wo der Beschuldigte sich geweigert hat, das Verfahren passiv zu dulden, m. a. W., wenn er seine Prozessduldungspflicht aktiv verletzt hat. VI. Irrwege Mit diesen knappen Bemerkungen, die bereits derart eng auf der vorher entwickelten Rechtskraftlehre beruhen, dass sie niemanden mehr überraschen können, haben wir den sicheren Hafen gefunden, von dem aus es möglich ist, einige in der Literatur verbreitete Ansätze und Argumentationstopoi als Irrwege zu erkennen. 1. Abhängigkeit vom Verfahrensmodell? a) Vor allem seit der grundlegenden Untersuchung von Hellmuth Mayer werden immer wieder Bezüge zwischen Wiederaufnahme und Verfahrensmodell behauptet.3592 Das allein auf die materielle Wahrheit und Gerechtigkeit gerichtete Inquisitionsverfahren sei eher wiederaufnahmefreundlich gewesen, denn es hatte keinen Grund, einem auf unzutreffenden Grundlagen beruhenden Urteil Anerkennung zu zollen. Soweit das Inquisitionsverfahren überhaupt zum Rechtskraftgedanken gelangen konnte, soweit es nicht bloß bei einer sog. absolutio ab instantia stehen blieb, die sowieso nicht in Rechtskraft erwuchs,3593 war es aus seiner Perspektive konsequent, prozessbeendende Entscheidungen bei jeglichen neuen Tatsachen oder Beweismitteln erneut nachprüfen zu lassen. Weil aber das Inquisitionsverfahren schriftlich verlief, konnte diese Überprüfung durch eine Konfrontation des novums mit den weiteren in den Akten enthaltenen Beweisen erfolgen, ohne dass eine Erneuerung des gesamten Verfahrens erforderlich war.3594 Demgegenüber liege beim Akkusationsverfahren der Schwerpunkt auf der Einhaltung gewisser Regeln, so dass dieses in erster Linie auf formelle Wahrheit ziele. Nova seien aus dieser Perspektive irrelevant, der Respekt vor der Rechtskraft nahezu absolut. Eine Wiederaufnahme sei bloß bei gewissen schwerwiegenden Verfahrensfehlern denkbar, die zur Nichtigkeit der prozessbeendenden Entscheidung führen. Die Wiederaufnahme funktioniere also als außerordentliche Nichtigkeitsbeschwerde, die wegen der Mündlichkeit des Verfahrens eine Wiederholung der Hauptverhandlung notwendig mache.

3592 H. Mayer, GS 99 (1930), S. 299 ff., 311 ff., 326; ihm folgend, meistens mit ausdrücklicher Erwähnung, etwa Dippel, GA 1972, S. 104 f.; Vogler, Wiederaufnahme, S. 720; J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 55 ff.; Deml, Wiederaufnahme, S. 5 ff.; Wasserburg, ZRP 1997, S. 412 f.; Waßmer, Jura 2002, S. 454. 3593 H. Mayer, GS 99 (1930), S. 300. Zur Rechtskraft im Inquisitionsverfahren bereits o. Kap. 1 C. IV., VII. (S. 351 f., 362 ff.); zur absolutio ab instantia o. Kap. 1 C. VII. (S. 363 f.), Kap. 4 B. II., C. II. 2. (S. 704 f., 717 ff.). 3594 Siehe auch Goltdammer, GA 1854, S. 788.

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H. Mayer fügt hinzu, dass die in der deutschen StPO enthaltenen Regeln ein Mischmodell verkörperten.3595 Die Wiederaufnahmegründe der §§ 359 Nr. 5, 362 Nr. 4 StPO, die eine Wiederaufnahme bei neuen Tatsachen oder Beweismitteln bzw. dem Beweismittel des Geständnisses vorsehen, seien aus dem inquisitorischen Modell hervorgegangen; die Wiederaufnahmegründe der §§ 359 Nr. 3, 362 Nr. 3 StPO, also der Mitwirkung eines seine Amtspflichten in strafbarer Weise verletzenden Richters, beruhten dagegen auf der akkusatorischen Tradition. Die in einzelnen Wiederaufnahmegründen vorhandenen Formalismen, insbesondere das Erfordernis einer rechtskräftigen Verurteilung für die Geltendmachung eines auf der Begehung einer Straftat beruhenden Wiederaufnahmegrundes (§ 364 S. 1 StPO), seien ein akkusatorischer Zug, ebenso wie die Notwendigkeit einer erneuten Hauptverhandlung (§ 370 Abs. 2 StPO). 2. a) Beim ersten Schritt des Modells – also bezüglich des Verhältnisses von Inquisitionsverfahren und Wiederaufnahme – wird man Mayer ohne Weiteres folgen können. Das Bild ist sowohl theoretisch schlüssig als auch empirisch-historisch – wenn man das deutsche gemeinrechtliche Verfahren als Repräsentant des Inquisitionsverfahrens ansieht – zutreffend.3596 b) Die Probleme fangen aber an, wenn die Zusammenhänge zwischen akkusatorischem Verfahren und Wiederaufnahme nachgezeichnet werden. Das von H. Mayer gezeichnete Bild ist dann bestenfalls von historischer Bedeutung, i. S. einer kausalen Erklärung des positiven Rechts, keineswegs aber von normativer Bedeutung in dem Sinne, dass es zu einer legitimationstheoretisch fundierten Entfaltung beitragen könnte. Es geht allein um Ursachen und nicht um Gründe. Die Frage ist natürlich, was man hier unter akkusatorischem Verfahren versteht. Bedeutet es nur das nachrevolutionäre französische Verfahren, dann hat man es im Grunde mit dem an nächster Stelle zu behandelnden Irrweg zu tun, also mit der Behauptung, dass ein mündliches, auf freier Beweiswürdigung basierendes und im Idealfall sogar vor dem Geschworenengericht erfolgendes Verfahren die Wiederaufnahme an sich ausschließe. Darauf wird sogleich zurückzukommen sein (s. u. 2. [S. 886 ff.]). Aber auch dann, wenn man diesen Begriff in dem Sinne versteht, wie er in der vorliegenden Arbeit definiert wurde (s. o. Kap. 2 B. III. 4. a) [S. 399]), darf der behauptete Zusammenhang nicht als ein Zusammenhang von Begründung und Begründetem verstanden werden. Denn kein Strafver3595 Am ausführlichsten H. Mayer, GS 99 (1930), S. 299 ff.; davor Abegg, GS 9 (1857), S. 241; Goltdammer, GA 1858, S. 521 ff. (der aber die normative Aussagekraft dieses Zusammenhangs – ähnl. wie hier, o. Teil 1 Kap. 1 A. II. 6. [S. 69 ff.] – bestreitet, S. 525 f.); Binding, Grundriss, S. 283 f.; danach, in der Regel mit Berufung auf H. Mayer, H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 6 ff.; Dippel, GA 1972, S. 105; Peters, Fehlerquellen III, S. 23 ff.; Ziemba, Wiederaufnahme, S. 36 ff., 59; Deml, Wiederaufnahme, S. 9 f.; Grünewald, ZStW 120 (2008), S. 563; in Italien Manzini, Trattato IV, S. 680. 3596 Insofern ähnl. J. Schulz, FS OLG Oldenburg, S. 196 ff., 202 ff.

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fahrenssystem, so akkusatorisch wie es sich auch nur darstellt, darf legitimerweise die materielle Wahrheit als irrelevant abtun (s. o. Teil 1 Kap. 2 A. II. 6. [S. 80 f.], Kap. 2 C. III. 3. [S. 181 ff., 183]). M. a.W.: Die Verurteilung eines Unschuldigen ist immer ein Problem, und dies gleichgültig, wie das Verfahrenssystem die Arbeitsteilung zwischen Ankläger und Richter konzipiert. „Es würde aber wahrhaft betrübend sein, wenn man anerkennen müßte, daß in der That jene Formen stärker als die Sache selbst seien, daß also zwar auch der Anklageprozeß die materielle Wahrheit wolle, sie aber in dem letzten und äußersten Mittel nicht darzustellen vermöge“.3597 Das bedeutet, dass die Legitimierbarkeit einer Wiederaufnahme des Verfahrens von der inquisitorischen oder akkusatorischen Struktur des jeweiligen Prozesses unabhängig sein muss. Die eher inquisitorische oder akkusatorische Struktur eines Verfahrens kann bei der Behandlung der Fragen des Wiederaufnahmerechts nicht als Argument angeführt werden. 2. Jury; Mündlichkeit und freie Beweiswürdigung a) Entsprechendes wird man zum distanzierten Verhältnis von Wiederaufnahme auf der einen Seite, freier Beweiswürdigung, Mündlichkeit und Jury auf der anderen sagen müssen, die dasjenige mitkonstituieren, was H. Mayer mit dem unklaren Terminus des akkusatorischen Verfahrens bezeichnen wollte. Das distanzierte Verhältnis von Jury bzw. freier Beweiswürdigung/Mündlichkeit und Wiederaufnahme lässt sich geschichtlich nicht leugnen. In Frankreich wurde die Wiederaufnahme 1792 kurz nach der Etablierung der Jury (1791) schlechthin abgeschafft,3598 eine Entscheidung aber, die kurze Zeit danach (1793), als zwei Gerichte Verurteilungen wegen einer Tat aussprachen, die nur von einer einzigen Person begangen werden konnte, als Fehler eingestanden werden musste,3599 ohne dass dies als ein Einstellungswechsel eingestuft werden könnte. Noch 1860 konnte Hélie schreiben, dass im neuen Verfahren, das nicht an gesetzliche Beweisregeln gebundene Geschworene und eine die Verteidigungsrechte garantierende, mündliche Hauptverhandlung kannte, die Urteile „un caractère de vérité“ aufweisen, so dass die Wiederaufnahme nicht erst schwerer, sondern schon weitgehend entbehrlich sei, weil weniger Fehlurteile erfolgen würden.3600 Eine Vielzahl der in den deutschen Partikularrechten vorhandenen Einschränkungen der Wiederaufnahme dürfte auch auf diesem Grund beruht haben.3601 3597

Goltdammer, GA 1858, S. 516. Hélie, Traité IX, S. 516; Fazy, Revision, S. 24 f.; Grebing, Wiederaufnahme, S. 304. 3599 Hélie, Traité IX, S. 516; Fazy, Revision, S. 26; Grebing, Wiederaufnahme, S. 304 f. 3600 Hélie, Traité IX, S. 518; sehr ähnlich Ortolan/Desjardins, Éléments II, S. 625. 3601 Busch, GS 13 (1861), S. 342. 3598

6. Kap.: Auflösung der materiellen Rechtskraft

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Jury und freie Beweiswürdigung/Mündlichkeit lassen sich zwar selbstverständlich trennen, wenigstens in eine Richtung (denn eine Jury ohne freie Beweiswürdigung ist schwer denkbar, eine freie Beweiswürdigung ohne Jury ist hingegen sehr wohl vorstellbar). Die Idee der freien Beweiswürdigung in einer mündlichen Verhandlung ist also die logisch allgemeinere, so dass wir uns an erster Stelle dem Spezielleren zuwenden. b) Wenn man nach den konkreteren Vorstellungen fragt, die zur Überzeugung der Unvereinbarkeit von Jury und Wiederaufnahme führten, lassen sich eine Reihe von Erwägungen unterscheiden, die zwar wohl alle kausal wirksam gewesen sind, aber nur schwache Gründe liefern. aa) Der Kampf um die Anerkennung der Rechtskraft, der von dem Gedanken der Autorität und dem Ansehen der Gerichte und den Fiktions- und Präsumptionstheorien mitgetragen wurde (s. o. Kap. 1 C. I., IV. [S. 338 ff., S. 351 ff.]), war zugleich ein Kampf gegen die königliche justice retenue, mit der man jede Rechtskraftdurchbrechung in Verbindung setzte (s. o. Kap. 1 C. I. [S. 342 f.]).3602 Die Wiederaufnahme, insbesondere die begünstigende, ist aber kein Ausfluss der Gnade, sondern eines individuellen Rechts; das heißt zugleich, dass nicht der König, sondern Gerichte die Adressaten eines Wiederaufnahmeantrags sein müssen. bb) Man hat es dennoch als Problem empfunden, dass ein staatliches Gericht den Wahrspruch der Laienrichter überprüft und sich darüber hinwegsetzt. Zunächst deshalb, weil man an die Unfehlbarkeit der Jury geglaubt hat,3603 wozu man kein Wort verlieren muss; zweitens aus einer praktischen Erwägung, insbesondere wegen der fehlenden Begründung des Wahrspruchs der Laienrichter.3604 Man könne nie wissen, ob die Geschworenen bei Kenntnis des novums anders entschieden hätten. Dieser Gesichtspunkt ist aber belanglos, weil er nicht stärker sein kann als das Recht des Unschuldigen.3605 Ist die fehlende Begründung, die ihrerseits einen kaum tolerablen Ausdruck von Willkür verkörpert (s. o. Kap. 5 E. II. [S. 850]), ein Hindernis gegen Wiederaufnahmen, dann ist das ein weiteres Argument dafür, einen Begründungszwang auch für den Spruch der Geschworenen einzuführen.3606 Es ist skandalös, jemandem die Macht zuerkennen, andere schuldig zu sprechen, ohne ihm die Pflicht aufzuerlegen, über die Gründe dieser Schuldigsprechung Rechenschaft abzulegen. Möchte man dem Wahrspruch trotz3602

Fazy, Revision, S. 25. Fazy, Revision, S. 26; Bouzat/Pinatel, Traité II, S. 1459; Grebing, Wiederaufnahme, S. 304. 3604 Arnold, GS 3/1 (1851), S. 67; v. Schwarze, Wiederaufnahme, S. 329; Remeis, Wiederaufnahme, S. 77; v. Kries, Rechtsmittel, S. 422 (mit Berufung auf v. Schwarze); Orano, Revisione, S. 91; Winkler, GS 78 (1914), S. 382 ff. Rückblickend Rheingans, Rechtskraftlehre, S. 38; Schöneborn, Wiederaufnahmeproblematik, S. 74 f. 3605 Goltdammer, GA 1858, S. 526, 667. 3606 Winkler, GS 78 (1914), S. 384 ff. 3603

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dem eine Verbindlichkeit zuerkennen, weil er Ausdruck der Volkssouveränität ist, dann hat man den Boden rationaler Argumentation schon fast verlassen. Gegen die Unschuld darf ein solches Argument überhaupt nicht angeführt werden; denn die Strafe betrifft angeborene Rechte, die einem bereits vor jeder Staatsgründung zugestanden hatten (s. o. Kap. 3 C. IV. 2. [S. 656 f.]) und die deshalb der freien Verfügungsgewalt des Volksganzen entzogen sind (s. o. Kap. 3 C. IV. 2. [S. 658 f.]). Dies dürfte höchstens ein Argument dafür sein, weshalb Freisprüche nicht erneut überprüft werden dürften, weder mittels der Wiederaufnahme noch der Berufung; dazu hat man sich bereits o. Kap. 5 E. II. (S. 848 ff.) kritisch geäußert. c) Was noch bleibt, ist also die Überlegung, dass die erneute Überprüfung einer Entscheidung, die nicht nach festen Beweisregeln, sondern nach freier Überzeugung im Rahmen einer mündlichen Verhandlung getroffen wird, grundsätzlich unmöglich sei. Der Zweitentscheider setze sich an die Stelle des Erstentscheiders; die erste Entscheidung werde nicht bloß auf Fehler untersucht, sondern völlig beseitigt und durch eine neue Entscheidung ersetzt. Diese zweite Entscheidung beruhe ihrerseits auf nichts anderem als auf der freien Überzeugung desjenigen, der sie getroffen habe, und könne schon deshalb keine Gewähr bieten, richtiger zu sein. Dieser Standpunkt, der in der klassischen französischen Literatur3607 und in der deutschen Literatur3608 in der Zeit der großen Prozessreformen vertreten wurde, ist in den 70er Jahren von Schöneborn unter Zuhilfenahme der Systemtheorie erneut vertreten worden.3609 Ihm zufolge gebe es eine Korrelation zwischen Regeln der Wahrheitsfindung und Überprüfbarkeit der Entscheidung.3610 Die herkömmliche Deutung der Rechtskraftfeindlichkeit des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens sei oberflächlich;3611 maßgeblich sei hier weniger die Prozessstruktur als das durch klare Regeln charakterisierte Beweissystem.3612

3607

Etwa S. Mayer, Révision, S. 113 f. v. Schwarze, Wiederaufnahme, S. S. 328: „Der Grundgedanke der Mündlichkeit widerstrebt der Wiederaufnahme des Verfahrens“; Remeis, Wiederaufnahme, S. 75 ff.; v. Kries, Rechtsmittel, S. 421 ff.; Binding, Grundriss, S. 283 f. 3609 Schöneborn, Wiederaufnahmeproblematik, S. 43 ff.; tendenziell auch J. Schulz, FS OLG Oldenburg, S. 200 ff.; Rieß, NStZ 1994, S. 155. 3610 Schöneborn, Wiederaufnahmeproblematik, S. 47, 195. 3611 Schöneborn, Wiederaufnahmeproblematik, S. 58 f. Zu ihr o. Kap. 1 C. IV., VII. (S. 351 f., 362 ff.). 3612 Schöneborn, Wiederaufnahmeproblematik, S. 59 f.; sympathisierend Loos, AKStPO vor § 359 Rn. 5. Damit kommt er zugleich zu einer Rechtfertigung der restriktiven Tendenzen der Praxis, die o. II., III. (S. 869 ff., 875 ff.) bereits festgestellt worden sind und denen man sich u. 4. (S. 892 ff.) näher zuwenden soll: Eine Kritik, die, „pochend auf den humanitären Impetus“, diese Zusammenhänge verkennt, sei „verhängnisvoll“ und führe gerade zu noch restriktiveren Gegenbewegungen (Schöneborn, Wiederaufnahmeproblematik, S. 47). 3608

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Es mag sein, dass die Wiederaufnahme in einem Verfahren mit gesetzlichen Beweisregeln um einiges reibungsloser verläuft als in einem Verfahren mit freier Beweiswürdigung. Ein Verfahren, das von der Verurteilung deshalb absehen muss, weil ein einziger Augenzeuge gefunden wurde, lässt sich in seinen Ergebnissen bequem dadurch verändern, dass man einen zweiten Zeugen findet und hiermit den gesetzlich vorgesehenen Beweis komplettiert. Auch dann, wenn man in einem System mit gesetzlichen Beweisregeln die richterliche Überzeugungsbildung nicht auf das mechanische Abhaken einer Checkliste verkürzt, sondern nicht verkennt, dass dieses System vom Richter etwa eine Beurteilung verlangte, ob die Zeugen „gnugsam“ waren, d.h. „vnbeleumdet, vnd sunst mit keyner rechtmessigen vrsach zuuerwerffen sein“ (Art. 66 CCC), muss man einsehen, dass ein solches Verfahren eine Verwertung der früheren schriftlich festgehaltenen Beweise nicht untersagte, im Gegensatz zu einem Verfahren mit freier Beweiswürdigung, das grundsätzlich neu aufgerollt werden muss. Wiederholungen werden sich also nicht vermeiden lassen, und das ist zugegeben lästig. Das Argument war aber nicht nur, dass Wiederholungen lästig waren, sondern auch, dass sie von zweifelhaftem Nutzen seien, weil sie die Wahrscheinlichkeit einer besseren Entscheidung nicht zu erhöhen vermöchten. Dieses Argument ist aber verfehlt; denn der Hauptfall der Wiederaufnahme beruht auf einem novum. Das bedeutet, dass die zweite Entscheidung auf einer breiteren Tatsachen- und Beweisgrundlage getroffen wird als die Erste. Zwar ist das noch keine Garantie einer richtigeren Entscheidung, aber durchaus eine Erhöhung ihrer Wahrscheinlichkeit. Die Sachen verhalten sich insofern anders als bei einer Berufung; die bekannten Vorbehalte, die man aus der Perspektive eines mündlichen Verfahrens gegen die Berufung haben muss,3613 sind bei der Wiederaufnahme deshalb nicht mit gleicher Stichhaltigkeit einschlägig. 3. Zusammenhang mit der Rechtsmittellehre? An dieser Stelle sind einige Bemerkungen zum behaupteten Zusammenhang zwischen der als außerordentlichem Rechtsbehelf eingestuften Wiederaufnahme und den ordentlichen Rechtsmitteln, vor allem der Berufung und der Revision, angebracht.3614 Schon die Materialien zur RStPO erklärten die Wiederaufnahme 3613

Siehe oben Teil 1 Kap. 1 A. II. 1. (S. 57, insb. Fn. 106). E. Mayer, Wiederaufnahme, S. 4; Lobe, GS 110 (1938), S. 244; Leone, Tratatto III, S. 257; J. Schulz, FS OLG Oldenburg, S. 196; Dippel, GA 1972, S. 111 ff.; Wasserburg, ZStW 94 (1982), S. 967 (urspünglicher Sinn der Wiederaufnahme als zweite Tatsacheninstanz); Ziemann, ARSP-Beiheft 103 (2005), S. 137: „letzte Kontrollinstanz in Sachen Wahrheit und Gerechtigkeit“. Abl. Kries, Lehrbuch, S. 702 Fn. 1; Lippmann, in: DJZ 1906, Sp. 990 f.; Giehl, Wiederaufnahme, S. 44 f.; Winkler, GS 78 (1911), S. 338 f.; v. Lilienthal, DStrZ 1914, Sp. 168; H. Mayer, GS 99 (1930), S. 330; O. L. Walter, Wahrheit und Rechtskraft, S. 75 f.; Hanack, JZ 1973, S. 393 f.; Deml, Wiederaufnahme, S. 32 f.; in der Tendenz auch Rieß, NStZ 1994, S. 155. 3614

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zum teilweisen Ersatz für fehlende Berufungsmöglichkeiten.3615 Noch weiter geht man in Italien: Die italienische StPO ordnet sie unter die Rechtsmittel (impugnazioni, Libro IX) ein,3616 so dass die nahezu einhellige Lehre ihr die Rechtsnatur eines Rechtsmittels zuerkennt.3617 Eine Nähe von Wiederaufnahme und ordentlichen Rechtsmitteln lässt sich nicht leugnen.3618 Man erkennt sofort, dass beide Regelungssysteme darauf abzielen, Fehler zu korrigieren.3619 Deshalb kann das Gesetz vorschreiben, dass die allgemeinen Vorschriften über Rechtsmittel auch für den Antrag auf Wiederaufnahme gelten (§ 365 StPO).3620 Ein Strafverfahren ist Menschenwerk, Menschen können irren, und ein Irrtum in einem Strafverfahren hat empfindliche rechtsmoralische Implikationen. Keine Frage, es ist besser, Fehler zu verhüten,3621 Fehlerquellen nachzuspüren und zu beseitigen.3622 Man wird sie aber aus Gründen, die zum Teil auch mit der menschlichen Natur zu tun haben, niemals definitiv eliminieren können – v. Hentig sprach anschaulich von „Betriebsunfällen“ der Strafrechtspflege3623 –, und deshalb müssen Mechanismen existieren, um Fehler sofort zu beseitigen. Zu einem guten Teil können deshalb ordentliche Rechtsmittel und Wiederaufnahme funktionale Äquivalente sein, und insofern besteht in der Tat ein Zusammenhang zwischen beiden Regelungssystemen. Häufig wird hervorgehoben, dass die ordentlichen Rechtsmitteln nur bis zum Eintritt der sogenannten formellen Rechtskraft, also bis zum Ablauf der letzten Rechtsmittelfrist, weiterhelfen können, und dass es sein kann, dass der Fehler erst zu einem späteren Zeitpunkt erkannt oder überhaupt erkennbar wird. Der Wiederaufnahme müsse deshalb eine subsidiäre Rolle als ultima ratio für die Behebung bestimmter Fehler zuerkannt werden.3624

3615 Bericht der Kommission, in: Hahn/Mudgan, Materialien, S. 1608; s. a. Schwarze, GS 25 (1873), S. 416. 3616 Siehe Presutti, Revisione, S. 1; Dean, Revisione, S. 3, die beide diese Entscheidung billigen. 3617 Statt aller Jannelli, Revisione, S. 656 f.; Cordero, Procedura penale, Rn. 116; zu den letzten, die diese Ansicht in Italien ablehnten, gehört Janitti Piromallo, Revisione, S. 23 ff. Ablehnend auch Gómez Colomer, Derecho jurisdicional III, S. 421; Cortés Domínguez, Derecho procesal penal, S. 571. 3618 Peters, Fehlerquellen III, S. 4; Loos, AK-StPO vor § 359 Rn. 38; BRAK Denkschrift, S. 74. 3619 J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 42, der von einem „funktionalen Zusammenhang“ zwischen ihnen spricht. 3620 J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 43, der auch das Verbot der reformatio in peius nennt. 3621 Hanack, JZ 1973, S. 393. 3622 Großangelegtes Unternehmen in dieser Richtung: Peters, Fehlerquellen II, S. 5 ff., 299 ff. 3623 Hentig, Wiederaufnahmerecht, Vorwort. 3624 Etwa Deml, Wiederaufnahme, S. 31.

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So weit, so gut. Das Problem ist aber, dass diese Argumentation nicht selten eine Kehrseite hat: die selten explizit ausgesprochene,3625 dennoch aus einzelnen Stellungnahmen entnehmbare These, dass die Fehler, die bereits durch die ordentlichen Rechtsmittel behoben werden können, keine Wiederaufnahme mehr zu rechtfertigen vermögen. So seien nova deshalb erforderlich, weil ansonsten die Wiederaufnahme eine unbefristete Berufung wäre;3626 oder es seien Tatsachenfehler erforderlich, ansonsten hätte man eine unbefristete Revision.3627 Implizit wird damit angenommen, dass die Wiederaufnahme als ultima ratio nur dort einschlägig sein dürfte, wo die ordentlichen Mittel versagen mussten. Die ordentlichen Rechtsmittel würden eine Art Ausschlusswirkung bezüglich der Statthaftigkeit einer Wiederaufnahme entfalten. Die Wiederaufnahme kümmere sich nur um die Reste, mit denen die ordentlichen Rechtsmittel überfordert wären. Genau diese Annahme gilt es, abzulehnen. Es gibt einen grundsätzlichen Perspektivenunterschied zwischen ordentlichen Rechtsmitteln und Wiederaufnahme, der verwischt wird, falls man aus der Ausgestaltung der Rechtsmittel unmittelbar Folgerungen für das Wiederaufnahmerecht ableitet: Wie Orano Ende des 19. Jahrhunderts/Anfang des 20. Jahrhunderts sagte, sind ordentliche Rechtsmittel präventiv, die Wiederaufnahme dagegen reparativ ausgerichtet,3628 oder, jetzt mit Jürgen Meyer, ordentliche Rechtsmittel interessieren sich eher für die Ursachen eines Fehlers, für die Wiederaufnahme müsse es um die Folgen gehen.3629 Fehler, die den Geltungsgrund der rechtskräftigen Entscheidung in Frage stellen, die also entweder die Schuld, die Rehabilitierung oder die Verfahrensgerechtigkeit betreffen, müssen behoben werden können, und dies unabhängig davon, ob sich darum bereits ein ordentliches Rechtsmittel gekümmert hat. Wenn ja, 3625

RGSt 19, 321 (323). Etwa Fazy, Revision, S. 72; Pinatel, Fait nouveau, S. 2; s. a. v. Kries, Rechtsmittel, S. 428, der daraus sogar schlussfolgert, dass es die Wiederaufnahme propter nova nicht geben dürfe, weil sie „einer gewöhnlichen Berufung, die auf nova gestüzt wird“, gleichstünde. Dies sind zwei weitere, weniger traditionelle Beispiele für diese Argumentationsweise. Mele rechtfertigte noch 1960 die kleinliche und wenige Jahre später erweiterte italienische Regelung, die eine Wiederaufnahme nur für den Fall gestattete, in dem die Tat nicht begangen wurde oder der Verurteilte nicht der Täter gewesen sei (s. o. III. [S. 879]), mit dem Argument, alles andere würde die Wiederaufnahme zu einer normalen Revision machen (ArchPen 1960, S. 47). Nach dem EGMR dürfe die Möglichkeit unterschiedlicher Ansichten über eine Frage keine Wiederaufnahme ermöglichen, ansonsten wäre sie eine verdeckte Berufung, so EGMR Salov v. Ukraine, Beschw. Nr. 65518/01 v. 6.9.2005 Rn. 93; die Passage auf Französisch („appel déguisé“) ist klarer als auf Englisch („appeal in disguise“). 3627 Siehe die Nachw. u. Fn. 3799; s. a. Pinatel, Fait nouveau, S. 2; Meyer-Goßner, StPO § 359 Rn. 25; Gössel, LR-StPO § 359 Rn. 77; und noch Wasserburg, ZRP 1997, S. 414, der aus dem Argument bloß die Schlussfolgerung zieht, dass nur schwerwiegende Rechtsfehler zur Wiederaufnahme berechtigen sollten. 3628 Orano, Revisione, S. 17. 3629 J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 129. 3626

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

umso besser; das darf aber noch nicht als Argument dafür angeführt werden, dass der Fehler zu einer späteren Gelegenheit nicht mehr behoben werden dürfe. Die Wiederaufnahme ist also nicht als Anhängsel zu den ordentlichen Rechtsmitteln zu konzipieren, sondern aus der Rechtskraftlehre heraus und in diesem Sinne eigenständig zu entwickeln.3630 4. Zum vermeintlichen Ausnahmecharakter der Wiederaufnahme a) „Als letzter Behelf, ein gerechtes Urteil zu schaffen, trägt die Wiederaufnahme naturgemäß das Gepräge des Exzeptionellen.“ 3631 Der folgenschwerste Irrtum unter den Grundannahmen zum Wiederaufnahmerecht besteht darin, in diesem Rechtsinstitut eine Ausnahmeerscheinung zu erblicken.3632 Diese Behauptung ist zweideutig. Sie kann zunächst eine statistische Feststellung über das geringe Ausmaß der Wiederaufnahmen im Leben der Strafrechtspflege (und über das noch geringere Ausmaß erfolgreicher Wiederaufnahmeanträge) bedeuten, aber auch eine normativ-methodische Aufforderung verkörpern, diesen Rechtsbe3630 Ebenso J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 49. Eine weitere viel beklagte praktische Implikation (etwa Hanack, JZ 1973, S. 394 Fn. 8; Loos, AK-StPO vor § 359 Rn. 38) war eine Paralysierung der Bemühungen zur Reform des Wiederaufnahmerechts, mit dem Vorwand, diese würden sich nämlich erst im Wege einer Reform der gesamten Rechtsmittel als sinnvoll erweisen. Ein kleiner, interessanter Beleg für diese Eigenständigkeit der Wiederaufnahme im Vergleich zu den ordentlichen Rechtsmitteln ist auch, dass bei ihr ein Verzicht schlecht denkbar erscheint, bei den ordentlichen Rechtsmitteln seine Zulässigkeit aber außer Frage steht (Lippmann, in: DJZ 1906, Sp. 993). 3631 R. Neumann, Wiederaufnahme, S. 2. 3632 So aber Planck, Darstellung, S. 607 Fn. 1; Zachariä, Handbuch II, S. 674; v. Schwarze, Wiederaufnahme, S. 333; v. Kries, Rechtsmittel, S. 428; Barbarino, Rechtskraft, S. 23; Ortolan/Desjardins, Éléments, S. 625; Lucchini, Elementi, S. 396; Schwarz, DJZ 1928, S. 1294; ders. DJZ 1931, Sp. 1116 f.; Schultz, JR 1929, S. 233; E. Mayer, Wiederaufnahme, S. 47; Wunderer, DJZ 1936, Sp. 157; Peters, ZStW 56 (1935), S. 54; ders. Fehlerquellen II, S. 320; Niederreuther, GS 113 (1939), S. 328; Santoro, Manuale, S. 679; Creifelds, GA 1965, S. 197; J. Meyer, ZStW 84 (1972), S. 910; Rieß, FS Schäfer, S. 215; Presutti, Revisione, S. 2; A. Binder, Revisión, S. 306; Loos, AK-StPO vor § 359 Rn. 1; van Essen, Kriminalistik 1996, S. 763; Stoffers, ZRP 1998, S. 175; Pfeiffer, FS Graßhoff, S. 272; Gössel, LR-StPO vor § 359 Rn. 16. Aus der deutschen Rspr. RGSt 19, 321 (323); RMGE 13, 73 (74); BGHSt 11, 360 (364); 39, 75 (78); 48, 153 (160); 11, 361 (364); BVerfGE 22, 322 (329); LG Hannover NJW 1970, 288 (289, zu § 79 Abs. 1 BVerfGG); LG Hamburg NStZ 1991, 149 (150); aus der spanischen Rspr. Tribunal Supremo ATS 8694/2013, II.2; ATS 8693/2013, II.2; STS 4759/ 2013, II.2; ATS 7931/2013, II.2; ATS 7203/2013, II.2; ATS 6929/2013, II.2; ATS 7574/ 2013. II.2.c; ATS 6928/2013, II.2; s. a. den SPD-Gesetzesentwurf, BT-Drs. 13/3594, S. 7. Krit. F. Bauer, JZ 1952, S. 210; Dalia, RitDPP 1965, S. 799 f.; Peters, Reform des Wiederaufnahmerechts, S. 111: „unhaltbar“; ders. Fehlerquellen III, S. 3 ff.; J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 48 f.; Scalfati, RitDPP 1993, S. 1451 Fn. 2; Dean, Revisione, S. 12; Jannelli, Revisione, S. 657; Callari, IP 9 (2006), S. 247 ff.; ders. CassPen 2006, S. 307; ders. Firmitas, S. 220 ff.; ders. Revisione, 32; s. a. Galli, NovDigIt XVI (1969), S. 1205, demzufolge dies nach dem die Wiederaufnahme wesentlich erweiternden Gesetz v. 1965 nicht mehr der Fall sei.

6. Kap.: Auflösung der materiellen Rechtskraft

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helf zurückhaltend zu handhaben bzw. seine Voraussetzungen strikt und restriktiv zu interpretieren. b) Im ersten, deskriptiven Sinn ist die Behauptung womöglich richtig, wenn auch für die hier zu klärende Legitimitätsfrage von nachgeordneter Relevanz. Seit über einem Jahrhundert beklagt man sich über die Vorbehalte von Richtern und Staatsanwälten gegen die Wiederaufnahme.3633 Wie verbreitet und spürbar diese Vorbehalte genau sind, soll hier nicht untersucht werden; die Schätzungen gehen, wie bei einer solchen Frage nicht anders zu erwarten wäre, auseinander.3634 Trotzdem besteht über die Existenz einer solchen Haltung eine relativ weitreichende Übereinstimmung, was auch deshalb niemanden überraschen sollte, weil bereits im Gesetz diese Haltung in einer Vielzahl von Bestimmung einen nicht zu leugnenden Niederschlag erfahren hat (s. a. o. B. II. [S. 870 f.]). b) Im zweiten Sinn, als normative Aufforderung, ist die Behauptung aber falsch und schädlich. Demzufolge bedeutet die Behauptung des Ausnahmecharakters der Wiederaufnahme nichts anderes als eine an den Gesetzgeber adressierte Empfehlung, die Wiederaufnahmeregeln streng zu konzipieren, und ein an den Richter adressiertes Gebot restriktiver Auslegung und strenger Beweiswürdigung, als wären Einschränkungen der Wiederaufnahme präsumptiv gut.3635 Es gebe so etwas wie einen „Vorrang der Rechtskraft“;3636 daraus wird abgeleitet, „daß die 3633 Ortloff, GS 23 (1871), S. 200; Rosenblatt, ZStW 23 (1903), S. 580: „Horror“ der Praxis; Kohler, GA 1914, S. 194; Mamroth, DStRZ 1921, Sp. 89; Hirschberg, MSchrKrimPsych 21 (1930), S. 407 ff.; E. Mayer, Wiederaufnahme, S. 59; O. L. Walter, Wahrheit und Rechtskraft, S. 11, 28, 94: „. . . unsere Gerichte sind aus Prinzip wiederaufnahmefeindlich“; Peters, Reform des Wiederaufnahmerechts, S. 112; ders. Fehlerquellen III, S. 15 ff.; ders. Strafprozeß, S. 669: Die Wiederaufnahmepraxis sei „ethisch und rechtlich nicht mehr verantwortbar“; Fuchs, JuS 1969, S. 517; Knoche, DRiZ 1972, S. 301; Gerhardt, ZRP 1972, S. 122; Schöneborn, MDR 1975, S. 441; Wasserburg, ZStW 94 (1982), S. 914; ders. ZRP 1997, S. 412; J. Meyer, ZRP 1993, S. 284; Stern, NStZ 1993, S. 409; Strate, StV 1999, S. 230; Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme, Rn. 1, 2; Ziemann, Rehabilitierungsgedanken, S. 663; Eschelbach, FS Stöckel, S. 204; Paeffgen, GA 2013, S. 265: Die Erfolgsaussichten eines Wiederaufnahmegesuchs sind „vergleichbar etwa der Chance, mit einem Schilfboot einen Tsunami zu überstehen“; ebenso BRAK Denkschrift, S. 75. Vorsichtig, aber doch bejahend Oetker, JW 1930, S. 1840; Hanack, JZ 1973, S. 395 f.; Eisenberg, JR 2007, S. 368 („restriktive Tendenz“). Es dürfte hier um ein nicht nur in Deutschland vorhandenes Phänomen gehen, denn auch ausländische Autoren beklagen sich darüber: aus portugiesischer Sicht Conde Correia, Caso julgado, S. 105 ff.; aus japanischer Sicht Kato, ZIS 2006, S. 354, nach dessen Einschätzung die Wiederaufnahme von japanischen Gerichten „gehasst“ wird. In Frankreich sollen laut Hodgson, French Criminal Justice, S. 181 Fn. 1 zwischen 1945 und 2001 nur 8 Verurteilungen aufgehoben worden sein. Bereits im Italien des 19. Jahrhunderts Carrara, Della rejudicata, S. 515. Siehe auch zum medienwirksamen Mollath-Fall Hauer, ZRP 2013, S. 209 ff., 213 („Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus“, S. 211). 3634 Abl. etwa Schwarz, DJZ 1931, Sp. 1116. 3635 B. Ullmann, Wiederaufnahme, S. 57. 3636 Gössel, NStZ 1993, S. 565; ders. LR-StPO vor § 359 Rn. 14; Loos, AK-StPO vor § 359 Rn. 4; Pfeiffer, FS Graßhoff, S. 271. Gössel beruft sich sogar auf Art. 103

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen die Regel, ihre Durchbrechung die Ausnahme ist (. . .).“ 3637 An konkreten Beispielen: Genau auf dieses Argument beruft man sich wiederholt, um die Wiederaufnahmeunfähigkeit von Beschlüssen zu begründen (zu dieser Frage o. A. III. [S. 861 ff.]),3638 und um Reformbestrebungen zu blockieren, eine Wiederaufnahme wegen Rechtsfehlern (näher u. C. II. 2. c), 3. III. 5. [S. 911 ff., 926 ff., 940 ff.]) einzuführen.3639 aa) Vertreter des herrschenden Abwägungsansatzes stellen diese Schlussfolgerung vereinzelt in Frage.3640 Die Wiederaufnahme sei nicht eine restriktiv zu interpretierende Ausnahme, sondern eine vom Gesetzgeber vorgesehene Regel. Wie jede Regel sei sie im Zusammenspiel anderer Regeln zu interpretieren. Es wäre genauso verfehlt, wenn man sagen würde, dass Rechtfertigungsgründe restriktiv zu interpretieren seien, weil sie von der Regel, dass der Tatbestand die Rechtswidrigkeit indiziere, eine Ausnahme verkörpern würden. bb) Diese Replik ist nicht falsch; sie verbleibt dennoch an der Oberfläche und weigert sich, die innere Folgerichtigkeit der von ihr bekämpften Auffassung wahrzunehmen. Ohne Übertreibung könnte man sagen, dass ein Großteil des Kampfes der liberalen Strafprozesstheorie gegen das Fehlurteil zum einen präventiv auf die Beseitigung von „Fehlerquellen“,3641 zum anderen korrektiv auf eine Änderung einer derartigen distanzierten Einstellung zur Wiederaufnahme abzielte. So beschwerte sich Peters in einer vielzitierten Passage: „Wer unschuldig verurteilt ist, ist, sofern er eine Freiheitsstrafe verbüßt, nicht nur hinter Gittern, sondern auch hinter der Rechtskraft und der mangelnden Offenheit der Gerichte eingemauert“.3642 In den romanischsprachigen Ländern, in denen lange Zeit die autoritätsorientierte Fiktions- bzw. Präsumptionstheorie herrschte (s. o. Kap. 1 C. I., IV. [S. 338 ff., 352 ff.]), findet man einen regelrechten Kampf gegen die Rechtskraft vor („Mythos der Rechtskraft“ 3643). Abs. 3 GG, was besonders unglücklich ist, weil die Vorschrift, die ein individualschützendes Prozessgrundrecht verkörpert (s. o. Kap. 1 C. VIII. [S. 369]), nur der Wiederaufnahme zuungunsten eine Barriere setzen kann. 3637 KG NStZ 1981, 273 (274). Diese Zitate beziehen sich auf Rechtsfragen; in Bezug auf Tatsachen sprechen einige von einem Grundsatz „im Zweifel für die Rechtskraft“, so etwa OLG Braunschweig NJW 1959, 1984. 3638 LG Hamburg MDR 1975, 246; LG Freiburg/Br. JR 1979, 161 (162); LG Hamburg NStZ 1991, 149 (150); HansOLG Hamburg JR 2000, 380 (381); Gössel, LR-StPO vor § 359 Rn. 16. 3639 van Essen, Kriminalistik 1996, S. 764; Stoffers, ZRP 1998, S. 175. 3640 Beling, ZStW 41 (1920), S. 152; Dickersbach, Wiederaufnahme, S. 61, der den Ausnahmecharakter der Wiederaufnahme einräumt, sich aber dagegen ausspricht, dass Ausnahmen restriktiv zu interpretieren seien; J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 49; Vanni, Enc. Dir. XL (1991), S. 164 f. 3641 Grdl. Peters, Fehlerquellen I, II, III. 3642 Peters, Strafprozeß, S. 669.

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Es wurde aber nicht erkannt, dass die zu Recht abgelehnte Überhöhung der Rechtskraft auf theoretischen Prämissen beruht, von denen man sich selbst nicht verabschieden konnte. Denn diese Haltung beruht zwar durchaus auf der autoritätsorientierten Deutung der Rechtskraft und der Wiederaufnahme,3644 aber keineswegs nur auf ihr. Dass die Berufung auf Autorität zu einer strengen, restriktiven Handhabung der Wiederaufnahme führt, ist o. B. II. (S. 866 ff.) belegt worden. Zwar wurde immer wieder versucht, mittels des Autoritätsgedankens gerade das Gebot der Veränderbarkeit von Entscheidungen zu begründen.3645 Alles andere sei Ausdruck einer „falsch verstandenen Auffassung von Staatsautorität“.3646 Diese Behauptungen, die empirisch nicht unplausibel sind, sind dennoch etwas naiv. Empirisch Unaufklärbares wird sich grundsätzlich immer zugunsten des Machthabers auswirken, und dies erst recht, wenn sich sogar der Ansatz auf ein Interesse des Machthabers beruft. Die Person, die berufen ist, darüber zu urteilen, ist selbstverständlich der Machthaber selbst und nicht der Wissenschaftler, der glaubt, ihn aufklären zu können. Es wurde nicht hinreichend bemerkt, dass auch Konzepte, die anstelle der Autorität von Rechtssicherheit oder Rechtsfrieden sprechen, die Sache nicht viel besser machen. Denn wer Rechtskraft als Ergebnis einer Abwägung konzipiert, ist von der These des ausnahmsweisen Charakters der Wiederaufnahme nicht mehr weit entfernt. Alles hängt nur davon ab, wie stark er die in Konflikt geratenen Interessen gewichtet. Man kommt zur These des Ausnahmecharakters der Wiederaufnahme, sobald der Rechtssicherheit bzw. dem Rechtsfrieden mehr Gewicht zuerkannt wird als der Gerechtigkeit; ob man dies tut, ist keine Frage, für 3643

Siehe oben Kap. 1 C. V. (S. 356). Diese Diagnose bei Rosenblatt, ZStW 23 (1903), S. 580, 591 f.; Hirschberg, MSchrKrimPsych 21 (1930), S. 411 f.; O. L. Walter, Wahrheit und Rechtskraft, S. 11; Gerhardt, ZRP 1972, S. 122: Der Rechtskraft werde von Richtern „eine geradezu metaphysische Bedeutung“ zugemessen; J. Meyer, ZRP 1993, S. 284; Stern, NStZ 1993, S. 409 („Sakrileg“); Callari, Firmitas, S. 214; Bock u. a., GA 2013, S. 339. Das wird von der Rechtsprechung bei der Prüfung des Rechtsbeugungstatbestandes sogar offen eingestanden, BGHSt 41, 247 (251), mit Berufung auf die Rechtssicherheitsfunktion der Rechtskraft; dazu auch Erb, FS Küper, S. 41 ff. 3645 Etwa Goltdammer, GA 1858, S. 522; S. Mayer, Révision, S. 126; Ortolan/Desjardins, Éléments, S. 634 f.; Orano, Revisione, S. 79, 80; Ditzen, ZStW 18 (1898), S. 81; Sevestre, Révision, S. 6 f.; Rosenblatt, ZStW 23 (1903), S. 586: „[N]ichts schädigt so sehr das Vertrauen und den Glauben an die Gerechtigkeit, wie ein Justizirrtum, der nicht gutgemacht wird“; Fazy, Revision, S. 244; B. Ullmann, Wiederaufnahme, S. 2; Mamroth, DStRZ 1921, Sp. 89; Hirschberg, MSchrKrimPsych 21 (1930), S. 411 f.; R. Neumann, Wiederaufnahme, S. 2; Dickersbach, Wiederaufnahme, S. 25 (als Argument für die Anerkennung der Kategorie nichtiger Urteile); J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 39 f.; ders. ZRP 1993, S. 284; Wasserburg, ZStW 94 (1982), S. 960; Brauns, JZ 1995, S. 498: „Der Rechtsstaat macht sich vielmehr unglaubwürdig, wenn er an der Rechtskraft solcher Urteile festhält“; s. a. o. Fn. 1299. 3646 Hirschberg, MSchrKrimPsych 21 (1930), S. 411. 3644

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die sich die Theorie interessiert, sondern wird von ihr mit bemerkenswerter Unbekümmertheit der persönlichen Vorliebe ihrer Anhänger anheim gegeben. Insofern bestätigt sich das o. B. III. (S. 878 ff.) festgestellte Kontinuitätsverhältnis von autoritätsorientierter Rechtskraft- bzw. Wiederaufnahmebegründung und dem herrschenden rechtssicherheits- oder rechtsfriedenorientierten Abwägungsansatz. Möchte man die These der Wiederaufnahme als ausnahmsweise gewährtes Mittel überwinden, dann ergibt sich hieraus ein zusätzliches Motiv, das herrschende Konzept abzulehnen. Zwar soll man nicht den intellektualistischen Fehler begehen, die wiederaufnahmefeindliche Haltung vieler Praktiker auf die Macht von Theorien zurückzuführen. Auf der anderen Seite sollten aber diejenigen, die sich um Reformkonzepte bemühen und das Anliegen verfolgen, diese Haltung auch zu verändern, sich die Frage stellen, inwiefern sie es nicht doch mit Phänomenen zu tun haben, die als konsequente Implikationen ihrer Ausgangsprämissen angesehen werden müssen. Wie gesagt: War das normativmethodische Verständnis der Wiederaufnahme als ein ausnahmsweise gewährter Rechtsbehelf eine Folge des materiellen Verständnisses der Wiederaufnahme als ausnahmsweise stattfindende Durchbrechung der Rechtskraft im Namen der Einzelfallgerechtigkeit, bedeutet eine wiederaufnahmefeindliche Einstellung nichts anderes als die Verlängerung dieser methodischen und materiellen Grundlagen in die Psychologie der Rechtsanwendung. Der erste Schritt, diese Haltung zu überwinden, muss auf der Ebene der Theorie getan werden. VII. Zusammenfassung. Überleitung zu den nächsten Abschnitten 1. Rechtskraft bedeutet grundsätzliche Unveränderbarkeit einer Entscheidung. Die in der Wiederaufnahme verkörperte Veränderung der Entscheidung bedarf insofern einer Rechtfertigung. Es ist ein Fehler, diesen Widerspruch durch Begriffskonstruktionen kaschieren zu wollen, etwa dadurch, dass man behauptet, das falsche Urteil sei nur ein Scheinurteil. Die Wiederaufnahme erfolgt auch nicht um der Autorität und des Ansehens der Gerichtsentscheidungen willen, eine These, die weniger auf der empirischen Perspektive zu bekämpfen ist als auf der normativen, weil sie einen inakzeptablen prozessualen Machiavellismus darstellt und dazu verleitet, die Wiederaufnahme äußerst restriktiv zu konzipieren. Unbefriedigend ist aber auch der herrschende Ansatz, der in der Wiederaufnahme die Fortsetzung des Kampfs von Rechtssicherheit bzw. Rechtsfrieden und Gerechtigkeit erblickt, der schon auf der Ebene der Rechtskraft bis zum vorläufigen Ende ausgetragen worden war. Dieser Ansatz, der die Wiederaufnahme als Situation versteht, in der die materielle Gerechtigkeit ihren Sieg über die Rechtssicherheit feiert, ist methodisch unbefriedigend, weil sich alle möglichen Ergebnisse auf ihn zurückführen lassen, und vor allem auch inhaltlich problematisch, weil er letztlich nichts anderes bedeutet, als dass ein gesellschaftliches Interesse an Rechtssicherheit bzw. Rechtsfrieden sich gegen ein Recht eines Einzelnen

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durchzusetzen vermag – m. a. W. Instrumentalisierung. Diese Bedenken werden praktisch, wenn daraus die Schlussfolgerung gezogen wird, die Augen vor kleinen Ungerechtigkeiten zuzudrücken und erst bei solchen unerträglichen Ausmaßes die Wiederaufnahme einzusetzen. Damit erweist sich der herrschende Ansatz als politisch korrekte Fortsetzung des alten autoritätsorientierten Ansatzes. Zuletzt vermögen auch gegensatzaufhebende Ansätze, die versuchen, sowohl die Wiederaufnahme als auch die Rechtskraft im Lichte eines höheren, harmoniestiftenden Rechtswerts zu deuten, gerade wegen der diesen Ansätzen anhaftenden Neigung, Gegensätze eher zu verschleiern als zu überwinden, nicht zu befriedigen. Den Weg zu einem überzeugenden und vor allem den Einzelnen nicht instrumentalisierenden Verständnis der Wiederaufnahme zeigt die im vorhergehenden Abschnitt ausgearbeitete Begründung der Rechtskraft. Die Unveränderlichkeit des Ausgangs eines Verfahrens und insbesondere die Unmöglichkeit, ihn in einem neuen Verfahren zu verändern, beruht auf den drei Säulen des Schuldprinzips bzw. der Schuldtilgung, der Rehabilitierung und der Verfahrensgerechtigkeit. Zuletzt ist von bestimmten, immer wieder eingeschlagenen Irrwegen zu warnen. Die Wiederaufnahme lässt sich weder aus der eher akkusatorischen oder inquisitorischen Struktur eines Verfahrens her konzipieren, noch dürfen die Ideen der Jury, der freien Beweiswürdigung und der Mündlichkeit gegen sie ausgespielt werden. Die Nähe zur Rechtsmittellehre darf nicht als Grund angeführt werden, nur diejenigen Fehler für wiederaufnahmefähig zu halten, die nicht schon durch ein ordentliches Rechtsmittel hätten behoben werden können. Am dringendsten muss davor gewarnt werden, der Wiederaufnahme Ausnahmecharakter zuzuerkennen; diese beliebte Formel, mit der die seit Generationen kritisierte restriktive Haltung der Praxis auch gerne begründet wird, ist aber nach näherem Hinsehen nicht nur ein Fehler der Praxis, sondern eine fast unabweisbare Konsequenz des herrschenden theoretischen Ansatzes. 2. Die entwickelte dreisäulige Rechtskraftlehre führt zu einer Dreiteilung der Wiederaufnahme. Vereinfacht gesagt, hat der Beschuldigte die Entscheidung deshalb hinzunehmen, weil sie seiner Schuld entspricht (Schuldprinzip) und weil er an ihrem Zustandekommen mitwirken durfte (Verfahrensgerechtigkeit); der Staat muss die Sache auf sich beruhen lassen, weil er einen Ausgleich für die Prozesserduldung schuldet (Rehabilitierung).3647 Die Wiederaufnahme zugunsten, um die es jetzt geht, wird auf dem Wegfall einer der ersten beiden Säulen beruhen (u. C.), die Wiederaufnahme zuungunsten auf dem Wegfall der letzten (u. D. [S. 956 ff.]).

3647 Bzw. – bei einer Verurteilung – weil die Schuld nicht nur zur Duldung der Strafe, sondern auch des Verfahrens verpflichtet und diese Pflicht erfüllt worden ist.

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C. Wiederaufnahme zugunsten des Beschuldigten I. Grundsätzliches 1. Das herrschende Konzept Die herrschende Meinung erklärt die Wiederaufnahme zugunsten des Beschuldigten anhand ihres Abwägungsmodells der Rechtskraft. Bei der Wiederaufnahme zugunsten des Beschuldigten geht es um einen Fall, in dem die Autorität der Entscheidungen, die Rechtssicherheit bzw. der Rechtsfrieden vor der Gerechtigkeit zu weichen haben.3648 Wegen der Bedeutung der Autorität der Gerichtsentscheidungen bzw. der Rechtssicherheit oder des Rechtsfriedens kann nicht jede Gerechtigkeitsverletzung von selbst eine Wiederaufnahme gestatten. Die herrschende Meinung muss deshalb ein Zusatzkriterium anbieten, und weil sie innerhalb des von ihr formulierten theoretischen Rahmens kein solches finden kann, bedient sie sich vor allem quantitativer Erwägungen: Erst bei schweren Gerechtigkeitsverstößen könne von einer Wiederaufnahme die Rede sein (s. o. B. III. [S. 875 f.]). Nach allem, was man schon gegen die Grundlagen dieser Auffassung angeführt hat (s. o. Teil Kap. 2 C. V. 1. [S. 224 ff.], Kap. 2 C. II. [S. 346 ff.], Teil 2 Kap. 6 B. III. [S. 873 ff.]), erübrigt sich an dieser Stelle eine Kritik. 2. Eigene Auffassung: Schuldprinzip und Verfahrensgerechtigkeit a) Aus der o. Kap. 1 D. (S. 371 ff.) entwickelten dreisäuligen Rechtskraftlehre lassen sich, wie o. B. V. (S. 883 ff.) gerade ausgeführt, reibungslos die Grundgedanken der Wiederaufnahme zugunsten des Beschuldigten ableiten. Die Rechtskraft einer nachteiligen Entscheidung beruht auf dem Schuldprinzip und auf der Einhaltung von Regeln der Verfahrensgerechtigkeit. Das bedeutet, dass diese Rechtskraft in zwei Konstellationen ihre Grundlage verliert: erstens wenn eine zu tilgende Schuld nicht gegeben ist; zweitens wenn Erfordernisse der Verfahrensgerechtigkeit missachtet worden sind. b) Der Beschuldigte hat zwar kein Recht darauf, dass er nur einem völlig fehlurteilssicheren Verfahren unterworfen wird (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. III. 3. [S. 168 ff., 183 ff.]); gerade deshalb muss dieses System bereit sein, die mit statistischer Notwendigkeit immer wieder vorkommenden Fehlurteile zu beseitigen. Eine Strafe, die jemandem zugefügt wird, dem in Wahrheit keine Schuld angelastet werden kann, kann ihm gegenüber nicht gerechtfertigt werden: ohne Schuld 3648 Man könnte die Abwägung konkreter beschreiben: Die Verurteilung eines nachträglich erkannten Unschuldigen ist ein sicheres Übel, eine aktuelle Ungerechtigkeit, während das Revidieren der rechtskräftigen Entscheidung eine bloße Gefahr begründe (so Carrara, Della rejudicata, S. 510).

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keine Strafe. Bereits das materiellrechtliche Schuldprinzip gebietet es also, dass man eine Wiederaufnahme des Verfahrens vorsieht.3649 Das bedeutet, dass die vom alten Inquisitionsprozess gegebene Begründung der Wiederaufnahme zugunsten des Beschuldigten weitgehend zutreffend war: „Diese Rechte der Unschuld sind unverjährbar, und keine Rechtskraft kann ihnen entgegenstehen“.3650 „Welches Recht ist heiliger als das der menschlichen Persönlichkeit, und welche Verletzung dieses Rechts ist größer als eine ungerechte Verurteilung?“.3651 Die Wiederaufnahme „gründet sich letztlich darauf, daß eine Strafe ohne Schuld etwas Sinnwidriges ist.“ 3652 Nichts anderes ist gemeint, wenn man in diesem Zusammenhang von Gerechtigkeit,3653 materieller Wahrheit,3654 genauer: von einem „Recht des Individuums auf materielle Wahrheit“ 3655 bzw. von einem „Anspruch des Bürgers auf ein richtiges Urteil“ spricht.3656 Immer geht es schlicht um die „Unschuld“.3657 Die Redeweise von materieller Gerechtigkeit bzw. Wahrheit ist im vorliegenden Zusammenhang aber bloß deshalb nicht zu empfehlen, weil, wie gesehen (o. Teil 1 Kap. 2 C. III. 3. [S. 181 ff.]), materielle Wahrheit sowohl aus dem Recht des Betroffenen folgt, nur gemäß seiner Schuld behandelt zu werden, als auch aus einem generalpräventiv begründeten Interesse der Gesellschaft, nur den wahren Schuldigen durch Strafe in Anspruch zu nehmen.3658 Auf diesen Unterschied muss geachtet werden; denn Ersteres ist nicht abwägbar, Letzteres durchaus. Das, was eine Wiederaufnahme kategorisch gebietet, ist also das Recht des Betroffenen; das Interesse der Gesellschaft mag sich mit diesem Recht regelmäßig decken, das ist aber eine willkommene Kontingenz. Wenn man also bei der Wiederaufnahme zugunsten des Beschuldigten vom Schuldprinzip und nicht von 3649 Kato, ZIS 2006, S. 354; Bock u. a., GA 2013, S. 330; s. a. Nose, FS Peters II, S. 402: „Schutz des Menschenrechtes des Verurteilten“; Bock u. a., GA 2013, S. 330; ähnl. Ibáñez Guzmán, Cosa juzgada, S. 19. 3650 Kleinschrod, ArchCrimR Bd. 2 St. 3 (1800), S. 31; s. a. Remeis, Wiederaufnahme, S. 83 ff., insb. S. 86. 3651 Orano, Revisione, S. 73. 3652 H. Mayer, GS 99 (1930), S. 304, m.w. Nachw. zur Literatur des 19. Jahrhunderts, der ebenfalls die zuvor zitierte Stelle von Kleinschrod anführt. 3653 Anlage 1 zu den Motiven, in: Hahn/Mudgan, Materialien, S. 322; Ortloff, GS 23 (1871), S. 188; Aprile, Revisione, S. 349. 3654 Etwa Goltdammer, GA 1858, S. 515; Giehl, Wiederaufnahme, S. 4; Pfenninger, ders. SchwJZ 1947, S. 165; ders. Rechtsmittel, S. 340; auf die materielle Wahrheit und die materielle Gerechtigkeit beruft sich die Cassazione Penale (Sez. Un.) CassPen 2002, 1952 (1967). 3655 Goltdammer, GA 1858, S. 525; F. Bauer, JZ 1952, S. 211. 3656 Knoche, DRiZ 1972, S. 300; Wasserburg, ZStW 94 (1982), S. 934. 3657 Arnold, GS 3/1 (1851), S. 47; Corte Costituzionale GiurCost 1969, 384 (391). 3658 Siehe auch Cassazione Penale (Sez. Un.) CassPen 2002, 1952 (1967): Materielle Wahrheit bzw. Gerechtigkeit „sind nicht bloß auf das Interesse des Einzelnen zurückführbar, sondern in erster Linie auf das öffentliche und überlegene Interesse an der Korrektur von Fehlurteilen . . .“.

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materieller Wahrheit spricht, wird es schon spürbar schwerer, einen Abwägungsansatz zu vertreten. Soweit ersichtlich hat es noch niemand gewagt, offen von einer Abwägung zwischen Schuldprinzip und Rechtssicherheit bzw. Rechtsfrieden zu sprechen. Die, die abwägen, spüren bereits sprachlich den Druck, das Recht der Unschuld zum „Rehabilitierungsinteresse“ 3659 oder zum „Interesse des Einzelnen . . . an der Verwirklichung materieller Gerechtigkeit“ 3660 zu degradieren – womit sich der o. Teil 1 Kap. 2 C. V. 1. (S. 225) festgestellte Widerstand der Sprache gegen die Abwägbarkeit von Rechten bestätigt. Das, was man nicht offen zuzugeben bereit ist, sollte man nicht trotzdem verdeckt mit Berufung auf den insofern zweideutigen Gedanken der materiellen Wahrheit tun. bb) Verfahren sind aber nicht bloß Mittel zum Zweck der richtigen Entscheidung, sondern Träger einer Eigenbedeutung. Viele prozessuale Regeln rechtfertigen sich also unabhängig von ihrer Tauglichkeit zur Verwirklichung der Verfahrenszwecke (also insbesondere der materiellen Wahrheit), sondern stellen eigenständige Forderungen einer Verfahrensgerechtigkeit dar, deren letzter Sinn es ist, das Strafverfahren aus einem nackten Akt zwingender Gewalt zu einem Vorgang der Kommunikation zu machen.3661 Deshalb muss eine Entscheidung unabhängig von ihrer Richtigkeit einer erneuten Überprüfung unterzogen werden, wenn sie im Rahmen eines Verfahrens gewonnen worden ist, das grundlegende Anforderungen der Verfahrensgerechtigkeit missachtet hat.3662 b) Weil der Betroffene ein Recht darauf hat, nicht ohne Schuld und nicht im Wege eines unfairen Verfahrens bestraft zu werden, ist die Wiederaufnahme eines diese Rechte missachtenden, bereits abgeschlossenen Verfahrens ein individuelles Recht des Betroffenen und keine bloße Sache der Billigkeit.3663 Deshalb muss die Rechtsordnung ein förmliches, gerichtliches Wiederaufnahmeverfahren vorsehen und darf nicht, wie es in einigen Staaten immer noch geschieht,3664 den Betroffenen auf den Gnadenweg verweisen.3665 Gnade ist angemessen für den, 3659

So Schöneborn, MDR 1975, S. 441. Stoffers, ZRP 1998, S. 175. 3661 Vgl. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 2. d) cc) (S. 256 ff.). 3662 So insb. Neumann, ZStW 101 (1989), S. 56 ff., der einzelne Wiederaufnahmegründe auf Erwägungen der Verfahrensgerechtigkeit zurückzuführen sucht. 3663 So aber das ältere Schrifttum, s. Planck, Systematische Darstellung, S. 137; krit. zu den Ausgangsprämissen H. Mayer, GS 99 (1930), S. 311 ff. 3664 Wie es in England anscheinend immer noch der Fall ist, s. (zwar etwas äter) G. Williams, The Proof of Guilt, S. 124 ff.; B. Huber, Wiederaufnahme, S. 267, 272 ff.; Kyle, DrLR 52 (2003–2004), S. 657 ff. 3665 Ebenso Arnold, GS 3/1 (1851), S. 47 f.; v. Schwarze, GS 25 (1873), S. 415; Orano, Revisione, S. 25, 120 ff.; Fazy, Revision, S. 18 f.; Rocco, Cosa giudicata I, S. 178; Rosenblatt, ZStW 23 (1903), S. 589; v. Hentig, Wiederaufnahmerecht, S. 90 f.; E. Mayer, Wiederaufnahme, S. 2 f.; O. L. Walter, Wahrheit und Rechtskraft, S. 94 f.; Niederreuther, GS 113 (1939), S. 307; G. Williams, The Proof of Guilt, S. 126; J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 58 ff. 3660

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der der materiellen Gerechtigkeit entsprechend verurteilt und der prozeduralen Gerechtigkeit entsprechend verfolgt worden ist. „Die Gnade bestätigt die Verurteilung“.3666 Eine Bestätigung der vorliegenden vorpositiven Begründung ergibt sich auch aus neueren Verfassungen, wie etwa der portugiesischen (Art. 29 Abs. 6), die sogar ein Grundrecht auf eine begünstigende Wiederaufnahme kennen.3667 c) Zuletzt ergibt sich aus dem Gesagten ein Plan für die weitere Darstellung: Zunächst ist die Wiederaufnahme wegen Verletzung des Schuldprinzips zu erörtern (u. II.), und anschließend die Wiederaufnahme wegen Verletzung der Verfahrensgerechtigkeit (u. III. [S. 940 ff.]). II. Wiederaufnahme wegen Verletzung des Schuldprinzips 1. Die drei Grundformen der Verletzung des Schuldprinzips „Für den Rechtsstaat gibt es keine schlimmere Situation“ als die Verurteilung eines Unschuldigen.3668 Die Literatur über den Justizirrtum oder das Fehlurteil ist Legion.3669 Was unter diesen Worten genau zu verstehen ist, muss hier nicht 3666

Orano, Revisione, S. 124; s. a. Fazy, Revision, S. 53. Wichtige Menschenrechtsübereinkommen sehen ein Recht auf Entschädigung für den Fall einer fehlerhaften rechtskräftigen Verurteilung vor (Art. 14 Abs. 6 IPbpR; Art. 3 EMRK 7. ZP; ähnl. Art. 24 Abs. 4 itVerf, woraus aber ein Recht auf begünstigende Wiederaufnahme abgeleitet wird, etwa Corte Costituzionale GiurCost 1969, 384 [389 f.]; Cassazione Penale [Sez. Un.] CassPen 2002, 1952 [1967]; Bellantoni, Revisione, S. 15, 20 f.; Jannelli, Revisione, S. 663; Moscarini, Omessa valutazione, S. 86; Marchetti, Revisione, S. 927 m.w. Nachw.; wohl auch Troisi, Errore giudiziario, S. 100 ff.); dem vorgelagert und ungemein/sehr viel wichtiger ist das Recht, die Verletzung des Schuldprinzips ungeschehen zu machen, im Falle einer fehlerhaften Verurteilung also, diese überhaupt zu beseitigen. 3668 Eb. Schmidt, Kolleg Rn. 334; s. a. Orano, Revisione, S. 3: „Zu den größten menschlichen Kalamitäten gehört das strafgerichtliche Fehlurteil“. 3669 Etwa Lailler/Vonoven, Erreurs judiciaires; Orano, Revisione, S. 3 ff., 98 ff.; Sello, Irrtümer; Rosenblatt, ZStW 23 (1903), S. 580 ff.; Hellwig, Justizirrtümer; ders. GS 87 (1920), S. 375 ff.: „Hauptfrage der Strafrechtspflege“ (S. 375); Mamroth, DStRZ 1921, Sp. 85 ff.; A. Merkl, ZStW 45 (1925), S. 452 ff.; Hirschberg, MSchrKrimPsych 21 (1930), S. 401 ff.; Giuriati, Gli errori giudiziari; Peters, Zeugenlüge; ders. FS Mezger, S. 477 ff.; ders. GS Grünhut, S. 129 ff.; ders. Fehlurteil; ders. Fehlerquellen I, II, III; Kleinknecht, GA 1961, S. 45 ff.; Judex, Irrtümer; Ebermayer, Unschuldig; Fingas, Fehlentscheidungen; Wimmer, FS Schorn, S. 99 ff.; Kraschutzki, Untaten; Sarne, L’erreur judiciaire; Kurreck, Mord nach Paragraphen; Kiwit, Fehlurteile; Floriot, Zu Unrecht verurteilt; Middendorff, SchlHA 1973, S. 5 ff.; Re. Lange, FS Peters II, S. 179 ff.; Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 25 ff.; Mosset Iturraspel, Error judicial; Dalia, GS Pisapia, S. 223 ff.; H.-D. Otto, Lexikon; Garnot, Intime conviction; Valicourt, L’erreur judiciaire; Imposimato, L’errore giudiziario; Schwenn, StV 2010, S. 705 ff.; ders. StV 2012, S. 255 ff.; Acker/Redlich, Wrongful Conviction; Brooks, Wrongful Convictions; Leitmeier, StV 2011, S. 766 ff.; Troisi, L’errore giudiziario, S. 1 ff., 33 ff.; s. noch die Sammelbände Gouron u. a. (Hrsg.), Error iudicis; Garnot (Hrsg.), L’erreur judiciaire; und die in der Zeitschrift Cahiers de la Justice 3 (2008) veröffentlichten Aufsätze. 3667

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geklärt werden; mehrheitlich dürften gerade diejenigen, die den unmittelbaren Sinn der Wiederaufnahme in der Behebung von Fehlurteilen sehen,3670 darunter den Fall verstehen, dass der Verurteilte das faktische Verhalten, das Gegenstand der Verurteilung ist, gar nicht begangen hat. Das ist eine zu enge Vorstellung, die schon den Fall einer im Urteil verkannten Notwehr oder Schuldunfähigkeit nicht mehr erfasst.3671 Deshalb empfiehlt es sich, nicht beim Fehlurteil anzufangen, sondern beim Schuldprinzip und den verschiedenen Wegen, es zu verletzen. a) Der krasseste, klarste Fall einer Verletzung des Schuldprinzips, der die Gemüter wie kaum ein anderer bewegt, ist der eines Menschen, der das Fehlverhalten, auf das die Strafe reagiert (denn Strafe ist bereits begrifflich Reaktion auf Fehlverhalten, s. o. Kap. 3 C. III. [S. 646]), und wegen dessen Begehen das Urteil schuldig spricht, überhaupt nicht begangen hat. Das Prinzip „keine Strafe ohne Schuld“ ist in erster Hinsicht eine Schranke, die das „Ob“ einer Strafe regelt. In dieser ersten Konstellation, in der jemand verurteilt wird, der richtigerweise freizusprechen wäre, wird das Schuldprinzip in seiner konkreteren Dimension eines Rechts, nicht ohne Schuld bestraft zu werden, verletzt. b) Das Schuldprinzip regelt unbestritten auch das „Wie viel“ einer Strafe: Es verkörpert das Recht, nicht über seine Schuld hinaus bestraft zu werden. Übermäßige Strafen, also Strafen, die das Maß des vom Täter Verschuldeten übersteigern, sind auch Verletzungen des Schuldprinzips. Man wird nur klären müssen, ob es sich dabei um die gleiche Verletzung handelt, ob die Bestrafung des überhaupt nicht Schuldigen und die Bestrafung über die Grenze der Schuld hinaus qualitativ auf gleicher Ebene stehen. c) Über diese zwei Konstellationen einer Verletzung des Schuldprinzips lässt sich wohl nicht streiten. Es gibt aber eine dritte, nicht so eindeutige Konstellation, die nach näherem Hinsehen als Unterfall der Ersten eingeordnet werden muss. Denn das Recht, nicht ohne Schuld bestraft zu werden, bedeutet auch, dass man nur für seine Schuld bestraft werden darf. Auch dann, wenn der Täter die Opfer A, B und C getötet haben mag, gibt einem dies noch nicht das Recht, ihn 3670 In der romanischsprachigen Literatur die Standardbeschreibung des Sinns der Wiederaufnahme, s. Hélie, Traité IX, S. 515; Pinatel, Fait nouveau, S. 2; Bouzat/Pinatel, Traité II, S. 1458; Presutti, Revisione, S. 2; Lozzi, Lezioni, S. 765; in Deutschland Peters, Strafprozeß, S. 668; Kühne, Strafprozessrecht Rn. 1106. 3671 Eine Schlussfolgerung, die tatsächlich gezogen worden ist, s. Pinatel, Fait nouveau, S. 43 ff. m.w. Nachw.; s. a. die in Italien bis 1965 geltende Fassung des Art. 555 itStPO v. 1930, wovon schon o. B. III. (S. 879) die Rede war, und auf dessen Grundlage die Rechtsprechung nicht einmal bei Notwehr oder Schuldunfähigkeit die Wiederaufnahme gestattete, s. die Nachw. in Mele, ArchPen 1960, S. 47; inzwischen bestehen diese engen Schranken nicht mehr, s. Presutti, Revisione, S. 3, 7; Bargis, Impugnazioni, S. 1017 f.; zum Ganzen J. Bosch, Wiederaufnahme, S. 350 f.; Bellantoni, Revisione, S. 68 ff. Von einer Erweiterung des Fehlurteilbegriffs von den Fällen der Verurteilung des Unschuldigen auf den der Verurteilung eines aus irgendwelchen im Gesetz vorgesehenen Gründen Freizusprechenden spricht Troisi, Errore giudiziario, S. 111.

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wegen der Tötung von Z zu bestrafen. Wenn sich auch diese Konstellation logisch als Unterfall der Ersten einordnen lässt, führt ihre prozessuale Behandlung zu bestimmten Schwierigkeiten, die es rechtfertigen, sie gesondert zu thematisieren. 2. Wiederaufnahmeziele: Beseitigung einer Verletzung des Schuldprinzips Aus den drei das Schuldprinzip konstituierenden Verboten, ohne Schuld, über die Schuld hinaus und für anderes als gegebene Schuld zu bestrafen, folgt das Gebot, Verletzungen dieser Verbote rückgängig zu machen. Daraus ergibt sich die Bestimmung der vom Schuldprinzip gebotenen Wiederaufnahmeziele: a) Verurteilung für richtigerweise strafloses Verhalten: Freispruch Bei einer Verletzung des Rechts, ohne Schuld bestraft zu werden, führt der Fehler zu einer Verurteilung, obwohl das einschlägige Verhalten richtigerweise als straflos anzusehen wäre. Die Beseitigung der Verletzung des Schuldprinzips bedeutet in diesem Fall die Auflösung des Schuldspruchs, also einen Freispruch. Damit ist das erste, inzwischen nirgendwo bestrittene Wiederaufnahmeziel gewonnen. War es schon fragwürdig, überhaupt zwischen Freisprüchen zu differenzieren (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 6. e) [S. 317]), ist es erst recht inakzeptabel, dies auf der Ebene der Wiederaufnahme zu tun (s. dennoch o. B. III. [S. 878 f.]). b) Verurteilung zu einer übermäßigen Strafe: Strafmilderung Wenn die Strafzumessung einen Bezug zum Schuldprinzip hat, dann sind Verletzungen des Schuldprinzips durch eine fehlerhafte Strafzumessung ebenfalls denkbar. Eine Beseitigung dieser Verletzung des Schuldprinzips muss auch ein zweites zulässiges Wiederaufnahmeziel sein. Man merke, es geht nicht bloß um die Strafvollstreckung, sondern um den Strafausspruch: Wenn A wegen Raubes zu einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt wird, B wegen Raubes 10 Jahre bekommt, ist B auch dann härter behandelt worden, wenn beide eine Sekunde nach Verkündung des Urteils sterben. Wenn eine Rechtsordnung im Namen der Autorität der Rechtskraft eine Korrektur des Strafausspruchs überhaupt nicht zulässt,3672 gibt 3672 So das französische Recht, und genau diese Begründung gab S. Mayer, Révision, S. 120; ebenso das italienische Recht, das nur den Freispruch (in allen seiner Formen) und die Einstellung als zulässige Wiederaufnahmeziele anerkennt, Bellantoni, Revisione, S. 70; Marchetti, Revisione, S. 939; Parlato, ZIS 2012, S. 519; Tonini, Manuale, S. 899; krit. bereits Leone, RDPP 1956, S. 171 f., 184; für Portugal s. Art. 449 Abs. 3 portStO, der bei der Wiederaufnahme propter nova eine Änderung der konkret verhängten Sanktion zu einem unzulässigen Wiederaufnahmeziel erklärt (zur früheren Diskussion s. Hünerfeld, Wiederaufnahme, S. 556 ff.). In Spanien ist die Lage etwas seltsam: In der spanStPO ist von einer Strafzumessungswiederaufnahme soweit ersichtlich keine Spur, vielmehr verlangt Art. 954 Abs. 4, die Vorschrift über die Wiederaufnahme propter nova, einen Freispruch als Wiederaufnahmeziel. Wenn in der Lehre zu dieser Frage

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

sie zu erkennen, dass sie bedenkenlos bereit ist, das Individuum im Namen des Gemeinwohls zu instrumentalisieren. aa) Anders als beim Freispruch ist das Wiederaufnahmeziel der Strafmilderung nicht unumstritten. Dagegen führt man insbesondere an, dass die Strafzumessung Sache richterlichen Ermessens sei.3673 Ferner finden in einem Strafurteil so gut wie niemals alle Strafzumessungserwägungen explizite Erwähnung; man könne deshalb immer zusätzliche anführen und damit die Rechtskraft des Urteil uneingeschränkt angreifen.3674 Positivrechtlich schlägt sich diese Einstellung insbesondere in der Vorschrift von § 363 Abs. 1 StPO nieder – einer Vorschrift, die im internationalen Vergleich sogar noch großzügig ist, da viele Staaten, wie gerade gesehen, eine Strafzumessungswiederaufnahme überhaupt nicht oder in noch eingeschränkterer Form kennen. Strafzumessungsfehler sollen nur dann eine Wiederaufnahme rechtfertigen, wenn nicht ein „gleiches“, sondern gleichzeitig ein anderes Strafgesetz herangezogen werden kann.3675 Die Vorschrift schließt die Möglichkeit einer Wiederaufnahme zu dem Zweck, eine neue Strafbemessung auf Grundlage desselben Strafgesetzes zu erreichen, explizit aus. Noch weiter gehen die Vorschriften von § 363 Abs. 2 und von § 359 Nr. 5 StPO. Erstere schließt eine Wiederaufnahme zum Zweck einer Strafmilderung wegen verminderter Schuldfähigkeit von vornherein aus. Letztere erfordert für die praktisch wichtigste Konstellation der Wiederaufnahme, also diejenige wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel, nicht nur, dass die konkrete Strafe auf Grundlage eines anderen Strafgesetzes gewonnen wird, sondern auch, dass sie im Einzelfall milder ausfällt. Wenden wir uns der zuerst genannten Bestimmung zu. Die Vorschrift des § 363 Abs. 1 StPO bereitet viele Auslegungsschwierigkeiten, da keineswegs klar ist, was noch ein „selbes“ und was schon ein anderes Strafgesetz im Sinne der Vorschrift darstellt. Konsentiert ist etwa, dass Qualifikationen und Privilegierungen andere Strafgesetze darstellen.3676 Besonders umstritten sind Strafschärüberhaupt Stellung genommen wird, wird gesagt, dass eine Strafmilderung als Wiederaufnahmeziel ausscheidet (so Gómez Colomer, Derecho jurisdicional III, S. 424); die Rspr. scheint dennoch anderer Auffassung zu sein (aus letzter Zeit etwa Tribunal Supremo ATS 5524/2013; STS 3778/2013), und dies trotz der Beteuerungen im Sinne des Ausnahmecharakters der Wiederaufnahme (Nachw. o. Fn. 3632). Gegen die Strafzumessungswiederaufnahme auch v. Lilienthal, DStrZ 1914, Sp. 164. 3673 v. Schwarze, GS 25 (1873), S. 418; ders. Wiederaufnahme, S. 334; E. Mayer, Wiederaufnahme, S. 17; Loos, AK-StPO § 363 Rn. 1; Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 189. 3674 Rieß, NStZ 1994, S. 159; Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 189; W. Schmidt, KKStPO § 363 Rn. 1. 3675 Ähnliche Regelung in Japan, § 435 Nr. 6 japStPO, vgl. Kato, ZIS 2006, S. 357 f. 3676 BGHSt 11, 361 (362 f.); Eb. Schmidt, Lehrkommentar II, § 363 Rn. 5; Ziemba, Wiederaufnahme, S. 110; Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 197; Loos, AK-StPO § 363 Rn. 5; Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme, Rn. 86; Gössel, LR-StPO § 363 Rn. 6.

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fungs- und -milderungsgründe. Viele denken, dass es sich bei ihnen um gleiche Strafgesetze handelt, so dass § 363 Abs. 1 StPO einer Wiederaufnahme zur Korrektur ihres Eingreifens entgegenstehe.3677 Die extreme Gegenauffassung möchte sie wie Qualifikationen und Privilegierungen behandeln, und § 363 Abs. 1 StPO nicht auf sie anwenden.3678 Eine differenzierende Auffassung möchte bei den Strafschärfungs- und -milderungsgründen, die Generalklauseln aufweisen (etwa § 213 2. Alt. StGB: „sonst ein minder schwerer Fall“), eine Wiederaufnahme ausschließen, nicht aber bei den benannten Strafänderungsgründen, also bei denjenigen, die subsumtionsfähige Voraussetzungen enthalten (etwa § 213 1. Alt. StGB).3679 Bei Strafmilderungsgründen des Allgemeinen Teils, insbesondere bei der fakultativen Milderungsmöglichkeit des § 23 Abs. 2 StGB, wird überwiegend von anderen Strafgesetzen ausgegangen.3680 Bei Konkurrenzen wird angenommen, dass eine realkonkurrierende Tatbestandsverwirklichung immer ein anderes Strafgesetz i. S. v. § 363 Abs. 1 StPO darstellt;3681 bei idealkonkurrierenden Delikten nimmt man an, dass eine Wiederaufnahme sich gegen das Delikt richten muss, aus dem die Strafe gem. § 52 Abs. 2 StGB stammt.3682 Nebenstrafen rechtfertigen nach h. A. keine Wiederaufnahme.3683 Auf Maßregeln der Besserung und Sicherung soll die Schranke des § 363 Abs. 1 StPO aber gar nicht an-

3677 OLG Düsseldorf, NStZ 1984, 571; v. Kries, Rechtsmittel, S. 436 f.; Eb. Schmidt, Lehrkommentar II § 363 Rn. 5; Ziemba, Wiederaufnahme, S. 110; Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 764.5, 6; Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 205 ff.; W. Schmidt, KK-StPO § 363 Rn. 8. 3678 Peters, Fehlerquellen III, S. 92; ders. Strafprozeß, S. 677. 3679 Loos, AK-StPO § 363 Rn. 8 f.; Rieß, FS Gössel, S. 665; W. Schmidt, KK-StPO § 363 Rn. 7; Meyer-Goßner, StPO § 363 Rn. 4 f.; Gössel, LR-StPO § 363 Rn. 9 f., 11; ähnl. OLG Stuttgart NJW 1968, 2206; HansOLG Hamburg JR 2000, 380 (383); anderes Differenzierungskriterium bei Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 203 f. 3680 OLG NJW 1964, 1040 (Vollendung und Versuch); OLG Köln NStZ 1991, 96 (97; Mittäterschaft und Beihilfe); v. Hentig, Wiederaufnahmerecht, S. 103; R. Neumann, Wiederaufnahme, S. 55; O. L. Walter, Wahrheit und Rechtskraft, S. 19, alle drei mit dem Beispiel des Verhältnisses von Vollendung und Versuch; Peters, Fehlerquellen III, S. 90; Loos, AK-StPO § 363 Rn. 6; W. Schmidt, KK-StPO § 363 Rn. 5; teilw. and. Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 764.5. 3681 E. Mayer, Wiederaufnahme, S. 18; Peters, Fehlerquellen III, S. 93; W. Schmidt, KK-StPO § 363 Rn. 10. 3682 OLG Königsberg JW 1926, 1251; O. L. Walter, Wahrheit und Rechtskraft, S. 18; E. Mayer, Wiederaufnahme, S. 17 Fn. 48; W. Schmidt, KK-StPO § 363 Rn. 10; MeyerGoßner, StPO § 363 Rn. 3; and. Loos, AK-StPO § 363 Rn. 7; Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 212; und Peters, Fehlerquellen III, S. 94, wohl nur de lege ferenda. Als es die fortgesetzte Handlung noch gab, wurde überwiegend vertreten, dass eine Strafzumessungsänderung innerhalb desselben Strafgesetzes nur dann nicht vorlag, wenn der Antrag sich auf alle Einzelakte bis auf einen bezog (OLG Oldenburg NJW 1952, 1029; OLG München MDR 1982, 250; abl. Stern, NStZ 1993, S. 411; Loos, AK-StPO § 359 Rn. 9; Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme Rn. 78 m.w. Nachw.). 3683 E. Mayer, Wiederaufnahme, S. 17; Loos, AK-StPO § 359 Rn. 17; Meyer-Goßner, StPO § 363 Rn. 2; abl. Gössel, LR-StPO § 363 Rn. 5.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

wendbar sein,3684 auf die Wiederaufnahme gem. § 79 Abs. 1 BVerfGG auch nicht.3685 bb) Es soll hier nicht versucht werden, in diesen Ergebnissen eine tiefere Logik zu suchen. Die grobe Richtlinie, von der man ausgeht, dürfte folgende sein: Dort, wo die Strafzumessungsentscheidung auf Grundlage von gebundener Subsumtion getroffen worden ist, liegen andere Strafgesetze vor; umgekehrt hat man es mit demselben Strafgesetz dort zu tun, wo die Strafbemessung auf subsumtionsfreiem Ermessen beruht. Dennoch wird dieser Grundsatz in bestimmten Fällen offen und unbesorgt verlassen, wie bei den fakultativen Strafmilderungsmöglichkeiten des Allgemeinen Teils. Zum Teil hat man in der Tat den Eindruck, es handele sich um „Zufallsergebnisse“;3686 „willkürlich“ aber sind sie nicht,3687 wenn man versteht, worauf sie beruhen, wenn man sich um eine Diagnose dieses merkwürdigen Zustands der Verwirrung bemüht. Ausgangspunkt dieser Diagnose muss die seit jeher unbestreitbare und deshalb auch unbestrittene Erwägung sein, dass eine übermäßige Strafzumessung eine Verletzung des Schuldprinzips verkörpern kann (s. o. II. 1. [S. 902]); und zweitens die erst in jüngerer Zeit vor allem im Revisionsrecht gewonnene Einsicht, dass das Strafzumessungsrecht nicht bloß eine Domäne tatrichterlichen Ermessens darstellt, sondern dass auch Strafzumessungsentscheidungen zu einem guten Teil regelgebundene Rechtsanwendung verkörpern und deshalb objektiv richtig oder falsch sein können.3688 Diesen zwei Erkenntnissen steht aber die in § 363 Abs. 1 StPO ausgedrückte gesetzgeberische Entscheidung gegenüber, über die man sich nicht hinwegsetzen darf. Die Verwirrung beruht also darauf, dass man sich in der undankbaren Situation befindet, Rechtsdogmatik gegen den Gesetzgeber betreiben zu müssen. cc) Unserer Methode entsprechend, vorpositive Theorie und Arbeit am positiven Recht nach Möglichkeit bereits räumlich zu trennen (s. o. Teil 1 Kap. 1 C. [S. 107 ff.]), wird man sich zunächst der Frage zuwenden, wie auf Grundlage dieser zwei Einsichten das Wiederaufnahmeziel einer Strafmilderung konzipiert werden sollte, um erst im Anschluss den Weg zum positiven Recht zurückzuschlagen.

3684 Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 195 f.; Meyer-Goßner, § 363 Rn. 2; Gössel, LR-StPO § 363 Rn. 4; a. A. Schmidt, in: KK-StPO § 363 Rn. 3. 3685 BGHSt 18, 339 (343); davor Bertram, MDR 1962, S. 536; and. Röhl, NJW 1960, S. 180. 3686 Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme, Rn. 88 (Zitat); ebenso O. L. Walter, Wahrheit und Rechtskraft, S. 78; Deml, Wiederaufnahme, S. 165; Stern, NStZ 1993, S. 410, der den Diskussionsstand „verwirrend“ nennt; Frister, SK-StPO § 363 Rn. 13. 3687 So aber Stern, NStZ 1993, S. 411. 3688 Rieß, NStZ 1994, S. 159; Wasserburg, ZRP 1997, S. 415 f.; Waßmer, Jura 2002, S. 455; Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme, Rn. 88.

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(1) Strafzumessung kann richtig oder falsch sein; falsche (zu hohe) Strafzumessung kann eine Verletzung des Schuldprinzips verkörpern – so die zwei Einsichten. Aus unserer Perspektive wäre allein zu fragen, ob jede falsche Bemessung der Strafe bereits per se einen Verstoß gegen das Schuldprinzip verkörpert. Auf den ersten Blick sieht es wohl danach aus, denn das Schuldprinzip beinhaltet das Recht, nicht über seine Schuld hinaus bestraft zu werden. Nach näherem Hinsehen erweist sich, dass die Sachen etwas komplizierter liegen. Dies wäre nur anders, wenn Strafe allein nach den Anforderungen der Schuld bemessen würde und wenn der gegebenen Schuld eine einzig richtige Strafbemessung entspräche. Ob diese sehr anspruchsvollen Thesen, die zum Teil von der Theorie der tatproportionalen Strafbemessung3689 und mit Entschiedenheit von der Theorie der sog. Punktstrafe3690 vertreten werden, richtig sind, soll man hier nicht entscheiden. Denn auch dann, wenn meine Befürwortung der ersten Theorie schon o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 3. (S. 279) manifestiert worden ist, verbleibt die Tatsache, dass die Strafe faktisch auf Grundlage der Spielraumtheorie bemessen wird und dass dieser Theorie zufolge Strafe nicht allein als Funktion der Schuld, sondern zum Teil auch als Funktion präventiver Erwägungen bestimmt wird. Das bedeutet, dass eine die Wiederaufnahme gestattende Ungerechtigkeit erst dann zu bejahen ist, wenn die verhängte Strafe den Rahmen des noch Schuldangemessenen überschreitet. Wirkt sich der Fehler „nur“ im Bereich der präventiven Erwägungen aus, ohne dass der Schuldrahmen überschritten wird, geschieht dem Betroffenen kein Unrecht. Zwar gewinnt die Gesellschaft durch diese Bestrafung nicht so viel, wie sie dachte. Dieser Mangel an Prävention wird aber mit einem weiteren, ebenfalls der ersten Rechtfertigungsstufe gehörenden Belang ausgeglichen, nämlich dem der Rechtssicherheit. Ein Verstoß gegen das Schuldprinzip kann erst dann bejaht werden, wenn der Strafzumessungsfehler nicht mehr dem Bereich der Prävention zugeordnet werden kann, sondern die verhängte Strafe schon schuldinadäquat macht. Man könnte einwenden, dass es nicht einfach ist, zu beurteilen, ob sich der Fehler „nur“ auf den präventiv begründeten Teil der verhängten Strafe oder „schon“ auf den schuldbezogenen Teil auswirkt. Einige Strafzumessungserwägungen sind weitgehend schuldindifferent: Das scheint bei den Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Betroffenen zu erwarten sind (§ 46 Abs. 1 S. 2 StGB), der Fall zu sein. Eine falsche Prognose in dem Bereich wird das Schuldprinzip also schwerlich antasten können. Bei anderen Strafzumessungserwägungen ist dagegen die Zuordnung nicht mehr so eindeutig. Bezieht sich der Fehler z. B. auf das Vorleben des Täters oder auf sein Nachtatverhalten (§ 46 Abs. 2 S. 2 StGB), dann ist unklar, ob der Fehler allein die (spezial-)präventive

3689 3690

Nachw. ihrer Vertreter o. in Fn. 1037, 1038. Wichtigster Vertreter: Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 261.

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Angemessenheit der Strafe betrifft oder ob diese Strafzumessungserwägungen nicht auch einen Schuldbezug aufweisen.3691 Eine solche Zuordnung der einzelnen Strafzumessungserwägung zur Schuld oder Prävention ist indes nicht notwendig. Denn die Verletzung des Schuldprinzips liegt nicht schon in einer falschen Bestimmung des Schuldrahmens. Ausschlaggebend ist vielmehr allein, ob die konkrete Strafe sich innerhalb des richtigen Schuldrahmens befindet. Eine Verletzung des Schuldprinzips wird man also bereits dort bejahen müssen, wo die konkret bemessene Strafe sich nicht auf den von der Tatschuld richtigerweise vorgegebenen Rahmen zurückführen lässt.3692 Die vorliegende Ansicht deckt sich also im Ergebnis weitgehend mit dem (vielfach nur de lege ferenda gemachten) Vorschlag, eine Wiederaufnahme zum Zweck einer wesentlichen Milderung der Strafe zuzulassen.3693 Denn bei der fehlerhaften Vorenthaltung einer wesentlichen Strafmilderung spricht alles dafür, dass die verhängte Strafe nicht mehr schuldangemessen sein wird. Würde man die Strafe aber rein tatschuldorientiert bemessen, wie es den zwei gerade genannten alternativen Strafzumessungstheorien entspricht, dann wäre es in der Tat geboten, bei jedem belastenden Strafzumessungsfehler eine Verletzung des Schuldprinzips anzunehmen. (2) Jetzt gilt es nur, diese auf vorpositiver Ebene gewonnenen Erkenntnisse auf das positive Recht zu projizieren. Dass eine ungehinderte Umsetzung nicht möglich erscheint, dürfte klar sein. (a) Denkbar wäre, § 363 Abs. 1 StPO als verfassungswidrig anzusehen.3694 Die, die dies vertreten, berufen sich auf eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG, vor allem wegen der angeblich willkürlichen Kasuistik, zu der die Auslegung der Vorschrift geführt habe.3695 Es ist aber sehr zu bezweifeln, ob den strengen Maßstäben, die im Verfassungsrecht für die Bejahung eines Verstoßes gegen das Willkürverbot gelten, hier bereits entsprochen wird. Man darf auch nicht vergessen,

3691 So versucht man das Vorleben des Täters dadurch schuldrelevant zu machen, dass man annimmt, dieser Umstand dürfe nur verwertet werden, um Schlüsse auf den Unrechtsgehalt zuzulassen oder Einblicke in die innere Einstellung des Täters zur Tat zu gewähren (BGH StV 1984, 21; NStZ-RR 2001, 295). 3692 Genauso Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme, Rn. 91. 3693 Niederreuther, GS 113 (1939), S. 331; H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 43, 62; Peters, Fehlerquellen II, S. 320; ders. Strafprozeß, S. 677; Knoche, DRiZ 1972, S. 301; J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 142 f.; Deml, Wiederaufnahme, S. 165 ff.; Wasserburg, ZRP 1997, S. 415, 416; Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme, Rn. 90 (de lege lata); Waßmer, Jura 2002, S. 455; BRAK Denkschrift, S. 86; SPD-Gesetzesentwurf, BT-Drs. 13/3594, S. 7, 10; tendenziell, aber sehr vorsichtig auch Rieß, NStZ 1994, S. 159 (and. noch ders. ZRP 1977, S. 76). Siehe bereits Carrara, Della rejudicata, S. 515. Abl. Stoffers, ZRP 1998, S. 177. 3694 Dafür Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme, Rn. 89. 3695 Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme, Rn. 89.

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dass sogar § 363 Abs. 2 StPO für verfassungsgemäß erklärt worden ist3696 – in mustergültiger Anwendung der herrschenden Abwägungsmethodik, nämlich mit Berufung auf die „besondere Bedeutung, die der Rechtskraft eines Urteils unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten zukommt“,3697 worin man ein weiteres, augenfälliges Beispiel für die o. B. III. (S. 874 ff.) denunzierten, mit dieser Methode einhergehenden Instrumentalisierungsgefahren erkennen kann. Vorstellbar wäre auch, eine Verletzung des ebenfalls verfassungsrechtlich anerkannten Schuldprinzips zu postulieren. Ob aber das Schuldprinzip der Verfassungsrechtler denselben Gehalt hat wie das Schuldprinzip, mit dem wir Strafrechtler arbeiten, soll hier dahingestellt bleiben.3698 Deshalb wird man sich hier auch einer Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des § 363 Abs. 1 StPO enthalten. Im vorliegenden Zusammenhang wird man sich damit begnügen müssen, sich den vielen kritischen Stimmen zuzugesellen, die seit Generationen für eine Streichung dieser Vorschrift, eines „hartnäckigen Hemmschuhs, ungerechte Urteile zu beseitigen oder Härten auszugleichen“,3699 plädieren.3700 Dies ist in einer Rechtsordnung wie der deutschen, die sich exzessiv besonders weiter Strafrahmen bedient, eine besonders brisante Angelegenheit.3701 (b) Man wird also bei Strafzumessungswiederaufnahmen immer zu prüfen haben, ob die angestrebte Strafmilderung auf Grundlage „desselben“ oder eines „anderen Strafgesetzes“ gewonnen werden soll. Das beste Verständnis dieses gesetzlichen Merkmals dürfte dasjenige sein, demzufolge eine Strafe schon dann auf Grundlage eines anderes Strafgesetzes i. S. v. § 363 Abs. 1 StPO bemessen wird, wenn sich der Strafrahmen nach unten verschieben soll.3702 Das bedeutet, dass Qualifikationen, Privilegierungen und Regelbeispiele, auch Strafmilderungen gem. § 49 Abs. 1 StGB, auf die eine Vielzahl von Vorschriften aus dem Allgemeinen Teil Bezug nehmen, alle als andere Strafgesetze i. S. v. § 363 Abs. 1 StPO anzusehen sind. Nur bei einer Strafmilderung wegen verminderter Schuldfähigkeit wird dies wegen der Bestimmung des § 363 Abs. 2 StPO ausgeschlos-

3696 BVerfGE 5, 22; für Unvereinbarkeit mit Art. 3 Abs. 1 GG dennoch Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme, Rn. 98. 3697 BVerfGE 5, 22 (23). 3698 Zweifel habe ich bereits woanders geäußert, nämlich in Greco, Verfassungsmäßiges Strafrecht, S. 23 ff.; noch weiter geht Frisch, NStZ 2013, S. 256, der innerhalb des strafrechtlichen Schuldprinzips einen verfassungsrechtlich verbürgten Kern ausmacht. 3699 Stern, NStZ 1993, S. 410. 3700 Alsberg, Justizirrtum, S. 56 ff.; Winkler, GS 78 (1914), S. 346 f.; Binding, Strafurteil, S. 339 Fn. 72; Bendix, Neuordnung, S. 269 f.; O. L. Walter, Wahrheit und Rechtskraft, S. 77; Doerner, Wiederaufnahme, S. 432; Peters, Fehlerquellen II, S. 319 f.; Hanack, JZ 1973, S. 402; wohl auch Kohler, GA 1914, S. 194. 3701 H. Mayer, GS 99 (1930), S. 336; Doerner, Wiederaufnahme, S. 432; H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 41; Wasserburg, ZRP 1997, S. 415. 3702 So auch Gössel, LR-StPO § 359 Rn. 147 m.w. Nachw., auch zu den weiteren Einzelheiten; und Frister, SK-StPO § 363 Rn. 15.

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sen. Sogar bei der Gesetzeskonkurrenz (und erst recht bei der Idealkonkurrenz) ist eine Strafzumessungswiederaufnahme möglich, wenn das verdrängte Strafgesetz bei der Bestimmung der unteren Grenze des Strafrahmens eine Rolle gespielt hat. Darauf, ob diese Strafmilderungen fakultativ oder obligatorisch sind, ob sie auf Grundlage strenger Subsumtion oder verschwommener Generalklauseln gewonnen werden, kommt es nicht an. Eine Strafzumessung aufgrund desselben Strafgesetzes wird vor allem bei den Strafzumessungserwägungen des § 46 StGB vorliegen.3703 (c) Bei einer Wiederaufnahme gem. § 359 Nr. 5 StPO erfordert das Gesetz darüber hinaus, dass die konkret zu bemessende Strafe auch milder ausfällt. Das Wiederaufnahmeziel darf also nicht nur eine neue Strafbemessung auf Grundlage eines milderen Strafrahmens sein; auf die konkret zu bemessende Strafe soll es ankommen.3704 Dieses zusätzliche Erfordernis soll aber nicht als billiges Mittel eingesetzt werden, Strafzumessungswiederaufnahmen dadurch zu blockieren, dass auf die Möglichkeit hingewiesen wird, die neu zu bemessende Strafe werde nicht milder ausfallen. Das wäre genauso falsch, wie wenn man sagen würde, der Freispruch könne kein Wiederaufnahmeziel sein, weil die Möglichkeit bestehe, dass das neue Urteil die Verurteilung bestätigt. Bei den Wiederaufnahmezielen geht es um den Erfolg, den man erreichen möchte und kann, und nicht notwendigerweise um den, den man erreichen wird. Dies ist dann eine Frage der Eignung, mit der wir uns u. II. 3. b) cc) (S. 924 ff.) kurz beschäftigen werden. Das zusätzliche Erfordernis von § 359 Nr. 5 StPO kann und muss also restriktiv ausgelegt werden; meistens wird ihm allein schon wegen der Strafrahmenverschiebung nach unten entsprochen, weil eine Strafrahmenverschiebung die Präsumption mitbegründet, dass die konkrete, innerhalb des Rahmens zu bemessende Strafe entsprechend anders ausfallen wird. Weil es aber nicht zulässig ist, ein im Gesetz ausdrücklich erwähntes Merkmal schlicht zu ignorieren, müssen einige Fälle in seinen Anwendungsbereich fallen. Das sind diejenigen, bei denen schon von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass die Strafrahmenverschiebung sich zugunsten des Beschuldigten auswirken kann, also die Fälle, in denen die Strafe im Ersturteil bereits sehr milde bemessen worden ist und die Verschiebung allein die obere Grenze des Strafrahmens betrifft. (d) Die Vorschrift des § 363 Abs. 2 StPO, die auch eine Milderung der Strafe gem. § 21 StGB als Wiederaufnahmeziel ausschließt, erweist sich dagegen als auslegungsresistent. Die darin verkörperte Ungerechtigkeit ist bei absoluten Strafen in besonderer Weise spürbar: Sie bedeutet nichts anderes als die Verhängung einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe, obwohl womöglich nur eine Freiheitsstrafe nicht unter 3 Jahren schuldangemessen ist (§§ 21 i.V. m. 49 Abs. 1

3703 3704

Im Erg. auch Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme, Rn. 90. Zum Sinn dieser Präzisierung etwa Frister, SK-StPO § 359 Rn. 8.

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Nr. 1 StGB).3705 Vor allem diese Vorschrift, verfassungsmäßig oder nicht, gehört im Rahmen einer überfälligen Reform der Wiederaufnahme gestrichen.3706 Hier kann man nichts tun als an den Gesetzgeber appellieren. dd) Zusammengefasst: Auch eine Strafmilderung kann Wiederaufnahmeziel sein. Wenn man von der Spielraumtheorie ausgeht, wird bei jeder Überschreitung des vom Schuldrahmen gesteckten Spielraums, m. a. W. bei jeder dem Betroffenen vorenthaltenen wesentlichen Strafmilderung das Schuldprinzip verletzt sein, was im Wege der Wiederaufnahme korrigierbar sein müsste. Dem setzen aber § 363 Abs. 1, 2 und § 359 Nr. 5 StPO eine nicht überwindbare positivrechtliche Schranke. Diese Vorschriften lassen sich durch eine restriktive Auslegung teilweise unschädlich machen: Ein anderes Strafgesetz i. S. v. § 363 Abs. 1 StPO liegt schon bei jeder Verschiebung des Strafrahmens vor, gleichgültig ob seine untere oder obere Grenze verschoben wird, und unabhängig davon, ob die Strafzumessungsentscheidung fakultativ oder obligatorisch, auf Grundlage strenger Subsumtion oder von Generalklauseln erfolgt. Das Zusatzerfordernis von § 359 Nr. 5 StPO, dass die neue Strafe auch milder ausfallen muss, wird regelmäßig redundant sein und bei jeder Strafrahmenverschiebung nach unten automatisch vorliegen; eine eigenständige Bedeutung hat das Erfordernis nur, wenn die Milderung der Strafe trotz der Strafrahmenverschiebung von vornherein ausgeschlossen ist. Mit § 363 Abs. 2 StPO wird man bis zu seiner Streichung leben müssen. c) Verurteilung nach der falschen Strafvorschrift: Schuldspruchberichtigung Keine Strafe ohne Schuld bedeutet auch, dass der Täter nur für das, was er verschuldet hat, zu verurteilen und zu bestrafen ist (s. o. 1. [S. 902]). An sich verkörpert auch der falsche Schuldspruch eine Verletzung des Schuldprinzips; grundsätzlich sollte die Schuldspruchberichtigung als Wiederaufnahmeziel anerkannt werden, und dies unabhängig davon, ob sich der Fehler auf die Höhe der Strafe auswirkt. Das Gesetz folgt dem nur zum Teil – und wieder sind die deutschen Vorschriften im internationalen Vergleich sogar großzügig.3707 Eine „nackte“ Schuldspruchberichtigung, d.h. eine solche, die nicht zu einer niedrigeren Strafe führt, wird vom Wortlaut des wichtigsten Wiederaufnahmegrunds gerade nicht er3705 Peters, Fehlerquellen II, S. 319 f.; Stern, NStZ 1993, S. 410; Kato, ZIS 2006, S. 358. 3706 Ebenso etwa Knoche, DRiZ 1971, S. 301; Peters, Fehlerquellen II, S. 319 f.; Deml, Wiederaufnahme, S. 167; Frister, SK-StPO § 363 Rn. 22; und der SPD-Entwurf, BT-Drs. 13/3594, S. 10. 3707 In Italien besteht keine Möglichkeit der Schuldspruchberichtigung, s. Bellantoni, Revisione, S. 70; Presutti, Revisione, S. 8; Marchetti, Revisione, S. 939; krit. bereits Leone, RDPP 1956, S. 184.

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fasst.3708 Als Wiederaufnahmeziele werden in § 359 Nr. 5 StPO nur die „Freisprechung des Angeklagten oder in Anwendung eines milderen Strafgesetzes eine geringere Bestrafung oder eine wesentlich andere Entscheidung über eine Maßregel der Besserung und Sicherung“ genannt. Und bei den weiteren Wiederaufnahmegründen geht man wegen § 363 Abs. 1 StGB davon aus, dass die Schuldspruchberichtigung nicht bloß die Folge haben dürfte, dass eine Strafmilderung auf Grundlage desselben Strafrahmens geschehe, sondern zu einer Änderung des Strafrahmens führen müsse.3709 Wichtigste Folge davon ist die Behandlung der Idealkonkurrenz: Die Berichtigung des Schuldspruchs wegen der Straftatbestandsverwirklichung, aus der die Strafe nicht entnommen wird, soll unzulässig sein.3710 Eine andere Auffassung möchte indes eine Schuldspruchberichtigung dann zulassen, wenn wegen ihr mit einer wesentlich milderen Bestrafung zu rechnen ist.3711 Nicht einmal zu der Zeit, als es den zwingenden Strafschärfungsgrund des Rückfalldiebstahls noch gab (§ 244 StGB a. F.), war man anderer Auffassung,3712 so dass die falsche Subsumtion, etwa die falsche Einordnung eines Vorgangs als Diebstahl und nicht als Betrug, nicht „nur“ ein ideelles Interesse des Verurteilten, sondern ein höchst materielles betreffen konnte.3713 Dem ist vor nicht allzu langer Zeit der BGH teilweise entgegengetreten.3714 Im konkreten Fall ging es um einen Beschuldigten, der wegen Völkermordes in Tateinheit u. a. mit Mord an 22 Menschen, Mord an sieben Menschen und Mord verurteilt worden war, und der vor allem auch die Beseitigung der Schuldigsprechung wegen des Mords an 22 Menschen anstrebte. Wegen der für Mord und Völkermord vorgesehenen absoluten Strafdrohung ging es also um eine „nackte“, weil strafzumessungsirrelevante Schuldspruchwiederaufnahme. Der BGH hielt das hier für zulässig: Insbesondere weil der unrichtige Schuldspruch eine eigenständige Beschwer verkörpere,3715 und auch aus Gründen der Gerech3708 O. L. Walter, Wahrheit und Rechtskraft, S. 20; H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 62. 3709 Etwa Schmidt, KK-StPO § 359 Rn. 4; Gössel, LR-StPO § 359 Rn. 11. 3710 Nachw. o. Fn. 3682; anders de lege ferenda Arndt, GA 72 (1928), S. 167 f. 3711 Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme, Rn. 95. 3712 Ausdrücklich angesprochen von O. L. Walter, Wahrheit und Rechtskraft, S. 20; OLG Königsberg JW 1924, 1251 (1252). 3713 Auch nach der 1969 erfolgenden Abschaffung des Rückfalldiebstahls kam es für den bis 1986 bestehenden allgemeinen Strafschärfungsgrund des Rückfalls (§ 48 a. F. StGB) im Ergebnis teilweise darauf an, ob die Zweitverurteilung auf derselben Strafvorschrift beruhte wie die erste: Denn die Vorschrift setzte voraus, dass dem Täter „im Hinblick auf Art und Umstände der Straftaten vorzuwerfen (war), daß er sich die früheren Verurteilungen nicht hat zur Warnung dienen lassen“ (Abs. 1 S. 1), was im Falle wiederholter Verurteilungen für diese Straftat (sog. gleichartiger Rückfall) grundsätzlich bejaht wurde (s. den Überblick in Dreher, StGB § 48 Rn. 10). 3714 BGHSt 48, 153; im Erg. zust. Loos, NStZ 2003, S. 681; Gössel, JR 2003, S. 517 f.; krit. Ziemann, JR 2006, S. 414 f. 3715 BGHSt 48, 153 (156).

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tigkeit3716 soll § 363 Abs. 1 StPO auf Wiederaufnahmeanträge gem. § 359 Nr. 1– 4, 6 StPO (im konkret zu entscheidenden Fall ging es um einen Antrag gem. § 359 Nr. 2 StPO), die eine Änderung des Schuldspruchs erzielen, überhaupt keine Anwendung finden.3717 Damit sei es möglich, eine Schuldspruchberichtigung vorzunehmen, die in keiner Weise in eine Strafmilderung einmündet. Aus vorliegender Perspektive dürfte zuerst einleuchten, dass die Bemühungen des BGH, § 363 Abs. 1 StPO bei Wiederaufnahmeanträgen gem. § 359 Nr. 1–4, 6 StPO für nicht anwendbar zu erklären, zu billigen sind. Bei einer Vorschrift, die wegen ihrer Unvereinbarkeit mit dem Schuldprinzip zumindest abgeschafft gehört und möglicherweise sogar verfassungswidrig ist [s. o. b) (S. 908)], ist eine restriktive Auslegung grundsätzlich zu billigen. Ob der BGH wirklich meint, die Schuldspruchberichtigung sei auch dann möglich, wenn es um weniger schwere Deliktstatbestände geht, muss eher bezweifelt werden, weil seine Begründung gerade den in einer Verurteilung wegen Mordes enthaltenen besonderen Vorwurf ansprach.3718 Zugleich muss aber betont werden, dass weder in der Theorie, noch im positiven Recht Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, dass Wiederaufnahmen bei schwereren Straftaten zu privilegieren bzw. bei leichteren Straftaten zu erschweren seien. Es ist also nur zu klären, ob die Argumentation nicht auch für die Wiederaufnahme gem. § 359 Nr. 5 StPO Anerkennung beanspruchen kann, dessen Wortlaut leider so unnachgiebig ist. Der BGH versucht, aus der Strenge der Vorschrift einen Sinn zu herauszulesen: Bei den übrigen Wiederaufnahmegründen gehe es regelmäßig um schwerwiegende und offenkundige Rechtsverstöße zum Nachteil des Beschuldigten; hieraus folge, dass das Gesetz diese Wiederaufnahmegründe privilegieren dürfe.3719 Problematisch an dieser Argumentation ist indes, dass die Schuldspruchberichtigung kein Privileg, sondern ein Gebot des Schuldprinzips ist und somit ein individuelles Recht verkörpert. Das Argument des BGH könnte also nur andere Erleichterungen bezüglich der Anträge, die auf den Wiederaufnahmegründen des § 359 Nr. 1–4, 6 StPO basieren, gegenüber dem Antrag nach § 359 Nr. 5 StPO rechtfertigen. Was bleibt, ist demnach allein der unüberwindbare Wortlaut von § 359 Nr. 5 StPO. Dem in ihm unmissverständlich angeordneten Ausschluss der „reinen“ Schuldspruchberichtigung fehlt es also an jeder tragfähigen Rechtfertigung. Hinter dieser Einschränkung stehen Belange der Autoritätswahrung oder einer kollektivistischen Rechtssicherheits- oder Rechtsfriedensidee, die wegen der vermeintlich geringfügigen, weil bloß „ideellen“ Verletzung des Schuldprinzips die 3716

BGHSt 48, 153 (159). BGHSt 48, 153 (156 ff.). 3718 BGHSt 48, 153 (159). Deshalb schätzt Ziemann, Rehabilitationsgedanken, S. 674 f. die „Verallgemeinerungsfähigkeit der Entscheidung“ als „wohl gering“ ein. 3719 BGHSt 48, 153 (158). 3717

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Abwägung zugunsten der Rechtskraft ausgehen lassen. Dass eine derartige Argumentationsweise Instrumentalisierung ist und bleibt, wurde bereits zu Genüge hervorgehoben (o. B. III. [S. 874 ff.]). Die einzige mit dem Schuldprinzip noch halbwegs verträgliche mittlere Lösung bestünde darin, dass man zweierlei beachtet. Erstens darf man nicht übersehen, dass viele Fälle, in denen man herkömmlich über eine Schuldspruchberichtigung diskutiert, nach dem hier vertretenen, wesentlichen, engeren Tatbegriff (o. Kap. 2 D. V.–VII., E.) solche sein werden, bei denen bereits das Wiederaufnahmeziel des Freispruchs in Betracht kommt. So verhält es sich auch in dem von der Rechtsprechung entschiedenen Fall. Unter Zugrundelegung der hier vorgeschlagenen Grundsätze würde unabhängig von der materiellrechtlichen Idealkonkurrenz keine prozessuale Tatidentität zwischen einem Verbrechen des Völkermordes und den einzelnen Tötungen und auch nicht zwischen den einzelnen Tötungen untereinander vorliegen. Zweitens dürfte es zu weit gehen, würde man behaupten, dass jeder falsche Schuldspruch das Schuldprinzip verletze. Denn es dürfte eher unwahrscheinlich sein, dass das Schuldprinzip auch dann berührt sein sollte, wenn die rechtskräftige Entscheidung irrtümlich von einer Hehlerei anstelle von einem Diebstahl, oder von einem Trickdiebstahl statt von einem Betrug ausgeht.3720 Diese Beispiele deuten schon auf die Sacherwägung hin, die hier einschlägig sein könnte. Innerhalb der Grenzen, in denen das jeweilige Prozesssystem eine Wahlfeststellung für zulässig erachtet, ist es gut denkbar, dass der falsche Schuldspruch keine Verletzung des Schuldprinzips verkörpert. Ob dieser Lösungsweg gangbar ist, möchte ich hier indes nicht definitiv klären. Dies erscheint mir vor allem deshalb zweifelhaft, weil die h. M. dadurch, dass sie die Wahlfeststellung ebenfalls als Abwägung von Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit versteht,3721 im Grunde genommen auch bei der Wahlfeststellung Verletzungen des Schuldprinzips hinnimmt. Auch die Schuldspruchberichtigung müsste also als zulässiges Wiederaufnahmeziel Anerkennung finden. Dies ist de lege lata bei allen Wiederaufnahmen außer denjenigen, die auf § 359 Nr. 5 StPO basieren, möglich, und dies noch unabhängig von der Deliktsschwere; bei einer Wiederaufnahme gem. § 359 Nr. 5 StPO ist dies als Reformforderung de lege ferenda anzustreben. Möglicherweise ist aber dort, wo der Schuldspruchfehler den Rahmen einhält, innerhalb dessen eine Verurteilung auf wahldeutiger Grundlage möglich wäre, das Schuldprinzip noch nicht verletzt, so dass der Fehler ohne Verletzung von Rechten des Individuums hingenommen werden könnte. 3720 Ähnl. Beispiel (Diebstahl, Betrug) bei Ziemba, Wiederaufnahme, S. 110; Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme, Rn. 111. 3721 Statt aller Eser/Hecker, S/S-StGB, § 1 Rn. 64 m.w. Nachw.

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d) Einstellung als Wiederaufnahmeziel? Von drei Arten von Schuldprinzipverletzungen war o. 1. (S. 901 f.) die Rede, denen drei Wiederaufnahmeziele entsprachen (o. 2. a)–c) [S. 903 ff.]). Allgemein wird aber ein weiteres Wiederaufnahmeziel anerkannt, nämlich die Einstellung des Verfahrens. Vom Gesetz wird dieses Ziel nicht ausdrücklich erwähnt; deshalb war zuerst streitig, ob es überhaupt anerkannt werden konnte.3722 Auffassungen, die ähnlich wie hier von einem engen Bezug zwischen Wiederaufnahme und Schuldprinzip ausgingen, lehnten die Einstellung als Wiederaufnahmeziel ab;3723 ihnen zufolge müsse „die Tendenz des Wiederaufnahmegesuches . . . die Freisprechung von Schuld“ sein.3724 Inzwischen hat sich der Standpunkt durchgesetzt, nach dem die Wiederaufnahme in bestimmten Konstellationen auch den Zweck der Einstellung des Verfahrens verfolgen dürfe.3725 Über die meisten Konstellationen, in denen dies der Fall sein soll, besteht Einigkeit:3726 fehlende Strafmündigkeit,3727 fehlender Strafantrag,3728 Verjährung,3729 Amnestie3730 und Rechtskraft.3731 Man weiß dagegen nicht so genau, unter welchem Oberbegriff diese Konstellationen zusammengefasst werden sollen; einige sagen, es gehe um Ein3722

Knappe Darstellung bei Dickersbach, Wiederaufnahme, S. 35 ff. RGSt 19, 321 (323); OLG Celle GA 1889, 80 (für einen Fall fehlender deutscher Gerichtsunterworfenheit des Angeklagten, der in Wahrheit Ausländer war); KG JW 1927, 2073 (für einen Fall der Verletzung des ne bis in idem-Grundsatzes); v. Kries, Lehrbuch, S. 707; B. Ullmann, Wiederaufnahme, S. 9; Gerland, Strafprozeß, S. 440 (der aber bei der Verjährung eine Wiederaufnahme zulässt); E. Mayer, Wiederaufnahme, S. 5, 14 f. (trotz einiger Ausnahmen, S. 6, 15). 3724 RGSt 19, 321 (323). 3725 RGSt 20, 46 (49); OLG Bamberg NJW 1955, 1121; R. Neumann, Wiederaufnahme, S. 52 f.; Peters, Strafprozeß, S. 676; Gössel, GS H. Kaufmann, S. 987 f.; Gössel, LR-StPO § 359 Rn. 11; w. Nachw. bei Dickersbach, Wiederaufnahme, S. 36 f.; s. a. SPD-Gesetzesentwurf, BT-Drs. 13/3594, S. 7. 3726 Selbe Feststellung bei Loos, AK-StPO § 359 Rn. 13. Streitig sind allein bestimmte Fallgruppen, wie eine Einstellung wegen angeblicher „Verwirkung des Strafanspruchs“ (näher u. III. 4. e) [S. 950 f.]) und die Einstellung gem. § 153 Abs. 2 StPO (dafür J. Meyer, NJW 1969, S. 1361; ders. Wiederaufnahmereform, S. 143 [de lege ferenda]; abl. Gössel, LR-StPO § 359 Rn. 142; W. Schmidt, KK-StPO § 359 Rn. 34). 3727 RGSt 20, 46 (49); Giehl, Wiederaufnahme, S. 14; H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 67. 3728 R. Neumann, Wiederaufnahme, S. 54; Eb. Schmidt, Lehrkommentar II, § 359 Rn. 30; Peters, FS Kern, S. 339; Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme Rn. 81 3729 Giehl, Wiederaufnahme, S. 14; R. Neumann, Wiederaufnahme, S. 54; H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 67; Eb. Schmidt, Lehrkommentar II, § 359 Rn. 30; Peters, FS Kern, S. 339; Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme Rn. 81. 3730 Eb. Schmidt, Lehrkommentar II, § 359 Rn. 30; Peters, FS Kern, S. 339; Marxen/ Tiemann, Wiederaufnahme Rn. 81. s. a. OLG Bamberg NJW 1955, 1121 (im Fall ging es um einen fehlenden Strafantrag und ein Amnestiegesetz). 3731 H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 67; Eb. Schmidt, Lehrkommentar II, § 359 Rn. 30; Loos, AK-StPO § 359 Rn. 14; Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme Rn. 82. 3723

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stellungen, die die Schuldfrage berühren,3732 überwiegend spricht man heute von Einstellungen, die das Verfahren dauerhaft beenden und deshalb einem Freispruch gleichwertig seien.3733 An der positivrechtlichen Zulässigkeit dieses Ergebnisses zweifelt man deshalb nicht, weil es bei sämtlich genannten Einstellungsgründen um Tatsachen gehen wird und die Wiederaufnahme der Korrektur von tatsächlichen Fehlern dienen soll. Das mag im Ergebnis zum großen Teil richtig sein. Es geht aber nicht an, im Zusammenhang der Wiederaufnahmeziele von Tatsachenfehlern zu sprechen, weil diese Erwägungen mit dem Wiederaufnahmegrund zu tun haben. Mag auch das Gericht angenommen haben, der Täter sei nicht in Bayern, sondern in Hessen geboren, oder er sei nicht 35 sondern 37, rechtfertigen diese tatsächlichen Fehler selbstverständlich keine Wiederaufnahme, solange sie nicht einen Bezug zu einem zulässigen Wiederaufnahmeziel aufweisen. Die Umschreibung, dass es bei diesen Einstellungsgründen um solche geht, die das Verfahren dauerhaft beenden, ist theoretisch unergiebig. Interessanter ist die, die einen Bezug dieser Einstellungsgründe zur Schuldfrage postuliert; denn sie verkörpert den Versuch, auch in den vorliegenden Fällen eine Verletzung des Schuldprinzips anzunehmen und somit das Wiederaufnahmeziel der Einstellung auf eine für die Wiederaufnahme anerkannte und hier sogar für zentral erachtete ratio zurückzuführen. Das Problem ist nur, dass dieser Ansatz materiell falsch ist; denn ob etwa die Tat verjährt ist oder nicht, ändert an der Schuld des Täters, die schon zum Zeitpunkt der Vornahme der Tat begründet wird, nichts. Der richtige Ansatz wird erkannt, sobald man zur Liste der genannten Einstellungsgründe zurückkehrt. Es fällt auf, dass uns eine ähnliche Liste an einer früheren Stelle in dieser Arbeit begegnet ist: bei der Bestimmung der hier sog. normativen Kupierungen des prozessualen Tatbegriffs (o. Kap. 2 F. III. 4. [S. 560 ff.]). Es geht also um Strafklagebedingungen.3734 Den Streit über die Begründung der Einstellung als Wiederaufnahmeziel kann man also nicht als „nicht besonders ergiebig“ abtun,3735 sondern als Signal deuten, dass die Wiederaufnahme in ihrer materiellen Struktur komplexer ausgestaltet ist, als man bisher anzunehmen gewohnt ist.3736 Ein Urteil, das unter Missachtung von Strafklage3732 Peters, FS Kern, S. 339 f.; Meyer-Goßner, StPO § 359 Rn. 39 (bei „tatbezogenen“ Prozessvoraussetzungen); ebenso W. Schmidt, KK-StPO § 359 Rn. 34. 3733 H. Mayer, GS 99 (1930), S. 337 f.; H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 67; Dickersbach, Wiederaufnahme, S. 56 ff., 62; Peters, Fehlerquellen III, S. 28, 57; Deml, Wiederaufnahme, S. 71 f.; Loos, AK-StPO § 359 Rn. 13; Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme Rn. 79; Gössel, LR-StPO § 359 Rn. 139; wohl auch Giehl, Wiederaufnahme, S. 14; Eisenberg, JR 2007, S. 362. 3734 Neumann, Wiederaufnahme, S. 52: Fehlen von „Vorbedingungen der Strafverfolgung“; Gössel, LR-StPO § 359 Rn. 141. 3735 So aber Loos, AK-StPO § 359 Rn. 13. 3736 Ein weiterer Grund für die Wichtigkeit des Streits besteht darin, dass dadurch der feste Boden gewonnen wird, um zu beurteilen, ob das Vorliegen weiterer Einstel-

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voraussetzungen gewonnen wird, muss das Schuldprinzip nicht notwendig verletzen; weil bei ihm die Strafklage eigentlich nicht richtig erhoben wurde, beruht es auf einer Verletzung des Anklageprinzips und somit der Verfahrensgerechtigkeit. M. a.W., die Einstellung ist durchaus als Wiederaufnahmeziel anzuerkennen, nur nicht der Wiederaufnahme wegen Verletzung des Schuldprinzips, sondern der Wiederaufnahme wegen Verletzung der Verfahrensgerechtigkeit. Auf dieses Ziel wird deshalb u. III. 3. b) (S. 941 ff.) zurückzukommen sein. 3. Wiederaufnahmegrund: materieller Fehler Nach der Klärung der drei Wiederaufnahmeziele einer Wiederaufnahme wegen Verletzung des Schuldprinzips – Freispruch, Strafmilderung, Schuldspruchberichtigung – und der Grenzen, innerhalb derer das positive Recht sie anerkennt, wird man sich den Wiederaufnahmegründen zuwenden. Worauf beruht die behauptete und durch die Verwirklichung des Wiederaufnahmeziels zu korrigierende Verletzung des Schuldprinzips? a) Schuldspruch, Strafausspruch, faktische und rechtliche Prämissen Eine Verurteilung enthält einen Schuld- und einen Strafausspruch. Nach dem Modell des Justizsyllogismus beruhen diese Urteile auf einer rechtlichen und einer faktischen Prämisse. Eine fehlerhafte Verurteilung kann somit auf einem Fehler des Schuld- oder Strafausspruchs beruhen; der Fehler kann ein Rechts- oder ein Tatsachenfehler sein. Im Folgenden sollen tatsächliche und rechtliche Fehler nacheinander untersucht werden. b) Fehler in den faktischen Prämissen des Schuld- oder Strafausspruchs: das novum aa) Erste Annäherung Dass die Wiederaufnahme tatsächliche Fehler korrigieren soll, ist unstreitig. Das leuchtet auch ohne Weiteres ein, wenn man erkennt, dass ihr Sinn darin liegt, eine Verletzung des Schuldprinzips zu berichtigen. Strafe setzt Schuld voraus; nur unter Kenntnis des wahren Sachverhalts ist die Einhaltung dieser Anforderung gewährleistet. Der Staat muss sich deshalb um die Entdeckung der materiellen Wahrheit bemühen. Eine Garantie, dass ihm das gelingt, gibt es indes nicht, und dies erst recht, weil es kein Gebot gibt, das Strafverfahrenssystem so einzurichten, dass Fehler mit völliger Gewissheit ausgeschlossen werden (Teil 1 Kap. 2 C. III. 3. [S. 168 ff., 183 ff.]). Kehrseite davon lungsgründe Wiederaufnahmen rechtfertigen kann, näher u. III. 4. e) [s. u. III. 4. e) [s. u. III. 4. d), e) [S. 949 ff.])

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muss aber die Bereitschaft sein, nachträglich entdeckte Fehler, die das Schuldprinzip verletzen, zu korrigieren. Darauf, ob der Beschuldigte diese Fehler hätte verhindern können, kann es nicht ankommen; denn das Schuldprinzip ist indisponibel, für die Strafe gilt kein Konsensprinzip (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 3. [S. 280]). Das bedeutet, dass Verletzungen des Schuldprinzips durch das Verstreichenlassen der Rechtsmittelfrist nicht heilbar sind. Neue Tatsachen oder Beweismittel, die der Verurteilung die faktische Grundlage entziehen können, müssen deshalb eine Wiederaufnahme rechtfertigen. Dass das novum eine Wiederaufnahme rechtfertigen muss, dass es also hinreicht, leuchtet also ein. Was aus den hier formulierten Grundlagen nicht offensichtlich hervorgeht, ist aber, weshalb es auch notwendig ist, weshalb also ein tatsächlicher Fehler nicht schon per se, unabhängig von seiner Neuheit, für die Wiederaufnahme reichen soll: Warum muss der Fehler aus Tatsachen oder Beweismitteln hervorgehen, die neu sind? Fehler begeht man aber nicht nur aus fehlerhaftem Wissen; manchmal kennt man das Richtige und entscheidet sich sehenden Auges für das Falsche. Das novum bezeichnet also – um eine Unterscheidung aufzugreifen, die in einem anderen Zusammenhang gemacht worden ist3737 – einen Wissensfehler, nicht einen Willensfehler. Sollen Willensfehler unkorrigierbar sein? Diese Frage wird von der herrschenden Auffassung, die sich keine klaren Vorstellungen über die normative Tiefenstruktur der Wiederaufnahme macht und die Wiederaufnahme zum Teil als subsidiären Rechtsbehelf deutet (s. o. B. V. 4. [S. 889 ff.]), selten gestellt.3738 Wie gesagt lautet eine Standardbegründung für die Erforderlichkeit des novum, dass man ansonsten eine unbefristete Berufung hätte.3739 Das ist, wie oben hervorgehoben, keine gute Begründung, denn die Wiederaufnahme darf nicht auf die Fehler beschränkt bleiben, mit deren Korrektur die anderen Rechtsmittel überfordert wären. Ein zweiter Begründungsstrang greift etwas tiefer: Es müsse eine „schrankenlose Ausweitung“ der Wiederaufnahme verhindert werden,3740 und dies im Namen der Rechtskraft und der hinter ihr stehenden Rechtssicherheit.3741 Wenn man indes der Ansicht ist, dass die Rechtssicherheit keine Verletzung des Schuldprinzips zu legitimieren vermag, dann muss man weiter nachfragen. Wird das Schuldprinzip nicht nur lückenhaft 3737

Jakobs, ZStW 101 (1989), S. 516 ff. Scharsinnig aber v. Kries, GA 1878, S. 170: „Die Wahrheit eines jeden Urtheils . . . beruht nun darauf: 1) daß die Beweismittel, auf welche es sich gründet, richtig sind; daß der in Frage kommende thatsächliche Stoff erschöpft ist; als selbstverständliche Voraussetzung kommt hinzu, daß die urtheilend Person aus dem ihr vorliegenden Material den richtigen Schluß hat ziehen wollen und nicht etwa absichtlich ein falsches Urtheil abgab“. 3739 Nachw. o. Fn. 3626. 3740 So Schmidt, KK-StPO § 359 Rn. 18. 3741 Leone, RDPP 1956, S. 182 f., 197 f.; ders. Tratatto III, S. 259, 267 f.; Cortés Domínguez, Cosa juzgada, S. 115; A. Binder, Revisión, S. 306. 3738

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geschützt, wenn faktische Fehler nur dann eine Wiederaufnahme ermöglichen, falls ihre Entdeckung auf Umständen beruht, die neu sind? Dies ist in der Tat richtig. Deshalb darf sich kein Gesetzgeber damit begnügen, bloße Wissensfehler für korrigierbar zu erklären. Der Willensfehler ist mindestens genauso gravierend und um ein vielfaches gefährlicher. Nur unterstellt der Gesetzgeber, und dies zu Recht, dass seine Gerichte anfälliger für Wissens- als für Willensfehler sein werden.3742 Der Gedanke des Gesetzgebers ist vielmehr, dass der Willensfehler so gefährlich ist, dass er eigentlich in einen anderen Zusammenhang gehört: Ein Willensfehler ist eine frontale Amtspflichtverletzung. Es ist eine heilige Pflicht des Richters, auf Grundlage der ihm bekannten Tatsachen und Beweise das Richtige zu wollen. Ob sein Kenntnisstand der Wirklichkeit entspricht, dafür kann er keine absolute Gewähr bieten; für seinen Willen dagegen durchaus, und darauf muss jede staatliche Rechtspflege auch vertrauen können. Positivrechtlich geht es nicht mehr um § 359 Nr. 5, sondern um § 359 Nr. 3 StPO. Nicht also, weil die Verletzungen des Schuldprinzips, die auf Tatsachen oder Beweismitteln beruhen, die nicht neu sind, durch die Berufung korrigierbar sind, verzichtet der Gesetzgeber darauf, sie mittels des Wiederaufnahmegrunds von § 359 Nr. 5 StPO zu korrigieren, sondern gerade umgekehrt, weil derartige Fehler so gefährlich sind, dass hier die mögliche Verletzung des Schuldprinzips notwendig von einer Verletzung einer grundlegenden Anforderung der Verfahrensgerechtigkeit begleitet wird, führt der Gesetzgeber einen eigenständigen Wiederaufnahmegrund der richterlichen Pflichtverletzung ein. Die Schwere des Willensfehlers drückt die mögliche Verletzung des Schuldprinzips in den Hintergrund. Wäre auch die Entscheidung zufällig materiell richtig – man stelle sich den Fall eines doppelten Fehlers vor, in dem ein Richter pflichtwidrig gegen seine aus dem Inbegriff der Verhandlung gewonnene Überzeugung (§ 261 StPO) entscheidet, diese Überzeugung, wie sich später herausstellt, ihrerseits fehlerhaft war, so dass die Entscheidung im Ergebnis der wahren Schuld des Betroffenen entspricht –, müsste sie neu gefällt werden dürfen. Damit kommt man zu einer wichtigen Einsicht: Die Wiederaufnahme propter nova und die Wiederaufnahme wegen Amtspflichtverletzung hängen eng miteinander zusammen. Die Behauptung, sie würden auf unterschiedlichen prozessualen Welten beruhen, einerseits auf dem inquisitorischen und andererseits auf dem akkusatorischen Verfahren (s. o. B. V. 1. [S. 884 ff.]), erweist sich aus einem weiteren Grund als theoretisch unzutreffend. Dieses Implikationsverhältnis bedeutet zum einen, dass keine Rechtsordnung, die das Schuldprinzip ernst nimmt, nur eine von ihnen vorsehen darf;3743 zum anderen und aus unserer Perspektive am 3742

Ähnl. Janitti Piromallo, Revisione, S. 19. Insofern ist der Umstand, dass die richterliche Amtspflichtverletzung in relativ wenigen Rechtsordnungen vorgesehen ist (s. J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 94 3743

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wichtigsten ist, dass beide Wiederaufnahmegründe nicht unverbunden entwickelt werden dürfen, denn alles andere hätte zu bedeuten, dass die Einhaltung des Schuldprinzips nicht zureichend gewährleistet wird. Welche konkreten Folgerungen aus diesem Implikationsverhältnis zwischen diesen beiden Formen der Wiederaufnahme gezogen werden müssen, soll u. IV. 1. (S. 954 f.) näher geklärt werden. bb) Zur Neuheit (1) Eine Wiederaufnahme propter nova beruht also bereits per definitionem auf neuen Tatsachen oder Beweismitteln. Hier werden wir uns nicht mit den vielen Fragen beschäftigen, die in diesem Zusammenhang gewöhnlich diskutiert werden.3744 Man wird sich auf einige allgemein gehaltene Erwägungen zum Begriff der Neuheit beschränken müssen. Die durch die Wiederaufnahme direkt korrigierte Verletzung des Schuldprinzips beruht auf einem Wissensfehler des Gerichts; deshalb müssen „neu“ diejenigen Tatsachen oder Beweismittel sein, die dem erkennenden Gericht, das die Erstentscheidung gefällt hat, nicht bekannt waren.3745 Es fragt sich aber, worauf es für die Bestimmung der Kenntnis des Gerichts ankommt. (2) Die Antwort ergibt sich von selbst. Kenntnis darf im vorliegenden Zusammenhang nicht allein als psychologische Größe verstanden werden, sondern muss sich auf dasjenige beziehen, worauf sich das Gericht beim Fällen der rechtskräftigen Entscheidung berufen durfte und berufen hat. (a) Verläuft ein Verfahren nach den Prinzipien der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, kann bloße Aktenkundigkeit selbstverständlich nicht ausreichen. Vielmehr muss man verlangen, dass die Tatsachen oder Beweismittel Gegenstand der Hauptverhandlung gewesen sind.3746 Mehr: Sie müssen, wenn auch nicht explizit, im Urteil berücksichtigt worden sein.3747 Es muss also auf den Zeitpunkt der m. Nachw.), auch ein schwerwiegender Mangel, und dies unabhängig davon, ob dieser Wiederaufnahmegrund häufig oder selten (wie in Deutschland, s. Peters, Fehlerquellen III, S. 47; J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 99) zur Anwendung kommt. Abzulehnen ist auch der diese Zusammenhänge verkennende Vorschlag von J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 99, sie abzuschaffen. Meyer versteht die Amtspflichtverletzung als schlichtes novum (s. u. Fn. 3882; und auch u. Fn. 4072), womit er den tieferen Sinn dieses Wiederaufnahmegrundes verfehlt. 3744 Für einen Gesamtüberblick Gössel, LR-StPO § 359 Rn. 87 ff. 3745 Ähnl. argumentiert Mele, ArchPen 1960, S. 14. 3746 Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 395; Peters, Strafprozeß, S. 672; Wasserburg, Wiederaufnahme, S. 319; W. Schmidt, KK-StPO § 359 Rn. 24; ähnl. auch H. Mayer, GS 99 (1930), S. 339. 3747 BVerfG StV 2003, 225 (225); OLG Frankfurt NJW 1978, 841; Schwarz, DJZ 1931, Sp. 1117; Peters, Fehlerquellen III, S. 77; Eisenberg, JR 2007, S. 362; Gössel, LR-StPO, § 359 Rn. 93; W. Schmidt, KK-StPO § 359 Rn. 24; Frister, SK-StPO § 359 Rn. 46 f. Über die genaue Reichweite „implizit“ berücksichtigter Tatsachen oder Be-

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letzten mündlichen Verhandlung ankommen,3748 nicht auf den des Erlasses oder der Rechtskraft des Urteils.3749 Ebenso wenig dürfen die Beratungen maßgeblich sein, denn sie gehören nicht zur Hauptverhandlung.3750 Der Beschuldigte kann zu ihnen nicht Stellung nehmen.3751 (b) Wird also eine Entscheidung auf Grundlage der Akte getroffen, wie es beim schriftlichen Verfahren noch der Fall ist, das in Deutschland bis vor der Prozessreform gegolten hat und in vielen Staaten noch gilt, dann wird überwiegend auf die Aktenkundigkeit abgestellt.3752 Vorbildhaft wurde das vom bayerischen Strafgesetzbuch von 1813 formuliert, das von einem „neuen, in den Akten nicht vorgekommenen Beweismittel“ (Art. 396) sprach. Dies soll beim Strafbefehlsverfahren3753 und bei weiteren materiell-rechtskraftfähigen Beschlüssen der Fall sein.3754 Es ist indes eine seltsame Asymmetrie, dass ein Beweismittel, das in der Hauptverhandlung erhoben wurde, aber keinen Eingang ins Urteil findet, schon als neu gilt, während ein Beweismittel, das bloß in den Akten auftaucht und in der Endentscheidung, die nicht in Urteilsform ergeht, ebenso wenig Berücksichtigung findet, nicht als neu angesehen wird.3755 Dies ist vor allem deshalb ein Problem, weil dadurch eine Wiederaufnahme gerade dort erschwert wird, wo die Qualität der Wahrheitsfindung wegen des summarischen Charakters des Verfahrens am wenigsten gewährleistet wird. Vielmehr muss man darauf bestehen, dass summarische Verfahren, die sich sowieso an den äußersten Grenzen dessen bewegen, was die materielle Wahrheit und das Schuldprinzip gebieten (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. III. 3. [S. 185 f.]), nur unter der Bedingung hingenommen werden dürfen, dass die Bereitschaft, die durch ihre schlechtere Qualität hervorgerufenen Fehler zu korrigieren, erhöht wird (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. III. 3. weismittel herrscht insb. für den Fall gegenteiliger Feststellungen ein Streit, der hier nicht geklärt werden kann, vgl. Wasserburg, Wiederaufnahme, S. 320 f.; Gössel, LRStPO, § 359 Rn. 99 ff., beide m.w. Nachw. In Italien war die Neuheit der berücksichtigungsfähigen, aber nicht berücksichtigten Tatsachen seit einer ablehnenden Entscheidung der Sezioni Unite der Cassazione (CassPen 1988, 1077) streitig (im selben Sinne Cassazione Penale CassPen 2000, 477), bis eine Entscheidung der Sezioni Unite sich im Sinne der Neuheit aussprach (CassPen 2002, 1952 [1971 ff.]; hierzu Monastero, CassPen 2002, S. 2009 ff.; Lonati, CassPen 2002, S. 3185 ff., beide zust.; monografisch Moscarini, Omessa valutazione, insb. S. 87 ff.); davor Cassazione Penale CassPen 1999, 2605; Adorno, CassPen 1999, S. 2608 ff. 3748 Richtig Wasserburg, Wiederaufnahme, S. 319. 3749 So aber Hoffmann-Holland, BeckOK StPO, § 359 Rn. 23. 3750 Wasserburg, Wiederaufnahme, S. 319 f. 3751 Ebenso Wasserburg, Wiederaufnahme, S. 320. 3752 Siehe zusätzlich zu den zwei nächsten Fn. schon Schwarze, GS 25 (1873), S. 398 f. 3753 BVerfG StV 2003, 225 (225); Eisenberg, JR 2007, S. 362; W. Schmidt, KK-StPO § 359 Rn. 24; Frister, SK-StPO § 359 Rn. 48. 3754 Eisenberg, JR 2007, S. 362. 3755 Das wird selten bemerkt; zu den wenigen gehören Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme, Rn. 178.

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[S. 185 f.], Teil 2 Kap. 4 C. II. 1. [S. 714]). Ein wichtiger Mechanismus ist hier der Begriff der Neuheit, der also keineswegs so verstanden werden darf, dass eine solche Entscheidung im Ergebnis schwerer abzuändern ist als eine, die in einer Hauptverhandlung gewonnen wird. Hinter den von der herrschenden Meinung vorgezogenen Auslegungen dürften zum einen Erwägungen der Praktikabilität eine Rolle spielen, da Strafbefehle kaum begründet werden; das ist aber weniger ein Problem des Beschuldigten als der Verfolgungsbehörden, deren Arbeitsersparnis nicht auf Kosten des Wiederaufnahmerechts des Betroffenen, im Klartext: einer Verletzung des Schuldprinzips, sichergestellt werden darf (s. bereits o. Kap. 4 D. IV. [S. 739 f.], in Auseinandersetzung mit einem ähnlichen Argument von Radtke). Vor allem dürfte aber hinter dieser Ansicht unterschwellig die o. B. III. (S. 878) kritisierte Vorstellung eine Rolle spielen, dass Strafbefehlssachen es nicht wert sind, wieder aufgenommen zu werden. Es ist eine seltsame, einseitige Vorstellung, die eine Sache für wichtig genug erklärt, wenn es darum geht, zu verurteilen und zu strafen, nicht aber, wenn es um die Korrektur eines möglichen Fehlers geht. Auch beim Strafbefehlsverfahren sind also alle Tatsachen oder Beweismittel neu, die keine Berücksichtigung gefunden haben; und bei Zweifeln kann man nicht dem Beschuldigten die probatio diabolica dieser Berücksichtigung aufbürden, sondern wird von der Neuheit ausgehen müssen. (3) Auf das Wissen des Angeklagten kommt es also nicht an,3756 ebenso wenig darauf, ob er von dem Umstand hätte wissen können.3757 Nur eine instrumentalisierende Überbetonung der Autorität der Rechtskraft3758 oder, wenn man sich um eine Rechtfertigung gegenüber dem Betroffenen bemüht, nur unrichtige Vorstellungen über die Strafe, die zu unrichtigen Vorstellungen über das Strafverfahren führen – konkret: zum Konsensprinzip (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 3. [S. 261 ff.]), zu einer „formellen Wahrheit“ (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. III. 3. [S. 170 ff.]), zum Verfügungsrecht der Parteien über den Gegenstand des Verfahrens –, könnten eine Präklusion für nicht im Erstverfahren beigebrachte Tatsachen oder Beweismittel stützen. Die Tatsache, dass namhafte Fürsprecher des Reformierten Strafverfahrens diesen Standpunkt vertraten3759 oder dass in den USA der Begriff der 3756 Lippmann, DJZ 1906, Sp. 993; E. Mayer, Wiederaufnahme, S. 52; Eb. Schmidt, Kolleg Rn. 438; Wasserburg, Wiederaufnahme, S. 320; K. Meyer, FS Peters II, S. 388; Peters, JR 1984, S. 41; Presutti, Revisione, S. 4; Meyer-Goßner, StPO § 359 Rn. 30, 32; OLG Frankfurt JR 1984, 40; LG Saarbrücken, NStZ 1989, 546 (546); and. Busch, GS 13 (1861), S. 327. 3757 Mele, ArchPen 1960, S. 44; K. Meyer, FS Peters II, S. 387 f.; Adorno, CassPen 1999, S. 2607 f.; Cassazione Penale CassPen 1999, 2605. 3758 Etwa Schanze, ZStW 4 (1884), S. 458; Binding, Strafanspruch, S. 294 Fn. 32; B. Ullmann, Wiederaufnahme, S. 5 (and. S. 15); E. Wolter, Rechtskraft, S. 45. 3759 v. Schwarze, GS 25 (1873), S. 407; v. Kries, Rechtsmittel, S. 437; Binding, Grundriss des Strafprocessrechts, S. 283. Die Originalfassung der RStPO kannte einen

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„newly discovered evidence“, der eine motion for a new trial ermöglichen soll, aus der Perspektive des Antragstellers definiert wird, und dass nicht einmal Beweise, die durch reasonable diligence hätten entdeckt werden können, als neu gelten,3760 ist eine Verkennung der Bedeutung des Schuldprinzips.3761 Eine „Schuld bei der Tatsachenfeststellung“ 3762 kann deshalb nicht anerkannt werden. Aus demselben Grund kann der von Peters gemachte Vorschlag, eine Verwirkung der Wiederaufnahme in dem Fall eines bewusst falschen Geständnisses oder einer bewussten Beweisfälschung zu eigenen Ungunsten entschieden abgelehnt werden:3763 Verwirkbar ist nur das angeborene Recht, das von der Strafe berührt wird, und diese Verwirkung erfolgt durch die schuldhafte Straftatbegehung (s. o. Kap. 3 C. IV. 2. [S. 658 ff.]). Das Recht hingegen, nicht ohne Schuld bestraft zu werden, ist nicht einmal verzichtbar und kann schon deshalb erst recht nicht verwirkbar sein.3764

S. 2 in der Vorschrift des § 399 Nr. 5 (heute § 359 Nr. 5 StPO), demzufolge „in den vor den Schöffengerichten verhandelten Sachen . . . nur solche Thatsachen oder Beweismittel beigebracht werden (können), welche der Verurtheilte in dem früheren Verfahren einschließlich der Berufungsinstanz nicht gekannt hatte oder ohne Verschulden nicht geltend machen konnte“, und der erst im Vereinheitlichungsgesetz v. 1950 abgeschafft wurde; maßgeblich scheint die These der Wiederaufnahme als Berufungsersatz gewesen zu sein (s. o. B. V. 3. [S. 890]). In den frühen Reformentwürfen, die eher autoritätsorientiert waren, wurde wiederholt vorgeschlagen, die Regelung auf alle Wiederaufnahmeverfahren zu erstrecken, s. so insb. der E 1905, S. 544 f. Für Abschaffung Giehl, Wiederaufnahme, S. 50; Winkler, GS 78 (1911), S. 339; Kohler, GA 1914, S. 194; v. Hentig, Wiederaufnahmerecht, S. 96 f., 104 ff.; Oetker, JW 1930, S. 1840; Schwarz, DJZ 1931, Sp. 1117; O. L. Walter, Wahrheit und Rechtskraft, S. 80; H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 31. 3760 Siehe E. P. C., LouisLR 5 (1943), S. 475; Herrmann, Wiederaufnahme, S. 692. 3761 Auch in Italien sind mit der akkusatorischen Wende (s. o. Teil 1 Kap. 1 II. 6. [S. 78, insb. Fn. 189]) Tendenzen in diesem Sinne entstanden, s. Callari, Firmitas, S. 296 f., der dem nur wegen des seines Erachtens entgegenstehenden Gesetzeswortlauts nicht folgt, denn an sich hält er eine Präklusion der Geltendmachung bereits bekannter nova für geboten (S. 321, 326); and. ders. Revisione, S. 206 ff., der nur deshalb nicht zu dem Ergebnis kommt, weil die Verteidigung noch nicht über Ermittlungsbefugnisse verfüge, die denen der Staatsanwaltschaft gleichwertig sind. Erhellend auch Scalfati, RitDPP 1993, S. 1454 f., der meint, dass an sich nur diejenigen Tatsachen oder Beweismittel neu seien, die von den Parteien aus ihnen nicht zurechenbaren Gründen nicht in das Verfahren eingeführt worden seien; diese Schlussfolgerung zieht er bloß deshalb nicht, weil dies zu unüberwindbaren Beweisschwierigkeiten führen würde (S. 1456) – ein Musterbeispiel dafür, welche künstlichen Umwege erforderlich sind, damit man verhindert, dass aus falschen theoretischen Prämissen die an sich gehörigen, aber offensichtlich schädlichen Schlussfolgerungen gezogen werden. 3762 Freund, Tatsachenfeststellung, S. 70 – zu ihm krit. bereits o. Teil 1 Kap. 2 C. III. 2. (S. 164 ff.). 3763 Peters, Fehlerquellen II, S. 320. 3764 Zum Verhältnis der Figuren Zustimmung und Verwirkung s. Greco, GA 2006, S. 635 ff.; ders. Lebendiges, S. 174 ff.; ders. Feindstrafrecht, S. 44 ff.

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cc) Eignung In der Praxis wird der Kampf um den Erfolg eines Wiederaufnahmeantrags in erster Linie unter der Rubrik der vom Gesetz (§ 359 Nr. 5 StPO) geforderten und auch von der Sache her gebotenen „Eignung“ des novum, das angestrebte Wiederaufnahmeziel zu erreichen, ausgetragen.3765 Dieser Begriff weist viele Tücken auf, die zudem durch die positivrechtliche Zweiteilung des Wiederaufnahmeverfahrens in eine Zulässigkeits- und eine Begründetheitsprüfung potenziert werden, so dass es geboten erscheint, ihn zum Gegenstand einer eigenständigen Untersuchung zu machen. An vorliegender Stelle sollen nur einige Grundsätze vorgezeichnet werden, die erst bei einer späteren Gelegenheit im Einzelnen entfaltet werden sollen. Der Diskussionstand ist verwirrend, und das auf eine besondere Weise: Denn vielfach wird um Formulierungen oder Worte gestritten, obwohl man sich in der Sache vielleicht sogar einig ist.3766 Wenn man von der offensichtlich indiskutablen Ansicht absieht, die eine Wiederaufnahme erst bei der Gewissheit eines Irrtums gewähren möchte (s. o. B. II., III. [S. 868, 877]), lassen sich im Wesentlichen zwei Positionen unterscheiden. Nach einer ersten, eher restriktiven Auffassung muss das novum die Wahrscheinlichkeit eines Fehlers begründen.3767 Mit einer vielfach benutzten Wendung, das novum muss die tatsächlichen Grundlagen der Entscheidung „erschüttern“.3768 Das soll auf jeden Fall bedeuten, dass mehr als eine bloße Schlüssigkeitsprüfung zu erfolgen hat.3769 Man sagt auch, dass „ernstliche Zweifel“ 3770 an der Richtigkeit der Verurteilung entstehen müssen. Klarer wird die These nur, wenn man versucht, quantifizierend vorzugehen. Dann besagt sie, dass mehr Gründe für den Erfolg des Antrags vorhanden sein müssen als gegen ihn.3771

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Schünemann, ZStW 84 (1972), S. 889. Wasserburg, ZStW 94 (1982), S. 944. 3767 BGHSt 39, 75 (85); OLG Bremen NJW 1957, 1730; OLG Köln NJW 1968, 2119; OLG Karlsruhe GA 1974, 250; OLG Schleswig NJW 1974, 714; OLG Düsseldorf NStZ 2004, 454; Busch, GS 13 (1861), S. 330, 332; Pfeiffer, FS Graßhoff, S. 283, denn alles andere würde „die Bestandswirkung der Rechtskraft zu stark beeinträchtigen“; Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme, Rn. 224; W. Schmidt, KK-StPO § 368 Rn. 13; Gössel, LR-StPO § 359 Rn. 153; wohl auch Loos, AK-StPO § 370 Rn. 16. 3768 Etwa OLG Braunschweig NJW 1959, 1984; OLG Schleswig NJW 1974, 714; OLG Düsseldorf NStZ 2004, 454; H. Günther, MDR 1974, S. 96; Gössel, LR-StPO § 359 Rn. 153. Die unscharfe, eher bildliche Formulierung wird aber auch von der Gegenauffassung verwendet, s. OLG Stuttgart StV 1990, 539. 3769 BGH NJW 1977, 59; OLG Braunschweig NJW 1959, 1984; verfassungsrechtlich unbedenklich, s. BVerfG NJW 1994, 510. 3770 Deml, Wiederaufnahme, S. 84 f., 92; Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme, Rn. 224; s. a. OLG Düsseldorf NStZ 2004, 454: „durchgreifende ernsthafte Zweifel“. 3771 Wasserburg, ZStW 94 (1982), S. 959. 3766

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Dies ist eine Analogie zum hinreichenden Verdacht,3772 der ebenfalls ein Überwiegen der Gründe für den Erfolg der Anklage voraussetzt. Wahrscheinlichkeit bedeutet hier also eine „sichere“ Wahrscheinlichkeit, Erfolgsquotient q > 0,5.3773 Die andere, extensivere Ansicht spricht von bloßer Möglichkeit.3774 Damit meint man selbstverständlich nicht, dass „offensichtlich aus der Luft gegriffene Behauptungen“ für den Erfolg eines Wiederaufnahmeantrags ausreichen müssen,3775 sondern nur, dass das novum bereits eine „reelle Gegenchance“,3776 das Urteil könne falsch sein, begründen muss. Eine definitive Stellungnahme soll erst in der an sich erforderlichen eigenständigen Abhandlung erfolgen. Hier soll nur daran erinnert werden, dass das rechtskräftige Urteil von keiner Wahrheits- oder Richtigkeitspräsumption getragen wird; vielmehr ist Rechtskraft Unabhängigkeit des Urteils von Wahrheit und Richtigkeit (s. o. Kap. 1 A. I. [S. 329 ff.]). Auch eine Berufung auf Belange der Rechtssicherheit ist fehl am Platze, weil die Interessen der Gesellschaft ihr kein Recht gegen die Unschuld geben. Der eigentliche Grund, weshalb der Maßstab für die Eignung strenger sein darf als eine bloße Möglichkeit, liegt woanders. Denn die Geltendmachung eines novums im Wege eines Wiederaufnahmeantrags bedeutet, dass die Ergebnisse, die mittels des besten Instruments zur Auffindung der materiellen Wahrheit in umfassender Verwertung des gesamten Beweismaterials gewonnen wurden, also der Hauptverhandlung, durch einen nicht unter vergleichbaren Bedingungen eingeführten Umstand in Frage gestellt werden. Schon deshalb wird man demjenigen, der über die Zulässigkeit oder die Begründetheit eines Wiederaufnahmeantrags zu entscheiden hat, ein Recht auf eine gesunde, distanzierte Skepsis grundsätzlich nicht absprechen dürfen. Insofern wird man im Ausgangspunkt der herrschenden, restriktiven Auffassung zustimmen können. Diese Begründung liefert aber zugleich den Anknüpfungspunkt, um zu bestimmen, an welchen Stellen eine Lockerung dieses strengen Standpunkts geboten ist. Dies dürfte überall dort der Fall sein, wo der Gesetzgeber, in Ausschöpfung oder sogar in Überschreitung der Grenzen, innerhalb deren er etwas weniger zuverlässige Wahrheitserforschungsmittel einsetzen darf (Teil 1 Kap. 2 C. III. 3. [S. 168 ff., 183 ff.]), entweder eine Hauptverhandlung überhaupt nicht einsetzt oder dies nur formell, aber nicht materiell macht. 3772 Eine solche Analogie bei Peters, Fehlerquellen III, S. 83 ff.; Gössel, LR-StPO § 359 Rn. 153; nur teilweise Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme, Rn. 220, 223. 3773 Siehe Schünemann, ZStW 84 (1972), S. 891. 3774 Eb. Schmidt, Lehrkommentar II, § 359 Rn. 29; Fuchs, JuS 1969, S. 518; Schünemann, ZStW 84 (1972), S. 891 ff., 903; Stern, NStZ 1993, S. 414; OLG Stuttgart StV 1990, 539. 3775 BGH NJW 1977, 59. 3776 Schöneborn, Wiederaufnahmeproblematik, S. 82, 198 f.

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Konkret bedeutet das insbesondere, dass die Wiederaufnahme eines Strafbefehls schon bei bloßer Möglichkeit eines Fehlers erfolgreich sein muss. Ebenso müssen alle Fälle, in denen ein wesentlicher Teil der Urteilsgrundlagen materiell außerhalb der Verhandlung liegt, also Fälle abgesprochener Urteile oder Fälle, in denen die Verurteilung auf Hörensagen bzw. auf durch indirekte Mittel eingeführte Aussagen gesperrter und deshalb in der Hauptverhandlung nicht persönlich zu vernehmender Zeugen beruht, bereits bei der Möglichkeit eines Irrtums erneut überprüft werden können. Damit schließt sich zugleich der Kreis zu einer überzeugenden, nicht auf Konsens basierenden Legitimationstheorie summarischer Verfahren. Alle summarischen Verfahren, verstanden als solche, die es gestatten, ohne Hauptverhandlung zu verurteilen, müssen sich auf hinreichend zuverlässige Ermittlungen stützen können. Das beste Kognitionsmittel möchte sich der Staat dennoch sparen; das darf er, solange das summarische Verfahren zuverlässig genug ist. Ein Mittel zur Sicherstellung dieser Zuverlässigkeit besteht darin, dass dem Beschuldigten die nahezu bedingungslose Befugnis zur Erzwingung der Hauptverhandlung verliehen wird (s. o. Kap 4 F. II. 9. [S. 810 ff., 813 f.]); aber ein anderes, sogar noch grundlegenderes Mittel ist, dass die Bereitschaft, Fehler zu korrigieren, in der gleichen Proportion wächst wie die Bereitschaft, auf die zuverlässigsten Instrumente der Wahrheitsfindung zu verzichten. Denn, wie schon o. Kap. 4 C. II. 1. (S. 713 ff.) ausgeführt, der Beschuldigte soll nicht das Risiko des Irrtums, das durch die Entscheidung für die billigere Vorgehensweise eingegangen wird, tragen müssen. Es ist bemerkenswert, dass die h. A. sich so entschieden auf den summarischen Charakter des Strafbefehls zu berufen wusste, zuerst um dessen beschränkte Rechtskraft zu begründen (s. o. Kap. 4 F. II. 9. [S. 810 ff.]), jetzt um die in § 373a StPO vorgesehene Möglichkeit einer Wiederaufnahme zulasten aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel zu legitimieren (s. u. D. VI. 4. [S. 989 ff.]), nicht aber, um die Wiederaufnahme zugunsten des Beschuldigten zu erleichtern. c) Fehler in den rechtlichen Prämissen des Schuld- oder Strafausspruchs aa) Zum Stand der Diskussion (1) Die Wiederaufnahme ist in erster Linie ein Mittel der Korrektur von Fehlern, die die Tatsachenfrage betreffen.3777 Ob sie darüber hinaus Fehler, die allein die Rechtsanwendung betreffen, korrigieren soll, ist nicht mehr selbstverständlich. Viele positive Rechtsordnungen sehen ein solches außerordentliches Rechtsmittel zur Behebung fehlerhafter Rechtsanwendung nicht vor. So verhält es sich bekanntlich auch in der deutschen StPO: Gegen eine rechtlich fehlerhafte Ent3777 Etwa H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 67; Dickersbach, Wiederaufnahme, S. 56; Schmidt, KK-StPO § 359 Rn. 19; Gössel, LR-StPO vor § 359 Rn. 14.

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scheidung sind die ordentlichen Rechtsmittel statthaft, also in erster Linie die Revision. Daraus wird gefolgert, dass bei Rechtsfehlern die Wiederaufnahme nicht geboten sei. „Weder der offenbarste Verstoß gegen das materielle Recht, noch die Verkümmerung des klarsten Prozeßrechts kann . . . den Rechtsbestand der durch Urteil geschaffenen Rechtskraft in Frage stellen.“ 3778 „Fehlerhafte Rechtsanwendung für sich allein ist kein Wiederaufnahmegrund nach der Strafprozeßordnung.“ 3779 „Innere Urteilsverstöße im Sinne der Revision, also juristische Fehler im Urteilssyllogismus, vermögen die Wiederaufnahme überhaupt nicht zu tragen“.3780 Dogmatisch wird dies insbesondere damit begründet, dass eine Veränderung der rechtlichen Bewertung keine neue Tatsache i. S. v. § 359 Nr. 5 StPO darstellt.3781 Ebenso verhält es sich in Italien3782 und Frankreich.3783 Vor allem zwei Gruppen von Rechtsfehlern lassen sich unterscheiden: Fehler bei der Anwendung des materiellen Rechts und Fehler bei der Anwendung des Prozessrechts. Im vorliegenden Abschnitt, in dem es um eine Verletzung des materiellrechtlichen Schuldprinzips geht, soll man sich allein Ersteren zuwenden.3784 (2) Diese rechtspolitische Entscheidung des historischen Gesetzgebers, die sich geschichtlich weit zurückverfolgen ließe,3785 wird aber seit vielen Generationen kritisiert.3786 Ein Hauptargument ist die aus dem Abwägungsansatz abgeleitete These, dass bestimmte Rechtsfehler genauso unerträglich sein können wie tatsächliche Fehler.3787 Wiederholt wird darauf hingewiesen, dass die materielle Rechtslage sich seit dem Erlass der Reichsstrafprozessordnung erheblich verkompliziert habe, so dass Rechtsfehler heutzutage keine Seltenheit mehr seien.3788 In 3778 RGSt 19, 321 (323) (wortgleich, wenn auch ohne Fundstelle, E. Mayer, Wiederaufnahme, S. 14); ebenso KG JR 1991, 479 (480); KG NStZ 2013, 125 (126); OLG Köln MDR 1952, 313; aus der Lit. v. Kries, Rechtsmittel, S. 417; R. Neumann, Wiederaufnahme, S. 3; Niederreuther, GS 113 (1939), S. 336; Eb. Schmidt, Lehrkommentar II, vor §§ 359 ff. Rn. 7; P. Herzog, Rechtskraft, S. 120; Gössel, NStZ 1993, S. 565; ders. LR-StPO vor §§ 359 ff. Rn. 7, § 359 Rn. 75 ff., 78; Loos, AK-StPO vor § 359 Rn. 6; Meyer-Goßner, StPO § 359 Rn. 24 f. 3779 BGHSt 39, 75 (79). 3780 Beling, Reichstrafprozeßrecht, S. 433. 3781 BGHSt 39, 75 (79); H. Günther, MDR 1974, S. 95; Meyer-Goßner, StPO § 359 Rn. 24 f.; Gössel, LR-StPO § 359 Rn. 78. 3782 Callari, Firmitas, S. 225 ff.; Troisi, Errore giudiziario, S. 117. 3783 Etwa Bouloc, Procédure pénale, Rn. 960. 3784 Eine Diskussion der Wiederaufnahme bei Verfahrensfehlern erfolgt u. III. (S. 940 ff.). 3785 Zum vorrevolutionären französischen Recht, das die Einschränkung schon kannte, s. Fazy, Revision, S. 7. 3786 Hierzu ausf. Conde Correia, Caso julgado, S. 404 ff. 3787 Etwa Deml, Wiederaufnahme, S. 115 f.; J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 129; ders. ZRP 1993, S. 284. 3788 Lantzke, ZRP 1970, S. 202; Hanack, JZ 1973, S. 401; Stern, NStZ 1993, S. 410.

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der Literatur erfolgten deshalb immer wieder Bemühungen, das geltende Recht so zu interpretieren, dass eine „späte“ Korrektur von Rechtsfehlern möglich wurde. So schlug Lampe vor, gegen „grobe Ungerechtigkeiten“ eine Verfassungsbeschwerde zuzulassen,3789 Peters prägte den Begriff der „Rechtstatsachen“, dessen Funktion es war, aus „offensichtlichen“ rechtlichen Fehlern wiederaufnahmefähige Fehler i. S. v. § 359 Nr. 5 StPO zu machen.3790 Mit dem gescheiterten Wiederaufnahmeversuch im Fall von Carl v. Ossietzky Mitte der 90er Jahre erhielt die Diskussion neuen Anschub. In dem Fall ging es um die 1931 erfolgte Verurteilung des späteren Friedensnobelpreisträgers wegen des Verrats militärischer Geheimnisse (§ 1 Abs. 2 Spionagegesetz v. 1914), weil er einen Zeitschriftenartikel über Maßnahmen der Luftwaffenrüstung schrieb, die nach dem Versailler Vertrag verboten waren.3791 Vielfach wurde vertreten, dass die Verurteilung auf rechtlich fehlerhaften Prämissen beruht habe. Joerden schlug vor, in solchen Fällen eines mit der Verfassung an sich unvereinbaren, aber bereits außer Kraft getretenen Strafgesetzes § 79 Abs. 1 BVerfGG analog anzuwenden.3792 Weil diese Bemühungen aber in der Praxis wenig Widerhall fanden,3793 sind in der Reformdiskussion zahlreiche Vorschläge de lege ferenda formuliert worden, die dazu tendieren, die Möglichkeit einer Wiederaufnahme bei materiellrechtlich grob fehlerhaften Urteilen anzuerkennen.3794 Erwähnung verdient ein im Wesentlichen auf J. Meyer zurückgehender Gesetzesentwurf der SPD-Fraktion, der offensichtliche Rechtsfehler als Wiederaufnahmegrund vorsah,3795 der Vorschlag von Wasserburg, Wiederaufnahmen bei schwerwiegenden Rechtsfehlern zuzulassen,3796 und derjenige von Braun, der einen neuen Wiederaufnahmegrund für den

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Lampe, GA 1968, S. 41 ff., 43. Peters, Fehlerquellen III, S. 63 ff.; ders. Reform des Wiederaufnahmerechts, S. 117 f.: Tatsache sei alles, was „objektiv erkennbar ist und für jeden Gültigkeit hat“; ders. Strafprozeß, S. 674; auch ders. Fehlerquellen II, S. 318; zust. Klug, FS Spendel, S. 684 f. 3791 BGHSt 39, 75; davor KG JR 1991, 479; zum Fall Klug, FS Spendel, S. 679 ff.; Gössel, NStZ 1993, S. 565 ff.; J. Meyer, ZRP 1993, S. 284; Brauns, JZ 1995, S. 492 ff. 3792 Joerden, JZ 1994, S. 582 ff. 3793 Ausdrücklich gegen die „Rechtstatsachen“ BGHSt 39, 75 (79 f.); LG Saarbrücken, NStZ 1989, 546 (546); abl. J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 124 ff.; Deml, Wiederaufnahme, S. 118 f.; Gössel, NStZ 1993, S. 565; ders. LR-StPO § 359 Rn. 77; Loos, AK-StPO vor § 359 Rn. 7 („Begriffserschleichung“); Eisenberg, JR 2007, S. 361; Pfeiffer, StPO § 359 Rn. 6; Schmidt, KK-StPO § 359 Rn. 19; Frister, SK-StPO § 359 Rn. 38. 3794 Zusätzlich zu den in den nächsten Fn. Zitierten s. Lantzke, ZRP 1970, S. 206; Knoche, ZRP 1970, S. 288; Hanack, JZ 1973, S. 401; Deml, Wiederaufnahme, S. 133 ff.; zu den seit 1930 gemachten Vorschlägen J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 116 ff., mit eigenem Vorschlag (S. 129 f., 133). Siehe auch diejenigen, die sich im Sinne einer Nichtigkeitsbeschwerde aussprachen, o. Fn. 3449. 3795 BT-Drs. 13/3594, S. 6, 9. 3796 Wasserburg, ZRP 1997, S. 414. 3790

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Fall einer Rechtsveränderung, die auf einem nachträglichen Bewertungswandel von verfassungsrechtlichem Gehalt beruht, eingeführt sehen möchte.3797 Auf der anderen Seite gibt es viele Autoren, die die Enthaltsamkeit des geltenden Rechts für löblich halten. Zum einen wird das mit einem pragmatischen Argument begründet: Man fürchtet bei einer derartigen Erweiterung der Wiederaufnahme eine Flut von Wiederaufnahmeanträgen, die eine „Paralyse der Strafrechtspflege“ zur Folge haben könnte.3798 Zweitens meint man, dass kein Bedürfnis nach der Wiederaufnahme bestehe, denn die ordentlichen Rechtsmittel, vor allem die Revision, seien für die Beseitigung von Rechtsfehlern ausreichend.3799 Angesichts der Unmöglichkeit, dass jeder Rechtsfehler eine Wiederaufnahme begründe, verweist man drittens auf das Bedürfnis, wiederaufnahmefähige und wiederaufnahmeunfähige Rechtsfehler voneinander zu unterschieden; die hierzu vorgeschlagenen Abgrenzungskriterien, insbesondere die von Peters und vom SPDEntwurf angesprochene Offensichtlichkeit des Fehlers, seien aber viel zu unscharf.3800 Viertens argumentiert man von dem herrschenden Abwägungsansatz aus: Die nachträgliche Korrektur von Rechtsfehlern gefährde die Rechtssicherheit; bei Rechtsfehlern müsse der Vorrang der Rechtskraft unberührt bleiben.3801 Zusätzlich führt man eine Reihe von positivrechtlichen Argumenten an: Der Gesetzeswortlaut gestatte eine Korrektur von Rechtsfehlern nicht;3802 die gesamte Struktur der Wiederaufnahme beruhe auf der Annahme, dass es bei ihr allein um eine Korrektur von tatsächlichen Fehlern gehen werde (man nehme etwa § 140a GVG, der untere Gerichte für Wiederaufnahmen gegen Revisionsurteile für zuständig erklärt).3803 (3) Was es aber durchaus gibt und akzeptiert wird, sind punktuelle Durchbrechungen der Rechtskraft bei bestimmten Rechtsfehlern. Eine erste verbreitet anerkannte Konstellation ist die der nachträglichen Erklärung der Verfassungswidrigkeit einer angewandten Rechtsvorschrift (für Deutschland § 79 Abs. 1 BVerfGG;3804 s. a. Art. 282 Nr. 3 portVerf, Art. 449 Abs. 1f] portStPO3805; 3797

Brauns, JZ 1995, S. 498 f. Schünemann, ZStW 84 (1972), S. 870. 3799 v. Kries, Rechtsmittel, S. 417; Schünemann, ZStW 84 (1972), S. 871 Fn. 4; ebenso Gössel, NStZ 1993, S. 567: „Gefahr . . . einer Art Hyper-Revision“; ebenso Stoffers, ZRP 1998, S. 175; Rieß, NStZ 1994, S. 158. 3800 Rieß, GA 1980, S. 437; Gössel, NStZ 1993, S. 566; Loos, AK-StPO vor § 359 Rn. 40; van Essen, Kriminalistik 1996, S. 764; Stoffers, ZRP 1998, S. 175. 3801 Gössel, NStZ 1993, S. 565. 3802 Loos, AK-StPO vor § 359 Rn. 6. 3803 Rieß, GA 1980, S. 437; ders. NStZ 1994, S. 158; Stoffers, ZRP 1998, S. 174, 175; Gössel, LR-StPO § 359 Rn. 77; im Erg. ebenso Callari, Firmitas, S. 228 ff. 3804 Hierzu etwa Peters, Strafprozeß, S. 670; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 57 Rn. 5; zu den Grenzen der Korrektur von Rechtsfehlern durch die Vorschrift J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 115. 3805 Conde Correia, Caso julgado, S. 122 f. 3798

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Art. 673 Nr. 1 itStPO3806). Wichtig ist, dass auch der Fall einer für verfassungswidrig erklärten Auslegung eines Gesetzes von § 79 Abs. 1 BVerfGG ausdrücklich erfasst ist. Eine weitere Konstellation ist die des Verstoßes gegen europäisches Recht, konkreter, gegen die EMRK (für Deutschland § 359 Nr. 6 StPO3807; s. a. § 363a östStPO; Art. 449 Abs. 1 g] portStPO3808). Für weitere Sonderfälle, etwa Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht3809 oder gegen das Völkerrecht, insbesondere gegen die Benachrichtigungspflicht gemäß Art. 36 Abs. 1 WKRÜ,3810 wird die Anwendbarkeit der Wiederaufnahme in Erwägung gezogen. Die Beseitigung von regelmäßig eher rechtlich und nicht bloß faktisch fehlerhaften Urteilen von Unrechtsregimes ist in Deutschland Gegenstand besonderer Gesetze geworden.3811 bb) Das Leitprinzip: das rechtliche novum Die vorliegende Stellungnahme ist durch die o. B. V. (S. 883 ff.), C. I. 2. (S. 898 ff.) entwickelte Begründung der Wiederaufnahme zugunsten des Angeklagten bereits vorprogrammiert. Verkörpern die Rechtsfehler einen Verstoß gegen das Schuldprinzip, dann müssen sie behebbar sein. Weil eine Bestrafung ohne Schuld durch keinen Konsens legitimiert werden kann,3812 ist die Tatsache, dass der Betroffene schon eine Gelegenheit hatte, diesen Fehler durch die Einlegung der Revision zu korrigieren, irrelevant. Die herrschende Auffassung, die die Wiederaufnahme als subsidiäres Rechtsmittel versteht, macht sich die Sache zu einfach. Eigentlich verspielt sie durch die Annahme, die Revision würde eine Art Ausschlusswirkung auf die Wiederaufnahme entfalten (s. o. B. V. 3. [S. 891]), die Gelegenheit, das Rechtsinstitut der Wiederaufnahme aus seiner inneren Logik heraus zu verstehen. Ausschlaggebend dürfte eine andere Erwägung sein, die erst erkennbar wird, wenn man die Wiederaufnahme nicht mehr aus dem Schatten der Revision, sondern aus dem Blickwinkel der für sie tragenden rationes des Schuldprinzips und der Verfahrensgerechtigkeit zu rekonstruieren versucht. Zugegeben, das geltende Recht geht in der Tat davon aus, dass Rechtsfehler keine Wiederaufnahme zu 3806

Hierzu etwa Normando, RitDPP 1986, S. 825 ff. (zur Vorgängervorschrift); dies. Rimedi revocatori, S. 137 ff. Ob die Vorschrift eine Wiederaufnahme verkörpert, ist aber streitig, s. u. Fn. 3822. 3807 Umf. etwa Csaki, Wiederaufnahme, S. 27 ff. 3808 Conde Correia, Caso julgado, S. 494 ff. 3809 Grdl. Satzger, Europäisierung, S. 678 ff., mittels einer verfassungskonformen analogen Erweiterung von § 79 BVerfGG; grds. abl. Stoffers, ZRP 1998, S. 176. 3810 Bajohr, Aufhebung, S. 100 f.; A. Paulus, StV 2003, S. 60, der in der Nichtbelehrung eine neue Tatsache i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO sehen möchte; Kreß, GA 2004, S. 709: „Wiederaufnahmegrund unmittelbar nach Völkergewohnheitsrecht“. 3811 Siehe oben Fn. 3448. 3812 Vgl. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 3. (S. 261 ff., 280 ff.).

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rechtfertigen vermögen; gleichzeitig bestreitet keiner, dass das Schuldprinzip auch das Recht verkörpert, dass über die eigene Schuld nicht nur faktisch, sondern auch rechtlich fehlerfrei geurteilt wird. Wenn man dem geltenden Recht nicht eine wissentliche Vernachlässigung der Anforderungen des Schuldprinzips anlasten möchte, dann muss man die Frage stellen, weshalb es glaubt, hier keines Korrekturmechanismus’ zu bedürfen. Der Grund muss im altehrwürdigen Grundsatz iura novit curia liegen: Das Gericht kennt das Recht. Die Tatsachen müssen noch erforscht werden, das Recht aber nicht; denn dieses kennt das Gericht bereits von Anfang an. Das bedeutet, dass Wissensfehler, die im Bereich der tatsächlichen Prämissen des Urteils immer vorkommen können, bei Rechtsfragen nicht entstehen können. Wenn sie doch entstehen, dann kennt zumindest das obere Gericht das Recht; insofern erhält der häufige Hinweis auf die Revision doch seine relative Berechtigung. Im Bereich des Rechts sind also allein Willensfehler denkbar; sie verkörpern aber, wie gesehen (s. o. II. 3. b) bb) [S. 919]), Amtspflichtverletzungen. M. a.W.: Das, was man bei einer Wiederaufnahme wegen Tatsachenfehlern verlangt hatte, nämlich dass die Fehler mittels geeigneter nova belegt werden, kann man bei Rechtsfragen nicht verlangen. Wegen des iura novit curia-Grundsatzes kann es ein rechtliches novum per definitionem nicht geben: Denn ein novum ist etwas, was das Gericht bei seiner Urteilsfällung nicht kannte. Man könnte dieses Bild dadurch in Frage zu stellen versuchen, dass man betont, es gehe von einer statischen Deutung der Rechtsordnung aus. Am Fall von Carl v. Ossietzky sei klar geworden, dass Rechtsordnungen sich verändern können, dass die Worte, die in einer unangetastet verbliebenen Gesetzesvorschrift genannt werden, unterschiedlichsten Deutungen zugänglich seien. Diesen dynamischen Charakter der Rechtsordnung wird man ohne Weiteres einräumen können,3813 ohne dass das oben entwickelte Argument seine Gültigkeit verliert. Denn Schuld muss zum Zeitpunkt der Tat vorliegen. Auf Grundlage des Schuldprinzips kann man schon nichts bemängeln, wenn der Beschuldigte nach dem Recht beurteilt wird, das zum Zeitpunkt der Tat gegolten hat.3814 „Ein Urteil, das der damaligen Rechtslage entsprach, ist kein Fehlurteil“.3815 Das sollte nicht erstaunen, denn genauso verhält es sich in Bezug auf Tatsachen. Die empirische Wirklichkeit ist auch dynamisch; es darf aber nicht darauf ankommen, ob die Wunden, die man dem Opfer zugefügt hat, nach dem Urteil geheilt sind. Die nachträgliche Änderung des Rechts ist ebenso wenig ein novum wie die nachträgliche Heilung des verletzten Opfers. 3813 Eindrucksvoller Beleg dieser Dynamik der Rechtsbegriffe bei Rüthers, Unbegrenzte Auslegung, etwa S. 111 ff., 430, 476 ff. und passim. 3814 Für das Schuldprinzip kommt es nicht einmal auf den Zeitpunkt des Urteils an; näher u. cc) (2) (S. 934). 3815 OLG Bamberg NJW 1982, 1714 (1715).

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Derjenige, der eine Wiederaufnahme wegen materiellrechtlicher Rechtsfehler für angebracht hält, muss aber tiefer bohren. Er wird den Grundsatz iura novit curia hier in Frage stellen müssen und damit logischen Raum für einen Wissensfehler schaffen müssen, der erst nachträglich erkennbar wird. Mit anderen Worten, es reicht nicht aus, auf die Perspektive des Verurteilten abzustellen und zu behaupten, dass es „für den zu Unrecht Verurteilten . . . keinen Unterschied (macht), auf welcher der beiden Fehlerkategorien das gegen ihn ergangene Fehlurteil beruht.“ 3816 Denn auch nicht jeder Fehler in den tatsächlichen Prämissen des Urteils gestattet eine Wiederaufnahme propter nova, sondern nur der Wissensfehler, das novum; man muss also nach der Parallelerscheinung, nach dem rechtlichen novum suchen. Dass der Grundsatz iura novit curia keine ausnahmslose Geltung beanspruchen kann, leuchtet ein, wenn man bedenkt, wie kompliziert und vielschichtig die modernen Rechtsordnungen sind, und wie viele Instanzen dieselbe Rechtsfrage durchlaufen muss, bis sie als geklärt gilt. Dass sich sogar der BGH vom BVerfG und dieses wiederum vom EGMR belehren lassen muss, geschieht immer häufiger und belegt, dass nicht einmal die obersten Gerichte das Recht durchgehend kennen. Dass diese Realität in den Gesetzgebungswerken des 19. Jahrhunderts keine Berücksichtigung finden konnte, sollte niemanden überraschen. Überraschen sollte trotzdem, dass man sich weigert, Annahmen, die damals schon unrichtig, aber unschädlich waren, heute, wo Letzteres nicht mehr der Fall ist, neu zu überdenken. Man könnte sogar noch einen Schritt weiter gehen und gegen die gerade gebotene Beschreibung anführen, sie beruhe auf rechtstheoretisch naiven Prämissen, als gäbe es hier etwas, das erkannt werden könnte; vielmehr würden die Gerichte (vor allem bei komplizierten Rechtsfragen) rechtsschöpferisch tätig. Das Gericht kenne nicht das Recht, denn so etwas wie ein Recht, das schon vor seiner Entscheidung existiert, sei eine Fiktion. Durch seine Entscheidung stelle das Gericht vielmehr das Recht selbst her.3817 Diese „rechtstheoretisch aufgeklärte“, avantgardistische Beschreibung würde indes das Kind völlig mit dem Bade ausschütten. Nicht erst die Suche nach einem rechtlichen novum ist demnach sinnlos. Auch die wichtigen Ideen der Gesetzesbindung der Gerichte und des nullumcrimen-Grundsatzes, insbesondere des Analogieverbots, geraten in Gefahr, ihre Grundlagen zu verlieren. Man wird hier also auf einem rechtstheoretisch naiven Standpunkt verbleiben, nach dem Gerichte ein ihnen vorgegebenes und von ihrem Willen unabhängiges 3816

J. Meyer, ZRP 1993, S. 284. In diesem Sinne noch gemäßigt (nur bei „schweren“ Fällen) etwa Schünemann, FS Bockelmann, S. 177 ff.; Neumann, ZStW 103 (1991), S. 43; Puppe, FS Rudolphi, S. 232; radikal (alle Fälle) Art. Kaufmann, Analogie, S. 11; Grasnick, GA 2000, S. 155: „Wir haben nur Richterrecht“. 3817

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Recht anzuwenden haben. Schon und gerade von diesem Standpunkt aus erscheint der Grundsatz iura novit curia nicht mehr als ausnahmslos vertretbar. Gerichte können in ihren Entscheidungen dieses objektiv gegebene und ihnen also vorgegebene Recht verfehlen. Dies kann auch dann geschehen, wenn sie gewissenhaft urteilen, d.h. wenn sie keinerlei Willensfehler bzw. Amtspflichtverletzungen begehen. In solchen Fällen begründet die Entdeckung des Fehlers in der Tat ein rechtliches novum; dieses muss dann genauso wie das tatsächliche novum behebbar sein. cc) Konkretisierungen Dieser Leitgesichtspunkt soll anschließend anhand einer phänomenologischen Erfassung wichtiger Fallgruppen von möglichen Fehlern des materiellen Rechts konkretisiert werden. (1) Nachträgliche Aufhebung bzw. Milderung des angewendeten Strafgesetzes Es fragt sich zuerst, ob Veränderungen des materiellen Rechts, die dem noch nicht Verurteilten nach dem Meistbegünstigungsprinzip anerkanntermaßen zugutekommen (§ 2 Abs. 3 StGB; §§ 206b, 354a StPO; Art. 112-1 Abs. 3 franzStGB; Art. 2 Abs. 2 S. 1 spanStGB; Art. 2 S. 2 itStGB; Art. 2 Abs. 2 portStGB), eine Wiederaufnahme zugunsten des nach dem strengeren Gesetz bereits Verurteilten rechtfertigen. Die h. A. spricht sich selbstverständlich dagegen aus.3818 Bei einem nachträglichen milderen Gesetz, das entweder eine günstigere Rechtsfolge vorsieht oder sogar eine früher bestehende Strafbarkeit aufhebt, könnte man sich fragen, ob man hier nicht eine Korrekturmöglichkeit braucht.3819 Denn es erscheint unbillig, bloß wegen des Zufalls, dass ein Verfahren früher endet als das andere, denjenigen, der noch vor dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes abgeurteilt wird, zu bestrafen bzw. härter zu bestrafen, den anderen dagegen nicht oder nur milder. In Deutschland erblickt man hierin kein großes Problem. Man geht davon aus, die Rechtsgrundlage der konkret zu verhängenden Strafe sei nicht mehr das Gesetz, sondern das Urteil; nach seinem Erlass gelte dieses wiederum gemäß einer Art Abstraktionsprinzip, weil es sich von seinem Rechtsgrund verselbstständigt 3818 LG Hannover NJW 1970, 288 (290); OLG Bamberg NJW 1982, 1714 (1714 f.); Eb. Schmidt, Lehrkommentar II, Vorbem §§ 359 ff. Rn. 8; Loos, AK-StPO vor § 359 Rn. 8; ebenso die spanische Rspr., Tribunal Supremo ATS 7574/2013. II.2.c. 3819 Für die Möglichkeit einer Wiederaufnahme de lege ferenda aber Lantzke, ZRP 1970, S. 205. Siehe auch die neuen Regelungen in Portugal für sogar nach einem rechtskräftigen Urteil eintretende Gesetzesmilderungen, Art. 2 Abs. 4 portStGB, Art. 371-A portStPO, und hierzu Costa Andrade, Reforma, S. 78 ff.; Conde Correia, Caso julgado, S. 121 und ausf. S. 252 ff.

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habe.3820 Andere Rechtsordnungen dagegen kennen die Figur der sog. abolitio criminis (Art. 2 Abs. 2 S. 1 spanStGB; Art. 2 S. 2 HS. 2 itStGB; Art. 2 Abs. 2 HS. 2, Abs. 4 portStGB), die wie eine Verlängerung des Meistbegünstigungsprinzips über das Urteil hinweg funktioniert: Ein milderes Gesetz findet rückwirkende Anwendung, solange es dem Betroffenen irgendwie noch zugutekommen kann.3821 Auf jeden Fall ist der Zeitraum bis zum Ende der Strafvollstreckung miterfasst. Hierdurch wird aber meistens allein die Strafvollstreckung betroffen; das Urteil bleibt in seiner Geltung unberührt.3822 In Fällen einer nachträglichen Milderung oder sogar Abschaffung eines Strafgesetzes kann aber von einer Verletzung des Schuldprinzips nicht wirklich die Rede sein kann.3823 Eine solche scheint nicht einmal im Falle der Gesetzesmilderung oder -abschaffung vor dem Urteil gegeben zu sein. Zwar hätte der Betroffene gem. § 2 Abs. 3 StGB nach dem milderen Gesetz behandelt werden müssen. Die Nichtbeachtung dieser Vorschrift begründet aber keine Verletzung des Schuldprinzips, auf die es im vorliegenden Zusammenhang allein ankommt.3824 Schuld muss nämlich zum Zeitpunkt der Tatbegehung gegeben sein. Die nach seiner Tat erfolgende Aufhebung oder Abmilderung des von ihm verletzten Strafgesetzes ist eine spätere Entwicklung, auf die der Täter keinen Einfluss hat, die er nicht vorhersehen kann und auf die er deshalb auch nicht vertrauen darf. Sie kann schwerlich für seine Schuld von Relevanz sein. Deshalb kann in solchen Fällen auch kein Wissensfehler vorliegen. Die Entscheidung ist nicht von Anfang an falsch gewesen, sondern war eigentlich richtig; das Recht hat sich erst nachträglich verändert. Ein rechtliches novum gibt es hier somit nicht. 3820

BGHSt 39, 75 (79); 42, 314 (316); ähnl. Frankreich, Art. 112-1 Abs. 3 franz-

StGB. 3821 Ausf. zu dieser in Deutschland unbekannten Rechtsfigur Gatta, Abolitio criminis, S. 115 ff. 3822 Anders in Italien: Das Vollstreckungsgericht soll in diesem Fall schon die Verurteilung widerrufen, Art. 673 Abs. 1 itStPO. Ob dies einen Fall der Wiederaufnahme darstellt, ist streitig; dagegen etwa Troisi, Errore giudiziario, S. 117 f.; ausf. Normando, Rimedi rivocatori, die die Kategorie der „rivoca“ (buchstäblich etwa oder Widerruf bzw. Rücknahme) einführt, S. 76 ff. Nach unserer Definition (s. o. A. II. [S. 856 f.]) ist das nur dann der Fall, wenn der Beschuldigte den Antrag stellt. 3823 Ähnl. H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 87; Peters, Fehlerquellen II, S. 318. 3824 Zwar meinen einige, dass das Meistbegünstigungsprinzip auf einer Gerechtigkeitserwägung beruhe, in dem Sinne, dass der Staat kein Strafgesetz mehr durchsetzen sollte, dessen Entbehrlichkeit er selbst zugegeben habe (Maurach/Zipf, AT I §12 Rn.12: „Vergewaltigung materieller Gerechtigkeit“; Eser/Hecker, S/S-StGB § 2 Rn.14; unklar Dannecker, ZStW 117 [2005], S. 740: „Ausprägung verhältnismäßiger Gerechtigkeit“); dies hat aber mehr mit Prävention zu tun als mit Gerechtigkeit (ebenso Schroeder, FS Bockelmann, S. 789; Hassemer/Kargl, NK-StGB § 2 Rn. 21; Nicolaou, in: EMGR Scoppola v. Italien, Beschw. Nr. 10249/03, v. 17.09.2009) und mit Schuld erst recht gar nichts.

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Die gefühlte Unbilligkeit bezieht sich allein darauf, dass derjenige, dessen Verfahren „zu früh“ endet, härter behandelt wird. Diese Unbilligkeit muss aber nicht erst im Wege des Wiederaufnahmeverfahrens beseitigt werden; wir wollen nur klären, in welchen Situationen ein Recht auf Wiederaufnahme besteht (s. o. A. II. [S. 857 f.]), und nicht, wann es unbillig ist, sie nicht vorzusehen. Es bleibt dabei, dass in diesen Fällen an der Verurteilung nicht gerüttelt werden muss, denn kein Urteil kann sich auf zukünftiges Recht stützen. Ausreichend wäre eine Regelung, die bestimmen würde, dass die Strafvollstreckung nach den neuen milderen Regeln erfolgen müsste. (2) Nachträgliche mildere Rechtsprechung Eine Veränderung des materiellen Rechts kann aber nicht allein auf einer Gesetzesänderung beruhen, sondern auch auf einer Rechtsprechungsänderung.3825 Auch hier spricht man sich überwiegend gegen die Statthaftigkeit der Wiederaufnahme aus,3826 häufig mit dem Argument, dass eine neue Rechtsprechung keine neue Tatsache i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO verkörpere.3827 Bei der Rechtsprechungsänderung bestehen deshalb zusätzliche Schwierigkeiten, die eine automatische Übertragung des eben Angeführten verhindern. Die ausschlaggebende Frage ist allein, ob die vor der Rechtsprechungsänderung erfolgte Entscheidung eine als Wissensfehler einzustufende Verletzung des Schuldprinzips verkörpert. Die richtige Lösung wird deshalb differenzierend ausfallen müssen, auch dann, wenn ihre Praktikabilität in der Tat darunter leiden muss. Man wird zwei Sorten von Rechtsprechungsänderungen unterscheiden können. Zunächst kann es sein, dass ein Verhalten, das nach höchstrichterlicher Rechtsprechung für strafbar gehalten wurde, nach einer Umorientierung nicht mehr als strafbar angesehen wird bzw. milder zu behandeln ist. Hier könnte man von Rechtsprechungsänderungen im eigentlichen Sinne sprechen. Ein prominentes Beispiel dafür bietet der Kurswechsel bezüglich der Einordnung von sadomasochistischem Geschlechtsverkehr, der seit BGHSt 49, 166 (172) grundsätzlich keine i. S. d. § 228 StGB sittenwidrige und deshalb strafbare Körperverletzung 3825 Für Wiederaufnahmefähigkeit de lege ferenda Bendix, Neuordnung, S. 274; vorsichtig, aber wohl de lege lata Knoche, DRiZ 1972, S. 301. 3826 LG Hannover NJW 1970, 288 (290); OLG Bamberg NJW 1982, 1714 (1714); R. Neumann, Wiederaufnahme, S. 4; Eb. Schmidt, Lehrkommentar II, Vorbem §§ 359 ff. Rn. 7; Loos, AK-StPO vor § 359 Rn. 8; aus italienischer Sicht Troisi, Errore giudiziario, S. 118; aus spanischer Sicht Martínez Arrieta, Recurso, S. 327 ff., m. Nachw. zur hier schwankenden spanischen Rspr.; dagegen de lege ferenda Leone, RDPP 1956, S. 189; de lege lata Barja de Quiroga, Tratado, S. 1409 (sehr forciert). 3827 BGHSt 39, 75 (79); 42, 314 (316); OLG Köln MDR 1952, 313; LG Hannover NJW 1970, 288 (290); v. Hentig, Wiederaufnahmerecht, S. 93 Fn. 3; Gössel, LR-StPO § 359 Rn. 78.

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mehr verkörpern soll.3828 Man stelle sich vor, eine Person, die derartige Vorlieben hat, wird verurteilt, und die Entscheidung wird einen Tag vor der Publikation von BGHSt 49, 166 rechtskräftig. Man könnte hier auch von einer konstitutiven Rechtsprechungsänderung sprechen, wenn diese Bezeichnung nicht die Konnotation beinhalten würde, die Rechtsprechung wäre hier eigentlich Rechtsquelle, womit wir wieder bei dem o. S. 932 kursorisch angeführten Streit zwischen einer als naiv und einer als aufgeklärt-avantgardistisch bezeichneten rechtstheoretischen Position wären. Es ist aber auch denkbar, dass zu einer neuen Vorschrift erst höchstrichterliche Rechtsprechung entsteht, in dem Sinne, dass ein Verhalten, das vielfach von der Literatur für strafbar gehalten worden ist, von der Rechtsprechung für nicht strafbar erklärt wird. Man stelle sich zum Beispiel vor, dass jemand, der eine Handlung des „mobbing“ begangen hat, von einem Gericht im Anschluss an eine in der Literatur3829 vorhandene Auffassung gem. § 238 Abs. 1 Nr. 5 StGB verurteilt wird. Einen Tag nach Ablauf der Revisionsfrist entscheidet ein höheres Gericht, dass die Gegenauffassung3830 Recht hatte, dass also die Vorschrift das „mobbing“ doch nicht erfasst. Ein reelles Beispiel wird von Stern erwähnt: Örtliche Polizeibehörden veranlassten die Verfolgung des Tragens weicher Nietenhandschuhe als waffenrechtlichen Verstoß, bis eine OLG-Entscheidung klar stellte, das dieses Verhalten straflos sei.3831 Man kann hier zwar von einer Rechtsprechungsänderung sprechen, aber nur in einem uneigentlichen Sinne. Im Grunde ist erst Rechtsprechung entstanden. Eine auf einem rechtlichen novum beruhende Verletzung des Schuldprinzips wird man auf jeden Fall in dieser zweiten Fallgruppe uneigentlicher Rechtsprechungsänderungen annehmen können. Denn hier verkörpert die höherrangige Entscheidung implizit die These, dass das Gesetz von vornherein so zu verstehen war, wie diese Entscheidung es jetzt auch versteht. Dagegen erhebt eine eigentliche Rechtsprechungsänderung, also eine Umorientierung der Rechtsprechung, nicht per se den Anspruch, die früheren Entscheidungen seien ihrerseits falsch gewesen. Implizit wird nur gesagt, dass das frühere Verständnis spätestens ab dem Zeitpunkt der Vornahme der Tat nicht mehr richtig war. Eigentliche Rechtsprechungsänderung wirkt, wie gesagt, konstitutiv, uneigentliche zunächst rein 3828 Anders noch RG JW 1928, 2229. Siehe auch den Fall in OLG Bamberg NJW 1982, 1714, der wegen weiterer Verkomplizierungen keine ideale Diskussionsgrundlage bietet: Drei Monate nach der rechtskräftigen Verurteilung des Betroffenen zur lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Mordes erging die Entscheidung des Großen Senats des BGH, die bei außergewöhnlichen Umtänden die Möglichkeit einer Milderung der Strafe gem. § 49 Abs. 1 StGB für statthaft erklärte (BGHSt 30, 105 [121 ff.]). Der Betroffene behauptete in seinem Wiederaufnahmeantrag, auch in seinem Fall würden derartige Umstände vorliegen, hatte aus mehreren Gründen aber keinen Erfolg. 3829 Etwa Eisele, S/S-StGB, § 238 Rn. 22. 3830 Krüger, Stalking, S.148 f.; Sonnen, NK-StGB, § 238 Rn. 41. 3831 Stern, NStZ 1993, S. 410.

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deklaratorisch. Bei den eigentlichen Rechtsprechungsänderungen kann also erst dann von einer Verletzung des Schuldprinzips gesprochen werden, wenn die zweite Entscheidung die Erklärung verkörpert, dass die erste Entscheidung bereits zu dem Zeitpunkt, als sie erging, falsch war. Es wäre ein Missverständnis, anzunehmen, dass diese These nur in einem System vertreten werden könnte, das bindende Präjudizien kennt, oder unter der starken Prämisse, dass man der Rechtsprechung Rechtsquellencharakter zuerkennt. Es verhält sich vielmehr genau umgekehrt; denn unter Zugrundelegung dieser „avantgardistischen“ Thesen könnte die erste Entscheidung niemals als falsch angesehen werden. Rechtsprechungsänderungen wären genauso wenig ein Problem für das Schuldprinzip wie Gesetzesänderungen. Mit anderen Worten: Die Fallgruppe der nachträglichen Rechtsprechungsänderung ist nur insoweit für die Wiederaufnahme von Relevanz, als sie die nachträgliche Entdeckung eines Fehlers des materiellen Rechts und deshalb eine Verletzung des Schuldprinzips und ein novum impliziert. Entscheidend ist also, ob die Rechtsprechungsänderung einen Schluss auf die materielle Fehlerhaftigkeit der früheren Entscheidung impliziert. Weil in diesen Fällen eine Veränderung des Schuldspruchs erforderlich ist, kann man sich nicht damit begnügen, die Strafvollstreckung nachträglich dem neueren Verständnis anzupassen. Man wird das Verfahren wiederaufnehmen müssen.3832 dd) Positivrechtliche Übersetzung Jetzt gilt es zu klären, inwiefern die auf vorpositiver Ebene gewonnenen Einsichten sich de lege lata umsetzen lassen. Zunächst sollte man anmerken, dass die gesetzlich vorgesehenen Möglichkeiten der Wiederaufnahme nach § 79 Abs. 1 BVerfGG (Erklärung der Verfassungswidrigkeit durch das BVerfG) oder nach § 359 Nr. 6 StPO (Erklärung einer Verletzung der EMRK oder ihrer Protokolle durch das EGMR) eine perfekte Manifestation des hier formulierten Gedankens des rechtlichen novums verkörpern. Die auf verfassungsrechts- oder konventionswidrigem Rechtsverständnis beruhende Entscheidung war bereits bei ihrem Erlass falsch.3833 Die Frage ist, inwiefern der Gedanke des rechtlichen novums darüber hinaus positivrechtliche Anerkennung zu finden vermag, konkret: ob er unter § 359 Nr. 5 StPO subsumiert werden kann. Die größten Schwierigkeiten sind die zwei o. aa) (S. 929) genannten positivrechtlichen Argumente: § 359 Nr. 5 StPO spricht ausdrücklich von „neuen Tatsa3832 Gegen eine Wiederaufnahmefähigkeit in solchen Fällen aber Lantzke, ZRP 1970, S. 206. 3833 Bzgl. § 79 Abs. 1 BVerfGG ebenso Bahlmann, MDR 1963, S. 541; Brauns, DRiZ 1963, S. 262.

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chen oder Beweismitteln“; die gesamte Struktur des Wiederaufnahmeverfahrens deutet darauf hin, dass es eher die Korrektur von tatsächlichen als von rechtlichen Fehlern zum Gegenstand haben wird. Das zweite Argument können wir schnell beiseite räumen.3834 Es ist keineswegs so, dass die Struktur des Wiederaufnahmerechts sich schon notwendig gegen die Korrektur von Rechtsfehlern sperrt. Wenn überhaupt, wird man sich über konkrete Sonderregelungen Gedanken machen müssen. Ob ein solches Änderungsbedürfnis bereits bei der o. bb) (S. 929) erwähnten Zuständigkeitsregelung bezüglich Wiederaufnahmen gegen Revisionsurteile besteht, soll hier dahingestellt bleiben. Denn bei einem rechtlichen novum liegt in der Änderung der Rechtsauffassung eines oberen Gerichts durch ein unteres überhaupt kein Vorwurf, sondern nur die Befolgung dessen, was von einem anderen oder sogar vom selben höheren Gericht klargestellt worden ist. Das größte Problem wäre zweifelsohne der Wortlaut von § 359 Nr. 5 StPO. Eigentlich ist es sogar zu wenig, in diesem Zusammenhang vom Wortlaut zu sprechen. Die gesamte Geschichte der Wiederaufnahme propter nova, zusammen mit der Tradition der Verwendung des Ausdrucks „Tatsachen oder Beweismittel“, der nicht erst in § 359 Nr. 5, sondern etwa auch in § 211 oder § 244 Abs. 2 StPO auftaucht, spricht dagegen, dass man „Rechtstatsachen“ als Tatsachen i. S. d. § 359 Nr. 5 StPO ansieht. Methodisch völlig undenkbar wäre es indes nicht. Wenn schon der Wortlaut dieser Vorschrift („Freispruch“) die Praxis nicht daran hindern konnte, auch die Einstellung als Wiederaufnahmeziel anzuerkennen (s. o. 2. d) [S. 915 f.]), wäre es an sich möglich, entweder im Wege einer sehr großzügigen, extensiven Auslegung des Begriffs der „Tatsache“ den Fehler materiellen Rechts zu erfassen,3835 oder dies im Wege einer teleologischen Extension der Vorschrift zu tun. Dennoch wäre eine ausdrückliche Anerkennung der Wiederaufnahme wegen des nachträglich erkannten Rechtsfehlers im Wortlaut des Gesetzes zu empfehlen, damit man nicht mehr auf derartige methodische Wagnisse setzen muss. III. Wiederaufnahme wegen Verletzung der Verfahrensgerechtigkeit 1. Zur Gebotenheit einer Wiederaufnahme wegen missachteter Verfahrensgerechtigkeit Die Rechtskraft von Entscheidungen, die zulasten des Betroffenen gehen, beruht indes nicht nur auf einer auf sie zurückführbaren Schuldtilgung, sondern auch darauf, dass sie in einem Verfahren gewonnen worden sind, das dem Beschuldigten eine Reihe von Rechten gewährt, so dass man nicht mehr von einem 3834 3835

Abl. auch J. Meyer, ZRP 1993, S. 284: „Strukturmangel“. So Peters, s. o. Fn. 3790.

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bloßen Akt der Gewalt, sondern von Kommunikation sprechen kann (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. IV. d) cc) [S. 252 ff.]). Das bedeutet, dass bei der Verletzung bestimmter grundlegender Regeln der Verfahrensgerechtigkeit die Rechtskraft der Entscheidung angreifbar bleibt. Überwiegend ist man gegenteiliger Auffassung.3836 Keine „Verkümmerung des klarsten Prozeßrechts kann den Rechtsbestand der durch Urteil geschaffenen Rechtskraft in Frage stellen“.3837 Man meint, dass Verfahrensfehler – ähnlich den bereits behandelten materiellrechtlichen Fehlern (s. o. II. 3. c) aa) [S. 929]) – im Wege der Einlegung eines ordentlichen Rechtsmittels, also insbesondere einer Revision, zu beheben seien. Dieses Argument fußt auf der irrigen Annahme, die Wiederaufnahme dürfe sich nur um die Reste kümmern (s. o. B. IV. 3. [S. 889 ff.]). Der wahre Grund hinter der herkömmlichen Auffassung ist ein anderer. Er dürfte weniger in einer o. II. 3. c) bb) (S. 931 ff.) als zweifelhaft dargelegten Berufung auf den iura novit curia-Grundsatz, als in einer von der Vorstellung der dienenden Rolle des Strafverfahrens beseelten Verkennung der intrinsischen Bedeutung der Verfahrensgerechtigkeit bestehen. „Eine Ungerechtigkeit, die wir als bloß prozessual bezeichnen können, vermag in modernen Rechtsordnungen nur in ihrer Beziehung zur Gerechtigkeit in der Sachfrage (merito) von Relevanz zu sein . . .“.3838 „. . . in diesen Fällen (ist) der Einfluß des Mangels auf den Ausgang des Verfahrens meist nicht meßbar . . .“.3839 Derartigen Bemerkungen liegt die Vorstellung zugrunde, dass nur das materiellrechtlich richtige Ergebnis zählt;3840 Verfahrensgerechtigkeit als solche gibt es nicht. Ähnlich könnte man sagen, dass es nach der Heilung des Patienten keinen Sinn mache, nachzufragen, ob der Chirurg sich die Hände gewaschen hatte. Der Gedanke einer intrinsisch wertvollen Verfahrensgerechtigkeit erklärt, weshalb der Vergleich hinkt, weshalb auch das der wahren Schuld des Verurteilten entsprechende Urteil seine Verbindlichkeit dann einbüßt, wenn es durch unsaubere Hände gewonnen wird. Ein solches Urteil ist Ausdruck von Gewalt; ihm fehlt die letzte Legitimation gegenüber dem Betroffenen. 3836 v. Kries, Rechtsmittel, S. 412, 418; Wasserburg, Wiederaufnahme, S. 308; W. Schmidt, KK-StPO § 359 Rn. 18; Mayer-Goßner, StPO § 359 Rn. 22; KG GA 1974, 25; s. a. Callari, Firmitas, S. 228 ff., gegen gegensätzliche Bemühungen in Italien. 3837 E. Mayer, Wiederaufnahme, S. 14. 3838 Leone, RDPP 1956, S. 169. Es heißt ferner, dass Fehler in procedendo deshalb keine Wiederaufnahme rechtfertigten, „weil der Gesetzgeber sie als von geringerer Bedeutung für die Gerechtigkeit der Entscheidung ansieht“. 3839 Deml, Wiederaufnahme, S. 70, der für eine beschränkte Wiederaufnahmefähigkeit von Verfahrensfehlern eintritt. Für ein weiteres Beispiel einer Haltung, die Verfahrensfehler nur in ihrer Bedeutung für das Ergebnis der Entscheidung für relevant erachtet, sie aber immerhin wiederaufnahmerelevant machen möchte, s. Moscarini, Omessa valutazione, S. 140. 3840 H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 85.

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Das hört sich in der Theorie schön an, könnte man sagen. Wer für eine Wiederaufnahme wegen der Verletzung von Verfahrensregeln eintritt und nicht auf dem in sich vielleicht schlüssigen, aber äußerst unplausiblen Standpunkt verharren möchte, dass jeder Verfahrensrechtsverstoß das Prozessergebnis wiederaufnahmefähig macht, muss angeben können, bei welchen prozessualen Regeln es zu dieser drastischen Rechtsfolge kommen wird. Verfahrensfehler machen eine Entscheidung nicht einmal automatisch revisibel; auch dann, wenn man die Wiederaufnahme nicht aus der Rechtsmittellehre heraus deuten sollte (s. o. B. IV. 3. [S. 889 ff.]), wäre es sicherlich befremdlich, wenn ein Fehler, den die Rechtsordnung vor Rechtskrafteintritt für wenig relevant erklärt, nach Überschreitung dieses Zeitpunkts eine Auflösung des Verfahrensergebnisses rechtfertigen würde. In der Tat muss eine solche Differenzierung versucht werden. Der o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 2. d) cc) (S. 256 ff.) vorgeschlagene materielle Leitgesichtspunkt ist der Gedanke, dass es eine Hierarchie der Verfahrensregeln gibt; die Fundamentalsten sind die, die aus dem Gewaltakt der Strafverfolgung einen Vorgang der Kommunikation machen. Auf die Einhaltung dieser Minimalia der Verfahrensgerechtigkeit kann der Betroffene nicht verzichten, denn dieser Verzicht setzt eine Erklärung voraus, die nur sinnvoll erfolgen kann, wenn der Verzichtende als Kommunikationssubjekt wahrgenommen wird, wenn es also mehr gibt als reine Gewalt. Schon deshalb kann man sich bei solchen Fehlern nicht mit der Möglichkeit der Revision begnügen. Die prototypische Verletzung der Verfahrensgerechtigkeit, als Verletzung des Rechts, von einem nur dem Gesetz unterworfenen Richter abgeurteilt zu werden, ist die bereits angesprochene Konstellation des Willensfehlers, der Amtspflichtverletzung, also des rechtsbeugenden Richters, die in § 359 Nr. 3 StPO positivrechtliche Anerkennung gefunden hat. Wir haben o. II. 3. b) bb) (S. 918 ff.) gesehen, dass schon das Schuldprinzip die Anerkennung des Willensfehlers als Wiederaufnahmegrund gebietet. Die weitere Präzisierung des Gedankens wird erst u. 4. a) (S. 945 ff.), IV. 1. (S. 953 ff.) erfolgen. 2. Die zwei Formen der Verletzung der Verfahrensgerechtigkeit Die Verfahrensgerechtigkeit gebietet, dass das Verfahren so durchgeführt wird, dass es nicht einen bloßen Akt der Gewalt, sondern auch Kommunikation verkörpert. Trotz der Abstraktheit dieser Umschreibung kann man damit bereits zwei Formen der Verletzung der Verfahrensgerechtigkeit unterscheiden. a) Einerseits kann es sich so verhalten, dass die Umstände, die die Verletzung der Verfahrensgerechtigkeit begründen, nur dem gerade stattgefundenen einzelnen Verfahren anhaften. Es wäre an sich möglich gewesen, gegen den Beschuldigten nicht nur mit Gewalt vorzugehen, das ist dem Staat in dem einen konkret durchgeführten Verfahren jedoch nicht gelungen.

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b) Andererseits kann das Problem etwas tiefer liegen und bereits damit zu tun haben, dass überhaupt gegen den Beschuldigten in der Sache verfahren worden ist. Jedes Vorgehen gegen den Beschuldigten wäre in der Sache als Akt der Gewalt anzusehen, und dies unabhängig vom Einzelverfahren. 3. Wiederaufnahmeziele: Beseitigung der Verletzung der Verfahrensgerechtigkeit Dieser grundlegenden Unterscheidung entsprechend lassen sich die zwei Ziele einer Wiederaufnahme wegen Verletzung der Verfahrensgerechtigkeit unterscheiden: Wiederholung und endgültige Einstellung des Verfahrens. a) Wiederholung des Verfahrens Wenn der Fehler nur dem einen Verfahren anhaftet, muss der Beschuldigte verlangen dürfen, dass der Fehler beseitigt wird, dass gegen ihn ein Urteil gefällt wird, das ihn nicht nur faktisch zwingt, sondern als Kommunikationsakt Gegenstand seiner Anerkennung sein kann. Auch dann, wenn im Nachhinein nur ein Urteil gleichen Inhalts erreicht wird, und sogar dann, wenn von vornherein klar ist, dass nur ein Urteil gleichen Inhalts erreichbar ist, ist dieses Urteil allein wegen des Umstands, dass es nicht mehr Ausdruck nackter Gewalt verkörpert, als Recht des Betroffenen anzusehen. Das erste Wiederaufnahmeziel einer Wiederaufnahme wegen Verletzung der Verfahrensgerechtigkeit ist deshalb, dass dem Betroffenen ein der Verfahrensgerechtigkeit genügendes Verfahren gewährt wird. b) Einstellung Wenn es aber um den Fall geht, dass nicht das konkret vorgeführte Verfahren, sondern dass jedes denkbare Verfahren in der Sache als Verletzung der Verfahrensgerechtigkeit anzusehen wäre, dann hilft es nicht, das Verfahren zu wiederholen. Hier ist es geboten, aus der ergangenen Verurteilung eine endgültige Einstellung des Verfahrens zu machen. Dies wird in erster Linie bei den o. II. 2. d) (S. 915 ff., 916) bereits angesprochenen Konstellationen der Fall sein, in denen dem Staat kein Strafklagerecht mehr zusteht (näher u. 4. c) [S. 949 ff.]). Ist Verjährung eingetreten, ist die Frist für die Stellung des Strafantrags verstrichen, dann hat es keinen Sinn, erneut gegen den Verurteilten zu prozedieren. Das neue Verfahren wird denselben Mangel aufweisen wie das Letzte. Positivrechtlich geschieht das, wie schon gesagt, vor allem dadurch, dass das in § 359 Nr. 5 StPO genannte Wiederaufnahmeziel des „Freispruchs“ extensiv ausgelegt wird, um auch solche endgültigen Einstellungen zu erfassen.

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4. Wiederaufnahmegrund: grundlegende Prozessrechtsverletzung Wie gesagt (o. 1. [S. 940 f.]), bedeutet nicht jede Prozessrechtsverletzung automatisch, dass der Beschuldigte zur Sache degradiert worden ist, zu jemandem, mit dem man nicht mehr kommuniziert, sondern den man nur zwingt. Es fragt sich zuletzt, welche Regeln einen solchen grundlegenden Charakter haben. Im Grunde genommen müsste diese Bestimmung in einer eigenständigen Untersuchung erfolgen. Hier kann nur ein erster, zugegeben vorläufiger Versuch vorgenommen werden. Wie gesehen hat es hier aber keinen Sinn, ein novum zu verlangen. Die Verfahrensgerechtigkeit ist eigentlich genauso indisponibel wie das Schuldprinzip. Dennoch konnte der eingeschränktere Schutz, den die Rechtsordnung dem Schuldprinzip durch das Verlangen von nova gewährt hat, nur hingenommen werden, solange die Fehler, die man trotz Kenntnis der relevanten Tatsachen und Beweismittel begeht, durch eine eigenständige Form der Wiederaufnahme korrigierbar sind (o. II. 3. b) bb) [S. 918 ff.]). Die Wiederaufnahme wegen Verletzung der Verfahrensgerechtigkeit schützt deshalb zugleich und indirekt die Einhaltung des Schuldprinzips. Schon deshalb kann ihr Eingreifen nicht vom Erfordernis eines novums abhängig gemacht werden. Im Folgenden sollen einzelne gravierende Verfahrensverletzungen kursorisch diskutiert werden, die als wiederaufnahmerelevante Verletzungen der Verfahrensgerechtigkeit in Betracht kommen. Man wird sich bei der Diskussion an zwei Richtlinien orientieren, einer formellen und einer materiellen. Die formelle Richtlinie bieten einzelne im deutschen und ausländischen positiven Recht vorgesehene oder in der Diskussion de lege ferenda vorgeschlagene Wiederaufnahmegründe, die sich ersichtlich vom Gedanken der Einhaltung des Schuldprinzips entfernen. Schon deshalb wird man in den folgenden Abschnitten die in dieser Arbeit überwiegend eingehaltene getrennte Entwicklung von vorpositiven und positivrechtlichen Erwägungen etwas relativieren müssen. Ausschlaggebend ist aber die materielle Frage, ob es bei den diesen Wiederaufnahmegründen zugrunde liegenden Regeln um Voraussetzungen geht, die für jedes legitime Strafverfahren verbindlich sind (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. IV. 2. d) cc) [S. 251 ff., 256 f.]). Das heißt noch nicht, dass es sich um Regeln handeln muss, die jedes empirisch vorhandene Verfahrenssystem tatsächlich anerkennt, sondern durchaus, dass diese Regeln für die Abgrenzung von Gewalt und Kommunikation konstitutiv sind, so dass sie richtigerweise als Minimalia der Verfahrensgerechtigkeit von jedem Verfahrenssystem anerkannt werden müssten. a) Amtspflichtverletzung aa) Der Grundfall: richterliche Amtspflichtverletzung (1) Fangen wir mit dem klarsten, o. II. 3. b) bb) (S. 919 ff.) bereits wiederholt angesprochenen Fall der richterlichen Amtspflichtverletzung an, die in § 359

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Nr. 3 StPO als Wiederaufnahmegrund Anerkennung gefunden hat. Das herrschende Konzept, das die Wiederaufnahme überwiegend unter dem Blickwinkel der materiellen Wahrheit bzw. des Schuldprinzips betrachtet (s. o. B III. [S. 871 ff.]), muss in ihr entweder einen „unechten Wiederaufnahmegrund“ 3841 erblicken oder auf einen anderen Gedanken zurückgreifen. Dies wird normalerweise dadurch getan, dass man unmittelbar auf eine autoritätsbezogene Begründung abstellt:3842 Hier seien „Würde der Rechtspflege und Ansehen eines richterlichen Spruchs“ verletzt,3843 es liege eine „evidente Fälschung des richterlichen Urtheils“ vor.3844 Das ist aber eine unzureichende Erklärung. Der wahre Grund, weshalb der Richter nach dem Gesetz und nicht nach seiner höchstpersönlichen Willkür entscheiden muss, kann unmöglich bloß darin liegen, dass es ansonsten um den Ruf der Rechtspflege in der Bevölkerung schlecht bestellt sei. Es kann sogar Extremfälle geben, in denen die Entscheidung, die das Gesetz strikt anwendet, rufschädigender ist als die, die das Recht beugt. Der ausschlaggebende Gesichtspunkt muss ein anderer sein: „Der Angeklagte darf voraussetzen, daß seine Richter ohne Ausnahme frei von jeder Parteilichkeit über ihn richten“.3845 Es ist ein Recht des Beschuldigten, dass seine Sache von einem Richter entschieden wird, der nur dem Gesetz, aber durchaus dem Gesetz unterworfen ist. Ein legitimes Verfahren, in dem der Richter nach eigenem Gutdünken entscheiden darf, ist nicht vorstellbar. Es ist kein rechtliches Verfahren mehr, sondern ein Willkürverfahren. Das Ergebnis eines solchen Verfahrens kann deshalb nicht in unangreifbare Rechtskraft erwachsen, sondern muss einer Wiederaufnahme zugänglich sein. (2) Dieser Standpunkt ist auch die Erklärung für das im deutschen Gesetz enthaltene Erfordernis, dass „die Verletzung nicht vom Verurteilten selbst veranlaßt ist “.3846 Überwiegend hat man diesem Erfordernis wenig Verständnis entgegen-

3841 So H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 45; s. a. Eb. Schmidt, Lehrkommentar II, § 359 Rn. 10, der von der „Eigenart dieser Bestimmung im System der Wiederaufnahmegründe“ spricht, weil sie die Korrektur von Rechtsfehlern gestattet. 3842 Ganz deutlich Binding, Strafanspruch, S. 296; s. a. Schultz, JR 1929, S. 233: „Urteil entbehrt in jedem Fall der Grundlage einer gesetzmäßigen Rechtspflege“; ebenso H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 44; wortgleich auch E 1939, S. 171. 3843 Schwarze, GS 25 (1873), S. 429. 3844 Goltdammer, GA 1858, S. 658. 3845 v. Schwarze, NArchCrim 1851, S. 571; zust. v. Kries, GA 1878, S. 170; s. a. Deml, Wiederaufnahme, S. 102: „Anspruch des Angeklagten auf einwandfreie Justizgewährung“. Gelegentlich wird der Gesichtspunkt eher institutionell formuliert: Es wird „gegen die Fundamentalforderungen der unparteiischen Rechtspflege verstoßen“ (O. L. Walter, Wahrheit und Rechtskraft, S. 22; ähnl. Formulierung auch in Deml, Wiederaufnahme, S. 109). Die im Text zitierte Passage ist deshalb vorzugswürdig, weil sie klarstellt, dass man sich auf der Ebene individueller Rechte befindet. 3846 Zust. v. Kries, Rechtsmittel, S. 419; Giehl, Wiederaufnahme, S. 18.

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bringen können.3847 Aus einer autoritätsorientierten Perspektive leuchtet es in der Tat schwer ein. Es geht auch nicht um eine Strafe dafür, dass der Angeklagte die Richter bestochen hat.3848 Deutet man die Vorschrift als Ausdruck einer letztlich ein individuelles Recht verkörpernden Verfahrensgerechtigkeit, dann ist das Erfordernis unabdingbar. Man sollte in diesem Zusammenhang zwar weder von Verzicht noch von Verwirkung sprechen (s. o. Kap. 4 E. III. 2. d) [S. 750 ff.], Kap. 3 C. IV. 2. [S. 658 ff.]). Entscheidend ist vielmehr, dass der Angeklagte, der das Verfahren aktiv sabotiert, nicht zur Sache gemacht wird. Er wirkt am Verfahren als handelndes und kommunizierendes Subjekt mit. Man kann auch nicht sagen, dass seine schlussendliche Verurteilung vermuten lässt, die Dinge seien nicht völlig in seinem Sinne gelaufen; vielleicht vermochte er ein milderes Urteil zu erwirken.3849 Wenn sich die Rechtsordnung dafür entscheiden würde, den Kritikern Gehör zu schenken und dieses Erfordernis fallen zu lassen, würde sie dies also aus Gründen der Billigkeit tun; das strenge Recht gebietet es nicht. Dennoch ist zu bedenken, dass der Ausschluss dieses Wiederaufnahmegrunds nicht bedeutet, dass die Wiederaufnahme propter nova nicht einschlägig ist. Ist die Entscheidung noch darüber hinaus materiell falsch, muss sie verändert werden können. Der Willensfehler der Gerichtsperson, an deren Willensbildung der Beschuldigte mitgewirkt hat, wird nur per se genommen keine Erneuerung des Verfahrens rechtfertigen können. Man ist dann im Bereich des § 359 Nr. 5 StPO und nicht mehr des § 359 Nr. 3 StPO. (3) Die eigentlichen Probleme dieses Wiederaufnahmegrunds befinden sich an anderer Stelle. Dadurch, dass das Gesetz nicht schon bei jedem Willensfehler, sondern erst bei einem, der die Schwelle des Strafbaren überschreitet, Wiederaufnahmen ermöglicht, wird die Einhaltung des Schuldprinzips nicht rundum gewährleistet. Es handelt sich hier also nicht mehr um die Wiederaufnahme wegen Verletzung der Verfahrensgerechtigkeit, sondern um die Rückwirkungen, die eine zu enge gesetzgeberische Erfassung dieser Erfordernisse auf die Wiederaufnahme wegen Verletzung des Schuldprinzips haben wird. Auf diese Probleme werden wir u. IV. (S. 952 ff.) in einem besonderen Abschnitt zur Besprechung noch offener positivrechtlicher Fragen zurückkehren müssen. Es wird sich zeigen, dass dieses Erfordernis der Strafbarkeit sachlich unbegründet ist und dass es ausreichen sollte, dass der Richter das Recht bewusst verletzt.3850 3847 Abl. etwa Winkler, GS 78 (1911), S. 342 f.; Schultz, JR 1929, S. 233; v. Hentig, Wiederaufnahmerecht, S. 40; E. Mayer, Wiederaufnahme, S. 12, 54; O. L. Walter, Wahrheit und Rechtskraft, S. 31, 79 („Mentalität des Inquisitionsprozesses“ – warum denn?); H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 45; Knoche, DRiZ 1972, S. 300 („Racheakt des Gesetzgebers“); Deml, Wiederaufnahme, S. 110; Saliger, Radbruchsche Formel, S. 76; Entwurf 1919 (für den Text s. E. Mayer, Wiederaufnahme, S. 50). 3848 So Giehl, Wiederaufnahme, S. 18. 3849 v. Hentig, Wiederaufnahmerecht, S. 40 f. 3850 So wohl auch v. Kries, GA 1878, S. 170: „vorsätzliche Pflichtverletzung“.

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bb) Geisteskrankheit des Richters? In der alten Reformdiskussion wurde auch der Vorschlag gemacht, einen Wiederaufnahmegrund für den Fall der Mitwirkung eines geisteskranken Richters vorzusehen.3851 Er vermochte sich nicht durchzusetzen.3852 Häufig und auch im Bundestag (1896) führte man dagegen an, dass die Entscheidung des geisteskranken Richters nicht notwendig falsch sein müsse.3853 Das ist aber kein gutes Argument; dasselbe lässt sich zur Amtspflichtverletzung sagen; man denke nur an das zugegeben konstruierte, dennoch aber klare Beispiel des doppelten Fehlers, in dem der Richter bewusst gegen die Beweislage entscheidet, diese aber ihrerseits nicht der Realität entsprach (s. o. II. 3. b) bb) [919]).3854 Der Vorschlag ist deshalb interessant, weil es der autoritätsorientierten Begründung, auf die man sich überwiegend zur Erklärung des Wiederaufnahmegrunds der richterlichen Pflichtverletzung beruft (s. o. aa) [S. 943]), eher entsprechen würde, auch im Fall des geisteskranken Richters eine Wiederaufnahme zuzulassen. Die Bevölkerung ist gewiss nicht beruhigt, wenn sie davon erfährt, dass ein Richter, der jahrelang Menschen ins Gefängnis geschickt hat, in eine psychiatrische Klinik eingewiesen worden ist; „pro auctoritate iudicis“ erscheint es nicht inkonsequent, wenigstens einige der von diesem Richter mitentschiedenen Sachen erneut zu prüfen.3855 Geboten ist dieses Ergebnis indessen nicht, nicht zuletzt weil Begründungen, die auf empirische Zusammenhänge abstellen, im vollsten Sinne des Wortes nichts zu gebieten vermögen, sondern bestenfalls nur zu empfehlen. Man kann immer der Ansicht sein, dass dieser Wiederaufnahmegrund eher dazu führen würde, dass Strafrichter sich dauernd psychologisch begutachten lassen müssen, und dass dies viel ansehensrühriger sei als die Hinnahme der sowieso selten entdeckten Urteile, an denen Geisteskranke mitgewirkt haben. Aus unserer Perspektive bietet sich ein anderer Zugang zu dem Vorschlag an. Der Verfolgte hat ein Recht, von einem Richter abgeurteilt zu werden, der dem Gesetz unterworfen ist, der also seinen Wille an den Maßstäben des Gesetzes ausrichtet. Der geisteskranke Richter erliegt weder notwendig einem Wissensnoch einem Willensfehler. Trotzdem ist dies besonders wahrscheinlich. Liegt aber ein Wissensfehler vor, hat der geisteskranke Richter etwas übersehen, was 3851 Pitsch, MSchrKrim 8 (1911/12), S. 244 f.; v. Hentig, Wiederaufnahmerecht, S. 30 ff.; H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 88 f. Nach Oetker, DWBl 1896, S. 89, sollte das Urteil unheilbar nichtig sein und nicht im Wege der Wiederaufnahme, sondern der de lege ferenda einzuführenden außerordentlichen Nichtigkeitsbeschwerde kassierbar sein. 3852 Abl. etwa v. Lilienthal, DStrZ 1914, Sp. 164; E. Mayer, Wiederaufnahme, S. 12. 3853 Siehe die Nachw. in v. Hentig, Wiederaufnahmerecht, S. 32. 3854 Insofern richtig H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 88. 3855 O. L. Walter, Wahrheit und Rechtskraft, S. 23.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

ein gesunder nicht übersehen hätte, dann ist das Problem durch die kollegiale Struktur des Spruchkörpers gelöst, und dort, wo das Gericht aus einem Einzelrichter besteht, durch das Vorhandensein der Wiederaufnahme propter nova. Der übersehene Gesichtspunkt wird entweder von den weiteren Richtern berücksichtigt, oder er verkörpert ein novum. Bei einem Willensfehler, der nicht nur dann vorliegen wird, wenn man freiverantwortlich das Falsche will, sondern auch dort, wo man nicht mehr Herr seines Willens ist, besteht in der Tat eine Lücke. Denn der geisteskranke Richter wird sich wegen § 20 StGB wohl keiner strafbaren Amtspflichtverletzung i. S. v. § 359 Nr. 3 StPO schuldig machen können. Würde man sich also, wie hier vorgeschlagen wird (s. u. IV. 1. [S. 954 f.] und gerade o. aa) [S. 944]), bei dieser Vorschrift anstelle einer strafbaren mit einer bewussten Amtspflichtverletzung begnügen, könnte man dem Problem des geisteskranken Richters unproblematisch schon ohne Einführung eines weiteren Wiederaufnahmegrunds gerecht werden. cc) Amtspflichtverletzungen weiterer Verfahrenspersonen? § 359 Nr. 3 StPO spricht nur vom „Richter oder Schöffen“; nur die Amtspflichtverletzung, die von Mitgliedern des gerichtlichen Spruchkörpers begangen wird, rechtfertigt eine Auflösung der Rechtskraft. Immer wieder sind aber Vorschläge gemacht worden, weitere Verfahrensbeteiligte in diesen Kreis einzubeziehen. (1) In einzelnen prozessualen Partikulargesetzen des 19. Jahrhunderts kannte man die Pflichtverletzung des Staatsanwalts als Wiederaufnahmegrund; de lege ferenda ist das auch immer wieder vorgeschlagen worden.3856 Indes belegt schon das verbreitete Vorhandensein eines Weisungsrechts, dass es kein Recht gibt, von einem nur dem Gesetz unterworfenen Staatsanwalt verfolgt zu werden. Die staatsanwaltschaftliche Pflichtverletzung mag gravierend sein und der Gesetzgeber gute Gründe haben, sie auch als strafbare Rechtsbeugung einzustufen;3857 prozessual und vor allem aus der Perspektive des Beschuldigten befindet sie sich aber auf einer anderen Ebene als die richterliche Pflichtverletzung. Das wird schon von denjenigen eingesehen, die diesen neuen Wiederaufnahmegrund als einen relativen ausgestalten möchten;3858 wie o. II. 3. b) bb) (S. 919), III. 4. a) aa) (S. 943) schon gesagt wurde und näher ausgeführt werden soll, stellt sich bei der richterlichen Amtspflichtverletzung (und auch bei jeder Wiederaufnahme wegen Verletzung der Verfahrensgerechtigkeit, s. u. E. II. [S. 997 f.]) nicht mehr die 3856 Schwarze, NArchCrimR 1851, S. 571; v. Kries, Rechtsmittel, S. 421 (der über diesen Weg auch Geständniserpressungen erfassen wollte); v. Hentig, Wiederaufnahmerecht, S. 49 f.; E. Mayer, Wiederaufnahme, S. 10 Fn. 27; abl. v. Kries, GA 1878, S. 170 f. (der nur bei der Wiederaufnahme zulasten a. A. ist). 3857 Siehe nur Uebele, MK-StGB § 339 Rn. 12 m.w. Nachw. 3858 v. Hentig, Wiederaufnahmerecht, S. 50.

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Frage nach der Richtigkeit oder Falschheit der Entscheidung. Hat der Staatsanwalt dem Gericht Tatsachen oder Beweismittel vorenthalten, dann ist bereits die Wiederaufnahme propter nova einschlägig. (2) Im 19. Jahrhundert wurde gelegentlich auch für die Anerkennung der Pflichtverletzung des Verteidigers als Wiederaufnahmegrund plädiert;3859 Hentig schloss sich dem für den Fall des bestellten Verteidigers an.3860 v. Schwarze führte als Begründung zum einen die autoritätsorientierte und deshalb nicht maßgebliche „Würde der Rechtspflege“ an,3861 zum anderen das Verteidigungsrecht des Angeklagten.3862 Eine fundierte Stellungnahme ist nur möglich, wenn über den Sinn des rechtlichen Beistands durch einen Verteidiger Klarheit herrscht. Womöglich sollte man wenigstens für die Fälle, in denen die Rechtsordnung die Mitwirkung eines Verteidigers für zwingend notwendig erklärt (§ 140 Abs. 1 StPO), de lege ferenda einen Wiederaufnahmegrund in Betracht ziehen.3863 (3) Die Pflichtverletzung durch Zeugen und Sachverständige ist in vielen Rechtsordnungen als eigenständiger Wiederaufnahmegrund vorgesehen.3864 Sie gehört aber, wie näher ausgeführt werden soll (s. u. IV. 2. [S. 956]), nicht in den vorliegenden Zusammenhang, sondern in den der Wiederaufnahme propter nova, die wegen einer Verletzung des Schuldprinzips begründet ist. Wegen der Schwere des Rechtsverstoßes und vor allem wegen der Bedeutsamkeit dieser Beweismittel wird aber die Unrichtigkeit der Entscheidung vom Recht vermutet; die Widerlegbarkeit dieser Vermutung (§ 370 Abs. 1 HS. 1 StPO) zeigt aber, dass hier die Verfahrensgerechtigkeit nicht betroffen sein kann (näher u. E. II. [S. 997 f.]). (4) Ganz wichtig, wenn auch völlig in Vergessenheit geraten, scheint die Einführung eines Wiederaufnahmegrunds der Pflichtverletzung durch den Dolmetscher zu sein. Dieser billigenswerte Vorschlag ist überwiegend im Zusammenhang der Behandlung der Wiederaufnahme wegen Pflichtverletzung durch den Zeugen oder Sachverständigen gemacht worden.3865 Bei einem nicht sprachkundigen Beschuldigten hängt es in erster Linie vom Dolmetscher ab, ob sich das Strafverfahren überhaupt als Vorgang der Kommunikation entfalten kann. Deshalb ist das Recht auf einen Dolmetscher eine unabdingbare Forderung der Verfahrensgerechtigkeit (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. III. 2. b) cc) [S. 256]); die Verletzung 3859 Schwarze, NArchCrimR 1851, S. 572; ders. GS 25 (1873), S. 430; abl. v. Kries, GA 1878, S. 171. 3860 v. Hentig, Wiederaufnahmerecht, S. 53. 3861 Schwarze, GS 25 (1873), S. 431. 3862 Schwarze, GS 25 (1873), S. 431. 3863 Dafür bereits v. Schwarze, Wiederaufnahme, S. 337; v. Kries, Rechtsmittel, S. 420. 3864 § 359 Nr. 2 StPO; Art. 622 Nr. 3 franzStPO, ohne den Sachverständigen; Art. 449 Abs. 1a portStPO, falsche Beweise; s. a. Art. 630 d] itStPO, bei falschen Beweismitteln oder sogar jeder Straftat, die sich auf das Urteil auswirkt. 3865 Goltdammer, GA 1858, S. 660; Busch, GS 13 (1861), S. 322; Fazy, Revision, S. 71; O. L. Walter, Wahrheit und Rechtskraft, S. 78.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

dieses Rechts führt zu einem Urteil, das gegenüber dem Betroffenen einen wesentlichen Legitimitätsmangel aufweist. Eine Wiederaufnahme sollte möglich sein. b) Negationen der Prozessrechtssubjektivität: Folter, Verletzungen des nemo tenetur-Grundsatzes; Verletzung von Beweisverboten Die Rechte auf Freiheit von Folter und auf Freiheit vom Selbstbelastungszwang sind o. Teil 1 Kap. 2 C. III. 2. d) cc) (S. 258) bereits als indisponible Anforderungen der Verfahrensgerechtigkeit ausgearbeitet worden. Heißt das, dass ein Verstoß gegen diese Rechte automatisch das Verfahrensergebnis angreifbar macht? aa) Betrachten wir zunächst die Folter. Bei ihr muss man besonders sorgfältig den materiellen Verstoß, also die Verletzung der Würde eines Menschen, vom prozessrechtlichen Verstoß, von der Verletzung seiner Prozessrechtssubjektivität unterscheiden. Wenn man nicht so weit geht, bei Folter den Strafanspruch für verwirkt zu erklären, sondern an der Auffassung festhalten möchte, dass das neue materielle Unrecht eigenständig bestraft werden muss, und dass es keinerlei innere Verknüpfung zu einer Verfahrensfreistellung des Beschuldigten aufweist (zu diesem Argument bereits o. Teil 1 Kap. 1 A. II. 6. [S. 83]), dann wird es weniger auf die Folter ankommen als darauf, ob sie dadurch die prozessuale Rechtsstellung des Beschuldigten so stark beeinträchtigt hat, dass das gesamte Verfahren nur als Gewaltakt gedeutet werden kann. Konkret heißt das zumindest, dass die unmittelbar durch Folter gewonnenen Erkenntnisse unverwertbar sein müssen; die Verwertung dieser Beweise führt zu einem Legitimationsdefizit des Urteils, womit sich die Wiederaufnahme an sich begründen lassen sollte.3866 Ob dies auch bezüglich der mittelbar gewonnenen Erkenntnisse der Fall sein muss, kann im vorliegenden Zusammenhang nicht geklärt werden. bb) Ähnlich sollte man die Konstellation einer Verletzung des nemo teneturGrundsatzes behandeln. Weil dieser Grundsatz eine unbezweifelbare Voraussetzung eines Verfahrens verkörpert, das Besseres zu sein anstrebt als nackte Gewalt, darf man unmittelbar aus diesem Verstoß hervorgehende Erkenntnisse nicht im Urteil verwerten.

3866 Im Erg. nahestehend Peters, Fehlerquellen III, S. 54 f., der auf Grundlage seiner Lehre von den „Rechtstatsachen“ die Wiederaufnahme im Fall einer Verletzung des Beweisverbots des § 136a Abs. 3 S. 2 StPO anerkennen möchte; zust. Bock u. a., GA 2013, S. 344; ein „Bedürfnis“ für eine Wiederaufnahmemöglichkeit räumt auch Loos, AK-StPO vor § 359 Rn. 40 ein; s. bereits v. Schwarze, Wiederaufnahme, S. 338 (für eine Berücksichtigung erzwungener Geständnisse als neue Tatsachen i. S. v. § 359 Nr. 5 StPO); v. Kries, Rechtsmittel, S. 421. Auch in Spanien gilt ein abgenötigtes Geständnis als Wiederaufnahmegrund, Art. 954 Abs. 3 spanStPO, hierzu Cortés Domínguez, Derecho procesal penal, S. 576.

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cc) Demgegenüber erreichen andere Verletzungen von Beweisverboten bei Weitem nicht diese fundamentale Qualität, die eine Auflösung der Rechtskraft gebietet. Die Rechtslage in Portugal, die einen Wiederaufnahmegrund der Verletzung von Beweisverboten kennt (Art. 449 I e] PortStPO),3867 ist Sache gesetzgeberischer Billigkeit, die wohl zu weit geraten sein dürfte. Es bleibt abzuwarten, ob hier nicht Spannungen entstehen werden (zu diesem Problem bereits o. Teil 1 Kap. 2 C. IV. 3. [S. 206 ff.]). c) Verletzungen des Anklageprinzips Was durchaus eine Wiederaufnahme des Verfahrens rechtfertigen muss, sind Verletzungen des Anklageprinzips. Das Prinzip haben wir o. Teil 2 Kap. 2 B. III. 2. (S. 385 ff.) mit großer Mühe als Ausfluss des nemo iudex in causa sua-Grundsatzes ausgearbeitet, ein Grundsatz, der seinerseits eine konstitutive Anforderung der Verfahrensgerechtigkeit verkörpert (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. III. 2. d) cc) [S. 258]). Die Folge der Verletzungen des Anklageprinzips kann nicht die fehlerfreie Wiederholung des Verfahrens sein. Vielmehr muss endgültig eingestellt werden; denn eine Verletzung des Anklageprinzips bedeutet, dass eigentlich keine Anklage erhoben worden ist. Das Wiederaufnahmeziel ist hier die endgültige Einstellung; möchte der Staat die Tat dennoch verfolgen, muss erst einmal Anklage erhoben werden. Die wichtigste Gruppe von Verletzungen des Anklageprinzips erfasst das Nichtvorliegen sog. Strafklagevoraussetzungen: fehlender Strafantrag, Verjährung, bereits gefällte rechtskräftige Entscheidung (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. II. 1. Exkurs [S. 148 f.], Teil 2 Kap. 2 F. III. 4. [S. 560 ff.]). Auch in Fällen, in denen die im jeweiligen Verfahrenssystem vorgesehenen oder überhaupt gebotenen Grenzen der prozessualen Tat überschritten werden (s. o. Kap. 2 D. VI. [S. 513 ff.]), gibt es eine Verletzung des Anklageprinzips, die die Auflösung des dadurch erlangten Urteils rechtfertigt (s. o. Kap. 2 D. VIII. [S. 541]). d) Abwesenheitsverfahren Die Gewährleistung rechtlichen Gehörs ist wohl sogar die fundamentalste Anforderung der Verfahrensgerechtigkeit (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 2. d) cc) [S. 256]); damit gerät jedes Abwesenheitsverfahren, soweit es überhaupt legitimierbar ist, unter großen Druck. Ein traditioneller Weg, diese Spannung etwas abzuschwächen, ist immer die Zuerkennung einer schwächeren Rechtskraft gewesen.3868 Dahinter steckt zwar auch die Sorge um das Schuldprinzip, noch 3867 Näher und zust. Conde Correia, Caso julgado, S. 490 ff.; einen ähnl. Vorschlag bei Wasserburg/Eschelbach, GA 2003, S. 351 f. 3868 Für Frankreich früher Hirtz, Chose jugée, S. 208 ff.; heute Pradel, Procédure pénale, Rn. 922; für Spanien s. den erst 1988 eingeführten recurso de anulación (Art. 793

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

wichtiger ist aber die Erwägung, dass es per se nicht unproblematisch ist, jemanden zu verurteilen, ohne davor zu hören, was er eventuell dazu zu sagen hätte. Die Bereitschaft, hier das Verfahren nicht erst auf punktuelle Fehler hin zu überprüfen,3869 sondern erforderlichenfalls von Anfang an zu erneuern, wird unter bestimmten Bedingungen, die hier nicht geklärt werden können, vorhanden sein müssen.3870 e) Verwirkung des Strafanspruchs als Wiederaufnahmegrund? Vereinzelt wird dafür plädiert, auch in Fällen, in denen der Strafanspruch wegen schwerer Rechtsstaatsverstöße (wie eines Lockspitzeleinsatzes gegen einen Unverdächtigen oder überlanger Verfahrensdauer) schon vor dem Ersturteil verwirkt war, eine Wiederaufnahme mit dem Ziel der Einstellung zuzulassen.3871 Eine definitive Stellungnahme würde auch eine Klärung des Gedankens der Verwirkung des Strafanspruchs voraussetzen, die man hier unmöglich vornehmen kann. Es sei aber gestattet, Skepsis zu äußern. Es dürfte zudem übertrieben sein, bei der Provokation sogar die Menschenwürde des Betroffenen als verletzt anzusehen.3872 Das Bedenkliche an der Provokation dürfte wohl woanders liegen.3873 Erst wenn man aber bereit wäre, Provokationen unterschiedslos als Verletzungen der Verfahrensgerechtigkeit anzusehen, hätte man einen festen Halt für die Postulierung eines Wiederaufnahmegrundes. Ähnliches sollte man zur übermäßigen Verfahrensdauer sagen, wobei es hier noch schwerer fallen dürfte, darzulegen, weshalb die lange Dauer eines Verfahrens es notwendig zum Gewaltakt degradiert. 5. Positivrechtliche Erwägungen a) Wie gesagt (o. 4. [S. 942]), haben die gerade formulierten Überlegungen die ansonsten in der vorliegenden Arbeit überwiegend eingehaltene äußere Trennung von vorpositiver und positivrechtlicher Betrachtung relativiert. Viele von ihnen, wie die Vorschläge eines Wiederaufnahmegrunds der Pflichtverletzung des

Abs. 2 spanStPO), der wie eine Berufung funktioniert, hierzu Gómez Colomer, Derecho jurisdicional III, S. 427 ff.; Cortés Domínguez, Derecho procesal penal, S. 579 ff. Man vergesse aber nicht, dass die spanische Berufung keineswegs eine Wiederholung der Hauptverhandlung impliziert (s. o. Teil 1 Kap. 1 A. II. 1. [Bd. 1, Fn. 107]). 3869 Richtig Magiaracina, Giudizio in absentia, S. 213 ff. 3870 Ähnlich de lege ferenda für Italien Magiaracina, Giudizio in absentia, S. 337 ff. 3871 Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme, Rn. 81; abl. bzgl. der überlangen Verfahrensdauer OLG Celle NStZ-RR 2010, 251. 3872 So etwa Kaiafa-Gbandi, FS Bemmann, S. 578. 3873 Zwei (nicht miteinander vereinbare) Erklärungsansätze bei Greco, StraFo 2010, S. 56 f.; ders. FS Wolter, S. 79 f.

6. Kap.: Auflösung der materiellen Rechtskraft

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notwendigen Verteidigers oder des Dolmetschers, sprengen so offensichtlich die Grenzen methodengerechter Gesetzesanwendung, dass sie von vornherein nur de lege ferenda gemacht worden sind. aa) Bei richterlichen Pflichtverletzungen ist der hier viel erwähnte Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 3 StPO einschlägig. Auf das Problem, dass das Gesetz erst bei einer strafbaren Pflichtverletzung zur Wiederaufnahme bereit ist, wird sogleich zurückzukommen sein (u. IV. 1. [S. 953 ff.]). bb) In den wenigen Fällen, in denen die Verletzung der Verfahrensgerechtigkeit zugleich eine ist, die erst vom EGMR behoben wird, wird gelegentlich auch § 359 Nr. 6 StPO weiterhelfen können. Überwiegend hält man allein denjenigen für antragsberechtigt, der seine Beschwerde vor dem EGMR erfolgreich durchgeführt hat.3874 Es ist aber nicht ersichtlich, worauf diese im Wortlaut nicht angelegte Einschränkung beruhen soll. Nach einer großzügigeren, wahrscheinlich vorzugswürdigen Auslegung käme es in erster Linie darauf an, ob das Urteil auf einer festgestellten Konventionsverletzung beruht, was bei Dritten, die nach einer nachträglich für konventionswidrig erklärten ständigen Praxis behandelt werden, auch der Fall sein kann.3875 cc) Häufig wird man sich auf die Vorschrift des § 359 Nr. 5 StPO berufen können; hat man schon akzeptiert, dass Freispruch im Sinne der Vorschrift auch Einstellung bedeutet (s. o. II. 2. d) [S. 915 f.]), dann wird wenigstens in den Fällen, in denen die Verletzung der Verfahrensgerechtigkeit auch auf einem tatsächlichen Irrtum beruht, diese Vorschrift den zwar ungeraden, aber immerhin gangbaren Weg der Verwirklichung der Verfahrensgerechtigkeit bieten. Man verwertet ein erfoltertes Geständnis entgegen § 136a Abs. 3 S. 2 StPO, von der Folterung hat man aber erst nach Eintritt der Rechtskraft erfahren. b) Das Hauptproblem ist die Konstellation des rein rechtlichen Verfahrensfehlers, also des Verfahrensrechtsanwendungsfehlers. Diese Konstellation hat wiederum zwei Varianten: die des Willensfehlers – man weiß vom erfolterten Geständnis, verwertet es trotzdem – die keine (theoretischen, sondern nur praktische) Probleme aufwirft, weil man wieder bei § 359 Nr. 3 StPO landet; und die des rechtlichen Wissensfehlers, also die Situation, in der das Gericht in voller Kenntnis der Tatsachen § 136a Abs. 3 S. 2 StPO schlicht übersieht, also nicht einmal von dem Verwertungsverbot weiß. Die Korrektur dieser zuletzt genannten Fehlergruppe ist in der Tat nicht einfach; die Schwierigkeiten verlaufen weitgehend parallel zu denjenigen, die schon o. III. 3. c) dd) (S. 950 f.) bei der Wiederaufnahme wegen Verletzung des Schuldprinzips bei materiellen Rechtsfehlern diskutiert worden sind. Die Literatur hat zahlreiche Versuche gemacht, Verfah3874

Etwa W. Schmidt, KK-StPO § 359 Rn. 40; Gössel, LR-StPO § 359 Rn. 194. Ebenso Weigend, StV 2000, S. 388; Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme, Rn. 281; wohl auch Ambos, NStZ 2002, S. 628; nur de lege ferenda Esser, StV 2005, S. 354. 3875

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

rensrechtsanwendungsfehler wiederaufnahmetauglich zu machen.3876 Die bereits für materiellrechtliche Fehler gemachten Vorschläge tauchen hier wieder auf: Lampe versuchte, die Statthaftigkeit einer Verfassungsbeschwerde gegen grob ungerechte Verfahrensfehler zu begründen,3877 K. Peters konnte auch sie unter dem Dach seines Begriffs der Prozesstatsachen erfassen,3878 der Gesetzesentwurf der SPD-Fraktion wollte einen Wiederaufnahmegrund des „schwerwiegenden Verfahrensfehlers“ anerkennen.3879 Einige der III. 3. c) dd) (S. 950 f.) bei materiellrechtlichen Fehlern gegebenen Wege scheinen hier verschlossen zu sein. § 79 Abs. 1 BVerfGG soll nach verbreiteter Auffassung nur materiellrechtliche Fehler korrigieren;3880 überzeugende Gründe, weshalb dies der Fall sein soll, werden indes nicht angeboten. Dennoch lässt sich die obige Gedankenführung zum rechtlichen novum nicht wirklich auf grundlegende Verfahrensfehler übertragen. Die Ideallösung wäre also ein klärendes Wort des Gesetzgebers im Sinne der Wiederaufnahmefähigkeit eines jeden Urteils, das auf einer Verletzung einer fundamentalen Verfahrensnorm beruht. Es fragt sich nur, ob diese auch seit jeher geforderte Gesetzesreform sich einer Generalklausel (etwa: „schwerwiegende/offensichtliche/rechtsstaatlich unerträgliche Verfahrensfehler“) bedienen sollte,3881 oder ob sie vielmehr die einzelnen Verletzungen konstitutiver Regeln der Verfahrensgerechtigkeit aufzählen sollte. Eine Generalklausel wäre nicht zu empfehlen. Der bessere Weg dürfte derjenige der ausdrücklichen Benennung einzelner Verfahrensverstöße sein, die eine Wiederaufnahme rechtfertigen. Es erscheint klar, dass diese Reform erst erfolgen sollte, sobald Klarheit darüber gewonnen wird, um welche Fehler es geht. Hier ist bloß ein erster, vorläufiger Versuch in diesem Sinne gemacht worden. IV. Positivrechtliche Zusatzbemerkungen Auf das schwierige Entsprechungsverhältnis zwischen der materiellen Tiefenstruktur der Wiederaufnahme und den positivrechtlichen Regelungen des Wiederaufnahmeverfahrens ist o. A. I. (S. 855 f.) hingewiesen worden. An vorliegender 3876

Überblick in Conde Correia, Caso julgado, S. 216 ff. Lampe, GA 1968, S. 43 ff., 45. 3878 Peters, Fehlerquellen III, S. 54 f. 3879 BT-Drs. 13/3594, S. 6 – dazu gehört eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter, des Doppelbestrafungsverbots, des Öffentlichkeitsgrundsatzes und der Unschuldsvermutung. Bei den zwei zuerst Genannten decken sich die Erwägungen mit den hier entwickelten (s. o. III. 4. a) aa) [S. 946 ff.], c) [S. 949 ff.]). 3880 BVerfGE 11, 263 (265); LG Hannover NJW 1970, 288 (289); Röhl, NJW 1960, S. 180; Loos, AK-StPO vor § 359 Rn. 29; W. Schmidt, KK-StPO vor § 359 Rn. 24; Bethge, in: M/SB/K/B-BVerfGG § 79 Rn. 36. 3881 So J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 133: Verletzung der „für ein rechtsstaatliches Verfahren unverzichtbaren Regeln“ oder „der rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsätze“. 3877

6. Kap.: Auflösung der materiellen Rechtskraft

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Stelle sollen offen gebliebene positivrechtliche Fragen, die sich nicht in die bisherige Darstellung eingliedern ließen, kurz angesprochen werden. 1. Nicht wiederaufnahmefähige Willensfehler O. II. 3. b) aa) (S. 919 f.), III. 4. a) aa) (S. 944 f.) wurde ausgeführt, dass zwischen den Anforderungen des Schuldprinzips und dem Erfordernis des novums eine nur teilweise Deckung besteht. Gerade die gravierendsten Verletzungen des Schuldprinzips können sehenden Auges, also aufgrund „alter“ Tatsachen oder Beweismittel erfolgen. In einem solchen Fall wird zwar § 359 Nr. 5 StPO nicht mehr einschlägig sein.3882 Das positive Recht lässt den Betroffenen aber nicht hilflos zurück, sondern stellt den Wiederaufnahmegrund der Amtspflichtverletzung zur Verfügung (§ 359 Nr. 3 StPO). Aus der Sicht des Schuldprinzips besteht somit ein Ergänzungsverhältnis zwischen der Wiederaufnahme propter nova und der wegen Amtspflichtverletzung; Erstere kümmert sich um den richterlichen Wissensfehler, diese um den weitaus gefährlicheren Willensfehler. Weil der Willensfehler zugleich und in erster Linie eine Verletzung der Verfahrensgerechtigkeit verkörpert, ist es nicht zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber seine Behebung einer anderen Vorschrift zuweist. Das Problem liegt konkret darin, dass das Gesetz eine Wiederaufnahme erst bei einer „strafbaren“ Amtspflichtverletzung für begründet erachtet und dass die Rechtsprechung den deshalb einschlägigen Straftatbestand der Rechtsbeugung (§ 339 StGB) bekanntlich äußerst restriktiv interpretiert. Nur dann, wenn die Gerichtsperson sich in bewusst und schwerwiegender Weise von Recht und Gesetz entfernt habe, soll der Straftatbestand der Rechtsbeugung zur Anwendung kommen.3883 Das bedeutet, dass der bewusste, aber nicht so schwerwiegende Fehler nicht mehr im Wege der Wiederaufnahme korrigiert werden kann. Die Abneigung der Gerichte gegenüber der Wiederaufnahme (s. o. B. V. 4. [S. 892 ff.]) wird durch die Abneigung der Gerichte gegenüber der Anwendung des Rechtsbeugungstatbestands potenziert; § 359 Nr. 3 StPO ist deshalb der „vergessene Wiederaufnahmegrund“ genannt worden.3884 Aus der Perspektive des Abwägungsansatzes mag man mit diesem Zustand keine Probleme haben: Dem Betroffenen wird vielmehr zugemutet, gewisse, 3882 Anders J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 98 f., der meint, dieser Wiederaufnahmegrund sei auch deshalb entbehrlich, weil die richterliche Pflichtverletzung eine neue Tatsache darstellt. Mit dem Argument könnte man jede Verletzung materiellen oder prozessualen Rechts im Wege der § 359 Nr. 5 StPO geltend machen: Es gäbe dann eine „Tatsache“ i. S. des § 359 Nr. 5 StPO, dass sich das Gericht etwas Falsches ausgedacht hat. 3883 BGHSt 41, 247 (251); 47, 105 (109); näher zum Meinungsspektrum Uebele, MK-StGB § 339 Rn. 26 ff. 3884 Bock u. a., GA 2013, S. 341.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

nicht so schwerwiegende Fehler im Namen der Rechtssicherheit bzw. des Rechtsfriedens hinzunehmen (s. o. B. III. [S. 875 f.]). Ist aber einmal klar geworden, dass es hier nicht bloß um ein Interesse an materieller Wahrheit geht, sondern um das Recht des Beschuldigten, seiner Schuld entsprechend behandelt zu werden, dann lässt sich die Lückenhaftigkeit des Schutzes des Schuldprinzips nicht mehr übersehen und erst recht nicht gutheißen. Der Wiederaufnahmegrund der richterlichen Amtspflichtverletzung ist nicht bloß die letzte Chance eines jeden Verurteilten, das ihm zustehende rechtsstaatliche Verfahren zu bekommen, sondern auch die des (im weiten Sinne3885) Unschuldigen, trotz eines Willensfehlers seiner Unschuld entsprechend abgeurteilt zu werden. Die dringende Frage ist dann, wie man die Lücke schließen kann. De lege lata bietet sich nur eine Möglichkeit an: Der Rechtsbeugungstatbestand müsste extensiver ausgelegt werden. Ansätze in diesem Sinne gibt es viele.3886 Die Lücke wäre erst geschlossen, wenn jeder Willensfehler, d. h. wenn jede bewusste Entscheidung gegen das Recht eine Rechtsbeugung und deshalb eine strafbare Amtspflichtverletzung i. S. v. § 359 Nr. 3 StPO verkörpern würde. Dies wäre zweifelsohne drastisch; man darf nicht übersehen, dass die Verurteilung wegen Rechtsbeugung zugleich zur Aufhebung des Richterverhältnisses führt und dass die Gründe, weshalb die Rechtsprechung den Rechtsbeugungstatbestand restriktiv interpretiert, keineswegs abwegig zu sein scheinen.3887 Der bessere Weg wäre deshalb einer, der nur de lege ferenda gangbar erscheint. Die Koppelung von § 359 Nr. 3 StPO und § 339 StGB müsste gelockert werden. Das Erfordernis der strafbaren Amtspflichtverletzung müsste gestrichen werden. An ihrer Stelle sollte man nicht von disziplinarischer Verletzung sprechen,3888 sondern bloß davon, dass die Amtspflichtverletzung bewusst gewesen sein muss. Damit hätte man eine lückenlose nachträgliche Garantie des Schuldprinzips eingerichtet: Der nicht bewusste Fehler führt zur Wiederaufnahme propter nova, die direkt über die Beachtung des Schuldprinzips wacht; der bewusste Fehler führt zur Wiederaufnahme wegen Amtspflichtverletzung, die eigentlich auf Erwägungen der Verfahrensgerechtigkeit zurückführbar ist, indirekt aber zugleich dem Schuldprinzip zugutekommt. Damit dürfte zugleich den Vorschlägen, diesen Wiederaufnahmegrund wegen seiner praktischen Bedeutungslosigkeit zu streichen,3889 der Wind aus den Se3885 Zu den drei möglichen Formen der Verletzung des Schuldprinzips s. o. II. 1. (S. 901 f.). 3886 Siehe etwa Erb, FS Küper, S. 35 ff. 3887 Ob dies letztlich der Fall ist, kann hier nicht geklärt werden; der restriktiven Haltung der Rspr. grds. zustimmend etwa Uebele, MK-StGB § 339 Rn. 40. 3888 So aber v. Hentig, Wiederaufnahmerecht, S. 28. 3889 J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 99; SPD-Gesetzesentwurf, BT-Drs. 13/ 3594, S. 3, 5 f.

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geln genommen werden. Die Logik des Vorschlags ist abstrus: Ihr zufolge sollte man auch keinen Feuerlöscher im Auto haben, weil es äußerst unwahrscheinlich ist, dass man ihn gebrauchen wird. Notfalllösungen sind nicht deshalb entbehrlich, weil der Notfall zum Glück nicht eintritt; eine Rechtsordnung muss für den durchaus denkbaren Fall, dass ein Richter „eine Verurteilung . . . um jeden Preis im Auge hatte“,3890 eine Lösung haben. Die vorgeschlagenen Änderungen könnten dadurch, dass sie den Wiederaufnahmegrund von den Fesseln der restriktiven Handhabung des Rechtsbeugungstatbestands befreien, dazu beitragen, dass öfter an den vergessenen Wiederaufnahmegrund erinnert wird. 2. Zur Tiefenstruktur bestimmter Wiederaufnahmegründe Wir haben uns bemüht, die Wiederaufnahme zugunsten auf die zwei Grundgedanken des Schuldprinzips und der Verfahrensgerechtigkeit zurückzuführen. Dass hiermit nicht das ganze positive Recht abgedeckt werden konnte, dass wichtige Aspekte der positivrechtlichen Regelungen, wie die Wiederaufnahme bei Maßregeln oder bei Toten, außer Betracht blieben, wurde ohne Weiteres eingeräumt (o. A. I. [S. 853 f.]). Im Vordergrund unserer Darstellung standen vor allem einerseits § 359 Nr. 5 StPO, als wichtigstes Medium für die Korrektur von Verletzungen des Schuldprinzips (und zugleich die von der lebenden Leiche des § 363 StPO dagegen aufgestellten Hindernisse), und andererseits § 359 Nr. 3 StPO, als wichtigstes Medium zur Korrektur von Verletzungen der Verfahrensgerechtigkeit. Es ist auch klar geworden, dass sich die positivrechtlichen Vorschriften nicht allein auf diese hier zugeschriebenen Primäraufgaben beschränkt haben. § 359 Nr. 5 StPO hat zugleich bestimmte Verfahrensfehler zum Gegenstand, vor allem Verletzungen des Anklageprinzips, die zu einer endgültigen Verfahrenseinstellung führen; § 359 Nr. 3 StPO schützt seinerseits das Schuldprinzip gegen Verletzungen, die sehenden Auges zugefügt werden. Von anderen Bestimmungen, insbesondere von § 359 Nr. 1, 2 und 4 StPO war aber relativ wenig die Rede; das soll jetzt nachgeholt werden. Die nachträgliche Aufhebung eines zivilrechtlichen Urteils, auf das das Strafurteil gegründet ist (Nr. 4), kann man unproblematisch als novum ansehen und auf das Schuldprinzip zurückführen. Die Fälle der Nr. 1, 2 StPO haben hingegen eine auf den ersten Blick proteusartige Natur. Zum einen lassen sie sich auf den Gedanken der Korrektur einer Verletzung des Schuldprinzips zurückführen. Vielfach werden sie als Spielarten der Wiederaufnahme wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel eingeordnet.3891 Frühere Reformentwürfe schlugen deshalb vor, sie als entbehrlich ab-

3890

So der Fall in LG Lübeck NJW 1998, 2685. Schwarze, NArchCrimR 1851, S. 561; E. Mayer, Wiederaufnahme, S. 50; Rieß, NStZ 1994, S. 155; bzgl. § 359 Nr. 4 StPO Giehl, Wiederaufnahme, S. 48; Winkler, GS 78 (1911), S. 342; O. L. Walter, Wahrheit und Rechtskraft, S. 79. 3891

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zuschaffen.3892 Dass eine in der Hauptverhandlung zu Ungunsten des Betroffenen als echt vorgebrachte Urkunde sich nachträglich als unecht oder verfälscht herausstellt (Nr. 1), ist in der Tat ein novum; ebenso verhält es sich bei einer belastenden Aussage eines Zeugen oder Sachverständigen, die sich nachträglich als Meineid oder Falschaussage entpuppt (Nr. 2). Vor allem Peters versuchte sie aber als Verfahrensmängel, als Verletzungen der Justizförmigkeit des Verfahrens zu begreifen,3893 wohl in dem Bestreben, einen gesetzlichen Präzedenzfall für die von ihm umkämpfte Korrektur von Verfahrensfehlern auszumachen. Diese Zuordnung hat aber das Problem, dass diese Prozessverletzungen nicht die Qualität der o. III. 4. (S. 945 ff.) beschriebenen Verletzungen der Verfahrensgerechtigkeit haben, die allein eine Wiederaufnahme zu tragen vermag. Wenn man sie allein auf das Verfahren bezieht und den Schuldbezug außer Acht lässt, dann verändert sich der materielle Gehalt dieses Verfahrensbezugs langsam zu etwas anderem als einer als individuelles Recht verstandenen Verfahrensgerechtigkeit, nämlich zu einer staats- oder gesellschaftbezogenen Größe, wie das Ansehen der Justiz oder der Rechtsfrieden. Deshalb ist es richtiger, sie in erster Linie dem Schutz des Schuldprinzips zuzuordnen.3894

D. Wiederaufnahme zulasten des Beschuldigten Bei der Wiederaufnahme zulasten stellt sich die Lage anders dar. Bereits ihr Existenzrecht ist streitig. Dies leuchtet auch ein: Sie ermöglicht eine zweite Verfolgung wegen derselben Tat und verkörpert also nichts Geringeres als eine Herausforderung des ne bis in idem-Grundsatzes. An erster Stelle wird man sich deshalb damit beschäftigen müssen, ob eine Wiederaufnahme zuungunsten überhaupt Bestand haben kann (u. I.). Auf Grundlage einer Zurückführung dieses Rechtsinstituts auf unsere Erwägungen über den Zusammenhang von Prozessduldung und Rehabilitierung (u. I. 2. [S. 957 ff.]) sollen Wiederaufnahmeziele (u. IV. [S. 971 f.]) und -gründe (u. V.–VII. [S. 972 ff.]) entwickelt werden. I. Grundsätzliches Die vorrangige Aufgabe ist es, zu klären, ob dieses in vielen Rechtsordnungen unbekannte Rechtsinstitut überhaupt legitimierbar ist.

3892 Etwa E 1909, 1919 bzgl. § 359 Nr. 4 StPO (zust. Schultz, JR 1929, S. 234); E 1929 bzgl. aller drei, s. den Text in E. Mayer, Wiederaufnahme, S. 50 (zust.); BT-Drs. 13/3594, S. 5 f.; ebenso Deml, Wiederaufnahme, S. 106, 108. 3893 Peters, Fehlerquellen III, S. 47 f. 3894 Insofern zust. Deml, Wiederaufnahme, S. 191, der zutreffend den „nicht rein formellen Charakter“ dieser Wiederaufnahmegründe betont.

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1. Die herrschende Auffassung Das herrschende Konzept bleibt in den bekannten Bahnen (s. o. B. III. [S. 871 ff.]): Die Rechtskraft verkörpere den Triumph der Rechtssicherheit über die Gerechtigkeit; für Ausnahmefälle müsse aber die Möglichkeit bestehen, die Rechtskraft zu durchbrechen und die Gerechtigkeit zu verwirklichen.3895 Daraus erhofft man sich auch eine Begründung für die für richtig empfundene und auch dem Gesetz zugrunde liegende Asymmetrie zwischen der Statthaftigkeit einer begünstigenden und einer belastenden Wiederaufnahme: Die fehlerhafte Nichtbestrafung des Schuldigen sei eine kleinere Ungerechtigkeit als die Bestrafung des Unschuldigen, und daher wögen die Belange der Rechtssicherheit hier stärker.3896 Das Argumentationsmuster unterscheidet sich nicht wesentlich von demjenigen, das man schon im Rahmen der Erörterung der Wiederaufnahme zugunsten kritisch untersucht hat. Deshalb ist die dort entwickelte Kritik (o. B. III. [S. 873 ff., insb. 874 f.]) auch an der vorliegenden Stelle einschlägig: Insbesondere führt ein solcher Ansatz zu einer Verunklarung der Sachlage, dass es hier nicht bloß um zu maximierende gesellschaftliche Interessen geht, sondern um die Frage nach der Bedeutung und Reichweite eines individuellen Rechts, nämlich des Rechts, nach Erfüllung der Prozessduldungspflicht endgültig in Ruhe gelassen zu werden. 2. Der vorliegende Standpunkt: fehlendes Rehabilitierungsrecht Von dieser Erkenntnis muss man ausgehen. Es geht bei der Rechtskraft in erster Linie um ein individuelles Recht. Sie beruht bei belastenden Entscheidungen, die Gegenstand der soeben behandelten Wiederaufnahme zugunsten sind, auf dem Schuldprinzip und auch auf der Verfahrensgerechtigkeit, bei begünstigenden Entscheidungen, gegen die sich die Wiederaufnahme zuungunsten richten wird, auf dem Rehabilitierungsrecht desjenigen, der eine Verdächtigung hat dulden müssen (o. Kap. 1 D. [S. 371 ff.]). Für die Wiederaufnahme zuungunsten kommt es also allein darauf an, inwiefern dem Betroffenen kein solches Rehabilitierungsrecht zusteht. Zur Vermeidung von Missverständnissen sei daran erinnert, dass auch ein Schuldspruch im Wege einer belastenden Wiederaufnahme angegriffen werden 3895 Auch der EGMR beruft sich explizit auf einen derartigen Standpunkt, um die Vereinbarkeit der Wiederaufnahme zulasten und dem Menschenrecht des fairen Verfahrens darzulegen, s. etwa EGMR Savinskiy v. Ukraine, Beschw. Nr. 6965/02, v. 28.2. 2006 Rn. 23; Radchikov v. Russland, 65582/01 v. 12.11.2007, Rn. 43; Giuran v. Rumänien, Beschw. Nr. 24360/04, v. 21.9.2011, Rn. 30; Ianos v. Rumänien, Beschw. Nr. 8258/05 v. 12.10.2011 Rn. 41. 3896 Etwa Eisenberg, JR 2007, S. 361.

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kann, weil er milder ausgefallen ist, als er hätte ausfallen können. Wir haben klargestellt (o. Kap. 3 B. [S. 637 ff.], Kap. 4 F. II. 1. b) [S. 784 f.]), dass in dieser Konstellation, in der das Verfahren mit einer Verurteilung endet, nicht von Rehabilitierung im eigentlichen Sinne gesprochen werden sollte. Der Grund, weshalb der Schuldige kein erneutes Verfahren wegen derselben prozessualen Tat dulden muss, ist, dass die Erduldung des ersten Verfahrens dasjenige war, wozu seine Schuld verpflichtet hatte; es gibt eine Prozesserduldungsschuld, die durch die Duldung des Verfahrens getilgt wird. Weil aber beide, Rehabilitierung und Tilgung der Verfahrenserduldungsschuld, auf der gleichen Voraussetzung (der vollen Duldung des Verfahrens) beruhen und dieselbe Reichweite (der gesamten prozessualen Tat) haben, werden wir grundsätzlich nur von Rehabilitierung sprechen, sozusagen als pars pro toto für das Recht, nach voller Verfahrenserduldung wegen der ganzen prozessualen Tat nie mehr verfolgt zu werden. Die Rehabilitierung ist aber kein voraussetzungsloses Recht. Sie ist als „Gegenleistung“ charakterisiert worden, zu der ein Staat verpflichtet ist, der sich das Recht zuspricht, Bürger zu verdächtigen. Die Pflicht des Bürgers, das Verfahren zu dulden, kann ihrerseits nur dann gerechtfertigt werden, wenn dem Bürger am Ende des Verfahrens aus rechtlicher Sicht nichts weggenommen wird. Es besteht also ein Zusammenhang zwischen Duldung der Verdächtigung und Rehabilitierung (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 6., D. [S. 315]). Die Kehrseite dieses Zusammenhangs ist die Begründung der Wiederaufnahme zulasten: Der Staat schuldet keine Rehabilitierung, wenn der Beschuldigte nicht seine Vorleistung der Duldung der Verdächtigung erbringt. Das bedeutet, dass eine Wiederaufnahme zulasten nur legitimierbar sein wird, wenn der Beschuldigte seine Pflicht, das Verfahren zu erdulden, verletzt hat.3897 Auch dann, wenn das Verfahren nur zum Schein durchgeführt wird, ist es in erster Linie Sache des Staates, sich um ein effektives Verfahren zu kümmern. Der Betroffene hat keine Mitwirkungspflichten am Verfahren. Er muss nicht zu der Formulierung oder Bestätigung der gegen ihn geäußerten Verdächtigung beitragen. Er muss aber das Verfahren dulden, und das bedeutet insbesondere, dass er das Verfahren nicht aktiv sabotieren darf. Erst wenn er dies tut, wird es nicht mehr möglich sein, von einer Duldung des Verfahrens zu sprechen, so dass ihm auch kein Rehabilitierungsrecht zusteht. Was dies konkret bedeutet, wird erst u. V. zu klären sein.

3897 Ähnliche Ansätze in Rudstein, MoLR 65 (1995), S. 641 f., der schief von einer Verwirkung spricht; und Grünewald, ZStW 120 (2008), S. 574: Hinwirkung auf ein begünstigendes Urteil durch „zurechenbares rechtswidriges Verhalten“ (ihr zust. Eschelbach, FS Stöckel, S. 223 f.); teilw. a. Rudstein, SDiegoILJ 8 (2007), S. 264 f., der einer Wiederaufnahme zulasten aus anderen Gründen kritisch gegenüber steht.

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3. Grundsätzliche Kritik Die gerade skizzierte Begründung, so präzisierungsbedürftig wie ihre Implikationen auch sind, versetzt uns bereits in die Lage, die gegen die Wiederaufnahme zulasten gerichteten grundsätzlichen Einwände einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Diese Einwände beruhen zum Teil auf der schlichten Dezision, ein derartiges Institut nicht haben zu wollen; der größere und bessere Teil von ihnen versucht, Gründe anzuführen, weshalb man von der ungünstigen Wiederaufnahme die Finger lassen sollte. a) Dezisionistische Einwände aa) Terminologische Kritik Dieser Einwand wäre kaum einer Erwähnung wert, wenn er einem nicht so häufig begegnen würde. Vor allem in Staaten, die keine Wiederaufnahme zulasten kennen, wird unbekümmert behauptet, dass der ne bis in idem-Grundsatz schon per se eine Wiederaufnahme zulasten ausschließe.3898 Das ist aber eine willkürliche Festlegung, die sich nicht auf die rationes des Grundsatzes zurückführen lässt. Wenn man diese rationes aber erwähnt, insbesondere den Gedanken des Beschuldigtenschutzes, dann hat man diese Ebene hinter sich gelassen. Dass auch dieses auf den esten Blick attraktive Argument nicht zu überzeugen vermag, wird uns gleich näher beschäftigen (s. u. b) cc) [S. 965 ff.]). bb) Verfassungsrechtliche Kritik Das auf vorpositiver Grundlage gewonnene Ergebnis müsste aber in einer Rechtsordnung wie der deutschen mit der Bestimmung des Art. 103 Abs. 3 GG verträglich sein. Diese Vorschrift, die das Verbot der doppelten „Bestrafung“ derselben Tat enthält, das genauer als Verbot der doppelten Verfolgung zu charakterisieren wäre (s. bereits o. Kap 5 B. [S. 839 ff.]), sieht ähnlich wie die ihr unmittelbar vorgehende Bestimmung des Art. 103 Abs. 2 GG, die den nulla poenaGrundsatz enthält, keine Ausnahmen vor. Dennoch soll dies keine Absage an jede Wiederaufnahme zulasten bedeuten;3899 vielmehr sollen nach überwiegender Auffassung die Vorschriften über die Wiederaufnahme zuungunsten eine zulässige Ausnahme von Art. 103 Abs. 3 GG verkörpern. In der Sprache der Grundrechtsdogmatik: Ein Eingriff in den Schutzbereich des Doppelbestrafungs3898 So Bertelotti, Ne bis in idem, S. 117 f.; Troisi, Errore giudiziario, S. 99; Kato, ZIS 2006, S. 354 (für weitere Vertreter dieser Auffassung in Japan s. die Nachw. in Tjong, Wiederaufnahme, S. 398); ähnl. Dünnebier, FS Peters II, S. 346 (Wortlaut von Art. 103 Abs. 3 GG); Lozzi, Lezioni, S. 765. 3899 So nur Dünnebier, FS Peters II, S. 346; Neumann, FS Jung, S. 655 ff., 666 f.; zweifelnd auch Hörnle ZStW 117 (2005), S. 824; Scherzberg/Thiée, ZRP 2008, S. 81.

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verbots wird überwiegend bejaht,3900 der Eingriff soll aber gerechtfertigt sein.3901 Wie kann das verfassungsrechtlich möglich sein? (1) Ein verbreitetes Argument verweist auf den Willen des historischen Grundgesetzgebers hin: es sei nicht die Absicht des Grundgesetzes oder seiner Väter gewesen, durch die Einführung der Bestimmung des Art. 103 Abs. 3 GG die in der StPO vorhandenen Regelungen für verfassungswidrig zu erklären.3902 Ihnen ging es vielmehr bloß darum, den „Auflockerungstendenzen“ der nationalsozialistischen Zeit einen klaren Riegel vorzuschieben. Man verweist auf das meistens in anderen Zusammenhängen ausgesprochene dictum, dass das Grundgesetz die StPO grundsätzlich in ihrem vorverfassungsrechtlichen Zustand rezipiert habe.3903 Einige sind der Auffassung, dass die vorhandenen Vorschriften über die Wiederaufnahme zulasten gerade noch verfassungsgemäß seien; eine Erweiterung sei verfassungsrechtlich unzulässig.3904 Die Fragwürdigkeit dieses Arguments lässt sich – hier wie auch schon o. Kap. 2 B. IV. 8. (S. 422 ff.) bezüglich der Bestimmung des Tatbegriffs – nicht übersehen.3905 In letzter Konsequenz führt es dazu, das Strafprozessrecht auf den Stand vom 22. Mai 1949 zu petrifizieren.3906 (2) Andere versuchen, die von der h. M. vertretene Begründung der Wiederaufnahme als Sieg der Gerechtigkeit über die Rechtssicherheit verfassungsrechtlich 3900 Etwa Kniebühler, Ne bis in idem, S. 35; Nolte, v. Mangoldt/Klein/Starck-GG Art. 103 Rn. 222; Pabst, ZIS 2010, S. 127; Schöch, FS Maiwald, S. 772. 3901 Man spricht von einer „immanenten Schranke“ des Arts. 103 Abs. 3 GG, etwa Schulze-Fielitz, Dreier-GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 32; Degenhart, in: Sachs-GG, Art. 103 Rn. 84; Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck-GG, Art. 103 Abs. 3 Rn. 223. 3902 Kunig, in: v. Münch/Kunig-GG, Art. 103 Rn. 47; Schulze-Fielitz, Dreier-GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 32, die meint, dass die beschränkte Rechtskraft des Strafbefehls, die spätestens seit 1987 nicht mehr besteht (s. o. Kap. 4 F. II. 9. [S. 812]), deshalb verfassungskonform sei; Marxen/Tiemann, ZIS 2008, S. 192; Schmidt, KK-StPO § 362 Rn. 3. 3903 BVerfGE 3, 248 (252); 12, 62 (66); BGHSt 3, 13 (16); 5, 323 (329). 3904 Eisenberg, JR 2007, S. 361; Schulze-Fielitz, Dreier-GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 32; Schmidt, KK-StPO § 362 Rn. 3; Schmidt-Aßmann, M/D-GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 270; ähnl. Loos, AK-StPO vor § 359 Rn. 2: allenfalls geringfügige Erweiterungen seien zulässig; Kunig, in: v. Münch/Kunig-GG, Art. 103 Rn. 47 nur aus Gründen des Opferschutzes, also um die Erfüllung einer grundrechtlichen Schutzpflicht willen, sei eine Erweiterung legitimierbar; abl. Bertel, Identität der Tat, S. 189; Ziemba, Wiederaufnahme, S. 157; J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 82. 3905 Am ausführlichsten Neumann, FS Jung, S. 656 ff.; ferner Ziemba, Wiederaufnahme, S. 157; Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 164 ff.; Eschelbach, FS Stöckel, S. 222 f.; Geppert, GA 1972, S. 173; J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 82, der an die 1950 erfolgte Erweiterung von § 362 Nr. 2 StPO auf vorsätzliche uneidliche Falschaussagen erinnert, deren Verfassungsmäßigkeit niemand anzweifelt; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 78 ff.; Grünewald, ZStW 120 (2008), S. 569; Letzgus, FS Geppert, S. 793 f., der sich aber im Sinne einer Erweiterung der Wiederaufnahme zuungunsten ausspricht. 3906 Radtke, Strafklageverbrauch, S. 80 f.; Neumann, FS Jung, S. 660.

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zu überhöhen, indem sie sagen, Art. 103 Abs. 3 GG kenne eine immanente „Unerträglichkeitsgrenze“.3907 Für verfassungsrechtliche Fragen hat sich die vorliegende Untersuchung zwar nur am Rande interessiert. Dennoch muss auf die methodische Fragwürdigkeit einer Vorgehensweise hingewiesen werden, die es erlaubt, in alle Bestimmungen des Verfassungsgesetzgebers Kostenvorbehalte hineinzulesen. Diese Vorgehensweise bedeutet nichts anderes als eine Auflösung der wenigen unabwägbaren Positionen, auch dort, wo sich die Verfassung durch eine vorbehaltslose Formulierung der jeweiligen Vorschrift zu ihnen bekannt haben sollte. Der Seitenblick auf die sich im Rahmen von Art. 1 Abs. 1 GG entfaltende Diskussion über die Zulässigkeit der sog. Rettungsfolter bestätigt nur diese Befürchtung: Denn in der Sache begrenzen diejenigen, die sich im Sinne der Rechtmäßigkeit der Folterung von Gäfgen oder eines um die tickende Zeitbombe wissenden Terroristen aussprechen, die Achtung der ebenfalls schrankenlos gewährten Menschenwürde durch eine Art „verfassungsimmanenter“ Unerträglichkeitsgrenze.3908 Die verfassungsdogmatischen Details müssen den Verfassungsrechtlern überlassen werden. Hier muss der Hinweis reichen, dass die hier angebotene vorpositive Begründung auch einen Anhalt zur Interpretation des Art. 103 Abs. 3 GG liefern kann. Die Vorschrift wird ihrem Wortlaut nach schon von vornherein nicht ernst genommen, da sie nur verbietet, dass jemand „mehrmals bestraft“ wird; diese Wendung wird richtigerweise nicht als Bestrafung, sondern als Verfolgung verstanden. Man könnte deshalb gut sagen, dass eine Wiederaufnahme zuungunsten nicht gegen Art. 103 Abs. 3 GG verstößt, wenn keine „Bestrafung“ im Sinne einer ernsthaften und auch vom Beschuldigten geduldeten Verfolgung stattgefunden hat. Widersetzt sich der Beschuldigte unzulässig dem Verfahren, dann handelte es sich beim Erstverfahren in der Sache um ein Scheinverfahren. Im materiellen Sinne ist das Zweitverfahren doch das erste Verfahren. Das ist genau der Inhalt der hier vorgeschlagenen Legitimation der Wiederaufnahme zuungunsten. Dies hätte den zusätzlichen Vorteil, dass das Recht des Art. 103 Abs. 3 GG nicht nach dem allgemeinen Schema der Grundrechtsdogmatik behandelt würde, 3907 Grdl. Dürig, in M/D-GG, für mich leider nicht greifbar (s. o. Fn. 2707), zit. nach Schmidt-Aßmann, M/D-GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 270 Fn. 22, der ihm folgt; im selben Sinne, meistens mit Berufung auf Dürig P. Herzog, Rechtskraft, S. 100 f.; Ziemba, Wiederaufnahme, S. 79; J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 82; U. Schneider, NStZ 2004, S. 651; Eisenberg, JR 2007, S. 361; Schulze-Fielitz, Dreier-GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 32; Degenhart, in: Sachs-GG Art. 103 Rn. 84; Schmidt, KK-StPO § 362 Rn. 1. Interessant erschiene es, die wenig beachtete Kontinuität zu bedenklichen vorverfassungsrechtlichen Argumentationen herauszuarbeiten, die in der Sache das Gleiche vertraten, nur in der Wortwahl („gesundes Volksempfinden“) anders vorgingen, s. Niederreuther, GS 113 (1939), S. 325; Hall, DRW 1941, S. 326 f. 3908 Etwa Brugger, JZ 2000, S. 169; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck-GG, Art. 1 Abs. 1, Rn. 79; w. N. zur nicht nur mittels der Kategorien der Verfassungsdogmatik durchgeführten Diskussion bei Greco, GA 2007, S. 628 ff.

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das zwischen Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung des Eingriffs unterscheidet.3909 Vielmehr wäre man hier bei dem Modell, das für „absolut“ gewährte Rechte (wie Art. 1 Abs. 1 GG, sofern man es überhaupt als Grundrecht interpretiert; und Art. 103 Abs. 2 GG) das allein passende ist: Bei einem Eingriff in den Schutzbereich liegt bereits eine ungerechtfertigte Verletzung vor. Dennoch lässt sich trotz der erwähnten Vorbehalte nicht wegleugnen, dass beide Standpunkte aus verfassungsdogmatischer Sicht methodengerecht vertreten werden können. Das Argument aus der Unerträglichkeitsschranke beruht materiell nicht auf dem Verfassungstext, sondern auf dem bereits dargestellten und kritisierten Abwägungsansatz (s. o. B. III. [S. 871 ff.], D. I. 1. [S. 957 f.]). Die eigentliche Kritik ist also die, die bereits gegen den Abwägungsansatz formuliert worden ist. Die verfassungsdogmatische Diskussion betrifft eher die positivrechtliche Einkleidung, in der sich die materiellen, vorpositiven Gesichtspunkte äußern werden, die eigentlich maßgeblich sind. Die Kategorie der verfassungsimmanenten Schranke der Unerträglichkeit setzt materiell eine Stellungnahme zugunsten des Abwägungsansatzes voraus; die hier skizzierte alternative Auslegung des Grundgesetzes geht ihrerseits von der hier formulierten Rechtskraftlehre aus. Es ist deshalb oberflächlich, den Streit, der schon per se die Grenzen des Verfassungstextes sprengt, so austragen zu wollen, als ginge es um Auslegung, als könnte man ohne eine anspruchsvollere Theorie auskommen.3910 (3) Weitere verfassungsrechtliche Argumente sind noch fragwürdiger und können unaufwändig entkräftet werden. Es wurde behauptet, die Wiederaufnahme zulasten verletze das Rechtsstaatsprinzip.3911 Mehr als eine Behauptung ist das nicht; mit gleichem Recht hätte man sagen können, das Rechtsstaatsprinzip, wozu auch die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege gehört (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. V. 1. [S. 219, 227 f.]), gebiete es, Verbrechern kein Schlupfloch zu bieten.3912 In Italien ist auch der Versuch unternommen worden, die Unzulässigkeit der Wiederaufnahme zulasten auf die ausdrücklich im Verfassungstext vorgesehene Unschuldsvermutung zurückzuführen.3913 Derjenige, der nach einem Verfahren freigesprochen wird, müsse unwiderleglich als unschuldig angesehen werden. Die Unschuldsvermutung hat aber im vorliegenden Zusammenhang 3909

Etwa Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 118 ff. Kritik dieser Neigung in Greco, Verfassungskonformes oder legitimes Strafrecht, S. 26 ff. 3911 J. Maier, GS Arm. Kaufmann, S. 791; ders. FS Hirsch, S. 941. 3912 Nahezu beleidigend war indes die Reaktion auf diese Argumente (zu Recht krit. Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck-GG, Art. 103 Abs. 3 Rn. 222 Fn. 184): So hat man gesagt, dass der Standpunkt angesichts der Erfahrungen mit Diktaturen verständlich sei (Loos, AK-StPO vor § 359 Rn. 2), oder dass Deutschland rechtsstaatlicher sei als Länder Südamerikas (Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 362). Diese Art von Replik bedeutet die Disqualifizierung des Gegners wegen dessen Herkunft. 3913 Jannelli, Revisione, S. 660 f.; Cavallaro, DPP 2010, S. 1111; zu Recht abl. Corte Costituzionale GiurCost 2008, 1506 (1517 f.). 3910

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nichts zu suchen. Diese Argumentationsweise ist eine weitere Instanz der o. Teil 1 Kap. 1 C. (S. 107 ff.), Teil 2 Kap. 4 E. III. 3. a) (S. 766 f.) bereits mehrmals festgestellten und kritisierten Verwechselung der Rechtsschutzperspektive mit der Perspektive der Gründe.3914 cc) Ideologische Kritik Noch weniger richtig und eigentlich kaum diskussionsfähig sind verbreitete Versuche, die Frage nach der Legitimierbarkeit der Wiederaufnahme zulasten in die weltanschauliche Arena hineinzutragen, als verkörpere dieses Rechtsinstitut eine Stellungnahme zugunsten einer kollektivistisch-autoritären und gegen eine liberal-individualistischen Staats- und Strafprozessauffassung.3915 Dies ist aus mehreren Gründen verfehlt, und zwar sowohl methodisch als auch materiell. Denn methodisch bedeutet es eine Degradierung einer Frage der Gründe zu einer Sache der Entscheidung und zuletzt auch der Macht. Eine kollektivistischautoritäre Staatsauffassung darf man sowieso nicht vertreten, weil sie den Anspruch des Individuums verfehlt, staatliches Handeln ihm gegenüber zu rechtfertigen; sie ist also bereits objektiv falsch und keine Frage persönlicher Entscheidung (s. o. Teil I A. II. 4., S. 66 ff.). Und materiell ist es sowohl möglich, eine Wiederaufnahme zulasten aus kollektivistischen, besser: instrumentalisierenden Gründen abzulehnen, als auch eine solche unter Beachtung der Rechte des Individuums zu vertreten. Den besten Beleg für die erste Möglichkeit bietet die Begründung der faschistischen itStPO v. 1930, weshalb man sich doch nicht für eine Wiederaufnahme zulasten zu entschließen vermochte.3916 Zwar sei ihre Einführung „gewiss attraktiv für denjenigen, der die Interessen des Staates über alle andere setzt und der in ihr ein Mittel erblickt, den oft schwerwiegenden Skandal einer verfälschten Straflosigkeit wiedergutzumachen, . . .“. Dennoch müsse sich das Gesetz „für diejenigen Interessen entscheiden, die für die Sicherheit und Ruhe der Gesellschaft von höherer Bedeutung“ seien, und ein solches Interesse sei die „Unberührbarkeit der Gerichts3914 Krit. auch Callari, Firmitas, S. 274 ff., der zu Recht von einer „forzatura ermeneutica“ (S. 275) spricht. Für weitere Beispiele, die nicht einmal eine Widerlegung verdienen, s. Cavallaro, DPP 2010, S. 1110, demzufolge die Wiederaufnahme zulasten dem resozialisierenden Zweck der Strafe (Art. 28 Abs. 3 itVerf) zuwiderlaufe; und, diesmal in umgekehrter Richtung, den Versuch, aus dem verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgebot die Erforderlichkeit einer Wiederaufnahme zulasten abzuleiten, Gemma, RitDPP 1983, S. 50 ff. 3915 So sogar J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 69; Gemma, RitDPP 1983, S. 47, 49; Callari, CassPen 2006, S. 1638 ff.; ders. Firmitas, S. 276, 279, 284 ff., die alle für die grundsätzliche Legitimität der Wiederaufnahme zuungunsten eintreten; noch weiter geht Hörnle, ZStW 117 (2005), S. 824, mit kulturrelativistischem Einschlag – Italien, Spanien und Frankreich hätten eine eher prinzipienorientierte Rechtskultur. 3916 Alf. Rocco, Relazione, S. 113; zust. Granata, GiustPen 1950/3, Sp. 56 f.

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urteile“. Zudem sei die Wiederaufnahme zulasten nicht einmal nötig, weil dort, wo die Justiz gebunden sei, die Polizeibehörden (autorità di publica sicurezza) immer noch gegen den Beschuldigten vorgehen könnten. b) Rationalistische Einwände Auf höherem Niveau lässt sich über die Argumente diskutieren, die weniger auf eine gegen die belastende Wiederaufnahme getroffene Entscheidung hinweisen, sondern vielmehr Gründe anzuführen versuchen. aa) Begriffskonstruktivistische Kritik Man könnte wieder konstruktivistisch anfangen und die These formulieren, dass das Recht, Strafklage zu erheben, nach seiner Ausübung verbraucht sei. Daraus folge, dass die Strafklage nur einmal erhoben werden dürfe und dass die Wiederaufnahme zu Ungunsten unzulässig sei.3917 Dieses Argument überzeugt genauso wenig wie sonstige aus bloßen Begriffen herausgeholte Thesen. Man könnte mit demselben Recht behaupten, dass eine Strafklage, die unter bestimmten Bedingungen, insbesondere einer vom Beschuldigten veranlassten Störung, erhoben und ausgetragen wird, nicht im eigentlichen, hier maßgeblichen Sinne des Wortes verbraucht worden ist. Das Recht auf Strafklage wäre als ein Recht auf eine ungestörte Entwicklung des Verfahrens, als ein Recht auf Verfahrenserduldung zu definieren. Welche der beiden Konstruktionen vorzugswürdig sein wird, entscheidet sich nicht auf der konstruktiven, sondern auf der materiellen Ebene (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. II. 1. [S. 141], Problem des Esels des Buridan). bb) Gesellschaftsorientierte Kritik Der Schritt auf die Ebene des Normativen lässt sich auch hier nicht vermeiden. Eine Reihe von Autoren versucht auf dieser o. Kap. 1 C. III. (S. 157 ff.) sog. ersten Rechtfertigungsstufe darzulegen, dass die Wiederaufnahme zuungunsten dem gesellschaftlichen Interesse eher abträglich sei. Das Hauptargument soll die Erwägung sein, dass die Verurteilung des Unschuldigen einen völlig andersartigen Sozialschaden verkörpere als die Nichtverurteilung des Schuldigen.3918 Dies kann man als plausibel hinnehmen; daraus würde indes nur folgen, dass beide Formen der Wiederaufnahmen nicht auf gleichen Voraussetzungen beruhen 3917

Fazy, Revision, S. 105. Arnold, GS 3/1 (1851), S. 50; Marquardsen, GS 3/2 (1851), S. 39 f.; Fazy, Revision, S. 104; Orano, Revisione, S. 87; Sotgiu, Revisione, S. 55 ff.; Berenini, NuDigIt XVIII (1939), S. 527 (hier liege kein Fehlurteil [errore giudiziario], sondern ein gerichtlicher Fehlschlag [insuccesso giudiziario] vor); Maunoir, Revision, S. 173 f.; Cortés Domínguez, Derecho procesal penal, S. 572; ähnl. A. Binder, Revisión, S. 305. 3918

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dürfen, dass also die Wiederaufnahme zugunsten großzügiger geregelt sein muss als die Wiederaufnahme zulasten.3919 cc) Individualorientierte Kritik Das verbreiteteste Argument beruft sich nicht auf die Interessen der Gesellschaft, sondern auf die des Individuums. Es sei unbillig, auch den bereits Verfolgten auf unbestimmte Zeit unter dem Damoklesschwert einer Erneuerung der Verfolgung leben zu lassen.3920 Die erneute Verfolgung ist für ihn eine besondere Härte: „. . . er wird aufs Neue verhaftet, den Qualen und der Angst einer neuen Untersuchung ausgesetzt und soll sich aufs Neue vertheidigen . . .“ 3921 Eine „Gesetzgebung, welche . . . Humanitätsgefühle sehr berücksichtigen soll, (muss) sich hüten, weitere Rechtsverfolgungen gegen Den eintreten zu lassen, welcher durch Urtheil und Recht bereits freigesprochen ist“.3922 Man weist ferner darauf hin, dass es dem Freigesprochenen nicht zugemutet werden könne, Entlastungsbeweise aufzubewahren, ganz zu schweigen von denjenigen, die nicht aufbewahrt werden können, sondern den Zeitablauf nicht zu überleben vermögen.3923 Man könnte auch anführen, dass das Bewusstsein, dass der Freispruch endgültig sei, zur Disziplinierung bzw. Sanktionierung der Verfolgungsbehörden beitragen könne. Das Interesse des Verfolgten kann aber auch hier nicht maßgeblich sein (s. o. Kap. 1 C. IV., V. [S. 212 f., 213 ff.]). Vor allem ist daran zu erinnern, dass alles andere zu bedeuten hätte, dass nicht einmal ein erstes Verfahren zulässig sein dürfte. Und Disziplinierung hat im Zusammenhang der Rechtskraftlehre nichts zu suchen (s. o. Kap. 1 C. VI. [S. 358 ff.]). Dies nicht nur, weil die These empirisch fragwürdig erscheint;3924 Sanktionierung ist Zufügung eines Nachteils an den, der sich falsch verhalten hat, und nicht die Gewährung eines Vorteils an jemand anderen (s. o. Teil 1 Kap. 1 B. II. 6. [S. 83]). 3919

Ähnl. Ravizza, DigIt XX/2 (1913), S. 127. Hélie, Traité III, S. 535; Marquardsen, GS 3/2 (1851), S. 40; Berner, GS 1855, S. 475; Carrara, Rejudicata, S. 514 f.; Orano, Revisione, S. 93; Lacoste, Chose jugée, S. 319; Berenini, NuDigIt XVIII (1939), S. 527; Maunoir, Revision, S. 174; Normando, Giudicato, S. 24. 3921 Arnold, GS 3/1 (1851), S. 51 (mit einer salvatorischen Bemerkung auf S. 53 Fn.: Im Fall der Mitwirkung des Angeklagten an der Fälschung von Beweismitteln ließe sich eine Wiederaufnahme „noch einigermaßen rechtfertigen“); vergleichbare Erwägungen bei Remeis, Wiederaufnahme, S. 79 ff. (auch mit derselben salvatorischen Bemerkung, S. 82). 3922 Arnold, GS 3/1 (1851), S. 50. 3923 Fazy, Revision, S. 104; Sotgiu, Revisione, S. 59; Maunoir, Revision, S. 175 f. 3924 Man erinnere sich nur, dass man mit gleicher Plausibilität behaupten könnte, dass in einem Verfahrenssystem ohne Wiederaufnahme die Gerichte dazu geneigt sein könnten, nicht freizusprechen, Engisch, bei Eckert, ZStW 84 (1972), S. 949; Deml, Reform, S. 138; Dippel, Wiederaufnahme, S. 73; Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 364. 3920

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dd) Vermittelnde Auffassungen Gelegentlich versucht man beide, die sozial- und individualorientierte Perspektive, miteinander zu verbinden. Bei der Wiederaufnahme zugunsten bestehe die besondere Situation, dass die Interessen von Gesellschaft und Einzelnem einander entsprechen; anders sei dies bei der Wiederaufnahme zuungunsten.3925 Daraus folgt aber nicht, dass sie nicht sein dürfe, sondern nur, dass eine Partei notwendigerweise enttäuscht sein wird. Welche, lässt sich auf Grundlage einer rein interessenbezogenen Betrachtung nicht definitiv entscheiden; es scheint aber mehr dafür zu sprechen, dass eine interessenorientierte Betrachtung sich schon wegen des Umstands, dass das Individuum hier die zahlenmäßig unterlegene Partei ist, im Sinne des gesellschaftlichen Interesses entscheiden müsste. ee) Gerechtigkeitsorientierte Kritik Wenn man die Diskussion nicht in Kopfzählung, d.h. in faktische Machtbemessung auflösen möchte, muss man den Schritt auf die nächste, hier sog. dritte Rechtfertigungsstufe versuchen. Hier wird auf die im ganzen Erstverfahren bestehende Situation der Waffenungleichheit hingewiesen und daraus gefolgert, dass die Unterlegenheit des Beschuldigten nur noch verschlimmert würde, wenn der Staat weitere Verfolgungsversuche vornehmen dürfte.3926 Gelegentlich wird das Argument in die Sprache einer wettkampforientierten Verfahrensauffassung eingekleidet (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 2. d) bb) ([S. 246 ff.]): Der Staat hatte seine Chance; seine Niederlage im Erstverfahren muss er jetzt hinnehmen: „When the game is over, it’s over“.3927 Die Metapher des Verfahrens als eines Wettkampfes ist irreführend und schon aus diesem Grunde zurückzuweisen (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 2. d) bb) [S. 246 ff.]). Aber auch das andere, ohne diese Metapher auskommende Argument vermag nicht zu überzeugen. Es kann Situationen geben, in denen der Beschuldigte derart auf das Verfahren einwirkt, dass von einer Unterlegenheit nicht mehr die Rede sein kann. Diese Einsicht führt ohne Zwischenschritte zu der hier formulierten Begründung der Wiederaufnahme zulasten. Zuletzt gibt es eine Reihe von Stellungnahmen, die darauf hinweisen, dass die Verurteilung des Unschuldigen ein quantitativ schlimmeres oder qualitativ ver-

3925 Cristiani, Revisione, S. 264 f.; zust. Vanni, Enc. Dir. XL (1991), S. 165 f.; Presutti, Revisione, S. 2. 3926 Orano, Revisione, S. 89; Sotgiu, Revisione, S. 64; Vanni, Enc. Dir. XL (1991), S. 166; wohl auch Eb. Schmidt, in: Eckert, ZStW 84 (1972), S. 947; nahestehend Maunoir, Revision, S. 175 f.; J. Maier, GS Arm. Kaufmann, S. 793 f.; und Goltdammer, GA 1858, S. 521, wobei Letzterer die Schlussfolgerung der Unzulässigkeit einer Wiederaufnahme zulasten nicht zieht. 3927 Amar, YLJ 106 (1997), S. 1815.

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schiedenes Übel sei als die Freisprechung des Schuldigen. So wurde jüngst von Troisi behauptet, dass eine falsche Verurteilung auch „materielle Ungerechtigkeit“ verkörpere, weil sie die Unschuldsvermutung berühre, die falsche Freisprechung dagegen nicht, weil alle vor dem Verfahren sowieso als unschuldig gelten.3928 Aus solchen Argumenten, die durchaus von einer zutreffenden Einsicht getragen sind, folgt indes keine Unzulässigkeit der Wiederaufnahme zulasten, sondern nur, dass ihre Voraussetzungen andere sein müssen als die einer Wiederaufnahme zugunsten. 4. Rechtspolitik der Wiederaufnahme zuungunsten Die Wiederaufnahme zuungunsten wird aber noch aus einer anderen Perspektive heraus angegriffen, nämlich der rechtspolitischen. Ohne dass ihre grundsätzliche Legitimierbarkeit in Frage gestellt wird, wird vorsichtig vorgeschlagen, ihre Abschaffung zumindest „zu erwägen“.3929 Vor allem werden zwei Argumente angeführt, ein praktisch orientiertes und ein rechtsvergleichendes. Zwar ist auch Rechtspolitik etwas, wofür man sich im Rahmen dieser Arbeit eher am Rande interessiert; in den hier benutzten Begriffen geht es bei ihr um „Billigkeit“ (s. o. Teil 1 Kap. 1 A. I. [S. 52]). Weil aber die hinter dieser rechtspolitischen Argumentation stehende Einstellung sich auch dogmatisch niederschlagen kann, empfiehlt es sich, sich mit diesem Streit wenn auch nur kursorisch zu beschäftigen. a) Praktische Bedeutungslosigkeit der Wiederaufnahme zuungunsten? Das praktisch orientierte Argument lautet, dass Wiederaufnahmen zuungunsten äußerst selten seien.3930 Man brauche sie also nicht.3931 Dagegen wurde nicht ohne Recht eingewandt, dass die Wiederaufnahme als außerordentlicher Rechtsbehelf gerade für Ausnahmefälle gedacht sei.3932 „So zu argumentieren bedeutet, Statistik statt Dogmatik zu betreiben“.3933 Grund zur Sorge bestünde vielmehr, wenn Wiederaufnahmen zulasten häufiger wären. Im Grunde genommen ist dieses Argument aus einem weiteren, noch tieferen Grund von zweifelhafter Bedeutung. Dass Wiederaufnahmen zuungunsten selten sind, ist erfreulich. Gerade weil die Wiederaufnahme zuungunsten das Rehabili3928

Troisi, Errore giudiziario, S. 94. Rieß, FS Schäfer, S. 216; ders. NStZ 1994, S. 159. 3930 J. Meyer, ZStW 84 (1972), S. 930 (ausdrücklich aufgegeben in J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 87); Hauser, in: Eckert, ZStW 84 (1972), S. 947; Dünnebier, FS Peters II, S. 347; Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck-GG, Art. 103 Abs. 3 Rn. 222; nahestehend auch Knoche, DRiZ 1971, S. 299; J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 75. 3931 Maunoir, Revision, S. 179. 3932 Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 363 f.; Grünewald, ZStW 120 (2008), S. 571: „Paradoxon“. 3933 Grünewald, ZStW 120 (2008), S. 571. 3929

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tierungsrecht des Betroffenen in Frage stellt, und nicht, wie (zum Teil) die Wiederaufnahme zugunsten, materiellrechtlich begründet ist, ist bereits der Anfang eines Verfahrens der Wiederaufnahme zuungunsten als Gefahr für die Rechte des Betroffenen anzusehen. Die Zulassung einer Wiederaufnahme zugunsten vermag höchstens eine Verletzung der Verfahrensgerechtigkeit zu begründen; diese kann der Staat aber ohne Weiteres verkraften. Die Zulassung einer Wiederaufnahme zuungunsten steht dagegen unter dem Verdacht, das Rehabilitierungsrecht des Betroffenen zu verletzen. Die Seltenheit von Wiederaufnahmen zuungunsten ist also kein Mangel, sondern vorprogrammiert. Für die rechtspolitische Reformdiskussion ist dieser Umstand deshalb bedeutungslos, weil er nicht auf einen Mangel hindeutet, sondern auf etwas, das so ist, wie es sein sollte. b) Staaten ohne Wiederaufnahme zuungunsten? Verbreitet ist auch ein rechtsvergleichendes Argument: Der Nachweis, dass es einer Wiederaufnahme zu Ungunsten nicht bedarf, werde von den vielen Rechtsordnungen geliefert, die so ein Rechtsinstitut überhaupt nicht kennen.3934 Beispielsweise ist sie in den USA wegen der strengen Deutung, die man dem 5. Amendment amVerf verleiht, inexistent.3935 Auch Frankreich, Italien, die Niederlanden, Spanien, Japan, Argentinien und Brasilien sollen ohne diese Möglichkeit auskommen.3936 Das ist indes ein sehr oberflächliches Argument, das ein mustergültiges Beispiel dafür liefert, wie man nicht einmal Rechtsvergleichung3937 und erst recht nicht universelle Rechtswissenschaft betreiben sollte. Nicht nur wird hier eine Regelung isoliert von einem größeren Zusammenhang als „voller Grund“ angesehen (s. o. Teil 1 Kap. 1 A. II. 1., D. [S. 56, 103]); eine nähere Betrachtung zeigt zugleich, dass keine so entschiedene Ablehnung der belastenden Wiederaufnahme stattfindet, wie man sich vorstellen könnte. aa) Erstens ist bei einigen Rechtsordnungen, die traditionell keine Wiederaufnahme zuungunsten kannten, eine Kehrtwende eingetreten, die für die frühen Verfechter des Arguments zum Teil gewiss überraschend kommt und von den neuen Vertretern nicht hinreichend wahrgenommen wurde. England kennt seit 2003 eine umfassende Wiederaufnahme propter nova für eine Reihe schwerer Straftaten, die mit lebenslänglicher Freiheitsstrafe bestraft werden; die Liste er3934 Lantzke, ZRP 1970, S. 202 Fn. 3; Knoche, DRiZ 1971, S. 299; Dünnebier, FS Peters II, S. 347; J. Maier, GS Armin Kaufmann, S. 790 f.; Neumann, FS Jung, S. 662; Scherzberg/Thiée, ZRP 2008, S. 82; Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck-GG, Art. 103 Abs. 3 Rn. 221. 3935 Ebenso verhält es sich in Japan s. Nose, Strafprozessrecht, S. 191; Kato, ZIS 2006, S. 354. 3936 Siehe etwa Art. 622 franzStPO; Art. 629 itStPO; Art. 457 ff. nlStPO; Art. 954 ff. spanStPO; für Japan s. die letzte Fn.; Art. 479 argStPO; Art. 621 brasStPO. 3937 Ebenso Ziemba, Wiederaufnahme, S. 151.

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fasst nicht nur Tötungsdelikte, sondern sogar bestimmte Sexual- und Drogenstraftaten.3938 In Italien gibt es seit 30 Jahren belastende Wiederaufnahmen in Sonderfällen, nämlich im Bereich der Staatsschutzdelikte3939 und seit 1991 auch bei der organisierten Kriminalität, für den Fall, dass sich nachträglich herausstellt, dass ein Kronzeuge eine Strafmilderung durch Lügen erworben hat.3940 Seit 2001 ist diese Wiederaufnahmemöglichkeit auf den Fall erweitert worden, in dem der Kronzeuge innerhalb der nächsten zehn Jahre eine Straftat bestimmter Schwere begeht.3941 In einigen dieser Staaten, insbesondere in Italien, besteht seit jeher eine rege rechtspolitische Diskussion über die Einführung einer Wiederaufnahme zuungunsten.3942 bb) Zweitens gehen die meisten dieser Rechtsordnungen von engeren Begriffen der prozessualen Tat aus.3943 Das wichtigste Vorbild für die Inexistenz einer Wiederaufnahme zulasten, das französische Recht, hat sich wiederholt für die Zuflucht eines auf den idem crimen beschränkten Tatbegriffs, also für einen inkongruent-dynamischen Tatbegriff entscheiden können (s. o. Kap. 2 D. IV. 2. [S. 486 ff.]), was letztlich nichts anderes bedeutet als eine Wiederaufnahme im materiellen Sinne (s. o. A. II. [S. 856 f.]), die aber „verdeckt“ 3944 stattfindet und deshalb nicht einmal strengeren verfahrensmäßigen Voraussetzungen untersteht. Das, was in Deutschland erst nach einem aufwändigen Verfahren einer Wiederaufnahme zuungunsten verfolgt werden kann, darf in anderen Staaten schlichtweg Gegenstand einer neuen Anklage sein.3945 3938 Siehe Criminal Justice Act 2003, Section 75 ff.; hierzu Roberts, MLR 65 (2002), S. 393 ff.; Fitzpatrick, JCL 2003, S. 149 ff. (abl., ohne wirklich stichhaltige Argumente, S. 154 ff.); Hörnle, ZStW 117 (2005), S. 827; Mangiaracina, LegPen 2006, S. 311 ff.; Swoboda, HRRS 2008, S. 195; Dennis, CLR 2004, S. 625 ff.; Sprack, Criminal Procedure, Rn. 17.56 ff.; s. a. vor der Reform Roberts, IJEP 2002, S. 197 ff. 3939 Art. 10. Gesetz v. 29.5.1982 Nr. 304, Misure per la difesa dell’ordinamento costituzionale. 3940 Zum Ganzen Callari, Firmitas, S. 288 ff.; ders. Revisione, S. 356 ff. m.w. N.; in deutscher Sprache knapp Orlandi, ZStW 108 (1996), S. 434 f.; Parlato, ZIS 2012, S. 519. 3941 Callari, Revisione, S. 361. 3942 Eine Wiederaufnahme zulasten befürworten etwa Ravizza, DigIt XX/2 (1913), S. 127; Leone, RDPP 1956, S. 185 ff.; ders. Trattato III, S. 391; Vanni, LegPen 1993, S. 604 f. Callari, Firmitas, S. 268 stellt für die italienische Literatur sogar eine Tendenz in diesem Sinne fest. 3943 Ziemba, Wiederaufnahme, S. 148 ff.; J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 67; Grünewald, ZStW 120 (2008), S. 573; Swoboda, HRRS 2009, S. 191. Das wird von Kritikern der Wiederaufnahme zulasten gelegentlich eingeräumt, etwa Dünnebier, FS Peters II, S. 347; Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck-GG, Art. 103 Abs. 3 Rn. 222 Fn. 184. 3944 Bereits Tiedemann, Rechtskraftlehre, S. 37 (der aber einen inkongruenten Tatbegriff vertritt, s. o. Fn. 1878); und Ziemba, Wiederaufnahme, S. 5, 124 (zu England), 128 (zu Frankreich). 3945 Siehe auch Ziemba, Wiederaufnahme, S. 165 f.: Wiederaufnahme als der „ehrlichere“ Weg.

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cc) Drittens wird der Kreis der Entscheidungen, die in Rechtskraft erwachsen, unterschiedlich weit gezogen, so dass insbesondere Einstellungsentscheidungen nicht einmal nach den in Deutschland allgemein anerkannten und erst recht nicht nach den hier o. Kap. 4 F. II., III. (S. 777 ff.) vorgeschlagenen Grundsätzen einer Erneuerung des Verfahrens entgegenstehen. Insbesondere scheinen die Staaten des Common Law gerade für einige Fälle, in denen nach der hier entwickelten Theorie eine Wiederaufnahme zulässig sein sollte – also bei Kollusion3946 und Täuschung3947 –, die Figur des unbeachtlichen, in unserer Terminologie: „nichtigen“ Urteils parat zu haben. Das ist nicht einmal eine neue Entwicklung; sog. fraudulent acquittals sind im Common Law seit dem 12. Jahrhundert unbeachtlich. Ursprung dieser Rechtsauffassung dürfte eine Erklärung Henry II. sein, der sich gegen diejenigen wandte, die Gottesurteile manipulierten.3948 In der Lehre werden neue Fallgruppen solcher nichtigen Urteile vorgeschlagen, wie die einer rassisch einseitigen Zusammenstellung der Jury.3949 In England ist inzwischen diese sog. tainted acquittal exception sogar als gesetzlich vorgesehener Wiederaufnahmegrund anerkannt.3950 Und in Amerika wurde in der Entscheidung People of Illinois v. Aleman eine erneute Verfolgung eines Freigesprochenen für erlaubt erklärt, der seinen Freispruch durch Bestechung erkauft hatte.3951 dd) Viertens und besonders aufschlussreich ist auch, dass viele Länder funktionale Äquivalente einer Wiederaufnahme zuungunsten kennen. So besteht in Schottland und Australien die Möglichkeit, bei Sabotierungen des Verfahrens wegen contempt of court zu bestrafen.3952

3946 Morris/Howard, Res judicata, S. 238 mit Nachw.; Amar/Marcus, ColLR 95 (1995), S. 54 ff.; Thomas III, Double Jeopardy, S. 217, 219. 3947 Amar/Marcus, ColLR 95 (1995), S. 54 ff.; Thomas III, Double Jeopardy, S. 35; ausf. Rudstein, MoLR 65 (1995), S. 620 ff., der zwar Stimmen aus dem früheren Schrifttum auflistet, aber kaum Präjudizien vorfindet; er hält in solchen Fällen eine Verwirkungslehre (fortfeiture) für legitimierbar (S. 641 ff.), ist aber der Ansicht, dass sie so selten seien, dass sich die Postulierung einer Ausnahme von dem double jeopardy auch angesichts sonstiger Schwierigkeiten nicht lohne (S. 643 ff.). 3948 Thomas III, Double Jeopardy, S. 79 f. m. Nachw. 3949 Amar/Marcus, ColLR 95 (1995), S. 56 f., am Beispiel des Rodney King-Falls, in dem weiße Polizisten von einer weißen Jury wegen der Misshandlungen eines Schwarzen freigesprochen wurden; s. a. Clark, in: U.S. Supreme Court, Fong Foo v. United States, 369 U.S. 141, 144 (1962), für den Fall, in dem der Berufsrichter den Geschworenen dazu anhielt, den Angeklagten freizusprechen; und ModelPenC, Section 1.11. 3950 Criminal Procedure and Investigations Act 1996, Sections 54 ff.; näher s. Dennis, CLR 2000, S. 949 f.; ders. CLR 2004, S. 629 f.; Rudstein, SDiegoILJ 8 (2007), S. 231 ff.; Swoboda, HRRS 2008, S. 195; Sprack, Criminal Procedure, Rn. 17.54 f. 3951 People of Illinois v. Aleman, 281 Ill. App. 3d 991, 667 N.E.2d 615 (1996); zust. Bouwen Poulin, ArizStLJ 27 (1995), S. 988 ff. 3952 Siehe Swoboda, HRRS 2008, S. 194 f. mit Nachw.; dafür de lege ferenda Eser, in: Eckert, ZStW 84 (1972), S. 948.

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ee) Fünftens muss gefragt werden, ob der rechtsvergleichende Hinweis nicht zu viel aus etwas herausholt, was kaum mehr als geschichtlicher Zufall sein dürfte.3953 Das Nichtvorhandensein der Wiederaufnahme zulasten in Frankreich beruht zum Teil auf der Abkehr vom Inquisitionsverfahren, zum Teil darauf, dass die französische Wiederaufnahme eine Weiterentwicklung der sog. lettres de révision verkörpert, die Ausfluss der königlichen justice retenue waren (s. o. Kap. 1 C. I. [S. 342 f.]), und die schon nach der Ordonnance von 1670 (Titel XVI Art. 8) bloß zugunsten des Betroffenen angewandt werden durften.3954 Und die Verbreitung des französischen Rechts über Kontinentaleuropa beruht wenigstens zum Teil auf dem geschichtlichen Zufall der napoleonischen Kriegserfolge. ff) Sechstens ist das Argument umkehrbar. Zum einen gibt es viele Rechtsordnungen, die eine Wiederaufnahme zuungunsten in einem viel weiteren Umfang für zulässig erklären als das deutsche Strafverfahren (z. B. Österreich, §§ 355, 356 östStPO). Juristen aus Staaten, die keine Wiederaufnahme zuungunsten kennen, könnten sich mit gleichem Recht auf Deutschland berufen, um die heimische Regelung zu diskreditieren.3955 gg) Zuletzt sprechen die auf zwischenstaatlicher Bühne gemachten Erklärungen nicht dafür, dass irgendjemand mit der belastenden Wiederaufnahme schon aus Gründen des Prinzips Probleme hat. Die meisten Staaten, die die Wiederaufnahme zulasten ablehnen, sind Parteien im Vertrag über den Internationalen Strafgerichtshof. Diesem Vertrag liegt aber ein sog. Komplementaritätsgrundsatz zugrunde (Art. 17 IStGHSt), der, wie man bei anderer Gelegenheit ausführlicher belegen wird, in der Sache zu einem guten Teil eine Wiederaufnahme zuungunsten darstellt.3956 Auch Art. 4 Abs. 2 EMRK-ZP 7 lässt die Wiederaufnahme zuungunsten ausdrücklich zu.3957 II. Wiederaufnahmeziel: Verurteilung, Straferhöhung, Wiederholung des Verfahrens Die Verletzung der Prozesserduldungspflicht durch den Beschuldigten kann zu seiner Freisprechung geführt haben, zu einer zu milden Bestrafung oder schlicht zu einem bemakelten Verfahren. An sich ist schon die Beseitigung des zuletzt genannten Zustandes, also die fehlerfreie Wiederholung des Verfahrens, als legiti3953

Rosenblatt, ZStW 26 (1906), S. 102. Siehe Fazy, Revision, S. 15; Grebing, Wiederaufnahme, S. 301; für England mit einem ähnlichen Argument J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 74. 3955 So in der Tat Bouzat, RSC 1964, S. 361. 3956 Dies trotz der Tatsache, dass die Wiederaufnahme zuungunsten im Statut des IStGH formell nicht vorgesehen ist. Sogar Neumann, FS Jung, S. 665 f., der die Verfassungswidrigkeit der Wiederaufnahme zuungunsten vertritt, will sie für Fälle von Staatskriminalität beibehalten. 3957 Daran erinnert auch Schmidt-Aßmann, M/D-GG Art. 103 Abs. 3 Rn. 270. 3954

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mierbares Wiederaufnahmeziel anzuerkennen. Dies tut das positive Recht freilich nur bei der Wiederaufnahme wegen Amtspflichtverletzung, § 362 Nr. 3 StPO. Bei Wiederaufnahmen wegen Beweismittelfälschung, § 362 Nr. 1–2 StPO, muss sich dieser Fehler auf die Endentscheidung wenigstens ausgewirkt haben können (§ 370 Abs. 1 HS. 2 StPO), was auch bedeutet, dass eine Verurteilung oder Straferhöhung als letztes Wiederaufnahmeziel angestrebt werden muss. Es muss aber betont werden, dass die fehlerfreie Wiederholung des Verfahrens immer als Zwischenziel mitangestrebt werden muss; Verurteilung und Straferhöhung sind Endziele, die sich nur im Wege dieses Zwischenziels erreichen lassen. Die Wiederaufnahme zulasten richtet sich eigentlich nie gegen ein Ergebnis, sondern immer zuerst gegen das Verfahren. Für die Straferhöhung gilt auch die Schranke des § 363 Abs. 1 StPO; das heißt, dass mindestens eine Strafrahmenverschiebung nach oben angestrebt werden muss (s. o. II. 2. b) [S. 909]). Noch enger bestimmt der Gesetzgeber die Wiederaufnahmeziele bei der einzigen Form der Wiederaufnahme propter nova zuungunsten, § 362 Nr. 4 StPO: Sie kann nur gegen den Freigesprochenen gerichtet werden, womit auch klar wird, dass nur die Verurteilung, nicht aber die Straferhöhung ein zulässiges Wiederaufnahmeziel darstellt. III. Wiederaufnahmegrund: Fehlen eines Rehabilitierungsrechts 1. Der Leitgedanke: Verletzung der Prozessduldungspflicht a) Die dem Beschuldigten zugutekommende Sperrwirkung gründet sich nicht bloß auf ein „Interesse des einzelnen . . . an Rechtssicherheit“,3958 sondern auf sein Recht auf Rehabilitierung. Rehabilitierung ist wegen der Duldung des Verfahrens geschuldet. Hat der Betroffene also sein Verfahren nicht geduldet, sondern sich ihm rechtswidrig widersetzt, entsteht für ihn am Ende des Verfahrens kein Anspruch darauf, rehabilitiert zu werden bzw. dass der Verdacht getilgt werde. b) Jetzt gilt es, diesen Gedanken zu präzisieren. Man kann bei zwei unbestreitbaren Fixpunkten anfangen. Erstens obliegt dem Beschuldigten keine Pflicht zur aktiven Mitwirkung an seiner Überführung (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 2. d) cc) [S. 257]). Das bedeutet, dass die Prozessduldungspflicht niemals durch schlichtes Unterlassen verletzt werden kann. Wenn überhaupt, kommt erst ein irgendwie qualifiziertes Unterlassen als Verletzung der Verfahrenserduldungspflicht in Betracht. Darauf wird sogleich zurückzukommen sein. Zweitens muss bedacht werden, dass dem Beschuldigten nicht abverlangt wird, dass er die Strafverfolgung widerstandslos ihren Gang gehen lässt; vielmehr steht ihm das Recht zu, sich 3958 So aber Stoffers, ZRP 1998, S. 177, stellvertretend für den herrschenden Abwägungsansatz.

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aktiv zu verteidigen. Dieses Verhalten erfolgt innerhalb des Verfahrens und kann deshalb nicht als Weigerung, das Verfahren zu dulden, gewertet werden. Mit anderen Worten, die aktive Wahrnehmung eines prozessualen Rechts kann niemals eine Verletzung der Prozessduldungspflicht begründen. Aus der Verbindung dieser zwei Fixpunkte gewinnt man die allgemeine Richtlinie: Grundsätzlich ist die Prozessduldungspflicht nur durch prozessrechtswidrigen und nicht schlicht passiven Widerstand gegen das Verfahren verletzt. Präzisierungsbedürftig scheint also zweierlei: Was bedeutet hier prozessrechtswidrig, was schlichte Passivität bzw. schlichtes Unterlassen? aa) Fangen wir mit Letzterem an. Dass aktiver Widerstand der Prozessduldungspflicht zuwider sein kann, dürfte einleuchten. In materiellstrafrechtlichen Begriffen bedeutet das, dass bereits Beihilfe ausreicht. Aus dem materiellen Strafrecht weiß man, dass Unterlassen unter gewissen Bedingungen begehungsgleich sein kann; diese Bedingungen lassen sich materiell auf eine bestimmte Herrschaft über ein hilfsloses Rechtsgut oder über eine Gefahrenquelle zurückführen.3959 Die erste Form der Begehungsgleichheit wird hier nicht einschlägig sein; die Güter, um die es hier geht, also die Rechtspflege, letztlich das Erreichen der Prozessziele der materiellen Wahrheit und der Bestätigung des Ernsts der Strafandrohung (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. III. 2., 3. [S. 167 f., 181 ff.]), werden nicht der Herrschaft des Beschuldigten zugewiesen. Konkret bedeutet das, dass das schlichte Verschweigen der Wahrheit oder eines Beweismittels kein Anknüpfungspunkt für eine Wiederaufnahme sein darf. Dem Beschuldigten kann aber eine Herrschaft über bestimmte Gefahrenquellen für beliebige Güter zukommen, worunter sich auch die Rechtspflege befindet. Sieht er zu, wie sein schuldunfähiger Sohn eine selbst hergestellte falsche Urkunde in das Verfahren einführt, dann muss er dies genauso verhindern, als ginge es um eine beliebige andere aus dieser Gefahrenquelle drohende Rechtsgutsverletzung, wie etwa ein Diebstahl in einem Kaufhaus. Schlichte Unterlassung bedeutet also im vorliegenden Zusammenhang nicht begehungsgleiche Unterlassung; begehungsgleich wird hier nur die Unterlassung eines zur Überwachung einer Gefahrenquelle verpflichteten Beschuldigten sein. Das bedeutet zugleich, dass der Beschuldigte nicht dazu verpflichtet ist, prozessstörende Einwirkungen sonstiger Dritter zu verhindern.3960 bb) Durch die Ausübung eines Rechts verliert man nicht den Anspruch, am Ende des Verfahrens rehabilitiert zu werden. Heißt das aber, dass jedes prozessrechtswidrige Verhalten zum Verlust dieses Anspruchs führen darf? Dass dies zu weit führen dürfte, leuchtet ein. Schon das Preußische Obertribunal hatte einen Fall zu entscheiden, in dem der Angeklagte durch Angabe eines 3959

Näher Schünemann, Grund und Grenzen, S. 231 ff.; Roxin, AT II, § 32 Rn. 17 ff. Anders im Erg. Rudstein, SDiegoILJ 8 (2007), S. 266 f.: Schweigen trotz Kenntnis der Verfahrensmanipulation durch Dritte als Grund, den Schutz des double jeopardy-Grundsatzes zu verwirken. 3960

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falschen Namens der damals geltenden Rückfallschärfung entging.3961 Die Instanzgerichte ließen eine erneute Verfolgung mit der Begründung zu, der Beschuldigte könne keine Rechte aus seiner Arglist herleiten. Dem erwiderte das Preußische Obertribunal, dass das Lügen zulässig sei: „Zu der Aufrichtigkeit und bona fides des bürgerlichen Verkehrs ist der Angeklagte rechtlich nicht verpflichtet; der Anklageprozeß ist ein Krieg, in welchem das Leugnen und Lügen, wenn auch zu den moralisch, doch nicht zu den rechtlich unerlaubten Mitteln gehört“.3962 Heute geht man überwiegend davon aus, dass Lügen prozessrechtswidrig ist, aber sanktionslos bleibt.3963 Wenn man diese an sich keineswegs selbstverständliche Annahme nicht fallen lassen möchte, wenn man nicht mit dem Preußischen Obertribunal ein Recht des Beschuldigten zur Lüge postuliert, wird man irgendwo eine Grenze bestimmen müssen, um Verfahrensrechtsverletzungen, die einen der Gefahr aussetzen, erneut verfolgt zu werden, von Verfahrensrechtsverletzungen zu unterscheiden, die in dieser Hinsicht neutral sind. Das Problem ist nur, dass ein angemessenes, gut begründbares Kriterium kaum ersichtlich sein dürfte. Gesichert erscheint nur, dass sich das Verhalten bewusst gegen die Verfahrenszwecke, insbesondere die Wahrheitsfindung richten muss. Dass dies nicht ausreichen darf, liegt auf der Hand, wenn man bedenkt, dass dies die Lüge auch tut. Ferner gibt es eine Reihe von wahrheitsfindungsbezogenen negativen Prozesspflichten des Beschuldigten (etwa die Pflicht, die Beweislage nicht zu verdunkeln, § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO, oder beweiserhebliche Gegenstände herauszugeben, § 95 Abs. 1 StPO3964), und es ginge bestimmt zu weit, wenn die Verletzung dieser Pflichten per se eine Wiederaufnahme legitimieren würde. Denkbar erscheint, in der Strafbarkeit des prozessrechtswidrigen Verhaltens dasjenige zu erblicken, was die Wiederaufnahme erst zu rechtfertigen vermag. Es erscheint dennoch rätselhaft, weshalb sich eine unwahrscheinliche, aber denkbare Abschaffung der Urkundendelikte auf das Rehabilitierungsrecht des Betroffenen auswirken soll. Die Frage dürfte eine sein, die nicht durchgehend von Gründen bestimmt ist (s. bereits Teil 1 Kap. 1 A. I. [S. 50 f.]); der Gesetzgeber verfügt über einen Spielraum, der anscheinend nur durch Dezision konkretisiert werden kann. Der Gesetzgeber wird deshalb selbst bestimmen müssen, welche Prozessrechtsverletzungen er für derart schwerwiegend erachtet, dass er in ihnen einen Anlass erblickt, das Verfahren zu wiederholen. Er muss einen nicht erweiterungsfähigen Katalog der eine Wiederaufnahme begründenden Verfahrensverstöße vorsehen.3965 3961

Preußisches Obertribunal, GA 1855, 385. Preußisches Obertribunal, GA 1855, 385 (389). 3963 Nachw. o. Fn. 753. 3964 Die in ihrem Kern sich trotz positiver Phänotypik als negative Pflicht zu erkennen gibt, da ihre Nichterfüllung erzwungen werden kann, § 95 Abs. 2 StPO. 3965 And. J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 91, der Fälle, die jeden vorausschauenden Gesetzgeber überraschen können – er nennt den Fall der Nötigung des Richters 3962

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Dass nur das Vorbringen einer unechten oder verfälschten Urkunde eine Wiederaufnahme rechtfertigt, nicht aber die (ebenfalls strafbare) Unterdrückung einer belastenden Urkunde (§ 274 StGB) oder die nur prozessrechtswidrige, nicht notwendig strafbare Verletzung der Editionspflicht des § 95 Abs. 1 StPO, oder dass eine Wiederaufnahme nur bei einer strafbaren falschen begünstigenden Aussage des Zeugen zulässig sein soll, nicht aber bei der durch eine schuldausschließende Nötigung herbeigeführten und deshalb straflosen Aussage3966 oder der Verhinderung der belastenden Aussage durch Tötung des Zeugen, das ist eine zu respektierende Entscheidung des Gesetzesgebers, der von seinem an sich bestehenden Recht, das Verfahren erneut aufzugreifen, nur unter den von ihm selbst festgelegten Bedingungen Gebrauch machen darf. Festlegen muss er diese Bedingungen aber schon. c) Drei Einwände sollten bereits an dieser Stelle behandelt werden. aa) Wir haben gesagt, dass nur ein zumindest nach den Grundsätzen des unechten Unterlassungsdelikts auf den Beschuldigten zurückführbares und rechtswidriges Verhalten eine Wiederaufnahme zu rechtfertigen vermag. Damit wird aber die Gefahr begründet, dass der Beschuldigte durch den prozessstörenden Eingriff eines anderen prämiiert wird.3967 Auch dann, wenn er mit der Störung nichts zu tun haben sollte, ist er ihr wahrer Nutznießer. Die Rechtsordnung sei nicht daran gebunden, jemandem alle Vorteile zu überlassen, die er unverdient durch rechtswidriges Verhalten anderer bekommt. Zudem würde die Beschränkung auf ein Handeln des Beschuldigten den Weg für Umgehungen eröffnen.3968 Wenn aber Rehabilitierung als Gegenleistung des Staates für die Vorleistung des Beschuldigten geschuldet ist (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 6. d) [S. 315]), dann ist nicht ersichtlich, wieso etwas, worauf der Beschuldigte keinen Einfluss hatte und vielleicht nicht einmal haben konnte, in diesem Zusammenhang von Relevanz sein kann. Entscheidet sich ein Dritter aus eigener Initiative, eine Urkunde zu fälschen und in das Verfahren einzuführen oder falsch auszusagen (§ 362 Nr. 1, 2 StPO), dann kann es sogar sein, dass der Beschuldigte nichts davon mitbekommt und dass er deshalb nichts dagegen unternehmen kann. Das bedeutet, dass der Gedanke, der Beschuldigte dürfe nicht durch rechtswidriges Verhalten Dritter prämiiert werden, noch weiter geht, als dem Beschuldigten die Pflicht aufzuerlegen, aktiv an seiner Überführung mitzuwirken. Der Gedanke bürdet ihm das Risiko auf, erneut verfolgt zu werden, weil sich etwas ereignet hat, das durch den Angeklagten, von dem u. Fn. 4027 die Rede sein soll –, mittels der Lehre vom nichtigen Urteil lösen möchte. 3966 Näher u. VI. 2. (S. 986 f.). 3967 Ziemba, Wiederaufnahme, S. 166; Grünwald, ZStW-Beiheft 1974, S. 102 f.; Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 230 f.; Dennis, CLR 2000, S. 950. 3968 Schwarze, NArchCrimR 1851, S. 581; Ziemba, Wiederaufnahme, S. 169 f.; Swoboda, HRRS 2009, S. 193; ebenso Motive, in: Hahn/Mudgan, Materialien, S. 264.

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nicht völlig unter seiner Kontrolle stand. Damit kann man sich zugleich von jedem Anspruch verabschieden, das Verfahren gegenüber diesem Beschuldigten zu rechtfertigen.3969 Die Berufung auf Umgehungsgefahren spitzt dieses Problem nur zu: Man kann jemandem nicht deshalb ein ihm zustehendes Recht entziehen, weil ein anderer dieses Recht möglicherweise missbräuchlich wahrnehmen könnte. bb) Ein zweiter klassischer Gegeneinwand ist das Argument, dass ein Verfahren, in dessen Schoß schwere Fehler, sogar Straftaten begangen worden sind, einen Makel aufweist, der es gebieten kann, das Verfahren zu wiederholen, und dies unabhängig davon, ob der Beschuldigte etwas mit dem Fehler zu tun hatte. „Es soll nicht eine Verschuldung des Angeklagten durch die Wiederaufnahme des Verfahrens gebüßt werden, sondern es soll der Fehler, daß das Urtheil auf einem solchen Beweismittel beruht, aufgehoben werden“.3970 „Von der Rechtsgemeinschaft kann jedoch nicht erwartet werden, daß sie ein auf strafbaren Handlungen basierendes Urteil akzeptiert.“ 3971 Eine solche Sichtweise mag vor allem für eine autoritätsorientierte Rechtskraft- und Wiederaufnahmelehre einleuchten; diese ist jedoch ihrerseits inakzeptabel (s. o. Kap. 1 C. I. [S. 338 ff.]; Kap. 6 B. II. [S. 866 ff.]). Das gerade entwickelte Argument ist aber auch hier einschlägig: Es ist keine Aufgabe des Beschuldigten, sich um die Makellosigkeit des Verfahrens zu kümmern. In materiellstrafrechtlichen Begriffen: Das Argument macht den Beschuldigten zum Beschützergaranten einer makellosen Strafverfolgung und zieht ihn sogar dann zur Verantwortung, wenn er von dem Makel nicht einmal wissen konnte. cc) Ein drittes Argument weist in die genau umgekehrte Richtung. Vor allem Jürgen Meyer meint, dass das verfahrensrechtswidrige Verhalten des Beschuldigten nicht eine erneute Verfolgung rechtfertige, sondern vielmehr eigenständig geahndet werden sollte. Meistens wird die Bestrafung wegen des einschlägigen Fälschungsdelikts schon möglich sein; zusätzlich sollte man die Einführung einer Vorschrift gegen den contempt of court in Erwägung ziehen.3972 Das Problem dieses Einwands liegt auf der Hand. Es ist nicht einerlei, ob der Mörder, der falsche Urkunden eingesetzt oder zu falschen Zeugenaussagen angestiftet hat, ein zweites Verfahren wegen des materiell nicht verfolgten Mordes oder nur wegen des Urkunden- oder Aussagendelikts fürchten muss. Wenn darauf repliziert wird, man könnte dem möglicherweise gegebenen Mord im Rahmen der Strafzumessung für die anderen Delikte Rechnung tragen,3973 dann entpuppt sich der Vor3969 Ähnl. Kritik auch bei J. Meyer, ZStW 84 (1972), S. 927; Deml, Wiederaufnahme, S. 146 (bzgl. § 362 Nr. 1, 2 StPO); Grünewald, ZStW 120 (2008), S. 575. 3970 v. Schwarze, Wiederaufnahme, S. 342; ähnl. Swoboda, HRRS 2009, S. 193. 3971 Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 230 f. 3972 J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 89 f. 3973 J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 89.

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schlag wohl nicht nur als eine Verletzung des Schuldprinzips, sondern auch als etwas Unehrliches.3974 2. Wiederaufnahme propter nova zuungunsten? Das in Deutschland geltende Recht kennt bei der Wiederaufnahme zuungunsten keine dem § 359 Nr. 5 StPO vergleichbare Vorschrift. „Neue Tatsachen oder Beweismittel“, die geeignet sind, die Unrichtigkeit einer günstigen Entscheidung darzulegen, reichen für eine gegen den Beschuldigten gerichtete Wiederaufnahme des Verfahrens de lege lata nicht aus. Beim nachträglichen Geständnis statuiert das geltende Recht eine Ausnahme (§ 362 Nr. 4 StPO). Es fragt sich, ob es damit auch de lege ferenda sein Bewenden haben sollte. Dies wird seit Generationen in Frage gestellt.3975 Schon Binding sprach von der „schreienden Ungerechtigkeit“ des fehlerhaften Freispruchs, die der Ungerechtigkeit einer fehlerhaften Beurteilung kaum nachstehe.3976 Er forderte deshalb die Anerkennung einer Wiederaufnahme propter nova zuungunsten, was auch zur Weimarer Zeit bei einigen Autoren Gefolgschaft gefunden hat.3977 Vor allem im Dritten Reich plädierte man unter Berufung auf den Gedanken der materiellen Wahrheit und Gerechtigkeit für eine symmetrische Ausgestaltung der begünstigenden und belastenden Wiederaufnahme.3978 Diese Forderungen wurden 1943 durch die „3. Verordnung zur Vereinfachung der Strafrechtspflege“ sogar geltendes Recht.3979 In der Nachkriegszeit plädierten Peters und Henkel für

3974 Richtig Ziemba, Wiederaufnahme, S. 165 f.; nicht überzeugende Replik in J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 90 Fn. 517. Als argumentum ad hominem könnte man noch anführen, dass Meyer wohl nur bereit ist, die Wiederaufnahme in solchen Fällen nicht anzuerkennen, weil er sich die Notlösung der Wiederaufnahme propter nova zuungunsten offenhält (s. J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 90), die im nächsten Abschnitt (u. 2.) dargelegt werden soll, sich aber nicht legitimieren lässt. 3975 Zum Ganzen auch Ziemba, Wiederaufnahme, S. 206 ff. 3976 Binding, Strafurteil, S. 339 f. (Zitat S. 340); krit. Grünewald, ZStW 120 (2008), S. 548. 3977 Binding, Strafanspruch, S. 297 f., 339 f., 351; Ackermann, 36. DJT, S. 295 (der mit dem Gedanken der Gleichheit der Parteien argumentiert); Hellwig, 36. DJT Bd. 2, S. 239; v. Hentig, Wiederaufnahmerecht, S. 117 f., 276 f. Fn. 3. 3978 Doerner, Wiederaufnahme, S. 430 ff.; Siegert, DStR 1935, S. 289 f.; Peters, ZStW 56 (1935), S. 63: „Der größte Mangel des geltendes Rechts besteht in der verschiedenartigen Behandlung der Wiederaufnahme zugunsten und zuungunsten des Angeklagten“; Freisler, DJ 1937, S. 731, 733; Lobe, GS 110 (1938), S. 254 f.; E. Wolter, Rechtskraft, S. 45; Niederreuther, GS 113 (1939), S. 328; H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 51 f., 74 f.; s. a. Dahm, Freisprechendes Urteil, S. 26, für Erleichterung der Wiederaufnahme bei Freisprüchen „zweiter Klasse“. Zum Ganzen Ziemba, Wiederaufnahme, S. 66 ff. 3979 Siehe Ziemba, Wiederaufnahme, S. 69 mit Nachw.; für Beibehaltung Schönke, SchwZStR 62 (1947), S. 95.

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eine erweiterte Wiederaufnahme,3980 und vor Kurzem hat sich vor allem Letzgus im Rahmen eines von ihm sog. „Plädoyers für Einzelfallgerechtigkeit“ für eine nicht auf bestimmte nova eingeschränkte Wiederaufnahme zu Ungunsten stark gemacht.3981 Gelegentlich schlägt man vor, die Zulässigkeit der Wiederaufnahme propter nova auf bestimmte schwerere Deliktskategorien zu beschränken, etwa Verbrechen3982 oder Mord und Völkermord.3983 Außerhalb Deutschlands haben vor allem Anhänger des spezialpräventiven Täterstrafrechts diesen Standpunkt vertreten.3984 Viele Staaten gehen in dieser Hinsicht mit der Rechtskraft lässiger um als Deutschland: So kennen Österreich, Finnland und Polen die Wiederaufnahme propter nova zuungunsten (§ 355 Nr. 2 östStPO, 356 östStPO3985; Kap. 31 Sec. 9 finnGVG; Art. 540 polStPO). Auch in der jüngsten Vergangenheit sind meistens unter dem Eindruck konkreter Einzelfälle Plädoyers für die sektorielle Einführung einer Wiederaufnahmemöglichkeit bei bestimmten neuen Tatsachen oder Beweismitteln gemacht worden. Mit diesen speziellen Formen der Wiederaufnahme wird man sich erst u. VII. (S. 993 ff.) beschäftigen. Der hier vertretene Standpunkt steht schon von vornherein fest.3986 Aus unserer Perspektive beruht dieser Vorschlag auf einer gründlichen Verkennung des Rehabilitationsrechts des Beschuldigten, der sich schon einmal einem Verfahren gestellt hat. Dieses Rehabilitationsrecht als individuelles, deontologisch begründetes Recht (s. o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 6. d) [S. 310 ff.]) setzt sich gegen jeden Versuch durch, soziale Interessen (hier insbesondere der materiellen Wahrheit, die ihrerseits im Dienste der Abschreckungsgeneralprävention steht) zu verfolgen. Eigentlich sprechen dieselben Gründe, die zur Überwindung der absolutio ab instantia geführt haben, gegen die belastende Wiederaufnahme propter nova.3987

3980 Peters, Strafprozeß, S. 671; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 395 Fn. 5 (vorsichtig); ebenso Pfenninger, Rechtsmittel, S. 342 f.; Stoffers, ZRP 1998, S. 177, 178. 3981 Letzgus, FS Geppert, S. 796 ff. 3982 v. Hentig, Wiederaufnahmerecht, S. 117 f., 277 Fn. 3; er wollte sie auch bei politischen Delikten ausschließen (S. 110, 118); Wasserburg, Wiederaufnahme, S. 289. 3983 J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 84; SPD-Gesetzesentwurf Drs. 12/6219, S. 2; wohl auch Rieß, NStZ 1994, S. 159; abl. van Essen, Kriminalistik, S. 764; WeberKlatt, Wiederaufnahme, S. 387. 3984 Vor allem Carnelutti, RDP 1951, S. 295 f.; bei Ferri, Sociologia criminale, S. 319 f., ist unklar, ob er für eine umfassende Wiederaufnahme propter nova oder nur überhaupt für eine Wiederaufnahme zuungunsten, die es in Italien im Grundsatz nicht gibt (s. o. I. 4. b) [S. 968]), eintritt. 3985 Siehe oben I. 4. b) (S. 971). 3986 Abl. auch Ziemba, Wiederaufnahme, S. 210 ff. 3987 Angemerkt von Schwarze, GS 25 (1873), S. 411.

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Eine Wiederaufnahme propter nova zuungunsten lässt sich also nicht einmal ausnahmsweise, sondern überhaupt nicht begründen. Diese Asymmetrie der Wiederaufnahmegründe zugunsten und zulasten ist kein Mangel, sondern eine Widerspieglung der völlig unterschiedlichen rationes, die diese zwei Formen der Wiederaufnahme tragen.3988 3. Zuspitzung Im Grunde ist die Sache bereits erledigt. Dennoch muss eine fundierte Stellungnahme nicht bloß den Gegner entwaffnen, wie er sich gerade präsentiert; sie muss sich den besten vorstellbaren Gegner wünschen und erforderlichenfalls nach ihm suchen. Das stärkste Argument für die belastende Wiederaufnahme propter nova berief sich nicht bloß auf neue Tatsachen oder Beweismittel, sondern auf besonders gute, sichere Tatsachen oder Beweismittel, die den Beweis der Schuld sonnenklar darzubringen vermögen. Bereits v. Schwarze lehnte die „schlichte“ Wiederaufnahme propter nova mit dem Argument ab, „. . . daß man auch dem Unschuldigen die in der Freisprechung liegende Sicherstellung gegen neue Verfolgungen nicht gewährt und daher den Unschuldigen wegen einiger freigesprochener Schuldiger unter der Furcht wiederholter Untersuchung leiden läßt“.3989 Daraus folgerte er eine „Ausnahme“, die eigentlich konsequente Anwendung dieser Grundsätze ist: Eine Wiederaufnahme propter nova sei zu gestatten, „wenn der Beweis der Schuld auf die nova allein und ohne Bezugnahme auf die früher bereits vorgebrachten Beweise der Thäterschaft gestützt werden soll.“ 3990 Insbesondere der Fall des nachträglichen Geständnisses, der den Weg in das noch geltende Gesetz gefunden hat, soll auf diesem Gedanken beruhen.3991 Friedrich Walther wollte den Gedanken auf alle Beweismittel erweitern, nicht bloß auf das nachträgliche Geständnis.3992 In den dreißiger Jahren, als das Kommen der schlichten belastenden Wiederaufnahme propter nova anscheinend nicht mehr aufzuhalten war, versuchte Dohna, dem wenigstens einen Riegel vorzuschieben. Eine Wiederaufnahme sollte erst zulässig sein, „wenn neue Umstände auftauchen, die einen so überzeugenden Beweis für die Schuld des Freigesprochenen liefern, daß an ihr ein begründeter Zweifel nicht mehr möglich ist“ 3993 Der Vorschlag wurde später von Peters und einer Reihe weiterer Autoren aufgegriffen3994 und hat sich bis zu den Gesetzesentwürfen der 3988

Dohna, DStR 1936, S. 22; Deml, Wiederaufnahme, S. 49. Schwarze, GS 25 (1873), S. 412. 3990 Schwarze, GS 25 (1873), S. 413; ebenso F. Walther, Rechtsmittel II, S. 177. 3991 Schwarze, GS 25 (1873), S. 413, 3992 F. Walther, Rechtsmittel II, S. 177 f. 3993 Dohna, DStR 1937, S. 201 (Zitat); ebenso DStR 1936, S. 22. 3994 Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 395 Fn. 5; Peters, Fehlerquellen II, S. 321; ders. Strafprozeß, S. 671; J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 86; Deml, Wiederaufnahme, S. 142 f.; Waßmer, Jura 2002, S. 457; wohl auch Wasserburg, ZRP 1997, S. 415. 3989

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SPD hochgearbeitet.3995 Die neueren Versuche, den nachträglichen DNA-Test als Wiederaufnahmegrund einzuführen, beruhen zum großen Teil auf demselben Prinzip (näher u. VII. 1. [S. 993 ff.]). In England haben diese Vorschläge auch beim Gesetzgeber Gehör gefunden: Seit dem Criminal Justice Act von 2003 ist für bestimmte gravierende Straftaten eine Wiederaufnahme bei „new and compelling evidence“ möglich.3996 Das Hauptbeispiel eines solchen neuen, zwingenden Beweises sollen DNA-Tests sein.3997 Pointiert: Die Veränderung derartiger mit Gewissheit als falsch erkannter Freisprüche „verletzt kein Freiheitsrecht des Bürgers, sondern beseitigt höchstens ein Privileg des Verbrechers.“ 3998 Dagegen lassen sich zwei Sorten von Repliken anführen. Die Erste verbleibt eher auf der Oberfläche.3999 Sie bestreitet, dass dieses über alle Unsicherheiten und Ungewissheiten erhabene Beweismittel existieren könne. Angesichts dessen wäre auch die Einführung dieser „qualifizierten“ Wiederaufnahme propter nova für den Unschuldigen ein Verhängnis. „. . . dieser Plan würde viel schwerer auf die Unschuldigen und Reuigen fallen, als auf die Unverbesserlichen und Schuldigen.“ 4000 Die Replik befriedigt nicht; so selten wie der Fall des unbestreitbaren Beweises auch sein möge, es lässt es sich nicht von vornherein ausschließen, dass er vorkommen kann. Wenn er doch vorkommt, wenn also Klarheit darüber herrscht, dass es beim Freigesprochenen (bzw. zu milde Bestraften) um einen Schuldigen geht – sind wir dazu verpflichtet, ihn als Unbescholtenen unter uns leben zu lassen? Diese Frage führt zur zweiten Replik, auf die es hier eigentlich ankommt. Der Vorschlag der „qualifizierten“ belastenden Wiederaufnahme ist deshalb besonders interessant, weil er zu einer Stellungnahme darüber zwingt, ob das Rehabilitierungsrecht, das hinter der materiellen Rechtskraft in ihrer beschuldigtenschützenden Dimension des ne bis in idem-Grundsatzes zum Ausdruck kommt, ein Recht nur des Unschuldigen ist, das dem Schuldigen nur innerhalb der Grenzen des Unvermeidbaren zukommen muss, oder auch ein Recht des Schuldigen ist, dessen Schuld im Verfahren aber nicht nachgewiesen werden kann. Vor allem der Italiener Gemma hat das Problem schön auf diesen Punkt gebracht. Er meint, dass es zwei Sorten von Rechten im Strafverfahren gebe, solche, die dem Un3995

SPD-Gesetzesentwurf, BT-Drs. 13/3594, S. 8. Nachw. o. Fn. 3938; näher zu diesem Begriff Dennis, CLR 2004, S. 634 f.; Hamer, CLR 2009, S. 70 ff., 75 f.; Starmer, CLR 2012, S. 532 f. Die Regelung wird nicht nur mit der materiellen Wahrheit (Dennis, CLR 2004, S. 630 f.), sondern mit einem angeblichen Recht des Opfers auf Bestrafung begründet (Dennis, CLR 2000, S. 645 f., mit einem Beispiel, das völlig neben der Sache liegt). 3997 Hamer, CLR 2009, S. 71. 3998 Pfenninger, Rechtsmittel, S. 348. 3999 Auf weitere Probleme, insbesondere auf die Schwierigkeiten, die Zweifelsfreiheit bereits als Zulässigkeitsvoraussetzung vorzusehen, weisen Eschelbach, FS Stöckel, S. 220; und Cavallaro, DPP 2010, S. 1113 hin. 4000 Marquardsen, GS 3/2 (1851), S. 40. 3996

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schuldigen zugutekommen, und solche, die eher dem Schuldigen zugutekommen.4001 Die ratio all dieser Rechte ist aber der Schutz der Unschuld.4002 Das Verbot der Wiederaufnahme zulasten komme seines Erachtens nicht dem Unschuldigen, sondern nur dem Schuldigen zugute;4003 dieses Interesse des Schuldigen habe die Rechtsordnung aber nicht zu schützen, denn dieser Schutz werde auf Kosten aller anderen Bürger erkauft.4004 Oben Teil 1 Kap. 2 C. VI. 2. d) cc) (S. 258 f.) haben wir dargelegt, dass auch der Schuldige eigenständiger Träger von Verfahrensrechten ist, und gezeigt (o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 6. e) [S. 315 ff.], Teil 2 Kap. 3 B. [S. 637 ff.]), dass das Recht, nur einmal verfolgt zu werden, ein solches ist, das dem Schuldigen genau wie dem Unschuldigen zustehen muss. Damit muss auch der Vorschlag, eine „qualifizierte“ belastende Wiederaufnahme einzuführen, abgelehnt werden, so sehr dies auch weh tut. Es darf schon kein neues Verfahren durchgeführt werden. Der Verdacht ist durch die Duldung des Erstverfahrens getilgt. Das ist nicht der Preis, den man für Rechtssicherheit zahlen muss, denn Rechtssicherheit lässt sich abwägen. Das ist der Preis, den man dafür zahlen muss, überhaupt ein Erstverfahren durchführen zu dürfen. IV. Positivrechtliche Übersetzung. Die gesetzlichen Wiederaufnahmegründe (§ 362 StPO) Eine Wiederaufnahme zulasten lässt sich also nur legitimieren, wenn es an der Vorleistung durch den Betroffenen, d.h. an seiner Duldung eines ersten Verfahrens fehlt. Es muss also eine rechtswidrige, nicht schlicht passive Verletzung der Verfahrenserduldungspflicht vorliegen (s. o. V. 1. [S. 972 ff.]). Der Gesetzgeber ist aber verpflichtet, die einzelnen Pflichtverletzungen, die den Wegfall des Rehabilitierungsrechts begründen, selbst in einem Katalog zu bestimmen (s. o. V. 1. [S. 974]). Anhand dieser Maßstäbe sind die einzelnen positivrechtlich vorgesehenen Wiederaufnahmegründe näher zu betrachten. 1. Nachträgliches glaubhaftes Geständnis (§ 362 Nr. 4 StPO)? Der erste hier zu diskutierende Wiederaufnahmegrund ist die wichtigste im geltenden Recht vorgesehene Spielart der Wiederaufnahme propter nova zuungunsten: die Wiederaufnahme, „wenn von dem Freigesprochenen vor Gericht oder außergerichtlich ein glaubwürdiges Geständnis der Straftat abgelegt wird“ (§ 362 Nr. 4 StPO). In Staaten, die eine Wiederaufnahme zulasten nicht kennen, 4001 4002 4003 4004

Gemma, RitDPP 1983, S. Gemma, RitDPP 1983, S. Gemma, RitDPP 1983, S. Gemma, RitDPP 1983, S.

58. 59. 63 ff., 67. 64 f.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

wird dieser Wiederaufnahmegrund häufig als erster Vorschlag im Sinne einer Gesetzesreform angeführt.4005 Das Vorhandensein dieses eigenartigen Wiederaufnahmegrundes im Gesetz dürfte wohl geschichtlich zu erklären sein, als Nachwirkung der für den früheren Inquisitionsprozess charakteristischen Vorstellung des Geständnisses als regina probationum.4006 Diese geschichtliche Erklärung liefert aber für sich genommen weder eine Begründung für noch einen Einwand gegen den Wiederaufnahmegrund des glaubhaften Geständnisses. Um diese Begründungen soll es zunächst gehen. a) Die erste mögliche Begründung ist die Einstufung des Geständnisses als sicheres Beweismittel; bei einem glaubhaften Geständnis sei die Schuld zweifelsohne nachgewiesen, so dass sich eine Bestrafung gebiete. Hiergegen ist auf dasjenige hinzuweisen, was gerade zu den Vorschlägen einer „qualifizierten“ belastenden Wiederaufnahme propter nova ausgeführt worden ist (o. V. 3. [S. 980 f.]). Man sollte nicht bloß die Unfehlbarkeit des Geständnisses in Frage stellen,4007 sondern anerkennen, dass das Recht, nach Duldung des Verfahrens in Ruhe gelassen zu werden, auch dem eventuell Schuldigen zusteht. b) aa) Die Gesetzesmaterialien bieten eine andere Begründung: „[D]as Rechtsbewußtsein im Volke (kann) leicht irregeführt werden, wenn ein Verbrecher . . . sich ungestraft des Verbrechens selbst bezichtigen oder gar rühmen darf“.4008 Die ratio des Wiederaufnahmegrundes liege demnach darin, dass die Rechtsordnung nicht gegen denjenigen, der sie verhöhnt, machtlos sein darf.4009 Die Autorität der Rechtspflege dürfe nicht öffentlich in Frage gestellt werden.4010 Dieser Gesichtspunkt lässt sich besonders gut in der Sprache der rechtsfriedensorientierten Rechtskraftlehre (o. Kap. 1 C. III. [S. 350 ff.]) und auch der Theorie der ihr sowieso nahestehenden positiven Generalprävention ausdrücken: Der Rechtsfrieden bzw. die Geltung der verletzten Norm leidet, wenn der Rechtsbrecher unter dem sicheren Schild der Rechtskraft den Normbruch bekannt machen darf. 4005 So etwa Gómez Colomer, Derecho jurisdicional III, S. 422; Callari, Firmitas, S. 285. 4006 Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 255; Grünewald, ZStW 120 (2008), S. 563. 4007 So aber Remeis, Wiederaufnahme, S. 83; Orano, Revisione, S. 92; Sotgiu, Revisione, S. 61 ff.; Maunoir, Revision, S. 177 f.; Peters, Fehlerquellen II, S. 321 (der aber daraus die Schlussfolgerung zieht, die Wiederaufnahme zulasten sei auf andere Beweismittel zu erweitern); Knoche, DRiZ 1972, S. 299; J. Meyer, ZStW 84 (1972), S. 928; ders. Wiederaufnahmereform, S. 79; Deml, Wiederaufnahme, S. 140. 4008 Motive, in: Hahn/Mudgan, Materialien, S. 264; davor schon Schwarze, NArchCrimR 1851, S. 583; ders. GS 25 (1873), S. 413; zust. v. Kries, Rechtsmittel, S. 442; Grünwald, ZStW-Beiheft 1974, S. 102; Peters, Fehlerquellen II, S. 321; ders. Strafprozeß, S. 671; Waßmer, Jura 2002, S. 457; Marxen/Tiemann, ZIS 2008, S. 189. 4009 Dencker, Verwertungsverbote, S. 69; zust. Jerouscheck, ZStW 102 (1990), S. 803; ebenso Callari, Firmitas, S. 285 („scandalo publico“). Teilw. krit. Letzgus, FS Geppert, S. 788: Geständnis kann auch Audruck von Reue sein. 4010 Schroeder, in: Eckert, ZStW 84 (1972), S. 948.

6. Kap.: Auflösung der materiellen Rechtskraft

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Dass hiermit keine unbegründeten Befürchtungen zum Ausdruck kommen, vermögen die vielen aus dem Ausland bekannten Fälle sogenannter „Renommier- oder Illustriertengeständnisse“ 4011 zu belegen. In Amerika machte der Mord an Emmett Till Geschichte; die zwei Weißen, die von der Tötung des vierzehnjährigen schwarzen Jungen von der nur aus Weißen bestehenden Jury freigesprochen wurden, verkauften wenige Monate später ihre Geständnisse an eine Zeitschrift.4012 Vergleichbar verhielt es sich mit dem Engländer Donald Brown, der wegen Mordes freigesprochen und bloß wegen Begünstigung verurteilt wurde, einen Teil seiner Strafe abbüßte, wegen guter Führung frühzeitig entlassen wurde und seine Memoiren sofort an eine Boulevard-Zeitung verkaufte, in denen er zynisch den Mord, dessentwegen er freigesprochen wurde, eingestand.4013 bb) Das Problem dieser Begründung liegt nach den oben dargelegten Prämissen bereits auf der Hand. Alle Einwände, die gegen autoritäts- und rechtsfriedensorientierte Begründungen formuliert wurden, sind auch hier einschlägig (o. Teil 1 Kap. 2 C. II. 3., III. 4. [S. 155 ff., 187 ff.], Teil 2 Kap. 1 C. I., III. [S. 341 ff., 350 ff.], Kap. 6 B. II. [S. 866 ff.]). Unabhängig davon wäre noch daran zu erinnern, dass der Hinweis auf das Rechtsbewusstsein bzw. auf die Normgeltung als gesellschaftliches Interesse ein Gesichtspunkt ist, der sich auf der ersten Rechtfertigungsstufe bewegt und sich nicht gegen das auf der dritten Stufe befindliche Rehabilitierungsrecht durchsetzen darf. Alles andere käme einer Instrumentalisierung des Betroffenen zur Verfolgung gesellschaftlicher Interessen gleich. b) aa) Deshalb bleiben viele Vertreter des gesetzlichen Standpunkts auch nicht bei diesem Gesichtspunkt stehen, sondern bemühen sich um eine Rechtfertigung, die dem Beschuldigten gegenüber angeführt werden kann. Bereits bei v. Schwarze fand der Gesichtspunkt Erwähnung, dass „im Falle des Geständnisses die Wiederaufnahme eine Folge einer Handlung des Anschuldigten selbst gestattet. (. . .) Er selbst hat die Wiederaufnahme herbeigeführt“.4014 Darauf beriefen sich vor allem die Motive zur RStPO.4015 Und neuerdings schreibt Grünewald, dass der 4011 Kleinknecht, in: Eckert, ZStW 84 (1972), S. 947; Schroeder, ebda., S. 948; Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 369 ff. 4012 Stuntz, Collapse, S. 206 f. 4013 Pfenninger, Rechtsmittel, S. 331 f.; Ziemba, Wiederaufnahme, S. 191. 4014 Schwarze, NArchCrimR 1851, S. 583 – kursiv von mir. Siehe auch H. Mayer, GS 99 (1930), S. 324; Ziemba, Wiederaufnahme, S. 187; Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 388; Callari, Firmitas, S. 285; Scherzberg/Thiée, ZRP 2008, S. 82; Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck-GG, Art. 103 Abs. 3 Rn. 224 („Vertrauensschutz“), der diesen Wiederaufnahmegrund sehr restriktiv gehandhabt sehen möchte; s. a. BRAK Denkschrift, S. 76. 4015 Motive, in: Hahn/Mudgan, Materialien, S. 264; wieso dies eine „eigenartige“ Begründung sein soll (v. Hentig, Wiederaufnahmerecht, S. 113), leuchtet nicht wirklich ein.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Angeklagte die durch sein Geständnis bewirkte Störung des Rechtsfriedens zu vertreten habe.4016 Sein Vertrauen, dass er nach dem Freispruch in Ruhe gelassen werde, sei in einem solchen Fall nicht schutzwürdig.4017 bb) Dagegen ist aber anzuführen, dass dem Betroffenen bereits einmal ein Verfahren gemacht worden ist, das er auch vollumfänglich geduldet hat. Nur darauf darf es für eine Rechtskraftlehre, die den Einzelnen nicht instrumentalisiert, ankommen. Der Umstand, dass hier ein Verhalten des Beschuldigten vorliegt, dass er sich die erneute Verfolgung selbst zuzuschreiben habe, ist ad hoc; dieser Umstand kann ebenso wenig eine Auflösung der Rechtskraft rechtfertigen wie eine falsche Selbstbezichtigung eine Strafe zu rechtfertigen vermag. Rechtfertigung gegenüber einem Einzelnen bedeutet noch lange nicht, dass bereits ein Hinweis auf irgendetwas, was der Einzelne freiwillig getan hat, ausreiche.4018 d) Man könnte erwägen, ob nicht die durch das Geständnis bewirkte Störung des Rechtsbewusstseins ein Anlass ist, einen eigenständigen Straftatbestand eines contempt of court einzuführen.4019 Dies wäre hier, anders als bei prozesswidrigem Verhalten (s. o. V. 1. [S. 977]), nicht unehrlich;4020 unehrlich dürfte vielmehr der im geltenden Recht verkörperte Versuch sein, durch die Verfolgung eines Totschlags, einer Körperverletzung usw. in Wahrheit das Ansehen der Rechtspflege zu schützen. Dies muss aber im vorliegenden Zusammenhang nicht entschieden werden. Aus unserer Perspektive ist allein entscheidend, dass auch der nachträglich glaubwürdig gestehende Freigesprochene während des Verfahrens keine Pflicht verletzt hat. e) Der einzige gegen das bisher Gesagte ernst zu nehmende Einwand wäre, dass die vorliegende Ansicht demjenigen, der sich aus einem erst zu spät entstehenden Gefühl der Reue nach einer durch die Strafe zu erreichenden Sühne sehnt, jede Gelegenheit nimmt, dies zu tun. Wenn dies aber die ratio des § 362 Nr. 4 StPO wäre, dann müsste dieser Wiederaufnahmegrund so aufgebaut werden, dass der Freigesprochene zum Antragsberechtigten der Wiederaufnahme zu 4016

Grünewald, ZStW 120 (2008), S. 576 f. Grünewald, ZStW 120 (2008), S. 577. Ähnlich bereits H. Mayer, GS 99 (1930), S. 324: Der nachträglich gestehende Angeklagte könne sich nicht „beschweren“. 4018 Zu Grünewald muss noch gesagt werden, dass sie etwas inkonsequent vorgeht: Ihr Ausgangspunkt ist, dass sich eine Wiederaufnahme erst bei einer zurechenbaren und rechtswidrigen Mitherbeiführung eines begünstigenden Urteils durch den Beschuldigten rechtfertigen lasse (Grünewald, ZStW 120 [2008], S. 576.). Ein nachträgliches Geständnis ist nicht nur nicht rechtswidrig, sondern es kann keinen Einfluss auf ein bereits gefälltes Urteil haben. 4019 Dafür Eser, in: Eckert, ZStW 84 (1972), S. 948; J. Meyer, in: Eckert, ZStW 84 (1972), S. 952; ders. Wiederaufnahmereform, S. 79; ders. Wiederaufnahme, S. 817; Deml, Wiederaufnahme, S. 141 Fn. 677; Grünewald, ZStW 120 (2008), S. 578. 4020 So Ziemba, Wiederaufnahme, S. 195 f.; zust. Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 371. 4017

6. Kap.: Auflösung der materiellen Rechtskraft

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eigenen Ungunsten gemacht wird. Dann hätte man es aber nicht einmal mit einer Wiederaufnahme im eigentlichen Sinne zu tun (s. o. A. I.). f) Zuletzt stellt sich die Frage, wie sich das gerade gewonnene Ergebnis der Illegitimität des Wiederaufnahmegrundes des § 362 Nr. 4 StPO4021 auf die Handhabung des geltenden Rechts niederschlägt. Eine aus der vorpositiven Warte formulierte Illegitimitätserklärung wirkt sich in der Regel positivrechtlich so aus, dass sie die Anforderung begründet, die vom Illegitimitätsurteil betroffene Vorschrift teleologisch zu reduzieren und de lege ferenda zu reformieren. Weil aber eine teleologische Reduktion im vorliegenden Zusammenhang der Vorschrift jeden Anwendungsbereich nehmen würde, bleibt es bei der Forderung, die Vorschrift im Wege einer Gesetzesreform zu streichen.4022 Es fragt sich aber darüber hinaus, ob aus den o. I. 3. a) bb) (S. 961) entwickelten verfassungsrechtlichen Erwägungen nicht vielleicht bereits de lege lata die Ungültigkeit des § 362 Nr. 4 StPO folgen würde. In der Tat: Wenn man die dort vorgeschlagene Deutung des Art. 103 Abs. 3 GG für überzeugend erachtet, dann muss nach einem ersten Verfahren Schluss sein. § 362 Nr. 4 StPO wäre nach dieser Deutung tatsächlich eine Ausnahme von einer nicht ausnahmefähigen, höherrangigen Vorschrift. 2. § 362 Nr. 1, 2 StPO Bei den Wiederaufnahmegründen der Nr. 1 (unechte oder verfälschte entlastende Urkunde) und Nr. 2 (falsche entlastende Aussage bzw. Gutachten des Zeugen bzw. Sachverständigen) geht es auch um nova, aber zugleich und wichtiger um falsa. Es fragt sich aber, ob diese Wiederaufnahmegründe den obigen Legitimitätskriterien genügen. Dies ist erst dann der Fall, wenn die unechte bzw. verfälschte Urkunde oder die falsche Aussage als Pflichtverletzung des Betroffenen angesehen werden kann.4023 Niemand hat das Recht, sich zur eigenen Verteidigung unechter bzw. verfälschter Urkunden oder falsch aussagender Zeugen zu bedienen; tut man dies, dann hat man aktiv und bewusst gegen die Aufgabe des Verfahrens, die Wahrheit zu finden, gehandelt und somit die eigene Prozessduldungspflicht verletzt. 4021 Im Erg. auch abl. zu diesem Wiederaufnahmegrund auch J. Meyer, ZStW 84 (1972), S. 928; ders. Wiederaufnahmereform, S. 77 ff.; ders. Wiederaufnahme, S. 816 f.; Dünnebier, FS Peters II, S. 347; J. Maier, GS Armin Kaufmann, S. 790, 794; ders. Derecho procesal penal I, S. 639; Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck-GG, Art. 103 Abs. 3 Rn. 224. 4022 So auch Knoche, DRiZ 1972, S. 299. 4023 J. Meyer, ZStW 84 (1972), S. 927; Grünewald, ZStW 120 (2008), S. 574 f.; Callari, Firmitas, S. 287; vorsichtig Loos, AK-StPO § 362 Rn. 9; de lege ferenda Bendix, Neuordnung, S. 275; J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 90 f.; Deml, Wiederaufnahme, S. 146.

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Entscheiden sich aber der Zeuge oder Sachverständige spontan oder auf Veranlassung eines Dritten zu einer falschen Aussage oder wurde die Urkunde vorgelegt, ohne dass dem Betroffenen ihre Unechtheit bekannt war, dann hat der Betroffene grundsätzlich nichts mit der Sache zu tun.4024 Erst dann, wenn die Einführung dieser irreführenden Beweismittel in das Verfahren irgendwie auf das Verhalten des Betroffenen zurückführbar ist, also wenn er dazu wenigstens Beihilfe geleistet hat, oder in den ausnahmsweise gegebenen Situationen, in denen in der Urkunde oder im Dritten eine vom Beschuldigten zu überwachende Gefahrenquelle zu erkennen ist, wird man sagen können, dass ihm kein Recht zusteht, durch die Rechtskraft endgültig rehabilitiert zu werden (s. o. V. 1. [S. 972 ff.]). Ist ihm etwa von vornherein klar, dass ein Zeuge die Unwahrheit sagen wird, dann darf er den Zeugen nicht (aktiv) zu der Verhandlung laden.4025 Wie sich das Gesagte positivrechtlich niederschlägt, dürfte auf der Hand liegen: Die genannten Wiederaufnahmegründe sind teleologisch zu reduzieren. Sie sind erst dann anzuwenden, wenn der Betroffene für die falsche Urkunde oder Aussage im gerade erklärten Sinne verantwortlich ist. De lege ferenda wird vielfach gefordert, den Wiederaufnahmegrund der Nr. 2 dahingehend zu ergänzen, dass auch die vorsätzliche Falschaussage eines Zeugen, die vom Betroffenen durch Nötigungsnotstand herbeigeführt wird, erfasst wird.4026 Das leuchtet ein. Denn es kann nicht sein, dass er gerade dann endgültig rehabilitiert wird, wenn der Betroffene für den Verfahrensfehler so sehr verantwortlich ist, dass diejenigen, die ihm dabei helfen, seine schuldlosen Werkzeuge sind. Die Entscheidung des Gesetzgebers, dies nicht zu tun, muss aber respektiert werden. Wie oben (V. 1. [S. 974]) angemerkt, gibt es keine klaren materiellen Kriterien, anhand derer man bestimmen kann, welche Verfahrensverstöße eine Wiederaufnahme zuungunsten zu rechtfertigen vermögen. Wie schon gesagt, ist auch die Tötung des einzigen unersetzlichen Belastungszeugen kein Wiederaufnahmegrund. 3. § 362 Nr. 3 StPO Auch beim Wiederaufnahmegrund der Nr. 3, also bei der Mitwirkung eines Richters oder Schöffen, der sich in der Sache wegen einer strafbaren Verletzung 4024 And. Schwarze, NArchCrimR 1851, S. 581; Motive, in: Hahn/Mudgan, Materialien, S. 264; Gössel, LR-StPO § 359 Rn. 5; zu Recht krit. Grünewald, ZStW 120 (2008), S. 575. 4025 An sich kann bereits in der Ladung mit Wissen um die künftige Falschaussage nach den von der h. A. anerkannten Regeln über neutrale Beiträge (ausf. Roxin, AT II § 26 Rn. 218 ff.; Schünemann, LK-StGB § 27 Rn. 17 ff.) strafbare Beihilfe vorliegen (umf. zur Diskussion Müller, MK-StGB § 153 Rn. 84 ff.). 4026 Waßmer, Jura 2002, S. 456; Wasserburg/Eschelbach, GA 2004, S. 339 Fn. 35; Beulke, Strafverfahrensrecht, Rn. 586; Gössel, LR-StPO § 359 Rn. 6; abl. Marxen, JZ 1997, S. 632 – ein nicht nur theoretisch erdachter Fall, s. KG JZ 1997, 629.

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seiner Amtspflichten schuldig gemacht hat, sind entsprechende Erwägungen am Platze. Die o. C. V. 1. (S. 953 ff.) im Rahmen der Wiederaufnahme zugunsten formulierte Kritik am Erfordernis der Strafbarkeit der Amtspflichtverletzung ist hier nicht mehr einschlägig. Die Wiederaufnahme zulasten steht nicht im Zeichen der Wahrung des Schuldprinzips.4027 Die Probleme liegen an anderer Stelle. Denn die staatliche Rechtspflege ist keine Angelegenheit desjenigen, gegen den das Verfahren betrieben gehört. Die Tatsache, dass ein Richter gesetzesungebunden und deshalb willkürlich entscheidet, beschwert zwar den Beschuldigten; dies rechtfertigt aber nur, dass er selbst sich für eine Wiederaufnahme entscheidet, so dass man wieder zu der begünstigenden Wiederaufnahme zurückkommt. Der Staat hat erst ein Recht darauf, die Sache gegen den Beschuldigten erneut aufzugreifen, wenn die Amtspflichtverletzung des Richters irgendwie auf eine Pflichtverletzung des Beschuldigten zurückführbar ist.4028 Konkret heißt das, dass an sich zu verlangen wäre, dass dieser als Anstifter oder Gehilfe an ihr beteiligt ist; eine Überwachungsgarantenstellung wird man kaum begründen können. Prototypisch wäre hier der Fall, in dem der Betroffene den Richter besticht. In einem solchen Fall steht ihm also kein Recht zu, definitiv rehabilitiert zu werden. Im Wortlaut des § 362 Nr. 3 ist von alledem freilich nirgendwo die Rede. So verhält es sich auch bei § 362 Nr. 1 und 2; bedeutet das, dass hier wie dort (o. 2. [S. 986 f.]) eine teleologische Reduktion einschlägig sein soll? So leicht lässt sich dies indes de lege lata nicht vertreten. Dies wird bei einer Gegenüberstellung von § 362 Nr. 3 und dem entsprechenden Wiederaufnahmegrund bei der Wiederaufnahme zugunsten, § 359 Nr. 3 StPO, ersichtlich. Bei letzter Vorschrift ist ausdrücklich davon die Rede, dass die Wiederaufnahme nur gerechtfertigt ist, „sofern die Verletzung nicht vom Verurteilten selbst veranlaßt ist“. Von einer Beteiligung des Beschuldigten an der Amtspflichtverletzung ist demgegenüber in § 359 Nr. 3 StPO kein Wort zu lesen.4029 Im Wortlaut des § 362 Nr. 3 StPO, vor allem nach dem Vergleich mit der Parallelerscheinung des § 359 Nr. 3 StPO, äußert sich der gesetzgeberische Wille, eine Wiederaufnahme auch dort zuzulassen, wo der Beschuldigte mit der Sache nichts zu tun hat, derart eindeutig, dass es die 4027 Problematisch erscheint nur, dass eine prototypische Verletzung der Prozessduldungspflicht, die schuldausschließende Nötigung des Richters durch den Angeklagten, nicht erfasst wird (J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 91). Es liegt aber in der Natur der eine Wiederaufnahme legitimierenden Prozessverletzungen, für die man kaum materielle Kriterien angeben konnte (o. V. 1. [S. 974]), dass immer wieder Fälle eintreten werden, die die im Gesetz Vorgesehenen sprengen. 4028 Sehr vorsichtig Loos, AK-StPO § 362 Rn. 9. 4029 R. Neumann, Wiederaufnahme, S. 34 f.; Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 230 (im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit denjenigen, die ein solches Erfordernis für § 362 Nr. 1 StPO aufstellen).

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

Schranken methodengerechter Auslegung überschreiten würde, falls man die theoretisch gebotene Deutung im Wege einer teleologischen Reduktion bereits de lege lata vertreten würde. Vielmehr wird die hier gebotene Begründung nur Aufschlüsse für die Arbeit de lege ferenda liefern können. Man kann also nichts tun. Dem Urteil, die gesetzliche Bestimmung des § 362 Nr. 3 StPO sei eine „völlige Fehlkonstruktion“,4030 muss teilweise zugestimmt werden; unkorrigierbar ist sie auf jeden Fall. Die nicht vom Beschuldigten veranlasste Amtspflichtverletzung eines Richters bleibt „Problem des Staates und des Richters und nicht ein Problem des Angeklagten und des Wiederaufnahmeverfahrens.“ 4031 Eine Bestätigung findet der vorliegende Standpunkt dadurch, dass man gerade dann, wenn man den Wiederaufnahmegrund autoritätsorientiert deutet,4032 für das Erfordernis einer Beteiligung des Beschuldigten an der Amtspflichtverletzung kein Verständnis aufbringen kann.4033 Insofern verhalten sich die Dinge nicht anders als bei § 359 Nr. 3 StPO, dessen Veranlassungsklausel von den Vertretern dieser Deutung entschieden abgelehnt wird (s. o. C. III. 4. a) aa) [S. 944 m. Fn. 3847]). Aufschlussreich erscheinen auch die Erwägungen einzelner nationalsozialistisch orientierter Autoren, die nachdrücklich billigten, dass hier der Betroffene „aus einem vom Staat durch seinen Richter verschuldeten Anlaß“ 4034 in Anspruch genommen werde.4035 Eine Klausel, die die Beteiligung des Beschuldigten an der strafbaren Pflichtverletzung des Richters als Voraussetzung der Wiederaufnahme verlangt, sollte also de lege ferenda eingeführt werden. Die Tatsache, dass anscheinend kein europäisches Prozesssystem ausdrücklich ein derartiges Erfordernis enthält,4036 ist kein Gegenargument, sondern lässt sich wohl geschichtlich als Nachwirkung der autoritätsorientierten Wiederaufnahmelehre erklären. 4030

J. Meyer, in: Eckert, ZStW 84 (1972), S. 952. J. Meyer, in: Eckert, ZStW 84 (1972), S. 952. 4032 Deml, Wiederaufnahme, S. 148; Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 409; Wasserburg, Wiederaufnahme, S. 281. 4033 Krit. zu diesem in § 359 Nr. 3 StPO ausdrücklich gestellten Erfordernis, in der Regel mit genau dieser Begründung Giehl, Wiederaufnahme, S. 23; Wasserburg, Wiederaufnahme, S. 282; Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 410; Marxen/Tiemann, Wiederaufnahme, Rn. 155; Gössel, LR-StPO § 359 Rn. 43 Fn. 97; krit. auch Deml, Wiederaufnahme, der im Wiederaufnahmegrund einen „Verstoß gegen das Postulat einer unparteiischen Rechtspflege“ erblickt (S. 109). Gleichzeitg glaubt er ein „erhebliches öffentliches Interesse“ an der Aufhebung eines solchen Urteils zu erkennen (S. 110), womit seine unparteiische Rechtspflege dem autoritätsorientierten Ansatz zumindest nahe kommt. 4034 H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. S. 50. 4035 Die Folgerung, die H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 50 aus dieser zutreffenen Einsicht zieht, ist bemerkenswert: „Sollte daraus nicht der Schluß gezogen werden können, daß die mit der ungünstigen Wiederaufnahme verbundenen Gefahren für den Angeklagten übertrieben sind?“ 4036 So die Feststellung von Swoboda, HRRS 2009, S. 193. 4031

6. Kap.: Auflösung der materiellen Rechtskraft

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4. Wiederaufnahme propter nova zuungunsten: § 373a StPO, § 85 Abs. 3 OWiG a) Um den Strafbefehl und dessen Rechtskraft ist es seit Jahrzehnten ruhiger geworden. Anfänglich war sogar heftig umstritten, ob er überhaupt wiederaufnahmefähig war.4037 § 373a StPO hat den Streit im Ergebnis geklärt. Danach kam es zu der Frage, ob ein Bedürfnis für eine Wiederaufnahme zulasten bestand; seitdem das positive Recht sich im Sinne der Rechtskraft des Strafbefehls entschieden hat (näher o. Kap. 4 F. II. 9. [S. 810 ff.]), muss auch diese Frage bejaht werden. Die dogmatischen Probleme dürften zum großen Teil gelöst sein; die Legitimationsprobleme indes noch nicht alle. Denn § 373a StPO kennt eine ansonsten nicht vorhandene Wiederaufnahme propter nova zulasten des Betroffenen. Dies scheint angesichts dessen, was o. V. 1. (S. 979 ff.) ausgeführt worden ist, mit einem schweren Legitimationsdefizit behaftet zu sein. Überwiegend begründet man die Vorschrift des § 373a StPO ähnlich wie früher generationenlang seine „beschränkte Rechtskraft“ (s. o. Kap. 4 F. II. 9. [S. 810 f.]): Der summarische Charakter des Verfahrens, der zwar keine „beschränkte“ Rechtskraft mehr rechtfertige, erlaube durchaus eine erweiterte Wiederaufnahme.4038 Das ist aber nicht überzeugend. Die Zuverlässigkeit und Gründlichkeit der Methoden, derer sich der Staat bei der Wahrheitsfindung bedient, dürfen bei der Auflösung der Rechtskraft ebenso wenig eine Rolle spielen wie bei ihrer Entstehung. Die Argumente, die man gegen das „situative Element“ der klassischen Rechtskraftbegründung angeführt hat – insbesondere, dass die Nachlässigkeit des Staates diesem nicht ein Recht geben dürfte, den Beschuldigten einer erneuten Verfolgung zu unterwerfen (s. o. Kap. 4 C. II. 1. [S. 713 ff.]) –, sind auch auf der Ebene der Auflösung einschlägig. Die überwiegende Rechtfertigung des Wiederaufnahmegrunds des § 373a StPO betrachtet die Probleme, ähnlich wie die herrschende Rechtskraftlehre, eher aus der Perspektive des Staates und der Gesellschaft als aus der des betroffenen Einzelnen. Zu den wenigen, die sich um eine Begründung aus der Perspektive des Bürgers bemüht haben, gehört Achenbach. Er meint, dass die Notwendigkeit des Schutzes vor erneuter Verfolgung beim Strafbefehl „kaum gegeben (sei), da die dem mündlichen Verfahren eigene Wirkung einer öffentlichen Bloßstellung des Beschuldigten in dem ,diskreteren‘ Strafbefehlsverfahren in aller Regel nicht ein4037

Siehe oben A. III. (S. 862). BT-Drs. 10/1313, S. 33; Achenbach, NJW 1979, S. 2023; Schaal, FS Karlheinz Meyer, S. 431; Radtke, Strafklageverbrauch, S. 345, 347; Marxen/Tiemann, ZIS 2008, S. 189; W. Schmidt, KK-StPO § 373a Rn. 4; Gössel, LR-StPO § 373a Rn. 4; ausf. zur Verfassungsmäßigkeit Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 323 ff. Lange vor § 373a StPO de lege ferenda Friedlaender, ZStW 18 (1898), S. 699; P. Merkel, ZStW 35 (1914), S. 565 ff., die zugleich die reichsgerichtliche Lehre von der beschränkten Rechtskraft des Strafbefehls ablehnten. 4038

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2. Teil: Materielle Rechtskraft

tritt“.4039 Wir haben aber gesehen, dass dieser Gesichtspunkt nicht ausschlaggebend sein darf (s. o. Kap. 4 E. III. 2. c) [S. 750 ff.]). Insbesondere ist das Verfahren auch dann und erst recht dann ein ausgleichbedürftiges Übel, wenn niemand, nicht einmal der Beschuldigte, davon erfährt. Den Schlüssel zu einem das Individuum nicht instrumentalisierenden Verständnis von § 373a StPO liefert die o. Kap. 4 E. II.–III. (S. 741 ff.) entwickelte Theorie der rechtskraftfähigen verfahrensabschließenden Entscheidungen und die aus ihr gefolgerten Einsichten über die Rechtskraft des Strafbefehls (o. Kap. 4 F. II. 9. [S. 810 ff.]). Bei der Entstehung der Rechtskraft war allein von Bedeutung, ob ein Verfahren bis zur vollen Verdächtigungstiefe geduldet worden ist. Der Strafbefehl, der unter der Bedingung verhängt wird, dass der Betroffene keinen Einspruch erhebt, belastet ihn nicht stärker als ein Eröffnungsbeschluss. Das bedeutet, dass an sich die alte Lehre von der beschränkten Rechtskraft des Strafbefehls recht hatte. Die Tatsache, dass sich Verfassungsgericht und Gesetzgeber von ihr verabschiedet haben, dass also der Strafbefehl nicht mehr bloß „die Wirkungen“ eines rechtskräftigen Urteils haben soll, sondern ihm „gleich steht“ (§ 410 Abs. 3 StPO), ändert nichts daran, dass dieser Schritt nach strengem Recht nicht geboten war. Bloß deshalb kann § 373a StPO überhaupt legitimierbar sein. § 373a StPO ist im materiellen Sinne kein Wiederaufnahmegrund; materiell steht er auf derselben Stufe wie § 211 StPO, nur formell wird nach den strengeren Vorgaben des Wiederaufnahmeverfahrens prozediert.4040 Dagegen wird man keine Bedenken anführen können. Es sei zuletzt daran erinnert, dass sich unter Zugrundelegung des hier vertretenen, wesentlich engeren Tatbegriffs (s. o. Kap. 2 D. VII., E. [S. 520 ff., S. 625 ff.]) das Bedürfnis nach einer Wiederaufnahme in Strafbefehlssachen erheblich verringern würde. b) Beim Bußgeldurteil gilt eine vergleichbare Vorschrift (§ 85 Ab. 3 StPO). Dennoch besteht hier ein entscheidender Unterschied zur Konstellation des Strafbefehls: Bußgeldurteile ergehen aufgrund einer obligatorischen Hauptverhandlung.4041 Man kann also nicht leugnen, dass hier volle Verdächtigungstiefe erreicht worden ist, dass also das Verfahren sich hier materiell weiter befindet als nach einem Eröffnungsbeschluss; denn hier kann der Richter ohne weitere Zwischensachentscheidung,4042 sondern bloß nach einem Hinweis die Tat als Straftat aburteilen (§ 81 Abs. 1 StPO). Der Gesetzgeber darf nicht einen Bürger zunächst einer akuten Verurteilungs- und Bestrafungsgefahr aussetzen, dabei aus Gründen der Ökonomie eher unsorgfältig vorgehen, und sich deshalb vorbehalten, Über4039

Achenbach, ZRP 1977, S. 88. Zur Unterscheidung zwischen Wiederaufnahme im materiellen und im formellen Sinne s. o. A. II. (S. 856 f.). 4041 Radtke, Strafklageverbrauch, S. 302 f., 348. 4042 Zu diesem Kriterium o. Kap. 4 E. III. 3. d) (S. 749 f., 752). 4040

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sehenes bei einer anderen Gelegenheit nachzuholen. Radtkes Urteil ist zuzustimmen, dass der „Gesetzgeber die Konzeption von Rechtskraft und Wiederaufnahme des Verfahrens für den Bußgeldbeschluß und das Bußgeldurteil nicht vollständig durchdacht hat“.4043 Bußgeldurteile müssten genauso wiederaufnahmefähig sein wie sonstige Urteile, also nur unter den Voraussetzungen des § 362 StPO und nicht schon wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel. 5. Wiederaufnahme zuungunsten wegen Verfassungswidrigkeit (§ 79 Abs. 1 BVerfGG)? Die o. I. 2. (S. 957 ff.) formulierte Begründung liefert auch einen festen Anhalt für eine Stellungnahme über den Streit, ob die im Bundesverfassungsgerichtsgesetz vorgesehene Wiederaufnahme nicht nur zugunsten, sondern auch zulasten des Betroffenen betrieben werden darf. Eine Sichtweise, die § 79 Abs. 1 BVerfGG dem Schutz der verfassungsrechtlichen Unbemakeltheit der Entscheidung zuordnet, wird wenig zögern, bei einer Entscheidung, die auf verfassungswidriger Grundlage beruht, eine Wiederaufnahme auch gegen den Beschuldigten für zulässig zu erklären. Aus unserer Perspektive wäre dies eine bedenkliche Instrumentalisierung des Beschuldigten im Interesse der Verfassung. Dass die Rechtsordnung ein verfassungswidriges Gesetz kannte bzw. dass die Gerichte ein Gesetz verfassungswidrig auslegten, ist nicht sein Problem. Durch die Duldung des Verfahrens hat er seine Pflichten vollkommen erfüllt. § 79 Abs. 1 BVerfGG ist deshalb nur als Erweiterung des Katalogs von § 359 StPO zu lesen und begründet keine weitere Möglichkeit einer Wiederaufnahme zulasten des Beschuldigten.4044 V. Wiederaufnahmegründe zuungunsten de lege ferenda? In der jüngeren rechtspolitischen Diskussion sind ganz konkrete Vorschläge zur Erweiterung der Gründe für eine Wiederaufnahme zulasten des Betroffenen gemacht worden. Im Folgenden gilt es, sich kursorisch mit ihnen zu beschäftigen. 1. Neue Kriminaltechnik (DNA-Test)? Anlässlich eines spektakulären Falles eines möglicherweise unrichtig freigesprochenen Mörders, für dessen Schuld erst die etliche Jahre später entwickelte 4043

Radtke, Strafklageverbrauch, S. 304. Röhl, NJW 1960, S. 180; Bahlmann, MDR 1963, S. 542; Brauns, DRiZ 1963, S. 262; Grünwald, ZStW-Beiheft 1974, S. 101; Loos, AK-StPO vor § 359 Rn. 29; Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger-BVerfGG § 79 Rn. 10; wohl auch Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 395 Fn. 4; Bethge, in: M/SB/K/B-BVerfGG § 79 Rn. 25; and. Bertram, MDR 1962, S. 535; Eb. Schmidt, Lehrkommentar II, vor § 359 Rn. 9; Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 338 ff.; W. Schmidt, KK-StPO vor § 359 Rn. 18; Letzgus, FS Geppert, S. 789). 4044

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DNA-Analyse Hinweise liefern konnte, wurde der Vorschlag unterbreitet, die Wiederaufnahme zuungunsten beim Mord und anderen mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraften Tatbeständen auch dann zu gestatten, wenn „auf der Grundlage neuer, wissenschaftlich anerkannter technischer Untersuchungsmethoden, die bei Erlass des Urteils . . . nicht zur Verfügung standen“, neue Tatsachen oder Beweismittel erschlossen werden, die einen Freispruch als fehlerhaft erweisen können.4045 Die von unserem Standpunkt aus gebotene Stellungnahme dürfte bereits klar sein. Im Grunde genommen wird man sich weitgehend auf dasjenige, was man zur Legitimierbarkeit einer „qualifizierten“ Wiederaufnahme propter nova sagte (o. V. 3. [S. 979 ff.]), berufen dürfen. Auf eine Diskussion über die Zuverlässigkeit der neuen Techniken muss man sich auch hier nicht einlassen; nur beiläufig sei betont, dass die Erwartung, die neue Technik sei geeignet, „zweifelsfrei den Nachweis einer Täterschaft zu führen“,4046 mehr als nur fragwürdig erscheint.4047 Ausschlaggebend ist allein, dass dem Betroffenen ein ernsthaftes Verfahren gemacht worden ist, das er auch pflichtgemäß geduldet hat. Die Tatsache, dass das Verfahren anscheinend die materielle Wahrheit verfehlt hat, muss hingenommen werden, denn alles andere wäre eine instrumentalisierende Verfolgung eines sozialen Interesses unter Missachtung des Rehabilitierungsrechts des bereits in voller Tiefe Verdächtigten. Der Betroffene trägt keinerlei Verantwortung für den unterentwickelten Stand der Technik zu der Zeit, als gegen ihn verfahren wurde.4048 Interessant ist aber anzumerken, dass die Entschiedenheit, mit der dieser Vorschlag von der Literatur zurückgewiesen worden ist, von ihrem Standpunkt aus ungerechtfertigt ist. Denn geht man vom Abwägungsansatz aus,4049 so wie es der Entwurf auch macht, dann muss man sich in der Tat fragen, ob nicht in diesen Fällen die Gerechtigkeit die Oberhand über die Rechtssicherheit gewinnen sollte.4050 Einen „Systembruch“ 4051 verkörpert der Vorschlag nicht; und die festgestellte Verwandtschaft des Vorschlags zur absolutio ab instantia und zu den

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Entwurf eines Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts vom 20.12.2007, BR-Drs. 655/07 = BT-Drs. 16/7957 v. 30.01.2008, S. 5; dafür auch Schöch, FS Maiwald, S. 775 ff., 779 ff.; Letzgus, FS Geppert, insb. S. 794 ff.; wohl auch (für Brasilien, der keine Wiederaufnahme zulasten kennt), Schietti M. Cruz, Dupla persecução, S. 68. 4046 So BT-Drs. 16/7957, S. 1. 4047 Roberts, MLR 65 (2002), S. 416 ff.; Jackson, Trial, S. 142 ff.; Scherzberg/Thiée, ZRP 2008, S. 82. 4048 Grünewald, ZStW 120 (2008), S. 578. 4049 So die h. M., s. o. B. III. (Nachw. S. 872 Fn. 3519). 4050 Insofern überzeugend BT-Drs. 16/7957, S. 6 f. 4051 Scherzberg/Thiée, ZRP 2008, S. 81

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nationalsozialistischen Auflockerungstendenzen4052 trifft auch bezüglich des herrschenden Konzepts zu. Zum Glück ist das Thema zumindest für die vergangene Legislaturperiode „gestorben“.4053 Der Gesetzesentwurf bestätigt aber Dippels Bemerkung, dass „die wenigen Änderungen, die das Wiederaufnahmerecht vom Standpunkt des Verurteilten her betrachtet verschlechtert haben, . . . stets das Resultat einer Zeit4055 strömung und dementsprechend kurzlebig“ waren.4054, 2. Kronzeugenregelung? Ein letzter Vorschlag bezog sich auf die berüchtigte Kronzeugenregelung. Derjenige, der sich einen Freispruch oder eine Strafmilderung dadurch erkauft, dass er seine Komplizen belastet, verliert den Anspruch auf diese Vorrechte, falls sich herausstellt, dass seine Belastungen erlogen waren.4056 In Italien ist eine solche Regelung, wie gesehen, seit mehreren Jahrzehnten vorhanden (o. I. 4. b) [S. 968]). Hier wird die Wiederaufnahme nicht eingesetzt, um eine Fehlerquelle auszuschalten, die der Staat nicht nur mehr als nur leichtfertig in Kauf nimmt, sondern die er vielmehr absichtlich öffnet und ausnutzt. Man soll sich nicht fragen, ob eine solche Wiederaufnahme der Logik der Kronzeugenregelung entspricht oder nicht;4057 denn diese Regelung ist viel zu anstößig, um als Prämisse eines Arguments fungieren zu dürfen. Vielmehr muss man bei der Rechtskraftlehre ansetzen; die Frage, die man stellen muss, ist dann allein, ob hier eine Verletzung der Prozessduldungspflicht vorliegt. Selbst wenn man annimmt, dass es eine Wahrheitspflicht des Beschuldigten gibt,4058 wird man Zweifel anmelden müssen. Denn seine Lügen richten sich nicht direkt gegen sein eigenes Verfahren, sondern gegen das reelle oder potentielle Verfahren, das gegen andere gerichtet wird. Die Aufgabe seines Verfahrens, seine Schuld wahrheitsgemäß zu ermitteln, wird dadurch keineswegs gefährdet. Dies wäre nur anders, wenn man im Verhalten des Kronzeugen eine Art schuldminderndes Nachtatverhalten erblicken würde. Wie schon bei der Prüfung eines vergleichbaren, zur 4052

Marxen/Tiemann, ZIS 2008, S. 190 f. Letzgus, FS Geppert, S. 787. 4054 Dippel, GA 1972, S. 119. 4055 Im Erg. ebenso abl. Grünewald, ZStW 120 (2008), S. 578 f.; Marxen/Tiemann, ZIS 2008, S. 188 ff.; Swoboda, HRRS 2008, S. 201; Scherzberg/Thiée, ZRP 2008, S. 80 ff.; Pabst, ZIS 2010, S. 126 ff.; Eschelbach, FS Stöckel, S. 223 f. 4056 BR-Drs. 896/02, S. 10, aber überholt durch BR-Drs. 353/07, der eine solche Regelung nicht mehr enthält. Dafür auch Mühlhoff/Pfeiffer, ZRP 2000, S. 126. 4057 So aber ein guter Teil der italienischen Lehre (etwa Vanni, LegPen 1993, S. 605; Jannelli, Revisione, S. 660; Callari, Firmitas, S. 288 ff.), wohl auch in dem Anliegen, dass an der Tradition einer nur zugunsten des Beschuldigten vorgesehenen Wiederaufnahme nicht weiter gerüttelt werde. 4058 Nachw. o. Fn. 753. 4053

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Rechtfertigung der strafmildernden Wirkung des Geständnisses formulierten Arguments ausgeführt worden ist (o. Teil 1 Kap. 2 C. VI. 3. [S. 278 f.]), muss eine Tatschuld, wenn dieser Begriff überhaupt einen Gehalt aufweisen soll, zum Zeitpunkt der Tat vorliegen. Das Handeln des Kronzeugen ist deshalb eigentlich schuldindifferent.4059 Durch drittbezogene Lügen verletzt der Betroffene also keine auf die Duldung des eigenen Verfahrens bezogene Pflicht. Damit muss es sein Bewenden haben. Im Grunde genommen liegen die Probleme also weniger bei der Wiederaufnahme als bei der Kronzeugenregelung selbst. Es mutet sehr befremdlich an, dass eine Informationsquelle, der der Gesetzgeber so viel Misstrauen entgegenbringt, überhaupt Verwendung finden kann. Entscheidet sich der Gesetzgeber aber dafür, ein solches zweifelhaftes Mittel einzusetzen, letztlich den Verrat zu belohnen, dann soll er sich nicht wundern, dass derjenige, der seinen Freunden untreu ist, umso weniger einem Staat, der sich auf sein Niveau herab begibt, treu sein wird. Man hat den Eindruck, dass hier das Wiederaufnahmerecht als Mittel der gesetzgeberischen Gewissensbeschwichtigung missbraucht wird.4060

E. Weitere Fragen der Wiederaufnahme des Verfahrens An letzter Stelle wollen wir uns zwei Fragen zuwenden, die von grundsätzlicher Bedeutung sind und bei denen es sich empfiehlt, begünstigende und belastende Wiederaufnahme parallel zu behandeln. I. Befristung Allgemein sagt man, die Wiederaufnahme zugunsten dürfe keiner Frist unterstehen.4061 Dem wird man bei einer Wiederaufnahme wegen einer durch faktischen Fehler bedingten Verletzung des Schuldprinzips zustimmen müssen. Die Tatsache also, dass die amerikanische Wiederaufnahme wegen nova (motion for a new trial) im Bundesverfahren innerhalb von 3 Jahren beantragt werden muss (Art. 33 a 1 fedRCP), verkörpert eine schwerwiegende Verkennung der Anforderungen des Schuldprinzips.4062 Beruht die Verletzung des Schuldprinzips aber auf einem erst nachträglich erkannten Rechtsanwendungsfehler (auf einem sog. rechtlichen novum, s. o. C. II. 3. c) bb) [S. 930 ff.]), sehen die Dinge nicht mehr so klar aus. Denn je später der Irrtum entdeckt wird, desto mehr spricht dafür, dass das angegriffene Urteil nicht 4059

Im Erg. ebenso Streng, NK-StGB § 46b Rn. 5. In eine ähnliche Richtung Eschelbach, FS Stöckel, S. 219. 4061 S. Mayer, Révision, S. 129; Fazy, Revision, S. 50, 81, 242; Sotgiu, Revisione, S. 72 f. 4062 Krit. auch Herrmann, Wiederaufnahme, S. 708. 4060

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von Anfang falsch war, sondern dass es nach späteren, zur Urteilszeit aber noch nicht einschlägigen Maßstäben falsch geworden ist. Entscheidet sich der Gesetzgeber dafür, eine Wiederaufnahme auch bei Fehlern materiellen Rechts anzuerkennen, ist er deshalb gut beraten, eine Frist vorzusehen, deren Überschreiten die unwiderlegliche Vermutung begründet, dass kein rechtliches novum vorliegt. Fünf Jahre dürften hier angemessen sein. Eine Wiederaufnahme wegen Verletzung der Verfahrensgerechtigkeit sollte auch unbefristet sein. Bezüglich der Wiederaufnahme zuungunsten hielt man es früher für mehr oder weniger selbstverständlich, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Zeitpunkt ihrer Beantragung und der Verjährungsfrist geben müsse.4063 Für die Wiederaufnahme, „zweifellos ein neuer Akt der Verfolgung des Angeklagten“,4064 müssten dieselben Voraussetzungen gelten, die ohnehin für die Strafklageerhebung gelten. Als Zusatzargumente führte man Gesichtspunkte wie die Beweisschwundgefahr4065 oder das Bedürfnis nach Rechtsruhe an.4066 Am gewichtigsten erscheint das Argument, dass es ungerecht sei, wenn der von vornherein Unbehelligte besser dastehe als der, der ein Verfahren erleiden musste.4067 Eine Gegenauffassung meint, dass die Strafverfolgungsverjährung mit der Rechtskraft ihr Ende finde, so dass erst beim Beschluss gem. § 370 Abs. 2 StPO eine neue Verjährungsfrist zu laufen anfängt.4068 Aus unserer Perspektive müsste der behauptete Zusammenhang zwischen Wiederaufnahme zuungunsten und Verjährung zumindest angezweifelt werden. Wenigstens in der Theorie, aber auch nur in der Theorie wird man der zuletzt genannten Auffassung Recht geben müssen. In der Theorie: Denn regelmäßig geschieht die Verletzung der Prozessduldungspflicht, die die Wiederaufnahme zulasten rechtfertigt, nicht offen, sondern verdeckt. Das bedeutet, dass es durchaus einen Grund gibt, den, gegen den ein Verfahren angestrengt wurde, schlechter zu behandeln als den, der von vornherein immer unbehelligt leben konnte. Der Beschuldigte, der seine Prozessduldungspflicht verletzt, erfüllt sie aber scheinbar doch; er täuscht die Rechtsord4063 Waser, GS 3/2 (1851), S. 377 f.; v. Kries, Rechtsmittel, S. 445; B. Ullmann, Wiederaufnahme, S. 5; Winkler, GS 78 (1914), S. 358; Binding, Strafanspruch, S. 296; Sotgiu, Revisione, S. 63, der aber die Wiederaufnahme zulasten ablehnt; and. Ravizza, DigIt XX/2 (1913), S. 129; so auch die österreichische Regelung, § 352 Abs. 1 östStPO. Siehe auch J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 85, demzufolge die Wiederaufnahme zulasten deshalb unbefristet sein sollte, weil sie nur unverjährbare Straftaten (Mord und Völkermord) zum Gegenstand haben sollte. 4064 Binding, Strafanspruch, S. 297. 4065 H. J. Müller, Wiederaufnahmegründe, S. 76 f.; Loos, AK-StPO § 362 Rn.7. 4066 Loos, AK-StPO § 362 Rn. 7. 4067 Waser, GS 3/2 (1851), S. 378 f.; Ziemba, Wiederaufnahme, S. 237; Knoche, DRiZ 1972, S. 299; Peters, Strafprozeß, S. 685; W. Schmidt, KK-StPO § 362 Rn. 7. 4068 BGH MDR 1973, 191; R. Neumann, Wiederaufnahme, S. 82 ff.; Gössel, LRStPO § 362 Rn. 3.

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nung, die sich deshalb an eine Sperrwirkung gebunden glaubt und keine Gelegenheit mehr hat, die Sache erneut aufzugreifen. Nur in der Theorie: Denn eine Frist braucht die Wiederaufnahme zuungunsten nur, solange das geltende Recht sie auch dort für zulässig erklärt, wo es keine Pflichtverletzung seitens des Beschuldigten gegeben hat. Das ist heute immer noch der Fall, und es ist anzunehmen, dass die Dinge so bleiben. Deshalb sollte wenigstens für die vielen Fälle, in denen das geltende Recht sich von dem entfernt, was hier als vorzugswürdig ausgearbeitet worden ist, die These des Neuanfangs der Verjährung abgelehnt werden. II. Ausgestaltung als relative oder absolute Wiederaufnahmegründe Eine theoretisch fundierte Erklärung dafür, dass bestimmte Wiederaufnahmegründe als „relativ“ ausgestaltet werden, also nur dann eine Wiederaufnahme zu rechtfertigen vermögen, wenn die Entscheidung auf dem im Wiederaufnahmegrund verkörperten Fehler „beruht“, andere hingegen „absolut“ sind, in dem Sinne, dass das Verfahren schon bloß wegen des Fehlers zu wiederholen ist, unabhängig davon, ob es zu einer falschen Entscheidung gekommen sein könnte, gibt es soweit ersichtlich nicht.4069 Meistens beruft man sich auf eine verschwommene Vorstellung von der Schwere des Fehlers: Die Fehler, die der Gesetzgeber als gravierend wertet, erklärt er zu absoluten Wiederaufnahmegründen. Das ist nicht falsch; die hier gebotene, aus der dreisäuligen Rechtskraftlehre abgeleitete Begründung der Wiederaufnahme gibt aber etwas mehr her. Dabei ist zu bedenken, dass es dem Gesetzgeber grundsätzlich freisteht, sich zugunsten des Beschuldigten von den vorpositiven Vorgaben zu entfernen („Billigkeit“, s. o. Teil I Kap. 1 [S. 52]); das dürfte der Bereich sein, in dem die verbreiteten Erklärungen mittels der Schwere des Fehlers ihren Platz haben. Die Wiederaufnahmegründe, die auf einer Verletzung des Schuldprinzips beruhen, sollten grundsätzlich als relative Wiederaufnahmegründe ausgestaltet werden. Ein novum, das die Entscheidung nicht in Frage stellt – das Vorhandensein eines 21., nicht vernommenen Augenzeugen, der etwas aussagen möchte, was seine Vorgänger bereits berichtet haben –, muss keine Wiederaufnahme rechtfertigen. Positivrechtlich würde es hier an der „Eignung“ i. S. v. § 359 Nr. 5 StPO fehlen. Es ist schwer vorstellbar, wie man hier eine andere Regelung treffen könnte. Der Gesetzgeber kann sich höchstens dazu bewegen lassen, bei bestimmten nova die Beruhensprüfung zu erleichtern. So geht er auch bezüglich der Wiederaufnahmegründe von § 359 Nr. 1, 2 StPO vor: Hier wird die Unrichtigkeit der 4069 Siehe Deml, Wiederaufnahme, S. 100, der meint, die absoluten Wiederaufnahmegründe würden „recht ungleichartige Tatbestände“ erfassen; und J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 97, 100 f., der sogar für die Abschaffung der absoluten Wiederaufnahmegründe eintritt.

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in dem fehlerhaften Verfahren gewonnenen Entscheidung vermutet, wenn auch nur widerleglich (§ 370 Abs. 1 HS 2 StPO);4070 einige sprechen deshalb von absolut-relativen Wiederaufnahmegründen.4071 Wenn aber der Gesetzgeber sich dazu entscheidet, bei einem novum einen absoluten Wiederaufnahmegrund zu postulieren, dann spricht viel dafür, dass dem Gesetzgeber nicht mehr die Garantie des Schuldprinzips, sondern eine andere ratio vorgeschwebt haben muss. So geht das französische Recht auch vor: Falsche Zeugenaussagen sind dort als absolute Wiederaufnahmegründe geregelt (Art. 622 Nr. 3 franzStPO; and. Art. 449 Abs. 1a portStPO; Art. 630d itStPO). Das heißt zugleich, dass sie weniger als nova als vielmehr als falsa angesehen werden, also weniger unter dem Blickwinkel der dem Schuldprinzip verpflichteten Wiederaufnahme propter nova als unter dem einer nicht einmal der Verfahrensgerechtigkeit, sondern der staatlichen Autoritätswahrung verpflichteten Wiederaufnahme propter falsa gedeutet werden. Wiederaufnahmegründe, die auf einer Verletzung der Verfahrensgerechtigkeit beruhen, müssen dagegen als absolute Wiederaufnahmegründe ausgestaltet werden. Das ist auch der Grund, weshalb die Wiederaufnahmegründe von § 359 Nr. 1, 2 StPO einen gemischt absolut-relativen Charakter aufweisen: wegen ihrer Proteusgestalt als wahrheitsbezogene nova und als prozessbezogene falsa (s. o. C. IV. 2. [S. 955 f.]). Verfahrensgerechtigkeit ist intrinsisch und nicht bloß instrumentell wertvoll; ihre Einhaltung ist wichtig, unabhängig davon, ob das Entscheidungsergebnis davon beeinflusst wird oder nicht. Auch dann, wenn ein Schöffe eines Schwurgerichts von einem mit dem Beschuldigten verfeindeten Dritten einen Geldbetrag annimmt, aber alles dagegen spricht, dass sich der Schöffe hat beeinflussen lassen, hat der Beschuldigte ein Recht auf einen sauberen, nur Gesetz und Recht verpflichteten und in diesem Sinne gesetzlichen Richter.4072 Dies wird im Ergebnis für den positivrechtlich wichtigsten, auf dem Gedanken der Verfahrensgerechtigkeit beruhenden Wiederaufnahmegrund der richterlichen Amtspflichtverletzung (§ 359 Nr. 3 StPO) anerkannt.4073 Dies begründet man

4070 BGHSt 19, 365 (365; bzgl. § 359 Nr. 2); 48, 153 (158); s. a. BGHSt 31, 365 (371); Giehl, Wiederaufnahme, S. 17 f. 4071 J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 97. 4072 Dies verkennt J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 95, der ein ähnliches Beispiel formuliert und für die Abschaffung absoluter Wiederaufnahmegründe eintritt. Man sollte höchstens daran denken, ihm bei begünstigenden Wiederaufnahmen wegen Verletzung der Verfahrensgerechtigkeit ein ausschließliches Antragsrecht oder wenigstens ein Vetorecht zuzuerkennen, damit nicht die in der Tat missliche Situation eintritt, dass „die Selbstreinigung der Justiz zu Lasten des Angeklagten geht“ (S. 95). 4073 Siehe die Nachw. in den nächsten Fn. Ebenso verhält es sich in Art. 449 Abs. 1b portStPO und anscheinend auch im japanischen Recht, s. Tjong, Wiederaufnahme, S. 413. And. die itStPO, die einen konzeptionell unklaren Wiederaufnahmegrund der „Verurteilung, die in Folge einer vom Gesetz für strafbar erklärten Tat gefällt wird“ kennt/enthält, der richterliche Amtspflichtverletzungen und Zuwiderhandlungen anderer Personen miteinander vermengt, und deshalb nicht umhin kommen kann, einen Kausal-

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weniger mit autoritätsorientierten Gedanken4074 als mit dem eher intuitiven Hinweis auf die Schwere des Fehlers4075 oder mit ad hoc Gesichtspunkten wie dem Beratungsgeheimnis4076 oder der richterlichen Unabhängigkeit.4077 Zuletzt dürfen auch Wiederaufnahmegründe, die auf dem Fehlen eines Rehabilitierungsrechts beruhen, d.h., die eine Verletzung der Prozessduldungspflicht verkörpern, als absolute Wiederaufnahmegründe ausgestaltet werden. Der Gesetzgeber hat sich aber dazu entschieden, § 362 Nr. 3 als einen absoluten,4078 § 362 Nr. 1, 2, 4 StPO als relative Wiederaufnahmegründe auszugestalten.4079 Das ist nur zum Teil Großzügigkeit oder Billigkeit; denn zumindest bei dem Wiederaufnahmegrund der Nr. 4, der den hier formulierten Begründungsrahmen völlig sprengt, wäre eine Ausgestaltung als absoluter Wiederaufnahmegrund völlig fehl am Platze, weil es sich um ein novum handelt. Die hier formulierte Begründung liefert auch die überzeugendste, weil nicht instrumentalisierende Erklärung dafür, dass § 362 Nr. 3 StPO als absoluter Wiederaufnahmegrund ausgestaltet werden darf.

F. Fazit zur Wiederaufnahme des Verfahrens I. Zusammenfassung Im letzten Kapitel unserer Untersuchung beschäftigen wir uns mit der Auflösung der materiellen Rechtskraft, also mit der Wiederaufnahme des Verfahrens. Wiederaufnahme ist hier nicht formell verstanden, als Verfahren oder Rechtsbehelf, sondern als Auflösung einer materiell voll (und nicht nur beschränkt) rechtskräftigen Entscheidung gerade durch denjenigen, der an diese Entscheidung gebunden ist, also durch den Beschuldigten oder durch den Staat. Die Fortsetzung des Verfahrens etwa nach einem Nichteröffnungsbeschluss ist keine Wiederaufnahme in diesem Sinne, weil dieser nur zu einer beschränkt rechtskräftigen Entscheidung führt. Aufgabe dieses Kapitels ist die Bestimmung der Bedingungen, unter denen ein Recht des Beschuldigten oder des Staates zur Auflösung der ihn bindenden materiell voll rechtskräftigen Entscheidung besteht. Mittels des

zusammenhang zwischen der Verfehlung und dem Urteil zu verlangen (im Erg. etwa Galli, NovDigIt XVI [1969], S. 1210; Lozzi, Lezioni, S. 770). 4074 Etwa J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 95, der zugleich meint, das Ansehen der Justiz sei durch Verfolgung des Richters wiederherzustellen. 4075 Etwa Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 249. 4076 R. Neumann, Wiederaufnahme, S. 33; Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 249; W. Schmidt, KK-StPO § 359 Rn. 13; Gössel, LR-StPO § 359 Rn. 34; tendenziell überzeugende Kritik bei J. Meyer, Wiederaufnahmereform, S. 95 Fn. 554. 4077 Ziemba, Wiederaufnahme, S. 102. 4078 Etwa Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 213. 4079 Weber-Klatt, Wiederaufnahme, S. 213.

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positivrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens wird eine solche Wiederaufnahme im materiellen Sinne durchgeführt. Gegenstand der Wiederaufnahme sind in erster Hinsicht Urteile, nicht notwendigerweise Sachurteile. Auch Beschlüsse, die in materielle Rechtskraft erwachsen, sollten, sofern sie in volle materielle Rechtskraft erwachsen, Gegenstand einer Wiederaufnahme sein können. Weil das Gesetz in §§ 359, 362 StPO Beschlüsse nicht erwähnt, ist eine solche analoge Erweiterung nur bei Wiederaufnahmeverfahren zugunsten zulässig. Wir haben uns danach der Frage der Legitimierbarkeit einer Auflösung der materiellen Rechtskraft zugewandt. Diese Frage darf man nicht auf einer begriffskonstruktivistischen Ebene zu lösen versuchen, etwa dadurch, dass behauptet wird, die aufzulösende Entscheidung sei wegen des ihr anhaftenden Fehlers eine Scheinentscheidung, weil sie das nicht ist. Ein traditionsreicher Ansatz versteht die Wiederaufnahme als Gebot der Wahrung der Autorität gerichtlicher Entscheidungen; das Fehlurteil gefährde das Ansehen der Justiz, die Wiederaufnahme beuge dem vor. Diese Ansicht, die vor allem für das französische Recht von großer Bedeutung ist, ist nicht nur per se fragwürdig, weil sie eine Spielart eines prozessualen Machiavellismus verkörpert, sondern auch in ihren Folgen bedenklich, weil sie zu einem äußerst restriktiven Konzept der Wiederaufnahme führt. Aber auch die herrschende Auffassung, die die Wiederaufnahme als Situation versteht, in der die materielle Gerechtigkeit ihre Revanche gegen die die Rechtskraft tragenden Werte der Rechtssicherheit oder des Rechtsfriedens bekommt, ist abzulehnen. Diese Auffassung bedeutet, dass eventuell vorhandene Rechte des Individuums ihm nur zuerkannt werden sollen, solange keine genügend starken oder zahlreichen Interessen anderer dagegen sprechen, m. a. W.: Instrumentalisierung des Einzelnen. Sie ist eine Fortsetzung des autoritätsorientierten Ansatzes, die, wenn auch etwas abgeschwächt, ebenfalls tendenziell zu einer Einschränkung der Wiederaufnahme zugunsten führt, da diese erst bei großen, „unerträglichen“ Ungerechtigkeiten einschlägig sei. Die hier vertretene Begründung der Wiederaufnahme versucht, vom Individuum auszugehen und bedeutet insofern nichts anderes als die Konsequenz einer das Individuum auch ernstnehmenden, vor allem: nicht instrumentalisierenden Strafprozess- und Rechtskrafttheorie. Die drei Säulen der Rechtskraft – Schuldtilgung bzw. Schuldprinzip, Verfahrensgerechtigkeit und Rehabilitierung – sind gleichzeitig die Grundlage des Rechts auf Wiederaufnahme des Verfahrens. Ist der Verurteilte in Wahrheit nicht schuldig, oder ist das Verfahren nicht mit ihm als Prozesssubjekt, sondern an ihm als Objekt eines Akts der Gewalt durchgeführt worden, liegt also eine Verletzung des Schuldprinzips oder der Verfahrensgerechtigkeit vor, muss dem Einzelnen ein Recht zugesprochen werden, die ihn belastende Entscheidung abzuändern; hierin liegen die zwei Grundlagen der Wiederaufnahme zugunsten. Hat der Betroffene seinerseits das Erstverfahren nicht wirklich geduldet, sondern aktiv und rechtswidrig dagegen Widerstand geleistet, steht ihm kein Rehabilitierungsrecht zu; das Fehlen des Rehabilitierungsrechts

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wegen Verletzung der Prozessduldungspflicht ist die Grundlage der Wiederaufnahme zulasten. Auf der anderen Seite wäre es ein Irrweg, aus der eher inquisitorischen oder akkusatorischen Struktur des Strafverfahrens, aus dem Umstand, dass es eine Jury kennt, oder dass seine Entscheidungen mittels einer mündlichen Verhandlung vor einem die Beweise frei würdigenden Gericht gewonnen werden, oder auch der Möglichkeit, einen bestimmten Fehler bereits durch den Einsatz eines ordentlichen Rechtsmittels zu beheben, Rückschlüsse auf die Wiederaufnahme zu ziehen. Der praktisch folgenreichste aller Fehler ist aber die These, die Wiederaufnahme weise den Charakter einer Ausnahme auf. Die Wiederaufnahme beruht auf den drei Grundlagen, die auch die Säulen der materiellen Rechtskraft sind. Eine Ausnahme ist sie deshalb nicht. Anschließend wendeten wir uns der Wiederaufnahme zugunsten des Beschuldigten zu. Unserer Begründung entsprechend unterschieden wir zwei Formen der Wiederaufnahme zugunsten, eine Wiederaufnahme wegen Verletzung des Schuldprinzips und eine wegen Verletzung der Verfahrensgerechtigkeit. Es sind drei Formen der Verletzung des Schuldprinzips vorstellbar: die Verurteilung trotz nicht vorhandener Schuld, die Verurteilung über die vorhandene Schuld hinaus und die Verurteilung für andere als vorhandene Schuld. Entsprechend haben wir als Wiederaufnahmeziele den Freispruch, die Strafmilderung und die Schuldspruchberichtigung abgeleitet. Das erste Ziel wird auch vom Gesetz ohne Einschränkungen anerkannt; den zwei anderen steht aber die Vorschrift des § 363 StPO teilweise entgegen. Aus dem Schuldprinzip haben wir abgeleitet, dass das Vorenthalten einer eigentlich einschlägigen wesentlichen Strafmilderung eine Wiederaufnahme rechtfertigen sollte und dass eine Schuldspruchberichtigung immer dann zulässig sein müsste, wenn das Strafgesetz, das den Schuldspruch getragen hat, nicht demjenigen gleichwertig ist, das in Wahrheit hätte Anwendung finden sollen. Wegen § 363 StPO lassen sich diese Erkenntnisse nur beschränkt auf das positive Recht übertragen, und dies auch dann, wenn man die Vorschrift so großzügig wie möglich auslegt, also bereits jede den Betroffenen begünstigende Strafrahmenverschiebung als anderes Strafgesetz im Sinne dieser Vorschrift ansieht. Demnach kann z. B. sogar das Entfallen eines im Wege der Gesetzeskonkurrenz verdrängten Delikts eine Wiederaufnahme rechtfertigen, wenn aus ihm der untere Strafrahmen des ersten Urteils entnommen worden ist. Wiederaufnahmegrund ist hier ein materieller Fehler, also ein Fehler nicht nur in den faktischen, sondern auch in den rechtlichen Prämissen des Schuld- oder Strafausspruchs. Nicht jeder Fehler erlaubt aber eine Wiederaufnahme; der Fehler muss dem Gericht erst nachträglich bekannt geworden sein, m. a. W., seine Entdeckung setzt ein sog. novum voraus. Positivrechtlicher Anknüpfungspunkt ist hier § 359 Nr. 5 StPO. Auch dann, wenn sich diese Ansicht an sich, wahrscheinlich wegen ihrer Tradition, selbstverständlich anhört, ist es merkwürdig,

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dass nur Fehler, die ohne Kenntnis begangen werden, für korrigierbar erklärt werden und gerade die Fehler, die nicht auf fehlerhaftem Wissen, sondern auf fehlerhaftem Wollen beruhen, ausgeklammert werden. Dies rührt aber daher, dass fehlerhaftes Wollen eigentlich das Recht des Beschuldigten verletzt, nur von einem dem Gesetz unterstehenden Richter abgeurteilt zu werden. In diesem Fall ist nicht die Wiederaufnahme wegen Verletzung des Schuldprinzips, sondern diejenige wegen Verletzung der Verfahrensgerechtigkeit einschlägig; positivrechtlich geht es nicht mehr um § 359 Nr. 5, sondern um § 359 Nr. 3 StPO. In diesen Fällen ist der Fehler derart gravierend, dass die Verletzung des Schuldprinzips in den Hintergrund gerät. Ein lückenloser Schutz des Schuldprinzips entsteht aber erst, wenn beide Wiederaufnahmegründe aufeinander abgestimmt werden, § 359 Nr. 5 StPO mit Wissensfehlern, § 359 Nr. 3 StPO mit Willensfehlern. Weil aber § 359 Nr. 3 StPO nur strafbare Willensfehler erfasst, verbleiben empfindliche Lücken. Es wird hier deshalb vorgeschlagen, dieses Merkmal zu streichen. Wir wenden uns dem Begriff der Neuheit und der Eignung zu. Neu sind die Tatsachen oder Beweismittel, die dem Gericht nicht bekannt waren und von ihm nicht verwertet worden sind. Das bedeutet auch, dass in schriftlichen, summarischen Verfahren Aktenkundigkeit entgegen der überwiegenden Auffassung nicht ausreichen kann, um die Neuheit auszuschließen. Die herrschende Auffassung misst Entscheidungen, die in summarischen Verfahren gewonnen werden, eine stärkere Rechtskraft zu als denjenigen, die in einer Hauptverhandlung entstehen. Den Streit über den Begriff der Eignung berühren wir nur mit äußerster Vorsicht. Die Ansicht, die auf die Wahrscheinlichkeit der Erreichung des Wiederaufnahmeziels abstellt, verträgt sich besser mit dem Umstand, dass das angegriffene Urteil in einer Hauptverhandlung gewonnen wurde, was beim novum, das dieses Urteil zu entkräften sucht, nicht der Fall ist. Diese Überlegung ist aber dort nicht mehr einschlägig, wo die angegriffene Entscheidung nicht im Wege einer Hauptverhandlung erzielt wurde, wie es in summarischen Verfahren der Fall ist, oder wenn dies nur formell passiert ist, wie bei einem auf einer Absprache beruhenden Urteil. Bei solchen Entscheidungen muss schon die bloße Möglichkeit der Erreichung des Wiederaufnahmeziels für die Geeignetheit des novums ausreichen. Entgegen der Tradition der Wiederaufnahme müssen auch Fehler in den rechtlichen Prämissen des Schuld- oder Strafausspruchs eine Auflösung des Urteils gestatten; denn das Schuldprinzip kann auch durch falsche Rechtsanwendung verletzt werden. Die Rechtsordnung ist aber dynamisch; nur Entscheidungen, die bereits zum Zeitpunkt ihres Ergehens falsch waren, können in Betracht kommen. Genauer genommen kann es aus der Perspektive des Schuldprinzips sogar nur auf den Zeitpunkt der Tat ankommen. Insofern kann von einer Parallelerscheinung zu den neuen Tatsachen oder Beweismitteln gesprochen werden, dem rechtlichen novum. Die nachträgliche Aufhebung oder Milderung des angewandten Strafgesetzes ist deshalb irrelevant; eine nachträgliche mildere Rechtsprechung ist das nur, wenn sie mehr tut, als nur einen alten Kurs zu wechseln, sondern vielmehr

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zumindest implizit bedeutet, dass die frühere Entscheidung bereits zum Zeitpunkt ihres Fällens falsch war. Diese Erkenntnisse lassen sich aber nur beschränkt auf das positive Recht übertragen. § 359 Nr. 5 StPO bietet keinen Anhaltspunkt dafür; von „Rechtstatsachen“ zu sprechen, dürfte nicht unmöglich sein, bleibt jedoch forciert. Bestimmte rechtliche nova sind Gegenstand der Wiederaufnahme gem. § 79 Abs. 1 BVerfGG und § 359 Nr. 6 StPO; entgegen der herrschenden Auffassung ist bei letzterer Form der Wiederaufnahme nicht nur derjenige, der beim EGMR einen Sieg errungen hat, zur Wiederaufnahme berechtigt. Eine Wiederaufnahme lässt sich aber nicht nur wegen eines Fehlers im Urteil, sondern auch wegen eines Fehlers in der Art und Weise, wie das Urteil zustande gekommen ist, also wegen einer Verletzung der Verfahrensgerechtigkeit, begründen. Es können zwei Formen der Verletzung der Verfahrensgerechtigkeit unterschieden werden: Es kann sein, dass nur der konkrete Prozess fehlerhaft war, oder es kann sein, dass der Fehler so tief greift, dass jede Verfolgung der Tat ihn ebenfalls aufweisen würde. Entsprechend lassen sich zwei Ziele dieser Form der Wiederaufnahme formulieren: entweder die Wiederholung des Verfahrens oder die endgültige Einstellung. Wiederaufnahmegrund ist selbstverständlich nicht eine beliebige Verletzung des Strafprozessrechts, sondern nur die Verletzung einer Verfahrensregel grundlegenden Charakters, das heißt, einer Verfahrensregel, deren Fehlen die Strafverfolgung zum bloßen Akt der Gewalt macht. Dieser Gesichtspunkt wird anschließend im Einzelnen konkretisiert. Der erste, auch positivrechtlich anerkannte Fall einer Verletzung der Verfahrensgerechtigkeit ist die richterliche Amtspflichtverletzung; jede bewusste, und nicht erst die strafbare Amtspflichtverletzung sollte bereits zur Wiederaufnahme berechtigen. Geisteskrankheit des Richters ist keine vergleichbare Größe. Die Pflichtverletzung weiterer Verfahrenspersonen hat in der Regel nicht das Gewicht einer Pflichtverletzung eines Richters. Nur beim Dolmetscher ist das Recht auf rechtliches Gehör grundlegend kompromittiert; die Pflichtverletzung des Verteidigers erscheint in den Fällen notwendiger Verteidigung als Wiederaufnahmegrund diskutabel. Bei Negationen der Prozessrechtssubjektivität wie die Folter oder Verletzungen des nemo tenetur-Grundsatzes lässt sich, solange die sich daraus ergebenden Beweise Verwertung finden, eine Wiederaufnahme zur Wiederholung des Verfahrens rechtfertigen, nicht aber bei der Verletzung sonstiger Beweisverbote. War bereits Verjährung eingetreten, fehlte es am Strafantrag oder lag bereits eine rechtskräftige Aburteilung vor, so fehlt es an einer Klagerechtsbedingung; das erste Verfahren verkörpert somit eine Verletzung der Verfahrensgerechtigkeit, eine Wiederaufnahme mit dem Ziel der endgültigen Einstellung ist erforderlich. Abwesenheitsverfahren müssen zu einer schwächeren Rechtskraft führen. Erkennt man Fälle einer Verwirkung des Strafanspruchs an, könnte eine Wiederaufnahme in Betracht kommen; es bleibt jedoch zweifelhaft, ob diesen Fehlern die Qualität zukommt, die eine die materielle Rechtskraft rechtfertigende Regel der Verfahrensgerechtigkeit aufweisen muss.

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Das positive Recht bietet bei der Korrektur von Verfahrensfehlern recht wenig. Die Schwierigkeiten sind noch größer als die, die bei den materiellrechtlichen Fehlern angesprochen wurden, weil § 79 Abs. 1 BVerfGG nach herrschender Auffassung auf Verfahrensfehler nicht anwendbar sein soll. Der letzte Teilabschnitt behandelt die Wiederaufnahme zulasten. Sie beruht nicht auf einer Abwägung, die hier ausnahmsweise zuungunsten der Rechtssicherheit ausgeht, sondern schlicht darauf, dass derjenige, der das Verfahren nicht geduldet, sondern sich ihm widersetzt hat, keinen Anspruch darauf hat, am Ende des Verfahrens rehabilitiert zu werden. Eine auf dieser Grundlage errichtete Wiederaufnahme zulasten vermag auch alle gegen das Rechtsinstitut gerichteten Einwänden zu überstehen. Die Behauptung, es verletze den ne bis in idem-Grundsatz, ist nicht mehr als eine begriffliche Festlegung. Art. 103 Abs. 3 GG lässt sich gegen die Wiederaufnahme auch nicht anführen, und dies nicht, weil sie mit dem Willen der Verfassungsgesetzgeber konform war, und noch weniger, weil das vorbehaltlose grundrechtsgleiche Recht des Art. 103 Abs. 3 GG seine verfassungsimmanenten Schranken kennt, sondern schlicht, weil jemand, der sich seiner Verfolgung widersetzt hat, der sie also nicht geduldet hat, nicht „mehrmals bestraft“ wird. Materiell findet die erste Verfolgung erst beim zweiten Anlauf statt. Von einem endgültigen Verbrauch des Strafklagerechts nach dem ersten Verfahren kann man nur sprechen, wenn man das Strafklagerecht willkürlich so definiert hat, dass keine Wiederaufnahme zulasten erfolgen darf. Die Wiederaufnahme zulasten ist nicht notwendig Ausdruck des Kollektivismus; das faschistische Italien bietet das beste Beispiel für eine kollektivistische Auffassung, die das Institut nicht kannte, und unsere Begründung belegt, wie eine das Individuum ernstnehmende Begründung der Wiederaufnahme möglich ist. Das Bild des Damoklesschwerts einer nochmaligen Verfolgung kann man im Fall desjenigen, der nicht einmal ein erstes Verfahren geduldet hat, nicht als Argument gegen eine Wiederaufnahme zulasten anführen. Das Argument, dass ein zweiter Versuch deshalb ungerecht sei, weil er die Ungleichheit der prozessualen Stellungen von Staat und Individuum noch vertiefe, belegt nur, dass die Wiederaufnahme zulasten strengeren Bedingungen unterstellt werden muss als die Wiederaufnahme zugunsten. Ihre praktische Bedeutungslosigkeit ist kein Grund, auf sie zu verzichten, ebenso wenig wie die Tatsache, dass die wenigsten Geschäfte Brände erleben, ein Grund sein kann, keine Feuerlöscher zu haben. Und das Argument, dass eine Vielzahl anderer Staaten keine Wiederaufnahme kennt, ist in so vielen Hinsichten falsch, dass sie sich nicht alle in einer Zusammenfassung nennen lassen. Das eigentliche Wiederaufnahmeziel einer Wiederaufnahme zulasten ist immer die Wiederholung des Verfahrens. Die anderen anerkannten Ziele der Verurteilung oder der Straferhöhung sind immer indirekte Ziele; im strengen Sinne richtet sich die Wiederaufnahme zulasten gegen das Verfahren, das vom Beschuldigten nur scheinbar geduldet worden ist. Wiederaufnahmegrund ist das Fehlen eines

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Rehabilitierungsrechts, weil Rehabilitierung nur als Ausgleich für die Prozessduldung geschuldet ist. Die Prozessduldungspflicht kann nicht durch schlichtes (sondern nur durch begehungsgleiches) Unterlassen verletzt werden, auch nicht durch rechtmäßiges positives Tun. Es muss also um ein rechtswidriges positives oder wenigstens begehungsgleiches Verhalten gehen. Hierin kann aber nur eine notwendige, und nicht eine hinreichende Bedingung für die Wiederaufnahme liegen, weil ansonsten sogar eine Lüge eine Wiederaufnahme rechtfertigen könnte. Es können keine wirklichen materiellen Kriterien gefunden werden, die hier eine Grenze markieren. In diesem Bereich der Unbestimmtheit muss der Staat durch Entscheidung festlegen, welche rechtswidrigen Verhaltensweisen des Beschuldigten eine Wiederaufnahme zulässig machen sollen. Die Bemakelung des Verfahrens durch eine Straftat oder der Gedanke, dass der Beschuldigte nicht durch ein Fehlverhalten eines Drittens prämiiert werden sollte, können eine Wiederaufnahme nicht begründen, da dem das Rehabilitierungsrecht des Betroffenen entgegensteht. Erst recht unmöglich ist es, allein wegen des Vorhandenseins neuer Tatsachen oder Beweismittel ein erneutes Verfahren durchzuführen; dies auch dann, wenn eine solche Wiederholung auf schwerste Straftaten beschränkt bliebe, und selbst dann, wenn das novum die Schuld des Betroffenen mit größter Gewissheit darlegen könnte. Denn das Erdulden eines Verfahrens befreit nicht nur den Unschuldigen, sondern auch den Schuldigen von der Pflicht, dies erneut tun zu müssen. An nächster Stelle beschäftigten wir uns mit den gesetzlichen Wiederaufnahmegründen des § 362 StPO. Das nachträgliche Geständnis (Nr. 4) ist ein novum, das wie gesagt ein erneutes Verfahren nicht zu rechtfertigen vermag. In die Wiederaufnahmegründe der Nr. 1 und 2 muss mittels teleologischer Reduktion ein Fehlverhalten des Beschuldigten hineingelesen werden. An sich wäre das auch bei der Wiederaufnahme nach Nr. 3 geboten; de lege lata erscheint das wegen des Wortlauts der symmetrischen Vorschrift des § 359 Nr. 3 StPO, die ein solches Merkmal explizit enthält, jedoch nicht mehr möglich. Die Wiederaufnahme propter nova gem. § 373a StPO lässt sich nur deshalb legitimieren, weil es im materiellen Sinne nicht um eine Wiederaufnahme geht; der Strafbefehl belastet, wie früher ausgeführt, nicht mehr als ein Eröffnungsbeschluss. Anders verhält es sich beim Bußgeldurteil, das aufgrund einer Hauptverhandlung ergeht; hier erscheint eine umfassende Wiederaufnahme propter nova (§ 85 Abs. 3 OWiG) fehl am Platze. Nicht einmal bei einem auf einer verfassungswidrigen Norm beruhenden Freispruch lässt sich eine Wiederaufnahme zulasten begründen; § 79 Abs. 1 BVerfGG ist allein auf begünstigende Wiederaufnahmen anwendbar. Die zwei in der jüngeren Diskussion vorgeschlagenen Wiederaufnahmegründe neuer Kriminaltechnik (DNA-Test) und der durch eine Lüge erlangten Strafmilderung des Kronzeugen lassen sich nicht legitimieren; in beiden Fällen hat der Betroffene das Verfahren vollumfänglich und pflichtgemäß erduldet, so dass ihm das Recht zusteht, auf immer in Ruhe gelassen zu werden.

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Anschließend ging es um die Frage der Befristung. Die Wiederaufnahme wegen Verletzung des Schuldprinzips sollte im Fall des faktischen Fehlers unbefristet sein. Bei materiellrechtlichen Fehlern sollte man dagegen eine Frist vorsehen, etwa von 5 Jahren. Gleiches gilt für die Wiederaufnahme wegen Verletzung der Verfahrensgerechtigkeit. An sich dürfte die Wiederaufnahme zuungunsten unbefristet sein, weil derjenige, der seine Prozessduldungspflicht verletzt, den Staat durch die scheinbare Barriere der Rechtskraft an der Weiterverfolgung hindert. Solange das geltende Recht Wiederaufnahmegründe kennt, die von dem Gedanken der Verletzung der Prozessduldungspflicht unabhängig sind, sollte es aber auf die Fristen der Verfolgungsverjährung ankommen. Die letzte behandelte Frage war die, ob ein Wiederaufnahmegrund als ein relativer oder absoluter auszugestalten ist. Es ergab sich die interessante Leitlinie, dass Verletzungen des Schuldprinzips relative, Verletzungen der Verfahrensgerechtigkeit absolute Wiederaufnahmegründe hergeben. An sich stellen Verletzungen der Prozessduldungspflicht auch absolute Wiederaufnahmegründe dar. Der Staat kann aber von diesen Vorgaben abweichen, solange das zugunsten des Individuums geschieht. II. Abschließende Bemerkungen zur Wiederaufnahme des Verfahrens Im vorliegenden Kapitel dürfte es uns im Vergleich zu den anderen eher gelungen sein, analytische und historische Dimensionen des behandelten Problems miteinander zu kombinieren, so dass ein Bedürfnis nach ausführlichen abschließenden Bemerkungen nicht besteht. Wir dürfen uns deshalb kurz fassen. Wir konnten sehen, wie die Überwindung des relativ formlosen und auch rechtskraftlosen gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens in Frankreich und später in Deutschland zu einer Aufwertung der Autorität der Gerichtsentscheidung führte, und dass diese Aufwertung eine strenge Beschränkung der Möglichkeiten der Wiederaufnahme des Verfahrens zur Folge hatte. In Deutschland wurde dieser autoritätsorientierte Ansatz aber allmählich von der herrschenden Abwägungslehre abgelöst, die in der Wiederaufnahme den Sieg der Gerechtigkeit über die in der Rechtskraft verkörperte Rechtssicherheit erblickt. Wir versuchten darzulegen, dass der neue Ansatz keine wahre Überwindung des Früheren ist, sondern seine Fortsetzung. Vor allem verbleibt auch der Abwägungsansatz einer interessenorientierten Perspektive verhaftet. Wenn schon in der Währung der Interessen verhandelt wird, gewinnt höchstwahrscheinlich derjenige, der sich in der Mehrzahl befindet – also die Gesellschaft. Die interessenorientierte Betrachtungsweise führt deshalb grundsätzlich zu einem Vorrang der Gesellschaft über den Einzelnen, also zu der Bereitschaft, diesen zugunsten des Gemeinwohls aufzuopfern. Kleine Ungerechtigkeiten müssten vom Einzelnen hingenommen werden: Deshalb bestehe eine beschränkte Strafzumessungs- und Schuldspruchwiederaufnahme, aber keine Wiederaufnahme wegen Fehlern des materiellen Rechts und des Prozessrechts.

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Hier wurde versucht, die Grundzüge der Wiederaufnahme aus der o. Kap. 1 D. (S. 371 ff.) formulierten dreisäuligen Rechtskraftlehre zu herzuleiten, was eine kopernikanische Wende von einer interessenorientierten und deshalb eher gesellschaftsbezogenen zu einer rechteorientierten und deshalb das Individuum ernstnehmenden Betrachtung verkörpert. Die Ideen des Schuldprinzips, der Verfahrensgerechtigkeit und der Rehabilitierung sind die Leitmotive einer materiellen Rekonstruktion sowohl der Wiederaufnahme zugunsten als auch der Wiederaufnahme zulasten. Der Ertrag eines solchen Perspektivenwechsels ist nicht zu unterschätzen. Zum einen führt er dazu, Unstimmigkeiten, die sich bereits innerhalb des herrschenden Ansatzes gebildet haben, zu beseitigen. So ist aus herkömmlicher Perspektive, die den Sinn der Wiederaufnahme darin erblickt, eine Verletzung des Schuldprinzips zu beheben, unklar, warum die Einstellung als Wiederaufnahmeziel fungieren kann. Das Gesetz sieht ein solches Ziel nicht vor, und anfänglich zögerte man auch, den Schritt zu dessen Anerkennung zu tun. Erkennt man aber, dass die Rechtskraft einer Entscheidung auch auf dem Gedanken der Verfahrensgerechtigkeit beruht, erschließt sich ein glatter Weg, dieses Wiederaufnahmeziel anzuerkennen. Auch Einwände, die man seit Generationen gegen die Reichweite einiger der Gründe einer Wiederaufnahme zulasten richtet, vor allem dass es ungerecht sei, den Beschuldigten noch einmal zu verfolgen, wenn er mit dem Verfahrensfehler, auf den § 362 Nr. 1–3 StPO abstellen, nichts zu tun hat, sind letztlich eine intuitive Erfassung des Gedankens, dass der Beschuldigte ein Recht darauf hat, nach verfahrensgemäßer Duldung des Verfahrens rehabilitiert zu werden. Zum anderen und noch wichtiger zeigt die Neubegründung, an welchen Stellen die herrschende Auffassung auf halbem Wege stehen geblieben ist. Geht es bei der Wiederaufnahme um eine Beseitigung einer Verletzung des Schuldprinzips, dann leuchtet es in der Tat wenig ein, wieso die Strafzumessungswiederaufnahme nur bei einem Wechsel des Strafgesetzes möglich sein soll, und vor allem wieso nur Tatsachenfehler eine Wiederaufnahme rechtfertigen sollen. Die rationes der Rechtskraft haben uns als Leitideen gedient, um für eine vorsichtige Erweiterung der Wiederaufnahme auf eine Reihe von noch nicht anerkannten Bereichen zu plädieren. Es hat sich auch herausgestellt, dass eine die Rechte des Individuums ernstnehmende Wiederaufnahmelehre keineswegs eine naive Utopie verkörpert,4080 sondern dass eine sorgfältige Entfaltung des Gehalts der drei rationes, die die Rechtskraft und die Wiederaufnahme tragen, vielmehr zu Ergebnissen führt, die keineswegs als überzogen angesehen werden können. Man muss keine Konzes-

4080 So aber Granata, GiustPen 1950/3, Sp. 55 ff., mit der Gegenüberstellung von „rechtlichen Geboten“ und „idealistischen Hoffnungen“.

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sionen bzw. Abwägungen vornehmen, wenn man den drei die Wiederaufnahme tragenden Gedanken den Gehalt gibt, der zur Hälfte sowieso schon allgemein anerkannt ist. Wichtig ist nur, einzusehen, dass die andere Hälfte immer noch fehlt, und dass die Beschwörung der Rechtssicherheit, um ihr die Anerkennung weiter zu verweigern, nichts anderes als eine instrumentalisierende Aufopferung des Individuums im Interesse der Gesellschaft verkörpert.

Schlussteil A. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse der Arbeit An vorliegender Stelle soll nur eine grobe, äußerst knappe Zusammenstellung einiger zentraler Thesen vorgenommen werden. Für detailliertere Darstellungen sei auf die am Ende der jeweiligen Abschnitte vorhandenen Zusammenfassungen verwiesen (s. o. S. 116 ff., 318 ff., 374 ff., 625 ff., 700 ff., 831 ff., 852 ff., 998 ff.). I. Die vorliegende Arbeit über „Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft“ beschäftigt sich mit zwei größeren Fragenkreisen: Warum darf es überhaupt ein Strafverfahren geben (Strafprozesstheorie)? Wann darf es kein zweites Verfahren geben (materielle Rechtskraft)? Diese beiden Fragen sind innigst miteinander verbunden. II. Im Abschnitt über die Strafprozesstheorie (Teil 1 [S. 41 ff.]) wird vor allem untersucht, weshalb jemand, der unschuldig ist, trotzdem ein Strafverfahren über sich ergehen lassen muss (Teil 1 Kap. 2 [S. 117 ff.]). Das Verfahren wird als eine Verdächtigung charakterisiert, die insofern qualifiziert ist, als sie vom Staat ausgeht und die mögliche Begehung einer Straftat zum Gegenstand hat (Teil 1 Kap. 2 B. IV.–VI. [S. 122 ff., 130 ff., 133 f.]). 1. Die gängigen Antworten – Erfordernisse der Wahrheit und der Gerechtigkeit, des Rechtsfriedens u. a. – legen zwar dar, weshalb die Gesellschaft ein Interesse daran hat, dass der Einzelne das Verfahren duldet. Zu einem Recht gegen den Einzelnen führen sie aber nicht, solange man an einem Instrumentalisierungsverbot festhält (Teil 1 Kap. 2 C. III. 5. [S. 191 ff.]). Auch die Versuche, das Verfahren mit Hinweis auf ein Interesse des Einzelnen zu rechtfertigen (Resozialisierung, Strafverfahren als Beschuldigtenschutz), überzeugen nicht, denn sie bedeuten eine Paternalisierung gegenüber dem Einzelnen, der das noch stärkere Interesse hat, von vornherein unverfolgt zu bleiben (Teil 1 Kap. 2 C. IV. 4.–5. [S. 209 ff., 211 ff.]). Wenn man die Imperative des Instrumentalisierungs- und Paternalisierungsverbots ernst nimmt, kommt man zu der (dem Aufopferungsgedanken zumindest nahestehenden) These, dass das Verfahren, das im Interesse der Gesellschaft durchgeführt wird (konkret: zur Auffindung der materiellen Wahrheit, die ihrerseits erforderlich ist, um den Ernst der möglicherweise verletzten Strafandrohung zu bestätigen), den Einzelnen trotzdem unter der Bedingung in Anspruch nehmen darf, dass dessen Rechtssphäre möglichst intakt bleibt. Das bedeutet, dass das

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Strafverfahren einen Ausgleich für die in ihm verkörperte Belastung bieten muss. Dieser Ausgleich ist die Gewissheit, nie wieder wegen derselben Sache zur Verantwortung gezogen zu werden (Rehabilitierung) (Teil 1 Kap. 2 C. VI. 6. d) [S. 312 ff.]). Da dieser Ausgleich aber nicht perfekt ist, bedeutet jede Verfolgung eines Unschuldigen einen durch keine Theorie überwindbaren Rest an Ungerechtigkeit (S. 314). Der Schuldige dagegen duldet das Verfahren, weil er schuldig ist. Schuld verpflichtet auch zur Duldung des Verfahrens (sog. „Prozessduldungsschuld“). Die Verurteilung und Bestrafung des Schuldigen wiederum tilgen seine Schuld (Teil 1 Kap. 2 C. VI. 6. e) [S. 315 ff.]). Verfahren müssen zudem Anforderungen der Verfahrensgerechtigkeit genügen, zu denen das Prinzip des rechtlichen Gehörs und der nemo iudex in causa suaGrundsatz gehören, ohne die sie zu bloßen Gewaltakten verkümmern würden (Teil 1 Kap. 2 C. III. 2. d) cc) [S. 251 ff.]). 2. Diesen Erwägungen wird eine ausführliche Begründung des Projekts einer universellen Strafprozessrechtswissenschaft vorangestellt (Teil 1 Kap. 1 [S. 41 ff.]). Zentrales Anliegen ist, die eigenen Gedanken in einem nicht vor den nationalen Grenzen Halt machenden Austausch von Argumenten zu entwickeln. Eine universell orientierte Rechtswissenschaft wird sich in erster Linie um die Erhellung der materiellen Tiefenstruktur der einzelnen Rechtsinstitute bemühen und erst anschließend den Weg zum positiven Recht gehen, das dann im Lichte dieser Tiefenstruktur ausgelegt werden soll (Teil 1 Kap. 1 C. [S. 101 ff.]). Sie erblickt im Recht eher ein Geflecht von Gründen als von Entscheidungen, als Ausdruck von ratio und veritas und nicht von voluntas oder auctoritas. III. Die im ersten Teil entwickelten Gedanken über die Begründung des Strafverfahrens führen ohne Zwischenschritte zur Begründung der materiellen Rechtskraft (Teil 2 Kap. 1 [S. 328 ff.]). Materielle Rechtskraft bedeutet die erschwerte oder ausgeschlossene Veränderbarkeit einer Entscheidung, und dies auch in weiteren Verfahren (Teil 2 Kap. 1 A. I. [S. 331 ff.]). In ihrem Kern ist die materielle Rechtskraft kein Ausfluss der Rechtssicherheit (Teil 2 Kap. 1 C. II. [S. 346 ff.]); sie verkörpert vielmehr die Rehabilitierung als Ausgleich für die vom Beschuldigten erduldete Belastung durch das Verfahren oder (im Fall der Verurteilung) die Tilgung der durch die Straftat entstandenen Schuld. Dafür, dass sich die Rechtskraft auch gegen den Beschuldigten auswirkt, darf das Verfahren, das zu der Entscheidung geführt hat, nicht bloß einen Akt der Gewalt verkörpern. Die Rechtskraft beruht somit auf den drei Säulen der Rehabilitierung, der Schuldtilgung und der Verfahrensgerechtigkeit (Teil 2 Kap. 1 D. [S. 371 ff.]). Im weiteren Abschnitt über die materielle Rechtskraft geht es um fünf konkretere Fragen. Worauf erstreckt sich die materielle Rechtskraft (prozessualer Tatbegriff)? Unter welchen Bedingungen wird Schuld getilgt (erste Strafe)? Unter welchen Bedingungen ist Rehabilitierung geschuldet (erste Verfolgung bzw. Ab-

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urteilung)? Was ist die Rechtsfolge der materiellen Rechtskraft (Sperrwirkung)? Unter welchen Bedingungen lässt sich diese Rechtsfolge auflösen (Wiederaufnahme)? 1. Die Gedanken zum Tatbegriff im Strafverfahren (Teil 2 Kap. 2 [S. 378 ff.]) knüpfen an die aus der Strafprozesstheorie gewonnene Einsicht an, dass ein Verfahren gegen einen Unschuldigen immer einen Rest an Ungerechtigkeit verkörpert. Weil ein Mensch, der für Gründe empfindlich ist (= rationaler Mensch), per definitionem keine Ungerechtigkeit verwirklichen möchte, muss derjenige, der ein Verfahren initiiert, wollen, dass die inkulpierte Person schuldig ist. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, zwischen Ankläger und Richter zu unterscheiden (Anklageprinzip) (Teil 2 Kap. 2 B. III. 2. [S. 385 ff., 390 ff.]). Im Anschluss wurde versucht, den Tatbegriff allein aus dem Anklageprinzip zu entwickeln. Alle weiteren in der Diskussion angesprochenen Gesichtspunkte (etwa Beschuldigtenschutz, Gerechtigkeit, Prozessökonomie) sind nachrangig (Teil 2 Kap. 2 B. IV. [S. 409 ff.]). Insbesondere ist der herrschende geschichtlich orientierte Tatbegriff ein Relikt des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens und seines thematisch nur locker gebundenen Spezialinquirenten (Teil 2 Kap. 2 C. IV. [S. 436 ff.]). Kein Staatsanwalt, der eine Anklage wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis (§ 21 StVG) erhebt, muss notwendig wollen, dass der Angeklagte eine Vergewaltigung oder einen Raub begangen hat. Der herrschende Tatbegriff macht die Anklage zur inhaltslosen Formalität und versteht die Beziehung des Anklägers zum Urteil als eine entfernte, als Manifestation von poetischer Gerechtigkeit. Die prozessuale Tat ist allein das, was angeklagt worden ist. Zur Anklage gehört aber immer mehr als ihr expliziter Inhalt. Es gibt eine notwendige Entsprechung zwischen dem Gegenstand der Anklage, des Verfahrens, des Urteils und der Sperrwirkung (sog. Grundregel) (Teil 2 Kap. 2 D. II.–III. [S. 469 f., 470 ff.]). Jeder Versuch, von dieser Grundregel abzuweichen, ist problematisch. Wenn der Strafklageverbrauch weniger erfasst als das, weswegen Anklage erhoben wurde, dann gibt es Verfahrenserduldung ohne Rehabilitierung; wenn aber umgekehrt der Strafklageverbrauch weiter reicht als die Anklage, heißt es, dass man dem Beschuldigten Freiheit vor einer zweiten Verfolgung gewährt, ohne dass es eine erste gegeben hat, was zu einer Reihe von Spannungen führt. Diese Spannungen sind nicht nur im italienischen und amerikanischen Recht, sondern auch in der europarechtlichen Entwicklung festzustellen. Der Tatbegriff muss in diesem Sinne ein kongruent-statischer und nicht ein inkongruent-dynamischer sein (Teil 2 Kap. 2 D. IV. [S. 484 ff.]). Es werden Regeln formuliert, die den impliziten Gehalt der Anklage bestimmen (Teil 2 Kap. 2 D. V.–VII. [S. 510 ff.]). Genauer gesagt bemüht man sich um einen Rahmen, dessen unterste Grenzen diejenigen sind, die ein streng akkusatorisches Verfahren ausschöpfen darf, und dessen oberste Grenzen diejenigen sind,

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die für ein inquisitorisches Verfahren von Relevanz sein werden. Für das deutsche Recht interessieren also in erster Linie diese obersten Grenzen. Es werden fünf Regeln formuliert, drei normative zur Konkretisierung der Vorwurfsrichtung der Anklage und zwei faktische zur Konkretisierung der von der Anklage aufgezeigten Untersuchungsrichtung. Nur das, was sich innerhalb der in der Anklage verkörperten Vorwurfs- und Untersuchungsrichtung befindet, kann noch als impliziter Gegenstand der Anklage anerkannt werden. Alles, was sich jenseits dessen befindet, ist Zufall und wird vom Gericht selbst und nicht vom Ankläger in das Verfahren eingeführt (Teil 2 Kap. 2 D. VII. [S. 520 ff.]). Ein Großteil der Rechtsprechungskasuistik wird im Anschluss aufgearbeitet (Teil 2 Kap. 2 E. III. [S. 545 ff.]). Der hier vorgeschlagene Tatbegriff führt tendenziell zu einer Bestätigung der von der Rspr. gewonnenen Ergebnisse (insb. zum Problemkreis des Organisationsdelikts), mit bestimmten Beschränkungen der Kognitionsbefugnis und der Rechtskraft für weitere Konstellationen, insbesondere der idealiter miteinander konkurrierenden Straftaten, die eher keine einheitliche prozessuale Tat verkörpern sollen. 2. Schlüssel zur Lösung der zweiten Frage nach der ersten Strafe (Teil 2 Kap. 3 [S. 634 ff.]) ist ein Strafbegriff, der sich streng um die Erfassung der besonderen Belastungen des Rechtsinstituts der Strafe bemüht. Diese Belastungen liegen darin, dass eine Strafe eine staatliche Reaktion auf ein Fehlverhalten verkörpert, die angeborene und nicht nur erworbene Rechte antastet (Teil 2 Kap. 3 C. IV. 2. [S. 652 ff.]). Angeborene Recht sind prototypisch Leib, Leben und Freiheit, erworbene Rechte Eigentum und Vermögen. Die Geldstrafe ist Strafe, weil sie sich in einen Freiheitsentzug verwandeln lässt (Ersatzfreiheitsstrafe). Der Gesetzgeber darf aber darüber hinaus Maßnahmen zu Strafen erklären (Strafen im konventionellen Sinne) und ihnen schuldtilgende Wirkung beimessen (Teil 2 Kap. 3 C. V. [S. 659 ff.]). Um nur einige mit der herrschenden Auffassung im Widerstreit stehende Ergebnisse hervorzuheben: Nach diesen Kriterien müssen die Untersuchungshaft wegen Tatschwere (§ 112 Abs. 3 StPO), der militärische Arrest, die Ordnungshaft gem. § 890 ZPO, sowie freiheitsentziehende Maßregeln der Sicherung und Besserung, die nicht dem Abstandsgebot genügen, sämtlich als schuldtilgende Strafen eingeordnet werden (Teil 2 Kap. 3 D. I. 2., IV. 1., 4., 7. [S. 663 f., 682 f., 691 ff., 699]). 3. Die dritte Frage ist die nach der ersten Aburteilung bzw. Verfolgung, genauer: nach den rechtskraftfähigen verfahrensabschließenden Entscheidungen (Teil 2 Kap. 4 [S. 702 ff.]). Ein sog. klassisches Modell, das die Rechtskraftfähigkeit einer Entscheidung auf das Zusammenspiel der drei Merkmale Hauptverhandlung, Gericht und Sachentscheidung zurückführt, wird beschrieben und kritisiert, weil dessen eigentliches Anliegen darin besteht, dem Staat die Gelegenheit zur Zweitverfolgung zu sichern, je sorgloser er mit Strafverfolgung um-

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geht (Teil 2 Kap. 4 B.–C. [S. 704 ff., 728 ff.]). Ein das Rehabilitierungsrecht des Verfolgten ernst nehmendes Modell muss völlig anders ansetzen, nämlich bei den Belastungen, die das Verfahren für den Beschuldigten verkörpert, m. a. W. mit der „Verdächtigungstiefe“ (Teil 2 Kap. 4 E. II.–VI. [S. 741 ff.]). Diese Belastungen überschreiten eine erste Schwelle, wenn Jemand zum Beschuldigten gemacht wird. Mit der Inkulpation entsteht die erste ausgleichsbedürftige Belastung; eine Verfahrensbeendigung nach diesem Zeitpunkt muss deshalb in sog. „beschränkte“ Rechtskraft erwachsen, d.h., sie darf eine erneute Verfolgung nur unter der Voraussetzung neuer Tatsachen oder Beweismittel ermöglichen. Mit dem Beginn der Beweisaufnahme überwindet man die zweite Schwelle; hier werden die Entscheidungsgrundlagen gewonnen und der Beschuldigte einer konkreten Verurteilungsgefahr ausgesetzt. Prozessbeendigungen nach Beginn der Beweisaufnahme müssen in volle Rechtskraft erwachsen. Konkret bedeutet das, dass sowohl nicht-richterliche Entscheidungen als auch Einstellungsentscheidungen in viel weiterem Maß Sperrwirkung entfalten sollen, als es die h. M. annimmt. Auch staatsanwaltschaftlichen Verfügungen kommt beschränkte Rechtskraft zu. Späte Einstellungen, d. h. Einstellungen nach bereits begonnener Beweisaufnahme, führen sogar zum vollen Strafklageverbrauch, es sein denn, sie ergehen mit Zustimmung des Betroffenen bzw. auf seinen Antrag. Auf die Einordnung einer prozessabschließenden Entscheidung als Prozess- oder Sachentscheidung kommt es also nicht mehr an (Kap. 4 F. II.–III. [S. 777 ff.]). 4. Mit der Rechtsfolge Sperrwirkung beschäftigt sich der kürzeste Abschnitt der Arbeit (Teil 2 Kap. 5 [S. 837 ff.]). Insbesondere soll sie nur die Entscheidung und nicht ihre Gründe erfassen. 5. Im letzten Abschnitt (Teil 2 Kap. 6 [S. 853 ff.]) werden einige Grundzüge des Wiederaufnahmerechts untersucht. Das Wiederaufnahmerecht erweist sich als Spiegelbild zur Rechtskraftlehre, als Entfallen ihrer einzelnen Säulen. Es gibt zwei Grundformen der Wiederaufnahme zugunsten des Angeklagten, eine wegen Verletzung des Schuldprinzips und eine wegen Verletzung der Verfahrensgerechtigkeit. Die Wiederaufnahme zulasten beruht wiederum darauf, dass der Beschuldigte aktiv gegen seine Prozessduldungspflicht verstößt, so dass ihm keine endgültige Rehabilitierung geschuldet ist. Die herrschende Auffassung, die die Wiederaufnahme als Obsiegen der Gerechtigkeit über die Rechtssicherheit deutet, wird wegen ihrer instrumentalisierenden Verrechnung von Rechten des Individuums mit Interessen der Gesellschaft kritisiert. In ihrer Bereitschaft, das Individuum für das Allgemeinwohl aufzuopfern, entblößt sie sich als Fortsetzung des älteren autoritätsorientierten Ansatzes (Teil 2 Kap. 6 B. II. [S. 874 ff., 879 ff.]). Diese Grundsätze führen zu einer Reihe von Schlussfolgerungen, die mit denjenigen der h. M. nicht im Einklang stehen. Wiederaufnahmen müssten auch zum Zwecke einer wesentlichen Strafmilderung oder sogar (unter bestimmten Voraus-

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setzungen) einer Schuldspruchberichtigung zugelassen werden (Teil 2 Kap. 6 C. II. 1. b), c) [S. 903 ff., 911 ff.]). Fehler im materiellen Recht, die auf Unkenntnis beruhen, müssten ähnlich wie Tatsachenfehler eine Wiederaufnahme begründen können (sog. rechtliche nova) (Teil 2 Kap. 6 C. II. 3. c) bb) [S. 930 ff.]). Auch schwerwiegende Verfahrensfehler, die die Verfahrensgerechtigkeit der ersten Verfolgung kompromittieren, müssten eine Wiederaufnahme rechtfertigen können (Teil 2 Kap. 6 C. III. 4. [S. 945 ff.]). Bei der Wiederaufnahme zulasten ist die wichtigste aus der Begründung folgende Erkenntnis, dass sie niemals bei bloßen nova, auch nie bei einer Verfahrensstörung durch Dritte, sondern nur bei einer dem Beschuldigten selbst zurechenbaren Verletzung der Prozessduldungspflicht legitimierbar ist (Teil 2 Kap. 6 D. V. [S. 972 ff.]).

B. Abschließende Bemerkungen zur Monografie I. Zuletzt soll versucht werden, aus der Fülle der behandelten Probleme und des verarbeiteten Materials einige übergreifende Thesen in groben, gewagten Pinselstrichen darzustellen. Die Untersuchung bemühte sich darum, den Bogen zu spannen von den Höhen rechtsphilosophischer Fragen nach dem Wesen des Rechts und strafprozessrechtsphilosophischer Fragen nach der Rechtfertigung des Strafverfahrens gegenüber der Gesellschaft und dem Einzelnen einerseits zu den Tiefen der detailreichen Dogmatik des Tatbegriffs und der rechtskraftfähigen Entscheidungen andererseits. Dem universalistisch orientierten Ansatz entsprechend bemühte man sich sowohl diachronisch als auch synchronisch um eine Erweiterung des Untersuchungshorizonts: Die Fragen sind regelmäßig bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, gelegentlich sogar bis zum späten 18. Jahrhundert zurückverfolgt worden, und auch Gedanken in fremdsprachigen, dem Verfasser zugänglichen Publikationen fanden intensive Berücksichtigung. Im Rahmen dieser abschließenden Bemerkungen sollen zunächst einige inhaltliche und anschließend einige methodische Aspekte hervorgehoben werden. II. Wenn man jetzt, am Ende des langen Wegs, den Blick zurück richtet und alle behandelten Fragen nebeneinander stellt, hat man den Eindruck, dass sich vor allem zwei große inhaltliche Leitlinien herausgestellt haben und dass die vorliegende Arbeit zu beiden einen Gegenentwurf bieten möchte. Zunächst scheint es im Strafverfahren so etwas wie einen Vorrang der Gesellschaft vor dem Individuum zu geben. Es kann kein Zufall sein, dass die überwiegend vertretenen Auffassungen immer die Interessen der Gesellschaft in den Vordergrund stellen. Man vertritt eine gesellschaftsorientierte Verfahrenslehre (Wahrheit und Gerechtigkeit, Rechtsfrieden, Abwägung), eine gesellschaftsorientierte Rechtskraftlehre (Rechtssicherheit, Rechtsfrieden), eine gesellschaftsorientierte Lehre der Begründung der materiellen Rechtskraft (das hier sog. „klassi-

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sche“ Modell) und zuletzt eine gesellschaftsorientierte Lehre der Auflösung der materiellen Rechtskraft (Abwägung von Rechtssicherheit und Gerechtigkeit). Zum anderen erscheint es auch verblüffend, wie viele der bedenklichsten und am stärksten bekämpften Aspekte des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens die Reformbestrebungen des 19. Jahrhunderts zu überleben wussten. Die Kritik der Reformliteratur richtete sich gegen den inquisitorischen Tatbegriff, der das Gericht ohne thematische Bindung nach Straftaten des Inquisiten jagen ließ, und gegen das Institut der absolutio ab instantia, die einen auf die Ewigkeit hin ungetilgten Verdacht verkörperte. Es ist bemerkenswert, wie wenig man sich in diesen zwei Bereichen vom Schatten der eigenen Vergangenheit befreien konnte. Beim Tatbegriff bemühte man sich nicht einmal darum, dies zu kaschieren. Bei der Bestimmung der materiell rechtskraftfähigen Entscheidungen sind die vertriebenen Gespenster der absolutio ab instantia aber unter neuem Gewand aufgetaucht: Einstellung wegen Verfahrenshindernissen und Opportunitätseinstellung heißen sie jetzt, und schon merkt man nicht mehr, dass dieselben Bedenken, die früher geltend gemacht wurden, wieder einschlägig sein müssen. Es ist auch erstaunlich, dass gerade dort, wo die Überwindung des Inquisitionsverfahrens am deutlichsten erfolgte, nämlich bei der Abschaffung der gerichtlichen Voruntersuchung, dies zumindest für die Rechtskraftlehre eine Auflockerung der Bindungen zur Folge hatte, da die an die Staatsanwaltschaft übertragene, das Vorverfahren abschließende Entscheidung (nach der herrschenden, hier abgelehnten Auffassung) nicht einmal mehr in beschränkte Rechtskraft erwachsen sollte, wie es noch bei der richterlichen Außerverfolgungsetzung der Fall war. Wenn man bedenkt, dass das Inquisitionsverfahren ein im Interesse von Wahrheit und Gerechtigkeit durchgeführtes Verfahren ist und dass diese Belange in erster Linie gesellschaftsorientierte sind, dann erscheint diese zweite Leitlinie sogar als Konkretisierung der Ersten. Auf diese höhere Ebene mussten wir deshalb hinaufsteigen. Unser harter Fels war der diametral entgegenstehende Gedanke, dass Individuen Rechte haben und dass Interessen anderer niemals als Grund ausreichen können, jemandem ein ihm zustehendes Recht zu entziehen. M. a.W.: Es gibt ein Instrumentalisierungsverbot. Daraus ergab sich die Gebotenheit, nicht erst zu begründen, warum das Verfahren enden sollte, wie es die herrschende Auffassung tut, sondern bereits, warum es anfangen darf. Die Rechtskraftlehre bot zum großen Teil bereits eine Antwort auf diese Frage. Sie ist nicht bloß der Plan B eines Strafverfahrensrechts, das an sich allein der Wahrheit und der Gerechtigkeit verpflichtet ist und das es deshalb von sich aus vorziehen würde, fortgesetzt zu werden, sondern der Ausgleich, den ein Verfahren, das Unschuldige einseitig belästigen darf, zu gewähren verpflichtet ist, um nicht in eine Instrumentalisierung zu entarten. Wie hier mehrmals gesagt wurde: Der Grund, weshalb das Verfahren überhaupt beginnen darf, ist, dass es auf immer enden soll.

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II. Es dürfte auch angemessen sein, eine Arbeit, die mit einem langen Kapitel über die eigene Methode anfängt, mit methodischen Überlegungen abzuschließen. Ich darf hier die Hoffnung äußern, im Laufe der Untersuchung den Ertrag der geschichtlich-analytischen Methode und der universalistischen, vorpositiven Orientierung sichtbar gemacht zu haben. Die Ernstnahme der Geschichte hat die Erkenntnis ermöglicht, wann genau bestimmte Entscheidungen getroffen oder auch nicht getroffen worden sind. Wir konnten sehen, wie die in der RStPO noch zurückhaltend (aber immerhin) enthaltenen Ansätze im Sinne eines engeren Tatbegriffs von einer Rechtsprechung, der die Idee des Spezialinquirenten mit seiner ungebundenen Marschroute am Herzen lag, überhaupt nicht aufgegriffen wurden. Die vielen Aporien, auf die der herrschende geschichtlich orientierte Tatbegriff führt, beruhen letztlich auf diesen Fehlern und sind deshalb ohne eine grundsätzliche Neuorientierung nicht lösbar. Die Probleme wurden gelöst durch eine manipulative, einzelfallorientierte Anwendung des Begriffs, durch die sachlich richtige, aber angesichts des Gesetzeswortlauts zumindest zweifelhafte These der beschränkten Rechtskraft des Strafbefehls und durch ad hoc Einschränkungen vor allem für brisante Fälle (fortgesetzte Handlung, Organisationsdelikt). Wir konnten auch begleiten, wie der große Erfolg der Überwindung der absolutio ab instantia, also des trotz Erduldung eines Verfahrens ungetilgten Verdachts – eine Errungenschaft, die die Reformbewegung des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens in der RStPO feiern konnte – allmählich von mehreren Seiten, nämlich vom Einzug der aus dem Zivilprozessrecht herrührenden Lehre von den Prozessvoraussetzungen und vom Siegeszug der opportunitätsorientierten Einstellungen wieder rückgängig gemacht wurde, und wie dagegen die wenigen Fesseln, die das inquisitorische Verfahren mit seiner gerichtlichen Voruntersuchung kannte – die beschränkte Rechtsfähigkeit der Außerverfolgungssetzung –, durch die vollständige Übertragung der Herrschaft des Vorverfahrens auf die Staatsanwaltschaft verschwinden konnten. Wir konnten zudem die im Laufe des 20. Jahrhunderts eintretende Umstellung von einer autoritätsorientierten zu einer abwägungsorientierten Deutung der Wiederaufnahme des Verfahrens begleiten und erkennen, wie sehr sich beide darin ähneln, nicht nur was einzelne Argumentationsmuster und Ergebnisse anbelangt, sondern vor allem in ihrer Bereitschaft, sich ungeniert über Rechte des Individuums hinwegzusetzen. Erst ein Blick, der bis zu den Wurzeln der Entstehung des heutigen Verfahrens zurückgeht, wird diese Zusammenhänge offenbaren können. Die universalistische Orientierung konnte uns ihrerseits sowohl zeigen, dass es anders geht, als auch, dass es anders nicht geht. Das wichtigste Beispiel für etwas, das keine Naturnotwendigkeit darstellt, das in diesem Sinne auch anders geht, dürfte die These sein, nach der erst das Sachurteil zur vollen materiellen Rechtskraft führt. Die hier vertretene Gegenthese eines Strafklageverbrauchs vor Verfahrensabschluss wird weniger seltsam anmuten, wenn man erfährt, dass sie

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anscheinend bereits im römischen Recht und heute im amerikanischen Recht anerkannt war bzw. ist. Das wichtigste Beispiel für etwas, das durchaus eine Naturnotwendigkeit darstellt, ist die hier sogenannte Grundregel, die die Entsprechung zwischen dem Gegenstand der Anklage, des Verfahrens, des Urteils und der Sperrwirkung aussprach. Dort, wo man sich von diesem Entsprechungsverhältnis entfernt, ergeben sich Spannungen, die man durch eine Vielzahl von Notbehelfen zu überwinden versucht. Der eigentliche Ertrag des universalisierenden Ansatzes lässt sich aber nicht in einer abschließenden Zusammenfassung ausmachen. Es geht um die Vielfalt und Qualität der Argumente, um die Möglichkeit, auf Übersehenes oder Ungedachtes zu stoßen. Auch die Bedeutung einer vorpositiven Orientierung ist hoffentlich klar geworden. Sie bedeutet konkret, dass man Problemen auf den Grund gehen, dass man nach archimedischen Punkten suchen muss. Die Lösung ist selten dort, wo man zuerst auf eine zu stoßen glaubt, weil bereits das Problem selten dort ist, wo man es zum ersten Mal zu sehen bekommt. Jeder Versuch, etwa das Problem des Tatbegriffs erst beim Organisationsdelikt zu lösen, ist zum Scheitern verurteilt, weil dieses Problem eine sekundäre oder sogar tertiäre Erscheinung ist, ein bloßes Symptom eines Ansatzes, der der Idealkonkurrenz so viel Bedeutung für die Reichweite der prozessualen Tat zuschreibt, weil er in Verkennung der äußersten Grenzen des Anklageprinzips immer noch vom ungebundenen Spezialinquirenten des gemeinen Inquisitionsverfahrens ausgeht. Die Theorien, die man hier entwickelt hat, waren zwar komplex, in dem Sinne, dass sie sich nicht in einem einzigen Gedanken erschöpft haben, aus dem alle Gesichtspunkte abgeleitet werden konnten. Dennoch belegt das ganze Gebäude, wie viel dafür spricht, in den hier ausgearbeiteten Gesichtspunkten die eigentlichen Gründe hinter den einzelnen, bisher eher unverbunden untersuchten Rechtsinstituten zu erkennen. Beispielsweise hat seit der Anerkennung der endgültigen Einstellung als Wiederaufnahmeziel die Wiederaufnahme längst nicht mehr nur mit dem Schuldprinzip zu tun, sondern auch mit der Situation einer Verletzung der Verfahrensgerechtigkeit. Dann muss diese Idee auch etwas mit der Begründung der Rechtskraft und der Begründung des Strafverfahrens zu tun haben. So ließen sich die hier formulierten Theorien nicht nur von vorne nach hinten, sondern wohl auch von hinten nach vorne entwickeln, was auch als zusätzliche Bestätigung ihrer Richtigkeit und Fruchtbarkeit angesehen werden kann. Es ist aber leider das unvermeidbare Schicksal derartig anspruchsvoller theoretischer Gebäude, dass gerade ihre Geschlossenheit und Konsequenz ein Hindernis sein können, dass sie übernommen werden (von den 1000 Seiten, die die Monografie erreicht hat, kaum zu sprechen). Die Wikipedia-Gesellschaft verlangt nach schnell verständlichen und leicht anwendbaren Topoi. Die Abwägung ist unter solchen Bedingungen konkurrenzlos. In der Tat braucht man keine tausendseitige Monografie, wenn es überall auf Abwägungen ankommt. Man braucht nicht einmal eine ganze DIN-A4 Seite.

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Trotzdem sind es einfache Gedanken, die die Monografie tragen. Gerade um den Blick dafür nicht zu trüben, sind Zitate großer Philosophen sparsam eingesetzt worden. Die Idee eines vorpositiven Rechts, die die ganze Arbeit durchkreuzt, ist nichts Mysteriöses, sondern Ausdruck eines nur mit äußerster, unnatürlichster Selbstzucht überwindbaren Bedürfnisses, zwischen Macht und Recht zu unterscheiden, also der Einsicht, dass die Frage nach dem Vorhandensein eines Befehls und nach der Autorität desjenigen, der ihn erlassen hat, nicht mit der Legitimitätsfrage einerlei ist. Die der Arbeit zugrunde liegende Rechtsphilosophie geht also von Selbstverständlichkeiten aus – vor allem, dass Macht nicht gleich Recht ist und dass der Wille vieler oder sogar fast aller noch nicht ein Recht gegen einen Einzelnen begründet. Daraus folgt auch eine an sich schlichte Strafprozessrechtsphilosophie: Ihre zentralen Gedanken sind, dass Schuld zur Duldung eines Verfahrens verpflichtet, und dass Verfahren gegen den Unschuldigen nur dann mehr sind als Macht bzw. Wille vieler, wenn er am Ende des Verfahrens rehabilitiert wird, d.h. auf immer in Ruhe gelassen wird. Die Überlegungen zum Tatbegriff nehmen ihren Ausgangspunkt darin, dass gerade der gute Ankläger wollen muss, dass sich sein Vorwurf bewahrheitet, und dass dies nicht mehr der Fall ist, wenn es um einen anderen, beliebigen Vorwurf geht, sowie dass dieser Wille dasjenige ist, was den Ankläger unfähig macht, über den Vorwurf, den er selbst in den Raum gestellt hat, zu urteilen. Beim Strafbegriff konkretisierten wir die Intuition, dass Strafen etwas berühren, was eigentlich dem Zugriff des Staates entzogen ist, also vorstaatliche Größen, letztlich angeborene Rechte. Bei den rechtskraftfähigen Entscheidungen ging man von dem Leitgedanken aus, dass man von einer Erduldung des Verfahrens nicht erst mit der gerichtlichen Sachentscheidung in der Hauptverhandlung sprechen kann, und dass auch das Vorverfahren schon eine Belastung darstellt, unabhängig davon, ob es sich in den Händen eines Gerichts oder einer anderen staatlichen Behörde befindet. Und zuletzt ging es bei der Wiederaufnahme um die Idee, dass es ungerecht ist, die Verurteilung eines Unschuldigen aufrechtzuerhalten (Verletzungen des Schuldprinzips), dass es nicht angeht, eine Entscheidung aufrechtzuerhalten, die letztlich an dem Betroffenen vorbei gewonnen wird (Verletzungen der Verfahrensgerechtigkeit), und dass andererseits derjenige, der ein Verfahren duldet, nicht erst dann Anspruch auf Ruhe hat, wenn er sich im Falle seiner Schuld zu ihr bekennt. Diese einfachen Ideen stehen hinter dem Versuch, für ein kleines Problemfeld eines kleinen Rechtsgebiets Rechtswissenschaft als Wissenschaft der Unterscheidung von Recht und Macht zu betreiben, als vierte Gewalt,4081 die über die Machtausübung der anderen drei Gewalten Wache zu halten hat.

4081

Grdl. Schünemann, FS Roxin I, S. 8 f.

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Ziethen, Jörg: Methodisch-kritische Anmerkungen zum Begriff der Tat im Strafprozess, in: Kansai University Review of Law and Politics 31 (2010), S. 33 ff. Zimmermann, Holger: Freiheit und Gebundenheit der Staatsanwaltschaft bei der Anklageerhebung, 1988 (zit. Anklageerhebung) Zipf, Heinz: Die „Verteidigung der Rechtsordnung“, in: Frisch/W. Schmid (Hrsg.), Festschrift für Bruns, 1978, S. 205 ff. – Kriminalpolitik, 2. Aufl. 1980 Zippelius, Reinhold: Legitimation durch Verfahren?, in: Paulus u. a. (Hrsg.), Festschrift für Larenz, 1973, S. 293 ff. Zitzlaff: Die strafprozessualische Rechtsregel ne bis in idem im Lichte der Judikatur des Reichsgerichts, in: GA 1894, S. 208 ff. Zöller, Mark: Die transnationale Geltung des Grundsatzes ne bis in idem nach dem Vertrag von Lissabon, in: Amelung u. a. (Hrsg.), Festschrift für Krey, 2010, S. 501 ff. Zschockelt, Alfons: Verbrechen und Vergehen gegen das Betäubungsmittelgesetz, in: NStZ 1998, S. 238 ff. Zuccalà, Giuseppe: Anm. zu Corte di Cassazione, Sezioni Unite, RIDP 1949, 61, in: RIDP 1949, S. 62 ff. – Einheitliches europäisches Strafgesetzbuch als Ziel der Strafrechtsvergleichung?, in: Duttge u. a. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Schlüchter, 2002, S. 117 ff. Zucker, Alois: Die Reformbedürftigkeit der Untersuchungshaft, Prag, 1879 (zit. Untersuchungshaft) – Civil und Criminalprocess, GrünhutsZ 15 (1887), S. 319 ff. Zweigert, Konrad: Zur Methode der Rechtsvergleichung, in: SG 1960, S. 193 ff. – Rechtsvergleichung, System und Dogmatik, in: Bettermann/Zeuner (Hrsg.), Festschrift für Bötticher, 1969, S. 443 ff. – Die kritische Wertung in der Rechtsvergleichung, in: Fabricius (Hrsg.), Festschrift für Schmitthoff, 1973, S. 403 ff. – Die soziologische Dimension der Rechtsvergleichung, in: RabelsZ 38 (1974), S. 299 ff. Zweigert, Konrad/Kötz, Hein: Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiet des Privatrechts, Bd. I: Grundlagen, 3. Aufl. 1996 (zit. Rechtsvergleichung)

Sachverzeichnis Bei mehreren Einträgen wurden zentrale Passagen kursiviert; auf die Zusammenfassungen am Ende der einzelnen Abschnitte ist nicht verwiesen worden. absolutio ab instantia 317 Fn. 1210; 363 f.; 550; 560; 630; 704 f.; 708 f.; 717 ff.; 744; 746 f.; 759; 783; 798 ff.; 978; 992 f. Absprachen 48 f.; 74; 77 f.; 84 f.; 169 Fn. 582; 188 Fn. 654; 261 ff.; 926 – s. a. Konsensprinzip Abwägung 150 f.; 196; 217 ff.; 292; 348; 358; 370 Fn. 1439; 480; 758; 872 f.; 873 ff.; 894 ff.; 898; 899 f.; 909; 913 f.; 927; 929; 953 f.; 962; 992 f. – s. a. Instrumentalisierungsverbot; Konsequentialismus AE-NÖV 210 akkusatorischer Prozess 64 f. Fn. 135; 69 ff.; 245 ff.; 398 ff.; 401 ff.; 426 – in Italien und Lateinamerika 78; 180; 923 Fn. 3761 – und materielle Wahrheit 79 ff.; 177; 180 f.; 183; 886 – und Tatbegriff 398 ff.; 403 ff.; 429; 469 f.; 510 ff.; 513 ff.; 520 ff. – und Wiederaufnahme 884 ff. – s. a. Anklageprinzip; inquisitorischer Prozess; Prozessstruktur; Relativismus strafprozessstruktureller Relativismus Aktenkenntnis des Richters 58; 73 f.; 539; 551 – s. a. Wiederaufnahme novum allgemeine Prozessrechtslehre 135 ff.; 144 f.; 294 ff.; 334; 380 f.; 409 f. Amar 54 Fn. 92; 246; 258 f.; 501; 966 amerikanisches Strafverfahren – und Absprachen 84 f.; 206; 265 f. – und Ashe v. Swenson 414 f.

– und attachtment of jeopardy 756 ff. – und Beweisverbote 58 f.; 83 f.; 111; 250 f. – und Blockburger-Test s. Tatbegriff normative Theorien Blockburger-Test – und Ciucci v. Illinois 414 – und discovery 250 f. – und due process s. due process – und Moore v. Dempsey 254 f. – und motion for a new trial 858; 923; 994 – und Rechtsmittel gegen Freisprüche 848 ff. – und same transaction-test s. Tatbegriff normative Theorien same transactiontest – und Strafbegriff 651 f. – und Tatbegriff 472 f.; 497 ff. – und Vorbereitung von Zeugen 84 – und Wiederaufnahme zulasten 970 – s. a. United States Supreme Court angeborene Rechte 654 ff.; 662 ff.; 665 ff.; 671 ff. – s. a. Schuldprinzip; Strafbegriff Anklageprinzip 383 ff. – und Anklageform 77 f.; 401 ff. – Begründung 385 ff.; 388 ff. – Definition 392 ff.; 398 ff. – im Disziplinarverfahren 392; 405 f. – Gehalt 392 ff. – im Ordnungswidrigkeitenrecht 392 – und Tatbegriff 383 ff.; 403 ff.; 469 f. – s. a. akkusatorischer Prozess und Tatbegriff Anti-Rationalismus s. Dezisionismus

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Arndt 351; 716 f.; 722 f. – s. a. Wahrspruch Art. 103 III GG 33 f.; 39; 369 ff.; 421 ff.; 502 f.; 531 f.; 576 ff.; 734 ff.; 736; 810 ff. – „allgemeine Strafgesetze“ 378; 641 f.; 685 f. – „mehrmals bestraft“ 784 – Unerträglichkeitsgrenze 961 f. – und Wiederaufnahme zulasten 959 ff. – s. a. ne bis in idem-Grundsatz; Verfassungsrecht Aufopferungsgedanke 125 Fn. 392; 290 Fn. 1089; 292; 294; 306 ff.; 310 ff.; 654 ff. Augustinus 156; 342 Autorität 44; 65; 155; 338 ff.; 721; 866 ff. – s. a. Binding; Grund; Machiavellismus, prozessualer; Recht; Rocco; Willkür

Beweisverbot 58 f.; 83 f.; 95; 107 Fn. 107; 111; 143; 166; 178 f.; 198 Fn. 690; 200; 214 f.; 218 f.; 222 ff.; 231 Fn. 846; 242; 249; 250; 359; 413; 948 f.; 951 Billigkeit 52; 484; 661; 668 f.; 839; 900 f.; 996 Binding 149; 186 Fn. 650; 203; 339 f.; 378; 436 f.; 451 ff.; 721 f.; 869 Bohnert 763 ff. Bottke 129 Fn. 407; 229 Fn. 833; 249 Buridans Esels 138 Fn. 439; 141 f.; 755; 964 BVerfG – Cannabis-Entscheidung 111 – Liquorentnahme-Entscheidung 223 – Lissabon-Entscheidung 61 – Tagebuch-Entscheidung 214 f.; 225 f. – s. a. faires Verfahren; Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege

Begriffskonstruktivismus 135 ff.; 334 ff.; 409 f.; 711; 860 f.; 865 f.; 964 – s. a. Prozess Begründungsstile von Gerichtsentscheidungen 63 ff. Belehrung gem. Art. 36 WÜK 226 Beling 117; 148 ff.; 225; 334 – bzw. Beling’sche Herausforderung 303 ff. Bendix 171; 174 Fn. 605 Bentham 217 Berufungsverwerfung gem. § 329 I 1 StPO 57 Beschleunigungsgrundsatz 129 Fn. 407; 189 Fn. 663; 215 Beschuldigtenschutz – Spannungen 184 f.; 206; 484 ff.; 494; 495 ff.; 503; 645; 775 f.; 786; 852; 949 – und Tatbegriff 412 ff.; 423 – als Zweck des Strafverfahrens 203 ff. Beschuldigter – Begriff S. 122; 767 Bevormundung s. Paternalismus

Carnelutti 61 Fn. 125; 62 Fn. 128; 64 Fn. 135; 123; 138 Fn. 439; 200 f.; 366 f.; 978 Carrara 60; 104 Fn. 299; 116; 203; 311 Damaska 79 Fn. 195 DDR 366 Degenkolb 149 Demokratie 53 f.; 68 ff.; 222; 229; 264 Dershowitz 248 Dezisionismus 59 ff.; 221; 323 f.; 873 f.; 959 ff. – s. a. Anti-Rationalismus; Grund; Rationalismus; universelle Strafprozessrechtswissenschaft; Voluntarismus; Willkür dienende Rolle des Strafverfahens 167; 240 ff.; 716 Diskurstheorie 262; 266 ff. Disziplinierung der Strafverfolgungsbehörden 83 f.; 358 ff.; 823; 965 doppelfunktionale Prozesshandlungen 125 Fn. 394; 140; 143

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Dolmetscher, Recht auf ein 256; 947 due process 107 f.; 205; 255; 414; 501 f. Duff 201; 211 Dynamik des Verfahrens 138 f.; 481 f. Einspruch, außerordentlicher 365 Entschädigung wegen Strafverfolgung 313; 318 Entscheidungen s. materielle Rechtskraft verfahrenserledigender Entscheidungen Ergänzungsklage 574 f.; 624; 860 Ergebnisoffenheit des Verfahrens 249 f. Erkenntnis, richterliche 60; 778 Erkenntnisproblem 49 f.; 181 ff. – s. a. Motivationsproblem; Wahrheit, materielle Eröffnungsbeschluss 50 f.; 475 f.; 732; 744 f. Ermittlungsverfahren – als Eingriff bzw. Übel 128 Fn. 407; 761 ff. – als Internum 761 ff. – prägende Kraft des 146 f. – und Prozessbegriff 147 Fn. 477 – und Prozessrechtsverhältnis 146 f.; 295 – Rechtsschutz 129 Fn. 407 – Reformdiskussion 58 – und Tatbegriff 773 f. – und Verteidiger 179 – als Verwaltungsverfahren 712 erworbene Rechte 654 ff. – s. a. angeborene Rechte Etikettenschwindel 643; 644 f.; 651; 659; 695 EuGH – Entscheidungsstil 63 Fn. 129 – Gözutök-Entscheidung 824 – und Tatbegriff 485; 504 ff. Exner 66 faires Verfahren 107 ff.; 219 f.; 228 f.; 245 ff.; 251 ff.; 299 ff.; 357; 828; 957 Fn. 3895

Fallvergleich 47 Fehlurteil 183 ff.; 251 f.; 332 ff.; 881; 882; 894; 898 ff.; 901 f. – s. a. Freund Ferrajoli 204 f. Finalismus s. sachlogische Strukturen Finanzämter, Strafgewalt der 388 f.; 667 f.; 727 f.; 740 f. Folter 71 Fn. 162; 179; 256 f.; 259; 282; 782 f.; 948; 961 Frankreich 103; 352 ff.; 409 f.; 486 ff.; 866 ff. – garde à vue 74 Fn. 176 – Stil der Gerichtsentscheidungen 62 f. – Tatbegriff 63; 471; 486 ff. – Wiederaufnahme 866 ff.; 877 f.; 886 f. Freispruch 166; 317 f.; 779; 781 ff. – und Rechtsmittel 848 ff. Freund 162; 163 ff.; 193 Fn. 674; 923 Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege 178; 219; 227 f.; 276 Fn. 1030; 962 Gaede 299 f. gegensatzaufhebende Begriffsbildung 142 Fn. 458; 179 f.; 194 ff.; 220; 228; 232 f.; 299; 320 f.; 882 Generalprävention 159 ff.; 193 f.; 257 f.; 279 Fn. 1040 – und Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege 227 f. – negative Generalprävention 160; 167; 182 – positive Generalprävention 153 Fn. 514; 160 f.; 167; 188; 982 Gerechtigkeit 236 ff.; 360 ff. – poetische 398; 437 f.; 511 Geschworengericht 50; 52 ff.; 110 – und Fragenstellung bzw. Tatbegriff 486 ff. – „hung jury“ 758 – und Wiederaufnahme 886 ff.

Sachverzeichnis Geständnis 70 Fn. 158; 188 Fn. 654; 238 Fn. 866; 254; 278 f.; 783; 923 – und Wiederaufnahme 885; 923; 946 Fn. 3856; 948 f.; 951 f.; 977; 979; 981 ff. – s. a. Konsensprinzip Glaser 511 ff. Goldschmidt 138 ff. (Prozess als Rechtslage); 203; 335 f. (Rechtskraft als Gerichtskraft); 722 Grasnick 171 f.; 180 Fn. 631; 263 Grund 44 ff.; 46 (Definition, Universalitätsanspruch); 48 ff.; 56; 99 f. harassment durch Strafverfolgungsbehörden 412 f.; 414 f.; 444; 501 f.; 757 f. Hassemer 204 Hauptverhandlung – Zweiteilung 78 f.; 199 f. Hélie 217; 353 f. Hinweis gem. § 265 I StPO 411 f. Hirsch 89 Hruschka 86 f.; 93 indefensión 107 f. informationelle Selbstbestimmung 126 Fn. 398 inquisitorischer Prozess 69 ff. – und materielle Rechtskraft 352 f.; 362 ff. – und Tatbegriff 383 ff. – und Wiederaufnahme 884 ff. – s. a. absolutio ab instantia; akkusatorischer Prozess; Anklageprinzip; Prozessstruktur; Strafprozessstruktureller Relativismus Instrumentalisierungsverbot 104; 167; 192 ff.; 209 ff.; 225; 234 ff.; 310 ff.; 347; 371 ff.; 656 ff.; 741 ff.; 853; 874 ff.; 899 ff. – s. a. absolutio ab instantia; Aufopferungsgedanke; Konsequentialismus; Paternalismus; Schuldprinzip Interessen 213 ff.

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Italien 103; 109; 962 f. – und Tatbegriff 493 ff. – und Wiederaufnahme zulasten 993 ff. Jahn 262 jüngstes Gericht 255 Fn. 942 Jury s. Geschworengericht justice retenue 342 f.; 887; 971 Justizirrtum s. Fehlurteil Kahlo 297 ff. Kaufmann, Armin 88 f. Klagerecht s. Strafklagerecht Köhler 292; 294 ff. Konsensprinzip 261 ff. – s. a. Absprachen; Schuldprinzip; Strafbefehl; Wahrheit, materielle Konsequentialismus 157 ff.; 158 (Begriff); 224 f., 368 f. – s. a. Abwägung; Instrumentalisierungsverbot Konstruktivismus s. Begriffskonstruktivismus Kosten des Verfahrens 120 ff. Kreuzverhör 49; 73; 78 f.; 81 Kultur 61 ff.; 99 f. Legitimation durch Verfahren 151 ff.; 888 f. Legitimationswirkung des Verdachts 282 ff. Lesch 152; 154 f. Lüderssen 264; 270 ff. Luhmann 151 ff. Machiavellismus, prozessualer 155 f. – s. a. Autorität; Macht Macht 44 ff.; 116 – s. a. Autorität; Grund; Machiavellismus, prozessualer; Recht; Rocco; Willkür Massenmedien 189 f.

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Methode – Auffindung archimedischer Punkte 59, 112 – eigene konkrete Vorgehensweise 101 ff. – geschichtlich-analytische Methode 112 – Sprache 113 methodischer Pessimismus 119; 277 Mittermaier 160; 217; 288; 383 f.; 405 f.; 410 Montero Aroca 205 Motivationsproblem 208 – s. a. Wahrheit, materielle Dachauer Schütze Müller, Ingo 176; 204 Mündlichkeitsprinzip 78; 748 ff. (und materielle Rechtskraft); 884 ff., 888 ff. (und Wiederaufnahme) Mythos der Rechtskraft 356; 894 Nachtragsanklage 412; 546 Nationalsozialismus 80 Fn. 195 (Kritik am „Parteiverfahren“); 177 (und § 244 II StPO); 313 Fn. 1202 (Begriff der „Reinigung“); 361 Fn. 1392, 364 f. (und materielle Rechtskraft); 478 f. (und dynamisch-inkongruenter Tatbegriff); 977 (und Wiederaufnahme zulasten propter nova) ne bis in idem-Grundsatz – als Prozessgrundrecht 369 ff. – s. a. Art. 103 III GG; Rechtskraft, materielle nemo iudex in causa sua-Grundsatz 257; 390 ff. – s. a. Anklageprinzip; Tatbegriff, prozessualer und Anklageprinzip nemo tenetur-Grundsatz 231; 242; 257; 948 f. Nichtigkeitsbeschwerde 365; 858 f. Nouvelle Defense Sociale 200; 210 f.; 368 Öffentlichkeit 123 f.; 210 f.; 745 f. Opfer 48 f.; 326 f.

Packer 205 Parteiverfahren s. Akkusatorisches Verfahren Partikularismus 55 ff. – s. a. Gründe Paternalismus 209 ff. – s. a. Instrumentalisierungsverbot Paulus 170 Fn. 587 f.; 251 f. Pawlik 230 ff. Pessimismus s. methodischer Pessimismus Peters, Karl 36 (Strafprozesslehre), 146 (Rolle des Ermittlungsverfahrens), 198 f. (Resozialisierung), 347; 455 f.; 478 f.; 481 f.; 928 (Rechtstatsachen) Pflichtverteidigung gegen den Willen des Angeklagten 75 poena extraordinaria 783 Postmoderne Ansätze 62 Fn. 128; 94 Fn. 266; 113 Fn. 341; 170 f. Problemdenken 93 ff. procedural justice 244 f. – s. a. Verfahrensgerechtigkeit Provokation s. Tatprovokation Prozess – als Rechslage 138 ff. – s. a. Goldschmidt – als Rechtsverhältnis 135 ff., 145 f., 291 ff. – s. a. Strafprozesstheorie Gegenstand; Verdächtigung Prozessduldungsschuld 240 ff.; 315 ff.; 615 ff.; 784 f. Prozessgegenstand – Begriff 379 f. – und Prozessstoff 379 f., 393 ff., – s. noch prozessuale Tat Prozesshindernisse 150 f.; 293; 296; 373 Fn. 1449; 708; 719 f.; 788; 794 ff. – Tod 800 f.; 804 f. – s. a. absolutio ab instantia; Rechtskraft prozessbeendender Entscheidungen, materielle Einstellung wegen Prozesshindernisse

Sachverzeichnis Prozessrechtssubjektivität, Lehre von der 297 ff. Prozessstoff 379 f.; 393 ff. Prozessstruktur 69 ff.; 398 ff. – s. a. akkusatorischer Prozess; Anklageprinzip; inquisitorischer Prozess; Relativismus strafprozessstruktureller Relativismus Prozessvoraussetzungen s. Prozesshindernisse Räuberbande 156 Rationalismus 44 ff. – s. a. Anti-Rationalismus; Dezisionismus; Grund; Kultur; Methode; universelle Strafprozessrechtswissenschaft; Voluntarismus; Willkür Realismus 173 f. Recht – als Gegensatz von Willkür 44 ff.; 105; 116 – und Kultur 61 ff. – s. a. Grund; Methode; universelle Strafprozessrechtswissenschaft rechtliches Gehör 256; 949 f. Rechtsfrieden – als Fundament der materiellen Rechtskraft 350 f. – und Wiederaufnahme 871 ff. – als Zweck des Strafverfahrens 187 ff.; 195 f. Rechtshängigkeit 109 f.; 846 ff. Rechtskraft, materielle – und Ansehen des Staates 338 ff. – Auflösung s. Wiederaufnahme – Begriff 36 f.; 328 ff. – begriffskonstruktivistische Theorien 334 ff. – beschränkte 330 f.; 706 f.; 732 f.; 733; 735 f.; 741 f.; 761 f.; 767 ff.; 956 ff. – in der DDR 366 f. – als Disziplinierung der Strafverfolgungsbehörden 358 ff.

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– und „dreisäulige“ Rechtskrafttheorie 371 ff. – als Fiktion oder Präsumption der Wahrheit 352 ff. – als Gebot der Gerechtigkeit 360 ff. – als Gebot des Rechtsfrieden 350 f. – und Gründe der Entscheidung 837 ff. – und in dubio pro reo 842 – als individuelles Recht 369 ff. – im Inquisitionsprozess 351 f.; 362 ff. – und Menschenwürde 370 – im Nationalsozialismus 364 f. – negative Dimension 36 f.; 330; 837 ff. – und Popularklage 845 ff. – positive Dimension 37 ff.; 354; 419 f.; 838 f.; 883 – und Privatklage 843 ff. – und Prozesszwecke 117 ff.; 139 – Rechtsnatur 372 f.; 840 ff. – und Rehabilitierung 372; 840 – als Sanktionierung der Strafverfolgungsbehörden 358 ff. – und Schuldtilgung 371 f. – als Schutz des Angeklagten 354 ff. – und Tenor 837 ff. – und Verfahrensgerechtigkeit 372 – als Verfahrenshindernis 841 ff. – und Verfassungsrecht 369 f. – und Vertrauensschutz 347 ff.; 818 ff. – als Wahrheit 351 ff. Rechtskraft verfahrenserledigender Entscheidungen, materielle – und attachtment of jeopardy 756 ff. – und Begründungspflicht 739 f.; 792; 821 – und Beweisaufnahme 747 ff.; 752 f. – eigenes Modell 740 ff. – einzelne Entscheidungen – begriffliche Festlegungen 778 f. – Beschluss gem. § 153 II StPO 788 ff. – Beschluss gem. § 153a II StPO 806 ff. – Beschluss gem. § 154 II StPO 808 ff.

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– Beschluss gem. § 154b IV StPO 808 ff. – Beschluss gem. § 174 I StPO 788 – Beschluss gem. § 205 StPO 806 – Beschluss gem. § 206a StPO 803 ff. – Beschluss gem. § 206b StPO 806 – Beschluss gem. § 349 I StPO 815 – Beschluss gem. § 349 II StPO 815 – Beschluss gem. § 349 IV StPO 815 – Beschluss gem. § 368 I StPO 815 – Beschluss gem. § 371 StPO 815 – Beschluss gem. § 383 I 1 StPO 788 – Beschluss gem. § 31a II BtMG 794 – Beschluss gem. § 47 I Nr. 1 JGG 794 – Einstellung wegen Opportunität 709 f.; 718 f.; 779; 788 ff.; 806 ff.; 825 ff. – Einstellung wegen Prozesshindernisse 708; 719; 779; 794 ff.; 803 ff. – Freispruch 779; 781 ff. – Nichteröffnungsbeschluss 705; 786 ff. – polizeiliche Strafverfügung 705 Fn. 2802; 727 f. – Sicherungsverfahren, Sachurteil im 785 f. – staatsanwaltschaftliche Verfügungen 709; 710; 762 ff.; 767 ff.; 816 ff. – Verfügung gem. § 153 I StPO 825 ff. – Verfügung gem. § 153a I StPO 828 – Verfügung gem. § 153b I; 153 c I; 153d I; 153 f. I, II 825 ff. – Verfügung gem. § 153c IV, V; 153 d II; 153 f III 829 – Verfügung gem. § 154 I 827 f. – Verfügung gem. § 154b I-III StPO 827 f. – Verfügung gem. § 154c StPO 828 – Verfügung gem. § 170 II StPO 816 ff. – Verfügung gem. § 411 III 1 829

– Verfügung gem. § 45 I JGG 825 ff. – Weisungsgebundenheit 726 f.; 770 – Strafbefehl 707; 735 f.; 810 ff. – Verurteilung 779; 784 – und Verzicht 750 ff.; 791 f.; 796; 807 f. – Eröffnungsbeschluss 732; 744 f. – Gantzer 731 ff. – und Gerichtsentscheidung 707; 721 ff. – und Hauptverhandlung 707; 712 ff.; 732; 745 f.; 753 f. – herrschendes bzw. klassisches Konzept 704 ff.; 710 ff. – Begründung 710 ff. – Struktur 707 – Herzog, Peter 734 ff. – und hung jury 758 – und litis contestatio 757 – und nova 767 ff.; 773; 791 – s. a. Rechtskraft, materielle beschränkte Rechtskraft – Radtke 736 ff.; 819 – und römisches Recht 757 – Roxin 729 ff. – und Sachentscheidung 707; 715 ff.; 731 f.; 732; 778 – Schlüchter 729 ff. – und Verdächtigungstiefe 741 ff. – und Verfahrensgerechtigkeit 774 f. – und Verfassungsrecht 735; 780 Rechtssicherheit – als Fundament der materiellen Rechtskraft 344 ff. – und Tatbegriff 416 f. – und Wiederaufnahme 871 ff. Rechtsvergleichung 94 ff. Rechtswissenschaft 41 ff. – in Deutschland 102 f.; 106 – und Ideologie 43 – aus der Innenperspektive 60 f.; 100 – Nationalbezug 41 f. – universeller Charakter 42 ff.

Sachverzeichnis – als Erforschung sachlogischer Strukturen 88 ff. – als formelle Rahmenwissenschaft 86 ff. – und Gefahren 113 ff. – als universelles Problemdenken 93 f. – als Rechtsvergleichung 94 ff. – als vierte Gewalt 116; 1017 – als Wissenschaft 46 f. – als Wissenschaft der Unterscheidung von Recht und Macht 116 Rehabilitierung 310 ff.; 372; 740 ff.; 839; 840 Reinigungseid 783 Relativismus – kultureller Relativismus 61 ff. – staatstheoretischer Relativismus 66 ff.; 79 Fn. 195 – strafprozessstruktureller Relativismus 69 ff. Resozialisierung 198 ff.; 209 ff.; 366 f. Richtervorbehalt 388 f. Rocco 328; 339 f.; 711; 723; 725 sachlogische Strukturen 88 ff. Sachurteil – Problem des unrichtigen Sachurteils 332 ff. – s. a. Rechtskraft verfahrenserledigender Entscheidungen, materielle; Freispruch bzw. Verurteilung Sanktionierung der Strafverfolgungsbehörden – s. Disziplinierung der Strafverfolgungsbehörden Sauer 138 Fn. 439; 336 f. Savigny 353; 384 Schild, Wolfang 263 Schmidhäuser 190 Schmidt, Eberhard 67; 140; 194 f.; 237; 403; 723; 869 Schünemann 116; 169 f.; 311; 1017 Schuldprinzip 182; 193; 273 f.; 657 ff.; 899 f.; 901 ff.; 923

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– s. a. Konsensprinzip; Schuldtilgung; Strafbegriff; Wahrheit, materielle Schuldtilgung 371 f.; 636 ff.; 657 ff.; 839 – und fait qualifié 638; 784 f.; 839 Schweigerecht 74 f.; 95; 214; 242; 257 Fn. 948 – s. a. nemo tenetur-Grundsatz sekundäre Viktimisierung 48 f. – s. a. Kreuzverhör Solidarität 230 ff. Sonderopfer s. Aufopferungsgedanke Sperrwirkung 36 f.; 330; 837 ff. – s. a. Rechtskraft, materielle; Rechtskraft verfahrenserledigender Entscheidungen, materielle; Wiederaufnahme Spezialprävention 198 ff. Spielräume des Gesetzgebers 49 ff.; 510 ff.; 775 ff. Steinberg 292 f.; 294 ff. Störerprinzip 284 ff. Strafbefehl 34; 564 ff. (Tatbegriff); 810 ff. (materielle Rechtskraft), 811 (Rechtsnatur nach H. Mayer); 814; 989 ff. (Wiederaufnahme) – Rechtfertigung 185; 280 f.; 810 ff.; 921 f.; 926 ff. Strafbegriff 640 ff. – Absehen von Strafe 672 f., 689 – Auferlegung prozessualer Kosten 669 f. – Auflagen gem. § 153a StPO 694 ff. – des amerikanischen Supreme Court 651 f. – vs. Aufopferung bzw. Enteignung 654 ff.; 658 – Beugemittel 697 f. – bürgerlicher Tod 663 – disziplinar- bzw. ordnungsrechtliche Sanktionen 673 ff. – Arrest, militärischer 682 f. – Ausweisung eines Ausländers 683 f. – Beihilfen, Streichung von 683 – Berufsverbot 683

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Sachverzeichnis

– Genehmigung, Rücknahme bzw. Widerruf 683 – Gewerbeuntersagung 683 – des EGMR 649 f. – eigener Strafbegriff 652 ff.; 659 – Strafe als Reaktion auf Fehlverhalten 653 f. – Strafe als Entzug eines angeborenen Rechts 654 f. – Systematik der Strafen 659 ff. – Einziehung 688 f. – Erzwingungshaft 667 f. – Freiheitsstrafe 663 – Führungsaufsicht 692 f. – Geldbuße 666 ff. – Geldstrafe 660, 665 f. – und juristische Personen 671 f. – Leibesstrafe 663 – Maßregeln der Sicherung und Besserung 691 ff. – Ordnungsgeld 698 – Ordnungshaft 698 f. – poena naturalis 672 f. – private Sanktionen 697 – probation 670 f. – prozessuale Kostenentscheidungen 665 – als Reaktion auf Fehlverhalten 646 f. – Schuldspruch 689 f. – und Schwere 647 ff.; 666 f. – Sicherungsverwahrung 691 f. – Steuerzuschlag 669 – Strafähnlichkeit 642 ff. – Strafaussetzung zur Bewährung 670 – Todesstrafe 663 – Untersuchungshaft 663 ff. – Verfall 687 – Vermögensstrafe 666 – Verwarnungsgeld 669 – Zwangsgeld und -haft 697 f. Strafklagebedingungen 150; 560 f.; 916 f.; 949

Strafklagerecht 148 ff. – s. a. Strafklagebedingungen Strafprozess – als Degradierungszeremonie 123; 745 f. – als Ermittlung 126 ff. – als Inbegriff von Zwangsmaßnahmen 125; 754 – als Informationsverarbeitungsprozess 127 f. – ganzheitlicher Charakter 57 f.; 82 ff. – als Jagd 247 – als Kommunikationsvorgang 253 – als latente soziale Bedrohung 122 – als Legitimationsbedingung der Strafe 257 – als ein Politikum 66 – als sportlicher Wettkampf 245 ff.; 747 – als Strafe 123 ff.; 162; 201 f.; 238; 240; 257; 659; 745 – als Ungerechtigkeit 151; 304 ff.; 314 – als Verdächtigung 128 ff. – s. Prozess; Strafprozesstheorie, Gegenstand; Verdächtigung Strafprozesstheorie 117 ff. – Fundamentalfrage 32, 118 – Gegenstand 119 ff. – Strafverfahren, Begriff 120 – Strafverfolgung, Begriff 119 f. – Übel des Strafverfahrens 120 ff. – s. a. Verdächtigung – als komplexe Theorie 320 f. – als normative Theorie 117 f.; 133 ff. – Rechtfertigungsstufen 157 ff.; 197 f.; 216 f.; 234 ff.; 322 ff. – und Strafprozesslehre 36 – als Strafprozessphilosophie 36 – als vorpositive Theorie 32 f.; 104; 110 – s. a. Methode; universelle Strafprozessrechtswissenschaft strafprozessualer Tatbegriff – s. prozessualer Tatbegriff Stuckenberg 87 f.; 152; 249

Sachverzeichnis Systemtheorie – s. a. Legitimation durch Verfahren Tagebuch 214 f.; 225 f. Tatbegriff, prozessualer – im akkusatorischen Verfahren 516 ff. – und allseitige Kognition 520 f.; 548 f. – und Anklageprinzip 383 ff.; 403 ff.; 469 f. – als „autonomer“ Begriff 502 ff. – und Beschuldigtenschutz 412 ff. – als dynamisch-inkongruenter Begriff 477 ff. – des EGMR 508 ff. – eigener Ansatz 468 ff.; 510 ff.; 520 ff. – einzelne Fallgruppen – Abtreibung, Tötung 586 f. – Alternativität 418 ff.; 611 ff.; 615 ff. – Amnestie 581 – Anschlussdelikte 611 ff. – Antragsdelikt und Offizialdelikt 450; 568 f. – Aufenthaltsbeschränkung, Verstoß gegen 603 f. – Begehungs- und Unterlassungsdelikt 556 – Begünstigung, Vortat 613; 619 f. – Beteiligungsform 554 – Betrug, Brandstiftung 590 f. – Betrug, Diebstahl 559 f. – Betrug, Submissionsabsprachen 588 f. – Betrug, Unterschlagung 612; 617 – Betrug, Urkundenfälschung 583 – Brandstiftung, unterlassene Hilfeleistung 612; 617 f. – Dauerdelikte 598 ff.; 607 ff. – Diebstahl, Hehlerei 613; 618 – Diebstahl, Raub 557 f. – Fahren ohne Fahrerlaubnis 601; 608 f. – Fahren im fahruntüchtigen Zustand 602 f.

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– fortgesetzte Handlung bzw. wiederholte Strafgesetzverletzungen (Serienstraftaten) 591 ff. – Gerichtsbarkeit, fehlende 561 ff. – grober Unfug 583 – Handlungseinheit, Idealkonkurrenz 581 ff. – als Indiz für prozessuale Tatmehrheit 531 f. – Kindesentziehung, wiederholte 579 f. – Körperverletzung, Tötung 557 – „kupierte“ Rechtskraft 571 – nachträglicher Eintritt einer strafschärfenden Tatfolge 572 ff. – nachträgliche Vornahme eines „gleichartigen“ Verhaltens 576 ff. – Nichtanzeige geplanter Straftaten, Mord 556; 612; 616 ff.; 630 – Opfer, Mehrheit und Verschiedenheit von 620 – Ordnungswidrigkeit 565 ff. – Organisationsdelikte 434; 435; 449 f.; 598 ff.; 607 ff. – Privatklagedelikt und Offizialdelikt 569 ff. – Qualifikationen, Privilegierungen 526 f.; 553 – Realkonkurrenz 585 ff. – Regelbeispiele 527; 533 – Schießen an bewohnten Orten 583 – Spezialitätsgrundsatz und Auslieferung 580 f. – Spionage 601 f. – Steuerhinterziehung 580 – Strafbefehl 564 f. – Strafvereitelung, Vortat 613 f.; 618 f. – Unfallverursachung, Unfallflucht 587 f. – Vergewaltigung, Körperverletzung 558 f. – Verjährung 581 – Verschiebung und Vermehrung von Straftaten 622 – Versuch und Vollendung 553 f.

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Sachverzeichnis

– Vorbereitungshandlung und Versuch 554 – Vorsatz und Fahrlässigkeit 555 f. – Waffenbesitz, unerlaubter 602; 609 f. – Wehrdienstverweigerer 422 f.; 576 ff. – Wilderei 583 – Zuständigkeit, fehlende sachliche 561 ff. im Ermittlungsverfahren 773 f. des EuGH 504 ff. und Europarecht 425 f., 503 ff. faktische Theorien – Identität der Handlungssubstanz (Oehler) 438 ff. – laienorientierter Intuitionismus (Achenbach) 439 f. – Lehre von der Gesamtschau (Neuhaus) 440 ff. – same transaction-test 443 f. – Zeit- und Ortgleichheit (Schlehofer) 442 f. und Gerechtigkeit 416 ff. und Geschworenengericht 486 ff. und Gesetzeskonkurrenz 522 ff. „Grundregel“ 470 ff. nach der h. M. 431 ff. und idem factum oder idem crimen 486 ff. innere Verknüpfung 585 und Inquisitionsverfahren 383 ff. in Japan 516 und juristische Personen 430 f. kognitionsorientierte Lehren – konkrete Möglichkeit der Sachverhaltsfeststellung 461 ff. – Lehre von der Untersuchungsrichtung 464 ff.; 537 Fn. 2127 und Konkurrenzlehre 432; 438 f.; 445 ff.; 531 ff.; 581 ff.; 585 ff. und Lehre von der dreifachen Identität 409 f. „normative Kupierungen“ 450 f.; 506; 532 f.; 549 f.; 560 ff.

– normative Theorien – Blockburger-Test 453 ff.; 472 f. – Identität der beeinträchtigten Rechtsgüter 457 ff. – Identität der Normverletzung (Binding) 451 ff. – Identität des Unrechtskerns (Hruschka) 460 f. – materiell-rechtlicher Tatbegriff 445 ff. – Richtung des Tätigkeitsakts bzw. „Zielrichtung des Handelns“ (Peters) 455 f. – sozialer Sinngehalt (Geerds) 456 f. – Übereinstimmung des rechtlichen Unwertgehalts 457 ff. – und objektive Zurechnung 534 ff. – als Prozessgegenstand 379 ff.; 393 ff. – und Prozessökonomie 412 ff. – und Rechtskraftlehre 416 f. – und Rechtssicherheit 416 f. – Unteilbarkeit 549 f. – und Vermeidung einander widersprechender Entscheidungen 418 ff. – Vermittelnde (normativ-faktische) Theorien 465 ff. – und Verfassungsrecht 421 ff., 502 ff. – und Verteidigungsrecht bzw. rechtliches Gehör 410 ff. – und Wahlfeststellung 460; 466; 524 f. – und Wiederaufnahmevorschriften 417 f. Tatproportionalität 279; 907 Tatprovokation 222; 950 Tatstrafrecht 382 f. Theile 153 Fn. 511; 263; 266 ff. Tyrannei der Mehrheit 68 Tugend 325 f. Überwachungsgesellschaft 191 f. undetermination 51 United States Supreme Court – Alford-Fall 128 Fn. 404; 266 – Entscheidungsstil 64

Sachverzeichnis – Green v. United States 355; 444 Unschuldsvermutung 152; 283 f.; 962 Untersuchungshaft 663 ff. – und Haftgrund der Tatschwere 165 f., 664 Untersuchungsrichter 75 f.; 180; 383 ff.; 761 ff. Verdächtigung 128 ff. Verdachtstilgung s. Rehabilitierung – Dimensionen 132 f. – Inhalt 129 ff. – qualifizierte Verdächtigung 131 ff.; 747 ff. – als Übel des Strafverfahrens 128 ff.; 133 – s. a. Strafprozesstheorie, Gegenstand; Tatbegriff, prozessualer Verfahrensgegenstand s. Prozessgegenstand Verfahrensgerechtigkeit 243 ff.; 252 ff. – Inhalt 256 f. – und materielle Rechtskraft 372 – und Wiederaufnahme 900 f.; 938 ff. Verfahrenshindernisse s. Prozesshindernisse Verfahrensmaximen s. Prozessmaximen Verfahrensstoff s. Prozessstoff Verfassungsrecht 107 ff.; 369 f.; 421 ff.; 502 ff.; 735; 780; 959 ff. Vergeltungstheorie 238 ff. Verteidigungsrecht 256 Voluntarismus 45, 59 ff. – s. a. Anti-Rationalismus; Dezisionismus; Grund; Rationalismus Vorbehalt einer späteren Verfolgung 540 f.; 560 Waffengleichheit 250; 966 f. Wahrheit, materielle 79 ff.; 168 ff.; 181 ff.; 194 f.; 248 – und Amtsermittlungsgrundsatz 169; 180; 183

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– und „Dachauer Schütze“ 186 f.; 192; 207 f.; 212 f.; 242 f.; 255 f. – Korrespondenztheorie 170; 172 ff. – prozessuale Wahrheit 170 ff.; 180 f. – und Vergeltungstheorie 239 – s. a. Konsensprinzip; Schuldprinzip Wahrspruch 351; 716; 722 f.; 724 Welzel 88 f. Weßlau 264 f. Widerspruchslösung 214 f. Wiederaufnahme 853 ff. – und Abneigung der Gerichte 892 ff. – absolute oder relative Wiederaufnahmegründe 996 ff. – und Amtspflichtverletzung 919 f.; 942 ff.; 946 f.; 953 ff.; 986 ff. – als Ausnahme 892 ff. – und Autorität richterlicher Entscheidungen 866 ff. – und Bagatellstraftaten 877 f. – Befristung 994 ff. – Begriff 856 ff. – begriffskonstruktivistische Ansätze 865 f. – und Beschlüsse 862 f. – Callari 882 – Cristiani 881 – eigener Ansatz 883 f.; 898 ff. – in Frankreich 866 ff.; 877 f.; 886 f. – und freie Beweiswürdigung 888 f. – Gegenstand 861 ff. – und geisteskranker Richter 945 f. – und Geschworenengericht 886 ff. – nach der h. M. 871 ff. – in Italien 877; 878 f. – Janitti Piromallo 865 f. – Müller, H. J. 880 f. – und Mündlichkeit 888 ff.; 920 f. – als neues Verfahren 860 ff. – und Prozessstruktur 884 ff. – und Rechtsmittellehre 889 ff. – und Rechtstatsachen 928 – Schöneborn 888 f.

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Sachverzeichnis

– und Strafbefehl 814; 862 f.; 878; 921 f.; 989 ff. – und Verfügungen der Staatsanwaltschaft 864 f. – und § 211 StPO 732 f.; 735 f.; 787 f.; 859 f. – und § 363 StPO 876; 903 ff. – und § 364 StPO 871 – zugunsten des Beschuldigten 898 ff. – und Abwesenheitsverfahren 949 f. – Eignung 924 ff.; 996 f. – und Einstellung 915 ff.; 941 – und Gesetzesänderung 933 ff. – und Gnade 900 f. – und novum 917 ff.; 920 ff. – als Recht des Beschuldigten 853; 899 ff. – wegen Rechtsfehler 926 ff.; 938 ff. – und Rechtsprechungsänderung 935 ff. – und Schuldprinzip 899 f.; 901 ff. – und Schuldspruchberichtigung 911 ff. – und Strafzumessung 902; 903 ff. – und Verfahrensfehler 900 f.; 938 ff.; 942 – und Verfahrensgerechtigkeit 900 f.; 938 ff. – und Verwirkung des Strafanspruchs 950 – Wissens- und Willensfehler 918 ff.; 951 f.; 953 ff. – gem. § 359 Nr. 1, 2, 4 955 f.; 996 ff. – gem. § 359 Nr. 3 StPO 919; 942 ff.; 951 f.; 991 ff.; 997 f. – s. a. Wiederaufnahme Amtspflichtverletzung – gem. § 359 Nr. 5 StPO 917 ff.; 937 f.; 951; 955 f.; 996 – gem. § 359 Nr. 6 StPO 937 f.; 951 – gem. § 79 I BVerfGG 937; 952

– zulasten des Beschuldigten – und Abwägungsansatz 957 – und Art. 103 III GG 959 ff. – und contempt of court 970; 976 f.; 984 – und DNA-Test 980; 991 ff. – eigene Begründung 957 ff. – Kritik 959 ff.; 967 ff. – und Kronzeugenregelung 993 f. – Legitimierbarkeit 956 ff. – und ne bis in idem-Grundsatz 959 – propter nova 977 ff.; 989 f. – und Rechtsvergleichung 968 ff. – und Rehabilitierungsrecht 957 f. – Wiederaufnahmegrund 972 ff. – gem. § 362 Nr. 1, 2 StPO 972; 985 f.; 998 – gem. § 362 Nr. 3 StPO 972; 986 ff.; 998 – gem. § 362 Nr. 4 StPO 972; 977; 981 ff.; 998 – gem. § 373a StPO 990 f. – gem. § 79 I BVerfGG 991 – gem. § 85 III OwiG 989 ff. Willkür 52 ff.; 65 f. – s.a Anti-Rationalismus; Autorität; Dezisionismus; Grund; Machiavellismus, prozessualer; Rationalismus; Recht; Voluntarismus Zachariä 384; 387 Zeuge – vom Hörensagen 74 – Vorbereitung von 84 – s. a. Kreuzverhör Zwangsmaßnahmen 125; 754 Zwecke des Strafverfahrens 157 ff. – s. Generalprävention; materielle Wahrheit; Rechtsfrieden; Spezialprävention; Wahrheit und Gerechtigkeit