Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar: Band 1 Einleitung, §§ 1-18 [13th newly revised edition] 9783110300413, 9783110300253

Now in its 13th edition, the Leipzig Commentary sets the standard for material criminal law. In 19 volumes, the book’s t

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German Pages 1452 [1454] Year 2019

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Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar: Band 1 Einleitung, §§ 1-18 [13th newly revised edition]
 9783110300413, 9783110300253

Table of contents :
Verzeichnis der Bearbeiter der 13. Auflage
Vorwort
Inhaltsübersicht
Abkürzungsverzeichnis
Schrifttum und abgekürzt zitierte Literatur
Einleitung
ALLGEMEINER TEIL
ERSTER ABSCHNITT. Das Strafgesetz
ERSTER TITEL. Geltungsbereich
§ 1. Keine Strafe ohne Gesetz
Anhang zu § 1. Wahlfeststellung
§ 2. Zeitliche Geltung
Vorbemerkungen zu den §§ 3ff (Strafanwendungsrecht)
§ 3. Geltung für Inlandstaten
§ 4. Geltung für Taten auf deutschen Schiffen und Luftfahrzeugen
§ 5. Auslandstaten mit besonderem Inlandsbezug
§ 6. Auslandstaten gegen international geschützte Rechtsgüter
§ 7. Geltung für Auslandstaten in anderen Fällen
§ 8. Zeit der Tat
§ 9. Ort der Tat
§ 10. Sondervorschriften für Jugendliche und Heranwachsende
ZWEITER TITEL. Sprachgebrauch
Vorbemerkungen zu den §§ 11 und 12
§ 11. Personen- und Sachbegriffe
§ 12. Verbrechen und Vergehen
ZWEITER ABSCHNITT. Die Tat
ERSTER TITEL. Grundlagen der Strafbarkeit
Vorbemerkungen zu den §§ 13 ff
§ 13. Begehen durch Unterlassen
§ 14. Handeln für einen anderen
Vorbemerkungen zu den §§ 15 ff
§ 15. Vorsätzliches und fahrlässiges Handeln
§ 16. Irrtum über Tatumstände
§ 17. Verbotsirrtum
§ 18. Schwerere Strafe bei besonderen Tatfolgen
Sachregister

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Großkommentare der Praxis

I

II

Strafgesetzbuch Leipziger Kommentar | Großkommentar 13., neu bearbeitete Auflage herausgegeben von Gabriele Cirener, Henning Radtke, Ruth Rissing-van Saan, Thomas Rönnau, Wilhelm Schluckebier

Erster Band Einleitung, §§ 1 bis 18

Bearbeiter: Einleitung, § 13: Thomas Weigend §§ 1, 2: Gerhard Dannecker/Jan C. Schuhr §§ 3–10: Gerhard Werle/Florian Jeßberger §§ 11, 12: Eric Hilgendorf Vor § 13: Tonio Walter § 14: Bernd Schünemann §§ 15 ff: Joachim Vogel †/Jens Bülte Sachregister: Christian Klie

III

ISBN 978-3-11-030025-3 e-ISBN (E-Book) 978-3-11-030041-3 e-ISBN (E-PUB) 978-3-11-038918-0 Library of Congress Control Number: 2018965043 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz/Datenkonvertierung: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

IV

Bearbeiterverzeichnis

Verzeichnis der Bearbeiter der 13. Auflage

Bearbeiterverzeichnis Bearbeiterverzeichnis https://doi.org/10.1515/9783110300413-202

Gerhard Altvater, Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof (Abteilungsleiter) a.D., Karlsruhe Dr. Christoph Barthe, Staatsanwalt beim Bundesgerichtshof, Karlsruhe Dr. Alexander Baur, Juniorprofessor an der Universität Hamburg Dr. Christian Brand, Universität Konstanz Dr. Dominik Brodowski, LL.M., Juniorprofessor an der Universität des Saarlandes Dr. Christoph Burchard, LL.M., Universitätsprofessor an der Goethe-Universität Frankfurt am Main Dr. Jens Bülte, Universitätsprofessor an der Universität Mannheim Gabriele Cirener, Richterin am Bundesgerichtshof, Karlsruhe Dr. Christoph Coen, Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof, Karlsruhe Dr. Dr. h.c. Gerhard Dannecker, Seniorprofessor an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Dr. Tobias Engelstätter, Oberstaatsanwalt am Bundesgerichtshof, Karlsruhe Dr. Robert Esser, Universitätsprofessor an der Universität Passau Dr. Ferdinand Gillmeister, Rechtsanwalt, Freiburg Dr. Ingke Goeckenjan, Universitätsprofessorin an der Ruhr-Universität Bochum Dr. Luís Greco, LL.M., Universitätsprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin Anette Greger, Oberstaatsanwältin beim Bundesgerichtshof, Karlsruhe Dr. Andreas Grube, Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe Dr. Anette Grünewald, Universitätsprofessorin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena Dr. Georg-Friedrich Güntge, Leitender Oberstaatsanwalt bei der Generalstaatsanwaltschaft in Schleswig, Honorarprofessor an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Dr. Michael Heghmanns, Universitätsprofessor an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Dr. Dr. Eric Hilgendorf, Universitätsprofessor an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg Dr. Tatjana Hörnle, Universitätsprofessorin an der Humboldt-Universität zu Berlin Dr. Kristian Hohn, Privatdozent an der Bucerius Law School Hamburg Dr. Jutta Hubrach, Richterin am Oberlandesgericht Düsseldorf Dr. Florian Jeßberger, Universitätsprofessor an der Universität Hamburg Dr. Johannes Koranyi, Richter am Landgericht Bonn Dr. Peter König, Richter am Bundesgerichtshof, Leipzig, Honorarprofessor an der Ludwig-MaximiliansUniversität München Dr. Ralf Krack, Universitätsprofessor an der Universität Osnabrück Juliane Krause, Leitende Oberstaatsanwältin bei der Generalstaatsanwaltschaft in Bamberg Dr. Dr. Matthias Krauß, Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof, Karlsruhe Dr. Christoph Krehl, Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe, Honorarprofessor an der Goethe-Universität Frankfurt am Main Dr. Matthias Krüger, Universitätsprofessor an der Universität München Dr. Dr. h.c. Michael Kubiciel, Universitätsprofessor an der Universität Augsburg Dr. Hans Kudlich, Universitätsprofessor an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Dr. Michael Lindemann, Universitätsprofessor an der Universität Bielefeld Dr. Alexander Linke, Richter am Landgericht Köln Kai Lohse, Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof, Karlsruhe Dr. Manfred Möhrenschlager, Ministerialrat a.D., Bonn Dr. Andreas Mosbacher, Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe Dr. Svenja Münzner, Lehrbeauftragte an der Justius-Liebig-Universität Gießen Dr. Uwe Murmann, Universitätsprofessor an der Georg-August-Universität Göttingen Dr. Nina Nestler, Universitätsprofessorin an der Universität Bayreuth Dr. Jens Peglau, Richter am Oberlandesgericht, Hamm Dr. Andreas Popp, Universitätsprofessor an der Universität Konstanz Dr. Henning Radtke, Richter des Bundesverfassungsgerichts, Karlsruhe, Honorarprofessor an der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover Dr. Ruth Rissing-van Saan, Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof a.D., Karlsruhe, Honorarprofessorin an der Ruhr-Universität Bochum Dr. Thomas Rönnau, Universitätsprofessor an der Bucerius Law School Hamburg Dr. Henning Rosenau, Universitätsprofessor an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

V https://doi.org/10.1515/9783110300413-202

Bearbeiterverzeichnis

Dr. h.c. Wilhelm Schluckebier, Richter des Bundesverfassungsgerichts a.D., Karlsruhe Dr. Dr. h.c. Wilhelm Schmidt, Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof a.D., Karlsruhe Dr. Ursula Schneider, Richterin am Bundesgerichtshof, Karlsruhe Daniel Scholze, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe Dr. Dres. h.c. Friedrich-Christian Schroeder, em. Universitätsprofessor an der Universität Regensburg Dr. Dr. h.c. mult. Bernd Schünemann, em. Universitätsprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München Dr. Jan C. Schuhr, Universitätsprofessor an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Dr. Christoph Sowada, Universitätsprofessor an der Universität Greifswald Dr. Mark Steinsiek, Referat für Wettbewerbs- und Energiekartellrecht, Landeskartellbehörde, Niedersächsisches Ministerium für Wirtschaft, Arbeit, Verkehr und Digitalisierung, Hannover Dr. Brian Valerius, Universitätsprofessor an der Universität Bayreuth Dr. Torsten Verrel, Universitätsprofessor an der Universität Bonn Dr. Dr. Thomas Vormbaum, Universitätsprofessor an der Fern-Universität Hagen Dr. Tonio Walter, Universitätsprofessor an der Universität Regensburg, Richter am Bayerischen Obersten Landesgericht Dr. Thomas Weigend, em. Universitätsprofessor an der Universität zu Köln Jochen Weingarten, Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof, Karlsruhe Lienhard Weiß, Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof, Karlsruhe Dr. Gerhard Werle, Universitätsprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin Stefan Wiedner, Richter am Oberlandesgericht Koblenz Dr. Gereon Wolters, Universitätsprofessor an der Ruhr-Universität Bochum Dr. Frank Zieschang, Universitätsprofessor an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg Georg Zimmermann, Richter am Landgericht Bielefeld

VI

Vorwort

Vorwort Vorwort Vorwort https://doi.org/10.1515/9783110300413-203 Vor wenigen Monaten startete die 13. Auflage des Leipziger Kommentars mit Erscheinen des Dritten Bandes (§§ 32–37 StGB). Jetzt wird der Erste Band des Großkommentars vorgelegt. Er umfasst mit Erläuterungen zu den §§ 1–18 StGB im Vergleich zum Ersten Band der 12. Auflage nur noch den Ersten Abschnitt sowie vom Zweiten Abschnitt Teile des Ersten Titels. Umfang und Benutzerfreundlichkeit der Kommentierung geboten nach Ansicht von Verlag und Herausgebern diese Neuaufteilung des Stoffes. Inhaltlich behandelt der Erste Band zentrale Vorschriften des Allgemeinen Teils des StGB, die sich durch die ständige Weiterentwicklung der Gesellschaft und des (Straf-)Rechts immer wieder neu bewähren müssen. Als Stichwörter seien hier nur genannt: „Ahndungslücke“ im Kapitalmarktstrafrecht, Internationalisierung und Europäisierung des Strafrechts (Strafanwendungsrecht und „Europäischer Amtsträger“) oder Schaffung neuer Garantenstellungen (etwa „Internet-Provider“). Tiefergehende Problemanalysen und -lösungen unter Auswertung wichtiger einschlägiger Rechtsprechung und Literatur, wie sie der Leipziger Kommentar bietet, können hier eine wesentliche Argumentations- und Entscheidungshilfe sein. Mehrere namhafte Autoren der 12. Auflage wirken nicht mehr mit. Im Ersten Band der 13. Auflage ist Joachim Vogel, der am 17. August 2013 bei einem tragischen Bootsunfall in Venedig verstarb, nicht mehr dabei. Ihm gilt für seine frühere Mitarbeit, die auch in der nun vorliegenden Bearbeitung noch fortwirkt, der aufrichtige Dank des Verlags und der Herausgeber. Fortgeführt wird sein Part – zunächst in Co-Autorenschaft – von Jens Bülte. An die Seite von Gerhard Dannecker ist Jan C. Schuhr getreten. Beide seien im Kreis der Autoren des Leipziger Kommentars herzlich begrüßt. Unbeschadet des bandübergreifenden Ziels des Leipziger Kommentars, den gegenwärtigen Stand der rechtlichen Probleme des Strafrechts erschöpfend darzustellen, gilt für den vorliegenden Ersten Band wie für den Gesamtkommentar, dass jede Autorin und jeder Autor die wissenschaftliche Verantwortung für die von ihr bzw. ihm bearbeiteten Erläuterungen trägt. Angesichts der zunehmenden Flut von Veröffentlichungen, Gesetzesinitiativen und Reformvorhaben ist es allerdings kaum noch möglich, in allen Bereichen und für alle Verästelungen den Grundsatz der vollständigen Dokumentation des Materials uneingeschränkt zu erfüllen. Es steht daher in der individuellen Verantwortung der Autorin oder des Autors, ob sie/er eine Auswahl vornimmt und nach welchen Kriterien diese getroffen wird. Der Tendenz nach werden insbesondere bei Kommentaren und Lehrbüchern nicht sämtliche, sondern nur die prägenden und/oder repräsentativen Werke und Äußerungen angeführt. Eine gewisse Vollständigkeit strebt nur das Literaturverzeichnis an. Der hiermit vorgelegte Band hat durchweg den Bearbeitungsstand von Juni 2019. Teilweise konnte auch noch später erschienene Rechtsprechung und Literatur berücksichtigt werden. Hamburg, im Oktober 2019

VII https://doi.org/10.1515/9783110300413-203

Thomas Rönnau

Vorwort

VIII

Inhaltsübersicht

Inhaltsübersicht Inhaltsübersicht Inhaltsübersicht https://doi.org/10.1515/9783110300413-204 Bearbeiterverzeichnis | V Vorwort | VII Abkürzungsverzeichnis | XI Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur | XXXV

Strafgesetzbuch Einleitung | 1 Allgemeiner Teil ERSTER ABSCHNITT Das Strafgesetz ERSTER TITEL Geltungsbereich § 1 Keine Strafe ohne Gesetz | 55 Anhang zu § 1 Wahlfeststellung | 284 § 2 Zeitliche Geltung | 352 Vorbemerkungen zu den §§ 3 ff (Strafanwendungsrecht) | 442 § 3 Geltung für Inlandstaten | 554 § 4 Geltung für Taten auf deutschen Schiffen und Luftfahrzeugen | 570 § 5 Auslandstaten mit besonderem Inlandsbezug | 584 § 6 Auslandstaten gegen international geschützte Rechtsgüter | 631 § 7 Geltung für Auslandstaten in anderen Fällen | 662 § 8 Zeit der Tat | 685 § 9 Ort der Tat | 690 § 10 Sondervorschriften für Jugendliche und Heranwachsende | 712

ZWEITER TITEL Sprachgebrauch Vorbemerkungen zu den §§ 11 und 12 | 715 § 11 Personen- und Sachbegriffe | 716 § 12 Verbrechen und Vergehen | 762

ZWEITER ABSCHNITT Die Tat ERSTER TITEL Grundlagen der Strafbarkeit Vorbemerkungen zu den §§ 13 ff | 771 § 13 Begehen durch Unterlassen | 884 § 14 Handeln für einen anderen | 941 IX

Inhaltsübersicht

Vorbemerkungen zu den §§ 15 ff | 1012 § 15 Vorsätzliches und fahrlässiges Handeln | 1061 § 16 Irrtum über Tatumstände | 1200 § 17 Verbotsirrtum | 1266 § 18 Schwerere Strafe bei besonderen Tatfolgen | 1316 Sachregister | 1351

X

Abkürzungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis AA aA aaO AbfG AbfVerbrG Abg. AbgO abgedr. Abk. abl. ABl. AblEU AblKR Abs. Abschn. abw. AbwAG AcP AdVermiG AE a.E. AEUV ÄndG ÄndVO a.F. AFG AfP AG AGBG/AGB-Gesetz AHK AIDP AktG AktO allg. allg. M. Alt. aM A&M AMG amtl. Begr. and. Angekl. Anh. AnhRügG Anl. Anm.

https://doi.org/10.1515/9783110300413-205

Auswärtiges Amt anderer Ansicht am angegebenen Ort Gesetz über die Vermeidung und Entsorgung von Abfällen (Abfallgesetz) Gesetz über die Überwachung und Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung von Abfällen (Abfallverbringungsgesetz) Abgeordneter Reichsabgabenordnung abgedruckt Abkommen ablehnend Amtsblatt Amtsblatt der Europäischen Union (ab 2003); Ausgabe C: Mitteilungen und Bekanntmachungen; Ausgabe L: Rechtsvorschriften Amtsblatt des Kontrollrats Absatz Abschnitt abweichend Abwasserabgabengesetz Archiv für civilistische Praxis (zit. nach Band u. Seite) Gesetz über die Vermittlung der Annahme als Kind und über das Verbot der Vermittlung von Ersatzmüttern (Adoptionsvermittlungsgesetz) Alternativ-Entwurf eines StGB, 1966 ff am Ende Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Änderungsgesetz Änderungsverordnung alte Fassung Arbeitsförderungsgesetz Archiv für Presserecht Amtsgericht; in Verbindung mit einem Gesetz: Ausführungsgesetz Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen Alliierte Hohe Kommission Association Internationale de Droit Pénal Gesetz über Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien (Aktiengesetz) Anweisung für die Verwaltung des Schriftguts bei den Geschäftsstellen der Gerichte und der Staatsanwaltschaften (Aktenordnung) allgemein allgemeine Meinung Alternative anderer Meinung Arzneimittel und Recht (Zeitschrift für Arzneimittel und Arzneimittelpolitik) Arzneimittelgesetz amtliche Begründung anders Angeklagte(r) Anhang Gesetz über die Rechtsbehelfe bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Anhörungsrügengesetz) Anlage Anmerkung

XI https://doi.org/10.1515/9783110300413-205

Abkürzungsverzeichnis

Annalen AnwBl. ao AO 1977 AöR AOStrÄndG AP AR ArchKrim. ArchPF ArchPR ArchPT ARSP Art. AT AtG/AtomG AÜG Auff. aufgehob. Aufl. Aufs. AuR ausdrückl. ausführl. AusfVO ausl. AuslG AusnVO ausschl. AV AVG AWG AWG/StÄG Az. b. BA BAG BAGE BAK BÄK BÄO BAnz. BauFordSiG BauGB BauR Bay. BayBS BayJagdG BayLSG BayObLG

Annalen des Reichsgerichts Anwaltsblatt außerordentlich Abgabenordnung Archiv des öffentlichen Rechts Gesetz zur Änderung strafrechtlicher Vorschriften der Reichsabgabenordnung und anderer Gesetze Arbeitsrechtliche Praxis (Nachschlagewerk des Bundesarbeitsgerichts) Arztrecht Archiv für Kriminologie Archiv für das Post- und Fernmeldewesen Archiv für Presserecht Archiv für Post und Telekommunikation Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Artikel Allgemeiner Teil des Strafgesetzbuches Gesetz über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren (Atomgesetz) Arbeitnehmerüberlassungsgesetz Auffassung aufgehoben Auflage Aufsatz Arbeit und Recht ausdrücklich ausführlich Ausführungsverordnung ausländisch Ausländergesetz Ausnahmeverordnung ausschließlich Allgemeine Verfügung Angestelltenversicherungsgesetz Außenwirtschaftsgesetz Gesetz zur Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes, des Strafgesetzbuches und anderer Gesetze Aktenzeichen bei Blutalkohol, Wissenschaftliche Zeitschrift für die medizinische und die juristische Praxis Bundesarbeitsgericht Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts (zit. nach Band u. Seite) Blutalkoholkonzentration Bundesärztekammer Bundesärzteordnung Bundesanzeiger Bauforderungssicherungsgesetz Baugesetzbuch Zeitschrift für das gesamte öffentliche und private Baurecht Bayern, bayerisch Bereinigte Sammlung des Bayerischen Landesrechts (1802–1956) Bayerisches Jagdgesetz Bayerisches Landessozialgericht Bayerisches Oberstes Landesgericht

XII

Abkürzungsverzeichnis

BayObLGSt BayPAG BayVBl. BayVerf. BayVerwBl. BayVerfGHE BayVGH BayVGHE

BayZ BB BBG Bbg BBodSchG Bd., Bde BDH BDO BDSG Bearb. BeckRS begl. BegleitG zum TKG Begr., begr. Bek. Bekl., bekl. Bem. ber. bes. Beschl. Beschw. Bespr. Best. BestechungsVO bestr. betr. BeurkG BewH BezG BFH BFHE BfJG BG BGB BGBl. I, II, III BGE BGH BGHGrS BGHR BGHSt BGHZ

XIII

Sammlung von Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts in Strafsachen Bayerisches Polizeiaufgabengesetz Bayerische Verwaltungsblätter Verfassung des Freistaates Bayern Bayerische Verwaltungsblätter s. BayVGHE Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Sammlung von Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs mit Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, des Bayerischen Dienststrafhofs und des Bayerischen Gerichtshofs für Kompetenzkonflikte Zeitschrift für Rechtspflege in Bayern (1905–1934) Betriebs-Berater Bundesbeamtengesetz Brandenburg Gesetz zum Schutz vor schädlichen Bodenveränderungen und zur Sanierung von Altlasten (Bundes-Bodenschutzgesetz) Band, Bände Bundesdisziplinarhof Bundesdisziplinarordnung Bundesdatenschutzgesetz Bearbeitung Beck-Rechtsprechung beglaubigt Begleitgesetz zum Telekommunikationsgesetz Begründung, begründet Bekanntmachung Beklagter, beklagt Bemerkung berichtigt besonders, besondere(r, s) Beschluss Beschwerde Besprechung Bestimmung Bestechungsverordnung bestritten betreffend Beurkundungsgesetz Bewährungshilfe Bezirksgericht Bundesfinanzhof Entscheidungen des Bundesfinanzhofs (zit. nach Band u. Seite) Gesetz über die Errichtung des Bundesamtes für Justiz = Art. 1 des Gesetzes zur Errichtung und zur Regelung der Aufgaben des Bundesamtes für Justiz Bundesgericht (Schweiz) Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Teil I, II und III Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts (Amtliche Sammlung) Bundesgerichtshof Bundesgerichtshof, Großer Senat BGH-Rechtsprechung Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen

Abkürzungsverzeichnis

BG Pr. BilMoG BImSchG BImSchVO BinnSchiffG/BinSchG BiRiLiG BJagdG BJM BK BKA BKAG/BKrimAG BlStSozArbR Bln. Bln.GVBl.Sb. Blutalkohol BMI BMJ BNatSchG BNotÄndG BNotO BPolG BR BRAGO BRAK BranntwMG/ BranntwMonG BRAO BRAOÄndG BRD BR-Drs./BRDrucks. BReg. Brem. BremPolG BRProt. BRRG BRStenBer. BS BSeuchG BSG BSGE BSGE BSHG Bsp. BStBl. BT BT-Drs./BTDrucks.

Die Praxis des Bundesgerichts (Entscheidungen des schweizerischen Bundesgerichts) Gesetz zur Modernisierung des Bilanzrechts Bundes-Immissionsschutzgesetz Bundes-Immissionsschutzverordnung Gesetz betr. die privatrechtlichen Verhältnisses der Binnenschifffahrt (Binnenschiffahrtsgesetz) Bilanzrichtlinien-Gesetz Bundesjagdgesetz Basler Juristische Mitteilungen Basler Kommentar zum Strafgesetzbuch; auch: Bonner Kommentar zum Grundgesetz Bundeskriminalamt Gesetz über die Einrichtung eines Bundeskriminalpolizeiamtes (Bundeskriminalamtes) Blätter für Steuern, Sozialversicherung und Arbeitsrecht Berlin Sammlung des bereinigten Berliner Landesrechts, Sonderband I (1806 –1945) und II (1945–1967) Blutalkohol, Wissenschaftliche Zeitschrift für die medizinische und juristische Praxis Bundesminister(ium) des Inneren Bundesminister(ium) der Justiz Gesetz über Naturschutz und Landschaftspflege (Bundesnaturschutzgesetz) Drittes Gesetz zur Änderung der Bundesnotarordnung und anderer Gesetze Bundesnotarordnung Bundespolizeigesetz Bundesrat Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte Bundesrechtsanwaltskammer Branntweinmonopolgesetz Bundesrechtsanwaltsordnung Gesetz zur Änderung der Bundesrechtsanwaltsordnung, der Patentrechtsanwaltsordnung und anderer Gesetze Bundesrepublik Deutschland Bundesrats-Drucksache Bundesregierung Bremen Bremisches Polizeigesetz Protokolle des Bundesrates Beamtenrechtsrahmengesetz Verhandlungen des Bundesrates, Stenographische Berichte (zit. nach Sitzung u. Seite) Sammlung des bereinigten Landesrechts Bundes-Seuchengesetz Bundessozialgericht Entscheidungen des Bundessozialgerichts (zit. nach Band u. Seite) Entscheidungen des Bundessozialgerichts Bundessozialhilfegesetz Beispiel Bundessteuerblatt Besonderer Teil des StGB; auch: Bundestag Bundestags-Drucksache

XIV

Abkürzungsverzeichnis

BtMG BTProt. BTRAussch. BTStenBer.

bzw.

Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (Betäubungsmittelgesetz) s. BTVerh. Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags Verhandlungen des deutschen Bundestages, Stenographische Berichte (zit. nach Wahlperiode u. Seite) Verhandlungen des Deutschen Bundestages Buchstabe Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetz über das Bundesverfassungsgericht Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Beitragsverfahrensverordnung (Bundes-)Verwaltungsverfahrensgesetz Baden-Württemberg bezüglich Bundeszentralregister Gesetz über das Bundeszentralregister und das Erziehungsregister (Bundeszentralregistergesetz) beziehungsweise

ca. CCZ ChemG CR CWÜAG

circa Corporate Compliance Zeitschrift Gesetz zum Schutz vor gefährlichen Stoffen (Chemikaliengesetz) Computer und Recht AusführungsG zum Chemiewaffenübereinkommen (CWÜ-AG)

DA DÄBl. dagg. DAR DAV DB DDevR DDR DDT-G DepotG ders./dies. dgl. DGVZ d.h. dies. Diff., diff. Diss. DJ DJT DJZ DMW DNA-AnalysG DNutzG DÖV DOGE

Deutschland Archiv Deutsches Ärzteblatt dagegen Deutsches Autorecht Deutscher Anwaltsverein Der Betrieb Deutsche Devisen-Rundschau (1951–1959) Deutsche Demokratische Republik Gesetz über den Verkehr mit DDT Gesetz über die Verwahrung und Anschaffung von Wertpapieren (Depotgesetz) derselbe/dieselbe dergleichen Deutsche Gerichtsvollzieher-Zeitung das heißt dieselbe(n) Differenzierung, differenzierend Dissertation Deutsche Justiz, Rechtspflege und Rechtspolitik Deutscher Juristentag Deutsche Juristenzeitung (1896–1936) Deutsche Medizinische Wochenschrift Gesetz zur Novellierung der forensischen DNA-Analyse Gesetz zur effektiven Nutzung von Dateien im Bereich der Staatsanwaltschaften Die Öffentliche Verwaltung Entscheidungen des Deutschen Obergerichts für das Vereinigte Wirtschaftsgebiet Deutsches Recht, Wochenausgabe (vereinigt mit Juristische Wochenschrift) (1931–1945)

BTVerh. Buchst. BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerwG BVerwGE BVV BVwVfG BW bzgl. BZR BZRG

DR

XV

Abkürzungsverzeichnis

DRechtsw. DRiB DRiG DRiZ DRM DRpfl. Drs./Drucks. DRsp. DRZ DSB DStrR DStR DStrZ DStZ A dt. DtZ DuD DuR DV DVBl. DVJJ DVO DVollzO DVP DVR DWW DZWIR

Deutsche Rechtswissenschaft (1936 –1943) Deutscher Richterbund Deutsches Richtergesetz Deutsche Richterzeitung Deutsches Recht, Monatsausgabe (vereinigt mit Deutsche Rechtspflege) Deutsche Rechtspflege (1936–1939) Drucksache Deutsche Rechtsprechung, hrsg. von Feuerhake (Loseblattsammlung) Deutsche Rechts-Zeitschrift (1946–1950) Datenschutzberater Deutsches Steuerrecht Deutsches Strafrecht (1934–1944); jetzt: Deutsches Steuerrecht Deutsche Strafrechts-Zeitung (1914–1922) Deutsche Steuerzeitung, bis Jg. 67 (1979): Ausgabe A deutsch Deutsch-Deutsche Rechts-Zeitschrift Datenschutz und Datensicherheit Demokratie und Recht Datenverarbeitung Deutsches Verwaltungsblatt Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e.V. Durchführungsverordnung Dienst- und Vollzugsordnung Deutsche Verwaltungspraxis Datenverarbeitung im Recht (bis 1985, danach vereinigt mit IuR) Deutsche Wohnungswirtschaft Deutsche Zeitschrift für Wirtschafts- und Insolvenzrecht

E E 1927

Entwurf; auch: Entscheidung Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches nebst Begründung (Reichstagsvorlage) 1927 Entwurf eines Strafgesetzbuches mit Begründung 1962 Entwurf einer Abgabenordnung electronic cash ebenda ebenso Einheitlicher Bewertungsmaßstab editor(s) Elektronische Datenverarbeitung Entwurf eines Einführungsgesetzes zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten Entwurf eines Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch (EGStGB) Entscheidungen der Finanzgerichte Einführungsgesetz bzw. Europäische Gemeinschaft(en) bzw. Erinnerungsgabe Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch Gesetz zum Übereinkommen v. 26.8.1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz Ehrengerichtliche Entscheidungen der Ehrengerichtshöfe der Rechtsanwaltschaft des Bundesgebiets und des Landes Berlin Einführungsgesetz zur Insolvenzordnung Gesetz zur Änderung des Einführungsgesetzes zur Insolvenzordnung und anderer Gesetze Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten

E 62 EAO ec ebd. ebso. EBM ed(s) EDV EEGOWiG EEGStGB EFG EG EGBGB EG-FinanzschutzG/ EGFinSchG EGGVG EGH/EhrenGHE EGInsO EGInsOÄndG EGKS EGMR EGOWiG

XVI

Abkürzungsverzeichnis

EGStGB EGStPO EGV EheG ehem. Einf. eingeh. einschl. einschr. Einl. EJF EKMR EmmingerVO EMRK entgg. Entsch. entspr. Entw. Erg. ErgBd. ErgThG Erl. Erw. ESchG EssGespr. EStG etc. Ethik Med. ETS EU EU-ABl EUBestG

EuCLR eucrim EuGH EuGHE EuGRZ EuHbG

EuR EurGHMR EurKomMR europ. EuropolG EUV EuZW EV

EV I bzw. II evtl.

XVII

Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch Einführungsgesetz zur Strafprozeßordnung Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Ehegesetz ehemalig Einführung eingehend einschließlich einschränkend Einleitung Entscheidungen aus dem Jugend- und Familienrecht (1951–1969) Europäische Kommission für Menschenrechte Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege Europäische Menschenrechtskonvention entgegen Entscheidung entsprechend Entwurf Ergebnis bzw. Ergänzung Ergänzungsband Ergotherapeutengesetz Erläuterung Erwiderung Embryonenschutzgesetz Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche Einkommensteuergesetz et cetera Ethik in der Medizin European Treaty Series Europäische Union Amtsblatt der Europäischen Union Gesetz zum Protokoll v. 27.9.1996 zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (EUBestechungsgesetz) European Criminal Law Review The European Criminal Law Associations’ Forum Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften – Amtliche Sammlung Europäische Grundrechte-Zeitschrift Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Europäisches Haftbefehlsgesetz – EuHbG) Europarecht Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Europäische Kommission für Menschenrechte europäisch Europol-Gesetz Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands – Einigungsvertrag Anlage I bzw. II zum EV eventuell

Abkürzungsverzeichnis

EWG EWGV EWIR EWiV EWR EzSt

f, ff FA FAG FamRZ FAO FAZ FD-StrafR Festschr. FG FGG FGO fin. FinDAG FinVerwG/FVG FlaggRG/FlRG FLF FlRV FMStG Fn. Forens Psychiatr Psychol Kriminol Fortschr Neurol Psychiat fragl. FS G bzw. Ges. G 10 GA GAA GBA GBG GBl. GbR geänd. GebFra GedS gem. Gemeinsame-DateienGesetz GenG GenStA

Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung Schriftenreihe zum europäischen Weinrecht; auch: Europäischer WirtschaftsRaum Entscheidungssammlung zum Straf- u. Ordnungswidrigkeitenrecht, hrsg. von Lemke folgende, fortfolgende Fachanwalt für Arbeitsrecht Gesetz über Fernmeldeanlagen Ehe und Familie im privaten und öffentlichen Recht. Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Fachanwaltsordnung Frankfurter Allgemeine Zeitung Fachdienst Strafrecht Festschrift Finanzgericht; auch: Festgabe Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Finanzgerichtsordnung finanziell Finanzdienstleistungsaufsichtsgesetz Gesetz über die Finanzverwaltung Gesetz über das Flaggenrecht der Seeschiffe und die Flaggenführung der Binnenschiffe (Flaggenrechtsgesetz) Finanzierung, Leasing, Factoring Flaggenrechtsverordnung Finanzmarktstabilisierungsgesetz Fußnote Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie Fortschritte der Neurologie. Psychiatrie fraglich Festschrift Gesetz Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Gesetz zu Artikel 10 Grundgesetz) Goltdammer’s Archiv für Strafrecht, zit. nach Jahr u. Seite (bis 1933: Archiv für Strafrecht und Strafprozeß, zit. nach Band u. Seite) Geldausgabeautomat Generalbundesanwalt Gesetz über die Beförderung gefährlicher Güter Gesetzblatt Gesellschaft bürgerlichen Rechts geändert Geburtshilfe und Frauenheilkunde Gedächtnisschrift gemäß Gesetz zur Errichtung gemeinsamer Dateien von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten des Bundes und der Länder Gesetz betreffend die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften Generalstaatsanwalt

XVIII

Abkürzungsverzeichnis

GerS GeschlKG/GeschlkrG GeschO gesetzl. GesO GesR GesRZ GewArch GewO GewVerbrG gg. GG ggf. GjS/GjSM GKG GKÖD gl. GmbHG GmbHR/GmbH-Rdsch GMBl. GnO GOÄ GoB GoBi grdl. grds. GrS GrSSt GRUR GS GSNW GSSchlH GÜG GV GVBl. GVBl. I–III GVG GWB GwG

h.A. HaagLKO/HLKO HAG Halbs./Hbs. Hamb. HambJVBl HambSOG HannRpfl Hans. HansGZ bzw. HGZ

XIX

Der Gerichtssaal Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten Geschäftsordnung gesetzlich Gesamtvollstreckungsordnung Gesundheitsrecht (Zeitschrift für Arztrecht, Krankenrecht, Apotheken- und Arzneimittelrecht) Der Gesellschafter Gewerbearchiv, Zeitschrift für Gewerbe- und Wirtschaftsverwaltungsrecht Gewerbeordnung Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung gegen Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland gegebenenfalls Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften und Medieninhalte Gerichtskostengesetz Gesamtkommentar Öffentliches Dienstrecht gleich Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung GmbH-Rundschau (vorher: Rundschau für GmbH) Gemeinsames Ministerialblatt Gnadenordnung (Landesrecht) Gebührenordnung für Ärzte Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung grundlegend grundsätzlich Großer Senat Großer Senat in Strafsachen Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht Der Gerichtssaal (zit. nach Band u. Seite); auch: Gedächtnisschrift Sammlung des bereinigten Landesrechts Nordrhein-Westfalen (1945–1956) Sammlung des schleswig-holsteinischen Landesrechts, 2 Bde (1963) Gesetz zur Überwachung des Verkehrs mit Grundstoffen, die für die unerlaubte Herstellung von Betäubungsmitteln mißbraucht werden können Gemeinsame Verfügung (mehrerer Ministerien) (auch: Grundlagenvertrag) Gesetz- und Verordnungsblatt Sammlung des bereinigten Hessischen Landesrechts Gerichtsverfassungsgesetz Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Gesetz über das Aufspüren von Gewinnen aus schweren Straftaten (Geldwäschegesetz) herrschende Ansicht Haager Abkommen betr. die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs Heimarbeitsgesetz Halbsatz Hamburg Hamburgisches Justizverwaltungsblatt Hamburger Sicherheits- und Ordnungsgesetz Hannoversche Rechtspflege Hanseatisch Hanseatische Gerichtszeitung (1889–1927)

Abkürzungsverzeichnis

HansJVBl HansOLGSt HansRGZ HansRZ

Hdb. HdbStR HeilPrG Hess. HessSOG HESt HFR HGB hins. Hinw. h.L. h.M. HöchstRR

HRR HRRS Hrsg. bzw. hrsg. h. Rspr. HWiStR

i. Allg. i. allg. S. i.d.F. i.d.R. i.d.S. i.E./i. Erg. i.e.S. IGH i. gl. S. i. Grds. IHK i.H.v. ILC ILM IM IMT inl. insb./insbes. insges. InsO IntBestG inzw.

Hanseatisches Justizverwaltungsblatt (bis 1946/47) Entscheidungen des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Strafsachen (1879–1932/33) Hanseatische Rechts- und Gerichtszeitschrift (1928– 43), vorher: Hanseatische Rechtszeitschrift für Handel, Schiffahrt und Versicherung, Kolonial- und Auslandsbeziehungen sowie für Hansestädtisches Recht (1918–1927) Handbuch Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland Gesetz über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung (Heilpraktikergesetz) Hessen Hessisches Sicherheits- und Ordnungsgesetz Höchstrichterliche Entscheidungen, Sammlung von Entscheidungen der Oberlandesgerichte und der Obersten Gerichte in Strafsachen (1948– 49) Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung Handelsgesetzbuch hinsichtlich Hinweis herrschende Lehre herrschende Meinung Höchstrichterliche Rechtsprechung auf dem Gebiete des Strafrechts, Beilage zur Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (1 zu Bd. 46, 2 zu Bd. 47, 3 zu Bd. 48) Höchstrichterliche Rechtsprechung (1928–1942), bis 1927: Die Rechtsprechung, Beilage zur Zeitschrift Juristische Rundschau Höchstrichterliche Rechtsprechung im Strafrecht Herausgeber bzw. herausgegeben herrschende Rechtsprechung Krekeler/Tiedemann/Ulsenheimer/Weinmann (Hrsg.) Handwörterbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts im Allgemeinen im allgemeinen Sinne in der Fassung in der Regel in diesem Sinne im Ergebnis im engeren Sinne Internationaler Gerichtshof im gleichen Sinne im Grundsatz Industrie- und Handelskammer in Höhe von International Law Commission International Legal Materials Innenminister(ium) International Military Tribunal (Nürnberg) inländisch insbesondere insgesamt Insolvenzordnung Gesetz zur Bekämpfung internationaler Bestechung inzwischen

XX

Abkürzungsverzeichnis

IPBPR i.R.d. i.R.v. IStGH IStGH-Statut IStR i.S. i.S.d. i.S.e. i.S.v. i. techn. S. ITRB i.U. i. Üb. IuKDG IuR iuris iurisPR i.V.m. i.W. i.w.S. i.Z.m. JA JahrbÖR JahrbPostw. JA-R JAVollzO JBeitrO JBl. JBlRhPf. JBl Saar JbVerkR jew. JFGErg.

JGG JK JKomG JM JMBlNRW/JMBlNW JÖSchG JOR JöR JR JRE JSt JStGH JStGH-Statut 1. JuMoG

XXI

Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte im Rahmen der/des im Rahmen von (ständiger) Internationaler Strafgerichtshof (Den Haag) Internationaler Strafgerichtshof – Statut Internationales Strafrecht im Sinne im Sinne der/des im Sinne einer(s) im Sinne von im technischen Sinne IT-Rechtsberater im Unterschied im Übrigen Gesetz zur Regelung der Rahmenbedingungen für Informations- und Kommunikationsdienste (Informations- und Kommunikationsdienstegesetz) Informatik und Recht Rechtsportal der iuris-GmbH iuris-Praxis-Report (Anmerkungen) in Verbindung mit im Wesentlichen im weiteren Sinne im Zusammenhang mit Juristische Arbeitsblätter für Ausbildung und Examen Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Jahrbuch des Postwesens (1937–1941/42) Juristische Arbeitsblätter – Rechtsprechung Jugendarrestvollzugsordnung Justizbeitreibungsordnung Justizblatt; auch: Juristische Blätter (Österreich) Justizblatt Rheinland-Pfalz Justizblatt des Saarlandes Jahrbuch Verkehrsrecht jeweils Entscheidungen des Kammergerichts und des Oberlandesgerichts München in Kosten-, Straf-, Miet- und Pachtschutzsachen (= Jahrbuch für Entscheidungen in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit und des Grundbuchrechts. ErgBd.) Jugendgerichtsgesetz Jura-Kartei Gesetz über die Verwendung elektronischer Kommunikationsformen in der Justiz (Justizkommunikationsgesetz) Justizminister(ium) Justizministerialblatt für das Land Nordrhein-Westfalen Gesetz zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit Jahrbuch für Ostrecht Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Juristische Rundschau Jahrbuch für Recht und Ethik Journal für Strafrecht Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien – Statut Erstes Gesetz zur Modernisierung der Justiz (1. Justizmodernisierungsgesetz)

Abkürzungsverzeichnis

2. JuMoG JurA Jura JurBl./JBl. JurJahrb. JurPC JuS Justiz JuV JVA JVBl. JVKostO JVollz. JW JWG JZ JZ-GD Kap. KastG/KastrG KE KFG Kfz. KG KGJ KindRG KJ KKZ KO KOM KorBekG/KorrBekG/ KorrBG K&R KRABl. KreditwesenG/KWG KRG KriegswaffKG/KWKG KrimAbh. KrimGwFr Kriminalistik KrimJournal KriPoZ krit. KritJ/Krit. Justiz KritV/KritVj KrW-/AbfG

KTS KunstUrhG/KUrhG KuT

Zweites Gesetz zur Modernisierung der Justiz (2. Justizmodernisierungsgesetz) Juristische Analysen Juristische Ausbildung Juristische Blätter Juristen-Jahrbuch Internet-Zeitschrift für Rechtsinformatik und Informationsrecht Juristische Schulung, Zeitschrift für Studium und Ausbildung Die Justiz, Amtsblatt des Justizministeriums von Baden-Württemberg Justiz und Verwaltung Justizvollzugsanstalt Justizverwaltungsblatt Gesetz über Kosten im Bereich der Justizverwaltung Jugendstrafvollzugsordnung; s. auch JAVollzO Juristische Wochenschrift Jugendwohlfahrtsgesetz Juristenzeitung Juristenzeitung – Gesetzgebungsdienst Kapitel Gesetz über die freiwillige Kastration Kommissionsentwurf Gesetz über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen Kraftfahrzeug Kammergericht bzw. Kommanditgesellschaft Jahrbuch für Entscheidungen des Kammergerichts in Sachen der freiwilligen Gerichtsbarkeit, in Kosten-, Stempel- und Strafsachen (1881–1922) Gesetz zur Reform des Kindschaftsrechts Kritische Justiz Kommunal-Kassen-Zeitschrift Konkursordnung (EU-)Kommission Gesetz zur Bekämpfung der Korruption Kommunikation und Recht s. ABlKR Gesetz über das Kreditwesen Kontrollratsgesetz Gesetz über die Kontrolle von Kriegswaffen Kriminalistische Abhandlungen, hrsg. von Exner Kriminologische Gegenwartsfragen (zit. nach Band u. Seite) Kriminalistik, Zeitschrift für die gesamte kriminalistische Wissenschaft und Praxis Kriminologisches Journal Kriminalpolitische Zeitschrift kritisch Kritische Justiz Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtsprechung Gesetz zur Förderung der Kreislaufwirtschaft und Sicherung der umweltverträglichen Beseitigung von Abfällen (Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz) Konkurs-, Treuhand- und Schiedsgerichtswesen (jetzt: Zeitschrift für Insolvenzrecht) Kunsturhebergesetz Konkurs-, Treuhand- und Schiedsgerichtswesen

XXII

Abkürzungsverzeichnis

KuV/k+v/K+V KWG LegPer. Lfg. LFGB LG lit. Lit. LKRZ LM LMBG

LPG LPK LRA LRE LS lt. LT Ltd. LuftSiG LuftVG LuftVO/LuftVVO LuftVZO LVerf. LVwG SH LZ m. m. Anm. Mat. m.a.W. m. Bespr. MdB MdL MDR MDStV MedR MedSach medstra MEPolG MfS mit Nachw. MiStra missverst. Mitt. MittIKV MK

XXIII

Kraftfahrt und Verkehrsrecht, Zeitschrift der Akademie für Verkehrswissenschaft, Hamburg s. KreditwesenG Legislaturperiode Lieferung Lebens- und Futtermittelgesetzbuch Landgericht littera (Buchstabe) Literatur Zeitschrift für Landes- und Kommunalrecht Hessen/Rheinland-Pfalz/Saarland Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs, hrsg. v. Lindenmaier/Möhring u.a. (zit. nach Paragraph und Nummer) Gesetz über den Verkehr mit Lebensmitteln, Tabakerzeugnissen, kosmetischen Mitteln und sonstigen Bedarfsgegenständen (Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz) Landespressegesetz Lehr- und Praxiskommentar Landratsamt Sammlung lebensmittelrechtlicher Entscheidungen Leitsatz laut Landtag Limited (Private company limited by shares) Gesetz zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben (Luftsicherheitsgesetz) Luftverkehrgesetz Verordnung über den Luftverkehr Luftverkehrs-Zulassungs-Ordnung Landesverfassung Landesverwaltungsgesetz Schleswig-Holstein Leipziger Zeitschrift für Deutsches Recht (1907–1933) mit mit Anmerkung Materialien zur Strafrechtsreform (1954). Band I: Gutachten der Strafrechtslehrer. Band II: Rechtsvergleichende Arbeiten mit anderen Worten mit Besprechung Mitglied des Bundestages Mitglied des Landtages Monatsschrift für Deutsches Recht Staatsvertrag über Mediendienste Medizinrecht Der Medizinische Sachverständige Zeitschrift für Medizinstrafrecht Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes Ministerium für Staatssicherheit mit Nachweisen Anordnung über Mitteilungen in Strafsachen missverständlich Mitteilung Mitteilungen der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung (1889–1914; 1926–1933) Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch

Abkürzungsverzeichnis

m. krit. Anm. MMR MMW MoMiG MRG MschrKrim./MonKrim. MschrKrimBiol/ MonKrimBiol. MschrKrimPsych/ MonKrimPsych. MStGO m.w.N. m. zust./abl. Anm. Nachtr. Nachw. NATO-Truppenstatut/ NTS Nds. NdsRpfl./Nds.Rpfl NdsSOG NEhelG n.F. Niederschr./ Niederschriften Nieders.GVBl. (Sb. I, II) NJ NJOZ NJW NJW-CoR NJW-RR NK NKrimP NK-WiStrR NPA Nr.(n) NRW NStE NStZ NStZ-RR NuR NVwZ NWB NWVBl NZA NZA-RR NZBau NZG NZI NZM NZS NZV

mit kritischer Anmerkung (von) MultiMedia und Recht Münchner Medizinische Wochenschrift Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen Militärregierungsgesetz Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform Monatsschrift für Kriminalbiologie und Strafrechtsreform Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform (1904/05–1936) Militärstrafgerichtsordnung mit weiteren Nachweisen mit zustimmender/ablehnender Anmerkung Nachtrag Nachweis Abkommen zwischen den Parteien des Nordatlantikvertrags v. 19.6.1951 über die Rechtsstellung ihrer Truppen (NATO-Truppenstatut) Niedersachsen Niedersächsische Rechtspflege Niedersächsisches Sicherheits- und Ordnungsgesetz Gesetz über die Rechtsstellung der nichtehelichen Kinder neue Fassung Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission Niedersächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt, Sonderband I und II, Sammlung des bereinigten niedersächsischen Rechts Neue Justiz Neue Juristische Online-Zeitschrift Neue Juristische Wochenschrift Computerreport der Neuen Juristischen Wochenschrift NJW-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch Neue Kriminalpolitik Nomos Kommentar zum Wirtschaftsstrafrecht Neues Polizei-Archiv Nummer(n) Nordrhein-Westfalen Neue Entscheidungssammlung für Strafrecht, hrsg. von Rebmann, Dahs und Miebach Neue Zeitschrift für Strafrecht NStZ-Rechtsprechungs-Report Strafrecht Natur und Recht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Wirtschaftsbriefe für Steuer- und Wirtschaftsrecht Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter Neue Zeitschrift für Arbeits- und Sozialrecht NZA-Rechtsprechungsreport Arbeitsrecht Neue Zeitschrift für Baurecht und Vergaberecht Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht Neue Zeitschrift für das Recht der Insolvenz und Sanierung Neue Zeitschrift für Miet- und Wohnungsrecht Neue Zeitschrift für Sozialrecht Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht

XXIV

Abkürzungsverzeichnis

NZWehrr/NZWehrR NZWiSt

Neue Zeitschrift für Wehrrecht Neue Zeitschrift für Wirtschafts-, Steuer- und Unternehmensstrafrecht

o. o.ä. ob. dict. OBGer öffentl. OECD ÖJZ/ÖstJZ Öst OGH

OrgKVerbG OVG OWiG

oben oder ähnlich obiter dictum Obergericht (Schweizer Kantone) öffentlich Organisation for Economic Cooperation and Development Österreichische Juristenzeitung Österreichischer Oberster Gerichtshof; ohne Zusatz: Entscheidung des Öst OGH in Strafsachen (zit. nach Band und Seite) oben genannt Oberstes Gericht der DDR Entscheidungen des Obersten Gerichts der DDR Oberster Gerichtshof (Österreich) Oberster Gerichtshof für die Britische Zone Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes für die Britische Zone in Strafsachen (1949/50) Offene Handelsgesellschaft Oberlandesgericht Entscheidungen der Oberlandesgerichte zum Straf- u. Strafverfahrensrecht (zit. nach Paragraph u. Seite, n.F. nach Paragraph u. Nummer) Obligationenrecht (Schweiz) ohne Rechnung Organisierte Kriminalität Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität Oberverwaltungsgericht Gesetz über Ordnungswidrigkeiten

PartG PartGG PatG PAuswG PersV PflanzenSchG/PflSchG PharmR PHI PIF PIN PlProt. PolG polit. Polizei PolV/PolVO PostG PostO Pr. PrG PrGS ProdSG Prot. Pr. OT

Gesetz über die politischen Parteien (Parteiengesetz) Partnerschaftsgesellschaftsgesetz Patentgesetz Gesetz über Personalausweise Die Personalverwaltung Gesetz zum Schutz der Kulturpflanzen (Pflanzenschutzgesetz) PharmaRecht Produkthaftpflicht International Protection des Intérêts Financiers (EU) Personal Identification Number Plenarprotokoll Polizeigesetz politisch Die Polizei (seit 1955: Die Polizei – Polizeipraxis) Polizeiverordnung Gesetz über das Postwesen (Postgesetz) Postordnung Preußen Pressegesetz Preußische Gesetzessammlung (1810–1945) Produktsicherheitsgesetz Protokolle über die Sitzungen des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform Preußisches Obertribunal

o.g. OG OGDDR OGH OGHBrZ OGHSt OHG OLG OLGSt OR o.R. OrgK OrgKG

XXV

Abkürzungsverzeichnis

PrPVG Prot. BT-RA

PTV PVT

Preußisches Polizeiverwaltungsgesetz Protokolle des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages (zit. nach Nummern) Preußisches Oberverwaltungsgericht Gesetz über das Zeugnisverweigerungsrecht der Mitarbeiter von Presse und Rundfunk Personenstandsgesetz Praxis Steuerstrafrecht psychisch Gesetz über die Berufe des psychologischen Psychotherapeuten und des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (PsychotherapeutenG) Polizei, Technik, Verkehr Polizei, Verkehr und Technik

qualif.

qualifizierend

R

Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen (zit. nach Band u. Seite) Recht und Psychiatrie Reichsabgabenordnung Rechtsausschuss Gesetz zur Verhütung von Mißbrauch auf dem Gebiet der Rechtsberatung Recht der Arbeit Runderlass Recht der Jugend und des Bildungswesens Das Recht des Kraftfahrers, Unabhängige Monatsschrift des Kraftverkehrsrechts (1926– 43, 1949–55) Randnummer Rundschreiben Entscheidungen des Reichsdienststrafhofs (1939– 41) Reichsdienststrafordnung Recht der Datenverarbeitung Das Recht, begründet von Soergel (1897–1944) Rechtsmedizin rechtspolitisch Rechtstheorie rechtsvergleichend Referentenentwurf Regierung Regierungsblatt relativ Rundfunkstaatsvertrag Reichsgericht Reichsgesetzblatt, von 1922–1945 Teil I und Teil II Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen (1879–1888) Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Rechnungshofgesetz Gesetz über die innerdeutsche Rechts- und Amtshilfe in Strafsachen Rheinland-Pfalz Grundsätze des anwaltlichen Standesrechts – Richtlinien gem. § 177 Abs. 2 Satz 2 BRAO Revue internationale de droit pénal Richtlinien der Landesjustizverwaltungen zum Jugendgerichtsgesetz

PrOVG PrZeugnVerwG PStG PStR psych. PsychThG

R&P RabgO/RAO RAussch. RBerG RdA RdErl. RdJB RdK Rdn. Rdschr./RdSchr. RDStH RDStO RDV Recht RechtsM rechtspol. RechtsTh rechtsvergl. RefE Reg. RegBl. rel. RfStV RG RGBl., RGBl. I, II RGRspr. RGSt RGZ RHG RHilfeG/RHG RhPf. RiAA RIDP RiJGG

XXVI

Abkürzungsverzeichnis

RiOWiG

RiStBV RiVASt RIW RJagdG RKG/RKnappschG RKGE RMBl. RMG/RMilGE RöntgVO/RöV ROW R&P Rpfleger RpflG RPostG Rspr. RStGB RStGH RStGH-Statut RT RTDrucks. RTVerh. RuP RVG RVO s. S. s.a. SA SaarPolG SaarRZ SaBremR SächsArch. SächsOLG SächsPolG Sarl SchAZtg ScheckG/SchG SchiedsmZ SchKG SchlH SchlHA Schriften der MGH SchwangUG SchwarzArbG schweiz. SchwJZ SchwZStr.

XXVII

Gemeinsame Anordnung über die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten und über die Zusammenarbeit mit den Verwaltungsbehörden Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren Richtlinien für den Rechtshilfeverkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten Recht der Internationalen Wirtschaft Reichsjagdgesetz Reichsknappschaftsgesetz Entscheidungen des Reichskriegsgerichts Reichsministerialblatt, Zentralblatt für das Deutsche Reich (1923– 45) Entscheidungen des Reichsmilitärgerichts (zit. nach Band u. Seite) Röntgenverordnung Recht in Ost und West. Zeitschrift für Rechtsvergleichung und interzonale Rechtsprobleme Recht und Psychiatrie Der Deutsche Rechtspfleger Rechtspflegergesetz Reichspostgesetz Rechtsprechung Reichsstrafgesetzbuch Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda – Statut Reichstag Drucksachen des Reichstages Verhandlungen des Reichstages Recht und Politik. Vierteljahreshefte für Rechts- und Verwaltungspolitik Rechtsanwaltsvergütungsgesetz Reichsversicherungsordnung siehe Seite oder Satz siehe auch Sonderausschuss für die Strafrechtsreform Saarländisches Polizeigesetz Saarländische Rechts- und Steuerzeitschrift Sammlung des bremischen Rechts (1964) Sächsisches Archiv für Rechtspflege, seit 1924 (bis 1941/42). Archiv für Rechtspflege in Sachsen, Thüringen und Anhalt Annalen des Sächsischen Oberlandesgerichts zu Dresden (1880–1920) Sächsisches Polizeigesetz Societé à responsabilité limitée Schiedsamts-Zeitung Scheckgesetz Schiedsmannszeitung (1926–1945), seit 1950 Der Schiedsmann Gesetz zur Vermeidung und Bewältigung von Schwangerschaftskonflikten (Schwangerschaftskonfliktgesetz) Schleswig-Holstein Schleswig-Holsteinische Anzeigen Schriften der Monumenta Germanicae historica (DDR-)Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz schweizerisch Schweizerische Juristen-Zeitung Schweizer Zeitschrift für Strafrecht

Abkürzungsverzeichnis

SeeArbG SeemannsG SeeRÜbk./SRÜ Sen. SeuffBl. SexualdelikteBekG SFHÄndG SFHG

SG/SoldatG SGB SGb. SGG SGV.NW SichVG SJZ SK Slg. s.o. sog. Sonderausschuss SortenSchG SozVers spez. SprengG/SprengstoffG SpuRT SSt StA StaatsGH StaatsschStrafsG StÄG StAZ StB StenB/StenBer StGB StPO str. StrAbh. StRÄndG

Seearbeitsgesetz Seemannsgesetz Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen; Vertragsgesetz Senat Seufferts Blätter für Rechtsanwendung (1836–1913) Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten – Sexualdeliktebekämpfungsgesetz – Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz Gesetz zum Schutz des vorgeburtlichen/werdenden Lebens, zur Förderung einer kinderfreundlicheren Gesellschaft, für Hilfen im Schwangerschaftskonflikt und zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs (Schwangeren- und Familienhilfegesetz) Gesetz über die Rechtsstellung der Soldaten III: Sozialgesetzbuch, Arbeitsförderung VIII: Sozialgesetzbuch, Kinder- und Jugendhilfe Sozialgerichtsbarkeit Sozialgerichtsgesetz Sammlung des bereinigten Gesetz- und Verordnungsblatts für das Land Nordrhein-Westfalen (Loseblattsammlung) Gesetz zur Rechtsvereinheitlichung der Sicherungsverwahrung Süddeutsche Juristen-Zeitung (1946–50), dann Juristenzeitung Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch Sammlung der Rechtsprechung des EuGH siehe oben sogenannt(e) Sonderausschuss des Bundestages für die Strafrechtsreform, Niederschriften zitiert nach Wahlperiode und Sitzung Gesetz über den Schutz von Pflanzensorten (Sortenschutzgesetz) Die Sozialversicherung speziell Gesetz über explosionsgefährliche Stoffe (Sprengstoffgesetz) Zeitschrift für Sport und Recht Entscheidungen des österreichischen Obersten Gerichtshofes in Strafsachen und Disziplinarangelegenheiten Staatsanwalt(schaft) Staatsgerichtshof Gesetz zur allgemeinen Einführung eines zweiten Rechtszuges in StaatsschutzStrafsachen s. StRÄndG Das Standesamt. Zeitschrift für Standesamtswesen, Personenstandsrecht, Ehe- u. Kindschaftsrecht, Staatsangehörigkeitsrecht Der Steuerberater Stenographischer Bericht Strafgesetzbuch Strafprozeßordnung streitig, strittig Strafrechtliche Abhandlungen Strafrechtsänderungsgesetz (1. vom 30.8.1951) 18. ~ – Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität 27. ~ – Kinderpornographie 28. ~ – Abgeordnetenbestechung 31. ~ – Zweites Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität 37. ~ – §§ 180b, 181 StGB 40. ~ – Gesetz zur Strafbarkeit beharrlicher Nachstellungen

XXVIII

Abkürzungsverzeichnis

StraffreiheitsG/StrFG StraFo strafr. StrafrAbh. StraßVerkSichG/ StrEG StREG StrlSchuV/StrlSchVO StrRG StRR st. Rspr. StS StuR StV/StrVert. StVE StVG StVGÄndG StVj/StVJ StVK StVO StVollstrO StVollzÄndG StVollzG StVollzK 1. StVRG 1. StVRErgG StVZO s.u. SubvG SV TDG TerrorBekG

41. ~ – Bekämpfung der Computerkriminalität 42. ~ – Anhebung der Höchstgrenze des Tagessatzes bei Geldstrafen Gesetz über Straffreiheit Strafverteidigerforum strafrechtlich Strafrechtliche Abhandlungen, hrsg. von Bennecke, dann von Beling, v. Lilienthal und Schoetensack 1. Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs (Straßenverkehrssicherungsgesetz – StraßenVSichG) Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen Gesetz über ergänzende Maßnahmen zum 5. StrRG (Strafrechtsreformergänzungsgesetz) Strahlenschutzverordnung Gesetz zur Reform des Strafrechts (1. ~, 2. ~, … 6. ~) Strafrechtsreport ständige Rechtsprechung Strafsenat Staat und Recht Strafverteidiger Straßenverkehrsentscheidungen, hrsg. von Cramer, Berz, Gontard, Loseblattsammlung (zit. nach Paragraph u. Nummer) Straßenverkehrsgesetz Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer Gesetze Steuerliche Vierteljahresschrift Strafvollstreckungskammer Straßenverkehrsordnung Strafvollstreckungsordnung Gesetz zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung – Strafvollzugsgesetz Blätter für Strafvollzugskunde (Beilage zur Zeitschrift „Der Vollzugsdienst“) Erstes Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts Erstes Gesetz zur Ergänzung des 1. StVRG Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung siehe unten Subventionsgesetz Sachverhalt

TV Tz.

Gesetz über die Nutzung von Telediensten Gesetz zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus (Terrorismusbekämpfungsgesetz) Gesetz zur Ergänzung des Terrorismusbekämpfungsgesetzes (Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz) Thüringisches Polizeiaufgabengesetz Tierschutzgesetz Titel Telekommunikationsgesetz Gesetz über die Spende, Entnahme und Übertragung von Organen – Transplantationsgesetz Truppenvertrag Textziffer, -zahl

u. u.a. u.ä.

unten (auch: und) unter anderem (auch: andere) und ähnliche

TerrorBekErgG ThürPAG TierschG/TierschutzG Tit. TKG TPG

XXIX

Abkürzungsverzeichnis

u.a.m. UdG Üb. Übereink./Übk. ÜbergangsAO ü. M. UFITA UG U-Haft UMAG umstr. UmwRG UNO UNTS unv. UPR UrhG UStG usw. UTR u.U. UVNVAG UWG UZwG UZwGBw

v. VAE VAG v.A.w. VBlBW VD VDA bzw. VDB VE VerbrBekG VerbringungsverbG VereinfVO

VereinhG

VereinsG VerfGH VerglO

und anderes mehr Urkundsbeamter der Geschäftsstelle Überblick; Übersicht Übereinkommen Übergangsanordnung überwiegende Meinung Archiv für Urheber-, Film-, Funk- und Theaterrecht Unternehmergesellschaft Untersuchungshaft Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts umstritten Umweltrahmengesetz der DDR United Nations Organization (Vereinte Nationen) United Nations Treaty Series unveröffentlicht Umwelt- und Planungsrecht Gesetz über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (Urheberrechtsgesetz) Umsatzsteuergesetz und so weiter Umwelt- und Technikrecht, Schriftenreihe des Instituts für Umwelt- und Technikrecht der Universität Trier, hrsg. von Rüdiger Breuer u.a. unter Umständen Ausführungsgesetz v. 23.7.1998 (BGBl. I S. 1882) zu dem Vertrag v. 24.9.1996 über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen – Zustimmungsgesetz Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb Gesetz über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes Gesetz über die Anwendung unmittelbaren Zwanges und die Ausübung besonderer Befugnisse durch Soldaten der Bundeswehr und zivile Wachpersonen von, vom Verkehrsrechtliche Abhandlungen und Entscheidungen Versicherungsaufsichtsgesetz von Amts wegen Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg Verkehrsdienst Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Allgemeiner bzw. Besonderer Teil Vorentwurf Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung und anderer Gesetze (Verbrechensbekämpfungsgesetz) Gesetz zur Überwachung strafrechtlicher und anderer Verbringungsverbote Vereinfachungsverordnung 1. ~, VO über Maßnahmen auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung und Rechtspflege 2. ~, VO zur weiteren Vereinfachung der Strafrechtspflege 3. ~, Dritte VO zur Vereinfachung der Strafrechtspflege 4. ~, Vierte VO zur Vereinfachung der Strafrechtspflege Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts Gesetz zur Regelung des öffentlichen Vereinsrechts (Vereinsgesetz) Verfassungsgerichtshof Vergleichsordnung

XXX

Abkürzungsverzeichnis

Verh. VerjährG

VerkMitt/VerkMitt./VM VerkProspektG vermitt. VerpflG VerschG VersG VersR VerwArch. VG VGH vgl. Vhdlgen VJZ VN VN-Satzung VO VOBl. VOR Voraufl. Vorbem. VorE vorgen. VRS VStGB VVDStRL VVG VwBlBW VwGO VwVfG VwVG VwZG WaffG/WaffenG Warn./WarnRspr WBl WDO WehrpflG WeimVerf./WV WeinG weitergeh. WHG WiB

XXXI

Verhandlungen des Deutschen Bundestages (BT), des Deutschen Juristentages (DJT) usw. Gesetz über das Ruhen der Verjährung bei SED-Unrechtstaten 2. VerjährG, Gesetz zur Verlängerung strafrechtlicher Verjährungsfristen vom 27.9.1993 3. VerjährG, Gesetz zur weiteren Verlängerung strafrechtlicher Verjährungsfristen vom 22.12.1997 Verkehrsrechtliche Mitteilungen Wertpapiere-Verkaufsprospektgesetz vermittelnd Gesetz über die förmliche Verpflichtung nichtbeamteter Personen (Verpflichtungsgesetz) i.d.F. v. Art. 42 EGStGB Verschollenheitsgesetz Gesetz über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz) Versicherungsrecht, Juristische Rundschau für die Individualversicherung Verwaltungsarchiv Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof vergleiche s. Verh. Zeitschrift für Vermögems- und Immobilienrecht Vereinte Nationen Satzung der Vereinten Nationen Verordnung Verordnungsblatt Zeitschrift für Verkehrs- und Ordnungswidrigkeitenrecht Vorauflage Vorbemerkung Vorentwurf vorgenannt Verkehrsrechts-Sammlung, Entscheidungen aus allen Gebieten des Verkehrsrechts Völkerstrafgesetzbuch Veröffentlichungen der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer (zit. nach Heft u. Seite) Gesetz über den Versicherungsvertrag Verwaltungsblätter Baden-Württemberg Verwaltungsgerichtsordnung Verwaltungsverfahrensgesetz Verwaltungsvollstreckungsgesetz Verwaltungszustellungsgesetz Waffengesetz Sammlung zivilrechtlicher Entscheidungen des RG, hrsg. von Warneyer (zit. nach Jahr und Nummer) Wirtschaftsrechtliche Blätter (Österreich) Wehrdisziplinarordnung Wehrpflichtgesetz Verfassung des Deutschen Reichs (sog. „Weimarer Verfassung“) Weingesetz weitergehend Gesetz zur Ordnung des Wasserhaushalts (Wasserhaushaltsgesetz) Wirtschaftsrechtliche Beratung

Abkürzungsverzeichnis

1. WiKG 2. WiKG WiStG wistra WissR WiVerw WK WM w.N.b. WoÜbG WuM WPg WpHG WRP WStG WZG z. (Z) ZAG ZahlVGJG ZAkDR ZaöRV z.B. ZBB ZbernJV/ZBJV ZBl. f. Verk. Med. ZDG ZfB ZfBR Z. f. d. ges. Sachverst.wesen ZFIS ZfJ ZfL ZfRV ZfS/ZfSch ZfStrVo ZfW ZfWG ZfZ ZG ZGR ZHR Zif./Ziff. ZInsO ZIP ZIS zit.

1. Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität 2. Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität Gesetz zur weiteren Vereinfachung des Wirtschaftsstrafrechts (Wirtschaftsstrafgesetz 1954) Zeitschrift für Wirtschaft, Steuer, Strafrecht; dann: Zeitschrift für Wirtschaftsund Steuerstrafrecht Wissenschaftsrecht Wirtschaft und Verwaltung Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch Wertpapier-Mitteilungen weitere Nachweise bei Gesetz zur Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 3. März 2004 (akustische Wohnraumüberwachung) v. 24.6.2005 Wohnungswirtschaft und Mietrecht Die Wirtschaftsprüfung Gesetz über Wertpapierhandel Wettbewerb in Recht und Praxis Wehrstrafgesetz Warenzeichengesetz zur, zum Entscheidung in Zivilsachen Zahlungsdiensteaufsichtsgesetz Gesetz über den Zahlungsverkehr mit Gerichten und Justizbehörden Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht (1934–1944) Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht zum Beispiel Zeitschrift für Bankrecht und Bankwirtschaft Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins Zentralblatt für Verkehrsmedizin, Verkehrspsychologie, Luft- und Raumfahrtmedizin Gesetz über den Zivildienst der Kriegsdienstverweigerer (Zivildienstgesetz) Zeitschrift für Binnenschifffahrt und Wasserstraßen Zeitschrift für deutsches und internationales Baurecht Zeitschrift für das gesamte Sachverständigenwesen Zeitschrift für innere Sicherheit Zentralblatt für Jugendrecht Zeitschrift für Lebensrecht Zeitschrift für Rechtsvergleichung, Internationales Privatrecht und Europarecht Zeitschrift für Schadensrecht Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe Zeitschrift für Wasserrecht Zeitschrift für Wett- und Glücksspielrecht Zeitschrift für Zölle und Verbrauchssteuern Zeitschrift für Gesetzgebung Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht, begr. v. Goldschmidt Ziffer(n) Zeitschrift für das gesamte Insolvenzrecht Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik zitiert

XXXII

Abkürzungsverzeichnis

ZJS ZMR ZNER ZollG ZParl ZPO ZRP ZSchwR ZStW z.T. ZUM zusf. zust. ZustErgG

ZustG ZustVO zutr. z.V.b. ZVG ZVS zw. ZWehrR ZWH z.Z. ZZP

XXXIII

Zeitschrift für das Juristische Studium Zeitschrift für Miet- und Raumrecht Zeitschrift für Neues Energierecht Zollgesetz Zeitschrift für Parlamentsfragen Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Schweizerisches Recht Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft zum Teil Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht/Film und Recht zusammenfassend zustimmend Gesetz zur Ergänzung von Zuständigkeiten auf den Gebieten des Bürgerlichen Rechts, des Handelsrechts und des Strafrechts (Zuständigkeitsergänzungsgesetz) Zustimmungsgesetz Verordnung über die Zuständigkeit der Strafgerichte, die Sondergerichte und sonstige strafverfahrensrechtliche Vorschriften zutreffend zur Veröffentlichung bestimmt Gesetz über die Zwangsversteigerung und die Zwangsverwaltung (Zwangsversteigerungsgesetz) Zeitschrift für Verkehrssicherheit zweifelhaft (auch: zweifelnd) Zeitschrift für Wehrrecht (1936/37–1944) Zeitschrift für Wirtschaftsstrafrecht und Haftung im Unternehmen zur Zeit Zeitschrift für Zivilprozess

Abkürzungsverzeichnis

XXXIV

Schrifttum und abgekürzt zitierte Literatur

Schrifttum und abgekürzt zitierte Literatur Schrifttum und abgekürzt zitierte Literatur Schrifttum und abgekürzt zitierte Literatur https://doi.org/10.1515/9783110300413-206

Das Schrifttum zum Kernstrafrecht sowie sämtliche strafrechtlich relevanten Festschriften und vergleichbare Werke finden sich unter 1. Es folgt in alphabetischer Reihenfolge das Schrifttum zum Nebenstrafrecht und zu nichtstrafrechtlichen Gebieten: 2. Betäubungsmittelstrafrecht, 3. Bürgerliches Recht einschließlich Versicherungsrecht, 4. DDR-Strafrecht, 5. Europäisches Recht, 6. Handelsrecht einschließlich Bilanz- und Gesellschaftsrecht, 7. Jugendstrafrecht, 8. Kriminologie, 9. Ordnungswidrigkeitenrecht, 10. Presserecht, 11. Rechtshilfe, 12. Rechtsmedizin und Medizinstrafrecht, 13. Strafprozess- und Strafvollzugsrecht, 14. Straßenverkehrsrecht, 15. Verfassungsrecht und Verwaltungsrecht, 16. Wettbewerbs- und Kartellrecht, 17. Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 18. Zivilprozess- und Insolvenzrecht, 19. Sonstiges (einschließlich Arbeits- und Sozialrecht, Völkerrecht und Waffenrecht).

1. Strafrecht (StGB) und Festschriften Zitier-Abk.

Werk

AK

Kommentar zum Strafgesetzbuch – Reihe Alternativkommentare, hrsg. v. Wassermann, Bd. 1 (1990), Bd. 3 (1986) Internationales Strafrecht, 5. Aufl. (2018) AnwaltKommentar StGB, hrsg. v. Leipold/Tsambikakis/Zöller, 2. Aufl. (2015) Verfassung und Strafe (1998)

Ambos AnwK Appel Arzt/Weber/Heinrich/ Hilgendorf BT v. Bar Baumann Baumann/Weber/ Mitsch/Eisele BeckOK

Strafrecht, Besonderer Teil, Lehrbuch, 3. Aufl. (2015) Gesetz und Schuld im Strafrecht, 1. Bd. (1906), 2. Bd. (1907), 3. Bd. (1909) Strafrecht, Allgemeiner Teil, 7. Aufl. (1975)

Strafrecht, Allgemeiner Teil, Lehrbuch, 12. Aufl. (2016) Beck’scher Online-Kommentar StGB, hrsg. v. von Heintschel-Heinegg, 42. Edition (2019) Beling Die Lehre vom Verbrechen (1906) Beulke-Symposion Strafverteidigung – Grundlagen und Stolpersteine, Symposion für Werner Beulke, hrsg. v. Engländer/Fahl/Satzger/Swoboda (2012) Binding, Grundriß Grundriß des Deutschen Strafrechts, Allgemeiner Teil, 8. Aufl. (1913) Binding, Handbuch Handbuch des Strafrechts (1885) Binding, Lehrbuch I, II Lehrbuch des gemeinen Deutschen Strafrechts, Besonderer Teil, 2. Aufl. Bd. 1 (1902), Bd. 2 (1904/05) Binding, Normen Die Normen und ihre Übertretung, 2. Aufl., 4 Bände (1890 –1919) BK Basler Kommentar Strafrecht I und II, hrsg. von Niggli/Wiprächtiger, 4. Aufl. (2018) (s. aber auch 15. Verfassungsrecht) Blei I, II Strafrecht I, Allgemeiner Teil, 18. Aufl. (1983); Strafrecht II, Besonderer Teil, 12. Aufl. (1983) Bochumer Erläuterungen Bochumer Erläuterungen zum 6. Strafrechtsreformgesetz, hrsg. v. Schlüchter (1998) Bockelmann BT 1, 2, 3 Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1: Vermögensdelikte, 2. Aufl. (1982); Bd. 2: Delikte gegen die Person (1977); Bd. 3: Ausgewählte Delikte gegen Rechtsgüter der Allgemeinheit (1980) Bockelmann/Volk Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Aufl. (1987) Bringewat Grundbegriffe des Strafrechts, 3. Aufl. (2018) Bruns, Strafzumessungsrecht Strafzumessungsrecht: Gesamtdarstellung, 2. Aufl. (1974) Bruns/Güntge Das Recht der Strafzumessung, 3. Aufl. (2018) (vormals Bruns) Bruns, Reflexionen Neues Strafzumessungsrecht? „Reflexionen“ über eine geforderte Umgestaltung (1988) Burgstaller Das Fahrlässigkeitsdelikt im Strafrecht (1974) Coimbra-Symposium s. Schünemann/de Figueiredo Dias

XXXV https://doi.org/10.1515/9783110300413-206

Schrifttum und abgekürzt zitierte Literatur

Dahs Dalcke/Fuhrmann/Schäfer Dölling/Duttge/König/ Rössner Ebert Ebert AT Einführung 6. StrRG Eisele BT 1, BT 2

Erbs/Kohlhaas Erinnerungsgabe Grünhut Eser et al., Rechtfertigung und Entschuldigung I –IV

Festgabe BGH 25 Festgabe BGH 50 Festgabe Frank Festgabe Graßhoff Festgabe Kern Festgabe Paulus Festgabe Peters Festgabe RG I–VI Festgabe Schultz Festgabe Schweizer JT Festschrift Achenbach Festschrift Amelung Festschrift Androulakis Festschrift Augsburg Festschrift Baumann Festschrift Bemmann Festschrift Beulke Festschrift BGH 50

Festschrift Blau Festschrift Bockelmann Festschrift Böhm Festschrift Böttcher Festschrift Boujong Festschrift Brauneck Festschrift Bruns

Handbuch des Strafverteidigers, 8. Aufl. (2015) Strafrecht und Strafverfahren, 37. Aufl. (1961) s. HK-GS Aktuelle Probleme der Strafrechtspflege: Beiträge anläßlich eines Symposiums zum 60. Geburtstag von E. W. Hanack, hrsg. v. Ebert (1991) Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Aufl. (2001) Einführung in das 6. Strafrechtsreformgesetz (1998) (bearb. v. Dencker u.a.) Strafrecht – Besonderer Teil I: Straftaten gegen die Person und die Allgemeinheit; Strafrecht – Besonderer Teil II: Eigentumsdelikte, Vermögensdelikte und Urkundendelikte 5. Aufl. (2019) Strafrechtliche Nebengesetze, Loseblattsammlung, 224. Aufl. (2019) Erinnerungsgabe für Max Grünhut (1965) Rechtfertigung und Entschuldigung: rechtsvergleichende Perspektiven. Beiträge aus dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Bd. 1, hrsg. v. Eser/Fletcher (1987); Bd. 2, hrsg. v. Eser/ Fletcher (1988); Bd. 3: Deutsch-Italienisch-Portugiesisch-Spanisches Strafrechtskolloquium 1990 in Freiburg, hrsg. v. Eser/Perron (1991); Bd. 4: Ostasiatisch-Deutsches Strafrechtskolloquium 1993 in Tokio, hrsg. v. Eser/ Nishihara (1995) 25 Jahre Bundesgerichtshof 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Band IV: Straf- und Strafprozeßrecht (2000) Festgabe für Reinhard von Frank zum 70. Geburtstag, 2 Bde. (1930) Der verfasste Rechtsstaat, Festgabe für Karin Graßhoff (1998) Festgabe für Eduard Kern zum 70. Geburtstag (1957) Festgabe für Rainer Paulus zum 70. Geburtstag (2009) Wahrheit und Gerechtigkeit im Strafverfahren: Festgabe für Karl Peters aus Anlaß seines 80. Geburtstages (1984) Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben: Festgabe der juristischen Fakultäten zum 50-jährigen Bestehen des Reichsgerichts (1929) Lebendiges Strafrecht: Festgabe zum 65. Geburtstag von Hans Schultz (1977) Festgabe zum Schweizerichen Juristentag (1963) Festschrift für Hans Achenbach zum 70. Geburtstag (2011) Grundlagen des Straf- und Strafverfahrensrechts: Festschrift für Knut Amelung zum 70. Geburtstag (2009) Festschrift für Nikolaos Androulakis zum 70. Geburtstag (2003) Recht in Europa: Festgabe zum 30-jährigen Bestehen der Juristischen Fakultät Augsburg (2002) Festschrift für Jürgen Baumann zum 70. Geburtstag (1992) Festschrift für Günter Bemmann zum 70. Geburtstag (1997) Ein menschengerechtes Strafrecht als Lebensaufgabe – Festschrift für Werner Beulke zum 70. Geburtstag (2015) Festschrift aus Anlaß des fünfzigjährigen Bestehens von Bundesgerichtshof, Bundesanwaltschaft und Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof (2000) Festschrift für Günter Blau zum 70. Geburtstag (1985) Festschrift für Paul Bockelmann zum 70. Geburtstag (1979) Festschrift für Alexander Böhm zum 70. Geburtstag (1999) Festschrift für Reinhard Böttcher zum. 70 Geburtstag (2007) Verantwortung und Gestaltung: Festschrift für Karlheinz Boujong zum 65. Geburtstag (1996) Ehrengabe für Anne-Eva Brauneck (1999) Festschrift für Hans-Jürgen Bruns zum 70. Geburtstag (1978)

XXXVI

Schrifttum und abgekürzt zitierte Literatur

Festschrift Burgstaller Festschrift v. Caemmerer Festschrift Celle I Festschrift Celle II Festschrift Dahs Festschrift Dencker Festschrift Diestelkamp Festschrift DJT Festschrift Dreher Festschrift Dünnebier Festschrift Eisenberg Festschrift Engisch Festschrift Ermacora Festschrift Eser Festschrift Europa-Institut Festschrift Fezer Festschrift Fiedler Festschrift Fischer Festschrift Friebertshäuser Festschrift Frisch Festschrift Fuchs Festschrift GA Festschrift Gallas Festschrift von Gamm Festschrift Gauweiler Festschrift Geerds Festschrift Geilen Festschrift Geiß Festschrift Geppert Festschrift Germann Festschrift Gleispach Festschrift Göppinger Festschrift Gössel Festschrift Grünwald Festschrift Grützner

Festschrift Hamm Festschrift Hanack Festschrift Hanauer Festschrift Hassemer

XXXVII

Festschrift für Manfred Burgstaller zum 65. Geburtstag (2004) Festschrift für Ernst von Caemmerer zum 70. Geburtstag (1978) Göttinger Festschrift für das Oberlandesgericht Celle: zum 250-jährigen Bestehen des Oberlandesgerichts Celle (1961) Festschrift zum 275-jährigen Bestehen des Oberlandesgerichts Celle (1986) Festschrift für Hans Dahs zum 70. Geburtstag (2005) Festschrift für Friedrich Dencker zum 70. Geburtstag (2012) Geschichte der Zentraljustiz in Mitteleuropa: Festschrift für Bernhard Diestelkamp zum 65. Geburtstag (1994) Hundert Jahre deutsches Rechtsleben: Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages 1860 –1960, 2 Bde. (1960) Festschrift für Eduard Dreher zum 70. Geburtstag (1977) Festschrift für Hans Dünnebier zum 75. Geburtstag (1982) Festschrift für Ulrich Eisenberg zum 70. Geburtstag (2009) Festschrift für Karl Engisch zum 70. Geburtstag (1969) Fortschritt im Bewußtsein der Grund- und Menschenrechte: Festschrift für Felix Ermacora zum 65. Geburtstag (1988) Menschengerechtes Strafrecht: Festschrift für Albin Eser zum 70. Geburtstag (2005) Europäische Integration und Globalisierung, Festschrift zum 60-jährigen Bestehen des Europa-Instituts (2011) Festschrift für Gerhard Fezer zum 70. Geburtstag (2008) Verfassung – Völkerrecht – Kulturgüterschutz, Festschrift für Wilfried Fiedler zum 70. Geburtstag (2011) Festschrift für Thomas Fischer (2018) Festgabe für den Strafverteidiger Dr. Heino Friebertshäuser (1997) Grundlagen und Dogmatik des gesamten Strafrechtssystems – Festschrift für Wolfgang Frisch zum 70. Geburtstag (2013) Festschrift für Helmut Fuchs zum 65. Geburtstag (2014) 140 Jahre Goltdammer’s Archiv für Strafrecht: eine Würdigung zum 70. Geburtstag von Paul-Günter Pötz (1993) Festschrift für Wilhelm Gallas zum 70. Geburtstag (1973) Festschrift für Otto-Friedrich Frhr. von Gamm Recht und Politik: Festschrift für Peter Gauweiler zum 60. Geburtstag (2009) Kriminalistik und Strafrecht: Festschrift für Friedrich Geerds zum 70. Geburtstag (1995) Bochumer Beiträge zu aktuellen Strafrechtsthemen: Festschrift für Gerd Geilen zum 70. Geburtstag (2003) Festschrift für Karlmann Geiß zum 65. Geburtstag (2000) Festschrift für Klaus Geppert zum 70. Geburtstag (2011) Rechtsfindung – Beiträge zur juristischen Methodenlehre: Festschrift für Oscar Adolf Germann zum 80. Geburtstag (1969) Gegenwartsfragen der Strafrechtswissenschaft: Festschrift zum 60. Geburtstag von Graf W. Gleispach (1936) (Nachdruck 1995) Kriminalität, Persönlichkeit, Lebensgeschichte und Verhalten: Festschrift für Hans Göppinger zum 70. Geburtstag (1990) Festschrift für Karl Heinz Gössel zum 70. Geburtstag (2002) Festschrift für Gerald Grünwald zum 70. Geburtstag (1999) Aktuelle Probleme des internationalen Strafrechts – Beiträge zur Gestaltung des internationalen und supranationalen Strafrechts: Heinrich Grützner zum 65. Geburtstag (1970) Festschrift für Rainer Hamm zum 65. Geburtstag (2008) Festschrift für Ernst-Walter Hanack zum 70. Geburtstag (1999) Festschrift für Rudolf Hanauer aus Anlass seines 70. Geburtstages (1978) Festschrift für Winfried Hassemer zum 70. Geburtstag (2010)

Schrifttum und abgekürzt zitierte Literatur

Festschrift Heidelberg Festschrift Heinitz Festschrift Heintschel-Heinegg Festschrit Heinz Festschrift Henkel Festschrift v. Hentig Festschrift Herzberg Festschrift Herzog Festschrift Heusinger Festschrift Hilger Festschrift Hirsch Festschrift Honig Festschrift Hruschka Festschrift Hubmann Festschrift Hübner Festschrift Jakobs Festschrift Jauch Festschrift Jescheck Festschrift Jung Festschrift JurGes. Berlin Festschrift Kaiser Festschrift Kargl Festschrift Arthur Kaufmann (1989) Festschrift Arthur Kaufmann (1993) Festschrift Kern Festschrift Kerner Festschrift Kindhäuser Festschrift Kirchberg Festschrift Kleinknecht Festschrift Klug Festschrift Koch Festschrift Kohlmann Festschrift Kohlrausch Festschrift Köln Festschrift Krause Festschrift Krey Festschrift Küper

Richterliche Rechtsfortbildung: Festschrift der Juristischen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität Heidelberg (1986) Festschrift für Ernst Heinitz zum 70. Geburtstag (1972) Festschrift für Bernd von Heintschel-Heinegg zum 70. Geburtstag (2015) Festschrift für Wolfgang Heinz zum 70. Geburtstag (2012) Grundfragen der gesamten Strafrechtswissenschaft: Festschrift für Heinrich Henkel zum 70. Geburtstag (1974) Kriminologische Wegzeichen: Festschrift für Hans v. Hentig zum 80. Geburtstag (1967) Strafrecht zwischen System und Telos: Festschrift für Rolf Dietrich Herzberg zum 70. Geburtstag (2008) Staatsrecht und Politik: Festschrift für Roman Herzog zum 75. Geburtstag (2009) Ehrengabe für Bruno Heusinger (1968) Datenübermittlungen und Vorermittlungen: Festgabe für Hans Hilger (2003) Festschrift für Hans Joachim Hirsch zum 70. Geburtstag (1999) Festschrift für Richard M. Honig zum 80. Geburtstag (1970) Jahrbuch für Recht und Ethik: Festschrift für Joachim Hruschka zum 70. Geburtstag (2006) Beiträge zum Schutz der Persönlichkeit und ihrer schöpferischen Leistung: Festschrift für Heinrich Hubmann zum 70. Geburtstag (1985) Festschrift für Heinz Hübner zum 70. Geburtstag (1984) Festschrift für Günther Jakobs zum 70. Geburtstag (2007) Wie würden Sie entscheiden? Festschrift für Gerd Jauch zum 65. Geburtstag (1990) Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck zum 70. Geburtstag, 2 Bde. (1985) Festschrift für Heike Jung zum 65. Geburtstag (2007) Festschrift zum 125-jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin (1984) Internationale Perspektiven in Kriminologie und Strafrecht: Festschrift für Günther Kaiser zum 70. Geburtstag, 2 Bde. (1998) Festschrift für Walter Kargl zum 70. Geburtstag (2015) Jenseits des Funktionalismus: Arthur Kaufmann zum 65. Geburtstag (1989) Strafgerechtigkeit: Festschrift für Arthur Kaufmann zum 70. Geburtstag (1993) Tübinger Festschrift für Eduard Kern (1968) Kriminologie – Kriminalpolitik – Strafrecht, Festschrift für Hans-Jürgen Kerner zum 70. Geburtstag (2013) Festschrift für Urs Kindhäuser zum 70. Geburtstag (2019) Festschrift für Christian Kirchberg zum 70. Geburtstag (2017) Strafverfahren im Rechtsstaat: Festschrift für Theodor Kleinknecht zum 75. Geburtstag (1985) Festschrift für Ulrich Klug zum 70. Geburtstag, 2 Bde. (1983) Strafverteidigung und Strafprozeß: Festgabe für Ludwig Koch (1989) Festschrift für Günter Kohlmann zum 70. Geburtstag (2003) Probleme der Strafrechtserneuerung: Eduard Kohlrausch zum 70. Geburtstage dargebracht (1944; Nachdruck 1978) Festschrift der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln (1988) Recht und Kriminalität: Festschrift für Friedrich-Wilhelm Krause zum 70. Geburtstag (1990) Festschrift für Volker Krey zum 70. Geburtstag (2010) Festschrift für Wilfried Küper zum 70. Geburtstag (2007)

XXXVIII

Schrifttum und abgekürzt zitierte Literatur

Festschrift Kühne Festschrift Lackner Festschrift Lampe

Festschrift für Hans-Heiner Kühne zum 70. Geburtstag (2013) Festschrift für Karl Lackner zum 70. Geburtstag (1987) Jus humanum: Grundlagen des Rechts und Strafrechts, Festschrift für Ernst-Joachim Lampe zum 70. Geburtstag (2003) Festschrift Lange Festschrift für Richard Lange zum 70. Geburtstag (1976) Festschrift Laufs Humaniora, Medizin – Recht – Geschichte: Festschrift für Adolf Laufs zum 70. Geburtstag (2006) Festschrift Leferenz Kriminologie – Psychiatrie – Strafrecht: Festschrift für Heinz Leferenz zum 70. Geburtstag (1983) Festschrift Lenckner Festschrift für Theodor Lenckner zum 70. Geburtstag (1998) Festschrift Lüderssen Festschrift für Klaus Lüderssen zum 70. Geburtstag (2002) Festschrift Maihofer Rechtsstaat und Menschenwürde: Festschrift für Werner Maihofer zum 70. Geburtstag (1988) Festschrift Maiwald Festschrift für Manfred Maiwald zum 75. Geburtstag (2011) Festschrift Mangakis Strafrecht – Freiheit – Rechtsstaat: Festschrift für Georgios Mangakis (1999) Festschrift Maurach Festschrift für Reinhart Maurach zum 70. Geburtstag (1972) Festschrift H. Mayer Beiträge zur gesamten Strafrechtswissenschaft: Festschrift für Hellmuth Mayer zum 70. Geburtstag (1966) Festschrift Mehle Festschrift für Volkmar Mehle zum 65. Geburtstag (2009) Festschrift Meyer-Goßner Festschrift für Lutz Meyer-Goßner zum 65. Geburtstag (2001) Festschrift Mezger Festschrift für Edmund Mezger zum 70. Geburtstag (1954) Festschrift Middendorff Festschrift für Wolf Middendorff zum 70. Geburtstag (1986) Festschrift Miyazawa Festschrift für Koichi Miyazawa: dem Wegbereiter des japanisch-deutschen Strafrechtsdiskurses (1995) Festschrift E. Müller (2003) Opuscula Honoraria, Egon Müller zum 65. Geburtstag (2003) Festschrift E. Müller (2008) Festschrift für Egon Müller zum 70. Geburtstag (2008) Festschrift Müller-Dietz (1998) Das Recht und die schönen Künste: Heinz Müller-Dietz zum 65. Geburtstag (1998) Festschrift Müller-Dietz (2001) Grundlagen staatlichen Strafens: Festschrift für Heinz-Müller-Dietz zum 70. Geburtstag (2001) Festschrift Nehm Strafrecht und Justizgewährung: Festschrift für Kay Nehm zum 65. Geburtstag (2006) Festschrift Neumann Rechtsstaatliches Strafrecht: Festschrift für Ulfrid Neumann zum 70. Geburtstag (2017) Festschrift Nishihara Festschrift für Haruo Nishihara zum 70. Geburtstag (1998) Festschrift Nobbe Entwicklungslinien im Bank- und Kapitalmarktrecht: Festschrift für Gerd Nobbe zum 65. Geburtstag (2009) Festschrift Odersky Festschrift für Walter Odersky zum 65. Geburtstag (1996) Festschrift Oehler Festschrift für Dietrich Oehler zum 70. Geburtstag (1985) Festschrift Otto Festschrift für Harro Otto zum 70. Geburtstag (2007) Festschrift Paarhammer In mandatis meditari, Festschrift für Hans Paarhammer zum 65. Geburtstag (2012) Festschrift Paeffgen Strafe und Prozess im freiheitlichen Rechtsstaat – Festschrift für HansUllrich Paeffgen zum 70. Geburtstag (2015) Festschrift Pallin Strafrecht, Strafprozeßrecht und Kriminologie: Festschrift für Franz Pallin zum 80. Geburtstag (1989) Festschrift Partsch Des Menschen Recht zwischen Freiheit und Verantwortung: Festschrift für Karl Josef Partsch zum 75. Geburtstag (1989) Festschrift Peters Einheit und Vielfalt des Strafrechts: Festschrift für Karl Peters zum 70. Geburtstag (1974) Festschrift Ch. Pfeiffer Kriminologie ist Gesellschaftswissenschaft, Festschrift für Christian Pfeiffer zum 70. Geburtstag (2014) Festschrift Pfeiffer Strafrecht, Unternehmensrecht, Anwaltsrecht: Festschrift für Gerd Pfeiffer zum Abschied aus dem Amt als Präsident des Bundesgerichtshofes (1988)

XXXIX

Schrifttum und abgekürzt zitierte Literatur

Festschrift Pfenniger

Strafprozeß und Rechtsstaat: Festschrift zum 70. Geburtstag von H.F. Pfenniger (1976) Festschrift Platzgummer Festschrift für Winfried Platzgummer zum 65. Geburtstag (1995) Festschrift Pötz s. Festschrift GA Festschrift Puppe Strafrechtswissenschaft als Analyse und Konstruktion: Festschrift für Ingeborg Puppe zum 70. Geburtstag (2011) Festschrift Rasch Die Sprache des Verbrechens – Wege zu einer klinischen Kriminologie: Festschrift für Wilfried Rasch (1993) Festschrift Rebmann Festschrift für Kurt Rebmann zum 65. Geburtstag (1989) Festschrift Reichsgericht Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben, Festgabe der juristischen Fakultäten zum 50-jährigen Bestehen des Reichsgerichts, Bd. 5, Strafrecht und Strafprozeß (1929) Festschrift Reichsjustizamt Vom Reichsjustizamt zum Bundesministerium der Justiz, Festschrift zum 100-jährigen Gründungstag des Reichsjustizamtes am 1.1.1877 (1977) Festschrift Rengier Festschrift für Rudolf Rengier zum 70. Geburtstag (2018) Festschrift Richterakademie Justiz und Recht: Festschrift aus Anlaß des 10-jährigen Bestehens der Deutschen Richterakademie in Trier (1983) Festschrift Rieß Festschrift für Peter Rieß zum 70. Geburtstag (2002) Festschrift Richter Verstehen und Widerstehen: Festschrift für Christian Richter II zum 65. Geburtstag (2006) Festschrift Rissing-van Saan Festschrift für Ruth Rissing-van Saan zum 65. Geburtstag (2011) Festschrift Rittler Festschrift für Theodor Rittler zu seinem 80. Geburtstag (1957) Festschrift Rolinski Festschrift für Klaus Rolinski zum 70. Geburtstag (2002) Festschrift Rosenfeld Festschrift für Ernst Heinrich Rosenfeld zu seinem 80. Geburtstag (1949) Festschrift Rössner Über allem: Menschlichkeit – Festschrift für Dieter Rössner zum 70. Geburtstag (2015) Festschrift Roxin (2001) Festschrift für Claus Roxin zum 70. Geburtstag (2001) Festschrift Roxin (2011) Strafrecht als Scientia Universalis: Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag (2011) Festschrift Imme Roxin Festschrift für Imme Roxin zum 75. Geburtstag (2012) Festschrift Rudolphi Festschrift für Hans-Joachim Rudolphi zum 70. Geburtstag (2004) Festschrift Salger Straf- und Strafverfahrensrecht, Recht und Verkehr, Recht und Medizin: Festschrift für Hannskarl Salger zum Abschied aus dem Amt als Vizepräsident des Bundesgerichtshofes (1995) Festschrift Samson Recht – Wirtschaft – Strafe: Festschrift für Erich Samson zum 70. Geburtstag (2010) Festschrift Sarstedt Festschrift für Werner Sarstedt zum 70. Geburtstag (1981) Festschrift Sauer Festschrift für Wilhelm Sauer zu seinem 70. Geburtstag (1949) Festschrift G. Schäfer NJW-Sonderheft für Gerhard Schäfer zum 65. Geburtstag (2002) Festschrift K. Schäfer Festschrift für Karl Schäfer zum 80. Geburtstag (1980) Festschrift Schaffstein Festschrift für Friedrich Schaffstein zum 70. Geburtstag (1975) Festschrift Schewe Medizinrecht – Psychopathologie – Rechtsmedizin: diesseits und jenseits der Grenzen von Recht und Medizin, Festschrift für Günter Schewe zum 60. Geburtstag (1991) Festschrift W. Schiller Festschrift für Wolf Schiller zum 65. Geburtstag (2014) Festschrift Schleswig-Holstein Strafverfolgung und Strafverzicht: Festschrift zum 125-jährigen Bestehen der Staatsanwaltschaft Schleswig-Holstein (1992) Festschrift Schlüchter Freiheit und Verantwortung in schwieriger Zeit: kritische Studien aus vorwiegend straf(prozeß)rechtlicher Sicht zum 60. Geburtstag von Ellen Schlüchter (1998) Festschrift N. Schmid Wirtschaft und Strafrecht: Festschrift für Niklaus Schmid zum 65. Geburtstag (2001) Festschrift R. Schmid Recht, Justiz, Kritik: Festschrift für Richard Schmid zum 85. Geburtstag (1985) Festschrift Eb. Schmidt Festschrift für Eberhard Schmidt zum 70. Geburtstag (1961) Festschrift Schmidt-Leichner Festschrift für Erich Schmidt-Leichner zum 65. Geburtstag (1977)

XL

Schrifttum und abgekürzt zitierte Literatur

Festschrift Schmitt Festschrift Schneider Festschrift Schöch Festschrift Schreiber Festschrift Schroeder Festschrift Schüler-Springorum Festschrift Schünemann Festschrift Schwind Festschrift Schwinge Festschrift Seebode Festschrift Sendler Festschrift Spendel Festschrift Spinellis Festschrift Steinhilper Festschrift Stock Festschrift Stöckel Festschrift Stree/Wessels Festschrift Stutte Festschrift Tiedemann Festschrift Trechsel Festschrift Triffterer Festschrift Tröndle Festschrift Tübingen

Festschrift Venzlaff Festschrift Volk Festschrift Vormbaum Festschrift Waseda Festschrift Wassermann Festschrift v. Weber Festschrift Weber Festschrift Welzel Festschrift Widmaier Festschrift Wolf Festschrift Wolff

XLI

Festschrift für Rudolf Schmitt zum 70. Geburtstag (1992) Kriminologie an der Schwelle zum 21. Jahrhundert: Festschrift für Hans Joachim Schneider zum 70. Geburtstag (1998) Festschrift für Heinz Schöch zum 70. Geburtstag (2010) Strafrecht, Biorecht, Rechtsphilosophie: Festschrift für Hans-Ludwig Schreiber zum 70. Geburtstag (2003) Festschrift für Friedrich-Christian Schroeder zum 70. Geburtstag (2006) Festschrift für Horst Schüler-Springorum zum 65. Geburtstag (1993) Streitbare Strafrechtswissenschaft: Festschrift für Bernd Schünemann zum 70. Geburtstag (2014) Kriminalpolitik und ihre wissenschaftlichen Grundlagen: Festschrift für Hans-Dieter Schwind zum 70. Geburtstag (2006) Persönlichkeit in der Demokratie: Festschrift für Erich Schwinge zum 70. Geburtstag (1973) Festschrift für Manfred Seebode zum 70. Geburtstag (2008) Bürger-Richter-Staat: Festschrift für Horst Sendler zum Abschied aus seinem Amt (1991) Festschrift für Günter Spendel zum 70. Geburtstag (1992) Die Strafrechtswissenschaft im 21. Jahrhundert: Festschrift für Dionysios Spinellis, 2 Bde. (2001) Kriminologie und Medizinrecht: Festschrift für Gernot Steinhilper zum 70. Geburtstag (2013) Studien zur Strafrechtswissenschaft: Festschrift für Ulrich Stock zum 70. Geburtstag (1966) Strafrechtspraxis und Reform: Festschrift für Heinz Stöckel zum 70. Geburtstag (2010) Beiträge zur Rechtswissenschaft: Festschrift für Walter Stree und Johannes Wessels zum 70. Geburtstag (1993) Jugendpsychiatrie und Recht: Festschrift für Hermann Stutte zum 70. Geburtstag (1979) Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht: Dogmatik, Rechtsvergleich, Rechtstatsachen; Festschrift für Klaus Tiedemann zum 70. Geburtstag (2008) Strafrecht, Strafprozessrecht und Menschenrechte: Festschrift für Stefan Trechsel zum 65. Geburtstag (2002) Festschrift für Otto Triffterer zum 65. Geburtstag (1996) Festschrift für Herbert Tröndle zum 70. Geburtstag (1989) Tradition und Fortschritt im Recht: Festschrift gewidmet der Tübinger Juristenfakultät zu ihrem 500-jährigen Bestehen 1977 von ihren gegenwärtigen Mitgliedern (1977) Forensische Psychiatrie – Entwicklungen und Perspektiven: Festschrift für Ulrich Venzlaff zum 85. Geburtstag (2006) In dubio pro libertate: Festschrift für Klaus Volk zum 65. Geburtstag (2009) Strafrecht und Juristische Zeitgeschichte – Symposium anlässlich des 70. Geburtstages von Thomas Vormbaum Recht in Ost und West: Festschrift zum 30-jährigen Jubiläum des Instituts für Rechtsvergleichung der Waseda-Universität (1988) Festschrift für Rudolf Wassermann zum 60. Geburtstag (1985) Festschrift für Hellmuth von Weber zum 70. Geburtstag (1963) Festschrift für Ulrich Weber zum 70. Geburtstag (2004) Festschrift für Hans Welzel zum 70. Geburtstag (1974) Strafverteidigung, Revision und die gesamten Strafrechtswissenschaften: Festschrift für Gunter Widmaier zum 70. Geburtstag (2008) Mensch und Recht: Festschrift für Erik Wolf zum 70. Geburtstag (1972) Festschrift für E. A. Wolff zum 70. Geburtstag (1998)

Schrifttum und abgekürzt zitierte Literatur

Festschrift Wolter Festschrift Würtenberger Festschrift Würtenberger II Festschrift Würzburger Juristenfakultät Festschrift Zeidler Festschrift Zoll Festschrift Zweibrücken Fischer Forster/Joachim Frank Freiburg-Symposium Freund AT Frisch, Vorsatz und Risiko Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten Frister Gallas, Beiträge Gedächtnisschrift Delitala Gedächtnisschrift Armin Kaufmann Gedächtnisschrift H. Kaufmann Gedächtnisschrift Keller Gedächtnisschrift Meurer Gedächtnisschrift K. Meyer Gedächtnisschrift Noll Gedächtnisschrift H. Peters Gedächtnisschrift Radbruch Gedächtnisschrift Schlüchter Gedächtnisschrift Schröder Gedächtnisschrift Seebode Gedächtnisschrift Tjong Gedächtnisschrift Vogler Gedächtnisschrift Zipf Gimbernat et al.

Gössel I, II

Gössel/Dölling Gropp AT Gropp Sonderbeteiligungen Grundfragen Haft AT, BT II Haft/Hilgendorf BT I

Festschrift für Jürgen Wolter zum 70. Geburtstag (2013) Kultur, Kriminalität, Strafrecht: Festschrift für Thomas Würtenberger zum 70. Geburtstag (1977) Verfassungsstaatlichkeit im Wandel, Festschrift für Thomas Würtenberger zum 70. Geburtstag (2013) Raum und Recht: Festschrift 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät (2002) Festschrift für Wolfgang Zeidler (1987) Rechtsstaat und Strafrecht: Festschrift für Andrzej Zoll zum 70. Geburtstag (2012) 175 Jahre Pfälzisches Oberlandesgericht: 1815 Appellationshof, Oberlandesgericht 1990 (1990) Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kurzkommentar, 63. Aufl. (2016) Alkohol und Schuldfähigkeit (1997) Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich nebst dem Einführungsgesetz, 18. Aufl. (1931) s. Tiedemann Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. (2008) Vorsatz und Risiko: Grundfragen des tatbestandsmäßigen Verhaltens und des Vorsatzes (1983) Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs (1988) Strafrecht Allgemeiner Teil, 8. Aufl. (2018) Beiträge zur Verbrechenslehre (1968) Gedächtnisschrift für (Studi in memoria di) Giacomo Delitala, 3 Bde. (1984) Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann (1989) Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann (1986) Gedächtnisschrift für Rolf Keller (2003) Gedächtnisschrift für Dieter Meurer (2002) Gedächtnisschrift für Karlheinz Meyer (1990) Gedächtnisschrift für Peter Noll (1984) Gedächtnisschrift für Hans Peters (1967) Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch (1968) Gedächtnisschrift für Ellen Schlüchter (2002) Gedächtnisschrift für Horst Schröder (1978) Im Zweifel für die Freiheit: Gedächtnisschrift für Manfred Seebode (2015) Gedächtnisschrift für Zong Uk Tjong (1985) Gedächtnisschrift für Theo Vogler (2004) Gedächtnisschrift für Heinz Zipf (1999) Internationale Dogmatik der objektiven Zurechnung und der Unterlassungsdelikte: Spanisch-Deutsches Symposium zu Ehren von Claus Roxin, hrsg. v. Gimbernat et al. (1995) Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1: Delikte gegen immaterielle Rechtsgüter des Individuums, 2. Aufl. (1999); Bd. 2: Straftaten gegen materielle Rechtsgüter des Individuums (1996) Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1: Straftaten gegen Persönlichkeits- und Gemeinschaftswerte, 2. Aufl. (2004) Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Auflage (2015) Deliktstypen mit Sonderbeteiligung (1992) Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, hrsg. v. Schünemann (1984) Strafrecht, Allgemeiner Teil, 9. Aufl. (2004); Besonderer Teil II, 8. Aufl. (2005) Strafrecht, Besonderer Teil I, 9. Aufl. (2009)

XLII

Schrifttum und abgekürzt zitierte Literatur

Hanack-Symposium Hefendehl

Hefendehl Kollektive Rechtsgüter Heghmanns BT Heinrich vHH v. Heintschel-Heinegg v. Hippel I, II HK-GS Hohmann/Sander Hruschka Jäger BT Jakobs AT Jescheck, Beiträge I, II

Jescheck/Weigend Joecks/Jäger Kienapfel AT Kienapfel/Höpfel/Kert Kienapfel, Urkunden Kindhäuser AT, BT I, II

Kindhäuser/Böse Kindhäuser LPK Kindhäuser, Gefährdung Kindhäuser/Neumann/ Paeffgen Klesczewski AT, BT I/II/III

Klesczewski BT Köhler AT Kohlrausch/Lange Krey/Esser Krey/Hellmann/ Heinrich BT 1, 2 Kühl AT Küper/Zopfs BT Küpper/Börner Lackner/Kühl Leipold/Tsambikakis/Zöller v. Liszt, Aufsätze v. Liszt/Schmidt AT, BT

XLIII

s. Ebert Empirische Erkenntnisse, dogmatische Fundamente und kriminalpolitischer Impetus. Symposium für Bernd Schünemann zum 60. Geburtstag, hrsg. v. Hefendehl (2005) Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht (2002) Strafrecht für alle Semester, Besonderer Teil (2009) Strafrecht AT, 6. Aufl. (2019) Strafgesetzbuch, Kommentar, hrsg. v. von Heintschel-Heinegg, 3. Aufl. (2018) s. vHH Deutsches Strafrecht, Bd. 1 (1925), Bd. 2 (1930) Dölling/Duttge/König/Rössner, Gesamtes Strafrecht, Handkommentar, 4. Aufl. (2017) Strafrecht Besonderer Teil. BT I: Vermögensdelikte, 3. Aufl. (2011); BT II: Delikte gegen die Person und gegen die Allgemeinheit, 2. Aufl. (2011) Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, 2. Aufl. (1988) Examens-Repetitorium Strafrecht Besonderer Teil, 9. Aufl. (2019) Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. (1993) Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft: ausgewählte Beiträge zur Strafrechtsreform, zur Strafrechtsvergleichung, zum internationalen Strafrecht, 1953–1979 (1980) (I); Beiträge zum Strafrecht 1980–1998 (1998) (II), jew. hrsg. v. Vogler Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. (1996) Strafgesetzbuch, Studienkommentar, 12. Aufl. (2018) (vormals Joecks) Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Aufl. (1984) Strafrecht, Allgemeiner Teil, 15. Aufl. (2016) Urkunden und andere Gewährschaftsträger im Strafrecht (1967) Strafrecht, Allgemeiner Teil, 8. Aufl. (2017); Besonderer Teil I: Straftaten gegen Persönlichkeitsrechte, Staat und Gesellschaft, 8. Aufl. (2017); Besonderer Teil II: Straftaten gegen Vermögensrechte, 9. Aufl. (2016) Besonderer Teil II: Straftaten gegen Vermögensrechte, 10. Aufl. (2019) Strafgesetzbuch, Lehr- und Praxiskommentar, 7. Aufl. (2017) Gefährdung als Straftat (1989) s. NK Strafrecht, Allgemeiner Teil (2017); Besonderer Teil I: Straftaten gegen die Person (2010); Besonderer Teil II: Vermögensdelikte (2011); Besonderer Teil III: Straftaten gegen Kollektivrechtsgüter (2012) Strafrecht Besonderer Teil – Lehrbuch zum Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland (2016) Deutsches Strafrecht, Allgemeiner Teil (1997) Strafgesetzbuch mit Erläuterungen und Nebengesetzen, 43. Aufl. (1961) Deutsches Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl. (2016) Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1: Besonderer Teil ohne Vermögensdelikte, 16. Aufl. (2015); Bd. 2: Vermögensdelikte, 17. Aufl. (2015) Strafrecht, Allgemeiner Teil, 8. Aufl. (2017) Strafrecht, Besonderer Teil, 10. Aufl. (2018) Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1: Delikte gegen Rechtsgüter der Person und Gemeinschaft, 4. Aufl. (2017) (vormals Küpper BT) Strafgesetzbuch mit Erläuterungen, 29. Aufl. (2018) s. AnwK Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, 2 Bde. (1925) Lehrbuch des deutschen Strafrechts, Allgemeiner Teil, 26. Aufl. (1932); Besonderer Teil, 25. Aufl. (1925)

Schrifttum und abgekürzt zitierte Literatur

LK

Lutz Madrid-Symposium Manoledakis/Prittwitz Matheus Matt/Renzikowski Maurach AT, BT Maurach/Zipf/Jäger Maurach/Gössel/Zipf Maurach/Schroeder/ Maiwald I, II Maurach/Schroeder/ Maiwald/Hoyer/Momsen H. Mayer AT H. Mayer, Strafrecht H. Mayer, Studienbuch Mezger, Strafrecht Mitsch BT MK Naucke Niederschriften I–XIV Niethammer Niggli/Queloz NK Oehler v. Olshausen

Otto AT, BT Pfeiffer/Maul/Schulte Preisendanz Puppe Rengier AT, BT 1, 2

Riklin-Hurtado-Symposium Rostock-Symposium Roxin AT I, II

Roxin TuT

Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 12. Aufl. hrsg. v. Laufhütte/ Rissing-van Saan/Tiedemann (2006 ff); 13. Aufl. hrsg. v. Cirener/Radtke/ Rissing-van Saan/Rönnau/Schluckebier/Wessels (2019 ff) Strafrecht AT, 14. Aufl. (2019) s. Schünemann/Suárez Strafrechtsprobleme an der Jahrtausendwende: Deutsch-Griechisches Symposium in Rostock 1999, hrsg. v. Manoledakis/Prittwitz (2000) Strafrecht BT 2, 11 Aufl. (2019) Strafgesetzbuch, Kommentar (2013) Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Aufl. (1971); Besonderer Teil, 5. Aufl. (1969) mit Nachträgen von 1970/71 Strafrecht, Allgemeiner Teil, Teilbd. 1: Grundlehren des Strafrechts und Aufbau der Straftat, 9. Aufl. (2020) Strafrecht, Allgemeiner Teil, Teilbd. 2: Erscheinungsformen des Verbrechens und Rechtsfolgen der Tat, 8. Aufl. (2014) Strafrecht, Besonderer Teil, Teilbd. 1: Straftaten gegen Persönlichkeitsund Vermögenswerte, 10. Aufl. (2009); Teilbd. 2: Straftaten gegen Gemeinschaftswerte, 10. Aufl. (2013) Strafrecht, Besonderer Teil, Teilbd. 1: Straftaten gegen Persönlichkeitsund Vermögenswerte, 11. Aufl. (2019) Strafrecht, Allgemeiner Teil (1953) Das Strafrecht des deutschen Volkes (1936) Strafrecht, Allgemeiner Teil, Studienbuch (1967) Strafrecht, Lehrbuch, 3. Aufl. (1949) (ergänzt durch: Moderne Wege der Strafrechtsdogmatik [1950]) Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2: Vermögensdelikte 3. Aufl. (2015) Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, hrsg. von Joecks/Miebach, 3. Aufl. (2017) Strafrecht, Eine Einführung, 11. Aufl. (2008) Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 14 Bde. (1956 –1960) Lehrbuch des Besonderen Teils des Strafrechts (1950) Strafjustiz und Rechtsstaat: Symposium zum 60. Geburtstag von Franz Riklin und José Hurtado Pozo, hrsg. v. Niggli/Queloz (2003) Nomos-Kommentar zum Strafgesetzbuch, hrsg. von Kindhäuser/Neumann/ Paeffgen, 5. Aufl. (2017) Internationales Strafrecht, 2. Aufl. (1983) Kommentar zum Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 12. Aufl. (§§ 1–246) bearb. von Freiesleben u.a. (1942 ff); sonst 11. Aufl. bearb. von Lorenz u.a. (1927) Grundkurs Strafrecht: Allgemeine Strafrechtslehre/Die einzelnen Delikte, jeweils 7. Aufl. (2005) Strafgesetzbuch, Kommentar an Hand der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (1969) Strafgesetzbuch, Lehrkommentar, 30. Aufl. (1978) Strafrecht Allgemeiner Teil, 4. Aufl. (2019) Strafrecht, Allgemeiner Teil, 10. Aufl. (2018); Besonderer Teil, Bd. 1: Vermögensdelikte, 21. Aufl. (2019); Bd. 2: Delikte gegen die Person und die Allgemeinheit, 20. Aufl. (2019) s. Niggli/Queloz s. Manoledakis/Prittwitz Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1: Grundlagen – Der Aufbau der Verbrechenslehre, 4. Aufl. (2006); Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 2: Besondere Erscheinungsformen der Straftat (2003) Täterschaft und Tatherrschaft, 10. Aufl. (2019)

XLIV

Schrifttum und abgekürzt zitierte Literatur

Roxin/Stree/Zipf/Jung Roxin-Symposium Sack Safferling Satzger/Schluckebier/ Widmaier Sauer AT, BT Schäfer/v. Dohnanyi Schmidt AT, BT I, II Schmidt-Salzer Schmidhäuser Schmidhäuser AT, BT, StuB Schöch Schönke/Schröder Schramm Schroth BT Schünemann Schünemann/ de Figueiredo Dias Schünemann/Suárez Sieber Sieber/Cornils SK sLSK Sonnen SSW Stratenwerth/Kuhlen AT Tendenzen der Kriminalpolitik Tiedemann

Tiedemann, Anfängerübung Tiedemann, Tatbestandsfunktionen Tiedemann-Symposium Walter v. Weber Welzel, Strafrecht Welzel, Strafrechtssystem Wessels/Beulke/Satzger Wessels/Hettinger/Engländer Wessels/Hillenkamp/Schuhr

XLV

Einführung in das neue Strafrecht, 2. Aufl. (1975) s. Gimbernat Umweltschutz-Strafrecht, Erläuterung der Straf- und Bußgeldvorschriften, Loseblattsammlung, 43. Aufl. (2018) Internationales Strafrecht (2011) s. SSW Allgemeine Strafrechtslehre, 3. Aufl. (1955); System des Strafrechts, Besonderer Teil (1954) Die Strafgesetzgebung der Jahre 1931 bis 1935 (1936) (Nachtrag zur 18. Aufl. von Frank: das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich [1931]) Strafrecht, Allgemeiner Teil, 20. Aufl. (2018); Besonderer Teil I und II jeweils 20. Aufl. (2018) Produkthaftung, Bd. 1: Strafrecht, 2. Aufl. (1988) Einführung in das Strafrecht, 2. Aufl. (1984) Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. (1975); Besonderer Teil, 2. Aufl. (1983); Studienbuch: Allgemeiner Teil, 2. Aufl. (1984) Wiedergutmachung und Strafrecht: Symposium aus Anlaß des 80. Geburtstages von Friedrich Schaffstein, hrsg. v. Schöch (1987) Strafgesetzbuch, Kommentar, 30. Aufl. (2019) Internationales Strafrecht (2011) Strafrecht, Besonderer Teil, 5. Aufl. (2010) Leipziger Praxiskommentar Untreue – § 266 StGB (2017) Bausteine des Europäischen Strafrechts: Coimbra-Symposium für Claus Roxin, hrsg. v. Schünemann/de Figueiredo Dias (1995) Bausteine des europäischen Wirtschaftsstrafrechts: Madrid-Symposium für Klaus Tiedemann, hrsg. v. Schünemann/Suárez (1994) Verantwortlichkeit im Internet (1999) Nationales Strafrecht in rechtsvergleichender Darstellung, hrsg. von Sieber/ Cornils (2008 ff) Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 9. Aufl. (2017) Systematischer Leitsatzkommentar zum Sanktionenrecht, hrsg. v. Horn, Loseblattsammlung (1983 ff) Strafrecht Besonderer Teil (2005) Strafgesetzbuch, Kommentar, hrsg. v. Satzger/Schluckebier/Widmaier, 4. Aufl. (2019) Strafrecht, Allgemeiner Teil – Die Straftat, 6. Aufl. (2011) Neuere Tendenzen der Kriminalpolitik, Beiträge zu einem deutschskandinavischen Strafrechtskolloquium, hrsg. v. Cornils/Eser (1987) Wirtschaftsstrafrecht in der Europäischen Union, Rechtsdogmatik – Rechtsvergleich – Rechtspolitik (Freiburg-Syposium), hrsg. v. Tiedemann (2002) Die Anfängerübung im Strafrecht, 4. Aufl. (1999) Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht (1969) s. Schünemann/Suárez Der Kern des Strafrechts (2006) Grundriß des deutschen Strafrechts, 2. Aufl. (1948) Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. (1969) Das neue Bild des Strafrechtssystems, 4. Aufl. (1961) Strafrecht, Allgemeiner Teil, 48. Aufl. (2018) Strafrecht, Besonderer Teil 1: Straftaten gegen Persönlichkeits- und Gemeinschaftswerte, 42. Aufl. (2018) Strafrecht, Besonderer Teil 2: Straftaten gegen Vermögenswerte, 419. Aufl. (2018)

Schrifttum und abgekürzt zitierte Literatur

WK Wohlers Deliktstypen Wolters Zieschang AT Zieschang, Gefährdungsdelikte

Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch – StGB; hrsg. v. Höpfl/Ratz, Loseblattsammlung, 2. Aufl. (2018) Deliktstypen des Präventionsrechts – Zur Dogmatik „moderner“ Gefährdungsdelikte (2000) Das Unternehmensdelikt (2001) Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. (2017) Die Gefährdungsdelikte (1998)

2. Betäubungsmittelstrafrecht Franke/Wienroeder Joachimski/Haumer Körner/Patzak/Volkmer Webel Weber

Betäubungsmittelgesetz, Kommentar, 5. Aufl. (2017) Betäubungsmittelgesetz (mit ergänzenden Bestimmungen), Kommentar, 7. Aufl. (2002) Betäubungsmittelgesetz, Kurzkommentar, 9. Aufl. (2019) Betäubungsmittelstrafrecht (2003) Betäubungsmittelgesetz, Kommentar, 4. Aufl. (2013); 5. Aufl. (2017)

3. Bürgerliches Recht einschließlich Versicherungsrecht Bruck/Möller Erman Jauernig Larenz/Wolf MK-BGB

MK-VVG Palandt

Prütting/Wegen/Weinreich RGRK

HK-BGB

Soergel Staudinger Wolf/Neuner

Großkommentar zum Versicherungsvertragsgesetz, 9. Aufl. (2008 ff) Handkommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 15. Aufl. (2017) Bürgerliches Gesetzbuch: BGB, 17. Aufl. (2018) s. Wolf/Neuner Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 6. Auflage (ab 2011), hrsg. v. Säcker/Rixecker/Oetker; 7. Aufl. (ab 2015), hrsg. von Säcker/Rixecker/Oetker/Limperg; 8. Aufl. (ab 2018) , hrsg. von Säcker/ Rixecker/Oetker/Limperg Münchener Kommentar zum Versicherungsvertragsgesetz, hrsg. v. Langheid/Wandt (2009); 2. Aufl. (2016) Bürgerliches Gesetzbuch mit Einführungsgesetz (Auszug), Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, Verbraucherkreditgesetz, Gesetz über den Widerruf von Haustürgeschäften und ähnlichen Geschäften, Kurzkommentar, 78. Aufl. (2019) BGB Kommentar, 14. Aufl. (2019) Das Bürgerliche Gesetzbuch, Kommentar, mit besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofes (Reichsgerichtsrätekommentar), hrsg. v. Mitgliedern des Bundesgerichtshofes, 12. Aufl. (1975–1999) Schulze/Dörner/Ebert/Hoeren/Kemper/Saenger/Scheuch/Schreiber/ Schulte-Nölke/Staudinger/Wiese, Bürgerliches Gesetzbuch, Handkommentar, 10. Aufl. (2019) Bürgerliches Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen, 13. Aufl. (1999 ff) J. von Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen, 13. Aufl. Bearbeitungen (2018) Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 10. Aufl. (2012); 11. Aufl. (2016)

4. DDR-Strafrecht StGB-Komm.-DDR StGB-Lehrb.-DDR AT, BT

Strafrecht der Deutschen Demokratischen Republik, Kommentar, 5. Aufl. (1987) Strafrecht der DDR, Lehrbuch: Allgemeiner Teil, 2. Aufl. (1976); Besonderer Teil (1981)

XLVI

Schrifttum und abgekürzt zitierte Literatur

StGB-Lehrb.-DDR 1988 StPO-Komm.-DDR StPO-Lehrb.-DDR

Strafrecht der DDR, Lehrbuch, Allgemeiner Teil (1988) Strafprozeßrecht der Deutschen Demokratischen Republik, Kommentar, 3. Aufl. (1989) Strafverfahrensrecht, Lehrbuch, 3. Aufl. (1987)

5. Europäisches Recht Bleckmann Geiger/Khan/Kotzur GKK GKN Grabitz/Hilf/Nettesheim Hailbronner/Klein/ Magiera/Müller-Graff HKMM

Europarecht, 6. Aufl. (1997) s. GKK EUV/AEUV, Kommentar, hrsg. v. Geiger/Khan/Kotzur, 6. Aufl. (2017) Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Loseblattsammlung, hrsg. v. Grabitz/Hilf/Nettesheim, 66. Aufl. (2019) s. GKN

s. HKMM Handkommentar zum Vertrag über die Europäische Union (EUV/EGV), hrsg. v. Hailbronner/Klein/Magiera/Müller-Graff, Loseblattsammlung (1991 ff) HdEuropR Handbuch des Europäischen Rechts, Loseblattsammlung, hrsg. v. Bieber/ Ehlermann (1982 ff) Hecker Europäisches Strafrecht, 5. Aufl. (2015) Hobe Europarecht, 9. Aufl. (2017) IM EG Wettbewerbsrecht: Band 1. EU, 2 Teilbände., hrsg. v. Immenga/ Mestmäcker, 6. Aufl. (2019) Immenga/Mestmäcker EG s. IM EG Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht, 8. Aufl. (2018) Schwarze/Becker/Hatje/Schoo EU-Kommentar, hrsg. v. Schwarze/Becker/Hatje/Schoo, 4. Aufl. (2019) (vormals Schwarze) Schweitzer/Hummer Europarecht, 6. Aufl. (2008) Sieber/Satzger/ v.Heintschel-Heinegg s. SSvHH SSvHH Europäisches Strafrecht, hrsg. v. Sieber/Satzger/v.Heintschel-Heinegg, 2. Aufl. (2014) Streinz Europarecht, 10. Aufl. (2016) 6. Handelsrecht einschließlich Bilanz- und Gesellschaftsrecht Baumbach/Hopt Ebenroth/Boujong/ Joost/Strohn Großfeld/Luttermann Hachenburg Heymann GK-AktG Hüffer/Koch MK HGB Schmidt/Lutter Scholz Staub Ulmer/Habersack/Löbbe UHL

XLVII

Handelsgesetzbuch: HGB mit GmbH & Co., Handelsklauseln, Bank- und Börsenrecht, Transportrecht, 38. Aufl. (2018) Handelsgesetzbuch, 4. Aufl. (2019/20) Bilanzrecht, 5. Auf. (2009) GmbHG, Kommentar, 8. Aufl. (1993 bis 1997) HGB, Kommentar, 3. Aufl. (2019/20) Großkommentar zum Aktiengesetz, 4. Aufl. hrsg. v. Hopt/Wiedemann (1992 ff); 5. Aufl. hrsg. v. Hirte/Mülbert/Roth (2015 ff) Aktiengesetz: AktG, Kommentar, 13. Aufl. (2018) (vormals Hüffer) Münchener Kommentar zum Handelsgesetzbuch, hrsg. v. K. Schmidt, 3. Aufl. (2010 ff); 4. Aufl. (2016 ff) AktG Kommentar in 2 Bänden, 3. Aufl. (2015) Kommentar zum GmbH-Gesetz in 3 Bänden, 11. Aufl. (2012 ff) und 12. Aufl. (2018 ff) Großkommentar zum HGB, 5. Aufl. (2008 ff) s. UHL GmbHG Großkommentar in 2 Bänden, 2. Aufl. hrsg. v. Ulmer/Habersack/ Löbbe (2016)

Schrifttum und abgekürzt zitierte Literatur

7. Jugendstrafrecht AK JGG Brunner Brunner/Dölling Böhm/Feuerhelm Diemer/Schatz/Sonnen Eisenberg JGG Laubenthal/Baier/Nestler Ostendorf JGG Schaffstein/Beulke/Swoboda Streng Walter/Neubacher

Kommentar zum Jugendgerichtsgesetz – Reihe Alternativkommentare, hrsg. v. Wassermann (1987) Jugendgerichtsgesetz, Kommentar, 9. Aufl. (1991) Jugendgerichtsgesetz, Kommentar, 13. Aufl. (2017) Einführung in das Jugendstrafrecht, 4. Aufl. (2004) Jugendgerichtsgesetz mit Jugendstrafvollzugsgesetzen, Kommentar, 7. Aufl. (2015) Jugendgerichtsgesetz, Kommentar, 20. Aufl. (2018) Jugendstrafrecht, 3. Aufl. (2015) Jugendgerichtsgesetz, Kommentar, 10. Aufl. (2016) Jugendstrafrecht, 15. Aufl. (2015) Jugendstrafrecht, 4. Aufl. (2016) Jugendkriminalität: eine systematische Darstellung, 4. Aufl. (2011)

8. Kriminologie Albrecht Dittmann/Jehle Eisenberg, Kriminologie Göppinger Göppinger/Bock HwbKrim

IntHdbKrim Kaiser/Schöch/Kinzig Kaiser, Einführung Meier Mezger, Kriminologie Schneider Schwind

Kriminologie, 4. Aufl. (2010) Kriminologie zwischen Grundlagenwissenschaften und Praxis, hrsg. v. Dittmann/Jehle (2003) Kriminologie, 7. Aufl. (2017) Kriminologie, 4. Aufl. (1980) Kriminologie, 6. Aufl. hrsg. v. Göppinger/Bock/Kröber et.al. (2008) Handwörterbuch der Kriminologie, hrsg. v. Sieverts/Schneider, Bd. 1–3, Ergänzungsband (4. Bd.), Nachtrags- und Registerband (5. Bd.), 2. Aufl. (1966 –1998) Internationales Handbuch der Kriminologie, hrsg. v. H.-J. Schneider, Bd. 1 (2007); Bd. 2 (2009) Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzug, 8. Aufl. hrsg. v. Schöch/ Kinzig (2015) Kriminologie: eine Einführung in die Grundlagen, 10. Aufl. (1997) Kriminologie, 5. Aufl. (2016) Kriminologie, Studienbuch (1951) Kriminologie, Lehrbuch, 3. Aufl. (1992) Kriminologie und Kriminalpolitik, 23. Aufl. (2016)

9. Ordnungswidrigkeitenrecht Bohnert/Krenberger/Krumm Bohnert/Bülte Göhler HK-OWiG KK-OWiG Krenberger/Krumm Mitsch, OWiG Rebmann/Roth/Hermann

s. Krenberger/Krumm Ordnungswidrigkeitenrecht, Grundriss für Praxis und Ausbildung, 5. Aufl. (2016) (vormals Bohnert) Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, Kurzkommentar, 17. Aufl. (2017) Heidelberger Kommentar zum Ordnungswidrigkeitengesetz, hrsg. v. Lemke u.a., 2. Aufl. (2005) Karlsruher Kommentar zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, hrsg. v. Senge, 5. Aufl. (2018) OWiG Ordnungswidrigkeitengesetz, Kommentar, 5. Aufl. (2018) (vormals Bohnert/Krenberger/Krumm) Recht der Ordnungswidrigkeiten, 2. Aufl. (2005) Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, Kommentar, Loseblattsammlung (2002 ff)

XLVIII

Schrifttum und abgekürzt zitierte Literatur

10. Presserecht Groß Löffler Löffler HdB Ricker/Weberling Soehring/Hoene

Presserecht, 3. Aufl. (1999) Presserecht, Kommentar, 6. Aufl. (2015) s. Ricker/Weberling Handbuch des Presserechts, begr. v. Löffler, hrsg. v. Ricker/Weberling, 6. Aufl. (2012) Presserecht, 6. Aufl. (2019) (vormals Soehring)

11. Rechtshilfe Grützner/Pötz/Kreß/ Gazeas (Hrsg.) Hackner/Lagodny/ Schomburg/Wolf Schomburg/Lagodny/ Gleß/Hackner Vogler/Wilkitzki

Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, Loseblattsammlung, 47. Aktualisierung, 2019 Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2003) Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Aufl. (2019) Gesetz über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG), Kommentar, Loseblattsammlung (1992 ff) als Sonderausgabe aus Grützner/Pötz, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 2. Aufl. (1980 ff)

12. Rechtsmedizin und Medizinstrafrecht Foerster/Dreßing Forster Forster/Ropohl Frister/Lindemann/Peters HfPsych I, II

Laufs Laufs/Katzenmeier/Lipp Laufs/Kern Rieger Roxin/Schroth Spickhoff Ulsenheimer Wenzel

Psychiatrische Begutachtung, hrsg. v. Venzlaff/Foerster/Dreßing/ Habermeyer, 6. Aufl. (2015) Praxis der Rechtsmedizin (1986) Rechtsmedizin, 5. Aufl. (1989) Arztstrafrecht (2011) Handbuch der forensischen Psychiatrie, hrsg. v. Kröber/Dölling/Leygraf/ Saß, Bd. 1: Strafrechtliche Grundlagen der Gutachtenerstellung im Strafverfahren (2007); Bd. 2: Psychopathologische Grundlagen und Praxis der forensischen Psychiatrie im Strafrecht (2011); Bd. 3: Psychiatrische Kriminalprognose und Kriminaltherapie (2006); Bd. 4: Kriminologie und forensische Psychiatrie (2009); Bd. 5: Forensische Psychiatrie im Privatrecht und Öffentlichen Recht (2009) Fortpflanzungsmedizin und Arztrecht (1992) Arztrecht, hrsg. v. Katzenmeier/Lipp, 7. Aufl. (2015) Handbuch des Arztrechts, hrsg. v. Laufs/Kern, 5. Aufl. (2019) Lexikon des Arztrechts, hrsg. v. Rieger/Dahm/Steinhilper Loseblattsammlung (2004) Handbuch des Medizinstrafrechts, hrsg. v. Roxin/Schroth, 4. Aufl. (2010) Medizinrecht, hrsg. v. Spickhoff, 3. Aufl. (2018) Arztstrafrecht in der Praxis, 5. Aufl. (2015) Medizinrecht, hrsg. v. Wenzel, 4. Aufl. (2019)

13. Strafprozess- und Strafvollzugsrecht AK-StPO

AK-StVollzG Arloth/Krä BeckOK-StPO Beulke/Swoboda

XLIX

Kommentar zur Strafprozeßordnung – Reihe Alternativkommentare, hrsg. v. Wassermann, Bd. 1 (1988), Bd. 2 Teilbd. 1 (1992), Bd. 2 Teilbd. 2 (1993), Bd. 3 (1996) Kommentar zum Strafvollzugsgesetz – Reihe Alternativkommentare, hrsg. v. Wassermann, 3. Aufl. (1990) Strafvollzugsgesetze, Kommentar, 4. Aufl. (2017) Beck’scher Online-Kommentar StPO, hrsg. v. Graf, 33. Edition (2019) Strafprozessrecht, 14. Aufl. (2018) (vormals Beulke)

Schrifttum und abgekürzt zitierte Literatur

Bringewat Calliess/Müller-Dietz Eisenberg Hamm HK-StPO Isak/Wagner Joecks-StPO Kamann Kammeier/Pollähne Kissel/Mayer KK Kleinknecht/Meyer-Goßner KMR

Kramer Kühne Laubenthal/Nestler/ Neubacher/Verrel LNNV

LR

Marschner/Lesting/ Stahmann Meyer-Goßner/Schmitt Müller Peters Pfeiffer Pohlmann/Jabel/Wolf Putzke/Scheinfeld Röttle/Wagner Roxin/Schünemann Roxin/Arzt/Tiedemann Saage/Göppinger Sarstedt/Hamm Satzger/Schluckebier/ Widmaier Schäfer, Strafverfahren Schäfer/Sander/ van Gemmeren Schätzler Eb. Schmidt, Lehrkommentar I–III

Strafvollstreckungsrecht: Kommentar zu den §§ 449– 463d StPO (1993) s. Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel Beweisrecht der StPO, Spezialkommentar, 10. Aufl. (2017) Die Revision in Strafsachen, 7. Aufl. (2010) Heidelberger Kommentar zur Strafprozessordnung, hrsg. v. Gercke u.a., 6. Aufl. (2019) s. Röttle/Wagner Studienkommentar StPO, hrsg. v. Joecks/Jäger 5. Aufl. (2019) Handbuch für die Strafvollstreckung und den Strafvollzug, 2. Aufl. (2008) Maßregelvollzugsrecht, Kommentar, 4. Aufl. (2018) Gerichtsverfassungsgesetz, 9. Aufl. (2018) Karlsruher Kommentar, Strafprozessordnung - GVG, EGGVG, EMRK, hrsg. v. Hannich, 8. Aufl. (2019) s. Meyer-Goßner/Schmitt Kleinknecht/Müller/Reitberger (Begr.), Kommentar zur Strafprozeßordnung, Loseblattsammlung, 8. Aufl. (1990 ff), ab 14. Lfg. hrsg. von v. Heintschel-Heinegg/Stöckel Grundlagen des Strafverfahrensrechts: Ermittlung und Verfahren, 8. Aufl. (2014) Strafprozessrecht (ehem. Strafprozeßlehre) 9. Aufl. (2015) s. LNNV Strafvollzugsgesetz, Kurzkommentar, hrsg. v. Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel begr. und bis zur 11. Aufl. fortgeführt von Callies/MüllerDietz, 12. Aufl. (2015) Löwe-Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz mit Nebengesetzen, Großkommentar, 26. Aufl. (2006 ff), 27. Aufl. (2016 ff) Freiheitsentziehung und Unterbringung, 6. Aufl. (2019) (vormals Marschner/Volckart/Lesting; Saage/Göppinger) Strafprozessordnung mit GVG und Nebengesetzen, Kurzkommentar, 62. Aufl. (2019) (vormals Kleinknecht/Meyer-Goßner) Beiträge zum Strafprozessrecht (2003) Strafprozeß, Ein Lehrbuch, 4. Aufl. (1985) Strafprozeßordnung und Gerichtsverfassungsgesetz, 6. Aufl. (2008) Strafvollstreckungsordnung, Kommentar, 9. Aufl. (2015) Strafprozessrecht, 7. Aufl. (2017) Strafvollstreckung, 8. Aufl. (2009) (vormals Wetterich/Hamann; Isak/Wagner) Strafverfahrensrecht, 29. Aufl. (2017) Strafrecht und Strafprozessrecht, 6. Auflage (2014) s. Marschner/Volckart s. Hamm s. SSW-StPO Die Praxis des Strafverfahrens, 6. Aufl. (2000), 7. Aufl. (2018) Die Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl. (2017) Handbuch des Gnadenrechts, 2. Aufl. (1992) Strafprozeßordnung, Lehrkommentar, Bd. 1: Die rechtstheoretischen und die rechtspolitischen Grundlagen des Strafverfahrensrechts, 2. Aufl. (1964); Bd. 2: Erläuterungen zur Strafprozeßordnung und zum Einführungsgesetz zur Strafprozeßordnung (1957) (mit Nachtragsband 1 [1967] und 2 [1970]); Bd. 3: Erläuterungen zum Gerichtsverfassungsgesetz und zum Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz (1960)

L

Schrifttum und abgekürzt zitierte Literatur

Schwind/Böhm/ Jehle/Laubenthal SK-StPO SSW-StPO Ulrich Volckart/Grünebaum Volk/Engländer Walter, Strafvollzug

Strafvollzugsgesetz, Kommentar, 7. Auflage (2019) Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung mit GVG und EMRK, hrsg. v. Wolter, Loseblattsammlung (1986 ff, 5. Aufl. 2016 ff) Strafprozessordnung, Kommentar, hrsg. v. Satzger/Schluckebier/Widmaier, 3. Aufl. (2018) Der gerichtliche Sachverständige, 13. Aufl. (2017), ehem. Jessnitzer/Ulrich Maßregelvollzug, 8. Aufl. (2015) Grundkurs StPO, 9. Aufl. (2018) Strafvollzug, 2. Aufl. (1999)

14. Straßenverkehrsrecht Bär/Hauser/Lehmpuhl Beck/Berr/Schäpe Berz/Burmann

Unfallflucht, Kommentar, Loseblattsammlung (1978 ff) OWi – Sachen im Straßenverkehrsrecht, 7. Aufl. (2017) (vormals Beck/Berr) Handbuch des Straßenverkehrsrechts, hrsg. von Burmann/Heß, Loseblattsammlung, 39. Erg.-Lfg. (2019) Burmann/Heß u.a. Straßenverkehrsrecht, Kommentar, 25. Aufl. (2018), hrsg. v. Burmann/Heß/ Hühnermann/Jahnke (vormals Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/ Janker; Jagow/Burmann/Heß) Cramer Straßenverkehrsrecht, Bd. 1: StVO, StGB, 2. Aufl. (1977) Full/Möhl/Rüth Straßenverkehrsrecht: Kommentar (1980) mit Nachtrag (1980/81) Haus/Krumm/Quarch Gesamtes Verkehrsrecht, hrsg. von Haus/Krumm/Quarch , 2. Aufl. (2017) Hentschel Trunkenheit, Fahrerlaubnisentziehung, Fahrverbot im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht, 10. Aufl. (2006) Hentschel/Born Trunkenheit im Straßenverkehr, 7. Aufl. (1996) Hentschel/Krumm Fahrerlaubnis – Alkohol – Drogen im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht, 7. Aufl. (2018) Himmelreich/Hentschel Fahrverbot, Führerscheinentzug; Bd. 1: Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht, 8. Aufl. (1995) Himmelreich/Staub/ Verkehrsunfallflucht: Verteidigerstrategien im Rahmen des § 142 StGB, Krumm/Nissen 7. Aufl. (2019) (vormals Himmelreich/Bücken/Krumm) HKD Straßenverkehrsrecht, hrsg. v. Hentschel/König/Dauer, 45. Aufl. (2019) (vormals Jagusch/Hentschel) HK-StVR Heidelberger Kommentar zum Straßenverkehrsrecht, hrsg. v. Griesbaum u.a. (1993) Hentschel/König/Dauer s. HKD Janker Straßenverkehrsdelikte: Ansatzpunkte für die Verteidigung (2002) Jagow/Burmann/Heß s. JBH Jagusch/Hentschel s. HKD Janiszewski Verkehrsstrafrecht, 5. Aufl. (2004) Janiszewski/Jagow/Burmann s. JBH JBH Straßenverkehrsrecht, Kommentar, hrsg. v. Jagow/Burmann/Heß (vormals Janiszewski/Jagow/Burmann); 20. Aufl. (2008) MK-StVR Münchener Kommentar zum Straßenverkehrsrecht, hrsg. von Bender/ König (2016 ff) Müller I–III Straßenverkehrsrecht, Großkommentar, 22. Aufl., Bd. 1 (1969) mit Nachtrag 1969, Bd. 2 (1969), Bd. 3 (1973) Rüth/Berr/Berz Straßenverkehrsrecht, Kommentar, 2. Aufl. (1988) 15. Verfassungsrecht und Verwaltungsrecht AK-GG Battis

LI

Alternativkommentar Grundgesetz, hrsg. v. Wassermann, 3. Aufl. (2001) Bundesbeamtengesetz, Kommentar, 5. Aufl. (2017)

Schrifttum und abgekürzt zitierte Literatur

BK

Kommentar zum Bonner Grundgesetz (Bonner Kommentar), Loseblattsammlung, hrsg. v. Kahl/Waldhoff/Walter 198. Lfg. (2019)

Clemens/Scheuring/ Steingen/Wiese Dreier I–III Friauf Fuhr/Stahlhacke HdStR I–XIII

Jarass/Pieroth Kopp/Ramsauer Landmann/Rohmer I, II

v. Mangoldt/Klein/Starck Maunz/Dürig Maunz/Schmidt-Bleibtreu/ Klein/Bethge MSBKB Klein/Ulsamer v. Münch/Kunig Plog/Wiedow Sachs Schmidt-Aßmann/Schoch Schmidt-Bleibtreu/ Hofmann/Henneckef Stern I–V

TVöD Wolff/Bachof/Stober/Kluth

s. TVöD Grundgesetz, Kommentar, 3. Aufl., (Bd. 1: 2013; Bd. 2: 2015; Bd. 3: 2017) Kommentar zur Gewerbeordnung – GewO, Gewerberechtlicher Teil, Loseblattsammlung, hrsg. v. Friauf (2001 ff) s. Friauf Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. v. Isensee/Kirchhof, 3. Aufl (Bd. 1: 2003; Bd. 2: 2004; Bd. 3: 2005; Bd. 4: 2006; Bd. 5: 2007; Bd. 6: 2009; Bd. 7: 2009; Bd. 8: 2010; Bd. 9: 2011; Bd. 10: 2012, Bd. 11: 2013, Bd. 12: 2014, Bd. 13: 2015 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland: Kommentar, 15. Aufl. (2018) Verwaltungsverfahrensgesetz, 20. Aufl. (2019) Gewerbeordnung und ergänzende Vorschriften, Kommentar, Loseblattsammlung, Bd. 1: Gewerbeordnung; Bd. 2: Ergänzende Vorschriften (jew. 1998 ff) Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1 (Art. 1–19), Bd. 2 (Art. 20–82), Bd. 3 (Art. 83–146), 7. Aufl. (2017); früherer Titel: Das Bonner Grundgesetz Grundgesetz, Kommentar, Loseblattsammlung, 7. Aufl. (1991 ff) (bearb. v. Badura u.a.), 86. Aufl. (2019) s. MSBKB Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Kommentar, Loseblattsammlung, hrsg. v. Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, 56. Aufl. (2019) nunmehr: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge Grundgesetz, Kommentar, Gesamtwerk in 2 Bänden, 6. Aufl. (2012) Kommentar zum Bundesbeamtengesetz, mit Beamtenversorgungsgesetz, 404. Erg.-Lfg. (2019) Grundgesetz-Kommentar, 8. Auflage (2018) Besonderes Verwaltungsrecht, 14. Aufl. (2008) Kommentar zum Grundgesetz, 14. Aufl. (2018) Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl. (1984); Bd. 2 (1980); Bd. 3/1 (1988); Bd. 3/2 (1994); Bd. 4 (1997); Bd. 4/2 (2006); Bd. 5 (2000) Kommentar zum Tarifvertrag öffentlicher Dienst (TVöD), hrsg. v. Clemens/ Scheuring/Steingen/Wiese, Loseblattsammlung. 110 Erg-Lfg. (2019) Verwaltungsrecht, Band 1, 13. Aufl. (2017)

16. Wettbewerbs- und Kartellrecht Baumbach/Hefermehl Dreher/Kulka Emmerich, Kartellrecht Emmerich/Lange FK Kartellrecht [GWB]

Fezer/Büscher/Obergfell

s. Köhler/Bornkamm Wettbewerbs – und Kartellrecht, 10. Aufl. (2018) (vormals Rittner/Dreher/ Kulka) Kartellrecht, Studienbuch, 14. Aufl. (2018) Unlauterer Wettbewerb, 11. Auflage (2019) (vormals Emmerich) Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, mit Kommentierung des GWB, des EG-Kartellrechts und einer Darstellung ausländischer Kartellrechtsordnungen, Loseblattsammlung, hrsg. v. Glassen u.a. (2001 ff) bis zur 44. Lfg. unter dem Titel: Frankfurter Kommentar zum Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Lauterkeitsrecht (Kommentar zum UWG) 2 Bände, 3. Aufl. (2016) (vormals Fezer)

LII

Schrifttum und abgekürzt zitierte Literatur

Immenga/Mestmäcker GWB

Wettbewerbsrecht, Kommentar, hrsg. v. Immenga/Mestmäcker, 6. Aufl. (2019) Köhler/Bornkamm/Feddersen Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb UWG - mit PAngV, UKlaG, DL-InfoV 37. Aufl. (2019) (vormals Köhler/Bornkamm) Köhler/Piper s. Ohly/Sosnitza Ohly/Sosnitza UWG - Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, Kommentar, 7. Aufl. (2016) Rittner/Dreher Europäisches und deutsches Wirtschaftsrecht, 3. Aufl. (2008) 17. Wirtschafts- und Steuerstrafrecht Achenbach/Ransiek/Rönnau ARR Belke/Oehmichen Bender/Möller/Retemeyer Bittmann Brüssow/Petri Dannecker/Knierim/Smok Eidam Franzen/Gast/Joecks Geilen, Aktienstrafrecht

GJW Graf/Jäger/Wittig Greeve/Leipold Hellmann Hübschmann/Hepp/Spitaler HHS HWiStR Ignor/Mosbacher Joecks/Jäger/Randt JJR Kempf/Lüderssen/Volk Klein Kohlmann Kohlmann/Reinhart Krekeler/Tiedemann/ Ulsenheimer/Weinmann Kudlich/Oğlakcıoğlu Kühn/von Wedelstädt KvW MG

LIII

s. ARR Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, hrsg. v. Achenbach/Ransiek/Rönnau, 5. Aufl. (2019) Wirtschaftskriminalität – aktuelle Fragen des Wirtschaftsstrafrechts in Theorie und Praxis (1983) Steuerstrafrecht - Mit Schwerpunkt Zoll- und Verbrauchssteuerstrafrecht, Loseblattsammlung 46. Akt. (2019) Insolvenzstrafrecht, hrsg. von Bittmann, 2. Aufl. (2017) Arbeitsstrafrecht, 2. Aufl. (2016) Insolvenzstrafrecht, 3. Aufl. (2018) (vormals Dannecker/Knierim/ Hagemeier) Unternehmen und Strafe, 5. Aufl. (2018) s. JJR Erläuterungen zu §§ 399– 405 AktG von Gerd Geilen, Erläuterungen zu § 408 AktG von Wolfgang Zöllner (1984) (Sonderausgabe aus der 1. Aufl. des Kölner Kommentars zum Aktiengesetz) Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, hrsg. v. Graf/Jäger/Wittig, 2. Aufl. (2017) s. GJW Handbuch des Baustrafrechts (2004) Wirtschaftsstrafrecht, 5. Aufl. (2018) s. HHS Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, Kommentar, Loseblattsammlung, (bearb. v. Söhn et al.) 252. Akt. (2019) Handwörterbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, Loseblattsammlung (1985–1990), hrsg. v. Krekeler/Tiedemann u.a. Handbuch Arbeitsstrafrecht, 3. Aufl. (2016) (vormals Ignor/Rixen) Steuerstrafrecht, 9. Aufl. (2019) (vormals Joecks) Steuerstrafrecht: mit Zoll- und Verbrauchssteuerstrafrecht; Kommentar zu §§ 369– 412 AO; § 32 ZollVG, 8. Aufl. (2015) Die Handlungsfreiheit des Unternehmers, hrsg. v. Kempf/Lüderssen/Volk (2009) AO – Abgabenordnung, Kommentar, 14. Aufl. (2018) Steuerstrafrecht, Kommentar zu den §§ 369– 412 AO 1977, Loseblattsammlung. 63. Akt. (2019) Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des GmbH-Geschäftsführers, 2. Aufl. (2019) Handwörterbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, hrsg. von Krekeler/ Tiedemann/Ulsenheimer/Weinmann (1985–1990) Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl. (2014) s. KvW Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, hrsg. v. Kühn/von Wedelstädt, 22. Aufl. (2018) Wirtschaftsstrafrecht, hrsg. von Müller-Gugenberger, 6. Aufl. (2015)

Schrifttum und abgekürzt zitierte Literatur

Müller-Gugenberger Otto, Aktienstrafrecht

s. MG Erläuterungen zu den §§ 399– 410 AktG (1997) (Sonderausgabe aus der 4. Aufl. des Großkommentars zum Aktiengesetz) Park Kapitalmarktstrafrecht, Handkommentar, 5. Aufl. (2019) Ransiek Unternehmensstrafrecht (1996) Rolletschke Steuerstrafrecht, 5. Aufl. (2019) C. Schröder Handbuch Kapitalmarktstrafrecht, 4. Aufl. (2019) Tiedemann, GmbH-Strafrecht GmbH-Strafrecht (§§ 82–85 GmbHG und ergänzende Vorschriften), 5. Aufl. (2010) (Sonderausgabe aus der 10. Aufl. des Kommentars zum GmbHG von Scholz, Bd. III 2010) Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht Wirtschaftsstrafrecht, 5. Aufl. (2017) Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht in der Europäischen Union. Rechtsdogmatik – Wirtschaftsstrafrecht EU Rechtsvergleich – Rechtspolitik (Freiburg-Symposium), hrsg. v. Tiedemann (2002) Tipke/Kruse Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung. Kommentar zur AO und FGO (ohne Steuerstrafrecht), Loseblattsammlung. 156. Akt. (2019) Tipke/Lang Steuerrecht, 23. Aufl. (2018) Wabnitz/Janovsky/Schmitt Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 5. Aufl. (2019) (vormals Wabnitz/Janovsky) Weyand/Diversy Insolvenzdelikte, 10. Aufl. (2016) Wittig Wirtschaftsstrafrecht, 4. Aufl. (2017) Ziouvas Das neue Kapitalmarktstrafrecht (2006) 18. Zivilprozessrecht und Insolvenzrecht

Baumbach/Lauterbach/ Albers/Hartmann BLAH FK-InsO

s. BLAH Zivilprozessordnung, 77. Aufl. (2019) Frankfurter Kommentar zur Insolvenzordnung, hrsg. v. Wimmer, 9. Aufl. (2018) HK-InsO Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, hrsg. v. Kayser/Thole, 9. Aufl. (2018) Jaeger Insolvenzordnung, Großkommentar, hrsg. v. Henckel/Gerhardt (2004 ff) KPB InsO – Kommentar zur Insolvenzordnung, Loseblattsammlung. 79. Akt. (2019) Kübler/Prütting/Bork s. KPB Leonhard/Smid/Zeuner Insolvenzrechtlicher Vergütungsverordnung (InsVV), Kommentar, hrsg. v. Leonhard/Smid/Zeuner, (2014) MK-InsO Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, 3. Aufl. (2013 ff) MK-ZPO Münchener Kommentar zur ZPO, 5. Aufl. (2016 ff) Musielak/Voit ZPO - Zivilprozessordnung, Kommentar, 14. Aufl. (2017) Rattunde/Smid/Zeuner Insolvenzordnung (InsO), Kommentar, hrsg. v. Rattunde/Smid/Zeuner, 4. Aufl. (2018) (vormals Leonhard/Smid/Zeuner) Rosenberg/Schwab/Gottwald Zivilprozessrecht, 18. Aufl. (2018) Stein/Jonas Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 23. Aufl. (2014 ff) Thomas/Putzo ZPO - Zivilprozessordnung, 40. Auflage (2019) Zöller Zivilprozessordnung, Kommentar, 33. Aufl. (2020) 19. Sonstiges (einschließlich Arbeits- und Sozialrecht, Völkerrecht und Waffenrecht) Bieneck Brownlie

Handbuch des Außenwirtschaftsrechts mit Kriegswaffenkontrollgesetz, hrsg. v. Bieneck, 2. Aufl. (2005) Principles of Public International Law, 8. Aufl. (2012)

LIV

Schrifttum und abgekürzt zitierte Literatur

Corpus Juris

Dahm/Delbrück/Wolfrum ErfK Fuchs/Preis Gerold/Schmidt Götz/Tolzmann Hanau/Adomeit Hauck/Noftz Herdegen Hoeren/Sieber/Holznagel HwbRW I–VIII

Ipsen Kaiser/Günther/Taupitz KassKomm Keller/Günther/Kaiser Kröger/Gimmy Linens/Korte Lüder/Vormbaum Multimedia-Recht Rebmann/Uhlig Seidl-Hohenveldern Seidl-Hohenveldern/Stein Shaw Steindorf Strupp/Schlochauer Thüsing Tolzmann Ulsamer LdR Verdross/Simma Vitzthum/Proelß Waltermann Wannagat Werle/Jeßberger

LV

The implementation of the Corpus Juris in the Member States/La mise en œuvre du Corpus Juris dans les Etats Membres, hrsg. v. Delmas-Marty/ Vervaele (2000); Deutsche Version der Entwurfsfassung von 1997: DelmasMarty (Hrsg.), Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union, Deutsche Übersetzung von Kleinke und Tully, Einführung von Sieber (1998) Völkerrecht, 2. Aufl., Band I/1 (1989), Band I/2 (2002), Band I/3 (2002) Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 20. Aufl. (2019) Sozialversicherungsrecht, 2. Aufl. (2009) Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, 24. Aufl. (2019) Bundeszentralregistergesetz, Kommentar, 4. Aufl. (2000); Nachtrag (2003) Arbeitsrecht, 14. Aufl. (2007) Sozialgesetzbuch – Gesamtkommentar, hrsg. v. Hauck/Noftz, Loseblattsammlung (Stand 2019 ff) Völkerrecht, 18. Aufl. (2019) s. Multimedia-Recht Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, hrsg. v. Stier-Somlo u.a., Bd. 1 (1926), Bd. 2 (1927), Bd. 3 (1928), Bd. 4 (1927), Bd. 5 (1928), Bd. 6 (1929), Bd. 7 (1931), Bd. 8 (1937) (unter dem Titel: Die Rechtsentwicklung der Jahre 1933 bis 1935/36) Völkerrecht, 7. Aufl. (2018) Embryonenschutzgesetz, Juristischer Kommentar, 2.Aufl. (2014) Kasseler Kommentar Sozialversicherungsgesetz, Loseblattsammlung, 103. Aufl. (2019) Embryonenschutzgesetz, Kommentar (1992) Handbuch zum Internetrecht (2012) Wehrstrafgesetz, Kommentar, 5. Aufl. (2012) (vormals Schölz/Lingens) Materialien zum Völkerstrafgesetzbuch: Dokumentation des Gesetzgebungsverfahrens (2002) Handbuch Multimedia-Recht, hrsg. v. Hoeren/Sieber/Holznagel, Loseblattsammlung. 48. Aufl. (2019) Bundeszentralregister, Gewerbezentralregister, Verkehrszentralregister und ergänzende Bestimmungen, Kommentar (1985) Lexikon des Rechts – Völkerrecht, 3. Aufl (2001) Völkerrecht, 12. Aufl. (2009) International Law, 8. Aufl. (2018) Waffenrecht, Kurzkommentar, 10. Aufl. (2015) Wörterbuch des Völkerrechts, 2. Aufl., Band 1 (1960), Band 2 (1961), Band 3 (1962) AÜG – Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, Kommentar, hrsg. v. Thüsing, 4. Aufl. (2018) Bundeszentralregistergesetz, 5. Aufl. (2015) Lexikon des Rechts: Strafrecht, Strafverfahrensrecht, hrsg. v. Ulsamer, 2. Aufl. (1996) Universelles Völkerrecht, 3. Auflage (2010) Völkerrecht, 8. Aufl. (2019) Sozialrecht, 13. Aufl. (2018) Sozialgesetzbuch I/IV/X, hrsg. v. Eichenhofer/Wenner (2012) Völkerstrafrecht, 5. Aufl. (2020)

Schrifttum und abgekürzt zitierte Literatur

LVI

Einleitung | Einl

Einleitung Einleitung Einleitung Weigend Einl https://doi.org/10.1515/9783110300413-001 Schrifttum Amelung Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft (1972); Anastosopoulou Deliktstypen zum Schutz kollektiver Rechtsgüter (2005); Androulakis Abschied vom Rechtsgut – Einzug der Moralität? Festschrift Hassemer (2010) 271; Appel Verfassung und Strafe (1997); Brüning Das Verhältnis des Strafrechts zum Disziplinarrecht (2017); Bung Strafgesetzgebung und Strafgerechtigkeit im materiellen Strafrecht, in: Zabel (Hrsg.) Strafrechtspolitik (2018) 181; Dubber Positive Generalprävention und Rechtsgutstheorie, ZStW 117 (2005) 485; Engländer Revitalisierung der materiellen Rechtsgutslehre durch das Verfassungsrecht? ZStW 127 (2015) 616; ders. Personale Rechtsgutslehre und normativer Idealismus, Festschrift Neumann (2017) 547; Feinberg (Hrsg.) Doing and Deserving (1970); ders. The Moral Limits of the Criminal Law, Bd. 2: Offense to Others (1985); Fischer Öffentlicher Friede und Gedankenäußerung (1986); Frisch An den Grenzen des Strafrechts, Festschrift Stree und Wessels (1993) 69; ders. Voraussetzungen und Grenzen staatlichen Strafens, NStZ 2016 16; Gärditz Strafbegründung und Demokratieprinzip, Der Staat 49 (2010) 331; Greco Rechtsgüterschutz und Tierquälerei, Festschrift Amelung (2009) 3; ders. Gibt es Kriterien zur Postulierung eines kollektiven Rechtsguts? Festschrift Roxin (2011) 199; Grünhut Methodische Grundlagen der heutigen Strafrechtswissenschaft, Festgabe Frank I (1930) 1; K. Günther Die symbolisch-expressive Bedeutung der Strafe, Festschrift Lüderssen (2002) 205; Hamm Richten mit und über Strafrecht, NJW 2016 1537; Hassemer Theorie und Soziologie des Verbrechens (1973); Hefendehl Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht (2002); ders. Mit langem Atem: Der Begriff des Rechtsguts, GA 2007 1; ders. Der fragmentarische Charakter des Strafrechts, JA 2011 401; Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.) Die Rechtsgutstheorie (2003); Hegel Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821); Herzog Gesellschaftliche Unsicherheit und strafrechtliche Daseinsvorsorge (1991); M. Heinrich Strafrecht als Rechtsgüterschutz – ein Auslaufmodell? Festschrift Roxin (2011) 131; Hilgendorf Punitivität und Rechtsgutslehre, NK 2010 125; ders. Strafrecht im Kontext der Normenordnungen, in Hilgendorf/Kudlich/Valerius (Hrsg.) Handbuch des Strafrechts Bd. 1 (2019) 3; ders. Strafrechtspolitik und Rechtsgutslehre, ebda. S. 791; von Hirsch Past or Future Crimes (1985); ders. Die Existenz der Institution Strafe, in Neumann/Prittwitz (Hrsg.) Kritik und Rechtfertigung des Strafrechts (2005) 57; von Hirsch/Simester (Hrsg.), Incivilities (2006); von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht (2007); Hirsch Die aktuelle Diskussion über den Rechtsgutsbegriff, Festschrift Spinellis (2001) 425; Hörnle Tatproportionale Strafzumessung (1999); dies. Grob anstößiges Verhalten (2005); dies. Das Verbot des Geschwisterinzests, NJW 2008 2085; Hohmann Von den Konsequenzen einer personalen Rechtsgutsbestimmung im Umweltstrafrecht, GA 1992 76; Jahn/Brodowski Das Ultima-Ratio-Prinzip als strafverfassungsrechtliche Vorgabe usw., ZStW 129 (2017) 363; Jakobs Was schützt das Strafrecht: Rechtsgüter oder Normgeltung? Festschrift Seiji Saito (2003) 17; ders. Sozialschaden? Bemerkungen zu einem strafrechtstheoretischen Grundlagenproblem, Festschrift Amelung (2009) 37; Jansen Konsequenzen von Rechtsgüterkombinationen, ZIS 2019 2; Jung Zur Strafbarkeit des Inzests, Festschrift Leferenz (1983) 311; Kaspar Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2014); Kim Verhaltensdelikte versus Rechtsgutsverletzungen, ZStW 124 (2012) 591; Kindhäuser Rechtsgüterschutz durch Gefährdungsdelikte, Festschrift Krey (2010) 249; Koriath Zum Streit um den Begriff des Rechtsguts, GA 1999 561; Krauß Rechtsgut und kein Ende, Festschrift Hassemer (2010) 423; Kreuzer (Hrsg.) Handbuch des Betäubungsmittelstrafrechts (1998); Krüger Die Entmaterialisierungstendenz beim Rechtsgutsbegriff (2000); Kubiciel Das deutsche Inzestverbot vor den Schranken des EGMR, ZIS 2012 282; ders. Kriminalpolitik und Strafrechtswissenschaft, JZ 2018 171; Kühl Die Bedeutung der Rechtsphilosophie für das Strafrecht (2001); ders. Der Zusammenhang von Strafe und Strafrecht, Festschrift Lampe (2003) 439; ders. Zum Missbilligungscharakter der Strafe, Festschrift Eser (2005) 149; Lagodny Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996); Maas Wann darf der Staat strafen? NStZ 2015 205; B.-D. Meier Strafrechtliche Sanktionen, 4. Aufl. (2015); Müssig Schutz abstrakter Rechtsgüter und abstrakter Rechtsgüterschutz (1994); ders. Rechtsgüterschutz durch Strafrecht? Festschrift Fischer (2018) 171; Nestler „Das Verbot weicher Drogen“, ZStW 129 (2017) 467; Neubacher Materieller Verbrechensbegriff und Rechtsgutsverletzung, Jura 2000 514; Neumann „Alternativen: keine“, in Neumann/Prittwitz (Hrsg.) „Personale Rechtsgutslehre“ und „Opferorientierung im Strafrecht“ (2007) 85; ders. Dezision statt Argumentation? Festschrift Fischer (2018) 183; Paeffgen Das „Rechtsgut“ – ein obsoleter Begriff? Festschrift Wolter (2013) 125; Pawlik Das Unrecht des Bürgers (2012); ders. Rückkehr zu Hegel in der neueren Verbrechenslehre? in: Kubiciel/Pawlik/Seelmann

1 https://doi.org/10.1515/9783110300413-001

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(Hrsg.), Hegels Erben? (2017) 247; Prittwitz Strafrecht und Risiko (1993); ders. Personale Rechtsgutslehre und die „Opfer von morgen“, in Neumann/Prittwitz (Hrsg.) „Personale Rechtsgutslehre“ und „Opferorientierung im Strafrecht“ (2007) 97; ders. Strafrecht als propria ratio, Festschrift Roxin (2011) 23; Romano Zur Legitimation der Strafgesetze, Festschrift Roxin (2011) 155; Roxin Rechtsgüterschutz als Aufgabe des Strafrechts? in Hefendehl (Hrsg.) Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus (Schünemann-Symposium) (2005) 135; ders. Zur Strafbarkeit des Geschwisterinzests, StV 2009 544; ders. Zur neueren Entwicklung der Rechtsgutsdebatte, Festschrift Hassemer (2010) 573; ders. Der gesetzgebungskritische Rechtsgutsbegriff auf dem Prüfstand, GA 2013 433; Scheinfeld Normschutz als Strafrechtsgut? Festschrift Roxin (2011) 183; Schünemann Versuch über die Begriffe von Verbrechen und Strafe usw., Festschrift Neumann (2017) 701; Simester/von Hirsch Crimes, Harms and Wrongs (2011); Sina Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs „Rechtsgut“ (1962); Sternberg-Lieben Die Sinnhaftigkeit eines gesetzgebungskritischen Rechtsgutsbegriffs, Festschrift Paeffgen (2015) 31; Stratenwerth Zukunftssicherung mit den Mitteln des Strafrechts? ZStW 105 (1993) 679; ders. Zum Begriff des „Rechtsgutes“, Festschrift Lenckner (1998) 377; Stuckenberg Grundrechtsdogmatik statt Rechtsgutslehre, GA 2011 653; ders. Rechtsgüterschutz als Grundvoraussetzung von Strafbarkeit? ZStW 129 (2017) 349; Stübinger Der Tatbestand der Bekenntnisbeschimpfung als Herausforderung der Rechtsgutslehre, Festschrift Kargl (2015) 573; Swoboda Die Lehre vom Rechtsgut und ihre Alternativen, ZStW 122 (2010) 24; Theile Rationale Gesetzgebung im Wirtschaftsstrafrecht, wistra 2012 285; B. Vogel Rechtsgüterschutz und Normgeltung, ZStW 129 (2017) 629; Volk Gefühlte Rechtsgüter? Festschrift Roxin (2011) 215; Walter Positive und negative Erfolgsdelikte, ZStW 116 (2004) 555; ders. Die Vergeltungsidee als Grenze des Strafrechts, JZ 2019 649; Weigend Tatbestände zum Schutz der Sexualmoral, ZStW 129 (2017) 513; Wohlers Deliktstypen des Präventionsstrafrechts (2000); ders. Strafrecht als ultima ratio, in von Hirsch/Seelmann/Wohlers (Hrsg.) Mediating Principles (2006) S. 54; ders. Verhaltensdelikte, Festschrift Amelung (2009) 129; ders. Die Güterschutzlehre Birnbaums und ihre Bedeutung für die heutige Rechtsgutstheorie, GA 2012 600.

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II.

III.

Übersicht Aufgaben des Strafrechts 1. Schutz von Interessen | 1 2. Schutz der Normgeltung | 3 3 Rechtsgut | 4 4. Anstößige Verhaltensweisen | 8 5. Erfolgs- und Gefährdungsdelikte | 9 Materien und Rechtsquellen des Strafrechts 1. Materielles Strafrecht | 10 2. Strafverfahrensrecht | 11 3. Strafvollstreckungsrecht | 12 4. Strafgesetze | 13 5. Grundgesetz a) Strafrechtliche Regelungen | 14 b) Beschränkungen der Strafgewalt | 15 c) Gesetzgebungskompetenz | 16 6. Nebenstrafrecht | 18 7. Ordnungswidrigkeiten | 19 Entstehung und Reform des Strafgesetzbuchs 1. Vorgeschichte | 22 2. Reformen bis 1918 | 24 3. Weimarer Republik | 26 4. Nationalsozialismus | 28 5. Strafrechtsreform nach 1945 | 32 6. Jugendkriminalrecht | 37 7. Strafgesetzgebung der DDR | 38 8. Reformen seit 1990 | 39

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IV.

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Überblick über Inhalt und Aufbau des Strafgesetzbuchs 1. Allgemeine Regelungen | 40 2. Rechtsfolgen | 50 3. Besonderer Teil | 51 Strafen und Maßregeln 1. Rechtsfolgen | 56 2. Begründung des Strafrechts a) Absolute und relative „Straftheorien“ | 57 b) „Spielraumtheorie“ | 60 c) Doppelspurige Begründung | 61 aa) Begriff der Strafe | 62 bb) Retribution und Zweckdenken | 63 cc) Strafbemessung | 66 dd) Spezialprävention | 67 3. Strafen a) Freiheitsstrafe | 68 b) Strafaussetzung und Strafrestaussetzung | 69 c) Geldstrafe | 71 d) Ersatzfreiheitsstrafe | 72 4. Maßregeln der Besserung und Sicherung | 73 a) Legitimation der Maßregeln | 74

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VI.

b) Besserung und Sicherung | 75 c) Sicherungsverwahrung | 77 5. Einziehung | 78 6. Alternativen zur Strafe | 80 Europäisches Strafrecht 1. Einfluss des Europäischen Strafrechts | 81 2. Europarat und EMRK | 82 3. Recht der EU | 84

a)

Straf- und Harmonisierungskompetenz | 85 b) Zusammenarbeit innerhalb der EU | 88 c) Zukunftsperspektiven | 90 VII. Völkerstrafrecht 1. Allgemeines | 92 2. Internationaler Strafgerichtshof | 93 3. Völkerstrafgesetzbuch | 96

I. Aufgaben des Strafrechts 1. Das Strafrecht dient dem Schutz von Interessen, die der Rechtsgemeinschaft 1 wichtig sind. Dies sind Güter, die dem Individuum zustehen (z.B. Leben, Gesundheit, Ehre), aber auch gemeinsame Interessen aller Bürger (z.B. Bestand des demokratischen Rechtsstaats, Funktionsfähigkeit der Rechtspflege).1 Das Strafrecht schützt diese Interessen mit dem spezifischen Mittel der Kriminalstrafe. Diese unterscheidet sich von anderen Maßnahmen dadurch, dass sie – neben dem mit ihr verbundenen Verlust an Freiheit oder Eigentum – die sozialethische Missbilligung der Rechtsgemeinschaft gegenüber der vom Täter begangenen Tat zum Ausdruck bringt.2 Insofern ist die Kriminalstrafe innerhalb des Ensembles von Maßnahmen der Sozialkontrolle3 die schärfste Reaktion auf unerlaubtes Verhalten.4 Sie sollte daher unter den verschiedenen Möglichkeiten der Sanktionierung menschlichen Fehlverhaltens nur als letztes Mittel (ultima ratio) verwendet werden.5 Ihr möglichst sparsamer Einsatz ist nicht nur verfassungsrechtlich durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geboten (s. Rdn. 6), sondern dient auch der Effizienz bei der Steuerung menschlichen Verhaltens, da die Strafe durch inflationären Gebrauch ihre soziale und individuelle Wirkung verlöre.6 Andererseits kann es aber auch verfassungsrechtlich geboten sein, Strafnormen zu 2 erlassen, wenn wichtige Interessen des Individuums oder der Allgemeinheit auf andere Weise nicht hinreichend geschützt werden können („Untermaßverbot“; grundlegend BVerfGE 39 1, 47 ff; 88 203, 281 ff); denn es gehört zu den wesentlichen Aufgaben des Staates, den Bürgern Schutz für ihre vitalen Interessen und für die institutionellen Be-

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1 Hassemer/Neumann NK Vor § 1 Rdn. 138 ff ; Roxin FS Hassemer S. 573, 577 f. 2 Zur expressiven Funktion des staatlichen Strafens grundlegend Feinberg Doing and Deserving S. 70 ff; von Hirsch Past or Future Crimes S. 34 ff; ferner Frisch NStZ 2016 16, 19 f; Gärditz Der Staat 49 (2010) 331, 341; Günther FS Lüderssen S. 205; von Hirsch in Neumann/Prittwitz (Hrsg.) Kritik und Rechtfertigung des Strafrechts S. 57, 66 ff; Hörnle Tatproportionale Strafzumessung S. 112 ff; Kühl FS Eser S. 149, 153 ff; Meier Strafrechtliche Sanktionen S. 16 f. 3 Hierzu Hassemer/Neumann NK Vor § 1 Rdn. 154 ff; Meier Strafrechtliche Sanktionen S. 1 ff. 4 Das Disziplinarrecht des Öffentlichen Dienstes hat eine ähnliche Missbilligungsfunktion wie das Strafrecht, es bezieht die Missbilligung jedoch ausschließlich auf die dienstliche oder berufliche Stellung des Täters. Daher wird es auch als zulässig angesehen, wegen ein und desselben Verhaltens sowohl Kriminalstrafe als auch Disziplinarmaßnahmen zu verhängen (BVerfGE 21 378). Kritisch zu der traditionellen Differenzierung zwischen Strafrecht und Disziplinarrecht Brüning Das Verhältnis des Strafrechts zum Disziplinarrecht. 5 S. hierzu Hamm NJW 2016 1537, 1541 f. Zum Verhältnis von präventiven Kontrollmaßnahmen und Strafdrohungen zutr. differenzierend Prittwitz FS Roxin 2011 S. 23; in diesem Verhältnis gegen die Anwendung des ultima-ratio-Grundsatzes Wohlers in von Hirsch/Seelmann/Wohlers, Mediating Principles S. 54, 66 ff. 6 Vgl. Frisch FS Stree und Wessels S. 69, 96 f.

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dingungen friedlichen Zusammenlebens zu gewährleisten.7 Die Entscheidung darüber, welche Interessen schutzbedürftig sind und wann gerade von dem Mittel des Strafrechts Gebrauch zu machen ist,8 hängt von den jeweils vorhandenen Bedürfnissen einer Gesellschaft ab.9 Diese Entscheidung obliegt grundsätzlich dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber.10 3

2. Manche Autoren sehen, im Anschluss an Hegel,11 als Zweck des Strafrechts nicht den Schutz wichtiger Güter, sondern (nur) den Schutz der Geltung der jeweils in einem Staat bestehenden Rechtsnormen an.12 Verbrechen ist nach diesr Auffassung nicht (in erster Linie) Schädigung eines Individuums, sondern „Störung der normativen Struktur der Gesellschaft“;13 das Strafrecht hat die Funktion, Rechtsnormverletzungen plakativ als solche zu kennzeichnen und damit die Fortgeltung der vom Täter übertretenen sozialen Verhaltensnorm kontrafaktisch zu bekräftigen. Nach dieser Auffassung hängt die Legitimität der vom Strafrecht zu schützenden Normen und Institutionen von (unausgesprochenen) externen Kriterien ab; das Strafrecht muss die Normen so hinnehmen wie sie sind, und die Strafrechtswissenschaft hat folglich nicht die Kompetenz, deren Legitimität in Frage zu stellen.14

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3. Die Gegenposition formiert sich um den Begriff des Rechtsguts. Dieser aufgrund seiner langen und wechselvollen Geschichte15 schillernde und ausfüllungsbedürftige Be-

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7 Eingehend hierzu Kaspar Verhältnismäßigkeit S. 59 ff, 77 ff; Lagodny Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte S. 254 ff; skeptisch gegenüber einer staatlichen Strafpflicht Roxin AT 1 § 2 Rdn. 95 f; siehe auch Joecks MK Einl. Rdn. 19 f. 8 Frisch NStZ 2016 16 f betont mit Recht, dass vor einer Inkriminierung zunächst zu fragen ist, ob das Verhalten, um das es geht, überhaupt – als unerlaubte Überschreitung der eigenen Befugnisse des Handelnden – verboten werden darf. 9 Hassemer Theorie und Soziologie des Verbrechens S. 74, 97 et passim; Hassemer/Neumann NK Vor § 1 Rdn. 89 ff; zur Notwendigkeit einer rationalen Kanalisierung der jeweils aktuell in der Bevölkerung „gefühlten“ Strafbedürfnisse zutr. Bung in Zabel, Rechtspolitik S. 181, 190 ff. 10 BVerfGE 96 10, 25 f; 109 133, 157 f; 120 224, 242. Übereinst. Amelung in Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Rechtsgutstheorie S. 155, 163 f; Appel Verfassung und Strafe S. 204 ff; Hassemer/Neumann NK Vor § 1 Rdn. 85 ff. Der autonomen Einschätzungs- und Entscheidungsprärogative des Gesetzgebers kann nicht pauschal das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip als Korrektiv entgegengehalten werden; so aber Hefendehl Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht S. 51; ihm folgend Roxin Schünemann-Symposium S. 135, 141; wie der Text dagegen Lagodny Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte S. 155. 11 Hegel versteht Verbrechen als Zwang, der das Dasein der Freiheit in seinem konkreten Sinne verletzt (Grundlinien der Philosophie des Rechts [1821] § 95); die Bestrafung des Verbrechers ist Manifestation der in sich bestehenden Nichtigkeit des Verbrechens und damit dessen Aufhebung (aaO §§ 97, 99). Näher hierzu Pawlik in Kubiciel/Pawlik/Seelmann, Hegels Erben? S. 247, 255 ff. 12 Siehe Jakobs FS Saito S. 21: „Strafrecht garantiert Normgeltung, nicht Rechtsgüterschutz“. Jakobs (aaO S. 24) beschreibt den Befehl der (Straf-)Rechtsordnung als ‚Brich nicht deine Rolle als rechtstreuer Bürger!‘. Ähnlich Merkel Willensfreiheit und rechtliche Schuld S. 125. 13 Jakobs FS Amelung S. 37, 46; ähnlich Müssig FS Fischer S. 171, 176 f. 14 Jakobs FS Amelung S. 37, 47 weist zwar mit Recht darauf hin, dass die Normen nach seiner Auffassung nicht per se legitim seien; doch enthält seine Theorie kein Werkzeug zur Überprüfung der Legitimität der vorgegebenen Normen. Auf „gesellschaftliche Gerechtigkeitsstandards“ verweist B. Vogel ZStW 129 (2017) 629, 633, auf „normative Identitätskriterien“ der Gesellschaft Müssig FS Fischer S. 171, 179 f; beides bleibt jedoch als Maßstab für Gesetzgebungskritik abstrakt und selbstreflexiv. Kritisch zu Jakobs‘ Auffassung Jäger SK Vor § 1 Rdn. 4 f; Roxin AT I § 2 Rdn. 112 f; ders. Schünemann-Symposium S. 148 f; Scheinfeld FS Roxin 2011 S. 183, 188; Sternberg-Lieben FS Paeffgen S. 31, 35. 15 Zur Geschichte des Rechtsgutsbegriffs seit Feuerbach und Birnbaum eingehend Amelung Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft S. 15 ff; Sina Dogmengeschichte; zusammenfassend Hilgendorf Handbuch des Strafrechts Bd. 1 S. 791, 813 ff; speziell zu Birnbaum s. Neubacher Jura 2000 514; Stübinger FS Kargl S. 573, 577 f; Wohlers GA 2012 600.

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griff bringt allerdings mehr Verwirrung als Klarheit.16 Er kann (mit Betonung auf dem Wortteil „Recht“) normativ als ein zusammenfassender Ausdruck für die vom Gesetzgeber intendierte Schutzrichtung einer Strafnorm verstanden werden,17 der als Argument bei der teleologischen Auslegung der Vorschrift von Bedeutung sein kann. Insofern besteht weitgehende Einigkeit. Kontrovers ist jedoch die vielfach angenommene gesetzgebungskritische Funk- 5 tion des Rechtsgutsbegriffs. Nach einer verbreiteten Auffassung sind Strafnormen nur dann legitim, wenn sich ein im sozialen Leben anerkanntes Rechtsgut aufweisen lässt, das durch sie geschützt werden muss.18 Manche Vertreter dieser Position erkennen als strafrechtlich schutzwürdig nur solche Rechtsgüter an, die Interessen des Individuums repräsentieren oder die sich zumindest auf individuelle Bedürfnisse zurückführen lassen (sog. personaler Rechtsgutsbegriff).19 Diese Sichtweise ist jedoch zu eng: Auch wenn man annimmt, dass der Staat letztlich um der Menschen willen existiert, ist es notwendig, auch Güter zu schützen, die unteilbar der Gesamtheit zustehen, wie etwa die in Art. 20a GG als Verfassungsgut genannten „natürlichen Lebensgrundlagen“ oder das Funktionieren der Rechtspflege, soweit solche Güter hinreichend wichtig und schutzbedürftig sind.20 Im Ergebnis wird daher auch von vielen Anhängern eines „personalen“ Rechtsgutsverständnisses der Schutz kollektiver Rechtsgüter als grundsätzlich legitim angesehen.21 Wenn man dies anerkennt, verringert sich jedoch das gesetzgebungskritische Potential des Rechtsgutsbegriffs. Seine Verwendung kann sogar zu einer rational nicht begründbaren Expansion des Strafbaren führen,22 denn es besteht die Versuchung, je nach kriminalpolitischem Geschmack Rechtsgüter zu erfinden, um die Schaffung neuer Strafnormen (vermeintlich) zu legitimieren.23 Bei substanzarmen „Rechtsgütern“ wie

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16 Ebenso Dubber ZStW 117 (2005) 485, 503 ff; Frisch FS Stree/Wessels S. 74 ff; Hirsch FS Spinellis S. 430 ff; Stratenwerth FS Lenckner S. 383 ff. 17 In diesem Sinne prägnant schon Binding Handbuch I S. 169: „etwas, das der Gesetzgeber als wertvoll betrachtet und dessen ungestörter Zustand deshalb durch Normen geschützt werden muß“. Zum Rechtsgut als „Abbreviatur des Zweckgedankens“ Grünhut Festgabe Frank I S. 8. 18 In diesem Sinne etwa Hassemer Theorie und Soziologie S. 122; Hassemer/Neumann NK Vor § 1 Rdn. 62 ff, 110 ff; Hefendehl Kollektive Rechtsgüter S. 80, 132; ders. JA 2011 401, 403 f (einschränkend jedoch ders. GA 2007 1, 6 ff); M. Heinrich FS Roxin 2011 S. 131, 145 ff; Jäger SK Vor § 1 Rdn. 11; Joecks MK Einl. Rdn. 35 ff; Roxin AT I § 2 Rdn. 7 ff; Schünemann in Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Rechtsgutstheorie S. 133 ff; ders. FS Neumann S. 701, 706 f; Sternberg-Lieben in Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Rechtsgutstheorie S. 70, 72; Swoboda ZStW 122 (2010) 24, 48 ff. 19 Hassemer in Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Rechtsgutstheorie S. 57; Hassemer/Neumann NK Vor § 1 Rdn. 146 ff; Hohmann GA 1992 76, 78 f; Jäger SK Vor § 1 Rdn. 1; Neumann in Neumann/Prittwitz „Personale Rechtsgutslehre“ S. 85; Sternberg-Lieben FS Paeffgen S. 31, 32. 20 Übereinstimmend Engländer FS Neumann S. 547; Hefendehl Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht S. 314 f; Müssig Schutz abstrakter Rechtsgüter S. 207, 234 et passim. Zu der Frage, ob auch der Schutz künftiger Generationen legitime Aufgabe des Strafrechts ist, bejahend Stratenwerth ZStW 105 (1993) 679, 696, verneinend Prittwitz in Neumann/Prittwitz (Hrsg.) „Personale Rechtsgutslehre“ S. 97. 21 Siehe etwa Hassemer/Neumann NK Vor § 1 Rdn. 138; Roxin AT I § 2 Rdn. 7; Sternberg-Lieben in Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Rechtsgutstheorie S. 67 ff. 22 Pawlik Das Unrecht des Bürgers S. 139 und Stuckenberg ZStW 129 (2017) 349, 362 weisen mit Recht darauf hin, dass dem Rechtsgutsgedanken auch insofern eine „Expansionslogik“ innewohnt, als er nach immer weitergehendem Schutz eines einmal identifizierten „Rechtsguts“ verlangt. 23 Amelung Rechtsgüterschutz und Gesellschaft S. 171 ff; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 2 Rdn. 13; Kim ZStW 124 (2012) 591, 609 ff; Pawlik Das Unrecht des Bürgers S. 136 f; Roxin FS Hassemer S. 573, 580; Sternberg-Lieben in Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Rechtsgutstheorie S. 72; ders. FS Paeffgen S. 31, 33 f; Theile wistra 2012 285, 287 (mit plastischen Beispielen aus dem Wirtschaftsstrafrecht). Mit Recht lehnt Greco FS Roxin 2011 S. 199, 212 f die Anerkennung „kollektiver“ Rechtsgüter als legitime Schutzgüter des Strafrechts ab, wenn sie nicht ohne die gleichzeitige Verletzung individueller Güter angegriffen werden können. S. auch die Kritik bei Krüger Entmaterialisierungstendenz.

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dem Vertrauen in die Reinheit des öffentlichen Dienstes, der Volksgesundheit24 oder dem öffentlichen Frieden25 ist die Behauptung, ihr (vages) Substrat müsse durch Strafvorschriften geschützt werden, schwer zu widerlegen. Aber auch unabhängig von diesem Problem eignet sich der Begriff des Rechtsguts als solcher nicht zu einer normativ verbindlichen Begründung von Forderungen an den Gesetzgeber.26 Da das „Rechtsgut“ keinen spezifisch strafrechtlichen Inhalt hat,27 bleibt der Bezugspunkt selbst für eine bloß rechtspolitische Argumentation letztlich unklar.28 Wirkungsvollere Argumente für eine Begrenzung des Strafrechts können aus der 6 Verfassung gewonnen werden.29 Zwar enthält das Grundgesetz keinen brauchbaren (abschließenden) Katalog an „Rechtsgütern“;30 doch lässt sich strafrechtliche Gesetzgebung anhand des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit31 auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin überprüfen.32 Dieser Grundsatz hat gegenüber dem Rechtsgutsbegriff den Vorteil, dass er nicht nur die Frage stellt, ob ein Interesse überhaupt schützenswert ist, sondern auch ob, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang es zu seinem Schutz gerade des Strafrechts bedarf. Außerdem lässt sich in diesem Rahmen erörtern, ob ausreichende Maßnahmen unterhalb der Schwelle des Strafrechts zum Schutz des identifizierten Interesses zur Verfügung stehen (Erforderlichkeit)33 und ob die Inkriminierung etwa eine insgesamt disproportionale Einschränkung eines Freiheitsrechts des Betroffenen mit sich brächte (Verhältnismäßigkeit i.e.S.). Auf der ersten Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung stellt sich die Frage, ob für 7 den Eingriff durch staatliche Strafandrohung ein schützenswertes Interesse besteht. In diesem Zusammenhang lassen sich Erkenntnisse aus der Rechtsgutsdiskussion nutzbar machen, so dass Rechtsgutslehre und Verhältnismäßigkeitsdiskurs in ein komplemen-

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24 Dieser Begriff dient u.a. zur Rechtfertigung der Inkriminierung auch des Besitzes „weicher“ Drogen; BVerfGE 90 145; BGH NJW 1998 168, 170. Kritik z.B. bei Nestler in: Kreuzer, Handbuch § 11 Rdn. 16, 35, 92; ders. ZStW 129 (2017) 467; Neumann FS Fischer S. 183, 190 f; Roxin Schünemann-Symposium S. 142; gegen eine Freigabe von Cannabis jedoch die Beiträge in Duttge/Holm-Hadulla/Müller/Steuer (Hrsg.), Verantwortungsvoller Umgang mit Cannabis (2017). 25 Zu diesem Begriff Fischer Öffentlicher Friede und Gedankenäußerung S. 379 ff; Hörnle Grob anstößiges Verhalten S. 90 ff; Stübinger FS Kargl S. 573, 580 ff. 26 BVerfGE 120 224, 242: Die Befugnis des Gesetzgebers kann nicht „unter Berufung auf angeblich vorfindliche oder durch Instanzenjenseits des Gesetzgebers ‚anerkannte‘ Rechtsgüter eingeengt werden“. Krit. hierzu Jäger SK Vor § 1 Rdn. 11. 27 Stuckenberg GA 2011 653, 657; ders. ZStW 129 (2017) 349, 359 f. Auf die außerstrafrechtliche Determination von „Rechtsgütern“ weisen auch Frisch in Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Rechtsgutstheorie S. 220 ff und Lagodny Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte S. 147 hin. Zwar kommt der Begriff „Rechtsgut“ in § 34 Abs. 1 vor, aber er wird dort jedenfalls nicht in „systemkritischem“ Sinne verwendet; vgl. Dubber ZStW 117 (2005) 513. 28 Kubiciel JZ 2018 171, 173. Zum bisher sehr begrenzten „Erfolg“ rechtsgutsbezogener Gesetzgebungskritik Frisch FS Stree/Wessels S. 72 f; ders. NStZ 2016 16, 22 f; and. Hassemer/Neumann NK Vor § 1 Rdn. 119a f. 29 Appel Verfassung und Strafe S. 357 ff, 389; eingehend Kaspar Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz S. 351 ff. 30 Appel Verfassung und Strafe S. 377 ff; Hilgendorf NK 2010 125, 129; ders. Handbuch des Strafrechts Bd. 1 S. 791, 828 f; Koriath GA 1999 561, 580; Maas NStZ 2015 205, 206; Romano FS Roxin 2011, 155, 159 f. 31 Überblick bei Hilgendorf Handbuch des Strafrechts Bd. 1 S. 791, 808 ff. 32 S. etwa die eingehende verfassungsrechtliche Analyse der Legitimität von § 89a in BGHSt 59 218, 225 ff. 33 S. dazu Jäger SK Vor § 1 Rdn. 24; Jahn/Brodowski ZStW 129 (2017) 363, 377 ff (die ein „Grundrecht auf Freiheit von Sanktionierung“ postulieren, dessen Einschränkung durch Strafnormen dem Maßstab der Erforderlichkeit genügen müsse). AA Roxin AT I § 2 Rdn. 101, der das auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gestützte Prinzip der Subsidiarität des Strafrechts wegen der breiten Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers nur als „kriminalpolitisches Postulat“ ansieht; krit. zur Leistungsfähigkeit des Verfassungsrechts auch Swoboda ZStW 122 (2010) 24, 44 ff.

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tär-harmonisches Verhältnis gebracht werden können.34 Lässt sich nicht feststellen, dass ein Verhalten ein schutzwürdiges Interesse gefährdet oder beeinträchtigt (z.B. bei konsensualen homosexuellen Beziehungen oder wenn der „Täter“ ausschließlich sein eigenes Vermögen in unvernünftiger Weise verschleudert), so darf dieses Verhalten schon aus verfassungsrechtlichen Erwägungen nicht unter Strafe gestellt werden.35 Problematisch ist die Androhung von Kriminalstrafe unter diesem Aspekt, wenn nur 8 Verletzungen moralischer Standards36 oder anstößige Verhaltensweisen in Frage stehen.37 In diesem Zusammenhang ist intensiv die Frage diskutiert worden, ob der Staat den konsentierten Beischlaf zwischen erwachsenen leiblichen Geschwistern unter Strafe stellen darf (§ 173 Abs. 2 Satz 2). Das BVerfG hat diese Frage mehrheitlich bejaht,38 konnte jedoch letztlich nur die moralische Missbilligung des Inzests durch viele Menschen als Legitimationsgrund finden.39 Das Interesse, von der Vorstellung verschont zu bleiben, dass „so etwas“ ungestraft geschehen könne, ist aber kein hinreichender Grund für die mit der Inkriminierung eines Verhaltens verbundene starke Einschränkung der individuellen Freiheit.40 In anderen Fällen kann allerdings ein „anstößiges“ Verhalten die Freiheit der betroffenen Menschen in strafwürdiger Weise beeinträchtigen, etwa wenn der Täter in die Privatsphäre eines Anderen eindringt, ohne dass der Betroffene der Konfrontation mit dem Täter leicht ausweichen kann, oder wenn der Täter durch sozial generell missbilligtes Verhalten andere Menschen gezielt in ihren Gefühlen (z.B. Schamgefühl, Mitgefühl mit Tieren) verletzt.41 Mit dieser Erwägung lässt sich etwa die Strafbarkeit

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34 Ebenso Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 2 Rdn. 17 f; Neumann FS Fischer S. 183, 195 f; Roxin GA 2013 433, 451 f; Sternberg-Lieben FS Paeffgen S. 31, 37 f; aA Stuckenberg GA 2011 653, 656 (Einbindung der Rechtsgutslehre in die Verhältnismäßigkeitsprüfung „entweder verfassungsrechtlich unzulässig oder unergiebig“); eingehend zum Verhältnis zwischen Verfassungsrecht und Rechtgutslehre Engländer ZStW 127 (2015) 616, 624 ff (der einen eigenständigen Beitrag des Rechtsgutsbegriffs verneint). 35 Zutr. Roxin FS Hassemer S. 573, 585. Verschiedene Grenzfälle „paternalistisch“ geprägter Strafnormen werden behandelt in von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Paternalismus im Strafrecht. 36 Zu der schon bei Kant begründeten Trennung von (Straf-)Rechtswidrigkeit und Moralwidrigkeit Hilgendorf Handbuch des Strafrechts Bd. 1 S. 3, 12 ff; Kühl Die Bedeutung der Rechtsphilosophie S. 35 ff; ders. FS Lampe S. 439, 453 ff. 37 Hierzu eingehend Hörnle Grob anstößiges Verhalten S. 91 ff; Wohlers FS Amelung 129, 139 ff (der zu Recht auf das Fehlen gemeinsamer Wert- und Moralvorstellungen in pluralistischen säkularen Gesellschaften hinweist und deshalb für eine weitgehende Straflosigkeit solcher Verhaltensweisen eintritt). Zur parallelen Diskussion in der anglo-amerikanischen Literatur („offence principle“) s. von Hirsch in Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Rechtsgutstheorie S. 13, 22 ff; Seher ebda. S. 39 ff; von Hirsch/Simester (Hrsg.) Incivilities. 38 BVerfGE 120 224; in Bezug auf Art. 8 EMRK bestätigt in EGMR, Stübing v. Germany, Nr. 43547/08, Urt. v. 12.4.2012, NJW 2013 215. Zustimmend zu beiden Entscheidungen Kubiciel ZIS 2012 282, der den berechtigten Kern des Inzestverbots im Schutz der Familie sieht. 39 BVerfGE 120 224, 248 („Vielmehr rechtfertigt sich die angegriffene Strafnorm in der Zusammenfassung nachvollziehbarer Strafzwecke vor dem Hintergrund einer kulturhistorisch begründeten, nach wie vor wirkkräftigen gesellschaftlichen Überzeugungvon der Strafwürdigkeit des Inzestes“). Zust. Androulakis FS Hassemer S. 271, 283; Volk FS Roxin 2011, 215, 219 f; gegen sie Roxin GA 2013 433, 445 f. 40 Ebenso die abw. Ansicht des Richters Hassemer BVerfGE 120 224, 255 ff; ferner Amelung Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft S. 171 f; Fischer § 173 Rdn. 7; Hörnle Grob anstößiges Verhalten S. 452 ff; dies. NJW 2008 2085, 2088; Jäger SK Vor § 1 Rdn. 20; Jung FS Leferenz S. 311; Paeffgen FS Wolter S. 125, 152 ff; Ritscher MK § 173 Rdn. 6 f ; Roxin StV 2009 544, 548 f; zu weiteren Problemen der Entscheidung Krauß FS Hassemer S. 423. 41 Hörnle Grob anstößiges Verhalten S. 147 ff; dies. in Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Rechtsgutstheorie S. 275 ff; ähnlich Jakobs FS Saito S. 26 f. Roxin Schünemann-Symposium S. 141 erkennt eine Strafwürdigkeit nur bei Hinzutreten eines Bedrohungsgefühls für das Opfer an. Näher zu den Voraussetzungen einer Strafbarkeit für „Anstoß erregendes“ Verhalten Simester/von Hirsch Crimes, Harms and Wrongs S. 91 ff in Auseinandersetzung mit Feinberg The Moral Limits of the Criminal Law Bd. 2.

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des Exhibitionismus (§ 183)42 und der Tierquälerei (§ 17 TierschutzG)43 verteidigen. Die Strafbarkeit des Leugnens oder Verharmlosens nationalsozialistischer Gewalttaten (§ 130 Abs. 3) ist trotz Fehlens eines „greifbaren“ Rechtsguts insoweit zu rechtfertigen, als der Täter unter dem Deckmantel einer (falschen) Behauptung über historische Geschehnisse die damaligen Verbrechen billigt oder den Opfern bewusste Lügen vorwirft.44 9

5. Im Einklang mit der Idee, dass das Strafrecht den Bestand schützenswerter Güter sichern soll, setzen viele Straftatbestände einen „Erfolg“ in dem Sinne voraus, dass eine Veränderung in der Außenwelt eintritt, die das Schutzgut in negativer Weise berührt. So ist z.B. wegen Totschlags (§ 212) nur strafbar, wer das Leben eines Anderen nicht nur angreift, sondern auch tatsächlich vorzeitig beendet; und die Strafbarkeit wegen Betrugs (§ 263) setzt neben einer Täuschung auch den Eintritt eines Vermögensschadens bei dem Opfer voraus. Andere Strafnormen, wie z.B. die Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315c), erfordern die konkrete Gefährdung eines geschützten Gutes (dort von Leib oder Leben oder einer fremden Sache von bedeutendem Wert). Eine zunehmende Zahl von Straftatbeständen lässt es dagegen ausreichen, dass der Täter eine feststellbare physische Veränderung in der Außenwelt bewirkt;45 sein Verhalten braucht jedoch das vom Tatbestand geschützte Interesse nicht (in nachweisbarer Weise) nachteilig zu berühren. Das inkriminierte Verhalten ist allein deshalb verboten, weil es erfahrungsgemäß, eventuell im Zusammenwirken mit ähnlichen Verhaltensweisen Anderer, leicht zu einer Beeinträchtigung des geschützten Interesses führen kann (Straftaten mit abstrakter Gefährlichkeit).46 Eine solche Straftat ist etwa die Trunkenheit im Verkehr (§ 316), bei der Leben, Gesundheit oder Eigentum anderer Verkehrsteilnehmer weder konkret gefährdet noch tatsächlich in Mitleidenschaft gezogen werden müssen; das dort beschriebene Verhalten (Führen eines Fahrzeugs in alkoholisiertem Zustand) kann aber erfahrungsgemäß zu Beeinträchtigungen dieser Interessen führen. Ein anderes Beispiel ist § 89a, der Verhaltensweisen unter Strafe stellt, die – wie das Ausreisen in einen anderen Staat, um sich dort im Umgang mit Schusswaffen oder Sprengstoff unterweisen zu lassen – noch weit im Vorfeld der vom Täter letztlich ins Auge gefassten staatsgefährdenden Handlung liegen.47 Inwieweit der Gesetzgeber berechtigt ist oder gut daran tut, von diesem Normtyp vielfach, und auch im Hinblick auf weniger elementare Schutzgüter, Gebrauch zu machen, ist heftig umstritten48 – dem Ausbau des Interessenschutzes in das Vorfeld tatsächlicher Beeinträchtigungen korrespondiert eine Beschneidung der Individualfreiheit durch ein wachsendes Netz aus strafbewehrten Verhaltensverboten.49 Man kann auf sol-

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42 Hörnle MK § 183 Rdn. 1; Sch/Schröder/Eisele § 183 Rdn. 1; Wolters SK § 183 Rdn. 2; krit. Weigend ZStW 129 (2017) 513, 519 ff. 43 Andere Ansätze bei Greco FS Amelung S. 3, 13 f. (Schutz der Tiere vor Fremdbestimmung), Hassemer/Neumann NK Vor § 1 Rdn. 119e (auf Empathie gegründete Solidarität mit anderen Lebewesen) und Wohlers FS Amelung 129, 141 f (soziale Folgewirkungen einer Abschaffung der Strafbarkeit). 44 Fischer § 130 Rdn. 2a, 24a ff; ähnlich Maurach/Schroeder/Maiwald BT II § 60 Rdn. 64. Andere Begründungsansätze bei Jäger SK Vor § 1 Rdn. 20; Roxin Schünemann-Symposium S. 142 f; ders. GA 2013 433, 442; Sch/Schröder/Sternberg-Lieben/Schittenhelm § 130 Rdn. 1a. 45 Darauf weist mit Recht Walter ZStW 116 (2004) 555, 574 ff hin. 46 Dazu Anastosopoulou Deliktstypen S. 63 ff. 47 Die Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung bejaht BGHSt 59 218. 48 S. dazu Hefendehl Kollektive Rechtsgüter S. 61 ff; Sch/Schröder/Heine/Bosch Vor § 306a Rdn. 5 ff. 49 Die Strafwürdigkeit abstrakter Gefährdungsdelikte begründet Kindhäuser FS Krey S. 249, 262 mit der Beeinträchtigung der Handlungsfreiheit durch die Schaffung abstrakter Gefahren. Kritisch gegenüber abstrakten Gefährdungsdelikten Prittwitz Strafrecht und Risiko S. 236 ff; Herzog Gesellschaftliche Unsicherheit und strafrechtliche Daseinsvorsorge S. 58 ff; zusammenfassend zu der Problematik Wohlers Deliktstypen des Präventionsstrafrechts S. 281 ff.

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che Regelungen nicht generell verzichten; der Gesetzgeber sollte sie jedoch nur dann verwenden, wenn wichtige Interessen so sensibel sind, dass schon Handlungen, die nur in die Nähe einer Gefährdung kommen, mittels der scharfen Waffe des Strafrechts unterbunden werden müssen.50 II. Materien und Rechtsquellen des Strafrechts Schrifttum Arloth/Krä Strafvollzugsgesetze Bund und Länder (StVollzG), 4. Aufl. (2017); Feest/Lesting/Lindemann Strafvollzugsgesetze, 7. Aufl. (2017); Kaspar Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2014); Kudlich Grundrechtsorientierte Auslegung im Strafrecht, JZ 2003 127; Kuhlen Die verfassungskonforme Auslegung von Strafgesetzen (2006); Lagodny Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996); Laubenthal/Nestler Strafvollstreckung, 2. Aufl. (2018); Laubenthal/Nestler/Neubacher/ Verrel Strafvollzugsgesetze, 12. Aufl. (2015); Röttle/Wagner Strafvollstreckung, 8. Aufl. (2009); Tiedemann Verfassungsrecht und Strafrecht (1991); Weber Die Überspannung der staatlichen Bußgeldgewalt, ZStW 92 (1980) 313; Weigend Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Grenze staatlicher Strafgewalt, Festschrift Hirsch (1999) 917; Wolter Verfassungsrecht im Strafprozeß- und Strafrechtssystem, NStZ 1993 1.

1. Das materielle Strafrecht beschreibt die verbotenen und mit Kriminalstrafe be- 10 drohten Verhaltensweisen, wie z.B. Mord (§ 211), Diebstahl (§ 242), Betrug (§ 263) und Fahren ohne Fahrerlaubnis (§ 21 StVG). Es bestimmt ferner die Rechtsfolgen der Straftat (Strafen, Maßregeln und sonstige Sanktionen; s. Rdn. 57 ff) sowie Grundsätze für die Strafzumessung (§ 46). Der Allgemeine Teil des Strafgesetzbuchs enthält darüber hinaus Regeln, die für alle Straftaten gleichermaßen gelten, z.B. über den Versuch (§§ 22 ff), die Teilnahme mehrerer Personen an einer Tat (§§ 25 ff) sowie die Rechtfertigung und Entschuldigung von normalerweise strafbarem Verhalten (§§ 32 ff). 2. Der Staat darf eine Straftat nur sanktionieren, wenn der Täter zuvor in einem ord- 11 nungsgemäßen Verfahren verurteilt worden ist (nulla poena sine processu). In einem weiteren Sinne gehört zum Strafrecht daher auch das Strafverfahrensrecht. Dieses Rechtsgebiet, das im Wesentlichen in der Strafprozessordnung und im Gerichtsverfassungsgesetz normiert ist, bestimmt die Voraussetzungen, unter denen jemand wegen einer begangenen Straftat verurteilt werden kann. Im Einzelnen sind dort die Befugnisse der Strafverfolgungsorgane (Staatsanwaltschaft und Polizei) bei der Ermittlung wegen des Verdachts einer Straftat, insbesondere die Zulässigkeit von Eingriffen in Grundrechte (z.B. Untersuchungshaft, Durchsuchung), aber auch die Rechte des Beschuldigten und seines Verteidigers geregelt, ferner die Voraussetzungen der Anklageerhebung sowie der Ablauf des gerichtlichen Hauptverfahrens und der Rechtsmittelverfahren. 3. Einen selbständigen Abschnitt des Strafverfahrens, der zum Teil ebenfalls in der 12 Strafprozessordnung (§§ 449 ff StPO) geregelt ist, bildet die Strafvollstreckung.51 Die wesentlichen Fragen der Vollstreckung von Freiheitsstrafen und freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung sind in den Strafvollzugsgesetzen der Länder52

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50 Ähnlich Jäger SK Vor § 1 Rdn. 21. 51 Siehe hierzu die Spezialkommentare von Laubenthal/Nestler Strafvollstreckung und Röttle/Wagner Strafvollstreckung. Die maßgebliche Verwaltungsvorschrift ist die Strafvollstreckungsordnung v. 13.7.2011 (BAnz Nr. 112a S. 4). 52 Seit 2006 hat der Bund keine Gesetzgebungskompetenz in Bezug auf den Strafvollzug mehr. Nach Art. 125a Abs. 1 GG galt das Strafvollzugsgesetz des Bundes fort, soweit und solange die Länder keine

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geregelt.53 Für die Vollstreckung der gerichtlich verhängten Strafen ist grundsätzlich die Staatsanwaltschaft zuständig (§ 451 StPO). Im Bereich des Strafvollzugs werden jedoch alle wichtigen Entscheidungen der Vollzugsverwaltung, wenn der Gefangene dies beantragt, durch eine richterliche Instanz, die Strafvollstreckungskammer, überprüft (§§ 78a, 78b GVG i.V.m. § 109 StVollzG des Bundes). 13

4. Nach Art. 103 Abs. 2 GG ist eine Bestrafung nur zulässig, wenn die Strafbarkeit bei Begehung der Tat gesetzlich bestimmt war. Für Regelungen, die die Entziehung der Freiheit einer Person vorsehen – und dies sind alle Strafvorschriften54 –, verlangt Art. 104 Abs. 1 GG ein „förmliches Gesetz“. Damit kommen als Quellen des Strafrechts nur Parlamentsgesetze in Betracht.55 Nur wenn der parlamentarische Gesetzgeber die Verbotsmaterie in ihren wesentlichen Zügen beschrieben und auch den Strafrahmen festgelegt hat, darf er die nähere Spezifizierung und Ausgestaltung der Verbotsmaterie, wie etwa in § 329 Abs. 1 geschehen, dem Verordnungs- oder Satzungsgeber überlassen.56

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5. a) Das Grundgesetz ist in vielfacher Hinsicht für das Strafrecht von unmittelbarer Bedeutung.57 Einige fundamentale Strafrechtsnormen sind ausdrücklich im Grundgesetz formuliert. Dazu gehört vor allem der Gesetzlichkeitsgrundsatz („nullum crimen, nulla poena sine lege“) in Art. 103 Abs. 2 GG. Aus ihm ergeben sich das Erfordernis einer Festlegung der Strafbarkeit durch Gesetz, das Gebot der Bestimmtheit von Strafgesetzen,58 das Verbot analoger Anwendung von Strafgesetzen zum Nachteil des Angeklagten sowie das Verbot rückwirkender Strafbarkeitsbegründung oder Strafschärfung.59 Art. 102 GG erklärt die Todesstrafe für abgeschafft, und Art. 104 GG enthält wesentliche Rechtsgarantien für alle Fälle von Freiheitsentziehung, insbesondere durch Untersuchungshaft und Freiheitsstrafe. Aus dem Leitprinzip der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) sowie aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) wird, über die genannten ausdrücklichen Verbürgungen hinaus, der Grundsatz abgeleitet, dass Strafe nur bei schuldhaftem (d.h. dem Täter individuell zurechenbarem und vorwerfbarem) Verhalten verhängt werden60 und dass sie das Maß des verschuldeten Unrechts nicht übersteigen darf;61 außerdem muss dem Straftäter stets die Möglichkeit erhalten bleiben, nach dem Vollzug einer (auch „lebenslangen“) Freiheitsstrafe wieder in die Freiheit entlassen zu werden.62

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eigenen Gesetze für den Strafvollzug erlassen hatten. Seit 2016 ist der Vorgang der Föderalisierung des Strafvollzugsrechts abgeschlossen. Bezüglich einzelner Materien, etwa des gerichtlichen Rechtsschutzes gegen Maßnahmen im Vollzug, nehmen die Ländergesetze jedoch ausdrücklich auf das insoweit fortgeltende Strafvollzugsgesetz des Bundes Bezug. S. die Kommentierungen von Arloth/Krä; Feest/Lesting/Lindemann; Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel. 53 Zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen des Strafvollzugsrechts siehe BVerfGE 33 1; 35 202; 45 187 (lebenslange Freiheitsstrafe); 128 326 (Sicherungsverwahrung). 54 Auch der Landesgesetzgeber darf keine Strafvorschriften vorsehen, die ausschließlich Geldstrafen androhen (Art. 3 Abs. 2 Nr. 1 EGStGB). 55 BVerfGE 78 374, 382 (anders noch BVerfGE 14 174, 185); Dreier III – Schultze-Fielitz Art. 103 II Rdn. 28; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 II Rdn. 104. 56 BVerfGE 14 174, 186 f; 75 329, 342 f; 78 374, 382 f; 130 1, 43; 143 38; näher hierzu Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 II Rdn. 103 ff. 57 Überblick bei Joecks MK Vor § 1 Rdn. 16 ff; Sch/Schröder/Hecker Vor § 1 Rdn. 30 ff; Tiedemann Verfassungsrecht und Strafrecht; Wolter NStZ 1993 1. 58 S. dazu BVerfGE 126 170, 194 ff. 59 Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 II Rdn. 82 ff, 120 ff. 60 BVerfGE 20 323, 331; 80 244, 255; 86 288, 312 f; 95 96, 140 (st. Rspr.). 61 BVerfGE 6 389, 439; 54 100, 108; 105 135, 154 f. 62 BVerfGE 45 187, 240 ff; siehe aber einschränkend (kein „unabdingbarer verfassungsrechtlicher Grundsatz“) BVerfGE 113 154, 162 ff.

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b) Auch im Übrigen ergeben sich aus den im Grundgesetz gewährleisteten Grund- 15 rechten Beschränkungen der staatlichen Strafgewalt. Der Gesetzgeber darf keine Strafvorschriften erlassen, die unverhältnismäßig in den grundrechtlich geschützten Lebensbereich der Bürger eingreifen63 oder gar die Menschenwürde verletzen.64 Umgekehrt kann der Gesetzgeber verpflichtet sein, zum Schutze wichtiger Individualinteressen Strafnormen zu erlassen.65 Die Grundrechte bestimmen darüber hinaus auch die Auslegung der Strafnormen mit, da bei der Interpretation des einfachen Rechts stets die Wertentscheidungen der Verfassung zu berücksichtigen sind; eine Auslegung, durch die jene Wertentscheidungen verletzt würden, müssen die Gerichte vermeiden (verfassungskonforme Auslegung).66 In diesem Sinne hat das Bundesverfassungsgericht z.B. die Tatbestände der Nötigung (§ 240) im Falle von Sitzblockaden (BVerfGE 73 206, 233 ff), der Beleidigung (§ 185) bei politisch intendierten Meinungsäußerungen (BVerfGE 93 266, 293 ff) und der Geldwäsche (§ 261) bei Handlungen von Strafverteidigern (BVerfGE 110 226, 251 ff) einschränkend interpretiert.67 Die verfassungskonforme Auslegung darf jedoch nicht so weit gehen, dass sie mit dem Wortlaut der interpretierten Norm nicht mehr vereinbar ist.68 c) Hinsichtlich der Gesetzgebungskompetenz legt Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG fest, dass 16 der Bund über konkurrierende Zuständigkeit für das Strafrecht verfügt. Aus Art. 72 Abs. 1 und 2 GG ergibt sich, dass regelmäßig eine bundeseinheitliche Regelung erforderlich ist. Nach Art. 31 GG („Bundesrecht bricht Landesrecht“) gehen die Gesetze des Bundes solchen der Länder vor. Damit ist aber eine Strafgesetzgebung der Länder nicht ausgeschlossen, und zwar auf den Gebieten, die in die ausschließliche Landeskompetenz fallen69 oder in denen der Bund bei konkurrierender Zuständigkeit von seiner Gesetzgebungsbefugnis noch keinen Gebrauch gemacht hat. Die letztere Alternative ist allerdings dadurch eng beschränkt, dass eine Ausübung der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes auch insoweit angenommen wird, als der Bund bei der Regelung eines bestimmten Bereichs des Strafrechts Verhaltensweisen straflos gelassen hat („stillschweigend negative Regelung“).70 Daher ist es dem Landesgesetzgeber z.B. verwehrt, Handlungen im Zusammenhang mit Schwangerschaftsabbrüchen über §§ 218 ff hinaus unter Strafe zu stellen.71 Der Landesgesetzgeber darf nicht einmal eigene Strafoder Bußgeldvorschriften erlassen, die die bundesrechtlich getroffene Regelung wiederholen oder zu interpretieren versuchen (vgl. § 4 Abs. 2 EGStGB mit einer Ausnahme für landesrechtliche Bezugnahmen auf die Abgabenordnung in § 4 Abs. 3 EGStGB).72 Aus-

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63 Siehe dazu Kaspar Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz S. 100 ff, 352 ff; Weigend FS Hirsch S. 917; Wolter NStZ 1993 1, 3 ff. 64 Ein Strafgesetz, das ein Grundrecht verletzt, ist vom Bundesverfassungsgericht für nichtig zu erklären (Art. 100 Abs. 1 GG i.V.m. §§ 78, 95 Abs. 3 BVerfGG). 65 Grundlegend dazu BVerfGE 39 1, 44 ff; siehe auch Lagodny Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte S. 254 ff. 66 Vgl. Joecks MK Vor § 1 Rdn. 26; Kudlich JZ 2003 127; Kuhlen Verfassungskonforme Auslegung S. 1; Schönke/Schröder/Hecker Vor § 1 Rdn. 33. 67 Weitere Beispiele aus der Rechtsprechung BVerfGE 32 98, 109 ff; 45 187, 259 ff; BGHSt 30 105; 37 55. 68 Vgl. BGHSt 22 146, 153. 69 Vgl. BVerfGE 7 36, 41 (Verjährung bei presserechtlichen Vergehen). Nach BVerfGE 23 113, 124 f kann der Bundesgesetzgeber auf der Grundlage von Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG allerdings Strafvorschriften auch für solche Bereiche erlassen, die im Übrigen der Gesetzgebungszuständigkeit der Länder unterliegen, wie z.B. das Bauordnungsrecht. 70 Beispiele bei Joecks MK Einl. Rdn. 115; Sch/Schröder/Hecker Vor § 1 Rdn. 39 f. 71 Zutr. Sch/Schröder/Hecker Vor § 1 Rdn. 39. 72 BVerfGE 31 141, 144.

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drücklich gestattet wird den Ländern jedoch, in geringfügigen Fällen einiger Vergehen im Zusammenhang mit Feld- und Forstschutz Möglichkeiten der milderen Sanktionierung oder Straflosstellung vorzusehen (§ 4 Abs. 4 und 5 EGStGB). 17 Der Allgemeine Teil des StGB gilt nach Art. 1 Abs. 2 EGStGB auch für das bestehende und künftige Landesrecht. Ausnahmen müssen durch Bundesrecht besonders zugelassen werden. Zwei solche Vorbehalte zugunsten des Landesrechts enthält Art. 2 EGStGB. Danach dürfen die Länder bei einzelnen Straftatbeständen den räumlichen Geltungsbereich abweichend von §§ 3–7 regeln (Nr. 1) und unter besonderen Voraussetzungen Straflosigkeit vorsehen (Nr. 2). Die Sanktionsbefugnis des Landesgesetzgebers ist generell auf ein Höchstmaß von zwei Jahren Freiheitsstrafe oder Geldstrafe sowie auf die Anordnung der Einziehung beschränkt (§ 3 Abs. 1 EGStGB). 18

6. Die zentralen Materien des Strafrechts, die auch in der Praxis der Strafverfolgungsbehörden und Gerichte im Vordergrund stehen, sind im Strafgesetzbuch zusammengefasst. Daneben gibt es jedoch den nach der Zahl der Vorschriften weit überwiegenden Bereich des sog. Nebenstrafrechts.73 Dabei handelt es sich um Strafvorschriften, die in engem Zusammenhang mit anderen Rechtsmaterien stehen und deshalb in den für diese jeweils einschlägigen Gesetzen mit geregelt sind. Beispiele sind die praktisch sehr bedeutsamen Strafvorschriften im Betäubungsmittelgesetz (§§ 29 ff BtMG) und im Straßenverkehrsgesetz (§§ 21 ff StVG); aber auch zahlreiche wirtschafts- und abgabenrechtliche Gesetze enthalten Normierungen von Straftaten (z.B. §§ 399 ff AktG, §§ 82 ff GmbHG, §§ 331 ff HGB, §§ 369 ff AO, §§ 17 ff AWG, §§ 95 f AMG, §§ 58 f LFGB, §§ 19 ff KrWaffKontrG). Das Wehrstrafgesetz enthält sowohl eigene Straftaten als auch besondere Sanktionsformen (z.B. Strafarrest, § 9 Abs. 1 WStG) für Dienstvergehen von Soldaten der Bundeswehr. Nach § 1 EGStGB gelten die Regelungen des Allgemeinen Teils des StGB (§§ 1–79b) für das gesamte Strafrecht des Bundes und (vorbehaltlich ausdrücklich zugelassener Ausnahmen) der Länder. So sind etwa die Vorschriften des StGB über den räumlichen Anwendungsbereich des deutschen Strafrechts (§§ 3–7)74 sowie über Notwehr und Notstand (§§ 32–35) auch auf Fälle anwendbar, die von einer Vorschrift des sog. Nebenstrafrechts erfasst sind.75

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7. Seit 1952 gibt es mit dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (aktuelle Fassung von 1987)76 eine zusammenfassende Regelung für ahndungswürdige Verstöße, die als weniger gravierend bewertet werden als die im Strafrecht geregelten schweren Verletzungen individueller und kollektiver Interessen. Ordnungswidrigkeiten werden von Verwaltungsbehörden geahndet (§ 35 OWiG). Da die Verhängung von Strafen nach Art. 92 GG dem Richter vorbehalten ist, müssen sich die Geldbußen des Ordnungswidrigkeitenrechts von Strafen substantiell unterscheiden (vgl. BVerfGE 22 49, 80).77 Den „aliud“-Charakter der Ordnungswidrigkeit zu postulieren ist leicht, einen materiellen

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73 Kommentierung der wichtigsten Vorschriften in dem umfangreichen Loseblatt-Werk Erbs/Kohlhaas/ Ambs. 74 Insoweit lässt allerdings § 2 EGStGB für das Landesstrafrecht Ausnahmen zu. 75 Die Regel des § 1 EGStGB dürfte trotz des nicht eindeutigen Wortlauts auch auf ungeschriebene Rechtsregeln anwendbar sein, die – wie etwa die rechtfertigende Wirkung einer Einwilligung des dispositionsberechtigten Verletzten – gemeinhin dem Allgemeinen Teil des Strafrechts zugerechnet werden. 76 Zur Geschichte des Ordnungswidrigkeitenrechts eingehend Gürtler/Seitz/Bauer in: Göhler Einl. Rdn. 1 ff; Mitsch KK OWiG Einl. Rdn. 31 ff. 77 Zutr. Gürtler/Seitz/Bauer in: Göhler Vor § 1 Rdn. 6 ff; Rogall KK OWiG Vor § 1 Rdn. 2.

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Unterschied zur Straftat zu beschreiben dagegen fast unmöglich,78 zumal es eine Reihe von Ordnungswidrigkeiten gibt, deren Unrechtsgewicht ersichtlich weit größer ist als dasjenige mancher Straftaten (z.B. die Kartellordnungswidrigkeiten nach § 81 GWB). Man kann allenfalls, wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 27 18, 33), einen Rückschluss vom Charakter der Sanktion her versuchen: Die Geldbuße des Ordnungswidrigkeitenrechts ist zwar als fühlbare „Pflichtenmahnung“ konzipiert, aber es fehlt ihr der Ausdruck ethischer Missbilligung, der für die Kriminalstrafe charakteristisch ist. Wenn dies die Konzeption des Gesetzgebers bei der Einführung der Ordnungswidrigkeiten war, dann folgt daraus, dass Ordnungswidrigkeiten – ungeachtet der inhaltlich neutralen Definition in § 1 Abs. 1 OWiG79 – nur solche Verstöße sind, die nicht der Bestrafung, sondern eben nur einer „Pflichtenmahnung“ bedürfen, da sie typischerweise keine gravierende Verletzung der Normen des Soziallebens enthalten. An diese Unterscheidung ist auch der Gesetzgeber80 gebunden. Zwar besitzt er ei- 20 nen breiten Ermessensspielraum hinsichtlich der Einstufung von Verstößen als Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten;81 aber der „Kernbereich des Strafrechts“ bleibt dem Ordnungswidrigkeitenrecht verschlossen,82 und umgekehrt verbietet es der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Bagatellverstöße als Straftaten auszugestalten. Das (normativ postulierte) Vorliegen unterschiedlicher Arten von Verstößen und Sanktionen schließt freilich nicht aus, dass der Gesetzgeber einzelne Verhaltensweisen nach dem Quantum der Beeinträchtigung des Soziallebens dem Strafrecht oder dem Ordnungswidrigkeitenrecht zuweisen kann. Häufig stuft der Gesetzgeber als Ordnungswidrigkeiten solche Verhaltensweisen ein, die zwar, wie z.B. Fehlhandlungen im Straßenverkehr, „abstrakt“ gefährlich und deshalb verboten sind, die aber noch keine Verletzung oder konkrete Gefährdung fremder Interessen bewirkt haben.83 Teilweise richtet sich die Abgrenzung zwischen Straftat und Ordnungswidrigkeit danach, ob der Täter vorsätzlich oder leichtfertig handelt (siehe die Straftaten § 370 AO einerseits, die Ordnungswidrigkeiten § 378 AO andererseits), teilweise auch danach, ob der Täter ein und denselben Verstoß nur einmal begeht oder ihn „beharrlich“ wiederholt (vgl. § 120 OWiG einerseits, § 184 f StGB andererseits). Eine wesentliche Besonderheit des Ordnungswidrigkeitenrechts gegenüber dem 21 Strafrecht liegt auf der Ebene des Verfahrens: Während die Verurteilung wegen einer Straftat stets die Entscheidung eines Gerichts voraussetzt, werden Ordnungswidrigkeiten prinzipiell durch Verwaltungsbehörden mittels eines Bußgeldbescheids geahndet; nur wenn der Betroffene dagegen Einspruch einlegt, gelangt die Sache vor ein Strafgericht (§§ 67 ff OWiG).84 In materiellrechtlicher Hinsicht lehnen sich die Regelungen des Ord-

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78 Für eine rein quantitative Unterscheidung z.B. Hirsch ZStW 107 (1995) 285, 289 f; Weber ZStW 92 (1980) 313, 316 ff. Mitsch KK OWiG Einl Rdn. 115 möchte (nur) unmittelbare Beeinträchtigungen von Individualrechtsgütern generell aus dem Bereich der Ordnungswidrigkeiten ausnehmen; damit ist zwar ein qualitatives Kriterium gewonnen, für alle anderen Bereiche bleibt die Frage der Abgrenzung jedoch offen. 79 Nach § 1 Abs. 1 OWiG ist Ordnungswidrigkeit eine Handlung, „die den Tatbestand eines Gesetzes verwirklicht, das die Ahndung mit einer Geldbuße zulässt“. 80 Die h.M. interpretiert Art. 74 Nr. 1 GG in dem Sinne, dass das „Strafrecht“ auch das Ordnungswidrigkeitenrecht umfasst, so dass dem Bund die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit auch für dieses Rechtsgebiet zusteht (BVerfGE 27 18, 32 f; Tiedemann JZ 1968 667 m.w.N.). 81 BVerfGE 27 18, 30; 45 272, 289; 51 60, 74. 82 BVerfGE 22 49, 80; 27 18, 28; 45 272, 289; Jakobs AT 3/10; Mitsch KK OWiG Einl. Rdn. 112. 83 Mitsch OWiG S. 17. 84 Im Ordnungswidrigkeitenverfahren gelten die wesentlichen Grundsätze des Strafverfahrens. Allerdings sind die Eingriffsmöglichkeiten angesichts der geringeren Schwere der drohenden Sanktionen

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nungswidrigkeitenrechts (§§ 3–34 OWiG) eng an den Allgemeinen Teil des StGB an, doch gibt es auch charakteristische Abweichungen, wie die grundsätzliche Gleichbehandlung von Tätern und Teilnehmern als „Beteiligte“ (§ 14 OWiG). Die wesentliche Sanktion des Ordnungswidrigkeitenrechts ist die Geldbuße, die als Geldsummen-Sanktion und nicht nach Tagessätzen (vgl. § 40 StGB) zugemessen wird (§ 17 OWiG). III. Entstehung und Reform des Strafgesetzbuchs Schrifttum Ambos Nationalsozialistisches Strafrecht (2019); Aschrott/von Liszt Die Reform des RStGB, Bd. I, II (1910); Baumann Kleine Streitschriften zur Strafrechtsreform (1963); ders. Konsequenzen aus einer Reformarbeit usw., Gedächtnisschrift Radbruch (1968) 337; Bosch Der strafrechtliche Schutz vor Foto-HandyVoyeuren usw., JZ 2005 377; Buschmann Textbuch zur Strafrechtsgeschichte der Neuzeit (1998); Dencker/Struensee/Nelles/Stein Einführung in das 6. Strafrechtsreformgesetz 1998 (1998); Dreher Das dritte Strafrechtsänderungsgesetz – Materielles Strafrecht, JZ 1953 421; Duttge/Hörnle/Renzikowski Das Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, NJW 2004 1065; Frommel Präventionsmodelle in der deutschen Strafzweck-Diskussion (1987); Gallas Der dogmatische Teil des AE, ZStW 80 (1968) 1; Godau-Schüttke Die gescheiterten Reformen des Straf- und Strafprozeßrechts in der Weimarer Republik, JR 1999 55; Göppinger Kriminologie, 6. Aufl. (2008); Gribbohm Nationalsozialismus und Strafrechtspraxis, NJW 1988 2842; Gruchmann Justiz im Dritten Reich 1933–1940 (1988); Grünwald Das Rechtsfolgensystem des AE, ZStW 80 (1968) 89; Heinitz/Würtenberger/Peters Gedanken zur Strafrechtsreform (1965); Herbert Grenzen des Strafrechts bei der Terrorismusgesetzgebung (2014); Hoven Auslandsbestechung (2018); Hoven/Weigend „Nein heißt Nein“ – und viele Fragen offen, JZ 2017 182; Jescheck Die weltanschaulichen und politischen Grundlagen des E 1962, ZStW 75 (1963) 1; ders. Die kriminalpolitische Konzeption des AE, ZStW 80 (1968) 54; ders. Strafrechtsreform in Deutschland, SchwZStr 100 (1983) 1; ders./Grebing (Hrsg.) Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht (1978); Kargl Zur Differenz zwischen Wort und Bild usw., ZStW 119 (2005) 324; Armin Kaufmann Die Dogmatik im AE, ZStW 80 (1968) 34; Koch Deutsche Strafrechtsgeschichte seit dem Bayerischen Strafgesetzbuch von 1813 bis 1871, in Hilgendorf/Kudlich/Valerius, Handbuch des Strafrechts Bd. 1 (2019) 297; ders. Entstehung und Entwicklung des Strafgesetzbuchs von 1871, in Hilgendorf/Kudlich/Valerius, Handbuch des Strafrechts Bd. 1 (2019) 361; Kubink Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel (2002); Kürzinger Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate in der Bundesrepublik Deutschland, in Jescheck (Hrsg.) Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im deutschen und ausländischen Recht Bd. III (1984) 1737; Lange Das dritte Strafrechtsänderungsgesetz, NJW 1953 1161; Lang-Hinrichsen Die rechtsvergleichenden Vorarbeiten für die große Strafrechtsreform, ZStW 66 (1954) 483; von Liszt Der Zweckgedanke im Strafrecht, ZStW 3 (1883) 1; ders./Kahl Eine Vorfrage zur Revision des Strafgesetzbuches, DJZ 7 (1902) 301; Marxen Das Problem der Kontinuität in der neueren deutschen Strafrechtsgeschichte (1990); H. Mayer Strafrechtsreform für heute und morgen (1962); Mitsch Vorbeugende Strafbarkeit zur Abwehr terroristischer Gewalttaten, NJW 2015 509; Naucke Die Kriminalpolitik des Marburger Programms, ZStW 94 (1982) 525; ders. „Schulenstreit“? Festschrift Hassemer (2010) 559; Ostendorf (Hrsg.) Dokumentation des NS-Strafrechts (2000); Peters/Lang-Hinrichsen Grundfragen der Strafrechtsreform (1959); Renzikowski Die Reform der Straftatbestände gegen den Menschenhandel, JZ 2005 879; ders. Nein! – Das neue Sexualstrafrecht, NJW 2016 3553; Roxin Zur Entwicklung der Strafrechtsreform seit den Alternativ-Entwürfen, JA 1980 545; Rüping/Jerouschek Grundriß der Strafrechtsgeschichte, 4. Aufl. (2002); Eb. Schmidt Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. (1965); Schubert/Regge (Hrsg.) Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts, Abt. 2 (1933– 1939) Bd. 1, 2 (1988–1990); Schultz Kriminalpolitische Bemerkungen zum Entwurf eines StGB, JZ 1966 113; Seidl Der Streit um den Strafzweck zur Zeit der Weimarer Republik (1974); Vogel Einflüsse des Nationalsozialismus auf das Strafrecht (2004); M. Vormbaum Das Strafrecht der Deutschen Demokratischen Republik, in Hilgendorf/Kudlich/Valerius (Hrsg.), Handbuch des Strafrechts Bd. 1 (2019) 437; Th. Vormbaum Strafjus-

_____ beschränkt (vgl. § 46 OWiG), andererseits die Regeln über die Beweisaufnahme im gerichtlichen Verfahren stark vereinfacht (§§ 77–78 OWiG).

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tiz im Nationalsozialismus, GA 1998 1; ders. Entwicklungsphasen des Strafgesetzbuchs, in Hilgendorf/Kudlich/Valerius, Handbuch des Strafrechts Bd. 1 (2019) 391; Werle Zur Reform des Strafrechts in der NS-Zeit, NJW 1988 2865; ders. Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich (1989); Zöller Terrorismusstrafrecht (2009); ders. Zehn Jahre 11. September, StV 2012 364.

1. Das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 steht in der Tradition des preußischen 22 Strafrechts.85 Im Gesetzgebungsstil des aufgeklärten Absolutismus schufen Carl Gottlieb Svarez und Ernst Ferdinand Klein den strafrechtlichen Teil des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten von 1794 (II. Teil, 20. Titel). Schon 1826 begannen die Arbeiten an der Reform des Strafrechts des ALR im preußischen Gesetzgebungsministerium, zuletzt unter der Leitung von Savignys als Justizminister. Das Ergebnis war das vom Zeitgeist der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geprägte Strafgesetzbuch für die preußischen Staaten von 1851.86 Gleichzeitig dachte man jedoch schon weiter: Bereits im Jahre 1849 wurde im preußischen Justizministerium der Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs ausgearbeitet. Nach der Neuordnung der politischen Verhältnisse im Jahre 1867 galten auf dem Ge- 23 biet des Norddeutschen Bundes zunächst acht verschiedene Strafrechtssysteme, darunter in Mecklenburg, Bremen und Schaumburg-Lippe noch gemeines Recht auf der Grundlage der Peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532. Nachdem im Jahre 1867 die Gesetzgebungskompetenz des Norddeutschen Bundes auf das Strafrecht ausgedehnt worden war, entstand der Entwurf für ein StGB nach dem Vorbild des preußischen StGB von 1851.87 Am 31.5.1870 wurde das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund verkündet (BGBl. S. 1951).88 Nach dem Beitritt der süddeutschen Staaten wurde das StGB des Norddeutschen Bundes durch das Gesetz über die Reichsverfassung vom 16.4.1871 (BGBl. S. 63) zum Reichsgesetz erklärt (§ 2 Abs. 2).89 Es erhielt die Bezeichnung „Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich“. 2. Das Reichsstrafgesetzbuch, das noch wesentlich von dem autoritären Geist des 24 französischen Code pénal von 1810 und dem Gedanken strenger Vergeltung geprägt war, erwies sich schon bald als reformbedürftig, und zwar nicht nur im Hinblick auf die raschen Veränderungen der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse im Kaiserreich, sondern auch wegen der Entwicklungen in Strafrechtswissenschaft und Kriminologie.90 In der Strafrechtsdogmatik verschob sich der Akzent von der starken Betonung des Unrechtserfolgs und dem damit verbundenen objektivistischen Verbrechenssystem zu einem stärker sozialethisch geprägten Verständnis der Straftat. Die Strafrechtswissenschaft der Jahrhundertwende stellte subjektive Momente einschließlich der Motive des Täters auch schon für die Beschreibung des Unrechts (und nicht erst der Schuld) in den

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85 Eingehend zur Entwicklung des Strafrechts und seiner Kodifikationen im 19. Jahrhundert Koch Handbuch des Strafrechts Bd. 1 S. 297 ff. 86 Abgedruckt bei Buschmann Textbuch zur Strafrechtsgeschichte der Neuzeit S. 538 ff. S. dazu Koch Handbuch des Strafrechts Bd. 1 S. 297, 334 ff. 87 Vgl. die Begründung des Entwurfs eines StGB für den Norddeutschen Bund (1870) S. 28. 88 Die Verabschiedung des Gesetzeswerks im Norddeutschen Bund wäre 1870 fast noch an einem Meinungsstreit über die Todesstrafe gescheitert, die zunächst im Reichstag mit großer Mehrheit abgelehnt wurde, während sie der Bundesrat als notwendig erachtete. Es bedurfte des zweimaligen Eingreifens Bismarcks in die Debatte, um in der dritten Lesung schließlich eine knappe Mehrheit für die Todesstrafe zustande zu bringen; vgl. die Reden Bismarcks zur Todesstrafe, Stenograph. Berichte über die Verh. des Reichstages des Nordd. Bundes (1870) Bd. I S. 129, 131; Bd. II S. 1122. 89 Zur Entstehungsgeschichte des RStGB eingehend Koch Handbuch des Strafrechts Bd. 1 S. 361, 365 ff. 90 Nach einem Wort Franz von Liszts in: Verhandlungen des 26. DJT (1902) Bd. I S. 262, war das RStGB „bei seiner Geburt bereits veraltet“.

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Vordergrund; sie gelangte so zur Anerkennung subjektiver Unrechtsmerkmale, zum Aufbau einer normativen Schuldlehre und zu einer Neuordnung der Rechtfertigungsund Entschuldigungsgründe.91 In der Kriminologie entstand aus verschiedenen naturwissenschaftlich, psychiatrisch und soziologisch geprägten Ansätzen ein neues Bild der Kriminalität sowohl als individuelles wie auch als soziales Phänomen.92 Die kriminologischen Theorien jener Zeit stimmten – bei allen Unterschieden im Einzelnen – darin überein, dass sie Kriminalität nicht mehr in den Kategorien individuellen moralischen Versagens, sondern als Ergebnis psychischer und/oder sozialer Fehlsteuerungen und damit als prinzipiell mit rationalen Mitteln behandelbar verstanden. Daraus ergaben sich neue Impulse für die Kriminalpolitik. Eine wesentliche Reformforderung richtete sich auf die Einschränkung der Freiheitsstrafe,93 die im Jahre 1882 noch bei 75% aller Vergehen verhängt wurde. Ganz im Sinne der damals vertretenen Differenzierung nach Tätertypen wurde einerseits Nachsicht bei Gelegenheitstätern, aber andererseits Strenge bei der Bekämpfung der Rückfallkriminalität sowie des Gewohnheits- und Berufsverbrechertums verlangt.94 Kriminogene Persönlichkeitsstörungen sollten durch psychiatrische Behandlung beseitigt, die Verfehlungen Jugendlicher mit pädagogisch orientierten Maßnahmen beantwortet werden. Diesen Forderungen der „Modernen Schule“ um Franz von Liszt stand die „Klassische Schule“ ablehnend gegenüber; ihre Hauptvertreter Karl Binding und Karl von Birkmeyer lehnten den Einsatz des Strafrechts zur Verwirklichung spezialpräventiver Zwecke ab.95 Schon in der Zeit des Kaiserreichs arbeitete man intensiv an grundlegenden Re25 formen des Strafrechts.96 Dabei gelang es, führende Vertreter der Klassischen und der Modernen Strafrechtsschule zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit zu bewegen.97 Der gemeinsame Nenner bestand im Bekenntnis zum liberalen Rechtsstaat und in der Akzeptanz der „Vereinigungstheorie“ (unten Rdn. 59), die auch die Umsetzung des Gedankens der Zweispurigkeit ermöglichte. Im Jahre 1909 legte das Reichsjustizministerium einen Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch vor, der das System der Freiheitsstrafen verbesserte, die Anpassung der Geldstrafe an die finanziellen Verhältnisse des Täters sowie bereits die bedingte Strafaussetzung, sichernde Maßregeln und die Entschädigung des Verletzten vorsah.98 Stärker auf der Linie der Modernen Schule lag der von den Professoren Goldschmidt, Kahl, von Lilienthal und von Liszt ausgearbeitete Gegenentwurf von 1911. Dieser Entwurf führte die Schutzaufsicht als Vorläuferin der Bewährungshilfe ein, enthielt Vorschriften über den unterschiedlichen Vollzug der verschiedenen Arten der Freiheitsstrafe und baute das zweispurige System mit den sichernden Maßregeln aus.99 Auf der Grundlage beider Entwürfe legte eine Kommission im Reichsjustizamt 1913 den Kommissionsentwurf vor, der bereits einen besonderen Abschnitt über die Maßregeln der Besserung und Sicherung mit der Sicherungsverwah-

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91 Näher Jescheck/Weigend AT § 22 III. 92 Siehe dazu Bock, in Göppinger Kriminologie S. 10 ff. 93 Zur Geschichte der Freiheitsstrafe Kürzinger Die Freiheitsstrafe S. 1741 ff. 94 Grundlegend dazu von Liszt ZStW 3 (1883) 1. Zur Kritik siehe z.B. Naucke ZStW 94 (1982) 525, 539 ff. 95 Auch die Klassische Schule vertrat allerdings kein zweckgelöstes, „absolutes“ Modell der Bestrafung, sondern setzte auf effektive Verbrechensbekämpfung durch vergeltende Strafe; s. Naucke FS Hassemer S. 559. Eingehend zum „Schulenstreit“ Frommel Präventionsmodelle S. 169 ff; Kubink Strafen und ihre Alternativen S. 65 ff. 96 Umfassend zur Geschichte der Reform des Strafgesetzbuchs Vormbaum, in Hilgendorf/Kudlich/Valerius, Handbuch des Strafrechts Bd. 1 S. 391, 403 ff. 97 Siehe die gemeinsame Erklärung von Franz von Liszt und Wilhelm Kahl in DJZ 1902 301. 98 Zum Vorentwurf Aschrott/von Liszt Reform des RStGB. 99 Zum Sanktionensystem beider Entwürfe eingehend Kubink Strafen und ihre Alternativen S. 148 ff.

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rung als Kernstück enthielt. Wegen des Ausbruchs des Weltkriegs wurde der Kommissionsentwurf jedoch nicht mehr in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht. 3. In der Zeit der Weimarer Republik100 gewann die Moderne Schule an Einfluss auf 26 die öffentliche Meinung und auch auf die praktische Politik.101 Der Entwurf 1919 erweiterte den Anwendungsbereich der schon in früheren Entwürfen vorgesehenen bedingten Strafaussetzung und sah die Priorität der Geldstrafe bei wahlweiser Androhung von Freiheits- und Geldstrafe vor. Einen Höhepunkt im Sinne der Reformvorstellungen der Modernen Schule bildete der Entwurf 1922, dessen Begründung von Gustav Radbruch als Reichsjustizminister stammt. Der E 1922 beseitigte die Todesstrafe, ersetzte die Zuchthausstrafe durch „strenges Gefängnis“ als ersten Schritt zur Einheitsfreiheitsstrafe und schaffte alle Ehrenstrafen ab. Die Belastung für den Täter aufgrund der Zweispurigkeit der staatlichen Sanktionierung milderte der Entwurf durch Einführung des „Vikariierens“ ab. Die Eliminierung der bloßen „Ordnungswidrigkeiten“ aus dem Strafrecht ist in der Begründung des E 1922 bereits als Fernziel genannt. Die Reformideen Radbruchs fanden sich dann zwar noch in dem Amtlichen Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs von 1925102 wieder, konnten sich aber letztlich nicht durchsetzen. Sie wurden jedoch in der Strafrechtsreform von 1969 wieder aufgenommen und weitgehend verwirklicht. Die späteren Entwürfe der Weimarer Zeit stellten gegenüber Radbruchs großem Wurf eher Rückschritte dar.103 So beschränkte der Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs von 1927 die Möglichkeit des bedingten Straferlasses auf Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten; die Anordnung von Maßregeln sollte – abgesehen von der Sicherungsverwahrung – in der Hand einer Verwaltungsbehörde liegen. Dieser Entwurf wurde 1930 zwar als „Entwurf Kahl“ in den Reichstag eingebracht, angesichts der instabilen politischen Verhältnisse hatte das Reformwerk aber keine Aussicht auf Verabschiedung. An konkreten Reformgesetzen konnte in der Weimarer Zeit nicht viel verwirklicht 27 werden. Zu nennen sind die Geldstrafengesetze von 1921 und 1923, die den rechtlichen Anwendungsbereich der Geldstrafe erweiterten:104 Freiheitsstrafen unter drei Monaten konnten in Geldstrafen umgewandelt werden, die wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters waren bei der Bemessung der – noch als Summenstrafe verhängten – Geldstrafe zu berücksichtigen, und die Strafe konnte in Raten bezahlt werden. Wesentliche Neuerungen brachte das Jugendgerichtsgesetz von 1923 (RGBl. I 28 S. 315): Die Strafmündigkeitsgrenze wurde von 12 auf 14 Jahre heraufgesetzt, die Strafe durch Erziehungsmaßnahmen ergänzt und die Strafaussetzung zur Bewährung für Jugendliche eingeführt. Außerdem wurden die schon seit dem Jahre 1908 durch die Geschäftsverteilungspraxis geschaffenen Jugendgerichte gesetzlich verankert und das Jugendstrafverfahren den pädagogischen Erfordernissen angepasst. Zwar gab es für Erwachsene in dieser Zeit noch keine Möglichkeit der Strafaussetzung zur Bewährung, doch wurde in manchen Ländern (z.B. in Preußen und Bayern) die Zuständigkeit zur „bedingten Begnadigung“ im Jahre 1920 den erkennenden Gerichten übertragen.

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100 Die wesentlichen StGB-Entwürfe aus der Weimarer Zeit sind veröffentlicht in Schubert/Regge Quellen Abt. I Bd. 1; siehe dazu auch Godau-Schüttke JR 1999 55. 101 Eb. Schmidt Einführung S. 405 ff; Seidl Der Streit um den Strafzweck zur Zeit der Weimarer Republik. 102 Dieser Entwurf sollte die Grundlage für die Strafrechtsreform sowohl in Deutschland als auch in Österreich bilden; er ist abgedruckt bei Buschmann Textbuch zur Strafrechtsgeschichte der Neuzeit S. 615 ff. 103 Dazu Baumann GS Radbruch S. 339; Kubink Strafen und ihre Alternativen S. 177 ff. 104 Erstes Geldstrafengesetz v. 21.12.1921 (RGBl. I, S. 604); Zweites Geldstrafengesetz v. 27.4.1923 (RGBl. I, S. 254).

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4. In der Zeit nach der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus wurden manche Entwicklungslinien, die bereits in den Reformentwürfen aus der Weimarer Zeit angelegt waren, aufgenommen und, freilich in vergröberter und ideologisch radikalisierter Form, in Gesetzgebung umgesetzt.105 Das gilt etwa für die Ethisierung, Materialisierung (im Gegensatz zu dem „liberalen“ Beharren auf der formalen Seite des Gesetzlichkeitsgrundsatzes) und Subjektivierung des strafrechtlichen Unrechts. Diese Strömungen führten in der NS-Ideologie zu einem Verständnis der Straftat als „Pflichtverletzung“ und „Treubruch gegenüber der Volksgemeinschaft“, woraus sich die Forderung nach strikter Vergeltung und generalpräventiver Härte ergab.106 30 Das Gewohnheitsverbrechergesetz von 1933 (RGBl. I S. 995) schloss mit der Einführung der Zweispurigkeit an die Vorschläge früherer Strafrechtsentwürfe an. Wesentliche Teile dieses Gesetzes finden sich noch im geltenden Strafrecht wieder, insbesondere das System der Maßregeln der Besserung und Sicherung, die Strafmilderung für vermindert Zurechnungsfähige (vgl. § 21), die bloß fakultative Strafmilderung beim Versuch (§ 23 Abs. 2), die limitierte Akzessorietät der Teilnahme (vgl. §§ 26–29), die Ausgestaltung der Tötungsdelikte (insbesondere §§ 211 und 212) sowie die Strafvorschriften gegen Verkehrsunfallflucht (§ 142) und Vollrausch (vgl. § 323a). Im Einzelnen war die Gesetzgebung jener Zeit deutlich von der Ideologie des Nationalsozialismus geprägt. So wurde etwa bei der Neuformulierung der Tötungsdelikte die Lehre vom „Tätertyp“ als für die Strafbarkeit maßgebliches Element umgesetzt – die Unterscheidung zwischen „Mörder“ und „Totschläger“ in §§ 211, 212 ist verbal bis heute erhalten geblieben.107 Typisch für die Vorstellungen der Nationalsozialisten war auch die Aufhebung des Analogieverbots (RGBl. I 1935 S. 839) zugunsten einer Regelung, die eine Bestrafung auch dann ermöglichte, wenn ein Verhalten zwar nicht unter eine Strafnorm zu subsumieren war, aber „nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung“ verdiente (§ 2 Satz 1 a.F.). Während diese Regelung nach der Wiederherstellung der Demokratie zugunsten des strikten Gesetzlichkeitsgrundsatzes (Art. 103 Abs. 2 GG) aufgehoben wurde, prägt das JGG von 1943 (RGBl. I S. 635) bis heute die Struktur des Jugendstrafrechts: Durch jenes Gesetz wurde das Sanktionensystem für Jugendliche ganz vom Erwachsenenstrafrecht abgetrennt, und die Rechtsfolgen der Jugendstraftat wurden in Erziehungsmaßnahmen, Zuchtmittel (vor allem Jugendarrest) und Jugendgefängnis gegliedert. Die NS-Ideologen hatten noch wesentlich weitergehende Vorstellungen für eine „Re31 form“ des Strafrechts. Schon im Jahre 1933 wurde eine amtliche Strafrechtskommission unter Leitung des Reichsjustizministers Gürtner eingesetzt, der auch die Strafrechtslehrer Kohlrausch, Mezger und Nagler angehörten. Der von der Kommission vorgelegte Entwurf 1936108 wurde von der Reichsregierung nicht in Kraft gesetzt. Die Reform-Arbeit wurde jedoch noch während des Krieges fortgesetzt und führte 1944 zu dem Entwurf eines RStGB.109 Während dieser Entwurf nicht mehr Gesetz wurde, verwirklichte der nationalsozialistische Gesetzgeber seine Vorstellungen in zahlreichen Einzel- und Sonder-

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105 Eingehend hierzu Ambos Nationalsozialistisches Strafrecht; zu den Verbindungslinien von der Modernen Schule zum Strafrecht im Nationalsozialismus Vogel Einflüsse des Nationalsozialismus auf das Strafrecht S. 14 ff; siehe auch Kubink Strafen und ihre Alternativen S. 242 ff; Marxen KritV 1990 287. 106 Siehe dazu Vogel Einflüsse des Nationalsozialismus auf das Strafrecht S. 73 f mit Nachweisen aus den Schriften von Dahm, Schaffstein und Welzel. 107 Zahlreiche Nachweise hierzu bei Vogel Einflüsse des Nationalsozialismus auf das Strafrecht S. 84 ff. 108 Abgedruckt bei Regge/Schubert Quellen Abt. 2 Bd. 1, Teil 1 S. 409 ff. Siehe auch Werle NJW 1988 2865. 109 Werle Justiz-Strafrecht S. 661 ff.

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gesetzen, speziell für die Bevölkerung besetzter Gebiete.110 Diese Strafgesetzgebung ist geprägt durch den Übergang zum politischen Terror, beispielsweise durch hemmungslose Ausdehnung der Todesstrafe.111 5. Nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft wurden einige Vorschrif- 32 ten, die als typisch nationalsozialistische Unrechtsnormen empfunden wurden, wie etwa die Maßregel der Entmannung von Sittlichkeitsverbrechern (§ 42k a.F.), alsbald durch den Alliierten Kontrollrat aufgehoben (Kontrollratsgesetze Nr. 1, 11 und 55 von 1945, 1946 und 1947, Kontrollrats-Amtsblatt S. 6, 55, 285).112 Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland brachte zunächst das Grund- 33 gesetz einen Bestand neuer Normen, die (auch) das Strafrecht prägten. Dazu gehören zuvörderst der Grundsatz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und das allgemeine Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG, darüber hinaus speziell für den strafrechtlichen Bereich die Abschaffung der Todesstrafe (Art. 102 GG), das Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 Abs. 2 GG) sowie die Garantie wichtiger Rechte im Fall einer Freiheitsentziehung (Art. 104 GG). Umgesetzt wurden die Vorgaben des Grundgesetzes zunächst durch das 3. StrÄndG von 1953 (BGBl. I S. 735):113 Das Gesetzlichkeitsprinzip wurde in § 2 Abs. 1 StGB a.F. wörtlich aus Art. 103 Abs. 2 GG übernommen, das Verbot rückwirkender Strafschärfung ausdrücklich ausgesprochen (§ 2 Abs. 2 Satz 1 StGB a.F.) und die obligatorische Rückwirkung des milderen Gesetzes wiederhergestellt (§ 2 Abs. 2 Satz 2 StGB a.F.). Durch das 3. StrÄndG wurden ferner die Strafaussetzung zur Bewährung und die bedingte Entlassung eingeführt, die Strafbarkeit der erfolglosen Beihilfe beseitigt und bei den erfolgsqualifizierten Delikten das Schuldprinzip verwirklicht (§ 56 StGB a.F.). Als die Idee einer umfassenden Strafrechtsreform im Jahre 1953 wieder aufgegrif- 34 fen wurde, gab es dafür noch keine einheitliche Konzeption.114 Auf dem Gebiet der Kriminalpolitik standen einander stark gegensätzliche Grundvorstellungen gegenüber, und in der Dogmatik bestanden heftige wissenschaftliche Kontroversen. In den Jahren 1954 bis 1959 arbeitete die Große Strafrechtskommission unter dem Vorsitz von Bundesjustizminister Neumayer einen Entwurf aus, der als Entwurf 1962 dem Bundestag vorgelegt wurde. Der E 1962 gründete sich auf das Schuldprinzip, auf die Verantwortlichkeit des Einzelnen für sein Handeln und auf die Vorstellung, dass Strafe in erster Linie den Ausgleich von Unrecht und Schuld verwirklichen soll. Die Zuchthausstrafe wurde zunächst beibehalten, bei den späteren Beratungen aber durch die Einheitsfreiheitsstrafe ersetzt. Die Strafaussetzung zur Bewährung wurde nur bis zu neun Monaten Gefängnis vorgesehen. Der Entwurf schränkte die kurzfristige Freiheitsstrafe nicht ein, sondern sah für sie sogar eine besondere Strafart (Strafhaft von einer Woche bis zu sechs Monaten) vor. Die Geldstrafe wurde zwar nach dem Tagesbußensystem ausgestaltet, aber nicht als Surrogat der Freiheitsstrafe verstanden. Der Spezialprävention sollten vor allem ein reichhaltiges System von Maßregeln der Besserung und Sicherung mit der Möglichkeit des Vikariie-

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110 Umfassende Dokumentation dieser Gesetze bei Ostendorf (Hrsg.) Dokumentation des NS-Strafrechts S. 48 ff. 111 Werle Justiz-Strafrecht S. 577 ff; zur Praxis der Strafjustiz Gruchmann Justiz im Dritten Reich 1933 – 1940; Nachweise zahlreicher Einzelstudien bei Th. Vormbaum GA 1998 1; siehe auch Gribbohm NJW 1988 2842 m.w.N. 112 Zur begrenzten Reichweite dieser Bereinigungsversuche siehe Vogel Einflüsse des Nationalsozialismus auf das Strafrecht S. 24 ff. 113 Dazu aus zeitgenössischer Sicht Dreher JZ 1953 421; Lange NJW 1953 1161. 114 Eingehend und instruktiv zur Kriminalpolitik im „Wiederaufbau“ Kubink Strafen und ihre Alternativen S. 316 ff.

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rens bei freiheitsentziehenden Maßregeln (abgesehen von der Sicherungsverwahrung), die Strafaussetzung zur Bewährung und eine allgemeine Rückfallschärfung dienen. Das Reformwerk der Großen Strafrechtskommission knüpfte noch weitgehend an Ideen aus der Zeit vor 1933 an und blieb hinter den Forderungen der damals modernen Kriminalpolitik zurück.115 Die vielstimmige Kritik an dem E 1962116 wurde durch den Alternativ-Entwurf eines 35 Strafgesetzbuches (AE), der 1966 von 14 deutschen und schweizerischen Strafrechtslehrern vorgelegt wurde, in die Fassung eines Gesetzesvorschlags gebracht. Der AE hielt am Schuldprinzip und an der Zweispurigkeit fest und besaß dadurch eine gemeinsame Grundlage mit dem E 1962. Der AE verstand jedoch das Schuldprinzip als eine aus rechtsstaatlichen Gründen erforderliche Beschränkung, nicht als positive Grundlegung der Strafe; bis zur Obergrenze der Tatschuld sollte die Strafe allein nach präventiven Gesichtspunkten zugemessen werden. Der AE schaffte die kurzfristige Freiheitsstrafe von weniger als sechs Monaten ab. Die Strafaussetzung zur Bewährung wurde bis auf zwei Jahre Freiheitsstrafe ausgedehnt, die Möglichkeit der Aussetzung des Restes einer vollstreckten Freiheitsstrafe erweitert, die Geldstrafe als „Laufzeitgeldstrafe“ ausgestaltet. Die Verwarnung mit Strafvorbehalt sollte für Ersttäter prinzipiell an die Stelle einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr treten. In den Mittelpunkt der freiheitsentziehenden Maßregeln wurde die Sozialtherapeutische Anstalt für wiederholt rückfällige Täter gestellt.117 Nachdem der E 1962 Anfang 1966 in den Bundestag eingebracht worden war, legte 36 die Fraktion der FDP im Jahre 1968 den AE ebenfalls als Gesetzentwurf vor. Schließlich wurden beide Entwürfe gemeinsam in einem Sonderausschuss für die Strafrechtsreform beraten. In der dogmatischen Konzeption setzten sich dort die Vorschläge des E 1962 weitgehend durch, in der Kriminalpolitik dagegen – mit gewissen Abstrichen – die Regelungen des AE. Das Ergebnis der Arbeiten des Sonderausschusses war die Neufassung des Allgemeinen Teils und die Reform einiger Partien des Besonderen Teils. Die neuen Vorschriften wurden teilweise durch das 1. StrRG vom 25.6.1969 (BGBl. I S. 655) zum 1.9.1969 bzw. 1.4.1970 umgesetzt, zum größeren Teil jedoch erst zum 1.1.1975 durch das 2. StrRG vom 4.7.1969 (BGBl. I S. 717). Die vorweg in Kraft gesetzten Vorschriften brachten im Allgemeinen Teil vor allem die Einheitsfreiheitsstrafe, die Einschränkung der kurzfristigen Freiheitsstrafe zugunsten der Geldstrafe, die Neuregelung der Strafzumessung, den Ausbau der Strafaussetzung zur Bewährung sowie die Abschaffung der Ehrenstrafen und des Arbeitshauses. Im Besonderen Teil wurden die neugefassten Strafbestimmungen über den Schutz des religiösen und weltanschaulichen Friedens, die Entführungstatbestände und den Diebstahl vorab in Kraft gesetzt sowie die Strafbarkeit des Ehebruchs, der einfachen Homosexualität und der Unzucht mit Tieren beseitigt. Die Hauptpunkte der Reform, insbesondere des Allgemeinen Teils,118 traten jedoch erst zum 1.1.1975 in Kraft. 37

6. Das Jugendkriminalrecht wurde durch das JGG von 1953 (BGBl. I S. 751) wesentlich weiter entwickelt. Verbessert wurde insbesondere die Regelung der Strafaussetzung zur Bewährung und der Bewährungshilfe. Neu eingeführt wurde – unter bestimmten

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115 Zum E 1962 Jescheck ZStW 75 (1963) 1; Peters/Lang-Hinrichsen Grundfragen der Strafrechtsreform; Schultz JZ 1966 113. 116 Siehe etwa Baumann Kleine Streitschriften zur Strafrechtsreform; Heinitz/Würtenberger/Peters Gedanken zur Strafrechtsreform; H. Mayer Strafrechtsreform S. 119 ff; Müller-Emmert NJW 1966 711. 117 Zum AE siehe die kontroversen Beiträge von Gallas, Armin Kaufmann, Jescheck und Grünwald in ZStW 80 (1968) 1, 34, 54, 89. Zur Reform im Ganzen Jescheck SchwZStr 100 (1983) 1. 118 Zum Allgemeinen Teil eingehend Jescheck SchwZStr 91 (1975) 1; ders. FS Lange S. 365.

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Voraussetzungen – die Einbeziehung der „Heranwachsenden“ bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres in das Jugendstrafrecht (§ 105 JGG). 7. Die Teilung Deutschlands führte zu einer ausgedehnten Strafgesetzgebung der 38 DDR im Sinne der sozialistischen Ideologie. Im Jahre 1968 wurde das bis dahin prinzipiell noch fortgeltende StGB von 1870 durch ein eigenes Strafgesetzbuch der DDR (GBl. DDR S. 1) ersetzt. Das Strafrecht der DDR trat mit wenigen Ausnahmen gemäß Art. 8 des Einigungsvertrages vom 31.8.1990 (BGBl. II S. 889) außer Kraft und wurde durch das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland ersetzt.119 8. In den folgenden Jahren blieb der Allgemeine Teil weitgehend unberührt; aller- 39 dings wurden 2017 die Vorschriften über die Vermögensabschöpfung (§ 73 ff) ganz neu gestaltet.120 Der Besondere Teil wurde durch zahlreiche Einzelgesetze weiter ausgebaut. Zu wichtigen Änderungen führte das 6. Strafrechtsreformgesetz von 1998.121 Es gestaltete die Brandstiftungsdelikte (§§ 306 ff) um und bestimmte das Verhältnis der Eigentumsdelikte Diebstahl und Unterschlagung zueinander neu; außerdem brachte es Veränderungen im Bereich der Tötungs- und Körperverletzungsdelikte. Um aktuellen rechtspolitischen Anliegen Rechnung zu tragen, wurde in den folgenden Jahren beispielsweise das unbefugte Anfertigen von Bildaufnahmen aus dem höchstpersönlichen Lebensbereich unter Strafe gestellt (§ 201a)122 und die Vorschriften über den Menschen- und Kinderhandel wurden weitgehend neu formuliert (§§ 232–236).123 Außerdem hat der Gesetzgeber auf neue technologische Entwicklungen reagiert, etwa im Bereich des IT-Strafrechts (Einführung eines Tatbestandes gegen Hacking, § 202a).124 Die seit Beginn des 21. Jahrhunderts verstärkt in Erscheinung tretende Gefahr des internationalen Terrorismus sollte durch die Inkriminierung der Beteiligung an ausländischen terroristischen Vereinigungen (§ 129b) 125 sowie von Vorbereitungs- und Unterstützungshandlungen (§§ 89a ff) 126 bekämpft werden. Weitere Schwerpunkte der Strafgesetzgebung seit 2000 bildeten die Korruptionsdelikte, bei denen insbesondere die Bestechung ausländischer Amtsträger unter Strafe gestellt wurde,127 sowie die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Bei Letzteren ging es zunächst um den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Ausbeutung zu sexuellen Zwecken.128 Das 50. Strafrechtsänderungsgesetz von 2017 brachte dann

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119 Näher zum Strafrecht der DDR M. Vormbaum in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius, Handbuch des Strafrechts Bd. 1 S. 437. 120 Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung v. 13.4.2017 (BGBl. I S. 872). 121 BGBl. 1997 I 164; kritische Würdigung bei Dencker/Struensee/Nelles/Stein Einführung in das 6. Strafrechtsreformgesetz 1998. 122 36. StÄG v. 30.7.2004 (BGBl. I S. 2012); s. dazu Bosch JZ 2005 377; Kargl ZStW 117 (2005) 324. 123 37. StÄG v. 11.2.2005 (BGBl. I S. 239); s. dazu Renzikowski JZ 2005 879. 124 41. StÄG v. 7.8.2007 (BGBl. I 1786). 125 34. StÄG v. 22.8.2002 (BGBl. I 3390) und Ges. v. 22.12.2003 (BGBl. I S. 2836). 126 Gesetze v. 30.7.2009 (BGBl. I S. 2437) und v. 12.6.2015 (BGBl. I S. 926). Siehe dazu Herbert Grenzen des Strafrechts bei der Terrorismusgesetzgebung; Mitsch NJW 2015 509; Zöller Terrorismusstrafrecht; ders. StV 2012 364. 127 S. das Gesetz zur Bekämpfung der Korruption v. 20.11.2015 (BGBl. I 2025; s. hierzu Hoven Auslandsbestechung), ferner das 48. StÄG v. 23.4.2014 (BGBl. I 410) zur Neufassung der Abgeordnetenbestechung (§ 108e) und das Gesetz zur Bekämpfung von Korruption im Gesundheitswesen v. 30.5.2016 (BGBl. I 1254). 128 Siehe das Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die sexuelle Selbstbestimmung v. 27.12.2003 (BGBl. I 3007; hierzu mit Recht krit. Duttge/Hörnle/Renzikowski NJW 2004 1065), das 37. StÄG v. 11.2.2005 (BGBl. I 239) zur Bekämpfung des Mädchenhandels, das Gesetz zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie v. 31.10.2008 (BGBl. I 2149) sowie das 49. StÄG v. 21.1.2015 (BGBl. I 10).

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einen Paradigmawechsel bezüglich der sexuellen Nötigung, indem in § 177 Abs. 1 die bloße Missachtung eines den sexuellen Wünschen des Täters entgegenstehenden Willens des Opfers („Nein heißt Nein“) unter Strafe gestellt wurde.129 Viele der genannten Rechtsänderungen, die durchweg auf eine Ausdehnung der Sphäre des Strafbaren gerichtet waren, beruhen auf Initiativen des EU-Gesetzgebers oder des Europarats. IV. Überblick über Inhalt und Aufbau des Strafgesetzbuchs Schrifttum Bernsmann Überlegungen zur tödlichen Notwehr bei nicht lebensbedrohlichen Angriffen, ZStW 104 (1992) 290; Hruschka Rettungspflichten in Notstandssituationen, JuS 1979 385; Lenckner Der rechtfertigende Notstand (1965); Momsen Die Zumutbarkeit als Begrenzung strafrechtlicher Pflichten (2006); Pawlik Der rechtfertigende Notstand (2002); Roxin Die „sozialethischen Einschränkungen“ des Notwehrrechts, ZStW 93 (1981) 68; Weigend Aufbau und Struktur des Strafgesetzbuchs, in Hilgendorf/Kudlich/Valerius (Hrsg.), Handbuch des Strafrechts Bd. 1 (2019) 469; Weißer Täterschaft in Europa (2011).

1. An der Spitze des Strafgesetzbuchs steht als formale Grundnorm der Gesetzlichkeitsgrundsatz (§ 1), der die Idee der Selbstbeschränkung der staatlichen Strafgewalt widerspiegelt. § 2 formt das Verbot der Rückwirkung von Strafgesetzen im Einzelnen aus. § 2 Abs. 3 enthält das Günstigkeitsprinzip für den Fall einer Milderung der gesetzlichen Regelung nach Begehung der Tat. In diesem Fall ist das mildeste Gesetz anzuwenden; im Fall einer Aufhebung der verwirklichten Strafvorschrift ist der Täter freizusprechen. In jüngerer Zeit umstritten ist eine Ausnahme vom Rückwirkungsverbot in § 2 Abs. 6; danach ist auf Maßregeln der Besserung und Sicherung – da diese nicht als Reaktion auf die begangene Tat, sondern als möglichst effiziente Maßnahmen zur Verhinderung weiterer Straftaten des Verurteilten verstanden werden – das zur Zeit der gerichtlichen Entscheidung geltende Recht anzuwenden. Ob dieser Gedanke auch für die rein sichernde Maßregel der Sicherungsverwahrung (§ 66) Vorrang vor der Idee des Vertrauensschutzes genießen soll, wird zum Teil bezweifelt; das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 109 133; 128 326) hat jedoch die geltende Regelung für verfassungsgemäß erklärt, und sie ist auch durch die umfassende Neugestaltung der Sicherungsverwahrung (dazu Rdn. 77) nicht geändert worden. In den §§ 3–9 geht es um die Bestimmung des Anwendungsbereichs des deut41 schen Strafrechts bei Handlungen mit internationalem Einschlag (z.B. wenn der Tatort im Ausland liegt, der Täter oder der Verletzte Ausländer ist). Soweit das deutsche materielle Strafrecht anwendbar ist, wird traditionell (ohne dass das Gesetz dies ausdrücklich regeln würde) auch die Zuständigkeit deutscher Gerichte zur Aburteilung der jeweiligen Straftaten angenommen. Ausgangspunkt ist das Territorialitätsprinzip (§ 3). Danach besteht die deutsche Strafgewalt für Taten, die auf eigenem Staatsgebiet oder auf deutschen Schiffen und Luftfahrzeugen (§ 4) begangen werden. Auslandstaten können nur dann bestraft werden, wenn ein legitimierender Anknüpfungspunkt vorliegt, wie etwa die Beeinträchtigung bestimmter inländischer Schutzgüter (§ 5), die Beteiligung deutscher Staatsangehöriger an der Tat auf der Täter- oder Opferseite (§ 7) oder die Verletzung von Rechtsgütern, die für die internationale Rechtsgemeinschaft so wichtig sind, dass sie nach dem Weltrechtsprinzip unabhängig vom Tatort überall verfolgt werden sol-

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129 50. StÄG v. 4.11.2016 (BGBl. I 2460); krit. dazu Hoven/Weigend JZ 2017 182; Renzikowski NJW 2016 3553.

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len. Solche Delikte sind Völkermord, Humanitätsverbrechen, Angriffskrieg und schwere Kriegsverbrechen, wie sie im Völkerstrafgesetzbuch von 2002 geregelt sind. Daher ist das deutsche Strafrecht nach § 1 VStGB unabhängig vom Tatort und von der Staatsangehörigkeit der Beteiligten auf alle dort enthaltenen Verbrechen anwendbar. Weitere Fälle des Weltrechtsprinzips sind – systematisch nicht durchweg stimmig – in § 6 aufgeführt. Die §§ 11 und 12 enthalten Begriffsbestimmungen. Wichtig ist insbesondere die Un- 42 terscheidung zwischen Verbrechen und Vergehen (§ 12); sie hat nicht nur Einfluss z.B. auf die Strafbarkeit des Versuchs (vgl. § 23 Abs. 1), sondern bildet auch den Bezugspunkt für einige Regelungen des Strafverfahrensrechts. So muss beispielsweise ein Beschuldigter, dem ein Verbrechen zur Last gelegt wird, in jedem Fall einen Verteidiger haben (§ 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO); andererseits kommt eine Einstellung des Verfahrens mangels öffentlichen Interesses an der weiteren Verfolgung auch bei Erfüllung von Auflagen und Weisungen nur in Betracht, wenn sich der Verdacht auf ein Vergehen beschränkt (§§ 153 Abs. 1, 153a Abs. 1 StPO). Der zweite Abschnitt des Allgemeinen Teils über „Die Tat“ enthält grundlegende 43 Strukturelemente der Straftat, allerdings zum Teil nur in lückenhafter oder andeutungsweiser Regelung. Manche umstrittene Frage in diesem Bereich hat der Gesetzgeber bewusst der weiteren Klärung durch Rechtsprechung und Wissenschaft überlassen. Dazu gehört etwa die Strafbarkeit wegen Unterlassens. Wo hier die Grenzen der Strafbarkeit liegen, ist nur im Kernbereich eindeutig geklärt. § 13 beschränkt sich auf die Klarstellung, dass jemand für den Eintritt eines schädlichen Erfolges, den er geschehen lässt, nur dann strafrechtlich verantwortlich ist, wenn er „rechtlich dafür einzustehen hat“, den Erfolg abzuwenden; die entscheidende Frage, wann jemand rechtlich für die Erfolgsabwendung einzustehen hat, lässt das Gesetz jedoch unbeantwortet. Auch die gesetzliche Regelung zu Vorsatz und Irrtum (§§ 15–17) ist fragmentarisch. 44 Der (im Einzelnen in der Lehre umstrittene) Begriff des Vorsatzes wird in § 15 vorausgesetzt, nicht definiert. Jedenfalls bringt § 16 Abs. 1 zum Ausdruck, dass der Vorsatz fehlt, wenn der Täter einen Tatumstand nicht kennt; daraus ergibt sich, dass Vorsatz mindestens die Kenntnis aller Tatumstände erfordert. Die überwiegende Ansicht in Rechtsprechung und Lehre verlangt allerdings über dieses kognitive Element hinaus für vorsätzliches Handeln noch ein „Willens“-Element, mindestens das Sich-Abfinden des Täters mit der Tatbestandsverwirklichung.130 Zu der seit jeher umstrittenen Frage, wie Rechtsirrtümer im Strafrecht zu behandeln sind, ergibt sich aus der Formulierung von § 17 S. 1 („so handelt er ohne Schuld“), dass die fälschliche Annahme, ein bestimmtes Verhalten sei nicht verboten, jedenfalls nicht den Tatvorsatz beseitigt. Nur wenn ein solcher Irrtum (ausnahmsweise) für den Täter unvermeidbar ist, schließt er seine Schuld und damit auch seine Strafbarkeit aus (§ 17 S. 1).131 Hätte der Täter den Irrtum über das Verbotensein seines Verhaltens bei gehöriger Anstrengung vermeiden können, so bleibt er wegen vorsätzlicher Tat strafbar; allerdings kann die Strafe gemildert werden (§ 17 S. 2). Ohne gesetzliche Lösung ist die Situation des Erlaubnistatumstandsirrtums geblieben, d.h. die irrtümliche Annahme tatsächlicher Umstände, bei deren Vorliegen das Verhalten des Täters gerechtfertigt wäre. Die herrschende Meinung behandelt den Täter in diesem Fall so, als hätte er ohne Vorsatz gehandelt.132

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130 BGHSt 36 1, 15; BGH NStZ 2000 583; Joecks MK § 16 Rdn. 13, 52 ff; Roxin AT I § 12 Rdn. 4, 29 ff. 131 Grundlegend hierzu BGHSt 2 194. 132 Joecks MK § 16 Rdn. 123 ff; Roxin AT 1 § 14 Rdn. 52 ff; Wessels/Beulke/Satzger AT Rdn. 744 ff, jeweils m.w.N.

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Die Schuldfähigkeit ist nach dem Schuldgrundsatz (s. Rdn. 14) allgemeine Voraussetzung der Strafbarkeit. Das Gesetz geht allerdings unabhängig von allen philosophischen und biologischen Diskussionen über die Entscheidungsfreiheit des Individuums davon aus, dass erwachsene Menschen grundsätzlich für ihre Handlungen verantwortlich sind (vgl. § 19, der die Strafbarkeit von Kindern unter 14 Jahren generell ausschließt); anderes gilt nur dann, wenn der Täter aufgrund einer psychischen Beeinträchtigung nicht erkennen kann, dass er Unrecht tut, oder sein Verhalten nicht in „normaler“ Weise steuern kann (§ 20). Unter die in § 20 genannte Fallgruppe der „krankhaften seelischen Störung“ fallen nicht nur chronische Geisteskrankheiten, sondern auch die temporäre toxische Psychose aufgrund schweren Alkoholmissbrauchs. Die Schuldfähigkeit kann ferner – über den Begriff der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ – auch bei seelischen Störungen ausgeschlossen sein, die nicht einem psychiatrisch anerkannten Krankheitsbild entsprechen.133 Der Versuch einer Straftat liegt vor, wenn der Täter den Entschluss zur Tatausfüh46 rung gefasst hat und zu dessen Verwirklichung „unmittelbar ansetzt“ (§ 22). Der Versuch ist bei Verbrechen immer, bei Vergehen häufig strafbar. Der Grund für die Strafbarkeit des Versuchs liegt darin, dass die Bereitschaft des Täters, einen Straftatbestand zu verwirklichen, in einer der Ausführung unmittelbar vorangehenden Handlung Ausdruck gefunden hat und damit als ernst zu nehmende Bedrohung der Rechtsordnung in Erscheinung getreten ist. Dies ist in der Regel auch dann der Fall, wenn der Erfolg bei objektiver Betrachtung niemals hätte eintreten können („untauglicher Versuch“); hier sieht § 23 Abs. 3 nur für Fälle „groben Unverstandes“ die Möglichkeit des Absehens von Strafe oder der Strafmilderung vor. Der Versuch kann generell milder bestraft werden als die vollendete Tat (§ 23 Abs. 2). Straflos wird der Täter, wenn er den Versuch freiwillig aufgibt, bevor er alle aus seiner Sicht notwendigen Handlungen vorgenommen hat, oder wenn er durch aktives Eingreifen den Erfolg seiner Bemühungen verhindert (§ 24). Bei Verbrechen sind auch bereits Vorstadien der Tatbegehung, wie etwa die Verabredung zur Tat oder der Versuch, einen anderen zur Ausführung der Tat anzustiften, unter Strafe gestellt (§ 30). Im Bereich der Beteiligung an Straftaten Anderer nimmt das Gesetz stillschwei47 gend Bezug auf Denkfiguren, die Rechtsprechung und Strafrechtswissenschaft im Laufe der Zeit entwickelt haben. So enthält die kompakte Vorschrift des § 25 neben der Regelung, dass derjenige (zwingend) Täter ist, der den Tatbestand eigenhändig verwirklicht,134 noch Hinweise auf die Rechtsfiguren der mittelbaren Täterschaft („durch einen anderen begeht“) und der Mittäterschaft („Begehen mehrere die Straftat gemeinschaftlich“), ohne freilich die Voraussetzungen dieser Ausdehnungen der Täterschaft näher zu klären.135 Anstiftung (§ 26) und Beihilfe (§ 27) sind die beiden anerkannten Formen der Teilnahme an fremder (vorsätzlicher und rechtswidriger) Straftat, von denen die Beihilfe milder bestraft wird als die Täterschaft. 48 Eine tatbestandsmäßige Handlung kann gerechtfertigt sein, wenn sie (ausnahmsweise) in einer Situation begangen wird, in der der Handelnde ein von der Rechtsordnung höher bewertetes Interesse schützt. Das Strafgesetzbuch regelt von den Rechtfertigungsgründen nur die Notwehr (§ 32) und den Rechtfertigenden Notstand (§ 34). Im Fall der Notwehr gewährt das Gesetz dem rechtswidrig Angegriffenen ein „schneidiges“ Recht zum gewaltsamen Vorgehen gegen den Angreifer. Die Rechtsprechung schränkt

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133 Vgl. dazu BGHSt 23 176, 190. 134 Anders noch die ältere Rechtsprechung; siehe RGSt 74 84; BGHSt 18 87. 135 Siehe zu den Formen der Täterschaft, auch aus rechtsvergleichender Sicht, Weißer Täterschaft in Europa.

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dieses Recht allerdings in manchen Fällen ein, etwa bei geringfügigen Angriffen oder bei pflichtwidriger Provokation des Angriffs durch denjenigen, der danach Notwehr übt.136 Dem Rechtfertigenden Notstand (§ 34) liegt der Gedanke zugrunde, dass der Einzelne aus Solidarität mit seinen Mitmenschen verpflichtet sein kann, seine eigenen Güter zu opfern, um wertvollere Güter eines Anderen oder der Allgemeinheit zu retten.137 Ein Eingriff in die Rechtsgüter eines unbeteiligten Dritten durch eine sonst strafbare Handlung ist allerdings nur dann gerechtfertigt, wenn der Eingriff nicht nur unabweisbar notwendig, sondern auch ein „angemessenes Mittel“ zur Rettung eines bedeutsameren Interesses ist (§ 34 S. 2).138 Die Rechtfertigung einer Handlung kann sich auch aus (geschriebenen oder ungeschriebenen) Rechtsnormen ergeben, die außerhalb des Strafrechts liegen. So ist etwa die Mutmaßliche Einwilligung einer Person, die nicht rechtzeitig befragt werden kann, in die Inanspruchnahme ihrer Güter ein ungeschriebener, aber allgemein anerkannter Rechtfertigungsgrund.139 Auch gestattet das Festnahmerecht nach § 127 Abs. 1 StPO, soweit seine Voraussetzungen gegeben sind, Handlungen, die die Tatbestände der Freiheitsberaubung (§ 239) und der Nötigung (§ 240) erfüllen.140 Eine Entschuldigung des Täters, der eine rechtswidrige Straftat begeht, kommt in 49 Betracht, wenn er sich bei der Tat in einer besonderen psychisch belastenden Lage befunden hat, in der rechtmäßiges Verhalten nicht ohne weiteres von ihm zu erwarten war. Allerdings entschuldigt eine allgemeine „Unzumutbarkeit“ rechtmäßigen Verhaltens den Täter jedenfalls bei vorsätzlichem Handeln nicht.141 Das Gesetz sieht vielmehr nur wenige eng umschriebene Entschuldigungsgründe vor, nämlich die Überschreitung der Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken (§ 33) sowie den Entschuldigenden Notstand (§ 35). Dieser setzt voraus, dass der Täter oder eine ihm nahestehende Person ohne eigenes Verschulden in eine gegenwärtige, nicht anders als durch die Begehung einer Straftat abwendbare Lebens-, Gesundheits- oder Freiheitsgefahr geraten ist. Wenn sich der Täter, vor die Entscheidung zwischen Selbstschutz und Respekt vor den geschützten Gütern Anderer gestellt, für die Wahrung seines Lebens, seiner Gesundheit oder seiner Freiheit auf Kosten eines Dritten entscheidet, so mag dies höchsten ethischen Ansprüchen nicht genügen; es liegt aber kein so gravierender Verstoß vor, dass der Staat mit Strafe reagieren müsste. Anders als bei den Rechtfertigungsgründen wird hier das Verhalten des Täters von der Rechtsordnung nicht gebilligt, sondern ihm lediglich nachgesehen; und selbst davon macht das Gesetz Ausnahmen, etwa dann, wenn der Täter die Zwangssituation, in der er sich befand, selbst schuldhaft herbeigeführt hatte (§ 35 Abs. 1 S. 2). 2. Der umfangreiche Dritte Abschnitt des Allgemeinen Teils (§§ 38–76a) regelt die 50 Rechtsfolgen strafbarer Taten, nämlich die Strafen (vor allem Freiheitsstrafe und Geld-

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136 Vgl. BGHSt 24 356; 26 51; 42 97 BGH StV 2006 234; Bernsmann ZStW 104 (1992) 290; Erb MK § 32 Rdn. 201 ff; Roxin ZStW 93 (1981) 68; Wessels/Beulke/Satzger AT Rdn. 520 ff. 137 Pawlik Der rechtfertigende Notstand S. 57 ff; eher im Sinne der älteren „Interessenabwägungstheorie“ Zieschang LK § 34 Rdn. 4, 8. 138 Es ist allerdings streitig, ob es sich bei der Angemessenheitsklausel um eine selbständige Wertungsstufe handelt (so Erb MK § 34 Rdn. 181 f; Hruschka JuS 1979 390; Jakobs AT 13/36; Kühl AT § 8 Rdn. 167; Neumann NK § 34 Rdn. 21a; Roxin AT I § 16 Rdn. 95 ff – der hier das Kriterium der Menschenwürde berücksichtigt sieht –) oder ob sie nur einen Aspekt der Erforderlichkeitsprüfung verdeutlicht (so Baumann/Weber/Mitsch/Eisele AT § 17/83; [„Kontrollklausel“]; Lenckner Der rechtfertigende Notstand S. 147; Sch/Schröder/Perron § 34 Rdn. 46 f; Zieschang LK § 34 Rdn. 153 f). 139 Siehe etwa Rönnau LK Vor § 32 Rdn. 214 ff; Roxin AT I § 18 Rdn. 1 ff; Schlehofer MK Vor § 32 Rdn. 190 ff. 140 Siehe etwa Sch/Schröder/Sternberg-Lieben Vor § 32 Rdn. 81/82. 141 Hierzu eingehend Momsen Die Zumutbarkeit als Begrenzung strafrechtlicher Pflichten S. 471 ff; Wortmann Inhalt und Bedeutung der „Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens“ im Strafrecht S. 25 ff.

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strafe) sowie die Maßregeln der Besserung und Sicherung, die auf die Eindämmung einer durch die Tat zum Ausdruck gekommenen besonderen Gefährlichkeit des Täters abzielen (dazu näher Rdn. 73 ff). § 46 enthält allgemeine Richtlinien für das Gericht, das mit der Aufgabe der gerechten Bemessung der Strafe konfrontiert ist; maßgeblicher Gesichtspunkt ist dabei die Schuld des Täters, d.h. das schuldhaft von ihm verwirklichte Handlungs- und Erfolgsunrecht. 3. Trotz zahlreicher Änderungen hat der Besondere Teil des Strafgesetzbuchs (§§ 80–358) seinen – leider sehr unübersichtlichen – Aufbau aus der Entstehungszeit im 19. Jahrhundert im Wesentlichen beibehalten.142 An dieser Stelle kann nur ein grober Überblick über die dort geregelten Materien gegeben werden. Entsprechend der Einschätzung des Ranges der geschützten Interessen, wie sie zur Entstehungszeit des StGB im 19. Jahrhundert bestand, beginnt der Besondere Teil mit den Straftaten gegen wesentliche Interessen des Staates, insbesondere gegen seinen Bestand (Hochverrat, § 81), seine Verfassungsgrundsätze (z.B. Propaganda für verfassungswidrige Organisationen, § 86; Wahlbehinderung und -fälschung, §§ 107, 107a) und seine Sicherheit vor Angriffen von außen (z.B. Landesverrat, § 94; Landesverräterische Ausspähung, § 96). Unter dem Begriff „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ folgen Delikte, die sich gegen die Vollstreckung staatlicher Entscheidungen richten (z.B. Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, § 113; Gefangenenbefreiung, § 120). Eine Ansammlung ganz unterschiedlicher Straftaten hat der Gesetzgeber in dem folgenden Abschnitt „Straftaten gegen die öffentliche Ordnung“ zusammengestellt. Hier finden sich z.B. der Hausfriedensbruch (§ 123), die Bildung krimineller und terroristischer Vereinigungen (§§ 129–129b), die Volksverhetzung (§ 130), die Nichtanzeige geplanter Straftaten (§ 138), aber auch die Verkehrsunfallflucht (§ 142) sowie das Vortäuschen von Straftaten (§ 145d). Ebenso zu den Straftaten gegen Gemeinschaftsinteressen zählen die Geldfälschungsdelikte (§§ 146 ff) sowie die Falschaussage und der Meineid (§§ 153 ff). An der Schnittstelle zu den Straftaten gegen Individualinteressen liegen die De52 likte gegen Personenstand, Ehe und Familie, wie z.B. die Verletzung der Unterhaltspflicht (§ 170) und die Bigamie (§ 172). Die Verstöße gegen die Interessen einzelner Personen beginnen mit den Sexualdelikten (§§ 174 ff) einschließlich Pornographie (§§ 184 ff) und verbotener Prostitution (§§ 184f, 184g), gefolgt von den Beleidigungsdelikten (§§ 185 ff) und den Straftaten gegen die Integrität des persönlichen Lebens- und Geheimbereichs, wie z.B. das heimliche Abhören von Gesprächen (§ 201 Abs. 1) und die Weitergabe fremder Privatgeheimnisse durch bestimmte Berufsträger (§ 203). Erst nach diesen vergleichsweise geringfügigen Verstößen folgen im Gesetz die Tötungsdelikte, an deren Spitze Mord (§ 211) und Totschlag (§ 212) stehen. In den §§ 218–219b hat der Gesetzgeber eine detailreiche und komplexe Regelung zur Strafbarkeit (bzw. Straflosigkeit) des Schwangerschaftsabbruchs getroffen. Auf die Körperverletzungstatbestände (§§ 223–231) folgen die Straftaten gegen die persönliche Freiheit, zu denen der Gesetzgeber neben den alten Kerntatbeständen Freiheitsberaubung (§ 239) und Nötigung (§ 240) auch Menschenhandel (§§ 232–233a), „Kinderhandel“ (§ 236), Zwangsheirat (§ 237) und Nachstellung („Stalking“) (§ 238) rechnet. Während bei den in Rdn. 52 genannten Straftaten immaterielle persönliche Interes53 sen beeinträchtigt werden, geht es in den folgenden Abschnitten des StGB um Verstöße gegen das Eigentum und das Vermögen. An der Spitze stehen hier der prototypische 51

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142 S. dazu näher Weigend in Hilgendorf/Kudlich/Valerius, Handbuch des Strafrechts Bd. 1 S. 469, 484 ff.

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Tatbestand des Diebstahls (§ 242) mit seinen verschiedenen qualifizierten Formen sowie der Auffangtatbestand der Unterschlagung (§ 246). Raub (§ 249) und Erpressung (§ 253) werden in ein und demselben Abschnitt des StGB zusammengefasst, was zu Zweifelsfragen hinsichtlich des Verhältnisses dieser beiden Tatbestände zueinander geführt hat.143 Der folgende Abschnitt des StGB enthält mit dem Rechtspflegedelikt Strafvereitelung (§ 258), dem Vermögensdelikt Hehlerei (§§ 259–260a) sowie den allgemeinen Fällen der Nachtat-Unterstützung Begünstigung (§ 257) und Geldwäsche (§ 261) eine heterogene Mischung von Verhaltensweisen, deren Gemeinsamkeit nur darin liegt, dass sie die vorherige Begehung einer rechtswidrigen Tat durch einen anderen Täter voraussetzen. Vermögensdelikte sind Betrug (§ 263) und Untreue (§ 266), die das Gesetz mit einer größeren Zahl von Vorfelddelikten und (entfernt) verwandten Straftaten aus dem Bereich der wirtschaftlichen Betätigung zusammenfasst (z.B. Computerbetrug, § 263a; Versicherungsmissbrauch, § 265; Manipulation berufssportlicher Wettbewerbe, § 265d; Missbrauch von Kreditkarten, § 266b). Auf die Urkundenstraftaten (§§ 267 ff), die keine Vermögensinteressen, sondern überwiegend das Vertrauen des Rechtsverkehrs in die Integrität von Urkunden und technischen Aufzeichnungen verletzen, folgen mit den Insolvenzdelikten (§§ 283 ff) wiederum typische Wirtschaftsstraftaten mit Auswirkungen auf fremde Vermögensinteressen. Der folgende Abschnitt, farblos mit „Strafbarer Eigennutz“ überschrieben, enthält eine Mischung ganz unterschiedlicher Verstöße, die von der unerlaubten Veranstaltung von Glücksspielen (§ 284) bis zur Fischwilderei (§ 293) reichen. Fehlverhalten im Wirtschaftsleben erfassen die verbotenen Submissionsabsprachen (§ 298) sowie die Wirtschafts- und Medizinkorruption (§§ 299 ff). Am Schluss dieser Gruppe von Vorschriften steht mit der Sachbeschädigung (§§ 303 ff) wieder eine „klassische“ Form der Eigentumsverletzung. Vielfältige Gefährdungen von Leben und Gesundheit in den unterschiedlichsten Be- 54 reichen des Lebens spiegeln sich in dem umfangreichen und heterogenen Abschnitt der „gemeingefährlichen Straftaten“ wider. Er reicht von dem archetypischen „gemeingefährlichen“ Delikt der Brandstiftung (§§ 306 ff) über den Missbrauch der Kernenergie (§§ 307, 309–312) und das Herbeiführen von Explosionen (§ 308) und Überschwemmungen (§ 313) bis zu den leider alltäglichen gefährlichen Verstößen im Straßenverkehr, wie etwa die Trunkenheit im Verkehr mit (§ 315c Abs. 1 Nr. 1a) und ohne (§ 316) Gefährdung von Personen oder erheblichen Sachwerten. Auch die Herbeiführung eines die Schuldfähigkeit nach § 20 ausschließenden Vollrausches (§ 323a) sowie das Unterlassen zumutbarer Hilfeleistung bei Unfällen oder Gefahrsituationen (§ 323c) sind in diesem Abschnitt untergebracht. In engem inhaltlichem Zusammenhang steht der folgende Abschnitt der Umweltdelikte (§§ 324 ff). Der letzte Abschnitt des StGB ist laut seiner Überschrift den „Straftaten im Amt“ 55 gewidmet. Dies ist freilich insoweit irreführend, als sich hier neben Sonderdelikten von Amtsträgern wie etwa der Bestechlichkeit (§ 332), der Rechtsbeugung (§ 339) oder der Verletzung von Dienstgeheimnissen (§ 353b) auch Tatbestände finden, die von jedermann begangen werden können, wie etwa die Bestechung (§ 334) oder auch die unbefugte Mitteilung einer Anklageschrift (§ 353d Nr. 3). Gemeinsam ist den Vorschriften dieses Abschnitts jedoch, dass sie das ordnungsgemäße Funktionieren der staatlichen Verwaltung (im weitesten Sinne) zu schützen trachten.

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143 Das systematische Verhältnis der beiden Tatbestände zueinander hat wesentliche Bedeutung für die Frage, ob die Begehung einer Erpressung voraussetzt, dass das genötigte Opfer eine „Vermögensverfügung“ vornimmt. Diese Frage wird von der Rechtsprechung (BGHSt 14 386; 41 123) verneint, von der überwiegenden Lehre jedoch bejaht (Nachweise zum Streitstand bei Sander MK § 253 Rdn. 13 ff).

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V. Strafen und Maßregeln Schrifttum Altenhain Die Begründung der Strafe durch Kant und Feuerbach, Gedächtnisschrift Keller (2003) 1; Androulakis Über den Primat der Strafe, ZStW 108 (1996) 300; Appel Verfassung und Strafe (1998); Bannenberg Wiedergutmachung in der Strafrechtspraxis (1993); Baumann u.a., Alternativ-Entwurf Wiedergutmachung (1992); Bock Ideen und Schimären im Strafrecht, ZStW 103 (1991) 636; Bönitz Strafgesetze und Verhaltenssteuerung (1991); Bröckers Strafrechtliche Verantwortung ohne Willensfreiheit (2015); Bruns Neues Strafzumessungsrecht? (1988); Bung Strafgesetzgebung und Strafgerechtigkeit im materiellen Strafrecht, in Zabel (Hrsg.), Strafrechtspolitk (2018) 181; Calliess Die Strafzwecke und ihre Funktion, Festschrift Müller-Dietz (2001) 99; Dessecker Gefährlichkeit und Verhältnismäßigkeit (2004); Dölling Über die Höhenbemessung bei der Freiheits- und Jugendstrafe, Festschrift Schreiber (2003) 55; ders. Zur spezialpräventiven Aufgabe des Strafrechts, Festschrift Lampe (2003) 597; Duttge (Hrsg.), Das Ich und sein Gehirn (2009); ders. Menschengerechtes Strafen, in Schumann (Hrsg.), Das strafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat (2010) S. 1; Easton/Piper Sentencing and Punishment (2005); I. Ebert Pönale Elemente im deutschen Privatrecht (2004); Eser Zur Entwicklung der Maßregeln der Besserung und Sicherung usw., Festschrift MüllerDietz (2001) 213; ders./Walther (Hrsg.) Wiedergutmachung im Kriminalrecht, 3 Bde. (1996–2001); Feuerhelm Stellung und Ausgestaltung der gemeinnützigen Arbeit im Strafrecht (1997); Frehsee Schadenswiedergutmachung als Instrument strafrechtlicher Sozialkontrolle (1987); Freund/Garro Carrera Strafrechtliche Wiedergutmachung usw., ZStW 118 (2006) 76; Frisch Gegenwärtiger Stand und Zukunftsperspektiven der Strafzumessungsdogmatik, ZStW 99 (1987) 349; ders. Die Maßregeln der Besserung und Sicherung usw., ZStW 102 (1990) 343; ders. Dogmatische Grundfragen der bedingten Entlassung usw., ZStW 102 (1990) 707; ders. Strafkonzept, Strafzumessungstatsachen usw., Festgabe BGH (2000) 269; ders. Schuldgrundsatz und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, NStZ 2013 249; ders. Über das Verhältnis von Straftatsystem und Strafzumessung, GA 2014 489; ders. Strafe, Straftat und Straftatsystem im Wandel, GA 2015 65; ders. Straftheorie, Straftat und Strafzumessung im gesamten Strafrechtssystem, Festschrift Beulke (2015) 103; Gärditz Der Staat 49 (2010) 331; ders. Staat und Strafrechtspflege (2015); Giering Die Wechselwirkung zwischen Strafe und Sicherungsverwahrung bei der Strafzumessung (2017); H.-L. Günther Systematische Grundlagen der Strafzumessung, JZ 1989 1025; K. Günther Die symbolisch-expressive Bedeutung der Strafe, Festschrift Lüderssen (2002) 205; ders. Schuld und kommunikative Freiheit (2005); Hart Punishment and Responsibility (1968); Hart-Hönig Gerechte und zweckmäßige Strafzumessung (1992); Hartmann/ Haas/Eikens/Kerner Täter-Opfer-Ausgleich in Deutschland (2014); Hassemer Darf der strafende Staat Verurteilte bessern wollen? Festschrift Lüderssen (2002) 221; ders. Sicherheit durch Strafrecht, StV 2006 321; Hassemer/Reemtsma Verbrechensopfer (2002); Helgerth/Krauß Der Gesetzentwurf zur Reform des Sanktionenrechts, ZRP 2001 281; Hillenkamp Strafrecht ohne Willensfreiheit? JZ 2005 313; ders. Zur „Freiwilligkeit“ von Täter-Opfer-Ausgleich und Schadenswiedergutmachung nach § 46a StGB, Festschrift Streng (2017) 259; von Hirsch Past or Future Crimes (1985); ders. Censure and Sanctions (1993); ders. Fairness, Verbrechen und Strafe (2005); ders. Warum soll die Strafsanktion existieren? in: von Hirsch/Neumann/ Seelmann (Hrsg.), Strafe – Warum? (2011) 43; Hirsch Wiedergutmachung des Schadens usw., ZStW 102 (1990) 534; ders. Zur gegenwärtigen deutschen Diskussion über Willensfreiheit und Strafrecht, ZIS 2010, 62; Hörnle Tatproportionale Strafzumessung (1999); dies. Strafzumessungslehre im Lichte des Grundgesetzes, in Schumann (Hrsg.), Das strafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat (2010) S. 105; dies. Gegenwärtige Strafbegründungstheorien, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Strafe – Warum? (2011) 11; dies. Straftheorien (2011); dies. Zwecke und Rechtfertigung staatlicher Strafe, Festschrift Neumann (2017) 593; Hörnle/von Hirsch Positive Generalprävention und Tadel, GA 1995 261; Horn Empfehlen sich Änderungen und Ergänzungen usw., JZ 1992 828; Jakobs Staatliche Strafe: Bedeutung und Zweck (2004); Jescheck (Hrsg.) Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im deutschen und ausländischen Strafrecht, 3 Bde. (1983/ 84); Jehle (Hrsg.) Täterbehandlung und neue Sanktionsformen (2000); Jung Was ist Strafe? (2002); H. Kaiser Widerspruch und harte Behandlung (1999); Kalous Positive Generalprävention durch Vergeltung (2000); Kargl Friede durch Vergeltung, GA 1998 53; Kaspar Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2014); ders. Schuldstrafrecht oder Präventionsstrafrecht? in: Brunhöber (Hrsg.), Strafrecht im Präventionsstaat (2014) 61; ders. Die Zukunft der Zweispurigkeit usw., ZStW 127 (2015) 654; Kawamura-Reindl Spezialpräventive Aspekte gemeinnütziger Arbeit statt Ersatzfreiheitsstrafen, Gedächtnisschrift Walter (2014) 727; Kerner/Weitekamp Praxis des Tater-Opfer-Ausgleichs in Deutschland (2015);

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Kett-Straub Die lebenslange Freiheitsstrafe (2011); Kindhäuser Personalität, Schuld und Vergeltung, GA 1989 493; Kinzig Die Sicherungsverwahrung auf dem Prüfstand (1996); ders. Umfassender Schutz vor dem gefährlichen Straftäter? NStZ 2004 655; Klesczewski Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (1991); Marcus Köhler Die Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung, NStZ 2017 497; ders./Burkhard Die Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung, Teil 2, NStZ 2017 665; Michael Köhler Über den Zusammenhang von Strafrechtsbegründung und Strafzumessung (1983); Koriath Über Vereinigungstheorien als Rechtfertigung staatlicher Strafe, Jura 1995 625; ders. Zum Streit um den Schuldbegriff, GA 2011 618; Korte Vermögensabschöpfung reloaded, wistra 2018 1; Kühl Die Bedeutung der Rechtsphilosophie für das Strafrecht (2001); Lackner § 13 StGB – eine Fehlleistung des Gesetzgebers? Festschrift Gallas (1973) 117; Lampe Strafphilosophie (1999); Laubenthal Die Renaissance der Sicherungsverwahrung, ZStW 116 (2004) 703; Laun Alternative Sanktionen zum Freiheitsentzug usw. (2002); Lesch Über den Sinn und Zweck staatlichen Strafens, JA 1994 510, 590; Leyendecker (Re-)Sozialisierung und Verfassungsrecht (2002); Maiwald Zur „Verrechtlichung“ des Täter-Opfer-Ausgleichs in § 46a StGB, GA 2005 339; B.-D. Meier Strafrechtliche Sanktionen, 4. Aufl. (2015); ders. Täter-Opfer-Ausgleich und Schadenswiedergutmachung im Strafrecht, JZ 2015 488; F. Meyer Die selbständige Einziehung nach § 76a StGB-E, StV 2017 343; Müller-Tuckfeld Integrationsprävention (1998); Neumann Zur Bedeutung von Modellen in der Dogmatik des Strafzumessungsrechts, Festschrift Spendel (1992) 435; ders./Prittwitz (Hrsg.) Kritik und Rechtfertigung des Straf rechts (2005); Noltenius, Kritische Anmerkungen zum Täter-Opfer-Ausgleich, GA 2007 518; Ott/Schäfer (Hrsg.) Die Präventivwirkung zivil- und strafrechtlicher Sanktionen (1998); Pawlik Person, Subjekt, Bürger (2004); ders. Kritik der präventionstheoretischen Strafbegründungen, Festschrift Rudolphi (2004) 213; ders. Staatlicher Strafanspruch und Strafzwecke, in Schumann (Hrsg.), Das strafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat (2010) S. 59; ders. Rückkehr zu Hegel in der neueren Verbrechenslehre?, in Kubiciel/Pawlik/Seelmann (Hrsg.), Hegels Erben? (2017) 247; Pérez-Barberá Probleme und Perspektive der expressiven Straftheorien, GA 2014 504; Rautenberg Die Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems, NJ 1999 449; Richter Täter-Opfer-Ausgleich und Schadenswiedergutmachung im Rahmen von § 46a StGB (2014); Roxin Strafzumessung im Lichte der Strafzwecke, Festgabe Schultz (1977) 463; ders. Prävention und Strafzumessung, Festschrift Bruns (1978) 183; ders. Prävention, Tadel und Verantwortung, GA 2015 185; Saliger Über das kommunikative Moment in neueren, insbesondere expressiven Straftheorien, Festschrift Neumann (2017) 689; ders. Grundfragen der Vermögensabschöpfung, ZStW 129 (2017) 995; Schild Strafbegriff und Grundgesetz, Festschrift Lenckner (1998) 287; ders. Hegels Theorie der Strafrechtsinstitution, in von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Strafe – Warum? (2011) 97; Schmidhäuser Vom Sinn der Strafe, 2. Aufl. (1971); ders. Über Strafe und Generalprävention, Festschrift E.A. Wolff (1998) 443; Schilling/Hübner Non-Conviction-Based Confiscation, StV 2018 49; Schöch Die Rechtswirklichkeit und präventive Effizienz strafrechtlicher Sanktionen, in Jehle (Hrsg.) Kriminalprävention und Justiz (1996) 291; ders. Die „unterbelichtete“ Schadenswiedergutmachung gemäß § 46a StGB, Festschrift Rissing-van Saan (2011) 639; SchülerSpringorum Von Spuren keine Spur, Festschrift Roxin (2001) 1021; Schünemann Plädoyer für eine neue Theorie der Strafzumessung, in Eser/Cornils (Hrsg.) Neuere Tendenzen der Kriminalpolitik (1987) 209; ders. Sinn und Zweck der Strafe, Festschrift Yamanaka (2017) 501; ders./Dubber (Hrsg.) Die Stellung des Opfers im Strafrechtssytem (2000); ders./von Hirsch/Jareborg (Hrsg.) Positive Generalprävention (1998); Seebode Problematische Ersatzfreiheitsstrafe, Festschrift Böhm (1999) 519; Seelmann Wechselseitige Anerkennung und Unrecht, ARSP 1993 228; Sonnen Systematisierung der Strafzumessung, Festschrift Puppe (2011) S. 1007; Steinhilber Mord und Lebenslang (2012); Stratenwerth Was leistet die Lehre von den Strafzwecken? (1995); Stooß Strafe und sichernde Maßnahme, SchwZStrR 18 (1905) 1; Streng Modernes Sanktionenrecht? ZStW 111 (1999) 827; ders. Praktikabilität und Legitimität der „Spielraumtheorie“, Festschrift Müller-Dietz (2001) 875; ders. Strafrechtliche Sanktionen, 3. Aufl. (2012); ders. Schuldausgleich im Zweckstrafrecht? Festschrift Schünemann (2014) 827; Tomforde Die Zulässigkeit einer Unterschreitung der schuldangemessenen Strafe aus präventiven Gesichtspunkten (1999); Trüg Die Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung, NJW 2017 1913; Villmow Kurze Freiheitsstrafe, Ersatzfreiheitsstrafe und gemeinnützige Arbeit, Festschrift Kaiser (1998) 1291; B. Vogel Rechtsgüterschutz und Normgeltung, ZStW 129 (2017) 629; Walter Vergeltung als Strafzweck, ZIS 2011 636; Walther Vom Rechtsbruch zum Realkonflikt (2000); H.-M. Weber Die Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe (1999); Weigend Sanktionen ohne Freiheitsentzug, GA 1992 345; ders. Zur Rolle des Strafrechts im Straßenverkehr, Festschrift Miyazawa (1995) 549; ders. Wiedergutmachung als, neben oder statt Strafe, Festschrift Müller-Dietz (2001) 975; ders. Kommentar zu Tatjana Hörnle, in von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Strafe – Warum? (2011) 31; Weßlau In welche Richtung geht die Reform des Sanktionensystems? StV 1999 278; E.A. Wolff Das neuere

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Verständnis von Generalprävention usw., ZStW 97 (1985) 786; Wolters Der Entwurf eines „Gesetzes zur Reform des Sanktionenrechts“, ZStW 114 (2002) 63; Zaczyk Zur Begründung der Gerechtigkeit menschlichen Strafens, Festschrift Eser (2005) 207; Zipf Die Strafmaßrevision (1969).

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1. Das Charakteristikum des Strafrechts sind die sanktionierenden Rechtsfolgen. Dabei stehen im Vordergrund die Strafen (§§ 38–60), die wegen des verschuldeten Unrechts der Straftat gegen den Täter verhängt werden und in denen sich die Missbilligung der Tat durch die Rechtsgemeinschaft sinnfällig ausdrückt. Daneben sieht das Strafgesetzbuch als „Zweite Spur“ die Maßregeln der Besserung und Sicherung vor; deren Aufgabe besteht darin, den Gefahren weiterer Straftaten, die von dem Täter befürchtet werden, entgegenzuwirken (§§ 61–72). Schließlich enthält das StGB mit den verschiedenen Formen der Einziehung (§§ 73–76b) Maßnahmen, die sich auf Objekte oder Vermögenswerte richten, die aus der Tat stammen oder zu ihrer Begehung verwendet wurden; diese Objekte sollen dem Täter entzogen und entweder vernichtet oder dem Berechtigten zurückgegeben werden.

2. a) Über Sinn, Zweck und Berechtigung staatlichen Strafens gibt es schon seit dem Altertum unterschiedliche Auffassungen, die häufig unter dem (verkürzten) Stichwort „Straftheorien“ diskutiert werden. In dieser Diskussion werden traditionell zwei Grundauffassungen einander gegenüber gestellt: einerseits die sog. absoluten Straftheorien („poena absoluta ab effectu“), die Rechtsgrund und Sinn der Strafe darin sehen, dass durch sie dem Täter ein gerechter Ausgleich für das begangene Unrecht widerfährt und dass dadurch die Gerechtigkeit wiederhergestellt wird; andererseits die sog. relativen Straftheorien, die die Strafe auf einen bestimmten (sozialen) Zweck beziehen, nämlich die Verhütung künftiger Straftaten.144 Dieser Zweck soll dadurch erreicht werden, dass der Täter durch persönlichkeitsadäquate Behandlungs- und Resozialisierungsmaßnahmen zu einem künftig straffreien Leben befähigt und ermutigt wird (Spezialprävention), und/oder dadurch, dass der Täter selbst und alle übrigen Bürger durch das Exempel der Bestrafung von der Begehung ähnlicher Taten abgeschreckt werden (Generalprävention).145 In den letzten Jahrzehnten wird der krude Abschreckungsgedanke häufig durch die Vorstellung ersetzt oder ergänzt, dass die Bestrafung des Straftäters bei den übrigen Bürgern das Vertrauen in die weitere Geltung und Wirksamkeit der vom Täter verletzten Verhaltensnorm wiederherstellt oder stärkt (sog. positive Generalprävention).146 Sowohl gegen die absoluten als auch gegen die relativen Straftheorien in ihrer „rei58 nen“ Form bestehen gravierende Einwände. Jede Auffassung, die den Sinn der Strafe ausschließlich im Ausgleich der Schuld des Täters erblickt, muss sich die Frage stellen lassen, woher der säkulare Staat die Berechtigung nimmt, massiv in die Grundrechte seiner Bürger einzugreifen, allein um dem abstrakten Ideal der ausgleichenden Gerechtigkeit zu dienen, sofern sonst kein positiver sozialer Zweck mit diesem Eingriff verbunden ist.147 Außerdem macht sich eine solche Theorie davon abhängig, dass dem Straftäter 57

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144 Eingehende Darstellungen z.B. bei Jescheck/Weigend AT § 8; Lesch JA 1994 510, 590; Maurach/Zipf AT 1 § 6 (mit Darlegung auch der rechtshistorischen und philosophischen Hintergründe); Roxin AT I § 3 Rdn. 1 ff. 145 Hierzu grundlegend Schmidhäuser Vom Sinn der Strafe S. 53 ff; ders. FS E.A. Wolff S. 443. 146 Aus der reichen Literatur dazu vgl. Hart-Hönig Gerechte und zweckmäßige Strafzumessung; Kalous Positive Generalprävention durch Vergeltung; Müller-Tuckfeld Integrationsprävention; kritische Analysen in Schünemann/von Hirsch/Jareborg (Hrsg.) Positive Generalprävention. 147 Gärditz Der Staat 49 (2010) 331, 349 ff; Pawlik Person, Subjekt, Bürger S. 56; Schünemann in Schünemann/von Hirsch/Jareborg (Hrsg.) Positive Generalprävention S. 109, 115 f; Roxin AT I § 3 Rdn. 8; ders. GA 2015 185, 188 f.

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die Begehung der Straftat individuell vorgeworfen werden kann;148 dies setzt aber voraus, dass er sich frei zwischen Recht und Unrecht entscheiden kann.149 Die „relativen“, allein auf Präventionszwecke ausgerichteten Ansätze wiederum stehen vor dem grundsätzlichen Problem, dass sie die Strafverhängung durch empirisch messbare Erfolge bei der Verbrechensprophylaxe rechtfertigen müssen.150 Die dank reger kriminologischer Sanktionsforschung inzwischen zahlreichen empirischen Befunde über Verbrechensverhütung durch Bestrafung lassen jedoch keine generell wirksamen Abschreckungs- oder Behandlungsmethoden erkennen; Erfolge zeigen sich nur (aber immerhin) dann, wenn die für den Täter jeweils passenden Maßnahmen gefunden werden.151 Ist dies nicht möglich, so erscheint die Strafe als untauglicher und damit unzulässiger Versuch, auf Kosten des Täters Prävention zu betreiben. Außerdem entspräche es der Logik des Präventionsansatzes, die Sanktion nicht nach der Schwere der Tatschuld, sondern allein danach zu bemessen, was zur Erreichung des jeweiligen Präventionszwecks als notwendig erscheint; das kann jedoch zu Strafen führen, die – in die eine oder die andere Richtung – als grob unangemessen im Verhältnis zur begangenen Tat erscheinen,152 und damit letztlich zu einer „Entgrenzung“ des Strafrechts als beliebig einsetzbares Instrument zur Verbesserung der Sicherheit.153 Schließlich wird den Anhängern der Generalprävention entgegengehalten, dass es die Würde des Täters verletze, wenn er nicht um seiner selbst willen bestraft, sondern lediglich als Instrument zur Abschreckung bzw. Normstabilisierung bei Anderen verwendet wird.154 Um die Einseitigkeit der beiden gegensätzlichen Theorien zu vermeiden, hat man 59 verschiedene Spielarten von Vereinigungstheorien konzipiert, die den retributiven und den präventiven Ansatz miteinander zu kombinieren suchen.155 Grundlage solcher Über-

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148 Frisch GA 2015 65, 73 f weist zutreffend darauf hin, dass der Verbrechensbegriff des deutschen Strafrechts gut zur Vergeltungstheorie passt: Vergeltung ist nur (aber auch immer dann) angezeigt, wenn dem Täter die rechtswidrige Verwirklichung eines Straftatbestandes persönlich vorgeworfen werden kann. 149 Vgl. hierzu Bröckers Strafrechtliche Verantwortung ohne Willensfreiheit; Duttge (Hrsg.) Das Ich und sein Gehirn; Hillenkamp JZ 2005 320; Hirsch ZIS 2010 62; Koriath GA 2011 618; Merkel Willensfreiheit und rechtliche Schuld; Streng NK § 46 Rdn. 19 f; ders. FS Schünemann S. 827, 829 f. 150 Hörnle Tatproportionale Strafzumessung S. 110 f. 151 Umfangreicher Überblick über den Stand der Wirkungsforschung zu Spezial- und Generalprävention mit eingehenden Nachweisen bei Eisenberg/Kölbel Kriminologie S. 730 ff (Generalprävention), 747 ff (Spezialprävention); siehe ferner Hörnle Straftheorien S. 21 ff; Meier Strafrechtliche Sanktionen S. 27 ff; Villmow NK Vor § 38 Rdn. 68 ff. Näher zur Spezialprävention Dölling FS Lampe S. 597, 605; Schöch in: Jehle (Hrsg.) Kriminalprävention und Strafjustiz S. 291; zur Generalprävention Bönitz Strafgesetze und Verhaltenssteuerung (S. 329: „Art und Höhe der Strafe rangieren im Rahmen weitgehender Bedeutungslosigkeit.“). 152 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 2 Rdn. 42; Hassemer FS Lüderssen S. 221, 227 f; Hörnle Tatproportionale Strafzumessung S. 84 ff; Kargl GA 1998 53, 68; Meier Strafrechtliche Sanktionen S. 24, 26; Roxin AT I § 3 Rdn. 16; ders. GA 2015 185, 191 f. Zwar steht der verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz exzessiven Strafen entgegen (so Kaspar Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz S. 696), aber aus dem Präventionsgedanken selbst lässt sich die Begrenzung nicht ableiten; zutr. Frisch NStZ 2013 249 (der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vermag die Schuld als Maßstab für die gerechte Strafe nicht zu ersetzen). 153 S. dazu die eindringliche Warnung von Hassemer StV 2006 321, 328 ff. 154 Dieser generelle Einwand gegen präventive Theorien geht auf Kant (Metaphysik der Sitten, in Weischedel [Hrsg.], Werke Bd. 7, 1968, S. 453) und Hegel (Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1831, § 100) zurück; siehe dazu auch Calliess FS Müller-Dietz S. 99, 110; Roxin AT I § 3 Rdn. 32; ders. GA 2015 185, 192 f. 155 Kritischer Überblick bei Koriath Jura 1995 625; siehe auch Meier Strafrechtliche Sanktionen S. 33 ff. Krit. hinsichtlich der Möglichkeit einer umfassenden Straftheorie Hassemer/Neumann SK Vor § 1 Rdn. 286 f; Stratenwerth Was leistet die Lehre von den Strafzwecken? S. 20 ff; Stratenwerth/Kuhlen AT I S. 16 ff.

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legungen ist die Annahme, dass Generalprävention und schuldangemessene Bestrafung keine Gegensätze seien; vielmehr gehe gerade von der als gerecht empfundenen, schuldproportionalen Strafe die beste generalpräventive Wirkung aus.156 Außerdem sei bei der Verhängung und vor allem bei der Vollstreckung jeder Strafe darauf zu achten, dass dem Verurteilten Hilfen zu seiner Resozialisierung gegeben werden.157 Ein solcher „integrativer“ Ansatz liegt auch der Vorschrift des § 46 Abs. 1 für die Strafmaßbestimmung zugrunde: Der erste Satz dieser Regelung macht das Schuldprinzip zur Grundlage der Strafzumessung, während Satz 2 – im Sinne des Gedankens der Spezialprävention – die Berücksichtigung der Wirkungen verlangt, die von der Strafe für das zukünftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind. 60

b) Die Rechtsprechung bemüht sich gleichfalls um eine Kombination der verschiedenen Strafzwecke. Entsprechend der gesetzlichen Vorgabe (§ 46 Abs. 1 Satz 1) und wegen der verfassungsrechtlichen Verankerung des Schuldprinzips158 geht sie von dem Grundsatz aus, dass die Strafe der Schuld des Täters entsprechen müsse und weder nach oben noch nach unten159 vom Maßstab der Tatschuldproportionalität abweichen dürfe. Da dieser Maßstab aber für den Einzelfall kein festes Strafmaß vorgebe, sondern dem Gericht einen Spielraum zwischen „schon“ und „noch“ schuldangemessenen Strafen eröffne, sei innerhalb dieses Rahmens auf spezial- und generalpräventive Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen („Spielraumtheorie“).160 Gegen diese pragmatische Auffassung sind aus verschiedener Richtung Einwände erhoben worden.161 Einerseits wird die Prämisse des BGH angegriffen, dass es für eine konkrete Tat mehr als eine gerechte Strafe geben könne (Theorie von der „Punktstrafe“).162 Andererseits wird eingewandt, dass die

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156 Nachweise zu dieser häufig vertretenen Auffassung bei Hörnle Tatproportionale Strafzumessung S. 93 f; Kalous Positive Generalprävention S. 23; krit. hierzu Kuhlen in Schünemann/von Hirsch/Jareborg (Hrsg.) Positive Generalprävention S. 55, 59; Neumann in Neumann/Prittwitz (Hrsg.) Kritik und Rechtfertigung des Strafrechts S. 89, 100 ff. 157 In diesem Sinne etwa Roxin FG Schultz S. 469. 158 Vgl. z.B. BVerfGE 20 323, 331; 80 244, 255; 86 288, 312 f; 95 96, 140; hierzu eingehend Hörnle in Schumann, Das strafende Gesetz S. 105, 107 ff. Das Bundesverfassungsgericht hat es allerdings in seiner Entscheidung zur lebenslangen Freiheitsstrafe (BVerfGE 45 187, 253 f) hinsichtlich der „Straftheorien“ ausdrücklich abgelehnt, „den Theorienstreit in der Strafrechtswissenschaft von Verfassungs wegen zu entscheiden“, und neben dem Schuldausgleich auch Prävention, Resozialisierung und Sühne als „Aspekte einer angemessenen Sanktion“ anerkannt (ebenso schon BVerfGE 32 98, 109). Für eine völlig „strafzweckoffene“ Gestaltung des Strafzumessungsermessens Miebach/Maier MK § 46 Rdn. 48 – damit würde freilich jedes rechtliche Leitkriterium für das strafzumessende Gericht aufgegeben. 159 Ob eine Unterschreitung des Schuldmaßes aus spezialpräventiven Gründen zulässig sein soll, ist umstritten; dafür § 59 Abs. 1 und 2 Satz 1 AE („Die Tatschuld bestimmt das Höchstmaß der Strafe. … Das durch die Tatschuld bestimmte Maß ist nur insoweit auszuschöpfen, wie es die Wiedereingliederung des Täters in die Rechtsgemeinschaft oder der Schutz der Rechtsgüter erfordert.“); Frisch ZStW 99 (1987) 349, 368 f; Roxin FS Bruns S. 194, 197; ders. AT I § 3 Rdn. 54; Sch/Schröder/Kinzig Vor § 38 Rdn. 21; Tomforde Die Zulässigkeit einer Unterschreitung der schuldangemessenen Strafe; dagegen BGHSt 24 40, 42; Dölling FS Schreiber S. 55, 57; Streng FS Müller-Dietz, S. 875, 889 f; ders. NK § 46 Rdn. 48. 160 BGHSt 7 28, 32; 20 264, 266 f; 24 132; 29 319, 320. In BGHSt 24 40, 42 wird betont, dass „die Strafe nicht die Aufgabe hat, Schuldausgleich um ihrer (sic) selbst willen zu üben, sondern nur gerechtfertigt ist, wenn sie sich zugleich als notwendiges Mittel zur Erfüllung der präventiven Schutzaufgabe des Strafrechts erweist.“ 161 Zur kritischen Diskussion siehe Hörnle Tatproportionale Strafzumessung S. 23 ff; Lackner/Kühl § 46 Rdn. 24 ff; Streng NK § 46 Rdn. 97 ff; Streng FS Müller-Dietz S. 875; siehe auch Frisch Festgabe BGH IV, S. 269, 302 ff, der die von der Rechtsprechung berücksichtigten general- und spezialpräventiven Erwägungen zu tatfolgenausgleichsrelevanten Umständen uminterpretiert. 162 In diesem Sinne etwa Zipf Strafmaßrevision S. 165 ff; krit. Günther JZ 1989 1025 f; Neumann FS Spendel S. 435, 436 ff; Streng NK § 46 Rdn. 105; ders. Strafrechtliche Sanktionen Rdn. 656 ff.

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in sich heterogenen Präventionsbedürfnisse kaum in konkrete Strafmaße umgesetzt werden könnten.163 Ungeachtet dieser Einwände erfüllt die „Spielraumtheorie“ für die Rechtsprechung einen Zweck: Sie entlastet die Instanzgerichte von allzu aufwändiger Darlegung ihrer Strafzumessungserwägungen, und sie erspart es gleichzeitig den Revisionsgerichten, eine detaillierte Überprüfung des Abwägungsvorgangs vorzunehmen.164 c) Tatsächlich dürfte weder die traditionelle Gegenüberstellung von „absoluten“ 61 und „relativen“ Theorien noch deren oberflächliche „Vereinigung“ dem aktuellen Stand der Diskussion entsprechen. In der seit 2000 wieder stark intensivierten Debatte zeichnet sich eine deutliche Konvergenz der Auffassungen zu einer doppelspurigen Begründung des staatlichen Strafrechts aus Gerechtigkeits- und Nützlichkeitserwägungen ab.165 Es ist dabei zwischen verschiedenen, bei der Erörterung von „Straftheorien“ manchmal vermischten Fragestellungen zu unterscheiden: Was „bedeutet“ Strafe? Weshalb darf der Staat strafen? Zu welchem Zweck darf er strafen? Nach welchem Maßstab ist die Höhe der Strafe festzulegen? aa) Über den Begriff der Strafe166 herrscht weitgehend Einigkeit: Sie ist ein Nach- 62 teil, der in einem formalisierten Verfahren gegen den Täter wegen der von ihm begangenen Straftat verhängt wird und die Missbilligung der Rechtsgemeinschaft zum Ausdruck bringen soll.167 Insofern steckt schon im Begriff der Strafe ein retrospektives, auch ein retributives Element.168 Das bedeutet freilich noch nicht unbedingt, dass auch der Zweck der staatlichen Strafe in der gerechten Vergeltung gesehen werden dürfte; ob (und gegebenenfalls weshalb) der Staat strafen darf, ist eine gesondert zu erörternde Frage. bb) Zu der Frage nach der Berechtigung zum Strafen finden sich unterschiedlich ak- 63 zentuierte Ansichten. Manche Autoren heben – im Anschluss insbesondere an Kant169 – den Gedanken hervor, dass der Täter die Strafe als Ausgleich für das begangene Unrecht verdient habe; die Legitimation der Strafe gegenüber dem Täter liege darin, dass er

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163 Hörnle Tatproportionale Strafzumessung S. 29 ff; Lackner FS Gallas S. 117, 134 f; Stratenwerth Was leistet die Lehre von den Strafzwecken? S. 18 f. 164 Hörnle Tatproportionale Strafzumessung S. 35 f; Sonnen FS Puppe S. 1007, 1010 („Theorie zur Begrenzung der Revisibilität tatrichterlicher Strafzumessung“). 165 Darstellungen der Diskussion aus unterschiedlichen Perspektiven etwa bei Hörnle Straftheorien; Neumann/Prittwitz (Hrsg.) Kritik und Rechtfertigung des Strafrechts; Pawlik Person, Subjekt, Bürger. 166 Hierzu eingehend Androulakis ZStW 108 (1996) 300; Jung Was ist Strafe? (mit zahlreichen Nachweisen auch der Diskussion in der ausländischen Literatur). 167 BVerfGE 105 135, 153 f; 128 326, 377; 134 33, 81. Näher zur „symbolisch-expressiven“ Bedeutung der Strafe K. Günther FS Lüderssen S. 205, 218; Hörnle Straftheorien S. 29 ff. Dagegen will Roxin AT I § 3 Rdn. 45 das „Wesen“ der Strafe ausschließlich aus deren (aus seiner Sicht präventivem) Zweck bestimmen. 168 Duttge in Schumann, Das strafende Gesetz S. 1, 8 ff; Pérez-Barberá GA 2014 504, 505. Etwas andere Akzente (aufgrund der unterschiedlichen Funktion des Begriffs der Strafe in der EMRK) setzt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bei der Definition der „Strafe“ i.S.v. Art. 6 EMRK. Danach sind drei Kriterien für die Bestimmung einer „Strafe“ von Bedeutung: ihre Einordnung in das Rechtsgebiet „Strafrecht“, die Art der Zuwiderhandlung und die Art und Schwere der Sanktion; siehe etwa EGMR Urt. v. 8.6.1976, Engel v. Deutschland, § 82, EuGRZ 1976 221, 232; Urt. v. 21.2.1984, Öztürk v. Deutschland, § 50, EuGRZ 1985 62, 67; Urt. v. 9.2.1995, Welch v. United Kingdom, Nr. 17440/90, §§ 27 ff; Urt. v. 17.12.2009, M. v. Deutschland, Nr. 13959/04, §§ 120 ff. Eingehend zu dieser Rechtsprechung Appel Verfassung und Strafe S. 267 ff. 169 Kants Strafrechtstheorie wird dargelegt z.B. von Kühl Bedeutung der Rechtsphilosophie S. 30 ff; Zaczyk FS Eser S. 207, 211 ff.

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sich gegenüber den rechtstreuen Bürgern einen ihm nicht zustehenden Zugewinn an Freiheit verschafft habe, der ihm wieder genommen werden dürfe.170 Andere betonen – im Anschluss an Hegel – die Aufgabe, den Selbstwiderspruch der Handlungsmaximen des Täters aufzuheben, der einerseits die Geltung der bestehenden Rechtsnormen zu seinen Gunsten in Anspruch nehme und andererseits durch die Rechtsverletzung zum Ausdruck bringe, dass die übertretene Norm für ihn keine Geltung haben solle.171 Verwandte Perspektiven postulieren die Notwendigkeit, das wechselseitige Anerkennungsverhältnis zwischen den Bürgern, das der Täter gegenüber dem Opfer außer Kraft gesetzt hat, durch die soziale Degradierung des Täters wiederherzustellen,172 oder begründen die Straffälligkeit des Täters damit, dass dieser seinen Mitbürgern die Mitwirkung an der Daseinsordnung von Freiheit versagt habe.173 Bei all diesen Erwägungen steht die Verwirklichung von Gerechtigkeit im Vorder64 grund,174 freilich meist nicht im Sinne der Durchsetzung einer abstrakten Gerechtigkeitsidee um ihrer selbst willen, sondern als Voraussetzung der Freiheit jedes Individuums in der bürgerlichen Gesellschaft.175 Insofern besteht allenfalls ein gradueller Unterschied gegenüber jenen Auffassungen, die als Legitimationsgrundlage des staatlichen Strafens explizit soziale Notwendigkeiten nennen, zur Erreichung des gesellschaftlichen Zwecks des Strafrechts aber die gerechte Bestrafung des Täters als notwendig ansehen.176 Die Notwendigkeit eines staatlichen Strafrechtssystems kann in der Erhaltung des sozialen Friedens durch Rechtsgüterschutz, letztlich in der Vermeidung von Anomie und Faustrecht (d.h. in der Sprache der idealistischen Philosophie: des Rückfalls aus der bürgerlichen Gesellschaft in den Naturzustand) gesehen werden.177 Das Ineinandergreifen von Retribution und sozialer Zwecksetzung lässt sich insbesondere auch in der Theorie der „positiven Generalprävention“ aufzeigen, die den Zweck der Strafe in der Aufrechterhaltung der Normtreue der Bevölkerung trotz der Normverletzung durch den

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170 In diesem Sinne etwa Bung in Zabel, Strafrechtspolitik S. 181, 189 f; Kindhäuser GA 1989 493, 494 ff; siehe auch Weigend FS Miyazawa S. 549, 556 ff; zahlreiche weitere Nachweise auch aus dem angloamerikanischen Schrifttum bei Kalous Positive Generalprävention durch Vergeltung S. 175. Abl. Schünemann FS Yamanaka S. 501, 503 f. 171 Z.B. Klesczewski Die Rolle der Strafe S. 368 ff; Köhler AT S. 48 ff; Pawlik in Schumann, Das strafende Gesetz S. 59, 78 ff; Schild FS Lenckner S. 287, 306 ff; ders. in von Hirsch/Neumann/Seelmann, Strafe – Warum? S. 97 ff. 172 Eingehend E.A. Wolff ZStW 97 (1985) 786, 811 ff; krit. und vertiefend Seelmann ARSP 1993 228; Verbindungslinien zu den anglo-amerikanischen „expressiven“ Straftheorien bei H. Kaiser Widerspruch und harte Behandlung. 173 So Pawlik Person, Subjekt, Bürger S. 83 ff; ders. in: Kubiciel/Pawlik/Seelmann, Hegels Erben? S. 247, 260 ff, 271 f (unter Rückgriff auf Hegel und Hälschner). 174 Das gilt auch für die ganz eigenständige Gerechtigkeitslehre von Lampe Strafphilosophie S. 47 ff, 246 ff. 175 Eingehend zu den Beziehungen zwischen Vergeltungs- und Schuldbegriffen Streng Strafrechtliche Sanktionen Rdn. 14 ff. Altenhain GS Keller S. 1 versteht auch Kants eigene Auffassung in dem Sinne, dass durch Vergeltung letztlich das Ziel verfolgt werden solle, den Rechtszustand der (äußeren) Freiheit aller Bürger gegen Übergriffe zu sichern, und stellt so eine Konkordanz zwischen Kant und der generalpräventiven Theorie Feuerbachs her. Zur Interpretation und Verteidigung der absoluten Straftheorien auch Hassemer/Neumann SK Vor § 1 Rdn. 270 ff. 176 In diesem Sinne etwa Gropp AT S. 48 f; Hassemer/Neumann NK Vor § 1 Rdn. 104 f; Roxin AT I § 3 Rdn. 8; Sch/Schröder/Kinzig Vor § 38 Rdn. 1; Schünemann in Eser/Cornils (Hrsg.), Neue Tendenzen S. 209, 219 ff; ders. in Schünemann/von Hirsch/Jareborg (Hrsg.), Positive Generalprävention S. 109, 115 ff. 177 S. dazu die empirischen Befunde zu vorhandenen Vergeltungsbedürfnissen bei Walter ZIS 2011 636 (der auf ihrer Grundlage „gerechte Vergeltung“ als legitimen Strafzweck bezeichnet, aaO S. 646). Ähnlich Streng ZStW 101 (1989) 273, 286 ff; ders. Strafrechtliche Sanktionen Rdn. 27 ff; ders. NK § 46 Rdn. 44: „(Selbst-)Stabilisierungsbedürfnisse der Mitbürger“ durch Bestätigung der verinnerlichten Wertordnung.

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Täter sieht178 und dieses Ziel gerade durch dessen tatproportionale Bestrafung erreichen will.179 Auch die Autoren, die der Strafe vornehmlich eine expressive Funktion als Ausdruck des Tadels gegenüber dem Täter zuschreiben,180 sehen diesen Tadel nicht als Selbstzweck, sondern als ein Element der – insbesondere für die Anerkennung des Verletzten – notwendigen Bewältigung des durch die Straftat geschaffenen sozialen Konflikts.181 Die doppelspurige Legitimation des staatlichen Strafens durch retributive und 65 präventive Erwägungen182 wird heute von vielen Autoren akzeptiert:183 Als staatliche Einrichtung ist das Strafrecht (und dessen Durchsetzung) notwendig zur Aufrechterhaltung friedlichen Zusammenlebens, indem Rechtsbrüche verhindert oder jedenfalls minimiert und in den Untergrund gedrängt werden; als Belastung des einzelnen Straftäters rechtfertigt sich die Strafe durch den Gedanken der ausgleichenden Gerechtigkeit – der Täter „muss (…) dafür einstehen, dass ein gesicherter Rechtszustand wiederhergestellt wird“.184 cc) Aus der zweigeteilten Begründung für die Institution staatlichen Strafens ergibt 66 sich eine Schwierigkeit für die Frage der Bemessung der Strafe im Einzelfall: Soll sie sich am präventiven sozialen Zweck oder am Gedanken der Tatschuldproportionalität orientieren? Die Antwort fällt, da rein präventionsorientierte Sanktionen häufig dem fundamentalen Gerechtigkeitsgefühl nicht nur des Sanktionierten, sondern auch der Allgemeinheit widersprächen, meist im Sinne der Tatschuldproportionalität aus.185 Denjenigen Autoren, die bei der Begründung der Institution Strafe in erster Linie auf den Gerechtigkeitsgedanken rekurrieren (oben Rdn. 63), fällt es nicht schwer, das Postulat

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178 Grundlegend Jakobs AT 1/9 ff; zust. Baumann/Weber/Eisele/Mitsch § 2 Rdn. 26 ff; aus verfassungsrechtlicher Sicht Gärditz Der Staat 49 (2010) 331, 357 ff; ders. Staat und Strafrechtspflege S. 49 ff. Krit. K. Günther Schuld und kommunikative Freiheit S. 54 f; Hörnle Tatproportionale Strafzumessung S. 90 ff; dies. in von Hirsch/Neumann/Seelmann, Strafe – warum? S. 11, 22 f; Weigend ebda. S. 31, 33 ff; Koriath in Radtke u.a. (Hrsg.) Muss Strafe sein? S. 49, 55 ff. Zur Nähe dieser Theorie zu retributiven Ansätzen Hassemer/Neumann NK Vor § 1 Rdn. 107, 273 (die allerdings in den Kreis der durch Strafrechtspflege zu stabilisierenden Normen auch die „Beachtung einer formalisierenden Schutztechnik“ gegenüber dem Verdächtigen einbeziehen; aaO Rdn. 290); Kalous Positive Generalprävention durch Vergeltung S. 156, 170, 252 ff. 179 Die meisten Menschen würden ein Strafrechtssystem, das staatliche Strafe explizit und ausschließlich mit generalpräventiven Erwägungen begründen wollte (z.B.: „Wir bestrafen Menschen nur zum Zweck der Normstabilisierung“), nicht akzeptieren; Bock ZStW 103 (1991) 636, 649 ff; Hörnle/von Hirsch GA 1995 261, 268 ff; Neumann in Neumann/Prittwitz (Hrsg.), Kritik und Rechtfertigung des Strafrechts S. 89, 104; Pawlik FS Rudolphi S. 213, 225 ff. Vgl. auch Hassemer FS Lüderssen S. 221, 226: „Die klügsten Präventiv-Konzepte sind … die vergeltungsorientierten Strafen; denn nur sie erreichen ihre langfristigen Ziele wirklich.“ 180 S. etwa K. Günther FS Lüderssen S. 205; Hörnle Straftheorien S. 29 ff. 181 K. Günther FS Lüderssen S. 205; Hassemer/Neumann NK Vor § 1 Rdn. 103a; Hassemer/Reemtsma Verbrechensopfer S. 121 ff; Hörnle in von Hirsch/Neumann/Seelmann, Strafe – warum? S. 11, 26 ff; dies. Straftheorien S. 35 ff; dies. FS Neumann S. 593, 600 f; B. Vogel ZStW 129 (2017) 629, 642 ff. 182 Grundlegend in diesem Sinne bereits Hart Punishment and Responsibility S. 1, der zwischen dem „General justifying aim“ (Generalprävention) und dem Prinzip der „Distribution“ von Strafe (Vergeltung) unterscheidet. 183 S. etwa Frisch Festgabe BGH IV S. 269, 278 f; Pérez-Barberá GA 2014 504, 507 ff; Schünemann in Schünemann/von Hirsch/Jareborg (Hrsg.), Positive Generalprävention S. 109, 118 f; Streng Strafrechtliche Sanktionen Rdn. 45 ff. Anders jedoch die „Vereinigungstheorie“ von Roxin AT I § 3 Rdn. 37 ff, die auf retributive Elemente verzichtet und die Legitimation der Strafe ausschließlich in general- und spezialpräventiven Erwägungen sieht. 184 Roxin GA 2015 185, 197 f. Im gleichen Sinne Walter JZ 2019 649, 650. 185 Vgl. aber Baurmann Zweckrationalität und Strafrecht, mit Argumenten für ein nicht schuldorientiertes Maßnahmenrecht.

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tatschuldproportionaler Bestrafung mit ihrem Ausgangspunkt zur Deckung zu bringen: So wie die Strafe im allgemeinen soll auch die Strafmaßbestimmung im besonderen der Verwirklichung von gerechtem Schuldausgleich dienen.186 Im Ansatz ähnlich argumentieren auch die Vertreter der insbesondere auf von Hirsch zurückgehenden Auffassung,187 die den reprobativen Charakter der Strafe betonen: Auch danach liegt es nahe, dass das Gewicht des in der Strafe zum Ausdruck kommenden Tadels dem Gewicht des verschuldeten Unrechts zu entsprechen hat.188 Aus dieser Perspektive fällt allerdings (generell) die Begründung dafür schwer, dass der Täter nicht nur öffentlich getadelt, sondern zusätzlich mit einer Einbuße an Freiheit oder Eigentum belegt wird.189 Soweit man zur Rechtfertigung des „hard treatment“ auf den Gedanken der Generalprävention zurückgreift,190 ist es nicht ganz stringent, ohne weiteres anzunehmen, dass das Strafübel tatproportional auszufallen habe.191 Dieser Schwierigkeit versucht man mit unterschiedlichen Strategien zu begegnen. Teilweise wird behauptet, die schuldgerechte Strafe sei selbstverständlich auch die generalpräventiv wirksamste;192 teilweise wird das Schuldmaß aus rechtsstaatlichen Gründen bewusst als externe Größe zur Begrenzung der sonst tendenziell uferlosen präventiven Sanktionierung eingeführt.193 Manche Autoren orientieren die Strafbemessung im Einzelfall unmittelbar an dem (präventiven) Ziel der Normstabilisierung.194 Dadurch stellen sie zwar eine konsistente Verbindung zwischen Begründung und Bemessung der Strafe her; aber eine Strafzumessung, die sich unmittelbar am Maß der „Infragestellung der Geltung des Rechts“ durch den Täter195 orientieren wollte, stößt auf die Schwierigkeit, dass sich dieses Maß schwer ermitteln und noch schwerer in Strafmaße „übersetzen“ lässt.196

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186 Eingehend Köhler Über den Zusammenhang; ders. AT S. 38; siehe auch Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 2 Rdn. 51; Pawlik Person, Subjekt, Bürger S. 91. 187 Grundlegend von Hirsch Past or Future Crimes S. 29 ff; ders. Fairness, Verbrechen und Strafe S. 41 ff. 188 von Hirsch Censure and Sanctions S. 6 ff; Hörnle Tatproportionale Strafzumessung S. 114 ff; Walther Vom Rechtsbruch zum Realkonflikt S. 198 ff, 289 ff. 189 Hörnle Tatproportionale Strafzumessung S. 122 f; dies. in von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Strafe – Warum? S. 11, 27 f, begründet die Zufügung des Strafübels (jedenfalls für schwere Delikte) mit dem plausiblen Gedanken, dass die expressive Funktion der Tadelsstrafe unterlaufen würde, wenn es angesichts schweren Unrechts bei der bloßen Deklaration bliebe. Ähnlich, unter einleuchtendem Hinweis auf kalkulierende (Wirtschafts-)Straftäter, Saliger FS Neumann S. 689, 694. Abl. Schünemann FS Yamanaka S. 501, 504. 190 So von Hirsch in Schünemann/von Hirsch/Jareborg, Positive Generalprävention S. 101, 104 f; ders. in von Hirsch/Neumann/Seelmann, Strafe – Warum? S. 43, 54 ff; krit. zu diesem „synkretistischen“ Zug in von Hirschs Theorie Pawlik Person, Subjekt, Bürger S. 52; ders. FS Rudolphi S. 213, 218 ff. 191 So aber von Hirsch in Schünemann/von Hirsch/Jareborg, Positive Generalprävention S. 101, 104 f. 192 So z.B. Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 2 Rdn. 56; s. auch Streng NK § 46 Rdn. 43 („Rechtsbewährung durch gerechte Urteile“); weitere Nachweise oben bei Rdn. 59. 193 Prononciert in diesem Sinne Roxin AT I § 3 Rdn. 51 ff; ähnlich Schünemann in Schünemann/von Hirsch/Jareborg, Positive Generalprävention S. 109, 115 f; vgl. auch Calliess FS Müller-Dietz S. 99, 112 ff (für das Verhältnis Spezialprävention/ Tatschuld). Kritisch zu der Behauptung einer straflimitierenden Wirkung des Schuldgedankens Kaspar in Brunhöber, Strafrecht im Präventionsstaat S. 61, 66 f, 71. Die langjährigen Untersuchungen von Streng (FS Schünemann S. 827, 836 f) haben eine signifikant strengere Strafzumessungseinstellung bei solchen Probanden gezeigt, die in „Vergeltung/Sühne“ den vorrangigen Strafzweck sehen. 194 So insbesondere Frisch Festgabe BGH IV S. 280 f, 290 f; ders. GA 2014 489, 495 f; ders. FS Beulke S. 103; ähnlich Pawlik Person, Subjekt, Bürger S. 93 f. Abl. Schünemann in Schünemann/von Hirsch/Jareborg, Positive Generalprävention S. 109, 119; Stratenwerth Was leistet die Lehre von den Strafzwecken? S. 18 f; E.A. Wolff ZStW 97 (1985) 786, 803 f. 195 In diesem Sinne Frisch FS Beulke S. 103, 108 f. 196 So mag man es mit Frisch Festgabe BGH IV S. 281, 285, 295 für richtig halten, bei einer Häufung von Straftaten oder bei einschlägigem Rückfall höhere Strafen zu verhängen (s. allerdings auch die skeptische Einschätzung bei Streng NK § 46 Rdn. 35) – das Ausmaß der „Absage an die Rechtsordnung“ (aaO S. 290,

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dd) Vergleichsweise geringe (theoretische) Schwierigkeiten macht die Berücksichti- 67 gung spezialpräventiver Erwägungen bei der Bestrafung des Täters. Einigkeit besteht heute darin, dass eine „Zwangsbehandlung“ von Straftätern, selbst wenn sie spezialpräventiv wirksam konzipiert werden könnte, unzulässig ist. Eine dem erwachsenen Straftäter durch staatliche Strafe auferlegte Resozialisierung ist daher nur in engen Grenzen vorstellbar, etwa bei gemeinnützigen Arbeitsleistungen (vgl. § 56 Abs. 2 Nr. 3 StGB, Art. 293 EGStGB; s. Rdn. 72). Das Hauptproblem einer „Resozialisierung durch Strafe“ ergibt sich allerdings aus der Einsicht, dass staatliche Strafen – insbesondere Freiheitsstrafen – die (Wieder-)Eingliederung des Täters in die soziale Gemeinschaft nur in seltenen Fällen zu fördern vermögen. Wenn man dennoch – mit dem Bundesverfassungsgericht – dem Verurteilten einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Resozialisierungsbemühungen des Staates einräumen will,197 so kann dies nur bedeuten, dass beim Vollzug der Freiheitsstrafe die desozialisierenden Wirkungen des Freiheitsentzugs so gering wie möglich zu halten sind und dass dem Verurteilten Angebote zur Aus- und Fortbildung sowie zur Bewältigung von psychischen Problemen und Abhängigkeiten gemacht werden müssen.198 Außerdem sprechen spezialpräventive Erwägungen dafür, es wenn immer möglich bei ambulanten Sanktionen zu belassen, kann doch die Fähigkeit zur verantwortlichen Wahrnehmung von Freiheit am allerwenigsten im Zustand der Unfreiheit erlernt werden. 3. a) Unter den Strafen steht die Freiheitsstrafe als schwerste Sanktion in der Sys- 68 tematik des Gesetzes an der Spitze (§§ 38 f). Ihre Mindestdauer ist ein Monat und das Maximum 15 Jahre, wenn nicht das Gericht eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt (§ 38). Die lebenslange Freiheitsstrafe ist allerdings nur bei Mord (§ 211), Völkermord (§ 6 VStGB), Tötung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder als Kriegsverbrechen (§ 7 Abs. 1 Nr. 1, § 8 Abs. 1 Nr. 1 VStGB) und dem Verbrechen der Aggression (§ 13 Abs. 1 VStGB) verbindlich vorgeschrieben,199 bei wenigen anderen schweren Straftaten (z.B. sexuelle Nötigung, Raub und Brandstiftung jeweils mit Todesfolge, §§ 178, 251, 306c) als Alternative zugelassen. Kurze Freiheitsstrafen unter sechs Monaten sieht der Gesetzgeber als spezialpräventiv besonders schädlich an; sie sollen nur verhängt und vollstreckt werden, wenn besondere Umstände dies gebieten (§§ 47, 56 Abs. 1 und 3). Tatsächlich bildet die Verhängung von Freiheitsstrafen in der gerichtlichen Praxis eher die Ausnahme als die Regel: Im Jahre 2017 erhielten von allen verurteilten Erwachsenen 16% eine Freiheitsstrafe; jedoch mussten nur 5% der Verurteilten die Freiheitsstrafe sogleich verbüßen, während bei den übrigen die Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wur-

_____ 291) durch den Täter lässt sich aber empirisch nicht feststellen, und auch die Höhe der Sanktion, die dazu notwendig wäre, die durch diesen Täter bewirkte Schwächung der Rechtsgeltung zu beheben, kann man nicht ermitteln. 197 Nach BVerfGE 98 169, 200 f (im Anschluss an BVerfGE 35 202, 235; 45 187, 239) hat der Gefangene aus dem Grundsatz der Menschenwürde und aus dem Sozialstaatsprinzip einen grundrechtlichen Anspruch darauf, dass der Staat bei seinen Maßnahmen dem Ziel der Resozialisierung Rechnung trägt. Zur Umsetzung dieses Anspruchs im Strafvollzug s. z.B. § 3 StVollzG NRW („Behandlungsvollzug“), § 66c StGB (resozialisierende Angebote in der Sicherungsverwahrung). 198 Näher Hassemer FS Lüderssen S. 221, 223 ff; Roxin AT I § 3 Rdn. 39; Weigend in Radtke u. a., Muss Strafe sein? S. 181, 185 ff; mit Recht skeptisch hinsichtlich der Bereitschaft der (Fiskal-)Praxis zur Umsetzung des Resozialisierungsgebots Leyendecker (Re-)Sozialisierung und Verfassungsrecht S. 335. 199 Die Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung war umstritten, ist aber in BVerfGE 45 187 (s. auch BVerfGE 64 272; 117 71) bestätigt worden. Diskussion von Grundlagen und Anwendungsproblemen bei Kett-Straub Lebenslange Freiheitsstrafe; Steinhilber Mord und Lebenslang; zur Kritik der Regelung siehe Dünkel NK § 38 Rdn. 30 ff; Weber Die Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe.

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de.200 Der Anteil der Freiheitsstrafen an allen gerichtlich verhängten Sanktionen ist – ebenso wie die Zahl der strafrechtlich verurteilten Personen – seit dem Jahr 2005 deutlich gesunken.201 Für schwere Delikte und für gefährliche Wiederholungstäter muss die Freiheitsstrafe jedoch mangels brauchbarer Alternativen nach wie vor als unentbehrlich angesehen werden; sie wird nicht zu Unrecht als „Rückgrat“ des Sanktionensystems bezeichnet.202 Am 31.8.2018 verbüßten rund 44.000 (2005: 63.000)203 Personen eine Freiheitsstrafe im deutschen Erwachsenen-Strafvollzug.204 b) Bei mehr als zwei Drittel aller Freiheitsstrafen wird die Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Mit der Einführung dieser Möglichkeit im Jahre 1953 griff der deutsche Gesetzgeber einen Gedanken auf, der schon lange zuvor in der Reformbewegung des beginnenden 20. Jahrhunderts propagiert worden war.205 Unter den verschiedenen Modellen einer (durch Legalbewährung) bedingten Strafverschonung wurde in Deutschland ein vergleichsweise restriktives verwirklicht: Der Täter wird zu einer bereits endgültig festgesetzten Freiheitsstrafe verurteilt, lediglich ihre Vollstreckung wird bedingt ausgesetzt; zusätzlich erhält der Täter häufig Auflagen (etwa einen Geldbetrag zu bezahlen) oder Weisungen.206 Erfüllt der Verurteilte die Bedingungen der Strafaussetzung, so wird ihm die Strafe nach Ablauf der Bewährungszeit erlassen (§ 56g Abs. 1); verübt er jedoch eine neue Straftat oder verstößt er in schwerwiegender Weise gegen die ihm erteilten Auflagen oder Weisungen, so kann die Strafaussetzung widerrufen und die Vollstreckung der Strafe angeordnet werden (§ 56f).207 Demgegenüber werden etwa in den USA eigenständige ambulante Bewährungssanktionen („probation“) verhängt. Das Gericht beschränkt sich dabei zunächst auf einen Schuldspruch und auf die Festlegung von Maßgaben für die künftige Lebensführung des Verurteilten, zu denen meist die Unterstellung unter die Aufsicht eines Bewährungshelfers gehört. Bei Misslingen der Bewährung wird dann eine neue Sanktion festgelegt, die auch in einem Freiheitsentzug bestehen kann.208 70 Eine Strafaussetzung zur Bewährung ist zulässig bei Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren. Sie setzt generell die Erwartung voraus, dass der Verurteilte „künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird“ (§ 56 Abs. 1 Satz 1).

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200 Berechnet nach Statistisches Bundesamt Rechtspflege. Strafverfolgung 2017 (Fachserie 10, Reihe 3) S. 91 f. 201 Im Jahr 2005 wurden rund 781.000 Erwachsene und Jugendliche strafrechtlich verurteilt, im Jahre 2017 lag die Zahl nur noch bei 716.000; Statistisches Bundesamt Rechtspflege. Strafverfolgung 2017 (Fachserie 10, Reihe 3) S. 15. Der Anteil der zu Freiheitsstrafe Verurteilten an allen verurteilten Erwachsenen lag 2004 noch bei 23% (Statistisches Bundesamt Rechtspflege. Strafverfolgung 2004 S. 144), dagegen 2017 bei 16%. 11 202 Jescheck LK Einl. Rdn. 82. 203 Statistisches Bundesamt Rechtspflege. Strafvollzug 2005 (Fachserie 10, Reihe 4.1) S. 6. 204 Statistisches Bundesamt Rechtspflege: Bestand der Gefangenen und Verwahrten, Stand 15.8.2018 S. 6. In der Zahl sind die Personen in Sicherungsverwahrung sowie diejenigen enthalten, die eine Ersazfreiheitsstrafe wegen Nicht-Einbringlichkeit einer Geldstrafe (§ 43) verbüßen. 205 Zur Vorgeschichte der Strafaussetzung zur Bewährung in Deutschland Kürzinger in Jescheck (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate S. 1737, 1868 ff. 206 Die Rechtsprechung (BGHSt 24 40, 43) sieht die Strafaussetzung konsequenterweise als bloße „Modifikation der Strafvollstreckung“ an, wenngleich sie faktisch zu einer ambulanten Behandlung des Täters führt. 207 In fast der Hälfte der Fälle wird die Strafaussetzung widerrufen,davon ganz überwiegend wegen der Begehung weiterer Straftaten; s. Streng Strafrechtliche Sanktionen Rdn. 225. 208 Siehe die Beiträge vom MacKenzie, Cohen und Latessa in Dressler (Hrsg.), Encyclopedia of Crime and Justice Bd. 3, S. 1210 ff. Vorschläge zu einem Übergang zu dem anglo-amerikanischen System bei Horn JZ 1992 828, 829 ff; Weigend GA 1992 345, 361 ff.

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Liegt die verhängte Freiheitsstrafe höher als ein Jahr, so müssen außerdem nach einer Gesamtwürdigung von Tat und Täter „besondere Umstände“ vorliegen, die für eine Strafaussetzung sprechen (§ 56 Abs. 2).209 Auch wenn eine Freiheitsstrafe vollstreckt werden muss, besteht nach § 57 die Möglichkeit, einen Strafrest zur Bewährung auszusetzen.210 Dies ist frühestens – bei Erstverbüßern oder bei Vorliegen „besonderer Umstände“ – nach der Hälfte der Strafzeit möglich (§ 57 Abs. 2); im Regelfall erfolgt eine Strafrestaussetzung, wenn zwei Drittel der Strafe verbüßt sind. Voraussetzung ist stets, dass die Entlassung aus dem Strafvollzug „unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann“ (§ 57 Abs. 1 Nr. 2). Im Übrigen hat das Gericht die gleichen Möglichkeiten wie bei der anfänglichen Strafaussetzung zur Bewährung, dem Täter Auflagen und Weisungen zu erteilen, insbesondere ihn einem Bewährungshelfer zu unterstellen. Auch lebenslange Freiheitsstrafen können nach frühestens 15 Jahren Verbüßungszeit zur Bewährung ausgesetzt werden (§ 57a); hier besteht allerdings die weitere Voraussetzung, dass nicht die besondere Schwere der Schuld – die schon vom erkennenden Gericht bei der Verurteilung festzustellen ist (BVerfGE 86 288, 315 ff) – die weitere Vollstreckung der Freiheitsstrafe gebietet (§ 57a Abs. 1 Nr. 2). c) Ungefähr 84% der im Jahre 2017 verurteilten erwachsenen Straftäter erhielten eine 71 Geldstrafe.211 Die Geldstrafe bildet also bei der großen Mehrzahl der abgeurteilten Straftaten die einzige Sanktion.212 Im Ganzen bewährt hat sich die 1975 eingeführte Verhängung der Geldstrafe nach Tagessätzen (§ 40), durch die die Opfergleichheit bei Tätern mit unterschiedlichen Vermögensverhältnissen hergestellt werden soll. Die zu bezahlende Summe ergibt sich aus der nach den Gesichtspunkten von § 46 zu bemessenden Anzahl der Tagessätze multipliziert mit der nach dem individuellen Netto-Einkommen zwischen einem und 30.000 Euro festzusetzenden Höhe des Tagessatzes.213 Bei einer einzelnen Tat darf das Gericht mindestens fünf und höchstens 360 Tagessätze verhängen (§ 40 Abs. 1 Satz 2); tatsächlich lagen 83% der im Jahre 2017 verhängten Geldstrafen im Bereich zwischen 16 und 90 Tagessätzen.214 d) Falls der Verurteilte die Geldstrafe nicht innerhalb angemessener Frist215 zahlt, 72 wird sie beigetrieben. Bleibt dieser Versuch erfolglos, so tritt an die Stelle der Geldstrafe eine Ersatzfreiheitsstrafe, wobei ein Tagessatz einem Tag Freiheitsstrafe entspricht (§ 43).216 Am 31.8.2018 befanden sich fast 4.500 Personen (das waren 7% aller Gefangenen) im Vollzug einer Ersatzfreiheitsstrafe.217 Um die Zahl der rechts- und sozialpolitisch unerwünschten Vollstreckungen der Ersatzfreiheitsstrafe zu reduzieren, wird nach dem

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209 Zu den Voraussetzungen der Strafaussetzung eingehend Streng Strafrechtliche Sanktionen Rdn. 172 ff. 210 Grundlegende Überlegungen hierzu bei Frisch ZStW 102 (1990) 707, 715 ff. 211 Berechnet nach Statistisches Bundesamt Rechtspflege. Strafverfolgung 2017 (Fachserie 10, Reihe 3) S. 91. 212 Nach § 41 kann eine Geldstrafe auch neben einer Freiheitsstrafe verhängt werden, doch macht die Praxis von dieser Möglichkeit nicht häufig Gebrauch. 213 Problematisch ist die Bemessung des Tagessatzes bei Tätern ohne eigenes Einkommen; siehe dazu Radtke MK § 40 Rdn. 75 ff; Sch/Schröder/Kinzig § 40 Rdn. 8 f, 11a; Streng Strafrechtliche Sanktionen Rdn. 132 f. 214 Berechnet nach Statistisches Bundesamt Rechtspflege. Strafverfolgung 2017 (Fachserie 10, Reihe 3) S. 198. 215 Das Gericht kann auch die Möglichkeit einräumen, die Geldstrafe in Raten zu bezahlen (§ 42). 216 Zur Problematik der Ersatzfreiheitsstrafe Seebode FS Böhm S. 519; Villmow FS Kaiser S. 1291. 217 Berechnet nach Statistisches Bundesamt Rechtspflege: Bestand der Gefangenen und Verwahrten, Stand 15.8.2018 S. 5 f.

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Recht der Länder auf der Grundlage von Art. 293 EGStGB die Möglichkeit eröffnet, anstelle der Ersatzfreiheitsstrafe gemeinnützige Arbeit zu leisten.218 Seit Ende der 1990er Jahre wurde in Gesetzentwürfen verschiedentlich vorgeschlagen, die gemeinnützige Arbeit als Alternative zur Geldstrafe und auch zu einer vollstreckbaren kurzfristigen Freiheitsstrafe in das Strafgesetzbuch aufzunehmen.219 Diese Vorschläge wurden jedoch bisher nicht umgesetzt. Die Probleme einer selbständigen Sanktion „Gemeinnützige Arbeit“ liegen teilweise bei dem verfassungsrechtlichen Verbot der Zwangsarbeit (Art. 12 Abs. 3 GG),220 hauptsächlich aber bei der personalintensiven praktischen Umsetzung einer solchen Strafe mit einer Klientel, der es teilweise an der Motivation oder auch an der Fähigkeit zu regelmäßiger Arbeit mangelt. 73

4. Neben den an der Tatschuld orientierten Strafen sieht das Strafgesetzbuch eine Reihe von Maßregeln der Besserung und Sicherung vor (§§ 61 ff). Der Zweck der Maßregeln liegt darin, der in der Tat hervorgetretenen Gefährlichkeit des Täters durch therapeutische oder sichernde Eingriffe zu begegnen. Da es nur um die in Zukunft drohenden Gefahren geht, dürfen die meisten Maßregeln auch bei rechtswidrigen Taten schuldunfähiger Täter angeordnet werden,221 und die zulässige Schwere des mit ihnen verbundenen Eingriffs ist auch nicht an dem Gewicht etwaiger Tatschuld, sondern an den Kriterien der Geeignetheit, (relativen) Erforderlichkeit und Angemessenheit zu messen. Die Idee solcher Sanktionen geht auf den Schweizer Strafrechtler Carl Stooß zurück222 und fand sich schon in den Reformentwürfen der Weimarer Zeit. Sie wurde jedoch erst mit dem Gewohnheitsverbrechergesetz von 1933 (RGBl. I S. 995) in das Strafgesetzbuch eingeführt.223 Die Forderung nach der Schaffung schuldunabhängiger Maßregeln gründete darauf, dass die strafrechtliche Reaktion nach der Auffassung der „Modernen Schule“ (s. Rdn. 24) in erster Linie der spezialpräventiven Einwirkung auf den Täter dienen sollte. Da für die Strafe die Bindung an die Tatschuld beibehalten wurde und sie den Zweck der Verbrechensprävention daher nicht in allen Fällen erfüllen konnte, wollte man sie durch weitere Sanktionen ergänzen. Man gelangte so zu einem System der „Zweispurigkeit“ der strafrechtlichen Sanktionen.

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a) Die Existenz strafrechtlicher Maßregeln, deren präventiver Charakter eher ins Polizeirecht weist, lässt sich nicht leicht legitimieren.224 Maßregeln haben ebenso wie Stra-

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218 Siehe dazu Feuerhelm Stellung und Ausgestaltung; Kawamura-Reindl GS Walter S. 727; Laun Alternative Sanktionen S. 213 ff; Streng ZStW 111 (1999) 827, 837 ff. 219 Überblick bei Rautenberg NJ 1999 449, 451 ff; krit. Helgerth/Krauß ZRP 2001 281; Weßlau StV 1999 278, 281 ff; Wolters ZStW 114 (2002) 63, 72 ff. 220 Wegen des verfassungsrechtlichen Verbots von Zwangsarbeit außerhalb des Strafvollzugs (Art. 12 Abs. 3 GG) ist das Erbringen „gemeinnütziger Leistungen“ durch Erwachsene bisher nur als Angebot (zur Ersetzung einer Ersatzfreiheitsstrafe oder auch zur Herbeiführung einer Verfahrenseinstellung nach § 153a Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StPO) oder als Bedingung für eine Vergünstigung (z.B. Strafaussetzung zur Bewährung, § 56b Abs. 2 Satz 1 Nr. 3) konzipiert und kann nicht zwangsweise durchgesetzt werden. 221 Für die Maßregeln nach §§ 63, 64, 69 und 70 genügt die Begehung einer rechtswidrigen Tat; die Sicherungsverwahrung darf nach § 66 Abs. 1 Nr. 1c auch dann verhängt werden, wenn der Täter nur den Tatbestand des Vollrauschs (§ 323a) erfüllt hat. Die Maßregel der Führungsaufsicht setzt dagegen nach § 68 Abs. 1 voraus, dass der Täter eine mindestens sechsmonatige Freiheitsstrafe „verwirkt“, also schuldhaft gehandelt hat. 222 Stooß SchwZStrR 18 (1905) 1. 223 Zur historischen Entwicklung des Maßregelrechts Eser FS Müller-Dietz S. 99. Einen „Kontinuitätsbruch zum Strafrecht der Weimarer Republik“ sieht Sch/Schröder/Kinzig Vor § 61 Rdn. 1 im Gewohnheitsverbrechergesetz von 1933. 224 Überblick zu dieser Frage bei Schöch LK12 Vor § 61 Rdn. 21 ff.

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fen ahndende225 wie individualpräventive Funktionen; deshalb kann man von einer „Zweispurigkeit“ von schuldvergeltender Strafe und gefährlichkeitsbekämpfender Maßregel eigentlich nicht (mehr) sprechen.226 Diese Einsicht verschärft das Legitimationsproblem; denn wenn man der Maßregel ahndende Funktionen zuweist, ist ihre Verhängung mit dem Schuldgrundsatz nicht vereinbar, soweit sie gegenüber schuldunfähigen Personen angewandt wird oder das mit ihr verbundene Übel über das schuldadäquate Maß hinausgeht.227 Zu ihrer Legitimation reicht jedenfalls die Annahme nicht aus, der gefährliche Straftäter habe seinen Freiheitsanspruch „verwirkt“.228 Zurückgreifen kann man allenfalls auf die Erwägung, dass der Staat zum Schutz gefährdeter wichtiger Interessen von Individuen und der Allgemeinheit verpflichtet ist und deshalb die Möglichkeit haben muss, Gefahrenquellen zu neutralisieren, bei Fehlen anderer Alternativen auch durch die Beschränkung der Freiheit Einzelner.229 Nimmt man dies an, so ist es aus Gründen des Sachzusammenhanges sinnvoll, die hierzu notwendigen Maßnahmen gegenüber einem Straftäter innerhalb des ohnehin gegen ihn durchgeführten Strafverfahrens zu prüfen und anzuordnen. Aus der notstandsähnlichen Grundlage230 des Rechtsinstituts der Maßregel folgt, dass ihre Anwendung nicht nur dem allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (§ 62) unterliegt,231 sondern auch schon im gesetzlichen Modell an enge Voraussetzungen gebunden werden muss, die die Gefährlichkeit des Täters sowie die Wirksamkeit der Maßregel zur Rückfallprophylaxe verlässlich indizieren. Die Regelungen des Strafgesetzbuchs werden diesem Postulat nicht in jeder Hinsicht gerecht. Insbesondere wird die stets prekäre Gefahrprognose, wenn nur eine einzige Anlasstat vorliegt, ganz der Entscheidung des Gerichts überlassen (§§ 63, 64; auch § 66 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 – mehrere gleichzeitig abgeurteilte Taten) oder sogar gesetzlich vermutet (§ 69 Abs. 2). b) Grundsätzlich können Maßregeln bei schuldfähigen Tätern auch neben einer 75 Strafe verhängt werden. Da aber insbesondere die freiheitsentziehenden therapeutischen Maßregeln gleichzeitig eine erhebliche Rechtseinbuße für den Verurteilten bedeuten, sieht das Gesetz für den Regelfall vor, dass eine Unterbringung nach § 63 oder § 64 vor der Strafe vollstreckt wird und dass die in der Unterbringung verbrachte Zeit teilweise auf die Strafe angerechnet wird, so dass der Täter häufig unmittelbar nach Abschluss des Maßregelvollzuges zur Bewährung entlassen werden kann (§ 67 Abs. 4–6; sog. Vikariieren der Maßregel).

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225 Zwar ist die Maßregel theoretisch „wertneutral“, sie wird aber in der Gesellschaft doch häufig als Reaktion auf ein besonders schweres soziales Versagen des Täters verstanden; zutr. Roxin AT I § 3 Rdn. 69. 226 Kaspar ZStW 127 (2015) 654, 675 ff; Pollähne NK § 61 Rdn. 17 ff; Roxin AT I § 3 Rdn. 64 ff (unter berechtigtem Hinweis auf die Möglichkeit des Austauschs von Strafe und Maßregel nach § 67 Abs. 4); Schüler-Springorum FS Roxin S. 1021. Oft wird speziell hinsichtlich der Sicherungsverwahrung Kohlrauschs (ZStW 44 [1924], 33) Wort vom „Etikettenschwindel“ zitiert – in Wirklichkeit handle es sich um eine Strafe. 227 So konsequent Köhler AT S. 55, der Maßregeln in Bezug auf „vernünftige“, d. h. schuldfähige Personen ablehnt. 228 So etwa Welzel Strafrecht S. 245: „Wer dieser inneren, von sittlicher Selbstbestimmung gelenkten Freiheit überhaupt nicht fähig (wie Geisteskranke) oder infolge von schlechten Anlagen, Lastern und Gewohnheiten nicht mehr hinreichend mächtig ist, kann die volle soziale Freiheit nicht beanspruchen.“ 229 Grundlegend hierzu Frisch ZStW 102 (1990) 343, 367 ff; siehe auch van Gemmeren MK § 61 Rdn. 2; Meier Strafrechtliche Sanktionen S. 220 f; Sch/Schröder/Kinzig Vor § 61 Rdn. 4 (Wahrung des überwiegenden Interesses der Gemeinschaft an der Verhinderung von Straftaten durch den Täter). 230 Vgl. Streng Strafrechtliche Sanktionen Rdn. 337 („eine Art Notstandsmaßnahme der Gemeinschaft“). 231 Vgl. dazu Dessecker Gefährlichkeit und Verhältnismäßigkeit.

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Ihren Zweck sollen die Maßregeln durch „Besserung“ (d.h. quasi-therapeutische Einwirkung) und „Sicherung“ (d.h. Entzug der Freiheit oder bestimmter Befugnisse wie z.B. der Fahrerlaubnis) erreichen. Diese beiden Mittel sind nicht strikt voneinander zu trennen, prägen aber die vorhandenen Maßregeln in unterschiedlichem Maße. Im Schwerpunkt therapeutische Maßregeln sind die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63) und in einer Entziehungsanstalt (§ 64); bei allen übrigen Maßregeln – Sicherungsverwahrung (§ 66), Führungsaufsicht (§ 68), Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69) und Berufsverbot (§ 70) – steht dagegen das Element des sichernden Schutzes vor dem Täter im Vordergrund. Die therapeutischen Maßregeln nach § 63 und § 64 können auch zur Bewährung ausgesetzt werden, und zwar bei ihrer Anordnung durch das erkennende Gericht (§ 67b), vor Beginn ihres Vollzugs, wenn eine Freiheitsstrafe vorab vollstreckt wurde (§ 67c Abs. 1), und auch während ihres Vollzuges (§ 67e). Dadurch soll sichergestellt werden, dass eine therapeutische Maßregel nur dann und nur solange vollstreckt wird wie dies zur Erfüllung ihres Zwecks notwendig ist. Auch die Sicherungsverwahrung kann vor oder während ihrer Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt werden (§ 66 iVm § 67c Abs. 1, 67d Abs. 2). Die Aussetzung darf allerdings bei allen stationären Maßregeln nach § 67d Abs. 2 Satz 1 nur erfolgen, wenn „zu erwarten ist, dass der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzugs keine erheblichen rechtswidrigen Taten mehr begehen wird“. Dabei liegt die „Beweislast“ nach überwiegender Ansicht insofern bei dem Verurteilten, als im Zweifel vom Fortbestehen der ursprünglichen Gefährlichkeitsprognose auszugehen ist, wenn nicht neue Umstände eine Veränderung nahelegen.232 Andererseits hat das Gericht bei seiner Entscheidung, insbesondere nach längerer Unterbringungsdauer, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten.

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c) Seit Mitte der 1990er Jahre gab es heftige Kontroversen um die ursprünglich als rein sichernde Maßregel konzipierte Sicherungsverwahrung. Obwohl die Legitimität dieser Maßregel zweifelhaft ist und die Praxis von ihr nur noch wenig Gebrauch machte, baute der Gesetzgeber im Jahre 1998 ihren Anwendungsbereich aus, indem er ihre Verhängung unter weniger strengen Voraussetzungen zuließ und eine unbefristete Verwahrung schon bei der ersten Verurteilung ermöglichte.233 Außerdem wurde die Möglichkeit geschaffen, dass das erkennende Gericht die spätere Anordnung der Sicherungsverwahrung im Urteil vorbehält (§ 66a).234 Das Bundesverfassungsgericht hat einen Verstoß der zeitlich unbegrenzten Sicherungsverwahrung gegen die Menschenwürde und das Grundrecht auf Freiheit (Art. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) zunächst verneint (BVerfGE 109 133, 154 f). Nachdem der EGMR in der bestehenden Regelung der Sicherungsverwahrung eine zusätzliche Bestrafung ohne gerichtliche Schuldfeststellung und damit einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 2 (a) EMRK erblickte,235 gab das Bundesverfassungsgericht jedoch dem deutschen Gesetzgeber auf, die Sicherungsverwahrung so auszugestalten, dass sie sich deutlich von einer Strafe unterscheidet (BVerfGE 128 326).236 Die Neure-

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232 Sch/Schröder/Kinzig § 67d Rdn. 5; Veh MK § 67d Rdn. 18–20 mwN; für die Notwendigkeit einer positiven Feststellung der Gefährlichkeit jedoch Fischer § 67d Rdn. 12; Sinn SK § 67d Rdn. 8. 233 Ges. zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten v. 26.1.1998 (BGBl. I S. 160). Dazu Laubenthal ZStW 116 (2004) 703; siehe auch Kinzig Die Sicherungsverwahrung auf dem Prüfstand. 234 Ges. v. 21.8.2002 (BGBl. I S. 3344), geändert durch Ges. v. 5.12.2012 (BGBl. I S. 2425). 235 EGMR, Urt. v. 17.12.2009, M. v. Germany, Nr. 19359/04. 236 Für einen Strafcharakter der Sicherungsverwahrung auch nach der Reform Giering Die Wechselwirkung zwischen Strafe und Sicherungsverwahrung S. 138 ff.

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gelung von 2012, insbesondere § 66c, soll dem „Abstandsgebot“ zwischen Strafe und Maßregel im Vollzug gerecht werden. Am 31.8.2018 befanden sich 559 Personen im Vollzug der Sicherungsverwahrung.237 5.a) Von erheblicher praktischer Bedeutung ist die 2017 vollkommen neu gestalte- 78 te238 Einziehung von Taterträgen (§ 73 ff) sowie von Tatmitteln, Tatprodukten und Tatobjekten (§§ 74 ff). Diese Sanktion steht mit ihren unterschiedlichen Formen auf dem Schnittpunkt zwischen schuldbezogenen Strafen und schuldunabhängigen, quasikondiktionellen Maßnahmen. Durch die Einziehung von Taterträgen soll verhindert werden, dass dem Täter die Gewinne aus seiner Tat erhalten bleiben; das Erlangte soll vielmehr entweder dem Opfer zurückerstattet werden oder an die Staatskasse gehen. Der mit dieser Zusatz-Sanktion ursprünglich intendierte Gedanke der Quasi-Kondiktion hat allerdings insofern ein pönales Element erhalten, als nach § 73 Abs. 1 nicht nur der Netto-Gewinn des Täters eingezogen wird, sondern alles, was er aus der Tat „erlangt“ hat. Zwar sind die „Aufwendungen“ des Täters abzuziehen; was er für die Begehung oder Vorbereitung der Tat eingesetzt hat (etwa den für das erworbene Rauschgift bezahlten Kaufpreis), bleibt dabei jedoch außer Betracht (§ 73d Abs. 1). Trotz des in dieser Regelung liegenden pönalen Charakters der Einziehung ist sie auch bei bloß rechtswidriger, nicht schuldhafter Tatbegehung anzuordnen (§ 73 Abs. 1).239 Taterträge können in sehr weitreichender Weise auch bei nicht tatbeteiligten Dritten eingezogen werden, wenn diese die Vermögensgegenstände unentgeltlich oder fahrlässig bezüglich der deliktischen Quelle erworben haben (§ 73b Abs. 1).240 Noch weiter reicht das Zugriffsrecht des Staates, wenn der Verdacht einer Straftat vorliegt, die typischerweise dem Terrorismus oder der Organisierten Kriminalität zugerechnet wird: In diesem Fall ist die Einziehung auf der Grundlage allein dieses Verdachts auch dann zulässig, wenn der Berechtigte nicht wegen einer Straftat verfolgt oder verurteilt werden kann (§ 76a Abs. 4). Hierbei handelt es sich ersichtlich um eine Sanktion, die an den bloßen Verdacht der Zugehörigkeit zu einer unerlaubten Organisation anknüpft.241 Ein wesentlicher Fortschritt der Neuregelung liegt darin, dass die Einziehung von Taterträgen nunmehr auch dann möglich ist, wenn der Verletzte Schadensersatzansprüche gegen den Täter hat (anders noch § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB a.F.). Der Verletzte kann diese Ansprüche, wenn eine Einziehung von Taterträgen erfolgt ist, im Vollstreckungsverfahren gegen die Staatskasse geltend machen (§ 459h StPO). Sofern mit der Einziehung durch strafgerichtliches Urteil zu rechnen ist, sollen die entsprechenden Vermögensgegenstände schon im Ermittlungsverfahren beschlagnahmt werden (§§ 111b, 111c StPO). Bei klarer Sachlage können bewegliche Sachen dann dem Eigentümer unmittelbar zurückgegeben werden, sofern sie nicht für das weitere Strafverfahren benötigt werden (§ 111n Abs. 2 StPO).

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237 Statistisches Bundesamt Rechtspflege: Bestand der Gefangenen und Verwahrten, Stand 15.8.2018 S. 7. Gegenüber dem Stichtag 31.3.2006, als sich nur 380 Personen in Sicherungsverwahrung befanden, hat die Zahl deutlich zugenommen. 238 Überblick über die Neuerungen bei Köhler NStZ 2017 497; Korte wistra 2018 1; Trüg NJW 2017 1913. 239 Das Bundesverfassungsgericht hat für eine ähnliche Vorgänger-Regelung (§ 73 Abs. 3 StGB a.F.) einen Verstoß gegen das Schuldprinzip verneint, da das Ziel der Maßnahme nicht retributiv, sondern präventiv (bzw. „vermögensordnend“) sei (BVerfGE 110 1, 14 ff). Siehe auch BGHSt 47 369, 372 ff; 52 227, 248; 55 174, 176; krit. Sch/Schröder/Eser/Schuster Vor § 73 Rdn 16 ff. 240 Krit. Saliger ZStW 129 (2017) 995, 1022 ff; Schilling/Hübner StV 2018 49. 241 Mit Recht krit. Meyer StV 2017 343; Schilling/Hübner StV 2018 49; Sch/Schröder/Eser/Schuster § 76a Rdn. 2.

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b) Der Einziehung unterliegen auch Gegenstände, die bei der Begehung einer Straftat verwendet oder durch sie hervorgebracht wurden. Diese Maßnahme dient unterschiedlichen Zwecken:242 Sie hat Strafcharakter, soweit sie dem Täter Objekte entzieht, die er bei der Tatbegehung benutzt hat (z.B. einen PKW).243 Andererseits sollen durch die Einziehung aber auch Gegenstände aus dem Verkehr gezogen werden, die die Allgemeinheit gefährden oder zu Straftaten verwendet werden können (z.B. Falschgeld, verbotene Waffen, Rauschgift). Konsequenterweise ist die „Sicherungseinziehung“ solcher Gegenstände auch dann zulässig, wenn der Täter nicht schuldhaft gehandelt hat (§ 74b Abs. 1 Nr. 1) und wenn ein Täter gar nicht ermittelt werden kann (§ 76a). Gehört der gefährliche Gegenstand einem an der Tat nicht beteiligten Dritten, so erhält dieser für den Verlust des Eigentums eine Entschädigung, es sei denn, er hat mindestens leichtfertig dazu beigetragen, dass der Gegenstand bei der Tat verwendet wurde, oder er hat ihn „in verwerflicher Weise“ erworben (§ 74b Abs. 2, 3). Im letztgenannten Fall stellt die entschädigungslose Einziehung eine – rechtpolitisch zweifelhafte – Quasi-Strafe für sittenwidriges oder unachtsames Verhalten des Betroffenen dar.

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6. Die Wiedergutmachung244 des durch die Tat angerichteten Schadens ist zwar keine eigenständige strafrechtliche Sanktion,245 sie hat jedoch in vielfacher Weise Einfluss auf die Notwendigkeit und den Umfang einer Bestrafung. Schon im Strafverfahren sollen Staatsanwaltschaft und Gericht in geeigneten Fällen auf einen Ausgleich zwischen dem Beschuldigten und dem Verletzten hinwirken (§ 155a Satz 2 StPO); falls ein solcher Ausgleich zustande kommt, kann dies bei Vergehen zur Einstellung des Strafverfahrens führen (vgl. § 153a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 5 StPO). Bei der Strafzumessung stellt das Bemühen des Täters um Wiedergutmachung eine allgemeine Erwägung zu seinen Gunsten dar (§ 46 Abs. 2 Satz 2 a.E.). Das Gericht kann die Strafe darüber hinaus nach § 49 Abs. 1 mildern und bei verwirkten Strafen von bis zu einem Jahr sogar von Strafe ganz absehen, wenn der Täter Wiedergutmachung geleistet oder diese zumindest ernsthaft erstrebt hat (§ 46a).246 Setzt das Gericht eine Freiheitsstrafe oder einen Strafrest zur Bewährung aus, so kann es dem Verurteilten auferlegen, den Schaden nach Kräften wiedergutzumachen (§ 56b Abs. 2 Nr. 1, § 57 Abs. 3 Satz 1). Auch wenn durch diese Regelungen auf den Täter ein „sanfter Druck“ zur Wiedergutmachung gegenüber dem Verletzten ausgeübt wird, gelten derartige Leistungen als freiwillig247 und können in geeigneten Fällen auch einen personalen Ausgleich zwischen Täter und Opfer enthalten (s. § 46a Nr. 1).

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242 Ebenso Sch/Schröder/Eser/Schuster Vor § 73 Rdn. 19 ff. 243 BGHSt 8 205, 214; Sch/Schröder/Eser/Schuster § 74 Rdn. 17. 244 Aus der reichen Literatur zu diesem Thema exemplarisch Baumann u.a. Alternativ-Entwurf Wiedergutmachung; Frehsee Schadenswiedergutmachung; Meier JZ 2015 488; Noltenius GA 2007 518; Walther Vom Rechtsbruch zum Realkonflikt; Weigend FS Müller-Dietz S. 975; rechtsvergleichend Eser/Walther Wiedergutmachung im Kriminalrecht; zur aktuellen Praxis Hartmann/Haas/Eikens/Kerner Täter-Opfer-Ausgleich in Deutschland; Kerner/Weitekamp Praxis des Täter-Opfer-Ausgleichs in Deutschland. 245 Zu der Frage, ob die Wiedergutmachung des Schadens eine Strafe ersetzen kann, s. Ebert Pönale Elemente; Hirsch ZStW 102 (1990) 534; Ott/Schäfer Die Präventivwirkung. 246 S. hierzu Freund/Garro Carrera ZStW 118 (2006) 76; Maiwald GA 2005 339; Richter Täter-OpferAusgleich und Schadenswiedergutmachung usw.; Schöch FS Rissing-van Saan S. 639. 247 Hillenkamp FS Streng S. 259.

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VI. Europäisches Strafrecht Schrifttum Aksungur Europäische Strafrechtsetzungskompetenzen (2014); Albrecht Europäischer Strafrechtsraum: Ein Albtraum? ZRP 2004 1; Arnold/Karsten/Kreicker Menschenrechtsschutz durch Art. 7 Abs. 1 EMRK, NJ 2001 561; Böse (Hrsg.), Europäisches Strafrecht (2013); Braum Europäische Strafgesetzlichkeit (2003); Brodowski Die Europäische Staatsanwaltschaft, StV 2017 684; Corral-Maraver Irrationality as a Challenge to European Criminal Policy, European Criminal Law Review 7 (2017) 123; Diehm Die Menschenrechte der EMRK usw. (2006); Drenkhahn/Morgenstern Dabei soll es uns auf den Namen nicht ankommen, ZStW 124 (2012) 132; Esser Die Europäische Staatsanwaltschaft, StV 2014 494; European Criminal Policy Initiative Manifest zur Europäischen Kriminalpolitik, ZIS 2009 697; Frowein/Peukert Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. (1996); Gaede Minimalistischer EU-Grundrechtsschutz bei der Kooperation im Strafverfahren, NJW 2013 1279; Gärditz Staat und Strafrechtspflege (2015); Grünewald Zur Frage eines europäischen Allgemeinen Teils des Strafrechts, JZ 2011 972; dies. Der Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union durch das Strafrecht, JR 2015 245; Hassemer Strafrecht in einem europäischen Verfassungsvertrag, ZStW 116 (2004) 304; Heise Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht (1998); Hörnle Einige kritische Bemerkungen zum Urteil des EGMR vom 17.12.2009 in Sachen Sicherungsverwahrung, Festschrift Rissing-van Saan (2011) 242; Hugger Zur strafbarkeitserweiternden richtlinienkonformen Auslegung deutscher Strafvorschriften, NStZ 1993 421; Jarass Strafrechtliche Grundrechte im Unionsrecht, NStZ 2012 611; Kaiafa-Gbandi The Post-Lisbon approach towards the main features of substantive criminal law, European Criminal Law Review 2015 1; dies. ECJ’s Recent Case Law on Criminal Matters, European Criminal Law Review 2017 219; Klip Strafrecht in der Europäischen Union, ZStW 117 (2005) 889; Kubiciel Strafrechtswissenschaft und europäische Kriminalpolitik, ZIS 2010 742; Kühl Europäisierung der Strafrechtswissenschaft, ZStW 109 (1997) 777; F. Meyer Eine Geologie des Strafrechts, ZStW 123 (2011) 1; ders. Strafrechtsgenese in Internationalen Organisationen (2012); Rönnau/Wegner Grund und Grenzen der Einwirkung des europäischen Rechts auf das nationale Strafrecht, GA 2013 561; Rosenau Zur Europäisierung im Strafrecht, ZIS 2008 9; Safferling Der EuGH, die Grundrechtecharta und nationales Recht, NStZ 2014 545; Satzger Die Europäisierung des Strafrechts (2001); ders. Das europarechtliche Verhältnismäßigkeitsprinzip als Maßstab für eine europäische Kriminalpolitik, NK 2007 93; ders. Der Einfluss der EMRK auf das deutsche und das europäische Strafrecht, Jura 2009 759; ders. Die Zukunft des Allgemeinen Teils des Strafrechts usw., ZIS 2016 771; Schünemann Ein Gespenst geht um in Europa, GA 2002 501; ders. Die parlamentarische Gesetzgebung als Lakai von Brüssel? StV 2003 53; ders. Grundzüge eines Alternativ-Entwurfs zur europäischen Strafverfolgung, ZStW 116 (2004) 376; ders. (Hrsg.) Alternativentwurf Europäische Strafverfolgung (2004); ders. Die Europäisierung der Strafrechtspflege als Demontage des demokratischen Rechtsstaats (2014); Sieber Memorandum für ein Europäisches Modellstrafgesetzbuch, JZ 1997 369; Simon The Criminalisation Power of the European Union usw., New Journal of European Criminal Law 3 (2012) 242; Staffler Strafesetzlichkeit im Dialog zwischen Verfassungs- und Unionsrecht, ZStW 130 (2018) 1147;Tiedemann Europäisches Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, NJW 1993 23; Vogel Wege zu europäisch-einheitlichen Regelungen usw., JZ 1995 331; ders. Harmonisierung des Strafrechts in der Europäischen Union, GA 2003 314; M. Vormbaum Schutz der Rechtsgüter von EU-Staaten durch das deutsche Strafrecht (2005); Weigend Der Entwurf einer Europäischen Verfassung und das Strafrecht, ZStW 116 (2004) 275; Weißer Strafgesetzgebung durch die Europäische Union, GA 2014 433.

1. Das deutsche Strafrecht steht in zunehmendem Maße unter dem Einfluss des 81 Rechts der Europäischen Union.248 Art. 3 Abs. 2 EUV in der Fassung des Vertrags von Lissabon (2009) verspricht den Bürgerinnen und Bürgern der EU einen gemeinsamen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen.249 Nach Art. 67

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248 Siehe allgemein hierzu Ambos § 11; Böse (Hrsg.) Europäisches Strafrecht; Hecker Europäisches Strafrecht; Satzger §§ 7 ff; SSvHH. 249 Zu den Möglichkeiten der Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten bei der Strafverfolgung eingehend Ambos § 12; Satzger § 10.

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Abs. 3 AEUV wirkt die EU darauf hin, ein hohes Maß an Sicherheit zu gewährleisten, u.a. durch Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Kriminalität, Rassimus und Fremdenfeindlichkeit.250 Nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 2 EUV) ergibt sich aus dieser Zielsetzung freilich noch keine umfassende Kompetenz der Organe der EU zur Strafgesetzgebung,251 sondern es bleiben hierfür grundsätzlich die einzelnen Mitgliedstaaten zuständig. Art. 83 Abs. 1 AEUV benennt allerdings einzelne Kriminalitätsbereiche, für die das Europäische Parlament und der Rat durch Richtlinien252 Straftaten und Strafen mit verbindlicher Wirkung für alle Mitgliedstaaten festlegen können, sofern diese Straftaten eine grenzüberschreitende Dimension haben.253 Zu diesen Kriminalitätsbereichen gehören beispielsweise Terrorismus, Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern, illegaler Drogen- und Waffenhandel, Computerkriminalität und die sog. organisierte Kriminalität.254 Auf dieser Rechtsgrundlage haben die Organe der EU in den letzten Jahren Richtlinien zur Bekämpfung des Menschenhandels,255 des sexuellen Missbrauchs von Kindern,256 von Angriffen auf Informationssysteme257 und des Terrorismus258 erlassen.259 82 Art. 83 Abs. 2 EUV gestattet der EU auch die Vereinheitlichung mitgliedstaatlicher Strafvorschriften, soweit dies unerlässlich ist,260 um die Politik der Union auf einem harmonisierten Gebiet durchzusetzen. Auf dieser Grundlage wurden Richtlinien über strafrechtliche Sanktionen bei Marktmanipulation261 sowie über die strafrechtliche Bekämpfung von Betrügereien zu Lasten der finanziellen Interessen der Union erlassen.262 Durch die letztere Richtlinie werden die Mitgliedstaaten verpflichtet, betrügerische

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250 Die Europäisierung erfasst auch das Strafverfahrensrecht, Nach Art. 82 Abs. 2 AEUV können das Europäische Parlament und der Rat durch Richtlinien Mindestvorschriften für verschiedene Bereiche des Strafverfahrens festlegen, soweit dies zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen sowie der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension erforderlich ist. Auf dieser Grundlage wurden z.B. Richtlinien über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (RL 2012/13/EU v. 22.5.2012), über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten (RL 2012/29/EU v. 25.10.2012), über die Europäische Ermittlungsanordnung (RL 2014/41/EU v. 3.4.2014) und über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (RL [EU] 2016/343 v. 9.3.2016) erlassen. 251 Umfassender Überblick über die Zuständigkeit der EU zur Strafgesetzgebung bei Aksungur Europäische Strafrechtsetzungskompetenzen. 252 Richtlinien werden in den Mitgliedstaaten erst nach Umsetzung durch den nationalen Gesetzgeber wirksam. Der Inhalt von Vorgaben des EU-Rechts (früher Rahmenbeschlüsse, jetzt Richtlinien) ist jedoch spätestens nach Ablauf der Umsetzungsfrist bei der Auslegung des nationalen Rechts zu berücksichtigen; s. EuGH C-105/03, Pupino, EuGH-Slg. 2005 I-5285, 5328; s. dazu Hillgruber JZ 2005 838; Lorenzmeier ZIS 2006 583. 253 Grundlegend zur Strafrechtssetzungskompetenz der EU F. Meyer Strafrechtsgenese in Internationalen Organisationen S. 295 ff; s. auch ders. ZStW 123 (2011) 1, 23 f, 33 ff. 254 Zu der Frage, ob auf der Basis von Art. 83 AEUV auch eine Harmonisierung des Allgemeinen Teils des Strafrechts in Betracht kommt, s. Grünewald JZ 2011 972; Satzger ZIS 2016 771; Weißer GA 2014 433. 255 RL 2011/36/EU v. 5.4.2011 zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer usw. 256 RL 2011/93/EU v. 13.12.2011 zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern usw. 257 RL 2013/40/EU v. 12.8.2013 über Angriffe auf Informationssysteme usw. 258 RL (EU) 2017/541 v. 15.3.2017 zur Terrorismusbekämpfung usw. 259 Umfassender Überblick über die strafrechtlichen Richtlinien der EU bei Ambos § 11 Rdn. 12 ff. 260 Diese Unerlässlichkeitsklausel ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts eng auszulegen; BVerfGE 123 267, 411 f. AA Böse in ders. Europäisches Strafrecht § 4 Rdn. 4. S. auch Ambos § 11 Rdn. 10. 261 RL 2014/57/EU v. 16.4.2014. 262 RL (EU) 2017/1371 v. 5.7.2017.

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Handlungen sowie Geldwäsche und Korruption263 zum Nachteil der EU nach vorgegebenen Definitionen unter Strafe zu stellen und in schwereren Fällen mit erheblichen Freiheitsstrafen zu sanktionieren.264 Zur einheitlichen Verfolgung solcher Verstöße haben 20 Mitgliedstaaten der EU im Wege der Verstärkten Zusammenarbeit nach Art. 86 Abs. 1 AEUV iVm Art. 20 Abs. 2 EUV im Jahre 2017 eine Europäische Staatsanwaltschaft (EUStA) gegründet, die die Ermittlung und Anklage von Betrügereien zu Lasten der EU in den beteiligten Mitgliedstaaten koordinieren soll.265 Für das Strafrecht von Bedeutung ist auch die Charta der Grundrechte der Euro- 83 päischen Union (GRC) aus dem Jahr 2000.266 Sie enthält u.a. das Verbot der Todesstrafe (Art. 2 Abs. 2 GRC) sowie von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung (Art. 4 GRC). Art. 49 Abs. 1 GRC verbietet rückwirkende Bestrafung, und nach Art. 49 Abs. 3 GRC darf das Strafmaß gegenüber der Straftat nicht unverhältnismäßig sein. Ferner schließt es Art. 50 GRC aus, dass jemand wegen derselben Tat innerhalb der EU mehrfach verfolgt oder bestraft wird. Nach Art. 53 GRC soll die GRC zwar keine Einschränkung von Grundrechten der Verfassungen der Mitgliedstaaten bewirken; der EuGH hat jedoch solche nationalstaatlichen Beschränkungen der Strafgewalt für unerheblich erklärt, wenn sie der Durchsetzung des Unionsrechts im Weg stehen.267 Andererseits betrachtet der EuGH auch den Unionsgesetzgeber selbst als an die GRC gebunden, so dass er die notwendigen grundrechtschützenden Vorkehrungen treffen muss.268 Auch die Grundfreiheiten des Europäischen Unionsrechts (Freizügigkeit der Ar- 84 beitnehmer [Art. 45 EUV], Niederlassungsfreiheit [Art. 49 EUV], Dienstleistungsfreiheit [Art. 56 EUV] sowie die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs [Art. 63 EUV]) sowie das diese Freiheiten umsetzende (unmittelbar anwendbare) Europäische Sekundärrecht haben Einfluss auf die Anwendung und Auslegung deutscher Strafvorschriften.269 Der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts270 kann dazu führen, dass nationale Strafnormen nicht angewandt werden dürfen, soweit sie die Ausübung von Europäi-

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263 Ob diese Tatbestände von der Ermächtigungsgrundlage erfasst sind, ist allerdings zweifelhaft; s. einerseits Grünewald JR 2015 245, 252, andererseits Satzger § 8 Rdn. 25. 264 Eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur wirksamen Sanktionierung von Verstößen gegen Regelungen zum Schutz der EU-Finanzinteressen wurde schon nach früherem Recht angenommen; s. das Urteil des EuGH zum „Griechischen Mais-Skandal“ (EuGH Slg. 1989 I-2965) sowie das (nunmehr außer Kraft getretene) Übereinkommen v. 26.7.1995 betreffend den Schutz der finanziellen Interessen der EG (ABl. EG 1995 Nr. C 316, S. 49) (sog. PIF-Konvention). Eine spezielle Regelung zu dieser Materie enthält Art. 325 Abs. 4 AEUV, wonach den EU-Organen die Kompetenz zum Ergreifen der „erforderlichen Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten“, zustehen soll (siehe hierzu Grünewald JR 2015 245). Darin wird überwiegend die Kompetenz zum Erlass von unmittelbar in den Mitgliedstaaten wirksamen Strafnormen durch Verordnung gesehen (Ambos § 9 Rdn. 22 mwN). Von ihr wurde jedoch bisher kein Gebrauch gemacht. 265 Verordnung (EU) 2017/1939 des Rates v. 12.10.2017 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA). S. hierzu Brodowski StV 2017 684; Esser StV 2014 494. 266 S. Jarass NStZ 2012 611 mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung. 267 EuGH, C-399/11, Melloni, NJW 2013 1215, 1219: s. dazu Gaede NJW 2013 1279; Rönnau/Wegner GA 2013 561, 572 ff; Safferling NStZ 2014 545. Für Rücksichtnahme auf die nationale Verfassungsidentität aber EuGH C 42/17, Strafverfahren gegen M.A.S. und M.B., NJW 2018 217. Zu den mit dieser Rechtsprechung verbundenen Konflikten mit nationalem Verfassungsrecht Satzger § 7 Rdn. 22 ff, § 9 Rdn. 30a f; Staffler ZStW 130 (2018) 1174. 268 S. EuGH C-293/12, C-594/12, Digital Rights Ireland und Seitlinger u.a., EuGRZ 2014 299; EuGH, C-203/15, C698/15,Tele2Sverige AB und Secretary of State for the Home Department, NJW 2017 717. 269 Detailliert Heise Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht; Satzger Die Europäisierung des Strafrechts S. 475 ff. 270 Hierzu eingehend Ambos § 11 Rdn. 44 ff.

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schen Grundfreiheiten in unverhältnismäßiger Weise beschränken.271 Der EuGH leitet aus der Pflicht der Mitgliedstaaten, die Wahrnehmung von Grundfreiheiten zu gewährleisten, auch eine Strafverfolgungspflicht gegenüber Privatpersonen her, die – etwa durch Blockaden der Wareneinfuhr – andere an der Ausübung dieser Freiheiten hindern.272 Darüber hinaus sind bestehende nationale Strafvorschriften im Sinne des Gemeinschaftsrechts auszulegen.273 85 Gegenüber der Tendenz zur ausufernden Steuerung des nationalen Strafrechtsordnungen durch die Kompetenzerweiterung für die EU im Vertrag von Lissabon hat das Bundesverfassungsgericht betont, dass das Strafrecht zum Kernbestand der Staatlichkeit gehört und deshalb unter dem Grundgesetz nicht einer außernationalen Gesetzgebungszuständigkeit überantwortet werden darf.274 Insbesondere das Schuldprinzip ist wegen seiner Fundierung in Art. 1 GG auch für ein „europäisiertes“ Strafrecht nicht disponibel.275 In der Strafrechtswissenschaft stößt die fortschreitende Europäisierung des Straf- und Strafverfahrensrechts zum Teil auf Zustimmung,276 zum Teil aber auch auf Skepsis.277 Problematisch an der „europäisierten“ Strafgesetzgebung ist die weitgehende Entmachtung der nationalen Parlamente durch Entscheidungen der nicht nach demokratischen Grundsätzen ermächtigten Organe der EU.278 Aufgrund der zumeist sehr detaillierten Vorgaben in den strafrechtlichen Richtlinien der EU bleibt dem nationalen Gesetzgeber wenig Spielraum; selbst für die Festsetzung der Strafrahmen bestehen Bindungen durch das System der „Mindesthöchststrafen“.279 Infolge dieser Überlagerung nationaler Kriminalpolitik können Dissonanzen und Inkonsistenzen zwischen den durch die EU vorgegebenen und den verbleibenden nationalen Straftatbeständen und Strafrahmen entstehen;280 so können „europäisierte“ Tatbestände aufgrund von Richtlinien mit strengerer Strafe bedroht sein als schwerer wiegende Taten des originär nationalen Strafrechts.281 Hinzu kommt, dass der Europäische Gerichtshof dazu neigt, die Interessen

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271 Siehe z.B. die Entscheidungen des EuGH in den Fällen Ratti (Slg. 1979 I-1629), Auer (Slg. 1983 I-2727) und Calfa (Slg. 1999 I-11). Vgl. ferner Dannecker ZStW 117 (2005) 697, 701 ff; Satzger § 9 Rdn. 10 ff mit Beispielen. 272 Nach EuGH, Kommission v. Frankreich, Slg. 1997 I-6959, Nr. 54 soll eine Durchsetzungspflicht selbst dann bestehen, wenn die nationale Regierung mit „gewalttätigen Reaktionen“ der Betroffenen rechnet. 273 Grundlegend EuGH, Colson und Kamann, Slg. 1984 I-1891. Eingehend zur „unionsrechtskonformen Auslegung“ Hecker S. 317 ff; Heger in Böse, Europäisches Strafrecht § 5 Rdn. 101 ff; Satzger § 9 Rdn. 89 ff; ders. SSvHH § 9 Rdn. 50 ff; Vormbaum Schutz der Rechtsgüter von EU-Staaten S. 95 ff. Die Anpassung an das Unionsrecht kann auch dazu führen, dass ein Begriff des nationalen Rechts (aus Sicht des Angeklagten) strenger interpretiert wird als zuvor; Ambos § 11 Rdn. 53 f; Hecker S. 340 f; aA Hugger NStZ 1993 421, 424. 274 BVerfGE 123 267, 408 f; siehe auch schon BVerfGE 113 273, 300 f, 275 BVerfGE 123 267, 413. 276 Gärditz Staat und Strafrechtspflege S. 78 ff; Sieber JZ 1997 369; Tiedemann NJW 1993 23; Vogel JZ 1995 331; ders. GA 2003 314; ders. in Böse, Europäisches Strafrecht § 7 Rdn. 21 f, 32. 277 „Europa-skeptisch“ (mit erheblichen Unterschieden in Schärfe und Details) z.B. Albrecht ZRP 2004 1; Braum Europäische Strafgesetzlichkeit S. 441 ff; Hassemer ZStW 116 (2004) 304; Rosenau ZIS 2008 9; Satzger in Böse, Europäisches Strafrecht § 2 Rdn. 20 ff; Schünemann Die Europäisierung der Strafrechtspflege als Demontage des demokratischen Rechtsstaats; Weigend ZStW 116 (2004) 275. 278 Schünemann GA 2002 501, 504 f; ders. StV 2003 53. 279 Kritisch zu dem System der Mindest-Höchststrafen z.B. Kaiafa-Gbandi European Criminal Law Review 2015 1, 14 ff. 280 Satzger § 9 Rdn. 7 ff (und schon ders. Europäisierung des Strafrechts S. 166 ff) spricht sich deshalb für einen Grundsatz der möglichst weitgehenden „Schonung“ des nationalen Strafrechts aus. 281 Corral-Maraver European Criminal Law Review 7 (2017) 123, 138 (mit Beispielen); Dannecker ZStW 117 (2005) 698, 728 ff.

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der EU ohne viel Rücksicht auf die verfassungsrechtlichen Bindungen der Mitgliedstaaten durchzusetzen.282 In rechtspolitischer Hinsicht wird kritisiert, dass die Organe der EU das Strafrecht häufig als Druckmittel zur Durchsetzung europäischer Politik instrumentalisieren, ohne dass auf seinen besonderen Charakter als ultima ratio geachtet wird.283 Die europaweite Harmonisierung des Strafrechts kann auch aufgrund der rechtspolitischen Eigendynamik solcher transnationaler Prozesse zu einer fortschreitenden Expansion des Strafrechts führen, da sich keine Regierung vorhalten lassen möchte, sie blockiere den „Kampf“ gegen die transnationale Kriminalität.284 Es wäre daher zu wünschen, dass dem Voranschreiten der „Europäisierung“ des Strafrechts die gleichfalls „europäische“, seit der Aufklärung bestehende Tradition der freiheitsschonenden Zurückhaltung bei der Inkriminierung von Verhaltensweisen entgegengesetzt wird.285 Sie könnte sich auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip (Art. 5 Abs. 4 EUV) stützen, aus dem sich für das Strafrecht auch der ultima-ratio-Grundsatz ableiten lässt.286 2. Im Rahmen des Europarats, dem 46 europäische und außereuropäische Staa- 86 ten angehören, sind zahlreiche Übereinkommen (häufig mit Zusatzprotokollen) geschaffen worden, die das Straf- und Strafverfahrensrecht betreffen.287 Von großer praktischer Bedeutung sind das Europäische Auslieferungsübereinkommen vom 13.12.1957 (BGBl. 1964 II S. 1371) und das Europäische Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20.4.1959 (BGBl. 1964 II S. 1386), die für fast alle Mitgliedstaaten des Europarats gelten und den Auslieferungs- und Rechtshilfeverkehr in Europa wesentlich bestimmen. Das größte und bedeutsamste Vertragswerk, das im Rahmen des Europarats ent- 87 standen ist, ist die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK).288 Die EMRK enthält in Art. 5 und 6 wichtige Festlegungen für das Strafverfahren (u.a. die Unschuldsvermutung sowie das Recht auf Verteidigung). Für das materielle Strafrecht289 wichtig ist zunächst Art. 7 EMRK, der den Gesetzlichkeitsgrundsatz und das Rückwirkungsverbot enthält, allerdings in Abs. 2 eine Ausnahme vom Erfordernis der lex scripta für solche Taten zulässt, die „zur Zeit ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern aner-

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282 Siehe etwa die Entscheidung des EuGH v. 8.9.2015, Taricco, C-105/14, wo die gesetzlichen Bestimmungen Italiens über die Verjährung für unanwendbar erklärt wurden, soweit sie der Durchsetzung von EU-Interessen im Wege stehen; krit. dazu Kaiafa-Gbandi European Criminal Law Review 2017 219, 229 ff. 283 Hierzu treffend BVerfGE 123 267, 410: „Das Strafrecht in seinem Kernbestand dient nicht als rechtstechnisches Instrument zur Effektuierung einer internationalen Zusammenarbeit, sondern steht für die besonders sensible demokratische Entscheidung über das rechtsethische Minimum.“ Siehe auch Satzger NK 2007 93, 95; Kubiciel ZIS 2010 742, 744. 284 Dazu Corral-Maraver European Criminal Law Review 7 (2017) 123, 129 f; Hassemer ZStW 116 (2004) 304, 307 f; Klip ZStW 117 (2005) 889, 897 ff; Prittwitz ZStW 113 (2001) 774, 793 ff; Schünemann ZStW 116 (2004) 376, 391 ff. 285 In diesem Sinne Braum Europäische Strafgesetzlichkeit S. 414 f, 424 ff et passim; Kubiciel ZIS 2010 742, 746. 286 S. European Criminal Policy Initiative ZIS 2009 697, 700; Satzger in Böse, Eurpäisches Strafrecht § 2 Rdn. 55 ff; Simon New Journal of European Criminal Law 3 (2012) 242, 254 ff. 287 Viele dieser Instrumente sind abgedruckt und kommentiert bei Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner S. 427 ff; siehe auch Ambos § 11 Rdn. 2 ff; Hecker S. 53 ff, 167 ff; Überblick über die Ratifizierungen bei Schomburg SSvHH § 4. 288 Die Bundesrepublik Deutschland hat die EMRK im Jahre 1953 ratifiziert und in nationales (Bundes-)Recht umgesetzt; Neubekanntmachung der jüngsten Fassung der EMRK in BGBl. 2010 II S. 1199. 289 Zum Einfluss der EMRK auf Strafgesetzgebung und -rechtsprechung Diehm Die Menschenrechte der EMRK; Satzger Jura 2009 759.

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kannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ strafbar waren.290 Zu nennen ist ferner Art. 3 EMRK, der die Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung ohne jede Ausnahme (Art. 15 Abs. 2 EMRK) verbietet. Nach den Zusatzprotokollen Nr. 6 v. 28.4.1983 (BGBl. 1988 II S. 662) und Nr. 13 v. 3.5.2002 (BGBl. 2004 II v. 5.7.2004) ist die Todesstrafe ausnahmslos abgeschafft. Einschränkungen der staatlichen Befugnis zur Androhung und Verhängung von Strafen ergeben sich auch aus dem Schutz einzelner Freiheitsrechte, insbesondere des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK), der Gedanken- und Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK) und der Freiheit der Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK). Zu erwähnen ist schließlich Art. 2 EMRK, wonach das Recht jedes Menschen auf Leben geschützt und eine Tötung nur (u.a.) dann zugelassen wird, wenn diese unbedingt erforderlich ist, um jemanden gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen (Art. 2 Abs. 2 lit. a EMRK). Ob darin eine Einschränkung auch des privaten Notwehrrechts liegt, ist streitig.291 Nach Art. 34 EMRK kann jedermann, der sich in seinen Rechten aus der EMRK ver88 letzt fühlt, nach Erschöpfung des nationalen Rechtswegs den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg anrufen und dort Klage gegen den betreffenden Konventionsstaat erheben. Dadurch erlangt der EGMR erheblichen Einfluss auf die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten. Die EMRK wird zwar in Deutschland nur als „einfaches“ Bundesgesetz ohne Verfassungsrang eingestuft, sie wird jedoch vom Bundesverfassungsgericht im Rahmen des Grundsatzes der „Völkerrechtsfreundlichkeit“ zur Interpretation der vom Grundgesetz gewährten Individualrechte sowie des Rechtsstaatsgrundsatzes herangezogen.292 Prominente Beispiele für Auswirkungen der Rechtsprechung des EGMR auf das deutsche Strafrecht betreffen die Zulässigkeit der Aburteilung von Verantwortlichen der politischen Führung der DDR für Erschießungen an der innerdeutschen Grenze293 sowie die Vereinbarkeit der Regelung der Sicherungsverwahrung (§ 66) mit Art. 5 und 7 EMRK.294 VII. Völkerstrafrecht Schrifttum Ahlbrecht Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert (1999); Ambos Der Allgemeine Teil des Völkerstrafrechts (2002); ders. Völkerrechtliche Kernverbrechen, Weltrechtsprinzip und § 153f StPO, NStZ 2006 434; ders. Treatise on International Criminal Law, 3 Bde. (2013–2016); Ankumah (Hrsg.), The International Criminal Court and Africa (2016); Bentele Völkerstrafprozesse in Deutschland voranbringen, ZIS 2016 803; Boister/Cryer The Tokyo International Military Tribunal (2008); Cassese International Criminal Law, 3. Aufl. (2013); Cassese/Gaeta/Jones The Rome Statute of the International Criminal Court: A Commentary (2002); Clemens Der Begriff des Angriffskrieges und die Funktion seiner Strafbarkeit (2005); Eser/Kreicker (Hrsg.) Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen Bd. 1: Deutschland (2003); Gierhake Das Prinzip der Weltrechtspflege usw., ZStW 120 (2008) 375; Greßmann/ Staudigl Die Umsetzung der Beschlüsse von Kampala in Deutschland, ZIS 2016 798; Heller The Nuremberg

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290 Siehe zum Rückwirkungsverbot bei völkerrechtswidrigem Verhalten auch BVerfGE 95 96, 135 ff; BGHSt 39 1, 27 ff. 291 Siehe dazu Ambos § 10 Rdn. 112 ff; Hecker Europäisches Strafrecht S. 108 f; Rönnau/Hohn LK § 32 Rdn. 235 ff. 292 BVerfGE 74 358, 370; 111 307, 316 ff. 293 EGMR, Streletz u.a. v. Deutschland, Urt. v. 2.3.2001, Nr. 34044/96, 35532/97 und 44801/98, EuGRZ 2001 210; s. dazu Ambos § 10 Rdn. 129 ff; Arnold/Karsten/Kreicker NJ 2001 561. 294 EGMR, M. v. Deutschland, Urt. v. 17.2.2009, Nr. 19359/04; dazu Drenkhahn/Morgenstern ZStW 124 (2012) 132; Hörnle FS Rissing-van Saan S. 242.

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Military Trials and the Origins of International Criminal Law (2011); Hübner Das Verbrechen des Völkermordes im internationalen und nationalen Recht (2004); Jescheck Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerstrafrecht (1952); Jeßberger Das Verbrechen der Aggression im deutschen Strafrecht, ZIS 2015 514; Kleffner Complementarity in the Rome Statute and National Criminal Jurisdictions (2008); König Die völkerrechtliche Legitimation der Strafgewalt internationaler Strafjustiz (2003); Kreß Vom Nutzen eines deutschen Völkerstrafgesetzbuchs (2000); ders./Barriga (Hrsg.), The Crime of Aggression. A Commentary, 2 Bde. (2017); Lafleur Der Grundsatz der Komplementarität (2010); Lüders Die Strafbarkeit von Völkermord nach dem Römischen Statut für den Internationalen Strafgerichtshof (2004); McDonald/Swaak-Goldman (Hrsg.) Substantive and Procedural Aspects of International Criminal Law (2000); F. Meyer Eine Geologie des Strafrechts, ZStW 123 (2011) 1; Möller Völkerstrafrecht und Internationaler Strafgerichtshof (2000); Neubacher Kriminologische Grundlagen einer internationalen Strafgerichtsbarkeit (2005); Oeter Das Verbrechen der Aggression usw. in Jeßberger/Geneuss (Hrsg.), Zehn Jahre Völkerstrafgesetzbuch (2013) 101; Osten Der Tokioter Kriegsverbrecherprozeß und die japanische Rechtswissenschaft (2003); Schabas Genocide in International Law (2000, deutsch 2003); ders. The International Criminal Court, 2. Aufl. (2016); Schmalenbach Das Verbrechen der Aggression vor dem Internationalen Strafgerichtshof, JZ 2010 746; Schuster Der ICTY in der Krise? ZIS 2015 248, 283, 323; Stahn (Hrsg.), The Law and Practice of the International Criminal Court (2015); Swoboda Die Aufarbeitung von Völkerrechtsverbrechen usw., ZStW 128 (2016) 931; Tomuschat The Legacy of Nuremberg, Journal of International Criminal Justice 4 (2006) 830; Triffterer/ Ambos (Hrsg.), The Rome Statute of the International Criminal Court, 3. Aufl. (2016); Vest Genozid durch organisatorische Machtapparate (2002); Weigend Das Völkerstrafgesetzbuch – nationale Kodifikation internationalen Rechts, Gedächtnisschrift Vogler (2004) 197; Werle Völkerstrafrecht und deutsches Völkerstrafgesetzbuch, JZ 2012 373; Werle/Burghardt Der Völkermord in Ruanda und die deutsche Strafjustiz, ZIS 2015 46; Werle/Fernandez/Vormbaum (Hrsg.), Africa and the International Criminal Court (2014); Werle/ Jeßberger Völkerstrafrecht, 4. Aufl (2016) Werle/Vormbaum Völkerstrafverfahren in Deutschland, JZ 2017 12.

Das deutsche Strafrecht wird auch von den dynamischen Entwicklungen des Völ- 89 kerstrafrechts mitgeprägt. Von einer individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit einzelner Personen unmittelbar nach Völkerrecht kann man erst für die Zeit ab 1945 sprechen.295 Der in Nürnberg tagende Internationale Militärgerichtshof für die Hauptkriegsverbrecher machte eine solche Verantwortlichkeit für die Straftaten des Angriffskrieges und für Kriegsverbrechen erstmals zur Grundlage seiner Rechtsprechung,296 und die Generalversammlung der Vereinten Nationen billigte die Grundsätze des Nürnberger Tribunals ausdrücklich im Namen der Völkergemeinschaft. Der Gedanke einer individuellen unmittelbar völkerstrafrechtlichen Strafbarkeit, der auch durch den Internationalen Militärgerichtshof für den Fernen Osten, der ab 1946 über japanische Kriegsverbrecher zu urteilen hatte,297 sowie in den Nürnberger Folgeprozessen der U.S.amerikanischen Militärgerichtsbarkeit298 aufgegriffen wurde, vermochte allerdings in den folgenden Jahren wegen der Uneinigkeit der Großmächte während des Kalten Krieges keine weitere Wirksamkeit zu entfalten. Dies änderte sich erst nach dem Ende der Vorherrschaft des Sozialismus in der Sowjetunion und den mit ihr verbundenen Staaten. Einen tragischen Anlass dazu, dem Gedanken der völkerrechtlichen Strafbarkeit prakti-

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295 Eingehend zur Entwicklung des Völkerstrafrechts nach dem 2. Weltkrieg Ahlbrecht Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit S. 59 ff; Cassese in: Cassese/Gaeta/Jones (Hrsg.) The Rome Statute of the International Criminal Court Bd. 1 S. 3, Werle/Jeßberger Völkerstrafrecht Rdn. 15 ff. 296 Zeitgenössische Würdigung des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher bei Jescheck Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerstrafrecht S. 177 ff, 283 ff. S. auch Tomuschat CICJ 4 (2006) 830. 297 S. Boister/Cryer The Tokyo International Military Tribunal; Osten Der Tokioter Kriegsverbrecherprozeß und die japanische Rechtswissenschaft. 298 Dazu Heller The Nuremberg Military Tribunals.

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sche Realität zu verleihen, gaben die Gräueltaten bei den Auseinandersetzungen in Jugoslawien und der Völkermord in Ruanda in den 1990er Jahren. Für die Aburteilung der für diese Taten Verantwortlichen setzte der Sicherheitsrat der UN gemäß Kapitel VII der UN-Charta als friedenssichernde Maßnahmen ad-hoc-Tribunale ein.299 Diese Gerichte, der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (JStGH)300 und der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda (RStGH),301 nahmen Mitte der 1990er Jahre in Den Haag bzw. Arusha (Tansania) ihre Tätigkeit auf. Grundlage für die Aburteilng der Angeklagten waren die Statuten der beiden Tribunale, die bezüglich des materiellen Strafrechts im Wesentlichen auf bestehendes Völkergewohnheitsrecht verwiesen.302 Die Tätigkeit der beiden ad-hoc-Strafgerichtshöfe ist im Wesentlichen abgeschlossen.303 Schon wenige Jahre nach der Einsetzung der ad-hoc-Strafgerichtshöfe für Jugos90 lawien und Ruanda gelang es, den alten Plan eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofs zu verwirklichen.304 Im Jahre 1998 verabschiedeten die diplomatischen Vertreter von 160 Staaten mit überwältigender Mehrheit in Rom das Statut eines Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH). Im Jahr 2002 nahm der IStGH seine Tätigkeit in Den Haag auf. Leider haben sich verschiedene wichtige Staaten, insbesondere die USA, Russland und die VR China, bisher nicht zur Teilnahme an dem IStGH entschließen können, so dass seine Zuständigkeit beschränkt bleibt. Der IStGH ist auch insofern in eine Krise geraten, als manche afrikanische Staaten ihm den Vorwurf des Rassismus machen, da fast alle Angekagten in den ersten 15 Jahren seiner Tätigkeit Afrikaner waren.305 Ungeachtet dieser Probleme stellt das Statut des IStGH einen Meilenstein in der 91 Entwicklung einer internationalen Strafrechtsordnung dar.306 Das Statut enthält neben einem prozessualen Teil erstmals eine ausgearbeitete Fassung des materiellen Völkerstrafrechts307 einschließlich allgemeiner Regeln z.B. über Täterschaft und Teilnahme sowie über Gründe, die die Verantwortlichkeit eines Täters ausschließen.308 Nach Art. 5 Abs. 1 des Statuts ist der IStGH zuständig für die Aburteilung der völkerrechtlichen Ver-

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299 S. Werle/Jeßberger Völkerstrafrecht Rdn. 45 ff. 300 Siehe dazu aus der reichen Literatur die Beiträge des Symposiums „The ICTY 10 Years On“ in J. of International Criminal Justice 2 (2004) 353 ff; Schuster ZIS 2015 248, 283, 323; Swoboda ZStW 128 (2016) 931. 301 Der ICTR hat insgesamt 93 Beschuldigte abgeurteilt; s. die Zahlen bei Ambos § 6 Rdn. 20. Einzelheiten bei DeBrouwer/Smeulers The Elgar Companion to the International Tribunal for Rwanda (2016). 302 Zur unsicheren normativen Grundlage einer allgemeinen „Völkerstrafrechtsordnung“ jenseits vertraglicher Bindungen F. Meyer ZStW 123 (2011) 1, 32 ff, 39 ff. 303 Rechtsmittel- und Vollstreckungsverfahren in den letzten Fällen des ICTY werden von einem Mechanism for International Criminal Tribunals in Den Haag erledigt; s. Ambos § 6 Rdn. 21. 304 Zu den Grundlagen und der Geschichte der internationalen Strafgerichtsbarkeit siehe König Die völkerrechtliche Legitimation S. 52 ff; Möller Völkerstrafrecht und Internationaler Strafgerichtshof; Neubacher Kriminologische Grundlagen einer internationalen Strafgerichtsbarkeit; Werle/Jeßberger Völkerstrafrecht Rdn. 292 ff. 305 Siehe hierzu die Beiträge in Ankumah The International Criminal Court and Africa; Werle/ Fernandez/Vormbaum Africa and the International Criminal Court. 306 Materiell- und verfahrensrechtliche Aspekte des ICC werden beleuchtet in den Handbüchern von Cassese/Gaeta/Jones The Rome Statute of the International Criminal Court; Stahn The Law and Practice of the International Criminal Court. 307 Siehe hierzu Ambos Treatise on International Criminal Law, Bd. I und II; ders. Der Allgemeine Teil des Völkerstrafrechts; Werle/Jeßberger Völkerstrafrecht Rdn. 454 ff. 308 Eingehende Kommentierungen des Statuts bei Schabas The International Criminal Court; Triffterer/ Ambos The Rome Statute of the International Criminal Court.

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brechen Völkermord,309 Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Aggression (Angriffskrieg);310 die Zuständigkeit für die letztgenannte Straftat kann er seit 2017 ausüben. Die Elemente der einzelnen Straftaten sind in Art. 6–8bis IStGH-Statut detailliert geregelt. Der IStGH besitzt freilich für die völkerrechtlichen Verbrechen nach dem Grundsatz der „Komplementarität“ nur subsidiäre Gerichtsbarkeit, sofern ein nach dem Territorialitäts- oder aktiven Personalitätsgrundsatz eigentlich zur Aburteilung des Geschehens berufener Staat hierzu nicht willens oder nicht in der Lage ist (Art. 12, 17 IStGH-Statut).311 Die Bundesrepublik Deutschland hat die Schaffung des IStGH aktiv unterstützt und 92 dessen Statut im Jahre 2000 ratifiziert. Um der Verpflichtung nach Art. 86 ff IStGH-Statut zur Zusammenarbeit mit dem IStGH uneingeschränkt nachkommen zu können, wurde in Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG die Möglichkeit geschaffen, auch deutsche Staatsangehörige an einen internationalen Gerichtshof auszuliefern. Die Einzelheiten der Rechtshilfe gegenüber dem IStGH (Überstellung von Verdächtigen, Untersuchungshandlungen auf deutschem Staatsgebiet, Vollstreckungshilfe usw.) sind in dem Gesetz über die Zusammenarbeit mt dem IStGH (BGBl. 2002 I 2144) geregelt. Nach der Ratifizierung des IStGH-Statuts hielt es der deutsche Gesetzgeber für ange- 93 zeigt, ein Spezialgesetz zu schaffen, das die völkerrechtlichen Verbrechen unter Strafe stellt und insbesondere die mit ihnen stets verbundene Verletzung vitaler Interessen der Völkergemeinschaft, deutlich macht.312 Gleichzeitig sollte sichergestellt werden, dass alle im IStGH-Statut enthaltenen Straftaten auch nach nationalem Recht strafbar sind, damit die Bundesrepublik Deutschland nicht etwa als „unfähig“ zu deren Aburteilung sollte angesehen werden können. Daher wurde im Jahre 2002 das Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) geschaffen (BGBl. I S. 2254),313 das die materiellrechtlichen Vorgaben des IStGHStatuts in deutsches Recht umgesetzt hat.314 Das VStGB enthält in seinem Kern (§§ 6–13) eine Formulierung der völkerstrafrechtlichen Tatbestände,315 ferner zwei Sondertatbestände für das Fehlverhalten von Vorgesetzten bei völkerrechtlichen Verbrechen ihrer Untergebenen (§§ 14, 15). Auf die Tatbestände des VStGB sind grundsätzlich die allgemeinen Regeln des Strafrechts (also vor allem der Allgemeine Teil des StGB) anwendbar (§ 2 VStGB); es gibt nur wenige Sondervorschriften, die die Vorgesetztenverantwortlich-

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309 Zur Auslegung des Völkermord-Tatbestandes nach deutschem Recht BGHSt 45 64; monographisch zu diesem Tatbestand Hübner Das Verbrechen des Völkermordes; Lüders Die Strafbarkeit von Völkermord nach dem Römischen Statut; Schabas Genocide in International Law; Vest Genozid durch organisatorische Machtapparate. 310 S. hierzu Ambos Treatise Bd. II S. 184 ff; Clemens Der Begriff des Angriffskrieges; Greßmann/Staudigl ZIS 2016 798; Jeßberger ZIS 2015 514; Kreß/Barriga The Crime of Aggression; Oeter in Jeßberger/Geneuß, Zehn Jahre Völkerstrafgesetzbuch S. 101; Schmalenbach JZ 2010 745. 311 Siehe hierzu Kleffner Complementarity in the Rome Statute; Lafleur Der Grundsatz der Komplementarität; Werle/Jeßberger Völkerstrafrecht Rdn. 319 ff. 312 Zu den Gründen im einzelnen siehe Kreß Vom Nutzen eines deutschen Völkerstrafgesetzbuchs S. 12 ff; Satzger § 17 Rdn. 6 ff. 313 S. zum VStGB Satzger § 17 sowie die Beiträge in Jeßberger/Geneuß (Hrsg.) Zehn Jahre Völkerstrafgesetzbuch; Werle JZ 2012 373. 314 Das IStGH-Statut selbst begründet nicht die Strafbarkeit der dort in Art. 6 – 8bis beschriebenen Verhaltensweisen, sondern setzt diese als Völkergewohnheitsrecht voraus. Auch wegen des Erfordernisses einer (nationalen) lex scripta (Art. 103 Abs. 2 GG) kommt das IStGH-Statut als unmittelbare Grundlage einer Strafbarkeit nicht in Betracht. 315 Hinsichtlich der Systematik der Kriegsverbrechen ist der Gesetzgeber bei der Schaffung des VStGB bewusst von dem Aufbau dieser Delikte im IStGH-Statut abgewichen; s. Ambos MK Vor § 8 VStGB Rdn. 2, 17 ff; Gropengießer/Kreicker in Eser/Kreicker, Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen S. 141 ff.

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keit, das Handeln auf Befehl und die Verjährung betreffen (§§ 3–5 VStGB). Typisch für die völkerstrafrechtliche Materie ist die unbedingte Geltung des Weltrechtsgrundsatzes für Verbrechen (§ 1 VStGB): Da sich die im VStGB enthaltenen Verbrechen durchweg (auch) gegen übernationale Interessen, speziell das friedliche Zusammenleben der Völker, richten, ist das deutsche Strafrecht auf sie ohne Rücksicht auf den Tatort und die Staatsangehörigkeit des Täters oder des individuellen Opfers anwendbar.316 Um eine Überlastung der deutschen Strafverfolgungsbehörden mit Fällen ohne jeden Inlandsbezug zu vermeiden und um ausländischer prioritärer Zuständigkeit nicht vorzugreifen, schränkt § 153f Abs. 1 StPO allerdings die Verfolgungspflicht im Ergebnis auf solche Fälle ein, in denen der Tatverdächtige Deutscher ist, er sich in Deutschland aufhält oder seine Einreise nach Deutschland zu erwarten ist. Das Problem bei der Schaffung des VStGB bestand darin, dass der Gesetzgeber ei94 nerseits versuchen musste, den inhaltlichen Vorgaben des IStGH-Statuts möglichst genau gerecht zu werden, dass diese Vorgaben aber andererseits manchen Wertentscheidungen des deutschen Strafrechts widersprechen und auch vielfach so unbestimmt gefasst sind, dass sie mit dem Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 103 Abs. 2 GG) nicht in Einklang zu bringen sind. Die Regelungen des VStGB sind also häufig Kompromisse zwischen dem Bemühen, das Völkergewohnheitsstrafrecht getreu abzubilden, und der Notwendigkeit, eine Regelung zu finden, die den Standards des deutschen Strafrechts entspricht.317 Im Bereich des Allgemeinen Teils ist der Gesetzgeber dabei eher das Risiko eingegangen, hinter dem Umfang der Strafbarkeit nach den „lockeren“ Regelungen des IStGH-Statuts, etwa im Bereich der strafbaren Teilnahme, des Irrtums oder der Vorgesetztenverantwortlichkeit zurückzubleiben, indem er an den bewährten Vorschriften des deutschen StGB festhielt.318 Im Besonderen Teil wurden dagegen einige Formulierungen aus dem IStGH-Statut übernommen, deren Vereinbarkeit mit dem Bestimmtheitsgrundsatz zumindest sehr zweifelhaft ist; dies gilt z.B. für § 7 Nr. 9 (Freiheitsberaubung „in schwerwiegender Weise“ „unter Verstoß gegen eine allgemeine Regel des Völkerrechts“) und § 7 Nr. 10 VStGB (Entziehung oder wesentliche Einschränkung „grundlegender Menschenrechte“ aus „anderen nach den Regeln des allgemeinen Völkerrechts als unzulässig anerkannten Gründen“). Inzwischen haben deutsche Strafgerichte bereits verschiedentlich Gelegenheit gehabt, das VStGB anzuwenden und seine Regelungen zu interpretieren.319

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316 Zur Reichweite des Weltrechtsgrundsatzes im Völkerstrafrecht siehe Ambos NStZ 2006 434; ders. MK § 1 VStGB Rdn. 5 ff; Böse NK Vor § 3 Rdn. 22 f; Gierhake ZStW 120 (2008) 375. 317 Siehe hierzu eingehend und mit Beispielen Satzger § 17 Rdn. 18 ff; ferner Weigend GS Vogler S. 197, 210 f. 318 S. Weigend MK § 2 VStGB Rdn. 9 ff (Vorsatz und Irrtum), 17 ff (Notwehr und Notstand). 319 BGH, 3 StR 236/17, Urt. v. 20.12.2018; s. zu diesem Verfahren gegen zwei ruandische Angeklagte wegen Kriegsverbrechen Bentele ZIS 2016 803; Werle/Burghardt ZIS 2015 46; Werle/Vormbaum JZ 2017 12.

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Strafgesetzbuch vom 15. Mai 1871 (RGBl 1871, 127); neugefasst durch Bek. v. 13.11.1998 (BGBl. I 3322); zuletzt geändert durch Art. 2 Gesetz v. 19.6.2019 (BGBl. I 844)

ALLGEMEINER TEIL ERSTER ABSCHNITT Das Strafgesetz ERSTER TITEL Geltungsbereich §1 Keine Strafe ohne Gesetz Erster Abschnitt. Das Strafgesetz Keine Strafe ohne Gesetz Dannecker/Schuhr § 1 https://doi.org/10.1515/9783110300413-002

Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Schrifttum Achenbach Kriminalpolitische Tendenzen in den jüngeren Reformen des Besonderen Strafrechts und des Strafprozeßrechts, JuS 1980 81; ders. Aus der 1987/1988 veröffentlichten Rechtsprechung zum Wirtschaftsstrafrecht, NStZ 1989 479; ders. Schwerpunkte der BGH-Rechtsprechung zum Wirtschaftsstrafrecht, Festgabe aus der Wiss. 50 J. BGH Bd. IV (2000) 593; Achenbach/Schröder Straflosigkeit des Offenbarens und Verwertens von Angaben über Millionenkredite (§§ 55a, 55b i.V.m. § 14 KWG)? ZBB 2005 135; Adam Die Wirkung von EU-Rahmenbeschlüssen im mitgliedstaatlichen Recht, EuZW 2005 558; Albrecht Das Bundesverfassungsgericht und die strafrechtliche Verarbeitung von Systemunrecht – eine deutsche Lösung! NJ 1997 1; ders. Die vergessene Freiheit: Strafrechtsprinzipien in der europäischen Sicherheitsdebatte, 3. Aufl. (2011); Alexy Mauerschützen: Zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit (1993) (zit. Alexy Mauerschützen); ders. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zu den Tötungen an der innerdeutschen Grenze vom 24. Oktober 1996 (1997) (zit. Alexy Tötungen); ders. Rechtsregeln und Rechtsprinzipien, in Alexy/Koch/Kuhlen/Rüßmann Begründungslehre (2003); Alexy/Koch/Kuhlen/Rüßmann Elemente einer juristischen Begründungslehre (2003); Allgeier Zur Unkenntnis geänderter Rechtsprechung, DAR 1990 50; Ambos Zur Rechtswidrigkeit der Todesschüsse an der Mauer, JA 1997 983; ders. Der Anfang vom Ende der actio libera in causa? NJW 1997 2296; ders. Nuremberg revisited – Das Bundesverfassungsgericht, das Völkerstrafrecht und das Rückwirkungsverbot, StV 1997 39; ders. Anmerkung zum Urteil des Bundesgerichtshofs vom 30. April 1999 – 3 StR 215/98, NStZ 1999 404; ders. Artikel 7 EMRK, Common Law und die Mauerschützen, KritV 2003 31; ders. Strafrecht und Krieg: Strafbare Beteiligung der Bundesregierung am Irak-Krieg? Festschrift Eser (2005) 671; ders. Das Verbrechen des Genozid und das Gesetzlichkeitsprinzip gemäß Art. 7 EMRK, JZ 2017 265; Ambrosius Mediolanensis Expositio Evangelii secundum Lucam, 374–397, zitiert nach Jacques-Paul Migne: Patrologia Latina. Tomus 15 (1845); Amelung Erweitern allgemeine Rechtfertigungsgründe, insbesondere § 34 StGB, hoheitliche Eingriffsbefugnisse des Staates? NJW 1977 835; ders. Zur Kritik des kriminalpolitischen Strafrechtssystems von Roxin, JZ 1982 617; ders. Strafbarkeit von „Mauerschützen“, JuS 1993 637; ders. Sitzblockaden, Gewalt und Kraftentfaltung, NJW 1995 2586; ders. Die strafrechtliche Bewältigung des DDR-Unrechts durch die deutsche Justiz, GA 1996 51; ders. Überprüfung der Einwilligungsfähigkeit von Jugendlichen, NStZ 1999 458; Amelung/Eyman Die Einwilligung des Verletzten im Strafrecht, JuS 2001 937; Anschütz Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 14. Aufl. (1933); Appel Besonders gefährliche Stoffe im europäischen Chemikalienrecht, in Hendler/ Marburger/Reinhardt/Schröder Chemikalienpolitik (2003); Arndt, H.-W. Probleme rückwirkender Recht-

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§ 1 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

sprechungsänderung (1974); Arndt Das Grundgesetz und die Strafverfolgung von Angehörigen der Hauptverwaltung Aufklärung, NJW 1991 2466; Arnold Einschränkung des Rückwirkungsverbotes sowie sorgfältige Schuldprüfung bei den Tötungsfällen an der DDR-Grenze, JuS 1997 400; ders. Bundesverfassungsgericht contra Einigungsvertrag – Der „Mauerschützen“-Beschluß des BVerfG auf dem strafrechtlichen Prüfstand, NJ 1997 115; Arnold/Karsten/Kreicker Menschenrechtsschutz durch Art. 7 Abs. 1 EMRK, NJ 2001 561; Arzt Die Neufassung der Diebstahlsbestimmungen – Gleichzeitig ein Beitrag zur Technik der Regelbeispiele, JuS 1972 385; ders. Dynamisierter Gleichheitssatz und elementare Ungleichheiten im Strafrecht, Festschrift Stree/Wessels (1993) 49; Bachmann Vorsatz und Rechtsirrtum im Allgemeinen Strafrecht und im Steuerstrafrecht (1993); Backes Zur Problematik der Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum im Steuerstrafrecht (1981); Baddenhausen/Pietsch Rahmenbeschlüsse der Europäischen Union – Nach den Entscheidungen zum Europäischen Haftbefehlsgesetz (BVerfG) und in der Rechtssache Pupino (EuGH), DVBl 2005 1562; Bär Die aktuellen Strafprozesse gegen Bürger der ehemaligen DDR – ein Akt der Siegerjustiz? Jura 1999 281; Barton Verteidigerhonorar und Geldwäsche, JuS 2004 1033; Bassiouni Crimes against Humanity in International Criminal Law, 2. Aufl. (1999); Bassiouni Introduction to International Criminal Law, 2. Aufl. (2012); Bauer Bundesverfassungsgericht und Rückwirkungsverbot, JuS 1984 241; Baumann Die natürliche Wortbedeutung als Auslegungsgrenze im Strafrecht, MDR 1958 394; ders. Grenzen der individualen Gerechtigkeit im Strafrecht, in Summum ius summa iniuria – Individualgerechtigkeit und der Schutz allgemeiner Werte im Rechtsleben (1963); ders. Der Schutz des Gemeinschaftsfriedens, ZRP 1969 85; Bechtold Rückwirkung ohne gesetzliche Anordnung? – Zur Anwendung neuer kartellrechtlicher Schadensersatzvorschriften auf Altfälle, NZKart 2018 61; Beck, L. Gesetzesauslegung aus methodentheoretischer Sicht, Jura 2018 330; Beckemper Anmerkung zu BGH, Urt. v. 13.4.2010 – 5 StR 428/09. Untreue eines directors einer Limited und Verfassungsmäßigkeit des § 266 StGB, ZJS 2010 554; Becker Praxiskommentar zu BGH 3 StR 33/15, NStZ 2016 90; Becker/Martenson Asche zu Asche, Staub zu Staub – Wortlaut, möglicher Wortsinn und Sprachspielabhängigkeit von Bedeutung, JZ 2016 779; Beling Juristische Umschau – Deutsche Gesetzgebung – Bayrische Sondergesetzgebung, ZStW 40 (1919) 511; Belke/Oehmichen (Hrsg.) Wirtschaftskriminalität (1983); Bergmann Zur Strafbewehrung verwaltungsrechtlicher Pflichten im Umweltstrafrecht, dargestellt an § 325 StGB (1993); Bernreuther Kritik – Promillegrenze-Präjudizänderung im Strafrecht und Rückwirkungsverbot, MDR 1991 829; Bernsmann Die Korruptionsdelikte (§§ 331 ff StGB), StV 2003 521; Best Das Rückwirkungsverbot nach Art. 103 Abs. 2 GG und die Maßregeln der Besserung und Sicherung (§ 2 Abs. 6 StGB), ZStW 114 (2002) 88; Bettermann Kritische Besprechung der Schrift von Joachim Burmeister: „Vertrauensschutz im Prozeßrecht“, AöR 106 (1981) 471; ders. Die verfassungskonforme Auslegung, Grenzen und Gefahren (1986); Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.) Die Grundrechte Bd. III/2, 2. Aufl. (1972); Beulke Wirtschaftslenkung im Zeichen des Untreuetatbestands, Festschrift Eisenberg (2009); Bieneck System des Außenwirtschaftsstrafrechts, wistra 1994 173; ders. Gegenwärtige Lage und aktuelle Rechtsprobleme im Außenwirtschaftsstrafrecht, wistra 2000 441; Bietz Strafaussetzung nach Jugendstrafrecht, NStZ 1981 185; Bindokat Teleologie und Analogie im Strafrecht, JZ 1969 541; Birkenstock Die Bestimmtheit von Straftatbeständen mit unbestimmten Gesetzesbegriffen (2004); Birkmeyer Strafe und sichernde Maßnahmen (1906); ders. (Hrsg.) Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Allgemeiner Teil Bd. VI (1908); Bittmann Die gewerbs- oder bandenmäßige Steuerhinterziehung und die Erfindung des gegenständlichen Nichts als geldwäscherelevante Infektionsquelle, wistra 2003 161; ders. Verschleifungsverbot, Quantifizierungsgebot (§§ 263, 266 StGB) und Pflichtwidrigkeit (§ 266 StGB), wistra 2013 1; ders. Wider ein Strafrecht als alltäglicher Begleiter, NStZ 2016 249; Bitzilekis Die neue Tendenz zur Einschränkung des Notwehrrechts (1984); Bleckmann Gemeinschaftsrechtliche Probleme des Entwurfs des Bilanzrichtlinie-Gesetzes, BB 1984 1525; Bleckmann Die Richtlinie im Europäischen Gemeinschaftsrecht und im Deutschen Recht, in Leffson/Rückle/Großfeld Handwörterbuch (1986); ders. Spielraum der Gesetzesauslegung und Verfassungsrecht, JZ 1995 685; ders. Zu den Methoden der Gesetzesauslegung in der Rechtsprechung des BVerfG, JuS 2002 942; Blei Die Regelbeispieltechnik der schweren Fälle und §§ 243, 244 StGB, Festschrift Heinitz (1972) 419; Bloy Die dogmatische Bedeutung der Strafausschließungsund Strafaufhebungsgründe (1976); ders. Die Straftaten gegen die Umwelt im System des Rechtsgüterschutzes, ZStW 100 (1988) 485; Bock Anmerkung zu BGH 3 StR 33/15, JZ 2016 158; Bode/Seiterle Affenpinscher in Aspik, ZIS 2016 Teil 1 S. 91, Teil 2 S. 173; Bohlander Konventionsfreundliche Auslegung von Art. 103 II GG nach Scoppola v Italy, StraFo 2011 169; Böhm Strafrechtliche Gesetzlichkeit als Prinzip? (2013); Bohnert Das Bestimmtheitserfordernis im Fahrlässigkeitstatbestand, ZStW 94 (1982) 68; ders. Paul Johann Anselm Feuerbach und der Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht (1982); Bopp Die Entwicklung des Gesetzesbegriffs im Sinne des Grundrechts „nulla poena sine lege“ (1966); Böse Strafen und Sanktio-

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nen im europäischen Gemeinschaftsrecht (1996); ders. Die Zuständigkeit der Europäischen Gemeinschaft für das Strafrecht, GA 2006 211; Böse Verweisung auf das EU-Recht und das Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG), Festschrift Krey (2010) 7; Brand/Kratzer Die Folgen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Nichtigkeit einer Strafbestimmung des Rindfleischetikettierungsgesetzes wegen Verstoßes gegen den Bestimmtheitsgrundsatz für das Nebenstrafrecht – Tsunami oder doch nur ein Sturm im Wasserglas? JR 2018 422; Brauer Die strafrechtliche Behandlung genehmigungsfähigen, aber nicht genehmigten Verhaltens (1988); Braum Europäische Strafgesetzlichkeit (2003); ders. Europäische Strafgesetzgebung – Demokratische Strafgesetzlichkeit oder administrative Opportunität? wistra 2006 121; ders. Der Europäische Haftbefehl – Motor europäischer Strafrechtspflege? wistra 2007 401; Brechmann Die richtlinienkonforme Auslegung (1994); Breuer Empfehlen sich Änderungen des strafrechtlichen Umweltschutzes insbesondere in Verbindung mit dem Verwaltungsrecht? NJW 1988 2072; Bringewat Die Bildung der Gesamtstrafe (1987); Brocker Die Grundlegung des liberalen Verfassungsstaates (1995); Brunhöber In dubio pro libertate: die Strafbarkeit der Präimplantationsdiagnostik als rechtsstaatliches Problem, HRRS 2010 412; Brüning Das Verhältnis des Strafrechts zum Disziplinarrecht (2017); Bruns Die Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken (1938); ders. Zum besonders schweren Fall des Totschlags – Befangenheit des Staatsanwalts, JR 1979 28; ders. Die sog. „tatsächliche“ Betrachtungsweise im Strafrecht, JR 1984 133; ders. Zur strafrechtlichen Relevanz des gesetzesumgehenden Täterverhaltens, GA 1986 1; Bryde Verfassungsentwicklung: Stabilität und Dynamik im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland (1982); Buchner Die Rechtswidrigkeit der Taten von „Mauerschützen“ im Lichte von Art. 103 II GG unter besonderer Berücksichtigung des Völkerrechts (1996); Bülte Blankette und normative Tatbestandsmerkmale: Zur Bedeutung von Verweisungen in Strafgesetzen, JuS 2015 769; ders. Kommentar zu EuGH C 105/14 (Taricco), NZWiSt 2015 396; ders. Weitreichende Sanktionslücken im Wirtschaftsstrafrecht durch die Entscheidung des BVerfG zu § 10 RiFIEtikettG? BB 2016 3075; ders. Kommentar zu BGH 5 StR 554/17, NZWiSt 2018 159; Bülte/Müller Ahndungslücken im WpHG durch das Erste Finanzmarktnovellierungsgesetz und ihre Folgen, NZG 2017 205; Bungert Zur strafbarkeitserweiternden richtlinienkonformen Auslegung deutscher Strafvorschriften, NStZ 1993 421; Bürger Steuerflucht (2006); Burmeister Die Verfassungsorientierung der Gesetzesauslegung (1966); ders. Vertrauensschutz im Prozessrecht (1977); Busse Juristische Semantik. Grundfragen der juristischen Interpretationstheorie in sprachwissenschaftlicher Sicht, 2. Aufl. (2010); Bydlinski Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. (1991); Cadus Die faktische Betrachtungsweise: Ein Beitrag zur Auslegung im Strafrecht (1984); Callies Sitzdemonstrationen und strafbare Nötigung in verfassungsrechtlicher Sicht, NStZ 1987 209; Callies Strafzwecke und Strafrecht – 40 Jahre Grundgesetz – Entwicklungstendenzen vom freiheitlichen zum sozial-autoritären Rechtsstaat? NJW 1989 1338; Campiche Die verfassungskonforme Auslegung (1978); Canaris Die Feststellung von Lücken im Gesetz (1983); Canaris Die verfassungskonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre, Festschrift Kramer (2004) 141; Cassese/Gaeta International Criminal Law, 3. Aufl. (2013); Cassese/Gaeta/Jones (Hrsg.) The Rome Statute of the International Criminal Court (2002); Christensen/Kudlich Theorie richterlichen Begründens (2001); dies. Die Auslegungslehre als implizite Sprachtheorie der Juristen, ARSP 88 (2002) 230; dies. Gesetzesbindung oder die Entskandalisierung des Paradoxes? in Müller Politik, [Neue] Medien und die Sprache des Rechts (2007); dies. Gesetzesbindung: Vom vertikalen zum horizontalen Verständnis (2008); Cicero In Verrem. Actio secunda, Liber I. 70 v. Chr., verwendete Ausgabe Krüger (Übers. und Hrsg.): Reden gegen Verres II., Bd. I (1983); Class Generalklauseln im Strafrecht, Festschrift Eb. Schmidt (1961) 122; Classen Zur strafrechtlichen Verfolgbarkeit früherer Geheimdienstangehöriger der Deutschen Demokratischen Republik in der Bundesrepublik Deutschland, JZ 1991 717; ders. Artikel 103 Abs. 2 GG – ein Grundrecht unter Vorbehalt? GA 1998 215; Clemens Die Verweisung von einer Rechtsnorm auf andere Vorschriften, AöR 111 (1986) 63; Cleric, v. Der Grundsatz nulla poena sine lege, SJZ 9 (1912/13) 329; Coke The Fourth Part of the Institutes Of the Laws of England: Concerning The Jurisdiction of Courts. W. Lee & D. Pakeman (1644); Cornelius Verweisungsfehler bei Bezugnahmen nationaler Strafnormen auf europäische Richtlinien – zugleich Besprechung von BGH 1 StR 544/13 – Beschl. v. 20.11.2013 (LG Nürnberg-Fürth), NZWiSt 2014 173; ders. Die Verbotsirrtumslösung zur Bewältigung unklarer Rechtslagen, GA 2015 101; ders. Verweisungsbedingte Akzessorietät bei Straftatbeständen (2016) (zit. Cornelius Verweisungsbedingte Akzessorietät); ders. Anforderungen des Parlamentsvorbehalts an unionsrechtsakzessorische Strafblankette – Zugleich eine Besprechung von BVerfG, Beschl. v. 21.9.2016 – 2 BvL 1/15, NStZ 2017 682; Dahm Zur Problematik des Völkerstrafrechts (1956); Dahs/Krause/Widmaier Strafbarkeit des Verteidigers wegen Geldwäsche durch die Annahme des Honorars, NStZ 2004 261; Dallinger Aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, MDR 1975 722; Dannecker Steuerhinterziehung im

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internationalen Wirtschaftsverkehr (1984); ders. Die neuere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Bedeutung der Grundsätze „nullum crimen sine lege“ und „ne bis in idem“ für das Wirtschaftsstraf- und Wirtschaftsordnungswidrigkeitenrecht, Rivista Trimestrale di Diritto Penale dell’Economia 1990 434; ders. (Hrsg.) Die Bekämpfung des Subventionsbetrugs im EG-Bereich (1993); ders. Das intertemporale Strafrecht (1993) (zit. Dannecker Das intertemporale Strafrecht); ders. Die Schüsse an der innerdeutschen Grenze in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, Anmerkung zu BGHSt 39, 1, Jura 1994 585; ders. Die Dynamik des materiellen Strafrechts unter dem Einfluss europäischer und internationaler Entwicklungen, ZStW 107 (1995) 697; ders. Strafrecht in der Europäischen Gemeinschaft, JZ 1996 869; ders. Einfluß des EG-Rechts auf den strafrechtlichen Täuschungsschutz im Lebensmittelrecht, WiVerw 1996 190; ders. Entsanktionierung der Straf- und Bussgeldvorschriften des Lebensmittelrechts (1996) (zit. Dannecker Entsanktionierung); ders. Die Entwicklung des Strafrechts unter dem Einfluß des Gemeinschaftsrechts, Jura 1998 79; ders. Zur Strafbarkeit ausländischer Bankangestellter wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung deutscher Kapitalanleger, Festschrift Mangakis (1999) 267; ders. Das Europäische Strafrecht in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, Festgabe aus der Wiss. 50 J. BGH Bd. IV (2000) 339; ders. Strafrechtlicher Schutz der Gemeinschaftsmarke, in Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht in der EU (2002); ders. Die Dynamik des materiellen Strafrechts unter dem Einfluss europäischer und internationaler Entwicklungen, ZStW 117 (2005) 697; ders. Das materielle Strafrecht im Spannungsfeld des Rechts der Europäischen Union, Teil I, Jura 2006 95; ders. Das materielle Strafrecht im Spannungsfeld des Rechts der Europäischen Union, Teil II, Jura 2006 173; ders. Der zeitliche Geltungsbereich von Strafgesetzen und der Vorrang des Gemeinschaftsrechts, ZIS 2006 309; ders. Nullum crimen, nulla poena sine lege und seine Geltung im Allgemeinen Teil des Strafrechts, Festschrift Otto (2007) 25; ders. Grundrechte im Europäischen Straf- und Strafverfahrensrecht im Lichte der Rechtsprechung des EuGH, Festschrift Fuchs (2014) 111; ders. Anforderungen des nationalen Strafverfassungsrechts an die Inbezugnahme EU-rechtlicher Verhaltensnormen und an Rückverweisungsklauseln in nationalen Rechtsverordnungen Begrenzung des nationalen Grundrechtsschutzes durch den unionsrechtlichen „effet utile“? ZIS 2016 723; ders. Vorgaben des nationalen und europäischen Verfassungsschutz für den lebensmittelrechtlichen Rechtsgüterschutz in der EU, Festschrift Höpfel (2018) 577; ders. Der unionsrechtliche Grundrechtsschutz im Wirtschaftsstrafrecht, in Ambos/Bock Aktuelle und grundsätzliche Fragen des Wirtschaftsstrafrechts (2019) 115; Dannecker/Freitag Zur neueren europäischen und deutschen Strafgesetzgebung im Recht der Außenwirtschaft und der Finanzsanktionen, ZStW 116 (2004) 797; Dannecker/Stoffers Rechtsstaatliche Grenzen für die strafrechtliche Aufarbeitung der Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze, JZ 1996 490; Dannecker/Streng-Baunemann Verschaffung des Wartelistenzugangs für Alkoholiker entgegen den Organallokations-Richtlinien der Bundesärztekammer – (versuchter) Totschlag? NStZ 2014 673; Danwitz, v. Rechtssicherheit und Kohärenz durch Kodifikation der Grundbegriffe und Grundprinzipien des Europäischen Lebensmittelrechts, ZLR 2001 209; ders. Rechtsverordnungen, Jura 2002 93; Darge Kriegsverbrechen im nationalen und internationalen Recht. Unter besonderer Berücksichtigung des Bestimmtheitsgrundsatzes (2010); Deckert Die Methodik der Gesetzesauslegung, JA 1994 412; ders. Folgenorientierung in der Rechtsanwendung (1995); Degener Strafgesetzliche Regelbeispiele und deliktisches Versuchen, Festschrift Stree/Wessels (1993) 305; Demko Zur Rechtsprechung des EGMR in Sachen „Hörfalle“, HRRS 2004 19; Dencker § 323 a StGB – Tatbestand oder Schuldform? JZ 1984 453; Denker Der verschuldete rechtfertigende Notstand, JuS 1979 779; Denninger Normbestimmtheit und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Sächsischen Polizeigesetz (1995); Depenheuer Der Wortlaut als Grenze (1988); Deutscher Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften zur originären Strafgesetzgebung (2000); di Fabio Richtlinienkonformität als ranghöchstes Normauslegungsprinzip? NJW 1990 947; Dieblich Der strafrechtliche Schutz der Rechtsgüter der Europäischen Gemeinschaften (1985); Diefenbach Die verfassungsrechtliche Problematik des Paragraphen 2 Abs. 4 StGB (1966); Dietmeier Marburger Strafrechtsgespräch 1997, ZStW 110 (1998) 393; Dietz, G. Die Problematik der Rückwirkung von Strafgesetzen bei den Maßregeln der Besserung und Sicherung in der Strafrechtsreform (1977); Dolde Zur Verwaltungsrechtsakzessorietät von § 327 StGB, NJW 1988 2329; ders. (Hrsg.) Umweltrecht im Wandel (2001) (zit. Dolde Umweltrecht); Dölling Umweltstraftat und Verwaltungsrecht, JZ 1985 461; ders. Diebstahl in einem besonders schweren Fall bei Ausschaltung einer Alarmanlage in einem Kaufhaus? JuS 1986 688; ders. Zur Auslegung der §§ 331, 333 StGB bei Einwerbung von Wahlkampfspenden durch einen Amtsträger, JR 2005 519; Dreher Anmerkung zum Urteil des Bundesgerichtshofs vom 22. Mai 1962 – 5 StR4/ 62, NJW 1962 2209; Dreier Gustav Radbruch und die Mauerschützen, JZ 1997 421; Drenkhahn/Morgenstern Dabei soll es auf den Namen nicht ankommen – Der Streit um die Sicherungsverwahrung, ZStW 124 (2012) 132; Dubs Die Forderung der optimalen Bestimmtheit belastender Rechtsnormen, in Referate zum Schweizeri-

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schen Juristentag 1974 (1974); Düringer Grundrechte und Grundpflichten, JW 1919 701; Duttge Zur Bestimmtheit des Handlungsunwerts von Fahrlässigkeitsdelikten (2001); ders. Fahrlässigkeit und Bestimmtheitsgebot, Festschrift Kohlmann (2003) 13; ders. Wider die Palmströmsche Logik: Die Fahrlässigkeit im Lichte des Bestimmtheitsgebotes, JZ 2014 261; Dworkin Bürgerrechte ernstgenommen (1977); Ebert Völkerstrafrecht und Gesetzlichkeitsprinzip, Festschrift Müller-Dietz (2001) 171; Ebisch Wirtschaftsstrafgesetz (1959); Eckardt Die verfassungskonforme Auslegung (1964); Ehret Franz von Liszt und das Gesetzlichkeitsprinzip (1996); Eisele Einflußnahme auf nationales Strafrecht durch die Richtliniengebung der Europäischen Gemeinschaft, JZ 2001 1157; ders. Die Regelbeispielsmethode im Strafrecht (2004); Eisele Anmerkung zu EuGH Rs. C-440/05, JZ 2008 251; ders. Anmerkung zu BGH 3 StR 33/15, NJW 2015 3593; Eisenbach Probleme der Verwaltungsakzessorietät im Umweltstrafrecht (1989); Ellbogen Zu den Voraussetzungen des täterschaftlichen Bandendiebstahls, wistra 2002 8; Emmert Horizontale Drittwirkung von Richtlinien? EWS 1992 56; Enderle Blankettstrafgesetze (2000); Engels Der partielle Ausschluß der Notwehr bei tätlichen Auseinandersetzungen zwischen Ehegatten, GA 1982 109; Engisch Die normativen Tatbestandselemente im Strafrecht, Festschrift Mezger (1954) 127; ders. Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Aufl. (1963); ders. Die Strafwürdigkeit der Unfruchtbarmachung mit Einwilligung, Festschrift H. Mayer (1966) 399; ders. Methoden der Strafrechtswissenschaft, in Thiel, Enzyklopädie der Geisteswissenschaftlichen Arbeitsmethoden, 11. Lfg. Teil I (1972); ders. Einführung in das juristische Denken, 11. Aufl. (2010); Epping Die 'lex van der Lubbe', Der Staat 34 (1995) 243; Erb Die Schutzfunktion von Art. 103 Abs. 2 GG bei Rechtfertigungsgründen, ZStW 108 (1996) 6; ders. Die Neuinterpretation des Bandenbegriffs und des Mitwirkungserfordernisses beim Bandendiebstahl, NStZ 2001 56; Erne Das Bestimmtheitsgebot im nationalen und internationalen Strafrecht am Beispiel des Straftatbestands der Verfolgung (2016); Eschelbach Anmerkung zu EGMR, Urteil vom 17.12.2009 – 19359/04 (M./Deutschland), NJW 2010 2499; Eser Verhaltensregeln und Behandlungsnormen, Festschrift Lenckner (1998) 25; Eser/Kreicker (Hrsg.) Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen Bd. 1 (2003); Esser Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Aufl. (1972); Etzel Die Aufhebung von nationalsozialistischen Gesetzen durch den Alliierten Kontrollrat (1992); Everling Rechtsvereinheitlichung durch Richterrecht in der Europäischen Gemeinschaft, RabelsZ 50 (1986) 193; Fahl Zur Neuregelung des § 370a AO, ZStW 114 (2002) 794; Fahnenschmidt/Klumpe Der Anfang vom Ende der actio libera in causa? DRiZ 1997 77; Falke Aktuelles zum Vorsorgeprinzip und anderen programmatischen Orientierungen im Europäischen Umweltrecht, ZUR 2000 265; Faller Das Analogieverbot im Wirtschaftsstrafrecht, DB 1972 1757; ders. Das rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Festschrift Merz (1992) 61; Felix Einheit der Rechtsordnung (1988); Fenner Der Rechtsmißbrauch im Umweltstrafrecht im System des Strafrechts und des öffentlichen Rechts (2000); Feuerbach, v. Lehrbuch des gemeinen in Deutschland geltenden peinlichen Rechts (1801); ders. Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 3. Aufl. (1805) (zit. v. Feuerbach Peinliches Recht); ders. Lehrbuch des gemeinen in Deutschland geltenden peinlichen Rechts, 14. Aufl. (1847) (zit. v. Feuerbach Peinliches Recht14); Fiedler Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung (1972); Fikentscher Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band III; Band IV 1977 (1975) (zit. Fikentscher Methoden Bd. III/ Bd. IV); Fincke Das Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen Teil des Strafrechts (1975); Fischer Der Mißbrauch einer marktbeherrschenden Stellung (§ 22 GWB) in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, ZGR 1978 235; Fissenewert Der Irrtum bei der Steuerhinterziehung (1993); Fortun Die behördliche Genehmigung im strafrechtlichen Deliktsaufbau (1998); Freund Erfolgsdelikt und Unterlassen (1992); ders. Täuschungsschutz und Lebensmittelstrafrecht, ZLR 1994 261; ders. Gefahren und Gefährlichkeiten im Straf- und Maßregelrecht, GA 2010 193; Freund/Putz Materiellrechtliche Strafbarkeit und formelle Subsidiarität der Unterschlagung (§ 246 StGB) wörtlich genommen, NStZ 2003 242; Freund/Rostalski Gesetzlich bestimmte Strafbarkeit durch Verordnungsrecht? Rückverweisungsklauseln als Verstoß gegen das Delegationsverbot aus Art. 103 II, Art. 104 I 1 GG, GA 2016 443; Frisch Die Maßregeln der Besserung und Sicherung im strafrechtlichen Rechtsfolgensystem, ZStW 102 (1990) 343; ders. Verwaltungsakzessorietät und Tatbestandsverständnis im Umweltstrafrecht (1993); Frister Die Notwehr im System der Notrechte, GA 1988 291; Fritsch Das neue Kreislaufwirtschafts- und Abfallrecht (1996); Fromm Der strafrechtliche Schutz der Finanzinteressen der EG (2004); Frommel Die Mauerschützenprozesse, Festschrift Arthur Kaufmann (1993) 81; Frowein/Peukert (Hrsg.) EMRK-Kommentar, 3. Aufl. (2009); Fuhrmann Die Bedeutung des „faktischen Organs“ in der strafrechtlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, Festschrift Tröndle (1989) 139; Fuß Zur Verweisung des deutschen Umsatzsteuergesetzes auf den Gemeinsamen Zolltarif der Europäischen Gemeinschaften, Festschrift Paulick (1973) 293; Gaede Gebotene Sorgfalt bei der europäisierten Strafgesetzgebung – unvermeidliche Ahndungslücke im WpHG? wistra 2016 41;

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ders. Zur Existenz einer Ahndungslücke im Kapitalmarktstrafrecht infolge einer Bezugnahme auf noch nicht in Kraft getretene Vorschriften der EUV 596/2014 („MAR“), wistra 2017 163; Gallant Gesetzlichkeit als Regel des Völkergewohnheitsrechts. Das Verbot der Rückwirkung von Straftaten und Bestrafungen, in Kudlich/Montiel/Schuhr (2012); Gärditz/Gusy Zur Wirkung europäischer Rahmenbeschlüsse im innerstaatlichen Recht, GA 2006 225; Gehm Zum Verhältnis Europa- und Steuerstrafrecht sowie zur Strafbarkeit von Steuerberatern, ZWH 2018 322; Gehrmann Das Bundesverfassungsgericht und die Reform des WpHG, wistra 2018 366; Geiger Auswirkungen europäischer Strafrechtsharmonisierung auf nationaler Ebene (2012); Geitmann Bundesverfassungsgericht und „offene“ Normen (1971); ders. Anmerkung zu BVerfG, Beschluß vom 23.2.1972 – 2 BvL 36/71, NJW 1972 1856; Giese Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 8. Aufl. (1931); Gomard Auslegung und Analogie bei der Anwendung dänischer Wirtschaftsstrafgesetze, ZStW 83 (1971) 332; Gómez Rivero Zeitliche Dimension und objektive Zurechnung, GA 2001 283; Gorny Lebensmittelrechtliche Grundbegriffe, ZLR 2001 501; Grabenwarter Die deutsche Sicherungsverwahrung als Treffpunkt grundrechtlicher Parallelwelten, EuGRZ 2012 507; ders. Europäische Menschenrechtskonvention, 6. Aufl. (2016); Grasso Comunità europee e diritto penale (1989); Greco Ist der Strafrechtsgeber an das Analogieverbot gebunden? GA 2012 452; ders. Verfassungskonformes oder legitimes Strafrecht? Zu den Grenzen einer verfassungsrechtlichen Orientierung der Strafrechtswissenschaft, in Brunhöber/Höffler/Kaspar/Reinbacher/Vormbaum Strafrecht und Verfassung (2013); ders. Zur Bestimmung des Vermögensschadens beim Sportwettenbetrug, NZWiSt 2014 334; ders. Analogieverbot und europäisches Strafgesetz, GA 2016 Teil 1 S. 138, Teil 2 S. 195; ders. Das Bestimmtheitsgebot als Verbot gesetzgeberisch in Kauf genommener teleologischer Reduktionen. Zugleich: Zur Verfassungsmäßigkeit von §§ 217 und 89a Abs. 2 Nr. 1 StGB, ZIS 2018 475; Grewendorf (Hrsg.) Rechtskultur als Sprachkultur (1992); Gribbohm Nationalsozialismus und Strafrechtspraxis, NJW 1988 2842; Grimm Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Thema Prävention, KritV 1986 38; Gröblinghoff Die Verpflichtung des deutschen Strafgesetzgebers zum Schutz der Interessen der Europäischen Gemeinschaft (1996); Gropp Naturrecht oder Rückwirkungsverbot? Zur Strafbarkeit der Berliner „Mauerschützen“, NJ 1996 393; Groß Über das „Rückwirkungsverbot“ in der strafrechtlichen Rechtsprechung, GA 1971 13; Gruchmann Justiz im Dritten Reich 1933–1940, 3. Aufl. (2002); Grünewald Zur selbstverschuldeten Verhandlungsunfähigkeit, JZ 1976 767; Grunsky Grenzen der Rückwirkung bei einer Änderung der Rechtsprechung (1970); Grünwald Bedeutung und Begründung des Satzes „nulla poena sine lege“, ZStW 76 (1964) 1; Grünwald Zur verfassungsrechtlichen Problematik der rückwirkenden Änderung von Verjährungsvorschriften, MDR 1965 521; ders. Die strafrechtliche Bewertung in der DDR begangener Handlungen, StV 1991 31; ders. Die Entwicklung der Rechtsprechung zum Gesetzlichkeitsprinzip, Festschrift Arthur Kaufmann (1993) 433; ders. Die DDR- Grenzsicherung und die bundesdeutsche Justiz, Blätter für deutsche und internationale Politik 1999 1489; Günther Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß (1983); ders. Stellt das Erschießen eines DDR-Flüchtlings durch Grenzsoldaten der DDR eine strafbare Tötung dar? StV 1993 18; ders. Zur Bestimmtheit des räumlichen Geltungsbereichs einer gemeindlichen Baumschutzsatzung in Hinblick auf die Ahndung von Zuwiderhandlungen als Ordnungswidrigkeit, NStZ 1996 342; ders. Warum Art. 103 Abs. 2 GG für Erlaubnissätze nicht gelten kann, Festschrift Grünwald (1999) 213; Guradze Die Europäische Menschenrechtskonvention (1968); Ha Belastende Rechtsprechungsänderungen und die positive Generalprävention (2000); Haffke Das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG bei Änderung der Rechtsprechung zum materiellen Recht (1970); HammerStrnad Das Bestimmtheitsgebot als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Europäischen Gemeinschaftsrechts (1999); Hanack Zur Problematik der gerechten Bestrafung nationalsozialistischer Gewaltverbrecher, JZ 1967 297; Hankel/Stuby (Hrsg.) Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen (1995); Hardwig Pflichtirrtum, Vorsatz und Fahrlässigkeit, ZStW 78 (1966) 1; Harms § 370a AO – Optimierung des steuerstrafrechtlichen Sanktionensystems oder gesetzgeberischer Fehlgriff? Festschrift Kohlmann (2003) 413; Hart Der Begriff des Rechts (1973); Hassemer Tatbestand und Typus (1968) (zit. Hassemer Tatbestand und Typus); ders. Über die Berücksichtigung von Folgen bei der Auslegung der Strafgesetze, Festschrift Coing Bd. 1 (1982) 493; ders. Einführung in die Grundlagen des Strafrechts (1990); ders. Richtiges Recht durch richtiges Sprechen? Zum Analogieverbot im Strafrecht, in Grewendorf Rechtskultur als Sprachkultur (1992); ders. Strafrecht in einem europäischen Verfassungsvertrag, ZStW 16 (2004) 304; ders. Zum Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit, Vorgänge 2002 10; Hassemer/Lüderssen/Naucke (Hrsg.) Hauptprobleme der Generalprävention (1979); Hassemer/Neumann/Saliger (Hrsg.) Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 9. Aufl. (2016); Hassold Strukturen der Gesetzesauslegung, Festschrift Larenz (1983) 211; Hecker Strafbare Produktwerbung im Lichte des Gemeinschaftsrechts (2001); ders. Die richtlinienkonforme und die verfassungskonforme Auslegung im Strafrecht, JuS 2014 385; ders. Anmerkung zu BVerfG 2 BvL

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1/15 (RiFlEtikettG), NJW 2016 3653; Hefendehl Die Materialisierung von Rechtsgut und Deliktsstruktur, GA 2002 21; ders. Europäischer Umweltschutz: Demokratiespritze für Europa oder Brüsseler Putsch? ZIS 2006 161; Heger Europäisches Umweltstrafrecht, JZ 2006 310; Heghmanns Grundzüge einer Dogmatik der Straftatbestände zum Schutz von Verwaltungsrecht oder Verwaltungshandeln (2000); Heide, v.d. Tatbestandsund Vorsatzprobleme bei der Steuerhinterziehung nach § 370 AO (1986); Heidelmeyer Die Menschenrechte, 4. Aufl. (1997); Heider Die Bedeutung der behördlichen Duldung im Umweltstrafrecht (1995); Heifer Rechtsmedizinische Probleme beim Übergang zu 1,1%.-Grenze, NZV 1990 374; Heinrichs Umsetzung der EG-Richtlinie über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen durch Auslegung, NJW 1995 153; Heise Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht (1998); Henckel Zur Reichweite von Art. 103 Abs. 2 GG bei normbezogenen Tatbeständen, HRRS 2018 273; Hendler/Marburger/Reinhardt/ Schröder (Hrsg.) Das europäische Weißbuch zur Chemikalienpolitik (2003); Henkel Strafverfahrensrecht (1968); Hennings Die Entstehungsgeschichte des Satzes nulla poena sine lege (1933); Hentschel Die Vorwerfbarkeit „absoluter“ Fahrunsicherheit bei Mofafahrern, NJW 1984 350; Herberger/Koch Juristische Methodenlehre und Sprachphilosophie, JuS 1978 810; Herlan Aus der in der der sog. „amtlichen Sammlung“ veröffentlichten Rechtsprechung des BGH zu den strafrechtlichen Nebengesetzen, GA 1971 36; Hermann Begriffsrelativität im Strafrecht und das Grundgesetz (2015) (zit. Hermann Begriffsrelativität); ders. Menschenrechtsfeindliche und menschenrechtsfreundliche Auslegung von § 27 des Grenzgesetzes der DDR, NStZ 1993 118; Herschel Zivilrechtliche Bedeutung des strafrechtlichen Analogieverbotes, NJW 1968 533; Herzberg Kritik der teleologischen Gesetzesauslegung, NJW 1990 25; ders. Die ratio legis als Schlüssel zum Gesetzesverständnis? JuS 2005 1; ders. Wann ist die Strafbarkeit »gesetzlich bestimmt« (Art. 103 Abs. 2 GG)? Schünemann-Symposium (2005) 31; ders. Die Fahrlässigkeit als Deliktsvoraussetzung und das Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG), ZIS 2011 444; Herzog Telefonterror (fast) straflos? GA 1975 257; ders. Politische Opportunität und Bestimmtheitsdefizite im Außenwirtschaftsrecht am Beispiel des § 34 Abs 2 AWG, wistra 2000 41; ders. Die zentrale Bedeutung des Bestimmtheitsgrundsatzes (Art. 103 II GG), JuS 1986 L17; ders. Die „Actio libera in causa“ (1988) (zit. Hettinger Die “Actio libera in causa“); ders. Die zentrale Bedeutung des Bestimmtheitsgrundsatzes (Art. 103 II GG), JuS 1997 L17; Hettinger/Engländer Täterbelastende Rechtsprechungsänderungen im Strafrecht, Festschrift Meyer-Goßner (2001) 145; Heusinger Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Spiegel richterlicher Erfahrung (1975); Hilf/Willms Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg – Rechtsprechungsbericht, 1. Quartal 1986 (Nr. 1– 59), EuGRZ 1987 176; Hilgendorf Gesetzlichkeit als Instrument der Freiheitssicherung, in Kudlich/Montiel/Schuhr (2012); ders. Das Gesetzlichkeitsprinzip im Strafrecht (2013); Hillgruber Anmerkung zu EuGH, 16.6.2005 – C-105/03 Maria Pupino, JZ 2005 841; Hirsch Rechtfertigungsgründe und Analogieverbot, Gedächtnisschrift Tjong (1985) 50; ders. Anwendbarkeit der Grundsätze der actio libera in causa, NStZ 1997 230; ders. Rechtfertigungsfragen und Judikatur des Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wiss. 50 J. BGH Bd. IV (2000) 199; ders. Die verfehlte deutsche Gesetzesfigur der „besonders schweren Fälle“, Festschrift Gössel (2002) 287; ders. Zur Sittenwidrigkeit einverständlich vorgenommener sadomasochistischer Praktiken, JR 2004 475; Hobbes Leviathan Or the Matter, Forme and Power of A Commonwealth Ecclesiasticall and Civil 1651, verwendete Ausgabe Molesworth (Hrsg.) The English Works of Thomas Hobbes of Malmesbury, Vol. III (1839); Höffler Das Therapieunterbringungsgesetz und der verfassungsrechtliche Strafbegriff, StV 2014 168; Höffler/Kaspar Warum das Abstandsgebot die Probleme der Sicherungsverwahrung nicht lösen kann, ZStW 124 (2012) 87; Holle Die öffentlich-rechtliche Verantwortung und Haftung Vorsorgeprinzip, ZLR 2004 307; Hollweg Das neue Internationale Tribunal der UNO und der Jugoslawienkonflikt, JZ 1993 980; Höltkemeier Sponsoring als Straftat (2005); Holtz Aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, MDR 1980 453; Honstetter Anmerkung zu einer Entscheidung des LG Stade, Beschluss vom 15.3.2017 (600 KLs 1/15) – Zur Verfassungsmäßigkeit von Blankettstrafvorschriften mit Entsprechungsklauseln, NZWiSt 2017 325; Hootz (Hrsg.) Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen und Europäisches Kartellrecht. Gemeinschaftskommentar, 5. Aufl. (2006); Höpfel Zu Sinn und Reichweite des sogenannten Analogieverbots, JBl 1979 505; Horn Strafbares Fehlverhalten von Genehmigungs- und Aufsichtsbehörden? NJW 1981 1; ders. Der Anfang vom Ende der actio libera in causa, StV 1997 264; ders. Einführung in die Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, 5. Aufl. (2011); Hoven Zur Verfassungsmäßigkeit von Blankettstrafgesetzen, NStZ 2016 377; Hoyer § 246 ist nicht nur gegenüber Zueignungsdelikten subsidiär, JR 2002 517; Hruschka Das Verstehen von Rechtstexten (1972); ders. Anmerkung zu BayObLG, 26.5.1978, 3 ObOWi 38/78, JR 1979 125; ders. Die actio libera in causa – speziell bei § 20 StGB mit zwei Vorschlägen für die Gesetzgebung, JZ 1996 64; ders. Die actio libera in causa bei Vorsatztaten und bei Fahrlässigkeitstaten, JZ 1997 22; Huep Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf

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§ 1 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

ältere Sachverhalte (2001); Hufen Verfassungsrechtliche Maßstäbe und Grenzen lebensmittelstrafrechtlicher Verantwortung (1987); Hugger Zur strafbarkeitserweiternden richtlinienkonformen Auslegung deutscher Strafvorschriften, NStZ 1993 421; Hunsmann § 370a AO – verfassungsrechtlich bedenklich? NStZ 2005 72; Hüting/Kunzak Die Senkung des Grenzwertes der absoluten Fahrunsicherheit und das Rückwirkungsverbot des Art 103 II GG, NZV 1991 255; dies. Das „gestörte Verhältnis“ zwischen §§ 315c, 316 StGB und § 24a StVG nach der Senkung des Grenzwertes der absoluten Fahrunsicherheit durch den BGH, NZV 1992 136; Hutt Embargoverstöße im System des Außenwirtschaftsstrafrechts, in Tiedemann Die Verbrechen in der Wirtschaft, 2. Aufl. (1972); Ignor/Müller Spionage und Recht, StV 1991 573; Ipsen Diskussionsbeitrag bei der 50. Staatsrechtslehrervereinigung 1991, VVDStRL 50 (1991) 310; Isensee Nachwort. Der deutsche Rechtsstaat vor seinem unrechtsstaatlichen Erbe, in Isensee, Vergangenheitsbewältigung (1992); ders. (Hrsg.) Vergangenheitsbewältigung durch Recht: Drei Abhandlungen zu einem deutschen Problem (1992); Jäger Grund und Grenzen des Gesetzlichkeitsprinzips im Strafprozessrecht, GA 2006 615; Jahn Rechtstheoretische Grundlagen des Gesetzlichkeitsvorbehalts im Strafprozessrecht, in Kudlich/Montiel/Schuhr (2012); ders. Die strafrechtliche Aufarbeitung der Finanzmarktkrise, wistra 2013 41; Jahn/Brodowski Krise und Neuaufbau eines strafverfassungsrechtlichen Ultima Ratio-Prinzips, JZ 2016 969; dies. Das Ultima-RatioPrinzip als strafverfassungsrechtliche Vorgabe zur Frage der Entbehrlichkeit von Straftatbeständen, ZStW 129 (2017) 363; Jahn/Krehl/Löffelmann/Güntge (Hrsg.) Die Verfassungsbeschwerde in Strafsachen, 2. Aufl. (2017); Jähnke Zur Frage der Geltung des „nullum-crimen-Satzes“ im Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches, Festschrift [aus der Praxis] 50 J. BGH (2000) 393; Jahr Redaktionsversehen, Festschrift Arthur Kaufmann (1993) 141; Jakobs Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht? Zur Leistungsfähigkeit des Strafrechts nach einem politischen Umbruch, in Isensee Vergangenheitsbewältigung (1992); ders. Untaten des Staates – Unrecht im Staat, GA 1994 1; Janiszewsiki Überblick über neue Entscheidungen in Verkehrsstrafund -bußgeldsachen, NStZ 1990 271; Jarass Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts (1994) (zit. Jarass Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts); ders. Strafrechtliche Grundrechte im Unionsrecht, NStZ 2012 611; Jeand’Heur Bestimmtheitsgrundsatz und Gesetzesauslegung, NJ 1995 465; Jescheck Grundsätze der Kriminalpolitik in rechtsvergleichender Sicht, Festschrift Miyazawa (1995) 363; ders. The General Principles of International Law set out in Nuremberg, as Mirrored in the ICC Statute, JICJ 1 (2004) 28; Jiménez de Asúa Nullum crimen, nulla poena sine lege, ZStW 63 (1951) 166; Jobski Zur Steuerumgehung und zum Umfang der Aufklärungspflicht nach StPO § 244 Abs. 2, wistra 1982 108; Joerden Wird politische Machtausübung durch das heutige Strafrecht strukturell bevorzugt? GA 1997 201; Juchem § 370 AO – ein normativer Straftatbestand! wistra 2014 300; Jünemann Rechtsmißbrauch im Umweltstrafrecht (1998); Jung Straffreiheit für den Kronzeugen? (1974); ders. Rückwirkungsverbot und Maßregel, Festschrift Wassermann (1985) 875; ders. Die Sicherungsverwahrung auf dem Prüfstand der EMRK, GA 2010 639; Käckell Der Einfluß der neuen Reichsverfassung auf Straf- und Prozeßrecht, ZStW 41 (1920) 680; Kähler Strukturen und Methoden der Rechtsprechungsänderung (2004); Kargl Rechtsextremistische Parolen als Volksverhetzung, Jura 2001 176; ders. Probleme des Tatbestands der Geldwäsche (§ 261 StGB), NJ 2001 57; ders. Probleme der Strafbegründung bei Einwilligung des Geschädigten am Beispiel des Dopings, JZ 2002 389; ders. Über die Bekämpfung des Anscheins der Kriminalität bei der Vorteilsannahme (§ 331 StGB), ZStW 114 (2002) 763; ders. Heimtücke und Putativnotstand bei Tötung eines schlafenden Familientyrannen, Jura 2004 189; ders. Parteispendenakquisition und Vorteilsannahme, JZ 2005 503; ders. Strafrecht. Einführung in die Grundlagen von Gesetz und Gesetzlichkeit (2019); Kartte Vertikale Preisempfehlungen für Markenwaren und das Diskriminierungsverbot, WuW 1962 241; Kaspar Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht (2014); ders. Die Zukunft der Zweispurigkeit nach den Urteilen von Bundesverfassungsgericht und EGMR, ZStW 127 (2015) 654; Kaufmann, Arth. Das Schuldprinzip, 2. Aufl. (1976) (zit. Kaufmann Das Schuldprinzip); ders. Analogie und „Natur der Sache“, 2. Aufl. (1982); ders. Rechtsphilosophie zum Mitdenken – 5. Kapitel – Einführung in die juristische Methodenlehre – Der Prozeß der Rechtserkenntnis – I. Teil, Jura 1992 297; ders. Die Radbruchsche Formel vom gesetzlichen Unrecht und vom übergesetzlichen Recht in der Diskussion um das im Namen der DDR begangene Unrecht, NJW 1995 81; Kaufmann, H. Strafanspruch, Strafklagerecht (1968); Kaul Geschichte des Reichsgerichts, Bd. IV 1933–1945 (1971); Kausch Der Staatsanwalt – Ein Richter vor dem Richter? (1980); Keller Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Amtsträgers für fehlerhafte Genehmigungen im Umweltrecht, Festschrift Rebmann (1989) 241; Kempf Ultima ratio? – Ultima ratio! Der Beschluss des BVerfG vom 21. September 2016 zur Nichtigkeit einer Blankettstrafnorm, AnwBl 2017 34; Kenntner Der deutsche Sonderweg zum Rückwirkungsverbot, NJW 1997 2298; Kert Lebensmittelstrafrecht im Spannungsfeld des Gemeinschaftsrechts (2004); Kielwein Grundgesetz und Strafrechtspflege (1960); Kießner Kreditbetrug: § 265b StGB

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(1985); Kilger Auswirkungen der Nichtigkeit des § 15 II lit. a FernmAnlG für die strafrechtliche Praxis, NJW 1990 1714; Killmann Die rahmenbeschlusskonforme Auslegung im Strafrecht vor dem EuGH, JBl 2005 566; Kim Der Gesetzlichkeitsgrundsatz im Lichte der Rechtsidee, Festschrift Roxin (2001) 119; Kindhäuser Rohe Tatsachen und normative Tatbestandsmerkmale, Jura 1984 465; ders. Zur Anwendbarkeit der Regeln des Allgemeinen Teils auf den besonders schweren Fall des Diebstahls, Festschrift Triffterer (1996) 123; Kingreen/Porscher Grundrechte, Staatsrecht II, 33. Aufl. (2017); Kinzig Schrankenlose Sicherheit? – Das Bundesverfassungsgericht vor der Entscheidung über die Geltung des Rückwirkungsverbots im Maßregelrecht, StV 2000 330; Kirchhof, G. Die Allgemeinheit des Gesetzes (2009); Kirchhof Der Auftrag des Grundgesetzes an die rechtsprechende Gewalt, Festschrift Heidelberg (1986) 11; Kirsch Zur Geltung des Gesetzlichkeitsprinzips im Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs (2014); Klatt Theorie der Wortlautgrenze (2004); ders. Die Wortlautgrenze, in Kudlich/Montiel/Schuhr (2012); Klesczewski Ein zweischneidiges Recht – Zu Grund und Grenzen der Notwehr in einem vorpositiven System der Erlaubnissätze, Festschrift Wolff (1998) 225; ders. Strafen statt Verwahren! HRRS 2010 394; Kloepfer/Heger Umweltstrafrecht, 3. Aufl. (2014); Klöhn/Büttner Generalamnestie im Kapitalmarktrecht? ZIP 2016 1801; Knauer/Kaspar Restriktives Normverständnis nach dem Korruptionsbekämpfungsgesetz, GA 2005 385; Knauth Die Rückwirkung verfahrensrechtlicher Normen zum Zwecke der Verfolgbarkeit im Strafrecht, StV 2003 418; Knittel Zum Problem der Rückwirkung bei einer Änderung der Rechtsprechung (1965); Koch, Th. Zur Strafbarkeit von Verstößen gegen die EG-Weinmarktordnung, ZLR 1989 199; Koch, Th. Zur Abstimmung von nationalem und supranationalem Recht bei Blankett-Straftatbeständen, ZLR 1990 188; Koch Die normtheoretische Basis der Abwägung, in Alexy/Koch/Kuhlen/Rüßmann, Begründungslehre (2003); Koch/Rüßmann Juristische Begründungslehre (1982); Kohlmann Der Begriff des Staatsgeheimnisses und das verfassungsrechtliche Gebot der Bestimmtheit von Strafvorschriften (1969); ders. (Hrsg.) Strafverfolgung und Strafverteidigung im Steuerstrafrecht (1983); Kohlrausch Das „Gesetz betreffend die Bestrafung der Entziehung elektrischer Arbeit“ und seine Vorgeschichte, ZStW 20 (1900) 459; Köhne Zombies und Kannibalen Zum Tatbestand der Gewaltdarstellung (§ 131 Abs 1 StGB), GA 2004 180; ders. Anmerkung zum Urteil des EGMR vom 7.1.2016, NJW 2017 1007; Kölbel Das Rechtsmissbrauchs-Argument im Strafrecht, GA 2005 36; König Die völkerrechtliche Legitimation der Strafgewalt internationaler Strafjustiz (2003); Köpferl Die Referenzierung nicht geltenden Unionsrechts in Blanketttatbeständen exemplifiziert anhand der jüngsten Änderung der §§ 38, 39 WpHG, ZIS 2017 201; Korte Anmerkung zu BGH, Urteil vom 28.10.2004 – 3 StR 301/03, NStZ 2005 512; Kotsoglou Strafrechtsdogmatik und Allgemeinverständlichkeit. Wer hat die Deutungshoheit über die Rechtsbegriffe? ZIS 2017 257; Krahl Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs zum Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht (Art. 103 Abs. 2 GG) (1986); ders. Fahruntüchtigkeit – Rückwirkende Änderung der Rechtsprechung und Art 103 II GG, NJW 1991 808; Krajewski Mauerschützen und Menschenrechte, JZ 1997 1054; Kratzsch Grenzen der Strafbarkeit im Notwehrrecht (1968); ders. § 53 StGB und der Grundsatz nullum crimen sine lege, GA 1971 65; ders. Das „faktische Organ“ im Gesellschaftsstrafrecht – Grund und Grenzen einer strafrechtlichen Garantenstellung, ZGR 1985 506; Krause Zur Einschränkung der Notwehrbefugnis, GA 1979 329; Krehl Anmerkung zu BVerfG, Beschluss vom 15.9.2011 – Az. 2 BvR 1516/11, StV 2012 27; Kreicker Art. 7 EMRK und die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze (2002); Kreicker/ Gropengießer Grundlagen der Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen – Deutschland, in Eser/ Kreicker Bd. 1 (2003); Kreß Nulla poena nullum crimen sine lege, Max Planck Encyclopedia of Public International Law (MPEPIL) 2015 ; Krey Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht (1977) (zit. Krey Studien); ders. Zur Problematik richterlicher Rechtsfortbildung contra legem – Rechtsfindung contra legem als Verfassungsproblem, JZ 1978 361; ders. Zur Einschränkung des Notwehrrechts bei der Verteidigung von Sachgütern, JZ 1979 712; ders. Zur Verweisung auf EWG-Verordnungen in Blankettstrafgesetzen am Beispiel der Entwürfe eines Dritten und Vierten Gesetzes zur Änderung des Weingesetzes – Verfassungsprobleme der Verweisung auf Gemeinschaftsrecht – Schranken für Blankettstrafgesetze aus Art. 103 Abs. 2, Art. 104 Abs. 1 Grundgesetz, EWR 1981 109; ders. Grundzüge des Strafverfahrensrechts – Einführung (1. Teil), JA 1983 233; ders. Keine Strafe ohne Gesetz (1983) (zit. Krey Strafe); ders. Gesetzestreue und Strafrecht – Schranken richterlicher Rechtsfortbildung, ZStW 101 (1989) 838; Krey/Weber-Linn Parallelitäten und Divergenzen zwischen strafrechtlichem und öffentlichrechtlichem Gesetzesvorbehalt, Festschrift Blau (1985) 123; Kriele Theorie der Rechtsgewinnung, entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, 2. Aufl. (1976); Krüger Neues aus Karlsruhe zu Art. 103 Abs. 2 GG und § 266 StGB, NStZ 2011 369; Kubiciel Die Finanzmarktkrise zwischen Wirtschaftsstrafrecht und politischem Strafrecht, ZIS 2013 53; Kudlich Grundrechtsorientierte Auslegung im Strafrecht, JZ 2003 127; ders. Die strafrahmenorientierte Auslegung im System der strafrechtlichen Rechtsfindung, ZStW 115 (2003) 1; ders. „Gesetzesumgehung“ und andere Fälle

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§ 1 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

teleologischer Lückenschließung im Strafrecht. Zugleich ein Beitrag zur Ermittlung der sog. „Wortlautgrenze“, Festschrift Stöckel 2009 93; ders. Anmerkung zu BVerfG 2 BvR 2238/07, JR 2009 210; ders. Das Gesetzlichkeitsprinzip im deutschen Strafprozessrecht, in Kudlich/Montiel/Schuhr (2012); ders. Doch keine Generalamnestie im Kapitalmarktstrafrecht, ZBB 2017 72; Kudlich/Christensen Wortlaut, Wörterbuch und Wikipedia – wo findet man die Wortlautgrenze? JR 2011 146; Kudlich/Montiel/Schuhr (Hrsg.) Gesetzlichkeit und Strafrecht (2012); Kühl Probleme der Verwaltungsakzessorietät des Strafrechts, insbesondere im Umweltstrafrecht, Festschrift Lackner (1987) 815; ders. Die Notwehr: Ein Kampf ums Recht oder Streit, der mißfällt? Schlaglichter der Notwehrdiskussion der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland und Österreich, Festschrift Triffterer (1996) 149; Kühl Verbindungen von (Straf-)Recht und Moral, Gedächtnisschrift Meurer (2002) 545; ders. Strafrecht in Anlehnung an Ethik/Moral, Festschrift Otto (2007) 63; ders. Anmerkungen zum Bestimmtheitsgrundsatz, Festschrift Seebode 2008 61; ders. Das Profil des Strafrechts, Festschrift Volk 2009 275; Kuhlen Zum Umweltstrafrecht in der Bundesrepublik Deutschland (Teil 2), WiVerw 1992 215; ders. Die verfassungskonforme Auslegung von Strafgesetzen (2006); ders. Zum Verhältnis vom Bestimmtheitsgrundsatz und Analogieverbot, Festschrift Otto (2007) 89; ders. Gesetzlichkeitsprinzip und Untreue. Zugleich eine Besprechung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 23.6.2010, JR 2011 246; ders. Aktuelle Probleme des Bestimmtheitsgrundsatzes, in Kudlich/Montiel/Schuhr (2012); ders. Das Gesetzlichkeitsprinzip in der deutschen Praxis, in Hilgendorf Gesetzlichkeitsprinzip (2013); ders. Zum Verschleifungsverbot, Festschrift Neumann 2017 943; Kuhli Das Völkerstrafgesetzbuch und das Verbot der Strafbegründung durch Gewohnheitsrecht. (2010); Kühne Zum Einfluß des Gemeinschaftsrechts auf das nationale Strafrecht, JZ 1998 1070; ders. Rechtssicherheit und Kohärenz als Auftrag des Europäischen Lebensmittelstrafrechtes, ZLR 2001 379; ders. Bürgerfreiheit und Verbrecherfreiheit (2004); Kunig Das Rechtsstaatsprinzip (1986); Küper Der „verschuldete“ rechtfertigende Notstand (1983); ders. Richterrecht im Bereich der Verkehrsunfallflucht, Festschrift Heidelberg (1986) 451; ders. Deliktsversuch, Regelbeispiel und Versuch des Regelbeispiels, JZ 1986 518; ders. Das BVerfG, das Analogieverbot und der Bedrohungstatbestand, JuS 1996 783; ders. Verfassungswidrige und verfassungskonforme Auslegung des § 142 StGB, NStZ 2018 597; Küpper Zur Subsidiarität des § 246 StGB, JZ 2002 1115; Kusnik Hände weg von der Handysperre? Für die Straffreiheit des Entfernens von SIM-Locks, CR 2011 718; Laaths Das Zeitgesetz gem. § 2 Abs. 4 StGB unter Berücksichtigung des Blankettgesetzes (1991); Lackner Zu den Grenzen der richterlichen Befugnis, mangelhafte Strafgesetze zu berichtigen, Festschrift Heidelberg (1986) 39; Lagodny Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996); Lampe Zur verfassungsrechtlichen Bestimmtheit der unbestimmten Rechtsbegriffe und zur Frage der Erheblichkeit in StGB § 265b, JR 1982 430; Langer Gesetzlichkeitsprinzip und Strafmilderungsgründe, Festschrift Dünnebier (1982) 421; Larenz Die Bindung des Richters an das Gesetz als hermeneutisches Problem, Festschrift Huber (1973) 291; ders. Richtiges Recht (1979); ders. Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. (1991) (zit. Larenz Methodenlehre); Larenz/ Canaris Methodenlehre des Rechts, 4. Aufl. (2005); Laskowski Unrecht – Strafrecht – Gerechtigkeit – Die Probleme des Rechtsstaats mit dem DDR-Unrecht, JA 1994 151; Laue Die Sicherungsverwahrung auf dem europäischen Prüfstand, JR 2010 198; Lecheler Unrecht in Gesetzesform? Gedanken zur „Radbruch’schen Formel“ (1994); Leffson/Rückle/Großfeld (Hrsg.) Handwörterbuch unbestimmter Rechtsbegriffe im Bilanzrecht des HGB (1986); Leite Grund und Grenzen eines Rückwirkungsverbots bei täterbelastenden Rechtsprechungsänderungen im Strafrecht, GA 2014 220; Lemmel Unbestimmte Strafbarkeitsvoraussetzungen im Besonderen Teil des Strafrechts und der Grundsatz nullum crimen sine lege (1970); Lencker Behördliche Genehmigungen und der Gedanke des Rechtsmißbrauchs im Strafrecht, Festschrift Pfeiffer (1988) 27; ders. „Gebotensein“ und „Erforderlichkeit“ der Notwehr, GA 1968 1; ders. Wertausfüllungsbedürftige Begriffe im Strafrecht und der Grundsatz „nullum crimen sine lege“, JuS 1968 249; Lippold Die Strafbarkeit der DDRSpionage und ihre Verfassungsmäßigkeit, NJW 1992 18; Liszt, v. Über den Einfluss der soziologischen und anthropologischen Forschungen auf die Grundbegriffe des Strafrechts, Mitteilungen der IKV Bd. 4 (1893), in Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge Bd. II (1905, Nachdruck 1970); Locke Two treaties of government (1690); Loos Bemerkungen zur »historischen Auslegung«, Festschrift Wassermann (1985) 123; ders. Zur »schadensbegrenzenden« Auslegung strafprozessualer Vorschriften des Justizentlastungsgesetzes, Festschrift Remmers (1995) 565; Lorenz Die Verjährung in der deutschen Strafgesetzgebung (1955); Lorenzmeier Der Rahmenbeschluss als Handlungsform der Europäischen Union und seine Rechtswirkungen, ZIS 2006 576; Löwer Rechtspolitische und verfassungsrechtliche Bedenken gegenüber dem Ersten Wirtschaftskriminalitätsgesetz, JZ 1979 621; Lüdemann Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, JuS 2004 27; Lüderssen Die generalpräventive Funktion des Deliktssystems, in Hassemer/Lüderssen/Naucke Hauptprobleme der Generalprävention (1979); ders. Politische Grenzen des Rechts – rechtliche Grenzen der Politik –

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Zur Debatte über die Verjährung von NS-Morden, JZ 1979 449; ders. Zu den Folgen des „Beitritts“ für die Strafjustiz der Bundesrepublik Deutschland, StV 1991 482; ders. Die Wiederkehr der „Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken“ – eine Warnung, Festschrift Hanack (1999) 487; Luhmann Das Recht der Gesellschaft (1993); Lutfullin Das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot und Mengenbegriffe (2017); Luther Zum Gesetzlichkeitsprinzip im Strafrecht, Festschrift Bemmann (1997) 202; Maier Die Garantiefunktion des Gesetzes im Strafprozeß (2001); Maiwald Bestimmtheitsgebot, tatbestandliche Typisierung und die Technik der Regelbeispiele, Festschrift Gallas (1973) 137; ders. Zur Problematik der „besonders schweren Fälle“ im Strafrecht, NStZ 1984 433; ders. Rechtsbeugung durch einen Richter der DDR durch Mitwirkung an der Verhängung der Todesstrafe, JZ 1996 866; Mangakis Über die Wirksamkeit des Satzes „nulla poena sine lege“, ZStW 81 (1969) 997; Mantovani The general principles of International Criminal Law: The viewpoint of a national criminal lawyer, JICJ 1 (2003) 26; Martino, di Das Gesetzlichkeitsprinzip zwischen zwei Welten. Formelles nationales vs. materielles Gesetzlichkeitsprinzip der EMRK in der jüngsten Rechtsprechung Italiens, ZStW 128 (2016) 270; Marxen Strafgesetzgebung als Experiment? – Gesetzesexperimente in strafrechtlicher Sicht, GA 1985 533; Mastronardi Juristisches Denken (2003); Matt Eigenverantwortlichkeit und Subjektives Recht im Notwehrrecht, NStZ 1993 271; Mattil Zeit und materielles Strafrecht, GA 1965 129; Maurach Die Objekte der Einziehung nach § 586 StGB, JZ 1964 529; Maurer Staatsrecht I, 6. Aufl. (2010); May Crimes against humanity (2005); Meinhardt Überlegungen zur Interpretation von § 303a StGB (1991); Merkel, G. Anmerkung zur Entscheidung BVerfGE 131, 268, ZIS 2012 521; Mertens Zur von GG Art 103 Abs 2 geforderten Vorhersehbarkeit einer Bestrafung bei unklarem Wortsinn der Norm, NStZ 1991 288; ders. Strafprozessuale Grundrechtseingriffe (1995); Messmer/Bergschneider Straßenverkehrsgefährdung, Fahruntüchtigkeit, DAR 1967 45; Meyer, J. (Hrsg.) Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Aufl. (2014); Meyer, M.-K. Zur Rechtsnatur und Funktion des Strafantrags (1984); Meyer Die Bindung der EU-Mitgliedstaaten an die Grundrechtecharta in einer europäisierten Strafrechtspflege, ZStW 128 (2016) 1089; ders. Anmerkung zu EuGH C-42/17 (M.A.S. und M.B.), JZ 2018 304; Meyer/Streinz, A.H. (Hrsg.) LFGB, BasisVO, HCVO, Kommentar, 2. Aufl. (2012); Meyer-Ludewig Der Satz „nulla poena sine lege“ in dogmatischer Sicht, MDR 1962 262; Mitsch Straflose Provokation strafbarer Taten (1986); Möhrenschlager Einbeziehung ausländischer Rechtsgüter in den Schutzbereich nationaler Straftatbestände, in Dannecker, Subventionsbetrug (1993); ders. Revision des Umweltstrafrechts – Das Zweite Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität, NStZ 1994 513; Moll Europäisches Strafrecht durch nationale Blankettstrafgesetzgebung? (1988); Montag Die Anwendung der Strafvorschriften des GmbH-Rechts auf faktische Geschäftsführer (1994); Montesquieu Vom Geist der Gesetze (1748); Montiel Grundlagen und Grenzen der Analogie in bonam partem im Strafrecht (2014); Moosbacher Anmerkung zu BGH, Urteil vom 11.12.2003 – 3 StR 120/03, JR 2004 390; Moreso Gesetzlichkeitsprinzip und Rechtfertigungsgründe, in Kudlich/Montiel/Schuhr (2012); Morgenstern Krank – gestört – gefährlich: Wer fällt unter § 1 Therapieunterbringungsgesetz und Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK? ZIS 2011 974; Mosbacher Praktische Folgerungen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sicherungsverwahrung vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2365/09 u.a. HRRS 2011 229; Müller, F. Juristische Methodik, 3. Aufl. (1989); Müller Nichtverfolgung von Wahlfälschungsanzeigen in der DDR als Rechtsbeugung, NStZ 1998 195; Müller/Christensen Juristische Methodik. Band I: Grundlegung für die Arbeitsmethoden der Rechtspraxis, 11. Aufl. (2013); Müller-Dietz Verfassungsbeschwerde und richterliche Tatbestandsauslegung im Strafrecht, Festschrift Maurach (1972) 41; ders. Abschied vom Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht? Festschrift Lenckner (1998) 179; Mumberg Gedanke des Rechtsmißbrauchs im Umweltstrafrecht (1989); Münch Zur Anwendung der Menschenrechtskonvention in der Bundesrepublik Deutschland, JZ 1961 153; Musknug Diskussionsbeitrag bei der 50. Staatsrechtslehrervereinigung 1991: Verwaltungsrecht als Vorgabe für Zivil- und Strafrecht, VVDStRL 50 (1991) 329; Mylonopoulos Internationalisierung des Strafrechts und Strafrechtsdogmatik. Legitimationsdefizit und Anarchie als Hauptcharakteristika der Strafrechtsnormen mit internationalem Einschlag, ZStW 121 (2009) 68; Nalson An Impartial Collection of the Great Affairs of State, From the Beginning of the Scotch Rebellion In the Year MDCXXXIX To the Murther of King Charles I. Vol. II (1683); Naucke Lehre vom strafbaren Betrug (1964); ders. Anmerkung zu OLG Karlsruhe, Urteil vom 5.10.1967 – 1 Ss 132/67, NJW 1968 758; ders. Rückwirkende Senkung der Promillegrenze und Rückwirkungsverbot (Art 103 Abs. 2 GG), NJW 1968 2321; ders. Der Nutzen der subjektiven Auslegung im Strafrecht, Festschrift Engisch (1969) 274; ders. Über Generalklauseln und Rechtsanwendung im Strafrecht (1973) (zit. Naucke Generalklauseln); ders. Die Mißachtung des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots 1933–1945. Zum Problem der Bewertung strafrechtlicher Entwicklungen als „unhaltbar“, Festschrift Coing Bd. 1 (1982) 225; ders. Gesetzlichkeit und Kriminalpolitik, JuS 1989 862; ders. Über die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts (2000) (zit. Naucke Zerbrechlichkeit des Straf-

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rechts); Neumann Materiale und prozedurale Gerechtigkeit im Strafverfahren, ZStW 101 (1989) 52; ders. Rückwirkungsverbot bei belastenden Rechtsprechungsänderungen der Strafgerichte? ZStW 3 (1991) 331; ders. Konstruktion und Argument in der neueren Diskussion zur actio libera in causa, Festschrift Arthur Kaufmann (1993) 581; ders. Gesetzeswidrigkeit der Rechtsfigur der actio libera in causa? StV 1997 23; Neuner Die Rechtsfindung contra legem, 2. Aufl. (2005); Nickel Die Problematik der unechten Unterlassungsdelikte im Hinblick auf den Grundsatz „nullum crimen sine lege“ (1972); Niehaus Der Begriff des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln, JR 2005 192; Niering Der strafrechtliche Schutz der Gewässer (1993); Nipperdey (Hrsg.) Grundrechte und Grundpflichten in der Reichsverfassung, Bd. I (1929); Oduncu/Schroth/ Vossenkuhl (Hrsg.) Transplantation, Organgewinnung und -allokation (2003); Oeter „Drittwirkung“ der Grundrechte und die Autonomie des Privatrechts, AöR 119 (1994) 529; Oğlakcıoğlu Der Allgemeine Teil des Betäubungsmittelstrafrechts (2013); Ortiz de Urbina Gimeno Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip. Ein Befehl an den Gesetzgeber ohne Bedeutung für die Gesetzesanwender? in Kudlich/Montiel/Schuhr (2012); Ossenbühl Umweltstrafrecht – Strukturen und Reform, UPR 1991 161; Otto, J. Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen und Grenzen der Rechtsanwendung, Rechtstheorie 49 (2018) 199; Otto Rechtsverteidigung und Rechtsmissbrauch im Strafrecht, Festschrift Würtenberger (1977) 129; ders. Actio libera in causa, Jura 1986 426; ders. Grundsätzliche Problemstellungen des Umweltstrafrechts, Jura 1991 308; ders. Grundsätze der Strafverfolgungsverjährung von Straftaten auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, Jura 1994 611; ders. Die Auslegung ambivalenter Normen und ihre Bedeutung für die Strafbarkeit der verdeckten Sacheinlage, Festschrift Gitter (1995) 715; ders. Das neue Umweltstrafrecht, Jura 1995 134; ders. „Vorgeleistete Strafvereitelung“ durch berufstypische oder alltägliche Verhaltensweisen als Beihilfe, Festschrift Lenckner (1998) 193; ders. BGHSt 42, 235 und die actio libera in causa, Jura 1999 217; ders. Die Beurteilung alkoholbedingter Delinquenz in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, Festgabe aus der Wiss. 50 J. BGH Bd. IV (2000) 111; Otto Das Strafbarkeitsrisiko berufstypischen, geschäftsmäßigen Verhaltens, JZ 2001 436; ders. Die Auslegung von Blankettstraftatbeständen, Jura 2005 538; Paeffgen Actio libera in causa und § 323 a StGB, ZStW 97 (1985) 513; ders. Verwaltungsakt-Akzessorietät im Umweltstrafrecht, Festschrift Stree/Wessels (1993) 587; Paetzold Die Neuregelung rechtsmißbräuchlich erlangter Genehmigungen durch § 330d Nr 5 StGB, NStZ 1996 170; Papakiriakou Das europäische Unternehmensstrafrecht in Kartellsachen (2002); Papathanasiou Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale (2012); Papier/Möller Das Bestimmtheitsgebot und seine Durchsetzung, AöR 122 (1997) 177; Paulduro Die Verfassungsmäßigkeit von Strafrechtsnormen, insbes. der Normen des Strafgesetzbuches (1992); Pawlik Strafrecht und Staatsunrecht, GA 1994 47; Pawlowski Die Verlängerung von Verjährungsfristen für die Strafverfolgung, NJW 1965 287; ders. Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl. (1999); Peglau Das BVerfG und die Sicherungsverwahrung, NJW 2011 1924; ders. Die Sicherungsverwahrung im „Dialog“ zwischen EGMR und BVerfG, JR 2016 491; Perron Die Unterscheidung zwischen Auslegung und Analogie aus deutscher Perspektive, in Hilgendorf Gesetzlichkeitsprinzip (2013); Perschke Die Verwaltungsakzessorietät des Umweltstrafrechts nach dem 2 UKG, wistra 1996 161; Peters, K. Die strafrechtsgestaltende Kraft des Strafprozesses (1963); Peters Schuldspruch durch das Revisionsgericht bei Freispruch in der Tatsacheninstanz, Festschrift Stock (1966) 197; Peters/Altwicker Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. (2012); Petzsche Die Verweisung auf EU-Rechtsakte im Umweltstrafrecht des StGB, NZWiSt 2015 210; Pfeiffer Grundfragen der Rechtskontrolle im Kartellverfahren, Schwerpunkte 1978 1; Pflaum Anmerkung zu BGH 1 StR 447/14, wistra 2018 223; Pfohl ArtenschutzStrafrecht, wistra 1999 161; Philipps Normentheorie, in Hassemer/Neumann/Saliger 9. Aufl. (2016); Pföhler Zur Unanwendbarkeit des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots im Strafprozessrecht in dogmenhistorischer Sicht (1988); Pieroth Der rückwirkende Wegfall des Strafantragserfordernisses, JuS 1977 394; ders. Rückwirkungsverbot und Übergangsrecht (1981); ders. Grundlagen und Grenzen verfassungsrechtlicher Verbote rückwirkender Gesetze, Jura 1983 122; Pieroth Die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundsatz des Vertrauensschutzes, JZ 1984 971; ders. Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, VVDStRL 51 (1992) 91; Pieroth/Kingreen Die verfassungsrechtliche Problematik des Verjährungsgesetzes, NJ 1993 385; Pilz Anmerkung zu EuGH C-42/17 (M.A.S. und M.B.), NJW 2018 221; Pohl Steuerhinterziehung durch Steuerumgehung (1990); Polakiewicz Verfassungs- und völkerrechtliche Aspekte der strafrechtlichen Ahndung des Schußwaffeneinsatzes an der innerdeutschen Grenze, EuGRZ 1992 177; Pottmeyer Die Bausatztheorie im Kriegswaffenkontrollrecht, wistra 1996 121; Puppe Vom Umgang mit Definitionen in der Jurisprudenz, Gedächtnisschrift Armin Kaufmann (1989) 15; dies. Rechtfertigung und Bestimmtheit, in Kudlich/Montiel/Schuhr (2012); Raabe Der Bestimmtheitsgrundsatz bei Blankettstrafgesetzen am Beispiel der unzulässigen Marktmanipulation (2007); Rácz Die kriminologische Auslegungsmethode der Strafgesetze, JR 1984 234; Radbruch Gesetzliches Un-

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recht und übergesetzliches Recht, JZ 1946 105; ders. Rechtsphilosophie 1. Aufl. 1932, zit. nach der Studienausgabe von R. Dreier (Hrsg.), 2. Aufl. (2003); Radtke Untreue (§ 266 StGB) zu Lasten von ausländischen Gesellschaften mit faktischem Sitz in Deutschland? GmbHR 2008 729; ders. Konventionswidrigkeit des Vollzugs erstmaliger Sicherungsverwahrung nach Ablauf der früheren Höchstfrist? NStZ 2010 537; ders. Schuldgrundsatz und Sicherungsverwahrung, GA 2011 636; Raisch Vom Nutzen der überkommenen Auslegungskanones (1988); ders. Juristische Methoden: Vom antiken Rom bis zur Gegenwart (1995); Ranft Herabsetzung des Grenzwertes der „absoluten Fahruntüchtigkeit“ und Rückwirkungsverbot, JuS 1992 468; ders. Verteidigerhonorar und Geldwäsche, Jura 2004 759; Ransiek Gesetz und Lebenswirklichkeit. Das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot (1989); Rau Deutsche Vergangenheitsbewältigung vor dem EGMR, NJW 2001 3008; Rebell-Houben Kommentar zu LG Kaiserslautern 7 KLs 6052 Js 8343/16 (3), NZWiSt 2018 153; Reichenbach Die Strafbarkeit sexuell motivierter Übergriffe in schutzloser Lage, JR 2005 405; Reinhart Die vorsätzliche Zuwiderhandlung gegen das Kartellverbot (1963); Rengier Die öffentlich-rechtliche Genehmigung im Strafrecht, ZStW 110 (1998) 974; Renzikowski Rechtfertigung und Entschuldigung im Strafrecht der ehemaligen DDR, ZStW 106 (1994) 93; ders. Anmerkung zu BGH, Urteil vom 9.3.2010 – 1 StR 554/09, NStZ 2010 506; Rhinow Rechtssetzung und Methodik (1979); Richter, H. Die Diskriminierung als Kartellordnungswidrigkeit (1982); Ridder Preisrecht ohne Boden, AöR 87 (1962) 311; Rittner Die sogenannte wirtschaftliche Betrachtungsweise in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (1975); Rittstieg Zur Strafbarkeit der Spionage für die ehemalige DDR, NJW 1994 912; Robbers Gerechtigkeit als Rechtsprinzip (1980); ders. Rückwirkende Rechtsprechungsänderung, JZ 1988 481; Röckl Das Steuerstrafrecht im Spannungsfeld des Verfassungs- und Europarechts (2002); Roellecke Egon Krenz post portas, NJW 2001 3024; Rogall Gegenwartsprobleme des Umweltstrafrechts, Festschrift Köln (1988) 505; ders. Grundprobleme des Abfallstrafrechts, 2. Teil, NStZ 1992 561; ders. Die Verwaltungsakzessorietät des Umweltstrafrechts, GA 1995 299; ders. Die Duldung im Umweltstrafrecht, NJW 1995 922; ders. Umweltschutz durch Strafrecht – eine Bilanz, in Dolde Umweltrecht (2001); Röhl Was ist ein Bild? Festschrift Lampe (2003) 227; Rönnau Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht (2001); ders. Voraussetzungen und Grenzen der Einwilligung im Strafrecht, Jura 2002 665; ders. Untreue und Vorteilsnahme durch Einwerbung von Drittmitteln? JuS 2003 232; ders. Haftung der Direktoren einer in Deutschland ansässigen englischen Private Company Limited by Shares nach deutschem Strafrecht, ZGR 2005 832; Rönnau/Hohn Die Festsetzung (zu) hoher Vorstandsvergütungen durch den Aufsichtsrat, NStZ 2004 113; Rosenau Tödliche Schüsse im staatlichen Auftrag, 2. Aufl. (1998); Rossi Anmerkung zu einer Entscheidung des BGH, Beschluss vom 10.1.2017 (5 StR 532/16), NJW 2017 969; Rowe Recht und sprachlicher Wandel. Entwicklung einer institutionellen Auslegungstheorie (2003); Rowedder/Schmidt-Leithoff (Hrsg.) Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung, Kommentar, 6. Aufl. (2017); Roxin Verwerflichkeit und Sittenwidrigkeit als unrechtsbegründende Merkmale im Strafrecht, JuS 1964 373; Roxin Ein „neues Bild“ des Strafrechtssystems – Zugleich eine Besprechung von Eberhard Schmidhäuser: Strafrecht, Allgemeiner Teil, ZStW 83 (1971) 369; ders. Die „sozialethischen Einschränkungen“ des Notwehrrechts, ZStW 93 (1981) 68; ders. Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 2. Aufl. (2012); ders. Der Grundsatz der Gesetzesbestimmtheit im deutschen Strafrecht, in Hilgendorf Gesetzlichkeitsprinzip (2013); Rüberg Vertrauensschutz gegenüber rückwirkender Rechtsprechungsänderung (1977); Rudolphi Notwehrexzeß nach provoziertem Angriff, JuS 1969 461; ders. Primat des Strafrechts im Umweltschutz? NStZ 1984 193; Rühl Grundfragen der Verwaltungsakzessorietät, JuS 1999 521; Rüping Strafjustiz im Führerstaat, GA 1984 297; ders. Nullum crimen sine poena. Zur Diskussion um das Analogieverbot im Nationalsozialismus, Festschrift Oehler (1985) 27; ders. Zur Verfassungswidrigkeit des § 370a AO, DStR 2004 1780; Rüping/Jerouschek Grundriss der Strafrechtsgeschichte, 6. Aufl. (2011); Rupp Verfassungsprobleme auf dem Weg zur Europäischen Union, ZRP 1990 1; Rüthers Wer schafft Recht? – Methodenfragen als Macht- und Verfassungsfragen, JZ 2003 995; ders. Analogieverbot und subjektive Auslegungsmethode, JZ 2005 21; ders. Methodenrealismus in Jurisprudenz und Justiz, JZ 2006 53; Rüthers/Fischer/Birk Rechtstheorie, 10. Aufl. (2018); Sachs Rechtsprechungsübersicht – Bestimmtheitsgebot bei Straftatbeständen, JuS 1990 58; Sack Zur Strafbarkeit nach StGB § 324 durch Einleitung von nicht ölhaltigen Schiffsabwässern in Bundeswasserstraßen, MDR 1983 123; Saliger Radbruchsche Formel und Rechtstaat (1995); ders. Das Untreuestrafrecht auf dem Prüfstand der Verfassung, NJW 2010 3195; ders. Zum Verbot der Verschleifung von Tatbestandsmerkmalen, Festschrift Fischer 2018 523; Saliger/Schörner Neues Recht für alte Fälle? Die Vermögensabschöpfung im Spannungsfeld zwischen lex mitior-Grundsatz und Verschlechterungsverbot, StV 2018 388; Saliger/Sinner Korruption und Betrug durch Parteispenden, NJW 2005 1073; Samson/Gustafsson Zur Straflosigkeit von Verletzungen des Serbien-Embargos, wistra 1996 206; Sánchez-Ostiz Die Bedeutung von Legaldefinitionen für die Anwendung des Strafrechts, in

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Kudlich/Montiel/Schuhr (2012); Satzger Die Europäisierung des Strafrechts (2001); ders. Das neue Völkerstrafgesetzbuch, NStZ 2002 125; ders. Die Internationalisierung des Strafrechts als Herausforderung für den strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz, JuS 2004 943; ders. Gesetzlichkeitsprinzip und Rechtfertigungsgründe, Jura 2016 154; Satzger/Langheld Europarechtliche Verweisungen in Blankettstrafgesetzen und ihre Vereinbarkeit mit dem Bestimmtheitsgebot, HRRS 2011 460; Savigny, v. System des heutigen Römischen Rechts Bd. I (1849); ders. Juristische Methodenlehre (1951); Sax Das strafrechtliche „Analogieverbot“ (1953); ders. Grundsätze der Strafrechtspflege, in Bettermann/Nipperdey/Scheuner Die Grundrechte Bd. III/2 (1972); Schack/Michel Die verfassungskonforme Auslegung, JuS 1961 269; Schall Umweltschutz durch Strafrecht: Anspruch und Wirklichkeit, NJW 1990 1263; Schapp Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre (1982); Schäuble Anmerkung zur Entscheidung des BVerfG 2 BvR 463/17, ZWH 2018 251; Scheele Zur Bindung des Strafrichters an fehlerhafte behördliche Genehmigungen im Umweltstrafrecht (1993); Scheffelt Die Rechtsprechungsänderung (2001); Scheffler Die Wortsinngrenze bei der Auslegung, Jura 1996 505; Scheffler Strafgesetzgebungstechnik in Deutschland und Europa (2006); Schenke Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit (1987); Schenke Die Strafbewehrung rechtswidriger Verwaltungsakte, Festschrift Wolter 2013 215; Schick Bestimmtheitsgrundsatz und Analogieverbot, Festschrift Walter (1991) 625; Schier Die Bestimmtheit strafrechtlicher Rechtsfolgen (2012); Schlaich/Korioth Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. (2018); Schlehofer Juristische Methodologie und Methodik der Fallbearbeitung, JuS 1992 572; Schlink Rechtsstaat und revolutionäre Gerechtigkeit, NJ 1994 433; Schlösser Die Strafbarkeit des Geschäftsführers einer private company limited by shares in Deutschland, wistra 2006 81; Schlösser Die Betrugsdogmatik vor den Schranken des Verfassungsrechts – Anmerkung zu BVerfG 2 BvR 2500/09, NStZ 2012 473; Schlüchter Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale im Strafrecht (1983) (zit. Schlüchter Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale); dies. Zum „Minimum“ bei der Auslegung normativer Merkmale im Strafrecht, NStZ 1984 300; dies. Mittlerfunktion der Präjudizien: Eine rechtsvergleichende Studie (1986) (zit. Schlüchter Mittlerfunktion); dies. Strafrecht AT in aller Kürze, 3. Aufl. (2000); Schmidhäuser Teleologisches Denken in der Strafrechtsanwendung, Festschrift Würtenberger (1977) 91; ders. Der Begriff der Strafe in der deutschen Strafrechtswissenschaft der Gegenwart, in Estudos en homenagem ao Prof. Doutor Eduardo Correia, Universidad de Coimbra, Bd. III (1984) (zit. Schmidhäuser Begriff der Strafe); ders. Strafgesetzliche Bestimmtheit: Eine rechtsstaatliche Utopie, Gedächtnisschrift Martens (1987) 231; ders. Form und Gehalt der Strafgesetze (1988); Schmidt, K. Kartellverfahrensrecht (1977); ders. Die Strafbarkeit „faktischer Geschäftsführer“ wegen Konkursverschleppung als Methodenproblem, Festschrift Rebmann (1989) 419; Schmidt, M. Externe Strafpflichten – Völkerstrafrecht und seine Wirkungen im deutschen Strafrecht (2002); Schmitt, R. Strafrechtlicher Schutz des Opfers vor sich selbst? – Gleichzeitig ein Beitrag zur Reform des Opiumgesetzes, Festschrift Maurach (1972) 113; ders. Was hat die Strafrechtsreform von der Zweispurigkeit übrig gelassen? Festschrift Würtenberger (1977) 277; ders. § 226 a StGB ist überflüssig, Gedächtnisschrift Schröder (1978) 263; ders. Der Anwendungsbereich von § 1 Strafgesetzbuch (Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz), Festschrift Jescheck (1985) 223; ders. Juristische „Aufrichtigkeit“ am Beispiel des § 243 StGB, Festschrift Tröndle (1989) 313; Schmitt-Leonardy Anmerkung zu EGMR, Urteil vom 7.1.2016 – 23279/14 (Bergmann/Deutschland), StV 2017 598; Schmitz Verwaltungshandeln und Strafrecht (1992); ders. Nullum crimen sine lege und die Bestrafung fahrlässigen Handelns, Festschrift Samson 2010 181; ders. Zur Unvereinbarkeit von Blankettstraftatbeständen mit Rückverweisung an die Exekutive mit dem Bestimmtheitsgebot in Art. 103 Abs. 2, 104 Abs. 1 GG, wistra 2017 455; Schmitz/Wulf Erneut: Hinterziehung ausländischer Steuern und Steuerhinterziehung im Ausland, § 370 Abs. 6, 7 AO, wistra 2001 361; Schnapp Krebsübel Substantivitis? Jura 2003 173; Schneider, A. Die Verhaltensnorm im internationalen Strafrecht (2011); Schneider, H. Gesetzgebung (2002); Schnell Verweisungsbedingte Normkomplexität nebenstrafrechtlicher Tatbestände am Beispiel des Weingesetzes (1986); Schöch Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sicherungsverwahrung, GA 2012 14; Schöckel Die Entwicklung des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots bis zur französischen Revolution, 2. Aufl. (1968); Schorn Die Berichtigung offenbarer Unrichtigkeiten in Hoheitsakten der Gesetzgebung (1984); Schreiber, H.L. Gesetz und Richter (1976); Schreiber, R. Die Geltung von Rechtsnormen (1966); Schreiber Zur Zulässigkeit der rückwirkenden Verlängerung von Verjährungsfristen früher begangener Delikte, ZStW 80 (1968) 348; ders. Rückwirkungsverbot bei einer Änderung der Rechtsprechung im Strafrecht? JZ 1973 713; Schröder, A. Die personelle Reichweite öffentlich-rechtlicher Genehmigungen und ihre Folgen für das Umweltstrafrecht (2000); Schröder, C. Europäische Richtlinien und deutsches Strafrecht (2002); ders. Die strafrechtliche Verantwortung zwischen Grundgesetz, BasisVO und neuem Lebensmittelgesetz, ZLR 2004 265; ders. Zur Europäisierung der Fahrlässigkeits- und Unterlassungsdelikte, NStZ 2006 669; Schröder, M. Bericht bei der 50. Staatsrechtslehrer-

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vereinigung 1991: Verwaltungsrecht als Vorgabe für Zivil- und Strafrecht, VVDStRL 50 (1991) 196; Schröder, Th. Zum Begriff der Gesetzesumgehung im materiellen Strafrecht und seiner Bedeutung für die praktische Anwendung des Rechts (2013); ders. Korruptionsbekämpfung im Gesundheitswesen durch Kriminalisierung von Verstößen gegen berufsrechtliche Pflichten zur Wahrung der heilberuflichen Unabhängigkeit NZWiSt 2015 321; Schroeder Die Bestimmtheit von Strafgesetzen am Beispiel des groben Unfugs, JZ 1969 775; ders. Annahme einer schwerwiegenden Notlage bei der Schwangerschaftsunterbrechung, JZ 1977 139; ders. Urkundenfälschung mit Auslandsberührung, NJW 1990 1406; ders. Zur Strafbarkeit von Tötungen in staatlichem Auftrag, JZ 1992 990; ders. Sitzblockade keine Gewalt, JuS 1995 875; ders. Der Bundesgerichtshof und der Grundsatz „nulla poena sine lege“, NJW 1999 89; Schroth Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht (1983); ders. Das strafbewehrte Organhandelsverbot des Transplantationsgesetzes. Ein internationales Problem und seine deutsche Lösung, in Oduncu/Schroth/Vossenkuhl Transplantation (2003); ders. Juristische Hermeneutik und Norminterpretation dargestellt an Problemen strafrechtlicher Normanwendung, in Hassemer/Neumann/Saliger 9. Aufl. (2016); Schuhr Der „Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen“ im Recht der Europäischen Union, in Kudlich/Montiel/Schuhr (2012); ders. Analogie und Verhaltensnorm im Computerstrafrecht – am Beispiel der Datenveränderung (§ 303a StGB und Art. 4 Convention on Cybercrime), ZIS 2012 441; ders. Betrug vs. Computerbetrug – am Beispiel von Manipulationen „dunkel“ verarbeiteter Abrechnungen, ZWH 2012 48; ders. Anmerkung zu BVerfG 2 BvR 2500/09, ZWH 2012 105; ders. Praxiskommentar zum Beschluss des BGH zur gesetzlichen Verweisung auf eine nicht mehr in Kraft befindliche europäische Richtlinie, NStZ 2014 330; ders. Wahlfeststellung und strafrechtliches Gesetzlichkeitsprinzip, NStZ 2014 437; ders. Anmerkung zu BGH 5 StR 405/13, ZWH 2015 145; Schulz Subkutane Kriminalisierung mit Maß? ZIS 2006 499; Schulze-Fielitz Das Bundesverfassungsgericht in der Krise des Zeitgeists, AöR 122 (1997) 1; Schulze-Osterloh Unbestimmtes Steuerstrafrecht und strafrechtlicher Bestimmtheitsgrundsatz, in Kohlmann Strafverfolgung und Strafverteidigung im Steuerstrafrecht (1983); Schumann Verfassungs- und Menschenrechtsbeschwerde gegen richterliche Entscheidungen (1963); Schünemann Ungelöste Rechtsprobleme bei der Bestrafung nationalsozialistischer Gewalttaten, Festschrift Bruns (1978) 223; ders. Nulla poena sine lege? (1978) (zit. Schünemann Nulla poena); ders. Methodologische Prolegomena zur Rechtsfindung im Besonderen Teil des Strafrechts, Festschrift Bockelmann (1979) 117; ders. Verjährung der Beihilfe zum Mord, NStZ 1981 143; ders. Die Gesetzesinterpretation im Schnittfeld von Sprachphilosophie, Staatsverfassung und juristischer Methodenlehre, Festschrift Klug (1983) 169; ders. Die Regeln der Technik im Strafrecht, Festschrift Lackner (1987) 367; Schürmann Unterlassungsstrafbarkeit und Gesetzlichkeitsgrundsatz (1986); Schütz Strafe und Strafrecht im demokratischen und sozialen Rechtsstaat (1997); Schützendübel Die Bezugnahme auf EU-Verordnungen in Blankettstrafgesetzen (2011); Schwabe Probleme der Grundrechtsdogmatik (1977); Schwander Das Schweizerische Strafgesetzbuch (1964); Searle How to Derive „Ought“ From „Is“, The Philosophical Review 73 (1964) 43; ders. Making the Social World (2010); Seebode Gesetzliche Notwehr und staatliches Gewaltmonopol, Festschrift Krause (1990) 375; Seeger Über die rückwirkende Kraft neuer Strafgesetze (1862); Seetzen Bindungswirkung und Grenzen der verfassungskonformen Gesetzesauslegung, NJW 1976 1997; Sendler Strafrechtliche Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit oder Amnestie? NJW 1997 3146; Shahabuddeen Does the Principle of Legality Stand in the Way of Progressive Development of Law? JICJ 2 (2004) 1007; Siber Analogie, Amtsrechts und Rückwirkung im Strafrecht des römischen Freistaates (1936); Sick/Renzikowski Strafschärfung bei Rauschtaten? – Zum Entwurf des Landes Berlin vom 19.2.1997, ZRP 1997 484; Sieber Europäische Einigung und Europäisches Strafrecht, ZStW 103 (1991) 957; Sieber/Cornils Nationales Strafrecht in rechtsvergleichender Darstellung AT (Teil)Bd. 2 (2008); Silva Sanchez Zur strafrechtlichen Relevanz der NichtUnmittelbarkeit des Erfolgseintritts, GA 1990 207; Silva Sánchez Gesetzesauslegung und strafrechtliche Interpretationskultur, in Kudlich/Montiel/Schuhr (2012); Simma/Volk Der Spion, der in die Kälte kam – Zur BGH-Entscheidung über die Strafbarkeit der DDR-Spionage, NJW 1991 971; Simon Gesetzesauslegung im Strafrecht (2005); Sinn Der Kerngehalt des Gesetzlichkeitsprinzips. Ein Beitrag zu den sozialethischen Beschränkungen des Notwehrrechts, Festschrift Wolter 2013 503; Skouris Teilnichtigkeit von Gesetzen (1973); Sowada Der Bandendiebstahl (§ 244 Abs. 1 Nr. 2 StGB) im Spiegel der aktuellen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, Gedächtnisschrift Schlüchter (2002) 383; Spendel Zur Strafbarkeit der Unrechtsjustiz in der DDR, JR 1995 214; ders. Actio libera in causa und Verkehrsstraftaten, JR 1997 133; Staats Zur Berichtigung von Gesetzesbeschlüssen des Bundestages wegen Redaktionsversehen, ZRP 1974 183; Stackelberg, v. Verjährung und Verwirkung des Rechts auf Strafverfolgung, Festschrift Bockelmann (1979) 759; Staechelin Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat (1998); Staffler Strafgesetzlichkeit im Dialog zwischen Verfassungs- und Unionsrecht, ZStW 130 (2018) 1147; Starck Anmerkung zu BVerfG, 24.10.1996 – 2 BvR 1851,

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1853, 1875 u. 1852/94, JZ 1997 141; Stein/Denninger/Hoffmann-Riem (Hrsg.) Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (AK-GG) (2001); Steinberger Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie (1974); Steindorf Verbote und behördliche Gestattungen im deutschen Waffenstrafrecht, Festschrift Salger (1995) 167; Sternberg-Lieben Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht (1997); ders. Besprechung von: Zur Bestimmtheit des Handlungsunwerts von Fahrlässigkeitsdelikten von Gunnar Duttge, JZ 2001 1024; ders. § 228 StGB: eine nicht nur überflüssige Regelung, Gedächtnisschrift Keller (2003) 289; ders. Strafbare Körperverletzung bei einverständlichem Verabreichen illegaler Betäubungsmittel, JuS 2004 954; Stier-Somlo Deutsches Reichs- und Landesstaatsrecht (1924); Stöckel Gesetzesumgehung und Umgehungsgesetze im Strafrecht (1966); Stoll Sicherheit als Aufgabe von Staat und Gesellschaft (2003); Strangas Methodologische Überlegungen zum Begriff der „Regelbeispiele für besonders schwere Fälle“, Rechtstheorie 16 (1985) 466; Straßburg Rückwirkungsverbot und Änderung der Rechtsprechung im Strafrecht, ZStW 82 (1970) 948; Strate Der Preis der Freiheit. Kommentar zur strafrechtlichen (Nicht-) Aufarbeitung der Finanzmarktkrise im Vergleich zum sog. Sengera-Urteil des BGH, HRRS 2009 441; Stratenwerth Zum Streit der Auslegungstheorien, Festschrift Germann (1969) 257; Stree Deliktfolgen und Grundgesetz (1960); ders. Sadomasochistische Praktiken mit tödlichem Ausgang, NStZ 2005 40; Streinz Deutsches und Europäisches Lebensmittelrecht, WiVerw 1993 1; Streinz Anmerkung zu EuGH, Urteil vom 13.9.2005 – C-176/03 Kommission/Rat, JuS 2006 164; Streng Der neue Streit um die „actio libera in causa“, JZ 1994 709; ders. „Actio libera in causa“ und Vollrauschstrafbarkeit, JZ 2000 20; ders. Die Zukunft der Sicherungsverwahrung nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, JZ 2011 827; Streng Das Gesetzlichkeitsprinzip im Bereich der Schuldfähigkeitsentscheidung, in Kudlich/Montiel/Schuhr (2012); Strickrodt Die Problematik der Anknüpfung von Bußgeldfolgen an den Tatbestand des § 1 GWB, WuW 1960 825; Stuckenberg Provozierte Notwehrlage und Actio illicita in causa – Der Meinungsstand im Schrifttum, JA 2001 894; Suppert Studien zur Notwehr und „notwehrähnlichen Lage“ (1973); Sydow Die actio libera in causa nach dem Rechtsprechungswandel des Bundesgerichtshofs (2002); Teichmann Die Gesetzesumgehung (1962); Thiel (Hrsg.) Enzyklopädie der Geisteswissenschaftlichen Arbeitsmethoden, 11. Lieferung, Methoden der Rechtswissenschaft Teil I (1972); Tiedemann Beteiligung an Aufruhr und Landfriedensbruch, JZ 1968 761; ders. (Hrsg.) Die Verbrechen in der Wirtschaft, 2. Aufl. (1972); ders. Die Auslegung des Strafprozeßrechts, Festschrift K. Peters (1974) 131; ders. Strafrechtliche Grundprobleme im Kartellrecht, NJW 1979 1849; ders. Strafbare Erschleichung von Investitionszulagen durch Aufhebung und Neuabschluß von Lieferverträgen? NJW 1980 1557; ders. Auslegungs- und Methodenprobleme im neuen Wirtschaftsstrafrecht, in Belke/Oehmichen Wirtschaftskriminalität (1983); ders. Neue Auslegungs- und Methodenfragen des Strafrechts, Gedächtnisschrift Delitala (Studi in memoria di Giacomo Delitala) Bd. 3 (1984) 2149; ders. Der Allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts, Festschrift Jescheck (1985) 1411; ders. Grundgesetz und Strafrecht, in 40 Jahre Grundgesetz: Der Einfluss des Verfassungsrechts auf die Entwicklung der Rechtsordnung (1990); ders. Verfassungsrecht und Strafrecht (1991) (zit. Tiedemann Verfassungsrecht und Strafrecht); ders. Zum Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem Teil des Strafrechts, Festschrift Baumann (1992) 15; ders. Europäisches Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, NJW 1993 23; ders. Literaturbericht – Wirtschaftsstrafrecht (Teil III, 1), ZStW 107 (1995) 597; ders. EG und EU als Rechtsquellen des Strafrechts, Festschrift Roxin (2001) 1401; ders. Grunderfordernisse einer Regelung des Allgemeinen Teils, in Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht in der EU (2002); ders. Gegenwart und Zukunft des Europäischen Strafrechts, ZStW 116 (2004) 945; ders. Strafbarkeit des Offenbarens und Verwertens von Bundesbankangaben nach §§ 55a, 55b KWG, ZBB 2005 190; Tiedemann/Kindhäuser Umweltstrafrecht – Bewährung oder Reform? NStZ 1988 337; Tinkl Anmerkung zum Urteil des EuGH vom 16.6.2005 – C-105/03 (Pupino), StV 2006 36; ders. Anmerkung zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 3.5.2007, C-303/05, ZIS 2007 419; Tomuschat Sanktionen durch internationale Strafgerichtshöfe, in Verhandlungen des 60. Deutschen Juristentages, Bd. II/1 (1994); Traeger Die zeitliche Herrschaft des Strafgesetzes, in Birkmeyer Vergleichende Darstellung AT VI (1908); Triffterer Dogmatische Untersuchungen zur Entwicklung des materiellen Völkerstrafrechts seit Nürnberg (1966); ders. „Command Responsibility“ – crimen sui generis or participation as „otherwise provided“ in Article 28 Rome Statute? Festschrift Eser (2005) 901; ders. (Hrsg.) The Rome Statute of the International Criminal Court, 2. Aufl. (2008); ders. Bestandsaufnahme zum Völkerstrafrecht, in Hankel/Stuby Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen (1995); Tröndle Rückwirkungsverbot bei Rechtsprechungswandel? Festschrift Dreher (1977) 117; Trouet Strafandrohung als Mittel zur Durchsetzung außenwirtschaftsrechtlicher Zielsetzung, Festschrift Krause (1990) 407; Trute Vorsorgestrukturen und Luftreinhalteplanung im Bundesimmissionsschutzgesetz (1989); Ullenbruch Verschärfung der Sicherungsverwahrung auch rückwirkend – populär, aber verfassungswidrig? NStZ 1998 326; Ulmer Überlegungen zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Kartellrecht,

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WuW 1971 878; Ulsenheimer Bestimmtheit des Tatbestandes der Steuerhinterziehung, NStZ 1983 206; Umbach/Clemens (Hrsg.) Grundgesetz (2002); Umbach/Clemens/Dollinger (Hrsg.) Kommentar zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz (2005); Unger, v. Pupino: Der EuGH vergemeinschaftet das intergouvernementale Recht, NVwZ 2006 46; Vedder/Heintschel v. Heinegg (Hrsg.) Europäisches Unionsrecht, 2. Aufl. (2018); Velten/Mertens Zur Kritik des grenzenlosen Gesetzesverstehens, ARSP 76 (1990) 516; Viets Rechtsprechungsänderung und Vertrauensschutz (1976); Vogel, B. Zur Bedeutung des Rechtsguts für das Gebot strafgesetzlicher Bestimmtheit, ZStW 128 (2016) 139; Vogel, H.-J. Mord sollte nicht verjähren, ZRP 1979 1; Vogel Strafrechtsgüter und Rechtsgüterschutz durch Strafrecht im Spiegel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, StV 1996 110; ders. Geldwäsche – ein europaweit harmonisierter Straftatbestand? ZStW 109 (1997) 335; Vogel Juristische Methodik (1998); Vogel Gesetzlichkeitsprinzip, territoriale Geltung und Gerichtsbarkeit, in Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht in der EU (2002); Vogel Einflüsse des Nationalsozialismus auf das Strafrecht, ZStW 115 (2003) 638; Volkmann Qualifizierte Blankettnormen, ZRP 1995 220; Voßkuhle Theorie und Praxis der verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen durch Fachgerichte, AöR 125 (2000) 177; ders. Pyramide oder Mobile? – Menschenrechtsschutz durch die europäischen Verfassungsgerichte, EuGRZ 2014 165; Wagner Die Akzessorietät des Wirtschaftsstrafrechts (2016); Waiblinger Die Bedeutung des Grundsatzes: „nullum crimen sine lege“, Festgabe Schweizerischer Juristenverein (1955) 212; Wank Die Auslegung von Gesetzen, 5. Aufl. (2011); Wannemacher (Hrsg.) Handbuch Steuerstrafrecht, 6. Aufl. (2013); Warda Die Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum bei Blankettstrafgesetzen (1955); Wassermann System- und Exzeßtäter. Zur strafrechtlichen Aufarbeitung des DDR-Justizunrechts, Festschrift Kaiser (1998) 1405; Waßmer Betrug durch Abschluss von Versicherungen? – Anmerkung zu BVerfG 2 BvR 2500/09, HRRS 2012 368; Waßmer Kommentar zu BGH 5 StR 405/13, NZWiSt 2015 467; Watzek Rechtfertigung und Entschuldigung im englischen Strafrecht (1997); Weber, F.K. Naturschutz mit den Mitteln des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts (1991); Weber, K. Die Verfolgung des SED-Unrechts in den neuen Ländern, GA 1993 195; Weber, v. Zur Geschichte der Analogie im Strafrecht, ZStW 56 (1936) 654; Weber-Dürler Die Rechtsgleichheit in ihrer Bedeutung für die Rechtssetzung (1973); Weerth, de Die Bilanzordnungswidrigkeiten nach § 334 HGB unter besonderer Berücksichtigung der europarechtlichen Bezüge (1994); Wegener/ Greenawalt (Umwelt-)Strafrecht in europäischer Kompetenz! ZUR 2005 585; Wegner Zum Anwendungsbereich des § 370a AO, wistra 2002 205; ders. Anmerkung zu EuGH C-42/17 (M.A.S. und M.B.), wistra 2018 107; Wehnert Rahmenbeschlusskonforme Auslegung deutschen Strafrechts, NJW 2005 3760; Weidenthaler Die Strafsenate des Reichsgerichts von 1933 bis 1945 (1999); Weigend Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Grenze staatlicher Strafgewalt, Festschrift Hirsch (1999) 917; ders. Ohne Titel, AIDP 19 (2004) 319; Weitbrecht Verjährung, Verzinsung und Geltendmachung kartellrechtlicher Schadensersatzansprüche, NJW 2018 2450; Welke Rückwirkungsverbot zugunsten staatlicher Kriminalität? KritJ 28 (1995) 369; Welzel Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl. (1962); Wenderoth Die Steuerhinterziehung durch Steuerumgehung im Lichte des Art. 103 Abs. 2 GG (1990); Werber Analogie- und Rückwirkungsverbot im Dritten Reich (1998); Werdich Steuerlicher Gestaltungsmißbrauch in der neueren BFH-Rechtsprechung, DStR 1995 672; Werle Justiz – Strafrecht und politische Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich (1989) (zit. Werle Justiz-Strafrecht); ders. Menschenrechtsschutz durch Völkerstrafrecht, ZStW 109 (1997) 808; ders. Rückwirkungsverbot und Staatskriminalität, NJW 2001 3001; ders. Principles of international criminal law, 3. Aufl. (2014) (zit. Werle Principles); Werle/Jeßberger Das Völkerstrafgesetzbuch, JZ 2002 725; Werny Übergangsphase bei der Einführung einer 1,1 von Tausend-Grenze? NZV 1990 137; Westerhoff Gesetzesumgehung und Gesetzeserschleichung (1966); Widmaier Strafbarkeit der DDR–Spionage gegen die Bundesrepublik – auch noch nach der Wiedervereinigung? NJW 1990 3169; ders. Verfassungswidrige Strafverfolgung der DDRSpionage, NJW 1991 2460; Wilke Das Kammergericht im Irrgarten des Ostwestrechts, NJW 1991 2465; Wimmer Strafbarkeit des Handelns aufgrund einer erschlichenen behördlichen Genehmigung, JZ 1993 67; Winkelbauer Zur Verwaltungsakzessorietät des Umweltstrafrechts (1985); ders. Die behördliche Genehmigung im Strafrecht, NStZ 1988 202; Winter Direktwirkung von EG-Richtlinien, DVBl 1991 657; Wittgenstein Philosophische Untersuchungen (1953); Woesner Generalklausel und Garantiefunktion der Strafgesetze, NJW 1963 275; Wohlers Geldwäsche des Strafverteidigers durch Annahme des Honorars? JZ 2004 678; Wohlleben Beihilfe durch äußerlich neutrale Handlungen (1996); Wolf-Reske Berufsbedingtes Verhalten als Problem mittelbarer Erfolgsverursachung (1995); Wolter Aspekte einer Strafprozessreform bis 2007 (1991); Wörner Der Waffenbegriff des StGB auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand, ZJS 2009 236; Wroblewski Die Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts und das Strafrecht (2016); Würtenberger Vom Rechtsstaatsgedanken in der Lehre der strafrechtlichen Rechtswidrigkeit, Festschrift Rittler (1957) 125; Zabel Bürgerrechte ernstgenommen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur

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nachträglichen Sicherungsverwahrung, JR 2011 467; Zeder Der Rahmenbeschluss als Instrument der EURechtsangleichung im Strafrecht am Beispiel des Rahmenbeschlusses gegen Geldfälschung, ÖJZ 2001 81; Zielinski Das strikte Rückwirkungsverbot gilt absolut im Rechtssinne auch dann, wenn es nur relativ gilt, Festschrift Grünwald (1999) 811; Zieschang Besonders schwere Fälle und Regelbeispiele – ein legitimes Gesetzgebungskonzept? Jura 1999 561; Zimmermann, F. Mehr Fragen als Antworten: Die 2. EuGH-Entscheidung zur Strafrechtsharmonisierung mittels EG-Richtlinien (Rs. C-440/05), NStZ 2008 662; Zimmermann, St. Die strafrechtliche „Bewältigung“ der deutschen Diktaturen, JuS 1996 865; Zimmermann, T. Das neue Recht der Sicherungsverwahrung (ohne JGG), HRRS 2013 164; ders. Anmerkung zu BVerfG JZ 2013, 1097 (ThUG), JZ 2013 1108; Zippelius Verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, Festgabe BVerfG 25 Bd. 2 (1976) 108; ders. Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. (2012); Zippelius/Württenberger Deutsches Staatsrecht, 33. Aufl. (2018); Zuleeg Der Beitrag des Strafrechts zur europäischen Integration, JZ 1992 761.

Entstehungsgeschichte Im Garantiegehalt des Grundsatzes „nullum crimen, nulla poena sine lege“ vereinigen sich unterschiedliche Entwicklungen, die auf vier Bedeutungsebenen1 zum Gebot des positivierten Strafgesetzes (Rdn. 114 ff), zum Bestimmtheitsgebot (Rdn. 179 ff), zum Analogieverbot (Rdn. 238 ff) und zum Rückwirkungsverbot (Rdn. 360 ff) geführt haben. Für die Anerkennung eines weiteren Verbotsprinzips, das auf die Verhinderung einer „experimentellen Strafgesetzgebung“ gerichtet ist,2 besteht keine Notwendigkeit.3 Die gesetzliche Bestimmtheit, die eine Strafbegründung und -schärfung durch Analogie und Gewohnheitsrecht verbietet, setzt einen gewissen Stand des Gesetzesbegriffs voraus; sie ist deshalb erst mit der Aufklärung und der Entfaltung des Gesetzes als Rechtsquelle wirksam geworden. Hingegen stellt sich die Frage nach der Rückwirkung unabhängig davon, ob Normen in ein allgemeines Gesetz eingekleidet sind. Daher gehen die unterschiedlichen Aspekte der heutigen Verfassungsgarantie auf eigenständige Entwicklungen zurück,4 deren Wurzeln nicht nur in Kontinentaleuropa liegen.5 Die ältesten Wurzeln weist das Rückwirkungsverbot auf, das ansatzweise bereits im späten Römischen Recht anerkannt war.6 Argumentativ verwendet wurde es zuvor z.B. bereits von Cicero.7 Es wurde zum einen auf den Schuldgrundsatz gestützt, weil der Täter die übertretene Norm gekannt haben muss, wenn er bestraft werden soll, und zum anderen auf die Beschränkung auf konstitutive Gesetze, die ein an sich indifferentes Verhalten unter Strafdrohung stellen. Wenn hingegen ein Gesetz bei delicta per se lediglich ein als Unrecht gewertetes Verhalten deklaratorisch als strafwürdig erklärte, wurde darin keine Rückwirkung gesehen; der Betroffene konnte sich in diesen Fällen nicht auf die Unkenntnis der Norm berufen.8 Solche normkonstituierenden Gesetze kamen erst in der späten Zeit der Republik auf.9 Die mittelalterliche Jurisprudenz übernahm diese An-

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1 Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 63 ff; Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 53; Krey Strafe Rdn. 35 ff, 106 ff; Roxin AT I 4 § 5 Rdn. 1; Jäger SK Rdn. 13; Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 2 ff; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 2; Schroeder NJW 1999 89; Wassermann AK-GG Art. 103 Rdn. 3; vgl. auch Rogall KKOWiG § 3 Rdn. 7; aA Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 14, der im Anschluss an BVerfGE 92 1, 12 das Analogieverbot nicht als selbständige Gewährleistung, sondern als logische Konsequenz und Erscheinungsform des Bestimmtheitsgrundsatzes sieht; ebenso Felix S. 202 ff. Schünemann Nulla poena S. 3 sieht die Unterscheidung zwischen dem „Ob“ (crimen) und „Wie“ (poena) als fünfte Dimension. 2 So Marxen GA 1985 533 ff, 544 ff. 3 Rogall KK-OWiG § 3 Rdn. 7. 4 So zutreffend Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 1. 5 Hirsch GedS Tjong 50 ff; Stratenwerth/Kuhlen AT § 3 Rdn. 3 ff; jeweils m.w.N. 6 Näher dazu Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 32 ff; Schöckel S. 5 ff, 41 ff. 7 In Verrem (70 v. Chr.), II.1 § 103 ff (cap. 40 ff). 8 Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 2. 9 Näher dazu Seeger S. 9 f Anm. 2, 36 f; Siber S. 47 Fn. 2.

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sätze, die mit Zunahme des positiven Rechts praktische Bedeutung erlangten, als Gesetze, die gezielt als Mittel zur Herrschaft eingesetzt wurden.10 Die „Peinliche Hals- und Gerichtsordnung“ von Karl V., die Constitutio Criminalis Carolina vom 27.7.1532 kannte bereits ein Analogieverbot (Art. 105 CCC), sie ließ in Art. 104 CCC die Todesstrafe nur bei gesetzlicher Anordnung zu.11 Die Strafrechtspflege des gemeinen Rechts war auf außergesetzliche Rechtsfortbildung angewiesen; als Folge davon relativierte man das Bestimmtheitsgebot zunächst durch die Lehre vom „crimen extraordinarium“, durch die ermöglicht wurde, strafwürdiges Verhalten auch ohne Gesetz durch richterlichen Ausspruch zu sanktionieren, und weiterhin durch den Verweis auf die Interpretation, später durch den naturrechtlichen Begriff auf die recta ratio.12 Wenn das Urteil in einem System der Aktenversendung von auswärtigen Kollegien gesprochen oder in letzter Instanz vom absoluten Herrscher gefällt wurde, kam es auf die dort definierte Strafbarkeit und nicht auf ihre gesetzliche Bestimmtheit an.13 Die dadurch entstehende Willkür und Rechtsunsicherheit führte Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts dazu, dass den Herrschern des aufgeklärten Absolutismus ermöglicht werden sollte, ihren Willen gegenüber den Richtern durch möglichst genaue Gesetze umfassend durchzusetzen.14 Dieses Bestreben traf sich mit den liberalen, auf die Selbstbindung der Staatsgewalt abzielenden Ideen der Aufklärung, die sich in den Kodifikationen der Spätaufklärung zunehmend durchsetzten. Die Forderung, dass eine Tat nur bestraft werden darf, wenn die Strafbarkeit vor Begehung der Tat gesetzlich bestimmt war, stellt damit eine zentrale Errungenschaft der liberalen Verfassungsbewegung dar.15 Ideengeschichtlich gehört der Garantiegehalt dieses Grundsatzes zum Gedankengut der naturrechtlichen Staatsvertragslehren16 und der Aufklärung:17 Eine grundlegende Wende brachte der Einfluss von Hobbes,18 der systematisch „Bestrafung“ einem bloßen „Zufügen von Leid“ gegenüberstellte und weitgehende Voraussetzungen für das erstere Konzept formulierte. Ähnliche, weniger systematische, dafür aber bereits stärker auf individuelle Freiheit bezogene Argumente sind schon aus noch etwas älteren Debatten des englischen Unterhauses überliefert19 und in juristischer Literatur zu finden.20 Diese greifen die Kritik vagen Rechts des Kirchenvaters Ambrosius von Mailand (340–397) auf.21 Locke22 und Montesquieu23 entwickeln die Argumente auf die naturrechtliche Lehre vom Gesellschaftsvertrag abstellend fort, um Eingriffe des Staa-

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10 Näher dazu Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 32 ff; Phöhler Rdn. 1014 f; Schöckel S. 8 ff; H.L. Schreiber S. 17 ff. 11 Schaffstein S. 47. 12 Näher dazu v. Weber ZStW 56 (1936) 654, 668. 13 Schöckel S. 27 ff. 14 Näher dazu Otto AT § 2 Rdn. 30; Roxin AT I § 5 Rdn. 13. 15 Sax in Bettermann/Nipperdey/Scheuner Die Grundrechte Bd. III/2 S. 909, 992 ff; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 3; Kim FS Roxin 119 ff. 16 Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 64 ff, 76 ff; Krahl S. 14 ff; zum staatsphilosophischen Begründungszusammenhang vgl. auch Köhler AT S. 72 ff. 17 v. Münch/Kunig/Kunig Art. 103 Rdn. 16; Krey Strafe Rdn. 113; Sax in Bettermann/Nipperdey/Scheuner Die Grundrechte Bd. III/2 S. 909, 992. 18 Leviathan (1651/1668) Chapt. XXVIII (§ 11: „Ninthly …“). Hobbes argumentiert dabei sehr begrifflich-systematisch auf Basis der beiden vorangehenden Kapitel. 19 Nalson S. 729 f. (Wiedergaben aus Dezember 1641). 20 Coke Cap. 49 (S. 246). 21 „Misera servitus cui vagum jus est: plures enim dominos habet qui unum non habet.“ (Ambrosius Mediolanensis Expositio Evangelii secundum Lucam, Liber IX 6, Patrologia Latina 15, 1795A). 22 Two treaties of government (1690) II § 137. 23 De l’ esprit des lois (1748) I. 11 cap. 6.

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tes auch im Strafrecht im Hinblick auf die natürliche Freiheitssphäre des Menschen berechenbar zu machen. Außerdem beschränkte Montesquieu auf der Grundlage des neuzeitlichen Gesetzesbegriffs das Recht im Zeitalter der Kodifikation auf positive Rechtssätze:24 Der einzelne Mensch schuldet als durch den Gesellschaftsvertrag verpflichteter Bürger nur bestehenden, positivierten Gesetzen Gehorsam; im Übrigen ist er frei, sicher vor staatlichen Sanktionen und gegen richterliche Willkür geschützt.25 Der Staat könne sich nicht mehr Rechte zulegen, als ihm das bestehende positive Gesetz gebe, wenn der Schutz der Freiheit der Bürger im Gesetz nicht leer laufen solle. Dies dürfe insbesondere nicht rückwirkend geschehen.26 Damit war die Grundlage für eine Konstitutionalisierung und zugleich die Formulierung des Gesetzlichkeitsprinzips mit seinen verschiedenen Einzelaspekten gelungen. Auf dieser Grundlage konnte der Grundsatz „nullum crimen sine lege“ als allgemeines Menschenrecht in der Aufklärungsphilosophie erstmals von Cesare Beccaria auch strafrechtstheoretisch umfassend begründet und ein gesetzliches Strafrecht postuliert werden, um willkürliche Entscheidungen auszuschließen.27 Allerdings ist bei Beccaria die Gesetzlichkeit des Strafrechts gegenüber der Kriminalpolitik kein selbständiger rechtlicher Gesichtspunkt. Damit ist sie nur gesichert, wenn sie kriminalpolitisch begründet werden kann, so dass sich aus der Begründung Beccarias für die Gesetzlichkeit des Strafrechts wenig ergibt.28 Aus diesem Grund gilt Anselm von Feuerbach als der eigentliche Begründer der Gesetzlichkeit des Strafrechts in Europa. Er hat auf der Grundlage der Philosophie Immanuel Kants die neulateinische Kurzfassung „nullum crimen, nulla poena sine lege“ geprägt. 29 Er stützte sich sowohl auf strafrechtliche als auch auf staatsrechtliche Erwägungen.30 Strafrechtlich besagt seine Theorie des psychologischen Zwangs, dass nur möglichst bestimmt gefasste Strafdrohungen psychologisch ein Gegengewicht zu Verbrechensanreizen schaffen können.31 Die eigentliche Basis des Prinzips „nulla poena sine lege“ liegt jedoch im Ausschluss der Willkür des Staates:32 Das Gesetz soll die Unsicherheit und Willkür der bloß philosophischen Methode vermeiden und der Realisierung der Idee der rechtlichen Freiheit dienen. Nur das positive Gesetz könne Gewissheit des Rechts gewährleisten.33 So konnte dieser Grundsatz als allgemeines Menschenrecht konzipiert werden, den Franz von Liszt später zur „Magna Charta“ des Verbrechers erklärte.34 Es sind jene Kodifikationen, welche die Gesellschaftsvertragslehre des Naturrechts positivierten und den Grundsatz „Keine Strafe ohne Gesetz“ normativ als allgemeines Menschenrecht formulierten: Art. 8 der Déclaration des Droits de l’homme et du citoyen,

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24 Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 4. 25 Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 80 f; H.L. Schreiber S. 35 ff, 53 ff; Schöckel S. 69 ff; Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 1; zusammenfassend Welke KJ 28 (1995) 369 f. 26 H.L. Schreiber S. 60; vgl. auch Brocker S. 125. 27 Näher dazu Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 84 ff; Kudlich/Montiel/Schuhr/Hilgendorf S. 17, 22 ff. 28 Naucke JuS 1989 862, 863. 29 v. Feuerbach Peinliches Recht § 20 I. 30 Eingehend dazu Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 112 ff, 119 ff; H.L. Schreiber S. 156 ff; vgl. auch Hennings S. 85 ff, 110; Naucke JuS 1989 862, 863; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 177 ff. 31 v. Feuerbach Peinliches Recht § 13; näher dazu Bohnert Paul Johann Anselm v. Feuerbach und der Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht; vgl. auch Roxin AT I § 3 Rdn. 22 und Roxin/Arzt/Tiedemann Einführung S. 39. 32 Jäger SK Rdn. 2; Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 61. 33 Vgl. nur Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 115 f. 34 v. Liszt Aufsätze und Vorträge Bd. II S. 75, 80; näher dazu Ehret S. 25 ff, 35 ff, 47 ff, 57 ff.

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Keine Strafe ohne Gesetz | § 1

der wörtlich auch in die französische Verfassung von 1791 übernommen wurde35 sowie zuvor die amerikanischen Verfassungen von 1776 (Virginia und Maryland).36 Diese Gedanken setzten sich in den neueren Strafgesetzen fast allgemein durch. Man bemühte sich, das strafwürdige Unrecht in lückenlos gedachten Straftatbeständen abschließend zu umschreiben, so besonders im französischen Code Pénal von 1810, und führte gesetzliche Verfahrensformen und -garantien ein, an die der Richter gebunden war. Diese Garantien dienten der Rechtssicherheit, der Berechenbarkeit des Strafrechts sowie der „bürgerlichen Freiheit vom Staat“ und damit dem Schutz des Bürgers gegen politisch missbrauchte staatliche Gewalt. Im deutschen Sprachraum wurde das Verbot strafbegründender Analogie wohl zuerst in der der Josephina von 1787, die bereits zu den Kodifikationen des aufgeklärten Absolutismus gehörte, in Teil I § 13 normiert;37 allerdings ist umstritten, inwieweit Joseph II. tatsächlich die Freiheit der Staatsbürger schützen oder vielmehr seine Herrschaft durch Beseitigung des richterlichen Ermessensfreiheit festigen wollte.38 Wenig später wurden auch im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 179439 die Gebote der Gesetzlichkeit und Bestimmtheit mit dem Ziel aufgenommen, die partikularen Gewalten im Interesse der Stärkung der rationalisierenden Zentralgewalt zu disziplinieren.40 Die rechtsstaatlichen Ausprägungen des Gesetzlichkeitsprinzips finden sich dann in Deutschland erstmals in dem von Feuerbach mitgeschaffenen Bayerischen Strafgesetzbuch von 1813, wo die strenge richterliche Gesetzesbindung anschließend noch durch ein ausdrückliches Verbot wissenschaftlicher Kommentierung ergänzt wurde. Im Preußischen Strafgesetzbuch von 1851 sind die Grundsätze in wörtlicher Übersetzung von Art. 4 des französischen Code Pénal in § 2 enthalten, der folgenden Wortlaut hatte: „Kein Verbrechen, kein Vergehen und keine Übertretung kann mit einer Strafe belegt werden, die nicht gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde.“

Damit waren die rechtsstaatlichen Grundprinzipien des Strafrechts erstmals in die heutige Form des § 1 StGB gebracht. Das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund und schließlich das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 haben das Gesetzlichkeitsprinzip aus dem Preußischen Strafgesetzbuch von 1851 übernommen. Die gesetzliche Regelung hatte als § 2 Abs. 1 RStGB im Zeichen der liberalen Tradition folgenden Wortlaut: „Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn diese Strafe gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde.“

Mit dem Inkrafttreten der Verfassung des Deutschen Reichs vom 11.8.1919, der sog. Weimarer Reichsverfassung (WRV), erhielt das Gesetzlichkeitsprinzip erstmals Verfassungsrang. Art. 116 WRV lautete:

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35 Bopp S. 29 f m.w.N. 36 Ausführlich Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 91 ff; Schöckel S. 75 ff; zum prozessualen (und rechtlich nicht bindenden) Charakter der französischen Texte Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 174 f. 37 Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 97 ff; Krey Strafe Rdn. 70 ff; Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 6; Sax in Bettermann/Nipperdey/Scheuner Die Grundrechte Bd. III/2 S. 909, 993; Scheffler Jura 1996 505, 506 f; Wassermann AK-GG Art. 103 Rdn. 3. 38 Näher dazu Roxin AT I § 5 Rdn. 13. 39 Zusammenfassend H.L. Schreiber S. 83 ff. 40 Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 97 ff; H.L. Schreiber S. 76 ff.

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§ 1 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

„Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde.“

Der Geltungsbereich des Art. 116 WRV war gegenüber § 2 Abs. 1 RStGB insofern weiter, als neben dem strafrechtlichen auch der disziplinarrechtliche Bereich erfasst sein sollte.41 Außerdem hatte § 2 Abs. 1 RStGB die gesetzliche Bestimmtheit der Strafe gefordert, während in der Weimarer Reichsverfassung der Begriff der „Strafe“ durch den der „Strafbarkeit“ ersetzt und deren Bestimmtheit postuliert wurde.42 Das bedeutete nach herrschender Meinung keine sachliche Änderung gegenüber § 2 Abs. 1 RStGB.43 Die Änderung war nämlich in den Beratungen des Unterausschusses am 30.5.1919 vorgenommen worden, ohne dass dadurch eine inhaltliche Abweichung von § 2 RStGB beabsichtigt war.44 Allerdings vertrat das Reichsgericht in seiner Entscheidung vom 24.3.192245 die Auffassung, § 2 Abs. 1 RStGB sei durch den sachlich verschiedenen Art. 116 WRV ersetzt worden; mit den Worten „Strafbarkeit“ werde die gesetzliche Festlegung der Möglichkeit einer Bestrafung gefordert und nicht mehr ein Gesetz, das zur Zeit der Begehung der Tat eine bestimmte Strafart androhe.46 In späteren Entscheidungen ging das Reichsgericht, ebenso wie die h.M. in der Literatur,47 von der sachlichen Übereinstimmung beider Regelungen aus.48 Allerdings vertraten Frank49 und Gerland50 die Auffassung, der Gesetzgeber habe zwar keine sachliche Abweichung gewollt, jedoch habe Art. 116 WRV nur einem Teil der in § 2 Abs. 1 RStGB enthaltenen Sätze Verfassungsrang verliehen. Dies gelte nicht für das Rückwirkungsverbot, so dass straferhöhende spätere Gesetze verfassungsrechtlich zulässig seien.51 Außerdem sollte das Verbot unbestimmter Strafdrohungen von Art. 116 WRV nicht mit umfasst sein.52 Das Gebot gesetzlicher Bestimmtheit der Strafbarkeit enthielt unstreitig ein Analogieverbot zugunsten des Beschuldigten. Gleichwohl wurden noch Strafnormen eingeführt, denen jegliche Bestimmtheit fehlte. So sah die bayerische Verordnung über die Einsetzung von Revolutionstribunalen aus dem Jahre 1919 vor, dass gemäß Art. 10 WRV „jeder Verstoß gegen revolutionäre Grundsätze“ strafbar war und die Strafen nach Art. 11 WRV „im Ermessen des Richters“ standen.53 Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde Art. 116 WRV grundlegend umgewertet.54 So hat das Reichsgericht im Reichstagsbrand-Urteil vom 23.12.1933 die rück-

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41 Anschütz Art. 116 Anm. 2. 42 Näher dazu Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 162 ff; Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 8. 43 RGSt 57 404, 406; Anschütz Art. 116 Anm. 1; aA RG, Urt. v. 23.12.1933 15 J 86/33 und 12 M 42/33 – im Reichstagsbrandprozeß gegen Marinus van der Lubbe; durch die „lex van der Lubbe“ (RGBl. I 1933 151) war die Todesstrafe nachträglich für den Tatbestand der aufrührerischen Brandstiftung eingeführt worden. Dazu sogleich im Text. 44 Protokoll über die 33. Sitzung, Reichsdrucksache Nr. 2894; dazu Anschütz Art. 116 Anm. 1 m.w.N.; vgl. auch BVerfGE 25 269, 288 f; H.L. Schreiber S. 181 f. 45 RGSt 56 318, 319. 46 Vgl. auch RGSt 57 119, 120. 47 Anschütz Art. 116 Anm. 2; Düringer JW 1919 701 f; Ebermayer/Lobe/Rosenberg LK4 § 2 Anm. 1; v. Hippel Bd. 2 S. 34; Käckell ZStW 41 (1929) 684; v. Liszt/Schmidt Deutsches Strafrecht Bd. 1 § 18 II; v. Olshausen § 2 Anm. 3; Stier-Somlo § 47 III S. 311. 48 RGSt 57 404, 406; 58 401, 406. 49 Frank § 2 RStGB Anm. 1. 50 Gerland in Nipperdey Grundrechte Bd. I S. 368 ff, 370 f. 51 Gerland in Nipperdey Grundrechte Bd. I S. 368, 373 f, 379; ähnlich Giese Art. 116 Anm. 1. 52 So Frank § 2 RStGB Anm. 1; aA Gerland in Nipperdey Grundrechte Bd. I S. 368, 373 Anm. 26. 53 Beling ZStW 40 (1920) 511. 54 Eingehend dazu Epping Der Staat 1995 243 ff; Naucke FS Coing 225 ff.

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wirkende Anordnung der Todesstrafe durch § 1 des Gesetzes über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe vom 29.3.193355 für rechtens erklärt. Es hat dazu u.a. ausgeführt: „Das … Gesetz vom 29. März 1933 hebt für den von ihm geregelten Fall den Grundsatz des § 2 Abs. 1 StGB – eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn diese Strafe bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde – auf, nicht dagegen den Art. 116 RVerf. – eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde. Denn nicht die Strafbarkeit der aufrührerischen Brandstiftung (wie des Hochverrats) ist rückwirkend bestimmt, sondern lediglich die Strafe für die schuldhafte Verwirkung des bereits vorher strafbaren Tatbestandes erhöht. Der § 2 Abs. 1 StGB kann aber formell durch den Gesetzgeber jederzeit – auch unbeschadet seines Fortbestandes für den Regelfall – durch entgegenstehende Gesetzesbestimmung im Einzelfall außer Kraft gesetzt werden und könnte das als einfaches Reichsgesetz selbst dann, wenn der Gesetzgeber nicht wie hier nach dem Gesetz vom 24. März 193356 auch zum Erlass verfassungsändernder Reichsgesetze als Regierungsgesetze befugt wäre. Der Gesetzgeber ist aber auch inhaltlich nicht gehindert, für das Gebiet des Strafrechts, jedenfalls soweit die Strafbarkeit einer Handlung zur Zeit der Tat feststand, die von ihm selbst aufgestellte Schranke, die die Änderung57 einer zur Zeit der Tat noch nicht angedrohten Strafe verbietet, beiseite zu schieben und an die Stelle der zur Zeit der Tat angedrohten eine schärfere Strafe zu setzen. Ein Grundsatz der Nichtrückwirkung ist, soweit es sich nicht um die Anordnung der Strafbarkeit, sondern lediglich um eine Strafschärfung handelt, dem Strafrecht nicht wesentlich und besteht nicht. Grundsätzliche Rückwirkung findet sich in älteren – auch deutschen – wie noch geltenden Strafrechtssystemen mehrfach.58 Auch die deutsche Gesetzgebung der Nachkriegszeit kennt sie in der Verordnung vom 6. Februar 1924 über Vermögensstrafen und -bußen59 in Art. XIV Abs. 4. Rückwirkung strafschärfender Bestimmungen wird auch im Übrigen – mag auch der Zweck der Generalprävention, jedenfalls soweit die abschreckende Wirkung der Norm, nicht die der Strafe in Frage kommt, rückwirkend nicht mehr erreichbar sein – gerade auch vom Standpunkt des Strafrechts im nationalsozialistischen Staat mit Recht angeordnet. Ein grundsätzlicher Anspruch des Täters auf die zur Zeit der Tat angedrohte Strafe – deren Art und Höhe sein Vorsatz nicht einmal zu umfassen braucht – etwa als Gegenstück zu den wohl erworbenen Rechten des Privatrechts kann nicht anerkannt werden. Das staatliche Interesse erfordert vielmehr, dass das der vermutlich besseren Einsicht des Gesetzgebers entsprungene spätere Gesetz sofort und möglichst umfassend angewendet wird.“60

Mit dieser dogmatisch vielleicht begründbaren, jedoch die Entstehungsgeschichte des Art. 116 WRV übergehenden Entscheidung leitete das Reichsgericht eine verhängnisvolle Entwicklung ein. Die Entscheidung ebnete dem NS-Gesetzgeber rechtlich den Weg, im Laufe der nächsten Jahre eine immer größer werdende Zahl neuer strafschärfender (und darüber hinaus auch strafbegründender) Gesetze mit rückwirkender Kraft zu erlassen. Dies alles konnte unter dem Anschein der Legalität geschehen, obwohl das (eingeschränkte) Rückwirkungsverbot des § 2a Abs. 1 RStGB 1935 als allgemeine Regel fortbestand und obwohl auch Art. 116 WRV formell weiterhin in Kraft blieb. Eine rückwirkende Androhung der Todesstrafe enthielten z.B. § 1 des Gesetzes über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe vom 29.3.1933,61 Art. 2 des Gesetzes gegen erpresserischen Kindesraub vom 22.6.1936,62 das Gesetz gegen Straßenraub mittels Autofallen vom 22.6.

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55 RGBl. I S. 151. 56 RGBl. I S. 141. 57 Richtig wohl: Anwendung. 58 Einzelheiten bei Traeger in Birkmeyer S. 317; Liebmann AT Bd. VI §§ 3 bis 6 und 9. 59 RGBl. I S. 44. 60 Quelle: Abschrift des Urteils, Bibliothek des BGH, Strafsache gegen Marinus van der Lubbe u.a. 1933– 1983, Signatur: F 8173/100; vgl. auch den Abdruck (ohne genaue Quellenangabe) bei Kaul S. 341, 345 f. 61 RGBl. I S. 151. 62 RGBl. I S. 493.

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§ 1 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

1938,63 § 4 der Verordnung zum Schutz gegen jugendliche Schwerverbrecher vom 4.10. 1939,64 § 5 der Verordnung gegen Gewaltverbrecher vom 5.12.1939,65 Art. I § 2 des Gesetzes zur Ergänzung der Vorschriften gegen Landesverrat vom 22.11.194266 und Art. 2 der 5. Verordnung zur Ergänzung der Kriegssonderstrafrechtsverordnung vom 5.5.1944.67 Gänzlich unbestimmte Strafgesetze enthielten die Verordnung zum Schutz der Metallsammlung des deutschen Volkes aus dem Jahre 1940, die vorsah: „Wer sich an gesammeltem Metall bereichert …, schädigt den großdeutschen Freiheitskampf und wird daher mit dem Tode bestraft“;68 die Verordnung über die Strafrechtspflege gegen Polen und Juden in den eingegliederten Ostgebieten aus dem Jahre 1941, die vorsah: „Polen und Juden werden auch dann bestraft, wenn sie gegen die deutschen Strafgesetze verstoßen oder eine Tat begehen, die gemäß dem Grundgedanken eines deutschen Strafgesetzes nach den in den eingegliederten Ostgebieten bestehenden Staatsnotwendigkeiten Strafe verdient.“69 Außerdem wurden die gesetzlichen Regelungen, die das Analogie-70 und das Rückwirkungsverbot 71 enthielten, grundlegend geändert. So wurde das Analogieverbot durch das Gesetz vom 28.6.1935,72 das am 1.9.1935 in Kraft getreten ist, aufgehoben. § 2 RStGB 1935 lautete: „Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient. Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke auf sie am besten zutrifft.“

Auf dem Gebiet des überkommenen Strafrechts machte die Rechtsprechung von der dadurch eröffneten Möglichkeit analoger Gesetzesanwendung73 zum Nachteil des Angeklagten insgesamt eher zurückhaltend Gebrauch,74 selbst wenn sie – entgegen dem Wortlaut des neuen § 2 S. 2 RStGB – alsbald dazu überging, nicht nur die strafbegründende, sondern auch die strafschärfende Analogie zuzulassen.75 Allerdings wurde in der Rechtsprechung zur sog. Rassenschande und ab 1942 generell in einer Reihe weiterer Entscheidungen in erheblichem Umfang von der Erlaubnis der Analogie contra reum, insbesondere soweit es um Regimegegner ging, Gebrauch gemacht.76 Als Beispiel für einen exzessiven Gebrauch bei „nachrevolutionären“ Normen kann die Rechtsprechung zum Blutschutzgesetz77 oder die des Volksgerichtshofs zum politischen Strafrecht genannt werden.78 Damit wird aber die in der Literatur lange Zeit vertretene These von der Zurückhaltung des

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63 RGBl. I S. 651. Zur Entstehungsgeschichte dieses Gesetzes, das mit Wirkung vom 1.1.1936 in Kraft gesetzt wurde, Gruchmann S. 897 ff. 64 RGBl. I S. 2000. 65 RGBl. I S. 2378. 66 RGBl. I S. 668. 67 RGBl. I S. 115. 68 RGBl. I S. 565. 69 RGBl. I S. 759. 70 Näher dazu Rüping FS Oehler 41. 71 Näher dazu Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 172 ff. 72 RGBl. I S. 839. 73 Vgl. dazu Naucke Zerbrechlichkeit des Strafrechts S. 301 ff; H.L. Schreiber S. 191 ff; Werber S. 77 ff; Werle Justiz-Strafrecht S. 141 ff. 74 So Jescheck/Weigend AT S. 132 mit Fn. 22; Rüping FS Oehler 27, 40; Tröndle LK10 Rdn. 6; aA Vogel ZStW 115 (2003) 638, 652. Näher zur Rechtsprechung des Reichsgerichts Werle Justiz-Strafrecht S. 175 f. 75 RGSt 70 355, 356; 71 390, 391; 72 50, 52 f; 75 43, 45 f; RG JW 1938 791, 792. 76 Eingehend dazu Weidenthaler S. 186 ff. 77 RGSt 72 91, 96. 78 VGH DtR 1942 721; dazu Rüping GA 1984 297, 302.

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Reichsgerichts beim Gebrauch der Analogie fragwürdig.79 Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber zur Umschreibung (angeblich) strafwürdigen Unrechts, vor allem außerhalb des Strafgesetzbuchs, zunehmend generalklauselartige Tatbestandsmerkmale einsetzte. Deren Verwendung trug wesentlich zur Ausweitung des Strafrechts in der Zeit von 1933 bis 1945 bei, so dass die Gerichte nicht mehr zum Mittel der Analogie greifen mussten.80 Das Rückwirkungsverbot des alten Rechts blieb auch in der Zeit des Nationalsozialismus grundsätzlich bestehen.81 In § 2a Abs. 1 RStGB i.d.F. des Gesetzes vom 28.6.193582 hieß es: „Die Strafbarkeit einer Tat und die Strafe bestimmen sich nach dem Recht, das zur Zeit der Tat gilt.“

Allerdings galten die Bestimmungen der Weimarer Verfassung nur noch als Sätze des einfachen Rechts weiter und nur insoweit als sie mit den Zielen des Nationalsozialismus übereinstimmten. Deshalb finden sich in der Zeit nach 1933 zahlreiche Gesetze, die eine Durchbrechung des Rückwirkungsverbots ausdrücklich anordneten.83 Die Besatzungsmächte haben nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches diese Vorschriften durch das Kontrollratsgesetz Nr. 11 vom 30.1.194684 ausdrücklich aufgehoben (Art. V), ohne die alte Fassung des § 2 Abs. 1 RStGB wieder in Kraft zu setzen (Art. IV). Die Gesetzeslücke wurde zunächst im Sinne des früheren Rechtszustandes durch Besatzungsrecht ausgefüllt. In Art. II Nrn. 2 bis 4 der Kontrollratsproklamation vom 20.10.194585 fanden sich Regelungen wie: „strafrechtliche Verantwortlichkeit besteht nur für rechtlich als strafbar erklärte Handlung“ (Nr. 2); „kein Gericht darf irgendeine Handlung aufgrund der ‚Analogie‘ oder im Hinblick auf das so genannte ‚gesunde Volksempfinden‘ für strafbar erklären“ (Nr. 3); „Strafen, die das Gesetz nicht vorsieht, dürfen nicht verhängt werden“ (Nr. 4); ähnliche Regelungen fanden sich in Art. IV Nr. 7 MilRegGes. Nr. 1.86 Damit war das Gesetzlichkeitsprinzip wieder hergestellt. Gleichwohl haben die Besatzungsmächte im Londoner Abkommen vom 8.8.1945 sowie im Kontrollratsgesetz Nr. 1087 vom 20.12.1945 selbst teilweise rückwirkende Strafvorschriften erlassen.88 Die deutschen Länderverfassungen und das Grundgesetz vom 23.5.1949 knüpften in der Formulierung wie auch im Gehalt an den Stand der Weimarer Reichsverfassung an.89 Mit Art. 103 Abs. 2 GG kehrte der Gesetzgeber zum Rechtszustand vor 1935 zurück und verbot auch den Erlass rückwirkender Strafgesetze. Im Herrenchiemsee Entwurf entsprach Art. 136 Abs. 1 HChE wörtlich Art. 116 WRV. Aus dem Bericht über den Verfassungskonvent geht hervor, dass es ausdrückliches Ziel war, den altbewährten Grundsatz „nulla poena sine lege“ wieder zu Ehren kommen zu lassen. Im Bericht wird hervorgehoben, Art. 136 Abs. 1 HChE entspreche nicht nur wörtlich Art. 116 WRV, sondern habe auch dieselbe Bedeutung.90 Zwar wurde im Allgemeinen Redaktionsausschuss des Par-

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79 Vogel ZStW 115 (2003) 638, 652. 80 Vgl. Gribbohm NJW 1988 2842, 2843. 81 Zu den Einschränkungen des Rückwirkungsverbots vgl. Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 172 ff. 82 RGBl. I S. 839. 83 Eingehend dazu Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 174 f f m.w.N; Naucke FS Coing 225 ff. 84 ABl. des Kontrollrats S. 55; eingehend dazu Etzel S. 80 ff. 85 Proklamation des Kontrollrats über die Grundsätze für die Umgestaltung der Rechtspflege vom 20.10.1945, ABl. des Kontrollrats 1945 S. 22. 86 MilRegAmtsbl. Nr. 3. 87 KontrRABl. S. 50. 88 Näher dazu Rüping/Jerouschek Grundriss der Strafrechtsgeschichte S. 109 f. 89 Zur Entstehungsgeschichte des Art. 103 Abs. 2 GG vgl. auch BVerfGE 25 269, 287 ff. 90 Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23.8.1948, o.J. S. 83.

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lamentarischen Rats erörtert, ob der Wortlaut des alten Strafgesetzbuches von 1871 – „Strafe“ statt „Strafbarkeit“ – wieder eingeführt werden sollte. Dem wurde jedoch entgegengehalten, dass auch die Auslegung des Art. 116 WRV nie ernsthaft zweifelhaft gewesen sei. Deshalb entschied sich der Ausschuss für das Wort „Strafbarkeit“, um nicht einer engeren, das nulla-poena-Prinzip ausschließenden Deutung des Art. 103 Abs. 2 GG Vorschub zu leisten, und gab damit Art. 103 Abs. 2 GG seine endgültige Fassung. Eine mit dieser Bestimmung des Grundgesetzes gleich lautende Vorschrift wurde durch das 3. StRÄndG vom 4.8.1953 als § 2 Abs. 1 in das Strafgesetzbuch aufgenommen; Art. 1 Nr. 1 des 2. StrRG vom 4.7.1969 hat diese Vorschrift (mit Wirkung vom 1.10.1973) sodann als § 1 an den Anfang des Strafgesetzbuchs gestellt und damit besonders hervorgehoben. Die heutige Fassung des § 1 StGB91 entspricht damit wörtlich der Regelung des Art. 103 Abs. 2 GG. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs übernahm weite Teile der Reichsgerichtsrechtsprechung und stützte Ergebnisse, die das Reichsgericht noch kraft Analogie begründet hatte, auf eine extensive teleologische Auslegung92 und nahm in der Entscheidung BGHSt 10 375 f93 sogar eine strafbegründende Analogie bei dem im preußischen Forstdiebstahlsgesetz geregelten Diebstahl vor (näher zur Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Rdn. 280). Außerdem wirkt die Materialisierung des Strafrechts in der Zeit des Nationalsozialismus 94 in den Generalklauseln der §§ 228, 95 240 Abs. 2 (Rdn. 193, 202) und in zahlreichen besonders schweren Fällen (Rdn. 233 ff) fort.96 Gesetzesmaterialien Zu § 1 und 2. E 1962 § 1, 2; Niederschriften der Großen Strafrechtskommission Bd. 3, S. 288 ff, 293 ff, 416 ff, B. 4 S. 101 f, 222 ff, 460 f, Bd. 12 S. 423, 440, 538 ff, 571; Protokoll des Sonderausschusses der 5. Wahlperiode S. 5, 17 ff, 67 ff, 2344, 2619, 3118, 3128. – 2. Schriftlicher Bericht, BTDrucks. V/4095 S. 4 E-EGStGB BTDrucks. 7/550 S. 206, 459.

I.

II.

Übersicht Verfassungsrechtliche Verankerung des Satzes „nullum crimen, nulla poena sine lege“ 1. Verhältnis von § 1 StGB zu Art. 103 Abs. 2 GG | 1 2. Verhältnis von Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 StGB zu Art. 20 Abs. 3 GG | 3 3. Verhältnis von Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 StGB zu Art. 104 GG | 4 Internationale und supranationale Bezüge 1. Garantie des „nullum crimen“-Satzes in internationalen Regelungen | 5

a)

b) c)

Art. 7 Abs. 1 EMRK | 6 aa) Gesetzlichkeitsprinzip und Gesetzesbegriff ohne Schriftlichkeit | 7 bb) Bestimmtheitsgebot – Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit des Rechts | 8 cc) Analogieverbot | 9 dd) Rückwirkungsverbot und Lex mitior-Regel | 10 ee) „Nürnberg-Klausel“ | 11 Genfer Abkommen | 12 Art. 11 Abs. 2 AEMR und Art. 15 IPBPR | 13

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91 Bekanntmachung der Neufassung des StGB vom 10.3.1987, BGBl. I S. 945. 92 So Vogel ZStW 115 (2003) 638, 653 unter Berufung auf RGSt 73 349, 351 f einerseits und BGHSt 1 146 andererseits, jeweils zu der Frage, ob das für sich gewaltlose Beibringen von Betäubungsmitteln Personengewalt i.S.v. § 249 ist. 93 Krit. dazu Roxin AT I § 5 Rdn. 34. 94 Vgl. dazu Vogel ZStW 115 (2003) 638, 650 ff m.w.N. 95 Krit. dazu R. Schmitt GedS Schröder 263. 96 Zur Kritik hieran vgl. Hirsch FS Gössel 287, 288, 302.

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d)

III.

81

Bedeutung von Art. 103 Abs. 2 GG neben den internationalen Regelungen | 15 2. Völkerstrafrecht | 16 a) Rechtslage vor Inkrafttreten des Rom-Statuts | 18 b) IStGH-Statut (Rom-Statut) | 21 aa) Gesetzlichkeitsprinzip und Bestimmtheitsgrundsatz | 26 bb) Gebot der restriktiven Auslegung und Analogieverbot | 27 cc) Rückwirkungsverbot | 28 dd) Nulla poena sine lege | 29 c) Völkerstrafgesetzbuch | 30 3. Europäisches Strafrecht | 33 a) Gesetzlichkeitsprinzip | 34 b) Bestimmtheitsgrundsatz | 35 c) Analogieverbot | 38 d) Rückwirkungsverbot | 39 e) EU–Grundrechtecharta | 40 4. Rechtsvergleichende Hinweise | 43 a) Nullum crimen, nulla poena sine lege scripta | 45 b) Nullum crimen, nulla poena sine lege certa | 46 c) Nullum crimen, nulla poena sine lege stricta | 47 d) Nullum crimen, nulla poena sine lege praevia | 48 e) Ergebnis | 49 Fundierung und Reichweite des Grundsatzes „nullum crimen, nulla poena sine lege“ 1. Ratio legis des „nullum-crimen“Satzes | 50 a) Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit dem Prinzip der gewaltenteilenden Demokratie | 52 b) Generalpräventive Begründung des Gesetzlichkeits- und Schuldprinzips | 59 aa) Generalprävention | 60 bb) Schuldprinzip | 61 cc) Gleichheitsgrundsatz | 63 2. Reichweite des § 1 StGB a) Kriminalstrafrecht | 64 b) Abgrenzung des Kriminalstrafrechts zum Strafrecht im weiteren Sinne | 66 aa) Ordnungswidrigkeitenrecht | 69 bb) Standesrecht | 70

3.

IV.

V.

Überprüfung strafrechtlicher Normen durch das Bundesverfassungsgericht a) Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde | 71 b) Überblick über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts | 72 Geltungsbereich des § 1 StGB 1. Begriff der Tat | 79 2. Reichweite des Begriffs der Strafbarkeit | 80 a) Straftatbestände des Besonderen Teils | 81 b) Regelungen des Allgemeinen Teils | 82 c) Strafrechtliche Rechtsfolgen | 89 aa) Strafen | 91 bb) Maßregeln der Besserung und Sicherung | 93 cc) Außerstrafrechtliche Rechtsfolgen | 102 d) Verfahrensrecht | 104 3. Personeller Schutzbereich | 107 Gewährleistungsgehalt des „nullum crimem, nulla poena sine lege“-Satzes (Art. 103 Abs. 2 GG; § 1 StGB) | 108 1. Vorbehalt des Strafgesetzes und Verbot des Gewohnheitsrechts | 114 a) Verweisung der Strafnormen auf andere Rechtsakte | 117 aa) Gesetzesbegriff des Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB | 118 bb) Gesetzesbegriff des Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG | 123 cc) Gesetzesvertretende Verordnungen | 125 dd) Rechtsverordnungen | 126 ee) Satzungen | 129 ff) Verwaltungsvorschriften | 132 gg) Verwaltungsakte | 133 hh) Behördliche Auskünfte, Warnhinweise und Verlautbarungen | 143 ii) Konstitutive Gerichtsurteile | 144 jj) Rechtsakte der Europäischen Union | 145 b) Blankettgesetzgebung | 148 aa) Abgrenzung zu normativen Tatbestandsmerkmalen | 149

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§ 1 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

2.

bb) Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG an Blankettstrafgesetze | 150 cc) Statische Verweisungen | 157 dd) Dynamische Verweisungen | 158 ee) Rückverweisungsklauseln | 160 ff) „Extensionale Verweisungstechnik“ | 163 c) Berichtigung von Redaktionsversehen | 167 d) Verbot des Gewohnheitsrechts und Ermächtigung zur Rechtsfortbildung „intra legem“ | 169 aa) Notwendigkeit einer Kodifizierung strafbarkeitsbegründender und strafbarkeitsausdehnender Regelungen im Bereich des Allgemeinen Teils | 172 bb) Ermächtigung zur Rechtsfortbildung „intra legem“ | 173 cc) Richterrechtliche Begründung der materiellen Strafbarkeit im Rahmen der Allgemeinen Lehren und Zurechnungsregeln | 174 dd) Aufhebung von Gesetzen durch Gewohnheitsrecht | 176 ee) Einschränkungen gesetzlicher Rechtfertigungsund Entschuldigungsgründe | 177 ff) Actio libera in causa | 178 Bestimmtheitsgebot | 179 a) Entscheidungsleitende Gesichtspunkte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aa) Erhöhte Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG an die Bestimmtheit | 181 bb) Relativierung der Bestimmtheitsanforderungen | 185 b) Bestimmtheitsgebot als Optimierungsgebot (Präzisierungsgebot) | 195 c) Beschreibung des tatbestandsmäßigen Verhaltens | 197 aa) Zulässigkeit allgemeiner Begriffe | 198

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3.

bb) Konkretisierung unbestimmter Begriffe durch eine gefestigte Rechtsprechung und Präzisierungsgebot | 201 cc) Zulässigkeit von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen | 202 dd) Berücksichtigung des Adressatenkreises | 211 ee) Rolle der Rechtsprechung | 213 ff) Verschleifungsverbot | 215 d) Bestimmtheitserfordernis bei blankettausfüllenden außerstrafrechtlichen Normen | 216 e) Bestimmtheitsanforderungen an rechtsnormative Tatbestandsmerkmale | 217 f) Allgemeiner Teil | 218 g) Strafdrohung | 223 aa) Anforderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung | 225 bb) Vereinbarkeit der gesetzlichen Strafrahmen des Strafgesetzbuchs mit Art. 103 Abs. 2 GG | 232 cc) Strafzumessungsregeln | 236 dd) Vollstreckungsrechtliche Regelungen | 237 Analogieverbot | 238 a) Grundlagen des Analogieverbots | 241 b) Inhalt und Bedeutung des Analogieverbots | 244 c) Abgrenzung von verbotener Analogie und Auslegung aa) Analogische Grundstruktur der Auslegung | 247 bb) Notwendigkeit der Abgrenzung von Analogie und Auslegung im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG | 248 d) Anwendungsbereich des Analogieverbots | 254 aa) Besonderer Teil des Strafrechts | 255 bb) Allgemeiner Teil des Strafrechts | 259 cc) Gesetzesumgehendes Verhalten | 263

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Keine Strafe ohne Gesetz | § 1

4.

5.

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dd) Strafrechtliche Rechtsfolgen und Strafzumessung | 268 ee) Verfahrensrecht | 272 ff) Maßregeln der Besserung und Sicherung | 277 e) Beispiele aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung | 278 f) Zulässigkeit der Analogie zugunsten des Täters | 282 aa) Voraussetzungen | 283 bb) Besonderer Teil des Strafrechts | 284 cc) Allgemeiner Teil des Strafrechts | 285 dd) Deliktsfolgen | 289 Auslegung | 291 a) Ziel der Auslegung | 295 b) Technik der Auslegung | 298 c) Auslegungsmethoden | 299 aa) Grammatische Auslegung | 300 bb) Systematische Auslegung | 310 cc) Historische Auslegung | 313 dd) Teleologische Auslegung | 316 ee) Faktische Betrachtungsweise | 320 ff) Lehre von der Folgenberücksichtigung | 325 gg) Verfassungskonforme Auslegung und Postulat der Auslegungsbestimmtheit | 326 hh) Unionsrechtskonforme Auslegung | 342 d) System der Auslegungslehren | 350 aa) Rangverhältnis der klassischen Auslegungsmethoden im Strafrecht | 351 bb) Verfassungskonforme Auslegung | 355 cc) Unionsrechtskonforme Auslegung | 356 e) Beispiele aus der Rechtsprechung | 357 Rückwirkungsverbot a) Überblick | 360 b) Ersetzung eines Strafgesetzes durch ein anderes Strafgesetz; Verhältnis von § 1 zu § 2 StGB | 366

c)

d)

e)

Fundierung des Rückwirkungsverbots aa) Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit von Strafbarkeit und Strafe | 370 bb) Schuldgrundsatz, Menschenwürde und Eigenverantwortlichkeit | 374 cc) Erfordernis gesetzlicher Bewertungsnormen zur Begrenzung der angeborenen und unveräußerlichen Freiheit des Bürgers | 380 dd) Verbindung von staatsrechtlicher und strafrechtlicher Fundierung des Rückwirkungsverbots | 384 ee) Rückwirkungsverbot als unmittelbare Ausprägung des Schuldprinzips? | 387 Anwendungsbereich des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots | 388 aa) Besonderer Teil des Strafrechts | 389 bb) Allgemeiner Teil des Strafrechts | 390 cc) Außerstrafrechtliche Bezugsnormen | 394 dd) Rechtsfolgen der Straftat | 400 ee) Maßregeln der Besserung und Sicherung | 407 ff) Untersuchungshaft | 410 gg) Verfahrensrecht | 411 hh) Prozessvoraussetzungen und Prozesshindernisse | 424 Rückwirkungsverbot und Änderung der Rechtsprechung | 432 aa) Verneinung des Eingreifens von Art. 103 Abs. 2 GG durch die höchstrichterliche Rechtsprechung | 433 bb) Verneinung des Eingreifens von Art. 103 Abs. 2 GG in der Literatur | 436 cc) Bejahung des Eingreifens von Art. 103 Abs. 2 GG in der Literatur | 438 dd) Einbeziehung der Rechtsprechungsänderung in den Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 2 GG als Fall des Verfassungswandels | 441

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§ 1 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

ee) Vertrauensschutz und Verlässlichkeit der Rechtsordnung – allgemeines Rückwirkungsverbot | 444 ff) Strafrechtliche Grenzen rückwirkender Rechtsprechungsänderungen und gerichtlicher Präzisierung von Normen | 445

f)

Bewältigung „vor-rechtsstaatlicher“ Vergangenheit und Rückwirkungsverbot: Spannungsverhältnis zwischen Rechtsstaatlichkeit und materieller Gerechtigkeit | 446 aa) Strafverfolgung der „Mauerschützen“ | 447 bb) Strafverfolgung wegen Rechtsbeugung und Spionagetätigkeit | 453

I. Verfassungsrechtliche Verankerung des Satzes „nullum crimen, nulla poena sine lege“ 1. Verhältnis von § 1 StGB zu Art. 103 Abs. 2 GG. Nach Art. 103 Abs. 2 GG kann eine Tat nur dann bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Diese Regelung steht als § 1, der wörtlich mit Art. 103 Abs. 2 GG übereinstimmt, auch an der Spitze des Strafgesetzbuchs. Bei § 1 handelt es sich um die einfachrechtliche Wiederholung eines verfassungsrechtlichen Prinzips, so dass dieser Vorschrift lediglich deklaratorische Bedeutung zukommt. Zugleich nimmt § 1 an der verfassungsrechtlichen Garantie teil, weil es sich bei dem Grundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege scripta, praevia, certa, stricta“ um materielles Verfassungsrecht handelt.97 Dieser Verfassungssatz, der das gesamte Strafrecht, einschließlich der Deliktsfolgen,98 beherrscht, richtet sich speziell gegen die staatliche Strafgewalt. Ihm kommt sogar Grundrechtscharakter zu (Rdn. 53),99 mit der Folge, dass im Falle der Verletzung eine Verfassungsbeschwerde möglich ist (Rdn. 53, 71). Wegen des Verfassungsrangs des Gesetzlichkeitsprinzips kommt der Rechtspre2 chung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 103 Abs. 2 GG für das Strafrecht besondere Bedeutung zu: Bei der Auslegung des § 1 sind die Vorgaben des Art. 103 Abs. 2 GG, der in zahlreichen Entscheidungen dieses Gerichts konkretisiert worden ist (Rdn. 330), zu berücksichtigen, so dass eine inhaltliche Übereinstimmung des einfachen Rechts mit dem Verfassungsrecht entsteht. 1

3

2. Verhältnis von Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 StGB zu Art. 20 Abs. 3 GG. Gegenüber Art. 20 Abs. 3 GG, wonach die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung „an Gesetz und Recht“ gebunden sind, stellt Art. 103 Abs. 2 GG für das Strafrecht den Grundsatz der Gesetzesgebundenheit allen staatlichen Strafens auf (grundlegend BVerfGE 14 174, 185). Die Hervorhebung des Gesetzlichkeitsprinzips in Art. 103 Abs. 2 GG trägt dem Zugriff des Strafens auf die Persönlichkeit durch hoheitliche Missbilligung von Schuld Rechnung;100 eine solche Wertung bedarf im Rechtsstaat besonderer rechtsstaatlicher Sicherungen.101 Dem Rang des Grundsatzes entspricht die herausgehobene Position am Anfang des Strafgesetzbuchs als § 1.102

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97 So auch Rogall KK-OWiG § 3 Rdn. 2, für die § 1 entsprechende Regelung des § 3 OWiG. 98 BVerfGE 25 269, 285; 45 363, 371 ff. 99 BVerfGE 71 108, 114; Köhler AT S. 75; Krey Strafe Rdn. 99; Otto AT § 2 Rdn. 1; Roxin AT I § 5 Rdn. 6. 100 Appel S. 24 ff; vgl. aber auch Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 204 m.w.N. 101 Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 11; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 193. 102 Hassemer/Kargl NK Rdn. 3.

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3. Verhältnis von Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 StGB zu Art. 104 GG. Art. 103 Abs. 2 4 GG und § 1 werden bezüglich des Begriffs „gesetzlich“ durch Art. 104 Abs. 1 GG präzisiert. Nach letzterer Verfassungsvorschrift dürfen freiheitsbeschränkende Maßnahmen nur auf der „Grundlage eines förmlichen Gesetzes“ angeordnet werden, während im Übrigen, also insbesondere für Geldstrafen, ein materielles Gesetz ausreicht (Rdn. 123).103 Für Blankettstrafgesetze (Rdn. 148 ff) ergibt sich aus Art. 103 Abs. 2 GG, dass die formellgesetzliche Ermächtigung so konkret gefasst sein muss, dass sich bereits aus ihr die möglichen Straftatbestände und die Art und das Maß der Strafen für den Bürger hinreichend deutlich ergeben (Rdn. 150 ff).104 II. Internationale und supranationale Bezüge 1. Garantie des „nullum crimen“-Satzes in internationalen Regelungen. Der 5 Grundsatz „nullum crimen sine lege“ ist heute auch international als fundamentaler Grundsatz des Rechtsstaats fast überall in Geltung;105 er findet sich insbesondere auch in internationalen Regelungswerken106 wie der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK; s. dazu Rdn. 6 ff), den Genfer Abkommen (s. dazu Rdn. 12), der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Generalversammlung der Vereinten Nationen (AEMR; s. dazu Rdn. 13) und des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR; s. dazu Rdn. 13 f). a) Art. 7 Abs. 1 EMRK. Zu nennen ist zunächst Art. 7 Abs. 1 EMRK,107 der auch inner- 6 staatliche Geltung hat, dem aber nach h.M. nur der Rang eines einfachen Bundesgesetzes zukommt.108 Diese nach dem Vorbild von Art. 11 Nr. 2 AEMR (Rdn. 13) geschaffene Regelung lautet: „Niemand kann wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach inländischem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Ebenso darf keine höhere Strafe als die im Zeitpunkt der Begehung der strafbaren Handlung angedrohte Strafe verhängt werden.“

aa) Gesetzlichkeitsprinzip und Gesetzesbegriff ohne Schriftlichkeit. Art. 7 Abs. 1 EMRK ent- 7 hält zunächst die Vorgabe, dass es für Verurteilungen einer rechtlich bestimmten Strafbarkeit bedarf. Hierbei handelt es sich um ein spezielles, auf den Bereich des Strafrechts bezogenes Legalitätsprinzip. Die Strafbarkeit muss durch „law“, „droit“ (so der Normtext) bzw. „loi“ (so die Überschrift) bestimmt, für die Adressaten der Norm erkennbar und die Verhängung einer Strafe für den Fall der Übertretung der Norm vorhersehbar sein.109 Das Gesetzlichkeitsprinzip ist darin nicht so eng wie nach Art. 103 Abs. 2 GG an ein formelles, schriftliches Gesetz gebunden.

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103 Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 250 ff m.w.N.; aA allerdings Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 6, der dies wegen des Zusammenspiels von Art. 103 Abs. 2 GG und Art. 104 GG für jede Art von Strafe fordert. 104 BVerfGE 14 174, 187; BVerfG NJW 1992 107 m.w.N.; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 248. 105 Rechtsvergleichend Jescheck FS Miyazawa 363 ff. 106 Näher dazu Jescheck/Weigend AT § 15 II 4. 107 Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4.11.1950, BGBl. II 1952 S. 686. 108 Frowein/Peukert EMRK-Kommentar Einf. Rdn. 7; Münch JZ 1961 153; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 27 f; vgl. auch BVerfGE 10 271, 274; BayVerfGH NJW 1961 1619; Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 75; Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 7; Wassermann AK-GG Art. 103 Rdn. 62. 109 Vgl. nur Grabenwarter EMRK § 24 Rdn. 88.

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7a

Soweit eine Rechtsordnung traditionell Common Law-Delikte kennt, steht Art. 7 Abs. 1 EMRK zunächst einer Bestrafung auf deren (in kontinentaleuropäischer Perspektive gewohnheitsrechtlich anmutendenden) Grundlage nicht grundsätzlich entgegen.110 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) setzt hier seine zu Art. 10 Abs. 2 EMRK (und das Common Law-Delikt des contempt of court) begonnene Rechtsprechung111 bei Art. 7 EMRK fort. Auch eine Fortentwicklung der Delikte zu Lasten der Beschuldigten akzeptiert er ohne Bindung an Schriftlichkeit. So sah er keinen Konventionsverstoß in einer Verurteilung wegen Vergewaltigung in der Ehe aus dem Jahre 1991, welche die im Vereinigten Königreich bis dahin akzeptierte, aus dem 18. Jahrhundert stammende ungeschriebene Regel der „material immunity“ (Straflosigkeit des Ehemanns für erzwungenen Geschlechtsverkehr mit seiner Ehefrau, weil in der Eheschließung eine unwiderrufliche Einwilligung gesehen wurde) unangewendet ließ.112 Das House of Lords hat unter Berufung auf die geänderten gesellschaftlichen Verhältnisse und eine öffentliche Reformdiskussion zur Abschaffung dieses Verteidigungsvorbringens (defence) den Ehemann wegen Vergewaltigung verurteilt (siehe dazu auch Rdn. 45).113 Der Gerichtshof bestätigte diese Verurteilung, weil sie mit dem „Wesen des Delikts vereinbar“ und „vernünftigerweise vorhersehbar“ gewesen sei.114 Nicht nur im Common Law, sondern im Ausgangspunkt durchgängig berücksichtigt 7b der EGMR sowohl geschriebenes als auch ungeschriebenes Recht115 und ebenso untergesetzliche Normen.116 Einschränkungen ergeben sich aber über das Vorhersehbarkeitskriterium, denn nur in der jeweiligen Rechtsordnung akzeptierte (im Rahmen ihrer Rechtsquellenlehre), nachvollziehbar angewendete (im Rahmen ihrer Methodenlehre) und mit höherrangigem Recht vereinbare Rechtsregeln können eine Verurteilung hinreichend vorhersehbar machen.117 Insbesondere muss auch Vereinbarkeit der nationalen Strafbarkeit mit Unionsrecht bestehen.118 Die Bedeutung von Richterrecht im Strafrecht hängt von der jeweiligen Rechtsordnung ab.119 Soweit Schriftlichkeit in einem Strafrecht nicht konsequent verlangt wird (wie im deutschen Recht z.B. bzgl. Garantenpflichten, Sorgfaltspflichten, Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen), spricht der EGMR sehr offen aus, dass er diese nicht einfordert. Auch in den Mauerschützenfällen stellte sich die Frage nach dem Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für eine Verurteilung und der Zulässigkeit einer rückwirkenden Aufhebung eines Straffreistellungsgrundes (§ 27 DDR-GrenzG). Die Angeklagten Streletz, Keßler und Krenz, die von deutschen Gerichten verurteilt worden waren, weil diese den Rechtfertigungsgrund des § 27 DDR-GrenzG we-

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110 Ambos KritV 2003 31, 41; Frowein/Peukert Art. 7 EMRK Rdn. 4; Löwe/Rosenberg/Gollwitzer Art. 7 EMRK Rdn. 9; A. Peters/Altwicker EMRK § 23 Rdn. 4. 111 EGMR Sunday Times Nr. 1/UK, 26.4.1979, A 30 = EGMR-E 1 366, § 47 f. 112 EGMR S.W./UK, 22.11.1995, A 335-B = ÖJZ 1996 356, § 10. 113 R (Regina) v. R, AC 1992 599. 114 EGMR S.W./UK, § 36; entspr. EGMR C.R./UK, 22.11.1995, A 335-C, § 34; vgl. auch Ambos Internationales Strafrecht § 10 Rdn. 65 f; ders. JZ 2017 265, 268 ff; Demko HRRS 2004 19, 20 f. 115 EGMR (GK) Cantoni/F, 15.11.1996, ECHR 1996-V = EuGRZ 1999 193, § 29; (GK) Başkaya & Okçuoglu/TR, 8.7.1999, ECHR 1999-IV = NJW 2001 1995, § 36; (GK) Streletz, Kessler und Krenz/D, 22.3.2001, ECHR 2001-II = EuGRZ 2001 210 ff = NJW 2001 3035, §§ 57, 67; (GK) Scoppola Nr. 2/I, 17.9.2009, NJOZ 2010 2726, § 99. Dazu Greco GA 2016 195, 198 f. 116 EGMR De Wilde, Ooms und Versyp/B, 18.6.1971, A 12, § 93; Barthold/D, 25.3.1985, A 90 = NJW 1985 2885, § 46; Custers, Deveaux und Turk/DK, 3.5.2007, § 89. 117 EGMR Kokkinakis/GR, 25.5.1993, A 260-A = ÖJZ 1994 59, §§ 40, 52; (GK) Streletz, Kessler und Krenz/D, §§ 72–76; Custers, Deveaux und Turk/DK, §§ 84–89; (GK) Kafkaris/CY, 12.2.2008, ECHR 2008 = NJOZ 2010 1599, § 139. 118 EGMR Ooms/F, 25.9.2008. 119 EGMR G./F, 27.9.1995, A 325-B = ÖJZ 1996 150, § 25; S.W./UK, § 36; (GK) Cantoni/F, §§ 29, 31–35.

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gen „Menschenrechtswidrigkeit“ nicht angewendet hatten (Rdn. 447 ff), rügten nach erfolgloser Verfassungsbeschwerde120 die Verletzung von Art. 7 Abs. 1 EMRK. Der EGMR hat auch in diesem Fall einen Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 EMRK verneint, weil die Strafbarkeit für die Täter vorhersehbar war (näher dazu Rdn. 449).121 bb) Bestimmtheitsgebot – Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit des Rechts. 8 Statt mit formellen Anforderungen an das Gesetz bzw. Recht arbeitet der EGMR primär mit den Kriterien der Zugänglichkeit und der Vorhersehbarkeit, die er beide primär auf „das Recht“ bzw. dessen Anwendung bezieht, die Vorhersehbarkeit auch auf die Rechtsfolgen.122 Zugänglichkeit des Rechts verlangt, dass der Bürger in einer den Umständen nach angemessenen Weise Hinweise auf die Rechtsregeln erlangen kann, die in seinem Fall anzuwenden sind, und sie müssen ihm schon zum Zeitpunkt der Tat verfügbar sein.123 Vor allem aber gilt ein primär an den Gesetzgeber gerichtetes Gebot der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit:124 Die Straftat und die für sie angedrohten Strafen müssen „im Recht klar definiert“ sein.125 Bei geschriebenen Normen muss es dem Normunterworfenen möglich sein, aus dem Wortlaut des Gesetzes zu schließen, welche Handlungen oder Unterlassungen strafbar sind.126 Dabei werden an die Vorhersehbarkeit je nach Adressatenkreis, z.B. bei Einschränkung auf bestimmte Berufsgruppen, unterschiedlich hohe Anforderungen gestellt.127 Es kommt auf die individuelle Vorhersehbarkeit an (siehe auch Rdn. 9, 449). Eine schrittweise Klärung zweifelhafter Punkte in der Rechtsprechung genügt, solange diese sich ihm Rahmen des zu Erwartenden hält und dem Wesen des betreffenden Delikts nicht widerspricht.128 Der Vorhersehbarkeit steht es nicht entgegen, wenn der Betroffene Rechtsrat einholen muss.129 Das Bestimmtheitsgebot betrifft sowohl die Umschreibung der mit Strafe bedrohten Handlung als auch die Sanktionsseite, wobei auch die Art der Sanktion und die Sanktionshöhe vorhersehbar sein müssen, ohne dass dadurch das richterliche Ermessen bei der Strafbemessung ausgeschlossen wird.130 Der Begriff der „Strafe“ wird autonom ausgelegt.131 So fallen unter den Strafbegriff und in den Schutzbereich von Art. 7 EMRK z.B. auch Fragen der Strafvollstreckung und des Entlasszeitpunkts132 sowie einer tatbezogenen Konfiskation, selbst wenn diese gegen am Verfahren unbeteiligte Dritte verhängt wird.133 Dabei legt der EGMR Wert darauf, dass die Rechte der Konvention praktisch und effektiv und im Zweifel in einer Ge-

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120 BVerfGE 95 96 ff. 121 EGMR (GK) Streletz, Kessler und Krenz/D, 22.3.2001, ECHR 2001-II, EuGRZ 2001 210 ff = NJW 2001 3035 m. Anm. Werle S. 3001, Rau S. 3008 und Roellecke S. 3024. 122 EGMR Sud Fondi S.r.l. u.a./I, 20.1.2009, § 114; (GK) G.I.E.M. S.r.l. u.a./I, 28.6.2018, NLMR 2018 228, § 241; näher di Martino ZStW 128 (2016) 270 ff. 123 EGMR Sunday Times Nr. 1/UK, §§ 49–51; S.W./UK, § 35; Kokkinakis/GR, §§ 40, 52; (GK) Cantoni/F, §§ 26, 29; (GK) Başkaya & Okçuoglu/TR, § 36. 124 D.h. „clarity“ und „legal certainty“ im Gegensatz zu „such broad notions and such vague criteria“, EGMR Liivik/EST, 25.6.2009, § 101–103 und zu Vor § 94; (GK) Achour/F, 29.3.2006, ECHR 2006-IV, § 50; Kasymakhunov und Saybatalov/RUS, 14.3.2013, § 78; (GK) Del Río Prada/E vom 21.10.2013, ECHR 2013, § 92. 125 EGMR (GK) Scoppola Nr. 2/I, § 94: „[…] offences and the relevant penalties must be clearly defined by law.“, „[…] la loi doit définir clairement les infractions et les peines qui les répriment.“ 126 EGMR Kokkinakis/GR, § 52; S.W./UK, § 35; Coëme u.a./B, 22.6.2000, ECHR 2000-VII, § 145; Puhk/EST, 10.2.2004, § 25. 127 EGMR Groppera Radio AG/CH, 28.3.1990, A 173, § 68; (GK) Cantoni/F, § 35. 128 EGMR (GK) Scoppola Nr. 2/I, §§ 100 f; (GK) Kafkaris/CY, § 141; (GK) Cantoni/F, § 34. 129 EGMR (GK) Scoppola Nr. 2/I, §§ 102; (GK) Kafkaris/CY, § 140; (GK) Achour/F, § 54. 130 EGMR S.W./UK, § 35 f, EGMR (GK) Achour/F, § 41. 131 EGMR Welch/UK, 9.2.1995, A 307-A = ÖJZ 1995 511, §§ 27 ff; (GK) G.I.E.M. S.r.l. u.a./I, §§ 210 ff. 132 EGMR (GK) Del Río Prada/E, §§ 96 ff. 133 EGMR (GK) G.I.E.M. S.r.l. u.a./I, §§ 212 ff.

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samtschau der Konvention verstanden werden.134 Aus dem (in der deutschen Übersetzung verborgenen) Schuldbezug von Art. 7 („held guilty“/ „personne coupable“) und dem Sinnzusammenhang der Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit leitet der EGMR auch Anforderungen an die Ausgestaltung des materiellen Strafrechts ab: Es muss eine mentale Verbindung („mental link“) des Täters zur Tat bestehen, regelmäßig Vorsatz oder Fahrlässigkeit; rein objektive Bedingungen und Vermutungen dürfen die Strafbarkeit nur insoweit begründen, wie Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit des Rechts dem Täter gleichwohl ein gezieltes Vermeiden der Strafbarkeit ermöglichen.135 Zudem dürfen Strafen nur gegen Personen verhängt werden, deren eigene strafrechtliche Haftung zumindest implizit in einem Verfahren (nicht notwendig in einem Strafverfahren im Sinne von Art. 6 EMRK) auf einer Art. 7 EMRK genügenden, insbesondere also auch an diese Person gerichteten Rechtsgrundlage festgestellt wurde, was u.a. bzgl. juristischer Personen problematisch werden kann, solange das Strafrecht dem Prinzip „societas delinquere non potest“ folgt.136 9

cc) Analogieverbot. Weiterhin enthält Art. 7 Abs. 1 EMRK ein Analogieverbot. Dieses wird verstanden als Verbot einer extensiven Auslegung strafrechtlicher Normen zum Nachteil des Beschuldigten, durch welche die Strafbarkeit begründet wird.137 Hingegen wird das Analogieverbot nicht in dem Sinne verstanden, dass der Wortsinn die Grenze der zulässigen Auslegung bildet.138 Vielmehr soll es nach Auffassung des EGMR nur darauf ankommen, dass sich ein bestimmtes Verhalten ohne Willkür unter eine Vorschrift subsumieren lässt und der Bürger die rechtlichen Konsequenzen seines Verhaltens vorhersehen bzw. sein Verhalten am Recht ausrichten kann.139 Es wird also allein die individuelle Vorhersehbarkeit im konkreten Fall geschützt,140 und es werden nicht die durch Art. 103 Abs. 2 GG garantierten objektiven Grenzen garantiert (siehe dazu auch Rdn. 15).141

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dd) Rückwirkungsverbot und Lex mitior-Regel. Schließlich wird aus Art. 7 Abs. 1 EMRK ein Rückwirkungsverbot hergeleitet,142 das jedoch nicht vor einer Ausdehnung der Verjährungsfrist143 und auch nicht – im Rahmen der Strafbarkeit zur Tatzeit – vor einer Neufassung des Delikts144 schützt. Die trotz ihres Alters (§ 2 Entstehungsgeschichte) erst mit Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh ausdrücklich in Verfassungsrang erhobene Lex-mitior-Regel, das Rückwirkungsgebot für dem Beschuldigten günstige Rechtsänderungen, steht nicht ausdrücklich in Art. 7 EMRK und wurde vom EGMR ursprünglich nicht als von ihm garantiert anerkannt.145 Heute folgt der EGMR aber der Rechtsprechung des EuGH,146 der

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134 EGMR (GK) Del Río Prada/E, § 88; (GK) G.I.E.M. S.r.l. u.a./I, §§ 216, 244. 135 EGMR (GK) G.I.E.M. S.r.l. u.a./I, §§ 241–243. 136 EGMR Varvara/I, 29.10.2013, §§ 71 f, EGMR (GK) G.I.E.M. S.r.l. u.a./I, §§ 248–275. 137 EGMR Kokkinakis/GR, § 52; Cantoni/F, § 29. 138 Ambos KritV 2003 31, 41; Arnold/Karsten/Kreicker NJ 2001 561, 562. 139 EGMR Sunday Times Nr. 1/UK, § 49; dazu Ambos NJ 2003 31, 38 ff; EGMR Del Río Prada/E, 10.7.2012 (angegriffen vor der GK), § 46. 140 EGMR Custers, Deveaux und Turk/DK, §§ 91 ff. 141 Ambos NJ 2003 31, 41; Arnold/Karsten/Kreicker NJ 2001 561, 567; Kreicker S. 49 ff; aA Löwe/Rosenberg/Gollwitzer Art. 7 EMRK Rdn. 9. 142 EGMR Puhk/EST, §§ 32, 40. 143 EGMR Coëme u.a./B, § 149. 144 EGMR Rohlena/CZ, 27.1.2015, ECHR 2015 = NJW 2016 2793, §§ 54 ff. 145 EGMR G./F, § 25. 146 EuGH Slg. 2005 I-3565 Rdn. 66–69 (Berlusconi).

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diese Regelung der GRCh schon vor ihrem Inkrafttreten als ein fundamentales Prinzip des Strafrechts, beruhend auf einem Konsens der Vertragsstaaten, anerkannt hatte.147 ee) „Nürnberg-Klausel“. Außerdem genügt es nach der sog. „Nürnberg-Klausel“,148 11 wenn eine Straftat nach „allgemeinen von der Völkergemeinschaft anerkannten Rechtsgrundsätzen“, d.h. nach Völkergewohnheitsrecht, strafbar war.149 Diese Klausel, die Gewohnheitsrecht als strafbegründende Rechtsquelle genügen lässt, wurde von der Bundesrepublik Deutschland als bzgl. Art. 103 Abs. 2 GG problematisch angesehen und ein entsprechender Vorbehalt erklärt.150 Mit Wirkung zum 5. Oktober 2001 hat sie ihn zurückgezogen151 (vgl. ergänzend Rdn. 449, 451). b) Genfer Abkommen. Eine entsprechende Garantie wie in Art. 7 Abs. 1 EMRK fin- 12 det sich in Art. 99 Abs. 1 des Genfer Abkommens über die Behandlung der Kriegsgefangenen vom 12.8.1949.152 Die Anforderung ist dort sogar noch strenger formuliert: Die Handlung, derentwegen der Kriegsgefangene verfolgt oder verurteilt wird, muss zur Zeit ihrer Begehung ausdrücklich verboten („expressément réprimé“) gewesen sein. Eine ähnliche Garantie, insbesondere ein Rückwirkungsverbot, enthalten auch die Art. 65 und 67 des Genfer Abkommens vom 12.8.1949 zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten.153 Die Bundesrepublik Deutschland hat diese Verträge ratifiziert und sich damit zugleich zur völkerrechtlichen Geltung des Gesetzlichkeitsprinzips bekannt.154 c) Art. 11 Abs. 2 AEMR und Art. 15 IPBPR. Eine Bestätigung der weltweiten Aner- 13 kennung des „nullum crimen“-Satzes bedeutete die Aufnahme in Art. 11 Abs. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Generalversammlung der Vereinten Nationen (AEMR) vom 10.12.1948 und in Art. 15 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) vom 19.12.1966,155 dort ergänzt um den Vorrang des milderen Rechts (näher dazu § 2 Rdn. 228). Allerdings enthält Art. 15 Abs. 2 IPBPR eine wesentliche Einschränkung: Unter dem Einfluss des common law, das die Unterscheidung von Recht und Gesetz weniger strikt sieht und sich aus dem überlieferten Recht speist, genügt es im Völkerrecht, dass eine Straftat zur Zeit ihrer Regelung nach allgemeinen, von der Völkergemeinschaft anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar war (vgl. auch Rdn. 16).156 Dadurch entsteht die Gefahr, dass Machthaber infolge eingeschränkter Rückwirkungsverbote ohne großes Risiko über Menschenrechte verfügen können.157 Außerdem enthält Art. 15 Abs. 2 IPBPR eine der „Nürnberg-Klausel“ des Art. 7 Abs. 2 EMRK (Rdn. 11) vergleichbare Regelung.

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147 EGMR (GK) Scoppola Nr. 2/I, §§ 105 f, 109; dazu Bohlander StraFo 2011 169 ff. 148 Näher dazu Frowein/Peukert Art. 7 EMRK Rdn. 11; Löwe/Rosenberg/Gollwitzer Art. 7 EMRK Rdn. 10; Meyer-Goßner/Schmitt Art. 7 EMRK Rdn. 2; Pieroth VVDStRL 51 (1992) 91, 103 f. 149 Jäger SK Rdn. 1; Guradze Art. 7 EMRK Anm. 11. 150 Vgl. dazu den von der Bundesrepublik eingelegten Vorbehalt gegen Art. 7 Abs. 2 EMRK, BGBl. II 1954 S. 14. 151 Abrufbar über https://www.coe.int/en/web/conventions/search-on-reservations-and-declarations//conventions/declarations/search/cets (CETS 005, Complete chronology, Art. 7). 152 BGBl. II 1954 S. 838. 153 BGBl. II 1954 S. 917. 154 Näher dazu Jescheck/Weigend AT § 15 II 4; Krey Strafe S. 104 ff. 155 BGBl. II 1973 S. 1533. 156 Näher dazu Buchner S. 39 f, 237 ff, 274 ff; Lampe/Triffterer Deutsche Wiedervereinigung S. 131, 135 ff, 145 ff; Werle ZStW 109 (1997) 808 ff; s. auch Ambos StV 1997 39 ff. 157 Amelung JuS 1993 637, 642; Welke KritJ 28 (1995) 369, 370 f; zust. Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Rdn. 6.

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Das Verbot rückwirkender Strafgesetze wird in Art. 15 IPBPR ausdrücklich auch auf die Rechtsfolgen der Straftat bezogen und ist daher im Wortlaut weiter als Art. 103 Abs. 2 GG, der nur die gesetzliche Bestimmtheit der „Strafbarkeit“ fordert, jedoch auch auf die Rechtsfolgen angewandt wird (näher dazu Rdn. 223 ff).

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d) Bedeutung von Art. 103 Abs. 2 GG neben den internationalen Regelungen. Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 sind ihrerseits insofern weiter als Art. 7 EMRK und Art. 15 IPBPR, als geschriebenes Recht erforderlich ist, während in den internationalen Regelungen unter „Recht“ auch ungeschriebenes Recht verstanden wird.158 Insofern bleiben EMRK und IPBPR in ihrer Reichweite hinter Art. 103 Abs. 2 GG zurück.159 Außerdem enthält Art. 103 Abs. 2 GG eine „echte“ grundrechtliche Regelung (Rdn. 53) und kann im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden (Rdn. 71). Umgekehrt verwendet der EGMR zu Art. 7 EMRK ein stark auf individuelle Vorhersehbarkeit abstellendes Prüfprogramm (Rdn. 9). Um im Schutzumfang nicht dahinter zurückzufallen, darf auch Art. 103 Abs. 2 GG nicht als rein objektive, überindividuelle Garantie verstanden werden.

2. Völkerstrafrecht. Im Völkerrecht gelten im Vergleich zum binnenstaatlichen Strafrecht folgende Besonderheiten: Das Rückwirkungsverbot besagt, dass der Täter von seiner Bestrafung nicht überrascht werden darf. Dies ist der Fall, wenn die fragliche Tat einem völkerstrafrechtlichen Verbrechenstatbestand unterfiel, der zum Zeitpunkt der Tat im Völkerrecht Geltung beansprucht hat. Hinreichend bestimmte Straftatbestände des Völkerrechts müssen zumindest eine generelle Strafdrohung enthalten; es gilt also der Grundsatz „nulla poena sine lege“ (Rdn. 28). Auch im Völkerstrafrecht gilt das Verbot der analogen Anwendung von Straftatbeständen.160 Eine direkte Anwendung völkergewohnheitsrechtlich geltender Straftatbestände ist in Deutschland nicht möglich (Rdn. 11); Art. 103 Abs. 2 GG erfordert als Bestrafungsgrundlage ein geschriebenes Gesetz, das mit dem Völkerstrafgesetzbuch (VStGB; näher dazu Rdn. 32 ff) geschaffen wurde (und zuvor partiell in § 220a StGB enthalten war).161 Da Völkerstrafrecht, das eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Einzelnen be17 gründen soll,162 innerhalb unserer nationalen Rechtsordnung auf dem Weg über Tatbestände des Strafrechts der Bundesrepublik Deutschland (Rdn. 30 ff) von deutschen Gerichten durchgesetzt wird, gilt Art. 103 Abs. 2 GG auch hierfür:163 Die Tatbestände des VStGB müssen sich daher auch an den Vorgaben des Art. 103 Abs. 2 GG messen lassen.164

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a) Rechtslage vor Inkrafttreten des Rom-Statuts. Soweit allgemeine (gewohnheitsrechtlich oder in zwischenstaatlichen Vereinbarungen anerkannte) Regeln des

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158 EGMR (GK) Streletz, Kessler und Krenz/D, 22.3.2001, ECHR 2001-II = EuGRZ 2001 210 ff = NJW 2001 3035, §§ 57, 67; Ambos KritV 2003 31, 41; A. Peters/Altwicker EMRK § 23 Rdn. 4; Frowein/Peukert Art. 7 EMRK Rdn. 4; Löwe/Rosenberg/Gollwitzer Art. 7 EMRK Rdn. 9. 159 Ambos Internationales Strafrecht § 10 Rdn. 126; Grabenwarter EMRK § 24 Rdn. 128; Kadelbach Konkordanzkommentar Kap. 15 Rdn. 6 ff. 160 Näher dazu Ambos Internationales Strafrecht § 10 Rdn. 126; A. Peters/Altwicker EMRK § 23 Rdn. 6; M. Schmidt S. 446 ff; Triffterer S. 39, 126. 161 Vgl. nur Werle NJW 2001 3001, 3003. 162 Vgl. nur Dahm S. 12 f, 14 f. 163 Vgl. Dahm S. 54, 69. 164 Hollweg JZ 1993 985; Ambos FS Eser 671; M. Schmidt S. 43; Tomuschat Q 60.

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Völkerrechts über das nationale Strafrecht hinaus Straftatbestände enthalten haben,165 konnten Letztere – im Zweifelsfall nach ihrer Feststellung durch das Bundesverfassungsgericht (Art. 100 Abs. 2 GG) – gemäß Art. 25 GG als Bestandteil des Bundesrechts zwar formal § 1 verdrängen, wenn sie dessen Anforderungen nicht genügten. Materiell waren sie dazu aber nicht in der Lage, weil allgemeine Regeln des Völkerrechts, die nach Art. 25 GG Bundesrecht sind, keinen Verfassungsrang haben166 und deshalb ihrerseits dem (mit § 1 inhaltsgleichen) Art. 103 Abs. 2 GG weichen mussten.167 Das Völkerrecht selbst bot dem Beschuldigten vor Inkrafttreten des IStGH-Statuts 19 (dazu Rdn. 21 ff) nicht die gleichen Garantien wie die deutschen Vorschriften.168 Denn es war zweifelhaft, ob der Grundsatz „Keine Strafe ohne Gesetz“ zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts gehörte. In den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen nach 1945 ging man über ihn hinweg; und auch im Schrifttum wurde seine völkerrechtliche Geltung mit der Begründung bezweifelt, dass für seine Anwendung nur in Rechtsordnungen Raum sei, die – anders als das sich stetig fortentwickelnde Völkerrecht – im Wesentlichen kodifiziert und in sich geschlossen sind.169 Inzwischen ist die gewohnheitsrechtliche Geltung des Satzes „nullum crimen, nulla poena sine lege“ anerkannt.170 Insbesondere wird hieraus hergeleitet, dass das verbotene Verhalten so klar wie möglich geregelt sein muss; allerdings bleiben die Anforderungen an die Bestimmtheit hinter den nationalen Standards zurück.171 Weiterhin werden das Analogieverbot und das Rückwirkungsverbot anerkannt,172 ohne dass sich ein striktes Rückwirkungsverbot durchgesetzt hätte. Schließlich wird der Grundsatz auf Sanktionen erstreckt;173 allerdings ist auch hier das internationale Recht weniger restriktiv als das deutsche System.174 Der Grundsatz „nullum crimen sine lege“ spielte nach den Nürnberger Prozessen 20 eine Rolle für den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien und den Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda. Beide haben mehrfach die Geltung dieses Prinzips bestätigt.175 b) IStGH-Statut (Rom-Statut). Zur Verfolgung von Völkermord, Verbrechen gegen 21 die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen entwickelt sich derzeit eine internationale Strafgerichtsbarkeit. In dem auf einer internationalen Konferenz der Vereinten Nationen am 17.7.1998 beschlossenen und am 1.7.2002 in Kraft getretenen Statut von Rom haben sich die Staaten über die Errichtung eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) verständigt. Deutschland hat dieses Statut ratifiziert, und der deutsche Gesetzgeber hat die innerstaatliche Strafbarkeit der in die Zuständigkeit des IStGH fallenden Verbrechen im VStGB gesondert geregelt. Im IStGH-Statut findet sich der Grundsatz

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165 Vgl. Dahm S. 54 f, 70. 166 Maunz/Dürig/Maunz Art. 25 Rdn. 23. 167 Dahm S. 70 f. 168 Näher dazu Satzger JuS 2004 943, 944 f; Werle Principles Rdn. 96 ff; jeweils m.w.N. 169 Dahm S. 56, 58, 63 ff, 70; ders./Delbrück/Wolfrum § 191 S. 1033. 170 Bassiouni Introduction S. 198 ff; Triffterer/Broomhall Art. 22 Rome Statute Rdn. 15; Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 177 ff; Jescheck JICJ 1 (2004) 38, 40 ff; Kudlich/Montiel/Schuhr/Gallant S. 281, 285 ff; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 27; Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 6; eingehend Kreß MPEIPL; teilweise wird hierin auch ein allgemeiner Rechtsgrundsatz gesehen; vgl. dazu die Nachw. bei Werle Principles Rdn. 91 Fn. 172. 171 Werle Principles Rdn. 91. 172 Näher dazu Cassese International Criminal Law S. 43 ff; König S. 186 ff. 173 Werle Principles Rdn. 91; aA Cassese International Criminal Law S. 51 f. 174 Jescheck/Weigend AT § 15 III 4. 175 Nachw. dazu bei Werle Principles Rdn. 92 Fn. 177, 178.

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„nullum crimen, nulla poena sine lege“ als allgemeiner strafrechtlicher Grundsatz in Art. 22 und 24.176 22

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Art. 22 (nullum crimen sine lege) lautet: (1) Eine Person ist nur dann nach diesem Statut strafrechtlich verantwortlich, wenn das fragliche Verhalten zurzeit der Tat den Tatbestand eines der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegenden Verbrechens erfüllt. (2) Die Begriffsbestimmung eines Verbrechens ist eng auszulegen und darf nicht durch Analogie erweitert werden. Im Zweifelsfall ist die Begriffsbestimmung zugunsten der Person auszulegen, gegen die sich die Ermittlungen, die Strafverfolgung oder das Urteil richten. (3) Dieser Artikel bedeutet nicht, dass ein Verhalten nicht unabhängig von diesem Statut als nach dem Völkerrecht strafbar beurteilt werden kann. Art. 23 (nulla poena sine lege) lautet: Eine vom Gerichtshof für schuldig erklärte Person darf nur nach Maßgabe dieses Statuts bestraft werden.

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Art. 24 (Rückwirkungsverbot ratione personae) lautet: (1) Niemand ist nach diesem Statut für ein Verhalten strafrechtlich verantwortlich, das vor Inkrafttreten des Statuts stattgefunden hat. (2) Ändert sich das auf einen bestimmten Fall anwendbare Recht vor dem Ergebnis des rechtskräftigen Urteils, so ist das für die Person, gegen die sich die Ermittlungen, die Strafverfolgung oder das Urteil richten, mildere Recht anzuwenden.

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Der Grundsatz „nullum crimen sine lege“ wird damit in seinen vier Ausprägungen anerkannt. Zwar beziehen die Vorschriften sich ausdrücklich nur auf den Geltungsbereich des Statuts und damit die Strafgewalt des IStGH, doch sie führen dort Teil 3, „Allgemeine Grundsätze des Strafrechts“, an, weshalb man ihnen zugleich eine allgemeine, das Völkerstrafrecht betreffende Rechtsüberzeugung der Vertragsstaaten und damit auch jenseits der Verbindlichkeit des Statuts eine prägende Wirkung zusprechen können wird. In diesem Sinne verlangt das Völkerstrafecht heute eine völkerrechtliche lex scripta, praevia, certa et stricta.177 Außerdem gilt gemäß Art. 24 Abs. 2 IStGH-Statut das Milderungsgebot.

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aa) Gesetzlichkeitsprinzip und Bestimmtheitsgrundsatz. Eine Person darf nach Art. 22 Abs. 1 IStGH-Statut nur für Taten bestraft werden, die nach dem Statut zum Tatzeitpunkt strafbar waren (lex scripta). Da der Gerichtshof jedoch nach Art. 11 IStGHStatut nur für Verbrechen zuständig ist, die nach dem Statut strafbar sind, muss der Verbrechenstatbestand im Statut enthalten sein. Der Bestimmtheitsgrundsatz erfordert, dass das in Frage stehende Täterverhalten in den – zumindest nach völkerstrafrechtlichem Maßstab hinreichend bestimmbaren – Anwendungsbereich eines völkerrechtlichen

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176 Zur Entstehungsgeschichte Lamb in Cassese/Gaeta/J.R.W.D. Jones The Rome Statute of the International Criminal Court S. 734, 746 ff. 177 Näher dazu Ambos Internationales Strafrecht § 7 Rdn. 8; Jescheck JICJ 1 (2004) 38, 40 ff; König S. 185 ff; Montovani JICJ 1 (2003) 26, 29 ff; Shahabuddeen JICJ 2 (2004) 1007 ff; May S. 207 ff; Weigend AIDP 2004 319, 323 f.

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Straftatbestandes fällt. Dabei enthält das IStGH-Statut schon selbst etliche weitere allgemeine Bestimmungen über die Struktur der Verbrechen (sozusagen einen „Allgemeinen Teil“). Zudem schafft es eine eigene Kompetenzordnung (sodass es nicht der Einstimmigkeit aller Vertragsstaaten bedarf) für den Erlass von Vorschriften, welche die Auslegung der Verbrechenstatbestände durch den IStGH leiten und diese so konkretisieren sollen („Verbrechenselemente“, Art. 9), für eine Verfahrens- und Beweisordnung (Art. 51) sowie für eine Geschäftsordnung des Gerichtshofs (Art. 52). Ferner sieht das Statut die Konkretisierung seiner und anderer rechtlicher Regeln durch die Rechtsprechung (ohne strikte Bindungswirkung) vor (Art. 21 Abs. 2). Das IStGH-Statut ist also in vielerlei Hinsicht auf eine tatsächliche Verwirklichung des Gesetzlichkeitsprinzips ausgerichtet. bb) Gebot der restriktiven Auslegung und Analogieverbot. Art. 22 Abs. 2 S. 1 27 IStGH-Statut enthält ein Gebot restriktiver Auslegung und verbietet, einen bestehenden Straftatbestand zum Nachteil des Täters durch einen Analogieschluss auf ähnliche Fälle auszuweiten, um ein Verhalten, das nicht durch einen völkerstrafrechtlichen Verbrechenstatbestand erfasst wird, für strafbar zu erklären. Weitergehend ist in Zweifelsfällen die dem Beschuldigten jeweils günstigere Auslegung zu wählen (Art. 22 Abs. 2 S. 2 IStGHStatut).178 Damit geht das IStGH-Statut weiter als das deutsche Recht: Zum einen enthält das positive deutsche Recht keine Vorschrift, die eine restriktive Auslegung gebieten würde, und große Teile zumindest der älteren Rechtsprechung und Literatur verneinen eine solche; zum anderen wird im nationalen Recht der Zweifelssatz weitgehend auf Tatsachenfragen beschränkt (näher dazu Rdn. 195, 291 ff). cc) Rückwirkungsverbot. Weiterhin gilt ein strenges Rückwirkungsverbot: Der völ- 28 kerstrafrechtliche Verbrechenstatbestand muss bereits zum Zeitpunkt der Tat im Völkerrecht Geltung beansprucht haben. Zwar können völkergewohnheitsrechtlich anerkannte Verbrechenstatbestände, die schon vor dem Inkrafttreten des IStGH-Statuts existiert haben, strafbarkeitsbegründend sein; sie dürfen jedoch vom IStGH nicht angewendet werden.179 Das IStGH-Statut beschränkt die Strafgewalt des IStGH nämlich in Art. 24 Abs. 1 ausdrücklich auf Straftaten ab seinem Inkrafttreten. dd) Nulla poena sine lege. Schließlich gilt im Völkerstrafrecht, wie auch Art. 23 29 IStGH-Statut zeigt, der Grundsatz „nulla poena sine lege“ (dazu bereits Rdn. 26).180 Bezüglich der Strafdrohung dürfen – mit Blick auf die Natur der Verbrechen, aber auch die oft außergewöhnlichen Umstände ihrer Begehung einsichtig – an die Bestimmtheit keine überhöhten Anforderungen gestellt werden. Art. 77 IStGH-Statut enthält nur sehr weite Strafrahmen, der in den allgemeinen Tatbeständen nicht weiter präzisiert werden. Einige Regelungen zur Strafzumessung sind aber in Art. 76, 78 sowie in der Verfahrens- und Beweisordnung enthalten.

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178 Näher dazu Ambos Internationales Strafrecht § 7 Rdn. 8 m.w.N. 179 Ambos Internationales Strafrecht § 7 Rdn. 8; Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht § 15 Rdn. 13. 180 Ambos Internationales Strafrecht § 7 Rdn. 8; Bassiouni Crimes S. 123 ff, 144; Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht § 15 Rdn. 14; Triffterer FS Eser 901, 902 ff; ders. in Hankel/Stuby Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen S. 218 f; Werle Principles Rdn. 89; aA Cassese International Criminal Law S. 51 f.

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c) Völkerstrafgesetzbuch. Um den nationalen Gerichten zu ermöglichen, die völkerrechtlichen Verbrechen, wie sie im IStGH-Statut niedergelegt sind, zu bestrafen, wurde das deutsche Strafrecht durch das Völkerstrafgesetzbuch 181 ergänzt, das am 30.6.2002 in Kraft getreten ist. In diesem Gesetz werden die Straftatbestände des RomStatuts ausformuliert und in die Systematik des deutschen Strafrechts eingepasst. Diese Regelungen sind auch von praktischer Bedeutung, da der IStGH nur eine 31 subsidiäre Zuständigkeit besitzt. In erster Linie sollen nach dem IStGH-Statut die Staaten selbst auch völkerrechtliche Verbrechen nach ihrem Strafrecht durch ihre eigenen nationalen Gerichte aburteilen. Der IStGH übt seine Gerichtsbarkeit nur aus, wenn ein Staat, der eigentlich zur Aburteilung durch seine nationalen Gerichte zuständig wäre, insbesondere weil das völkerrechtliche Verbrechen auf seinem Staatsgebiet begangen worden ist, „nicht willens oder nicht in der Lage ist“ (Art. 17 IStGH-Statut), eine solche Strafverfolgung durchzuführen. Über § 2 VStGB ist auch in seinem Geltungsbereich § 1 StGB anwendbar. Zudem gilt bei 32 in deutsches Recht transformierten völkerrechtlichen Verträgen die verfassungsrechtliche Vorschrift des Art. 103 Abs. 2 GG als höherrangiges Recht.182 Dies hat zur Folge, dass gegen die unbestimmten Generalklauseln und ausfüllungsbedürftigen Tatbestandsmerkmale sowie gegen Verweisungen auf Gewohnheitsrecht unter dem Gesichtspunkt des Bestimmtheitsgrundsatzes und des Gebots der lex scripta, das einer gewohnheitsrechtlich begründeten Strafbarkeit entgegensteht (Rdn. 169 ff), verfassungsrechtliche Bedenken bestehen.183 Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die „völkerrechtsfreundliche Tendenz“ des Grundgesetzes, die aus der Präambel des Grundgesetzes und den Bestimmungen der Art. 24 bis 26 GG und Art. 1 Abs. 2, 9 Abs. 2 GG hergeleitet wird,184 mit dem Grundsatz „nullum crimen sine lege“ im Wege der praktischen Konkordanz in Ausgleich zu bringen ist. Zudem geht es in den Grenzfällen dieser Verbrechen kaum je um die Abgrenzung noch erlaubten Verhaltens von verbotenem, meist nicht einmal um die Grenzen der Strafbarkeit (nach nationalem Recht), sondern nur um die Grenzen des besonderen Delikts und dessen Strafdrohung, also ein graduell weniger einschneidendes Bestimmtheitsproblem. Schließlich betreffen die Delikte regelmäßig Extremsituationen, die besonders schwierig allgemein zu erfassen sind, und zu denen vergleichsweise wenig Rechtsprechung ergeht. Entsprechend geringer ist der Grad der zu erwartenden Bestimmtheit.185 Insbesondere soweit es sich um „Expertenstrafrecht“186 handelt, wie dies bei den Kriegsverbrechen der Fall ist,187 ist eine solche Relativierung der Anforderungen an das Gesetzlichkeitsprinzip vertretbar, da ansonsten die Strafbarkeit nur durch den IStGH durchgesetzt werden könnte, was wiederum der Intention des IStGH-Statuts widerspräche, wonach die Staaten völkerrechtliche Verbrechen durch ihre eigenen nationalen Gerichte aburteilen sollen (Rdn. 31). Hingegen können völkergewohnheitsrechtlich geltende Straftatbestände auch nicht über die völkerrechtsfreundliche Auslegung direkt angewendet werden.188

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181 BGBl. I 2002 2254. 182 Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 29 f m.w.N. 183 Näher dazu Satzger NStZ 2002 127 ff; ders. JuS 2004 943, 946. Monographisch dazu Kuhli (2010); Darge (2010); speziell zum Tatbestand der Verfolgung (§ 7 VStGB) Erne (2016). 184 BVerfGE 31 58, 75; eingehend dazu Kreicker in Eser/Kreicker Bd. 1 S. 82, 83 ff. 185 So zutreffend Satzger JuS 2004 943, 946; vgl. auch ders. NStZ 2002 127, 130. 186 Näher dazu Satzger Europäisierung S. 242 ff m.w.N. 187 Werle/Jeßberger JZ 2002 730. 188 Werle NJW 2001 3001, 3003.

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3. Europäisches Strafrecht. Die strafrechtlichen Konventionen des Europarats 33 können schon wegen Art. 7 EMRK (Rdn. 6 ff) jeweils die Geltung des Grundsatzes „nullum crimen sine lege“ unterstellen. Im Straf- bzw. Sanktionsrecht der Europäischen Union (EU) gilt Art. 7 EMRK ebenfalls.189 Dieses Rechtsgebiet hat sich recht dynamisch entwickelt. Von Beginn an kannte das Unionsrecht (Gemeinschaftsrecht) Sanktionsnormen mit strafendem Charakter, namentlich Bußgeldtatbestände des Kartellrechts. Zudem geht der Europäische Gerichtshof (EuGH) von einer allgemeinen (Annex-)Kompetenz zum Erlass von Sanktionsnormen aus, soweit diese im Rahmen von Regelungen gesetzt werden, für welche die EU unmittelbar zuständig ist, wenn die Sanktionsbewehrung erforderlich ist, um diesen Regeln volle Wirksamkeit zu verleihen.190 Die mit dem Vertrag von Maastricht begonnene justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen führte seit dem Vertrag von Amsterdam zu Rahmenbeschlüssen, in denen Mindestvorschriften für Tatbestandsmerkmale und Strafen in besonderen Bereichen des Kriminalstrafrechts festgelegt werden konnten, während die Kompetenz zum Erlass der Strafgesetze selbst bei den Mitgliedstaaten verblieb,191 und zwar allein dort.192 Seit dem Vertrag von Lissabon kommt es nun zwar in Betracht, eine Kompetenz der Union zur Setzung unmittelbar geltenden Kriminalstrafrechts für den Spezialbereich der Schutzes ihrer eigenen finanziellen Interessen auf Art. 325 Abs. 4 AEUV zu stützen,193 und auch über weitere Annexkompetenzen hierzu wird diskutiert.194 Die tatsächlichen Gesetzgebungsaktivitäten der EU konzentrieren sich indes zumindest bislang auf eine Ausübung der in Art. 83 AEUV enthaltenen strafrechtlichen Kompetenzen. Danach können– statt der früheren Rahmenbeschlüssen – Richtlinien mit Mindestvorschriften zu bestimmten (erweiterbaren) Kriminalitätsbereichen (Art 83 Abs. 1 AEUV) erlassen werden, und es besteht eine ausdrückliche Regelung der Annexkompetenz (Art 83 Abs. 2 AEUV).195 Für das Gesetzgebungsverfahren der Union für Richtlinien nach Art. 83 AEUV sieht dessen Abs. 3 einen „Notbremsmechanismus“ vor (ähnlich zum Prozessrecht Art. 82 AEUV). Damit ist es auch nach bestehender Rechtslage so, dass die Union über keine allgemeine Strafrechtskompetenz verfügt. Sie besitzt in besonderen Kompetenzbereichen die Befugnis zum Erlass von Mindestvorschriften, denen die einzelnen Staaten sich aber (im Falle der Beeinträchtigung

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189 Ausführlich zu seiner Entwicklung Schuhr in Kudlich/Montiel/Schuhr S. 255 ff. Siehe auch Ambos Internationales Strafrecht § 10 Rdn. 126 ff; Dannecker in Schünemann/Suárez González Wirtschaftsstrafrecht S. 331, 344 ff; ders. ZStW 117 (2005) 697, 736 ff; Hecker Europäisches Strafrecht Kap. 1 Rdn. 21, Kap. 4 Rdn. 48 m.w.N.; Satzger Europäisierung S. 177 ff; Gaede AnwK Rdn. 3; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 500 ff. 190 EuGH Slg. 2005 I-7879 Rdn. 48 (Kommission/Rat, Sanktionen im Umweltrecht); dazu u.a. Heger JZ 2006 310 und Böse GA 2006 211; EuGH Slg. 2007 I-9097 Rdn. 54 ff (Kommission/Rat, Verschmutzung durch Schiffe); dazu u.a. F. Zimmermann NStZ 2008 662 ff und Eisele JZ 2008 251; Safferling Internationales Strafrecht § 10 Rn. 41 ff. 191 BGHSt 25 190, 193 f; Böse S. 54 ff; Dannecker FG-Wiss. 50 J. BGH Bd. IV 339, 346 ff; ders. ZStW 117 (2005) 697, 723; ders. Jura 2005 95, 96; Deutscher S. 335 ff; Fromm S. 36 ff; Satzger Europäisierung S. 90 ff; Sieber ZStW 103 (1991) 957, 963; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 108 und 491, jeweils m.w.N. 192 EuGH Slg. 2005 I-7879 (Kommission/Rat, Sanktionen im Umweltrecht). Allerdings bejahte der EuGH in dieser Entscheidung eine Annexkompetenz hinsichtlich der bereits nach dem (damaligen) EG-Vertrag bestehenden Kompetenzen der Gemeinschaft mit der Folge, dass mittels EG-Richtlinien verbindliche Vorgaben für das Strafrecht getroffen werden dürfen; vgl. dazu Böse GA 2006 211 ff; Braum wistra 2006 121 ff; Hefendehl ZIS 2006 161 ff; Heger JZ 2006 310 ff; Streinz JuS 2006 164 ff; Wegener/Greenawalt ZUR 2005 585 ff. 193 Vgl. Hecker Europäisches Strafrecht Kap. 1 Rdn. 7, 34, Kap. 4 Rdn. 81 ff, Kap. 8 Rdn. 44 und Kap. 14 Rdn. 53 f. 194 Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht, § 8 Rdn. 24 ff, § 9 Rdn. 51 ff; dagegen etwa Hecker Europäisches Strafrecht Kap. 8, insb. Rdn. 55. 195 Zum Erfordernis einer einschränkenden Auslegung BVerfGE 123, 358 ff (Rdn. 249 ff), 406 ff (Rdn. 352 ff), 430 f (Rdn. 400) (Lissabon).

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grundlegender Aspekte ihrer Strafrechtsordnung) im Gesetzgebungsverfahren entziehen könnten. Die Kompetenz zur Umsetzung dieser Vorgaben und damit die letztliche Strafgesetzgebung verbleibt weiterhin bei den Mitgliedstaaten. Unter unterschiedlichen Bezeichnungen und mit unterschiedlichem Fokus196 erkennt der EuGH den Grundsatz „nullum crimen sine lege certa“ schon lange an.197 Er sieht in ihm einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts (bzw. Gemeinschaftsrechts)198 und bezieht sich dabei insbesondere auf die Inhalte des Art. 7 Abs. 1 EMRK.199 Dies hat schon deshalb weiterhin seine Berechtigung, weil nach Art. 6 Abs. 3 EUV die Grundrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und zudem auch die sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts ergebenden Grundrechte zu achten sind. Hierzu gehört auch der Grundsatz „nullum crimen sine lege“ (Rdn. 43 ff). Dieser Grundsatz enthält als Einzelprinzipien das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage (Rdn. 34), das Bestimmtheitsgebot (Rdn. 35 ff), das Analogieverbot (Rdn. 38) und das Rückwirkungsverbot (Rdn. 39). Er bezieht sich im Unionsrecht auf alle Sanktionsnormen mit strafrechtlichem Charakter,200 nicht aber auf Verfahrensrecht.201 Heute wird der Grundsatz bereits in Art. 49 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) verbürgt (Rdn. 40), ohne dass damit eine inhaltliche Änderung verbunden gewesen wäre. Außerhalb des Anwendungsbereichs dieses Grundsatzes prüft der EuGH am Maßstab des Grundsatzes der Rechtssicherheit,202 als dessen speziellere Ausprägung er den strafrechtlichen Grundsatz versteht. 34

a) Gesetzlichkeitsprinzip. Erste Ausprägung des Grundsatzes „nullum crimen, nulla poena sine lege“ ist das Gesetzlichkeitsprinzip. Nur der demokratisch legitimierte Gesetzgeber ist berechtigt, Strafgesetze zu erlassen, und er muss den wesentlichen Inhalt der Verhaltensregel und der Sanktionsnorm ins Gesetz schreiben oder dort zumindest in Bezug nehmen. Auf diese Anforderungen bezieht sich auch der EuGH und richtet sie implizit an schriftlichen Gesetzen aus, ohne dass das Unionsrecht bereits ein explizites Schriftlichkeitsgebot enthalten würde.203 Wohl nicht zuletzt der Kompetenzzuordnung für den Erlass der in Fällen letztlich anwendbaren Sanktionsnormen wegen, die meist nationales Recht sind (Rdn. 33), nimmt der EuGH die Gesetzgebungsseite bislang kaum in den Blick, sondern behandelt vor allem die Rechtsanwendung. Dies hat sich auch in seiner Sprechweise niedergeschlagen: Statt von Gesetzlichkeit ist meist die Rede vom „Grundsatz der Gesetzmäßigkeit“,204 und diese Bezeichnung greift auch Art. 49 GRCh auf.

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196 Schuhr in Kudlich/Montiel/Schuhr S. 255, 262 ff. 197 EuGH Slg. 1979 461 Rdn. 128 (Überschrift) und 130 (Hoffmann-La Roche). 198 Vgl. EuGH Slg. 1984 3291 (Könecke); EuGH Slg. 1981 1931 (Gondrand Frère); EuGH Slg. 1996 I-6609 Rdn. 25 (X); EuGH Slg. 2005 I-5425 Rdn. 215–219 (Dansk Rørindustri); EuGH Slg. 2007 I-3633 Rdn. 49 (Advocaten voor de Wereld); EuGH Slg. 2008 I-81 Rdn. 38 (Evonik Degussa); Satzger Europäisierung S. 177 f; Braum wistra 2007 401 ff; Tinkl ZIS 2007 419 ff. 199 EuGH Slg. 1984 2689, 2718 (Regina/Kirk); EuGH Slg. 1996 6609, 6637 (Telecom Italia). 200 EuGH Slg. 2002 I-6453 Rdn. 35 f (Käserei Champignon Hofmeister). Dazu Mylonopoulos ZStW 121 (2009) 68, 69 ff. 201 EuGH Slg. 2005 I-5309 Rdn. 46 (Pupino). 202 EuGH Slg. 1981 1931 Rdn. 17 (Gondrand Frères); EuGH Slg. 2003 I-5121 Rdn. 89 (Prosciutto di Parma). 203 Vgl. EuGH Slg. 2008 I-81 Rdn. 39 f und 44 (Evonik Degussa). 204 So bereits die deutsche Übersetzung von „het wettigheidsbeginsel“ in EuGH Slg. 1984 1195 Rdn. 9 (Estel-1) und zahlreiche folgende Übersetzungen; originär Deutsch in EuGH Slg. 2008 I-81 Rdn. 38 (Evonik Degussa).

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b) Bestimmtheitsgrundsatz. Das Bestimmtheitsgebot erfordert, dass der Gesetzge- 35 ber die Strafrechtssätze bestimmt fassen muss, weil nur so erreicht werden kann, dass die Adressaten die Regeln zu befolgen vermögen und der Gesetzgeber, nicht der Rechtsanwender über die Grenzen der Strafbarkeit entscheidet.205 Der EuGH führt aus, dass der Grundsatz der gesetzlichen Bestimmtheit strafbarer Handlungen und Strafen es verbiete, die Strafverfolgung wegen eines Verhaltens einzuleiten, dessen Strafbarkeit sich nicht eindeutig aus dem Gesetz ergibt.206 Eine Verweisung auf außerstrafrechtliche Regelungen ist folglich erst dann unwirksam, wenn sie unklar ist und auslegungsbedürftig zu werden beginnt.207 Dadurch soll die Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit für den Bürger garantiert werden. Diese Garantie muss sich auch auf blankettausfüllendes Unionsrecht beziehen. Der EuGH akzeptiert auch recht weite Ermessensspielräume, hat dazu aber zumindest im besonderen Fall ein eigenes, an die Exekutive gerichtetes Präzisierungsgebot entwickelt. Die für die Sanktionierung von Wettbewerbsverstößen bzgl. Stahl-Erzeugerquoten zuständige Kommission wurde im Estel-Verfahren verpflichtet, ihre Auslegung mehrdeutiger Bestimmungen sowie Leitlinien für die Ausübung ihres Ermessens bei Sanktionsentscheidungen zu formulieren und von sich aus den Adressaten (Unternehmen) zu Beginn der jeweils zu beurteilenden Quartale mitzuteilen; in Ermangelung einer solchen Mitteilung ging der EuGH von der den Beschuldigten günstigsten Auslegung aus.208 Der EuGH prüft im Wesentlichen am Maßstab der Vorhersehbarkeit. Diesen versteht 36 er indes nicht immer objektiv, sondern prüft ggf. individuelle Kenntnis, und wenn eine solche zu verneinen ist, individuelles Kennen-Können und Kennen-Müssen,209 also eher Rechtsfahrlässigkeit auf Seiten des Adressaten als objektive Gesetzlichkeit und Bestimmtheit. Der EuGH geht ferner davon aus, dass unionsrechtliche Normen grundsätzlich gleich auszulegen sind, sei es im Rahmen eines außerstrafrechtlichen Verfahrens oder im Rahmen des Strafrechts, wenn dieses auf außerstrafrechtliche Regeln des Unionsrechts Bezug nimmt.210 Es darf bei der Auslegung nicht danach unterschieden werden, so der EuGH im Urteil „Roeser“,211 „ob das innerstaatliche Verfahren, in dem der Vorabentscheidungsantrag gestellt worden ist, ein Strafverfahren oder ein anderes Verfahren“ ist. Der Gerichtshof stellt für das Strafrecht also keine erhöhten Anforderungen.212 Demgegenüber hatte die Kommission gegen die vom EuGH favorisierte Auslegung vorgebracht, die zu beurteilende Regelung enthalte eine Lücke: „Im Hinblick auf die strengen Bestimmtheitsanforderungen, die an Strafvorschriften zu stellen sind, darf die gemeinschaftsrechtliche Vorschrift nicht extensiv oder sogar gegen ihren Wortlaut ausgelegt werden.“213 Damit wird das Verbot der strafbegründenden oder -schärfenden Analogie bzw. das Gebot der „strikten Auslegung“ strafbegründender oder -schärfender Strafrechtssätze von der Kommission zutreffend auch auf die blankettausfüllende Norm bezogen (zur nationalen Rechtslage s. Rdn. 257). Auch nach einer Vorabentscheidung durch den EuGH muss indes das nationale Strafgericht prüfen, ob eine Anwendung der Strafvorschriften entsprechend der (erst nach der Tat erfolgten) Präzisierung durch den

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205 206 207 208 209 210 211 212 213

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Hammer-Strnad S. 71 f; Satzger Europäisierung S. 544; C. Schröder S. 33, 386; Geiger S. 55 ff. EuGH Slg. 1996 6689, 6637 (Telecom Italia). Tiedemann FS Roxin 1401, 1405; vgl. auch Hecker Europäisches Strafrecht Kap. 7 Rdn. 79 ff. EuGH Slg. 1984 1195 Rdn. 15 sowie Rdn. 32 i.V.m. 4 (Estel-1). So sehr deutlich in EuGH Slg. 1984 2195 Rdn. 35 f (Estel-2). EuGH Slg. 1986 805 ff (Gemeinsame Marktorganisation für Wein). EuGH Slg. 1986 795 (Roeser); dazu Hilf/Willms EuGRZ 1987 176, 185 f. EuGH Slg. 1986 795, 806 (Roeser). Kommission in EuGH Slg. 1986 795, 797 (Roeser).

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EuGH sich im Rahmen des Gesetzlichkeitsprinzips bewegt und verneinendenfalls erweiternde Vorgaben durch den EuGH zunächst noch unangewendet lassen (Rdn. 349).214 Im Ergebnis anerkennt der EuGH zwar den Grundsatz „nullum crimen, nulla poena 37 sine lege“. Bei der Auslegung der einzelnen Ausprägungen bleibt er aber deutlich hinter dem Standard zurück, der in Deutschland gilt.215 Zwar bestehen nach Auffassung des EuGH unionsrechtlicher und nationaler Grundrechtsschutz parallel zueinander, jedoch wird der nationale Grundrechtsschutz von ihm im Interesse der effektiven Durchsetzung des Unionsrechts immer wieder (in fragwürdiger Weise) letztlich doch auf den unionsrechtlichen Grundrechtsschutz begrenzt.216 38

c) Analogieverbot. Eine Konkretisierung des Gesetzlichkeitsprinzips, die in Deutschland bisweilen sogar als Bezeichnung pars pro toto mit diesem gleichgesetzt wird, ist das Verbot der den Täter belastenden Analogie. Hiernach ist es unzulässig, den Rechtsgedanken von Normen auf vom Gesetzeswortlaut nicht mehr gedeckte Sachverhalte anzuwenden. Der EuGH benennt das Analogieverbot zwar nicht als solches und formt es nicht als selbständige Konkretisierung aus, erkennt den Grundsatz aber an.217 In allgemeinerer Form verwendet er ihn als Folge des Gebots der Rechtssicherheit auch außerhalb sanktionsrechtlicher Bezüge.218 Zulässig ist, soweit es um die Begründung einer Strafbarkeit oder Sanktion geht, nur eine Auslegung innerhalb des Wortlauts der einschlägigen Rechtsnormen. Die Grenze des möglichen Wortsinns darf nicht überschritten werden.219

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d) Rückwirkungsverbot. Der EuGH hat bereits im „Bosch“-Urteil festgestellt, dass das Rückwirkungsverbot als elementare Ausprägung des Gesetzlichkeitsprinzips im Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht Geltung beansprucht.220 Aus diesem Grund wendet der Gerichtshof z.B. das europäische Kartellordnungswidrigkeitenrecht erst ab dem Zeitpunkt des Beitritts eines Mitgliedstaates auf wettbewerbswidrige Praktiken der Unternehmen an.221 So stellte er im Verfahren „Tepea/Watts“ darauf ab, dass die zwischen einem englischen und einem niederländischen Unternehmen seit Mitte der fünfziger Jahre praktizierte Marktaufteilung erst seit dem 1. Juni 1973 – dem Beitritt Großbritan-

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214 Vgl. dazu, die Anwendbarkeit im Fall aber zu Recht bejahend, BGHSt 63, 29 Rdn. 52 ff zu EuGH NZWiSt 2017 181. 215 Dannecker ZStW 117 (2005) 697, 737 ff; Bülte BB 2016 3075, 3077. 216 EuGH C-617/10 NJW 2013 1415 (Åkerberg-Fransson) und C-399/11 NJW 2013 1215 (Melloni); eingehend dazu Dannecker FS Fuchs 111 ff; ders. in: Ambos/Bock 115 ff. Zur Rechtslage vor dem Vertrag von Lissabon grundlegend EuGH Slg. 1964 1251 (Costa/Enel) sowie bereits EuGH Slg. 1963 1 (Van Gend & Loos), Dannecker ZStW 117 (2005) 697, 739 m.w.N.; Vogel ZStW 109 (1997) 335, 349. 217 EuGH Slg. 1984 3291 Rdn. 11 (Könecke). Eingehend dazu Bacigalupo in Commmission Européenne (ed.) Etude Comparative des Dispositions Législatives, Reglementaires et Administratives des Etats Membres relatives aux Agissement Frauduleux Commis au Préjudice du Buget Communautaire, o.J. S. 15 f. Siehe auch Grasso S. 97; Tiedemann FS Jescheck 1411, 1427; siehe hierzu auch Papakiriakou S. 22 ff. 218 EuGH Slg. 1993 I-3283 Rdn. 26 (FR/Kom.). 219 Eingehend zur konkreten Bedeutung dieser Forderung und den Auswirkungen der zahlreichen Sprachfassungen der Vorschriften Greco GA 2016 138 ff, 195 ff. Krit. zum Wortlautkriterium im Hinblick auf die verschiedenen jeweils gültigen Sprachfassungen Engels S. 69 f. 220 EuGH Slg. 1962 97 ff (Bosch); vgl. auch EuGH Slg. 1984 2689, 2718 (Regina/Kirk); EuGH Slg. 1984 3291, 3302 (Könecke); EuGH Slg. 1987 3969, 3986 (Kolpinghuis Nijmegen BV); EuGH Slg. 2002 I-1613 Rdn. 109 (Brugg Rohrsysteme); EuGH Slg. 2005 I-5425 Rdn. 202 (Dansk Rørindustri); EuG Slg. 2003 II-2597 Rdn. 36 (Archer Daniels Midland); vgl. auch Dannecker/Büte in Wabnitz/Janovsky Wirtschaftsstrafrecht Kap. 2 Rdn. 215 ff; ders. ZIS 2006 309 ff; Friedmann S. 234 ff; Heukels S. 232 ff; Satzger Europäisierung S. 549 ff; C. Schröder S. 340 ff; Zuleeg JZ 1992 761, 765. 221 EuGH Slg. 1978 1415 ff (Tepea); Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 501.

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niens zu den Europäischen Gemeinschaften – ordnungswidrig gewesen sei. Denn erst ab diesem Zeitpunkt sei der Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigt worden. Zuvor habe sich die Vereinbarung lediglich auf den Binnenhandel der Niederlande ausgewirkt. Für die außerstrafrechtlichen Normierungen wird dagegen eine Rückwirkung für möglich gehalten.222 Der EuGH beschränkt das Rückwirkungsverbot nicht auf Gesetze, prüft bei anderen Akten – z.B. der „Änderung einer repressiven Politik“ aber ggf. weniger streng. 223 Auch Rechtsprechungsänderungen dürfen nur dann rückwirkend zugrunde gelegt werden, wenn sie für die (konkreten) Betroffenen vorhersehbar waren.224 Schon vor dem EGMR und vor Inkrafttreten der GRCh (aber mit Blick auf ihren bereits bekannten Inhalt) hat der EuGH die Lex mitior-Regel, also ein Rückwirkungsgebot zugunsten des Beschuldigten, anerkannt.225 e) EU-Grundrechtecharta. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union 40 (GRCh) enthält in Art. 49 Abs. 1 S. 1 und 2 sowie Abs. 2 eine Wiedergabe von Art. 7 EMRK. Art. 49 GRCh enthält zudem in Abs. 1 S. 3 die Lex-mitior-Regel226 und in Abs. 3 den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Strafen. Trotz des Scheiterns der ursprünglich geplanten Verfassung für Europa ist der Grundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege“ damit nun im Primärrecht der Europäischen Union festgeschrieben,227 denn nach Art. 6 Abs. 1 EUV gilt die GRCh gleichrangig mit den Verträgen (EUV und AEUV, Abs. 1 UA 3 EUV).228 Damit steht Art. 49 Abs. 1 und 2 GRCh– nach Maßgabe der SolangeRechtsprechung des BVerfG229 – insbesondere auch über Art. 103 Abs. 2 GG, dessen Garantien aber parallel fortbestehen (vgl. auch Art. 53 GRCh).230 Die Überschrift „Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeit im 41 Zusammenhang mit Straftaten und Strafen“ greift die Ausdrucksweise des EuGH auf (Rdn. 34). Man mag sie auch dahingehend deuten, dass Common Law-Delikte – der Vorlage des Art. 7 EMRK entsprechend (Rdn. 7) – nicht von vornherein ausgeschlossen wären.231 Eine „lex scripta“ wird nicht verlangt, wo die nationale Rechtsordnung sie nicht – wie die kontinentaleuropäischen Mitgliedstaaten, z.B. Deutschland (Rdn. 114 ff, 117 ff) – ohnehin erfordert. Doch auch im Common Law dürfen heute Delikte nicht mehr richterrechtlich neu geschaffen werden,232 sodass eine solche Deutung zunehmend gegenstandslos wird. Die Grundrechtecharta bindet gemäß Art. 51 Abs. 1 GRCh sämtliche Organe und 42 sonstige Stellen der Union stets, aber auch die Mitgliedstaaten und insbesondere deren Gerichte, soweit diese Unionsrecht durchführen,233 was z.B. auch bei der Anwendung von Umsetzungsakten zu EU-Richtlinien der Fall ist. Die Grundrechtecharta formuliert

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222 EuGH Slg. 1990 4023 ff (Fedesa); Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 502. 223 Vgl. EuGH Slg. 2006 I-4429 Rdn. 20 (Archer Daniels Midland). 224 EuGH Slg. 2005 I-5425 Rdn. 217–224 (Dansk Rørindustri). 225 EuGH Slg. 2005 I-3565 Rdn. 68 (Berlusconi), später bzgl. der Überlagerung von nationalem Recht durch Unionsrecht EuGH Slg. 2009 I-4273 Rdn. 43 (Percy Mickelsson und Joakim Roos). 226 Bezüglich Abs. 1 S. 2 und 3 kann auf die Ausführungen unter § 2 Rdn. 101 zum Milderungsgebot bei unionsrechtlichen Regelungen verwiesen werden. 227 Näher dazu und zur Entwicklung Dannecker ZStW 117 (2005) 697, 745 f. Vgl. auch Jarass NStZ 2012 611, 615 f. 228 Statt vieler Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht, § 7 Rdn. 10 und 12. 229 BVerfGE 73 339, 374 f, Rdn. 103 (Solange II) und BVerfGE 123 267, 353 f, Rdn. 240; 390 ff, Rdn. 319 ff; 396 ff, Rdn. 331 ff (Lissabon). Statt vieler dazu Esser in Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg Europäisches Strafrecht § 56 Rdn. 12 ff m.w.N. 230 Vgl. dazu Braum Europäische Strafgesetzlichkeit, 2003, S. 253 ff. 231 J. Meyer/Eser Art. 49 GRCh Rdn. 13 f. 232 Tiedemann ZStW 110 (1998) 497, 514. 233 Eingehend und allgemeiner zur Bindung der Mitgleidstaaten aus der GRCh Meyer ZStW 128 (2016) 1089 ff.

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nur ein Mindest-Schutzniveau, darf aber nicht als Absenkung bestehender Standards aus internationalen Vereinbarungen und Verfassungen verstanden werden (Art. 53 GRCh). Soweit in dieser Kommentierung der Sorge Ausdruck gegeben wird, dass manche Aspekte der Garantien nach § 1 bzw. Art. 103 Abs. 2 GG von Unionsrecht überwunden werden, bezieht sich dies jeweils auf andere Normen des Unionsrechts, die zwar ihrerseits durch Art. 49 GRCh begrenzt werden, aber eben nur soweit, wie dieser Grenzen zieht. Dass Art. 49 GRCh die nationalen Garantien nicht selbst verdrängt, bewirkt nicht, dass diese nationalen Garantien unionsrechtliche Normen beschränken könnten, denn Letztere genießen Vorrang. Die Grundrechtecharta enthält weitere Regelungen zu ihrer Auslegung und Anwendung in Art. 52 GRCh. Hierzu gehören namentlich eine allgemeine Schrankenregelung (Art. 52 Abs. 1 GRCh) und (in der Fassung ab dem Vertrag von Lissabon) die Vorgabe einer gebührenden Berücksichtigung der zusammen mit der Charta verfassten Erläuterungen (Art. 52 Abs. 7 GRCh). Im vorliegenden Zusammenhang besonders wichtig ist die Regelung des Art. 52 Abs. 3 GRCh. Danach umfassen alle Bestimmungen, die der EMRK entsprechen, deren Bedeutung und Tragweite vollständig. Diese sind – auch mit Blick auf die Präambel – stets im Lichte der Rechtsprechung des EGMR zu verstehen. Eine Folge davon ist, dass eine Einschränkung der Rechte aus Art. 49 Abs. 1 und 2 GRCh unzulässig wäre, denn auch zu Art. 7 EMRK sind Schranken unstatthaft.234 Allerdings sieht sich der EuGH nicht an die Rechtsprechung des EGMR gebunden.235 4. Rechtsvergleichende Hinweise. Das Gesetzlichkeitsprinzip ist im kontinentaleuropäischen Strafrecht allgemein anerkannt236 und findet sich in allen Rechtsordnungen der EU;237 zudem entspricht es der gemeinsamen wissenschaftlichen Überzeugung in der Fachwelt.238 Es ist, sieht man von England ab,239 mit seinen unterschiedlichen Elementen in den europäischen Verfassungen garantiert, so z.B. in Art. 14 Verf. Belgien 1994, Art. 5 Abs. 3 Verf. Bulgarien 1991, Art. 23 Abs. 1 und 2 Verf. Estland 1992, Art. 8 Verf. Finnland 1999, Art. VII Erkl. der Menschen- und Bürgerrechte i.V.m. Präambel Verf. Frankreich 1958, Art. 7 Abs. 1 Verf. Griechenland 1975, Art. 14 Verf. Art. 15 Abs. 5 Verf. Irland 1937, Art. 25 Abs. 2 Verf. Italien 1947, Art. 31 Abs. 1 Verf. Kroatien 1990, Art. 94 Verf. Lettland 1998, Art. 31 Abs. 3 Verf. Litauen 1992, Art. 14 Verf. Luxemburg 1868, Art. 38 (8) Verf. Malta 1964, Art. 16 Verf. Niederlande 1983, §§ 96 S. 1, 97 Verf. Norwegen 1814/1992, Kap. 2 Art. 42 Abs. 1 Verf. Polen 1997, Art. 29 Abs. 1 bis 4 Verf. Potugal 1976/1982/2001, Art. 23 Abs. 9 Verf. Rumänien 1991, Kap. 2 § 10 Abs. 1 Verf. Schweden 1975, Art. 50 Abs. 6 Verf. Slowakische Republik 1992, Art. 28 Verf. Slowenien 2004, Art. 25 Abs. 1 Verf. Spanien 1978, Art. 39 Verf. der Grundrechte und Freiheiten i.V.m. Art. 112 Verf. Tschechische Republik 1992, Art. 57 Abs. 4 Verf. Ungarn 1949, Art. 12 Abs. 1 Verf. Zypern 1960.240 In Österreich gilt Art. 7 EMRK nach dem Bundesverfassungsgesetz v. 4.3.1964 (ÖBGBL 1964, 623) Art. II Nr. 7 im Verfassungsrang. Praktisch alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union anerkennen das eigentliche 44 Gesetzlichkeitsprinzip (nullum crimen, nulla poena sine lege scripta; Rdn. 45), das im 43

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234 Schuhr in Kudlich/Montiel/Schuhr S. 255, 279. 235 EuGH, Gutachten v. 18.12.2014, No. 2/3, JZ 2015, 773; dazu Dannecker in: Ambos/Bock 115, 119 m.w.N. 236 Grundlegend dazu Jiménez de Asúa ZStW 63 (1951) 166 ff. Zu einem Überblick Kargl Rdn. 3 ff. Zu einzelnen, nicht auf Europa beschränkten, Landesberichten Sieber/Cornils (2008). 237 Heidelmeyer S. 26; Vogel in Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht in der EU S. 91, 92 ff. Vgl. auch Böhm S. 78 ff, 143 ff. 238 Jiménez de Asúa ZStW 63 (1951) 166, 184 ff; Jescheck FS Miyazawa 363 ff; Jescheck/Weigend AT § 15 II 4 m.w.N. 239 Zur Sonderrolle des common law Tiedemann in ders. (Hrsg.) Wirtschaftsstrafrecht in der EU S. 3, 7 ff. 240 Zum Recht der USA vgl. nur Ransiek S. 13 ff m.w.N.

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Grundsatz an den Gesetzgeber gerichtet ist und bestimmt gefasste Strafrechtssätze verlangt (nullum crimen, nulla poena sine lege certa; Rdn. 46), weil nur so der Gesetzgeber und nicht der Rechtsanwender über die Grenzen der Strafbarkeit entscheidet. Schließlich gilt ganz überwiegend das Verbot der strafbegründenden oder -schärfenden Analogie bzw. das Gebot der strikten Auslegung strafbegründender oder -schärfender Strafrechtssätze (nullum crimen, nulla poena sine lege stricta; Rdn. 47). Sämtliche europäische Rechtsordnungen kennen schließlich das Verbot der rückwirkenden Strafbegründung und -schärfung (nullum crimen, nulla poena sine lege praevia; Rdn. 48 f). a) Nullum crimen, nulla poena sine lege scripta. Der Grundsatz „nullum crimen 45 sine lege“ findet sich in allen kontinentalen Rechtsordnungen (franz. principe de légalité, span. principio de legalidad) und erfordert einen geschriebenen Strafrechtssatz für die Strafbegründung und -schärfung. Hingegen kennt das englische Recht nach wie vor „common law offences“, die von den Gerichten statuiert worden sind und – in kontinentaler Sicht – Gewohnheits- oder Richterrecht sind. Allerdings sind inzwischen die meisten Delikte in geschriebenen Parlamentsgesetzen („statute law“) kodifiziert. Auch das englische Recht kennt ein „principle of legality“, das insbesondere die rückwirkende Bestrafung zur Tatzeit straflosen Verhaltens im Grundsatz ausschließt, und zwar auch für „common law offences“. Insbesondere die Rechtsprechung hat ihre Befugnis, neue „common law offences“ zu schaffen, bereits im Jahre 1975 aufgegeben.241 Das House of Lords nimmt jedoch für sich in Anspruch, bestehendes „common law“ neuen sozialen, wirtschaftlichen oder kulturellen Entwicklungen anzupassen, wie die viel diskutierte Entscheidung zur Vergewaltigung in der Ehe zeigt, in der die Fiktion, die Ehefrau willige mit der Eheschließung unwiderruflich in den Geschlechtsverkehr mit dem Ehemann ein, aufgegeben wurde.242 Hierin wurde auch kein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot gesehen, weil sich der Täter am Rande der Legalität und damit „auf dünnem Eis“ („thin ice principle“) bewegt habe.243 b) Nullum crimen, nulla poena sine lege certa. Neben das Gesetzlichkeitsprinzip 46 tritt das an den Gesetzgeber gerichtete Gebot, Strafrechtssätze bestimmt zu fassen, weil nur auf diese Weise erreicht werden kann, dass die Rechtsanwender an die Vorgaben des Gesetzgebers gebunden sind. Außerdem muss der Gesetzgeber Strafrahmen vorgeben. c) Nullum crimen, nulla poena sine lege stricta. Auch das Analogieverbot bzw. 47 das Gebot der „strikten Auslegung“ („interprétation stricte“) bindet den Richter, nur in den ausdrücklich geregelten Fällen der Strafbarkeit eine Strafe zu verhängen. Der Wortlaut des Gesetzes darf nicht überschritten werden. Lediglich das dänische Strafgesetzbuch von 1966 lässt eine strafbegründende Analogie in beschränktem Umfang zu.244 d) Nullum crimen, nulla poena sine lege praevia. Sämtliche europäische Straf- 48 rechtsordnungen anerkennen das Verbot der rückwirkenden Strafbegründung. Dieses erstreckt sich auch auf den Fall, dass nach der Tatbegehung eine Strafschärfung eingeführt wird.245

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241 Rechtssache v. Wihters (1975) A. C. 842. 242 R (Regina) v. R, Urt. v. 23.10.1991, AC 1992 599; näher dazu Ambos Internationales Strafrecht § 10 Rdn. 128. 243 Vogel in Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht in der EU S. 91, 93; näher dazu Watzek S. 22 f m.w.N. 244 Näher dazu Gomard ZStW 83 (1971) 341 ff. 245 Vgl. nur Vogel in Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht in der EU S. 91, 94 f.

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e) Ergebnis. Die europaweite Anerkennung des Grundsatzes „nullum crimen sine lege“ hat zur Folge, dass die Rechtsprechung die vier Ausprägungen des Gesetzlichkeitsprinzips nur in sehr engen Grenzen einschränken darf. Im Ergebnis entsprechen die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten in ihrem Kern den Anforderungen, die der EGMR Art. 7 Abs. 1 EMRK entnimmt (zur Bedeutung der Verfassungsüberlieferungen für die Geltung als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts s. Rdn. 33). Dies bedeutet, dass im Unionsrecht geringere Anforderungen gelten, die aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts zu einer Einschränkung des Art. 103 Abs. 2 GG führen (Rdn. 37). III. Fundierung und Reichweite des Grundsatzes „nullum crimen, nulla poena sine lege“

1. Ratio legis des „nullum crimen“-Satzes. Das Gesetzlichkeitsprinzip des Art. 103 Abs. 2 GG richtet sich speziell gegen die staatliche Strafgewalt. Dadurch wird dem Umstand Rechnung getragen, dass im Strafen auf die Persönlichkeit durch hoheitliche Missbilligung von Schuld zugegriffen wird246 und eine solche Wertung besondere rechtsstaatliche Sicherungen erfordert.247 Wenngleich es sich bei dem Grundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege“ unstreitig um ein herausragendes Rechtsprinzip handelt, dessen hoher Wert allgemein anerkannt ist, bestehen über die ratio des Gesetzlichkeitsprinzips keine einheitlichen Vorstellungen. 51 Die Begründungsansätze beruhen auf dem Rechtsstaatsprinzip (Rdn. 52 ff).248 Teilweise werden allein oder ergänzend das Demokratieprinzip (Rdn. 55 f) 249 und die Gewaltenteilung (Rdn. 55 f),250 weiterhin (speziell zur Fundierung des Rückwirkungsverbots) die Menschenwürde (BVerfGE 7 89, 92; 95 96, 131; Rdn. 374 ff), der Schuldgrundsatz (Rdn. 61 f, s. auch Rdn. 374 ff)251 sowie generalpräventive Überlegungen (Rdn. 59 f) herangezogen,252 und in der schweizerischen Lehre wird traditionellerweise auf den allgemeinen Gleichheitssatz als Gehalt des „nullum crimen“-Satzes verwiesen (Rdn. 63).253 Hierbei ist zu berücksichtigen, dass das Gesetzlichkeitsprinzip verschiedene Einzelprinzipien umfasst, die auf jeweils unterschiedlichen Grundgedanken beruhen

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246 Eingehend dazu Appel S. 24 ff; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 3 f; kritisch zu dem Zusammenhang mit dem Schuldprinzip aber Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 204 m.w.N. 247 Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 11; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 193. 248 Näher dazu BVerfGE 7 89, 92; 47 109, 120; 78 374, 382; 85 69, 73; 87 209, 224; 92 1, 12; Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 53; Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 61; v. Münch/Kunig/Kunig Art. 103 Rdn. 17; Jäger SK Rdn. 2; Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 14 f; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 3, 7; Schmitz MK Rdn. 8; Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 17; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 193; Fischer Rdn. 1; Wassermann AK-GG Art. 103 Rdn. 44; Kargl Rdn. 43 ff. 249 Dazu Kargl Rdn. 38 ff m.w.N. 250 Geitmann S. 72; Grünwald ZStW 76 (1964) 1, 13 ff; ders. FS Arthur Kaufmann 433, 436; Mangakis ZStW 81 (1996) 997, 1003; Ransiek S. 12 ff; Roxin AT I § 5 Rdn. 20; Schünemann Nulla poena S. 9; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 3; diesen Aspekt hebt auch das Bundesverfassungsgericht hervor, vgl. BVerfGE 47 109, 120; 71 108, 114; 73 206, 235; aA Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 18, der hierin lediglich einen Rechtsreflex sieht. 251 Buchner S. 47 f; Epping Der Staat 34 (1995) 260; Kielwein S. 127 ff, 135; Roxin AT I § 5 Rdn. 24 f; Sax in Bettermann/Nipperdey/Scheuner Die Grundrechte Bd. III/2 S. 909, 998 f; vgl. auch Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 3 f; kritisch dazu Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 192. 252 v. Feuerbach Peinliches Recht14 § 70; Schünemann Nulla poena S. 11 ff, 23 ff; näher dazu Bringewat Rdn. 139; Roxin AT I § 5 Rdn. 22 ff; Kuhli S. 73 ff. 253 v. Cleric SchwJZ 9 (1912/13) 329, 332; Noll SchwZStrafR 72 (1957) 361, 364; Schwander S. 17 Nr. 27, S. 59 Nr. 109 f.

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(zum Gesetzlichkeitsprinzip s. Rdn. 114; zum Bestimmtheitsgrundsatz s. Rdn. 179; zum Analogieverbot s. Rdn. 241 ff; zum Rückwirkungsverbot s. Rdn. 370 ff). Daher bedarf es einer differenzierenden Sicht,254 wenngleich der Gesetzlichkeitsgrundsatz mit seinen Einzelausprägungen durchgängig auf dem Rechtsstaatsprinzip beruht (Rdn. 52 ff). a) Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit dem Prinzip der gewaltenteilenden 52 Demokratie. Nach h.M. ist das Gesetzlichkeitsprinzip Teil des in Art. 20 Abs. 3 GG enthaltenen Rechtsstaatsprinzips 255 und konkretisiert dieses für den Bereich der Strafrechtspflege. Funktional betrachtet dient das Gesetzlichkeitsprinzip der Berechenbarkeit und Sicherheit der Rechtsanwendung und damit dem Schutz des Bürgers vor willkürlichen Entscheidungen.256 Einerseits soll gewährleistet werden, dass dem Bürger Freiheit außerhalb der durch die Strafgesetze erfassten Bereiche gesichert wird. Andererseits soll der Bürger auch im Falle des Rechtsbruchs sicher sein, dass er nur wegen der gesetzlich verbotenen Handlungen und nur zu der gesetzlich bestimmten Strafe verurteilt werden kann (Strafgesetze als „magna charta des Verbrechers“).257 Die strafrechtlichen Reaktionen des Staates sollen berechenbar sein. Deshalb betont das Bundesverfassungsgericht in diesem Zusammenhang immer wieder zu Recht den Aspekt des Willkürverbots258 und des Vertrauensschutzes,259 die dem materiellen Bedürfnis nach Gerechtigkeit Grenzen setzen.260 Der Satz „Kein Verbrechen ohne Gesetz“ gestattet keine Durchbrechungen aus Gerechtigkeitserwägungen, auch wenn diese mit Rücksicht auf das Ergebnis sachgerecht sein mögen;261 er beinhaltet eine Entscheidung für die Rechtssicherheit, auch gegen die materielle Gerechtigkeit,262 und ermöglicht damit, durch die Maschen des Strafgesetzes hindurchzuschlüpfen.263 Damit stellt sich aber die Problematik, inwieweit faktische Umgehungshandlungen und rechtliche Umgehungsgeschäfte, die insbesondere im Wirtschaftsstrafrecht (Rdn. 263, 266),264 aber auch im Allgemeinen Teil, so bei der Notwehrprovokation (Rdn. 263) und der actio libera in causa (Rdn. 178), auftreten, strafrechtlich erfasst werden können (Rdn. 263 ff). Im Vordergrund steht die „freiheitsgewährleistende Funktion“ des Gesetzlich- 53 keitsprinzips (BVerfGE 75 329, 341),265 bei dem es sich nicht nur um ein Justizgrundrecht

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254 Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 251; Grünwald ZStW 76 (1964) 1, 13; ders. FS Arthur Kaufmann 434 ff; Krey Studien S. 206; ders. Strafe Rdn. 122; zustimmend Rogall KK-OWiG § 3 Rdn. 8. 255 BVerfGE 7 89, 92; 47 109, 120; 85 69, 73; 87 209, 224; 92 1, 12; 95 96, 130; BayVerfGH 4 194, 203; Class FS Eb. Schmidt122, 135; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 7; Jescheck/Weigend AT § 15; Jung FS Wassermann 883 ff; Kohlmann S. 284 ff; v. Münch/Kunig/Kunig Art. 103 Rdn. 17; Maurach/Zipf/Jäger § 10 Rdn. 1 ff; Roxin AT I § 5 Rdn. 2; Jäger SK Rdn. 2; Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 14 f; Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 61; H.L. Schreiber S. 213 ff; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 193; Fischer Rdn. 1; Warda S. 43 f; Wassermann AK-GG Art. 103 Rdn. 44; kritisch Jakobs AT 4/6 ff. 256 Krey Strafe Rdn. 122 ff; Maurach/Zipf/Jäger § 10 Rdn. 1, 9; Jäger SK Rdn. 2; H.L. Schreiber S. 213 ff; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 190 ff. 257 v. Liszt Aufsätze und Vorträge Bd. II S. 75, 80. 258 BVerfG NStZ 2001 240. 259 BVerfGE 13 261, 271; 25 269, 285, 290; 64 389, 394; 95 96, 131; vgl. auch Krahl S. 22 f; Krey Studien S. 206 ff; Waiblinger FG für den Schweizerischen Juristenverein 212, 224 f; für die Weimarer Reichsverfassung bereits Gerland in Nipperdey Grundrechte Bd. I S. 386. 260 Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 14 m.w.N. 261 Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 17. 262 BGHSt 18 136, 140; Kohlmann S. 296 f; Krahl S. 284 ff. 263 Roxin AT I § 5 Rdn. 3. 264 Vgl. dazu Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 283 ff m.w.N. 265 Näher dazu Steinberger S. 342; Hassemer/Kargl NK Rdn. 9 f; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 31.

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handelt.266 Teilweise wird hierin ein subjektives grundrechtsgleiches Recht gesehen,267 das dem Bürger einen (negativen) Abwehranspruch gegen den Staat verleihe.268 Da dieser Abwehranspruch mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden kann (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG; Rdn. 71),269 weist dieser den Charakter eines „echten“ Grundrechts auf.270 Dieses Verständnis deckt sich nur zum Teil mit der dogmengeschichtlichen Entwicklung, nach der das „genaue Gesetz“ als Anordnung des Landesherrn diesem ermöglichen sollte, gegen „anmaßende“ richterliche Freiheit vorzugehen (s. oben Entstehungsgeschichte). Neben ihrem subjektivrechtlichen Gehalt besitzt die Vorschrift des Art. 103 Abs. 2 GG 54 bzw. des § 1 auch eine objektivrechtliche Bedeutung:271 Zum einen sollen willkürliche ad-hoc-Entscheidungen des Gesetzgebers ausgeschlossen werden,272 und zum anderen sollen die erhöhten Anforderungen an die Ausübung der rechtsstaatlichen Strafgewalt wegen ihrer besonders hohen Eingriffsintensität voraussehbar, berechenbar und messbar sein.273 Der Gesetzgeber ist verpflichtet, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so genau zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände für den Normadressaten schon aus dem Gesetz selbst zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln und konkretisieren lassen (vgl. nur BVerfGE 80 244, 256 f; 105 135, 152 f). Dadurch soll jedermann voraussehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist, damit er sich danach richten kann.274 Allerdings kommt es weniger auf den Schutz des Straftäters vor Überraschungen als auf die objektive Disziplinierung der Staatsgewalt an, die nicht distanzlos wirklichen oder vermeintlichen Strafbedürfnissen und Rechtsgefühlen oder politischen Bedürfnissen ad hoc nachgeben darf.275 Daher enthält Art. 103 Abs. 2 GG einen strengen Gesetzesvorbehalt für das Strafrecht276 und zugleich eine spezielle Ausgestaltung des Willkürverbots für die Strafgerichtsbarkeit.277 Insoweit wird das Rechtsstaatsprinzip objektivrechtlich konkretisiert. Dies hat zur Folge, dass es für die Vorhersehbarkeit nicht auf die Erkennbarkeit für den konkreten Täter ankommt, sondern auf die objektive Vorhersehbarkeit für den Bürger, denn die Verbindlichkeit einer abstrakten Rechtsnorm wie auch des konkreten Sollensbefehls entsteht unabhängig von der Kenntnis des Täters. Die Rechtsgeltung hängt allein und ausschließlich vom Vertrauen der Rechtsgemeinschaft und der objektiven Erkennbarkeit ab. Insoweit stellt die Rechtsgeltung höhere Anforderungen an die Vorhersehbarkeit als die

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266 Näher dazu Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 16. 267 BVerfGE 85 69, 72; Bringewat Rdn. 138; Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 60; Sachs/Degenhart Art. 103 Abs. 2 GG Rdn. 53. 268 Vgl. nur BVerfGE 71 108, 114; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 45. 269 Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 43; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 3; Jäger SK Rdn. 1; Hassemer/Kargl NK Rdn. 1. 270 v. Mangoldt/Klein/Starck/Nolte Art. 103 Abs. 2 Rdn. 102; Otto AT § 2 Rdn. 1. 271 Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 3. 272 Jakobs AT 4/9. 273 Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 50; Hettinger JuS 1997 L 17, 18 ff; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 184; Wassermann AK-GG Art. 103 Rdn. 44. 274 BVerfGE 7 111, 119; 25 269, 285; 26 41, 42; 28 175, 183; 32 346, 362; 33 206, 219; 37 201, 207; 41 314, 319; 45 346, 351; 363, 370; 47 109, 120; 48 48, 56; 51 60, 73; 57 250, 262; 64 389, 393 f; 71 108, 114; 73 206, 234 f; 75 329, 341; 76 374, 382; ebenso BGHSt 21 135, 136 f; BGH NJW 1997 1695, 1696. 275 Näher dazu Grünwald MDR 1965 521, 523; ders. ZStW 74 (1964) 14 ff; Mangakis ZStW 81 (1969) 997, 1000; Naucke FS Coing 225, 246; Welke KritJ 28 (1995) 369, 374 ff; vgl. auch Jakobs AT 4/9 ff, welcher in der „Objektivitätsgarantie“ sogar die Hauptbedeutung der Gesetzesbindung sieht. 276 Vgl. BVerfGE 71 108, 114; 73 206, 234 f; 87 209, 224. 277 BVerfGE 64 389, 394; 71 108, 114; 73 206, 235; 75 329, 341; 76 374, 382; BVerfG NStZ 2001 240 f; näher zum Willkürverbot und zur Abgrenzung von Art. 103 Abs. 2 GG Löffelmann in Jahn/Krehl/Löffelmann/ Güntge Verfassungsbeschwerde Rdn. 612.

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Rechtssicherheit, die dem subjektiv zu bestimmenden Vertrauensschutz dient. Daneben wird auch das Vertrauen des Bürgers, das heißt, die subjektive Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit des Rechts, geschützt.278 Wenn ein Gesetz diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht entspricht, ist es verfassungswidrig und deshalb nichtig. Die Verwerfungskompetenz steht dem Bundesverfassungsgericht zu. Wenn Normen nicht vollständig, sondern nur teilweise verfassungswidrig sind, führt dies zu einer Teilnichtigerklärung, die gleichermaßen vom Bundesverfassungsgericht vorzunehmen ist. Da die Kompetenz zur Strafgesetzgebung dem Gesetzgeber zugewiesen ist, handelt 55 es sich auch um eine Konkretisierung des Gewaltenteilungs- und des Demokratieprinzips.279 Da die Bestrafung einen einschneidenden Eingriff in die Freiheit des Bürgers darstellt, muss die Legitimation zur Bestimmung ihrer Voraussetzungen beim Parlament als der gewählten Volksvertretung liegen. Durch die Gewaltenteilung, die im Gesetzlichkeitsprinzip ihren Ausdruck findet, wird die Aufgabe des Richters auf die Rechtsanwendung begrenzt und die Exekutive von der Mitwirkung bei der Bestrafung gänzlich ausgeschlossen.280 Gewaltenteilungs- und Demokratieprinzip dürfen dabei nicht isoliert als Begrün- 56 dung des Gesetzlichkeitsprinzips im Strafrecht herangezogen werden, sondern stehen im Zusammenhang mit dem Gedanken der Freiheitsverbürgung durch Gesetzesbindung. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass das Prinzip der gewaltenteilenden Demokratie einer rückwirkenden Anwendung von Strafgesetzen nicht entgegenstünde, denn eine Rückwirkung würde die Gesetzesbindung des Richters und den Vorrang der Legislative nicht tangieren.281 Entsprechend führt das Bundesverfassungsgericht282 in der Entscheidung über die 57 Verfassungsmäßigkeit des Wegfalls der Höchstdauer der erstmaligen Sicherungsverwahrung aus, dass der Maßstab der (strafrechtlichen) Entscheidung von vornherein gesetzlich festgelegt sein müsse.283 Nur wer diesen Maßstab kennen und sich auf die Rechtsfolgen seines Tuns einstellen könne, sei verantwortliches Subjekt. Gerade im Strafrecht, wo ein Unwerturteil über ein eigenverantwortliches Verhalten eines Menschen gefällt wird, habe der Einzelne einen Anspruch auf Gewissheit über die Möglichkeit einer Sanktion. Die traditionell aus dem „nullum crimen“-Grundsatz abgeleiteten Gewährleistungen (Gesetzlichkeitsprinzip, Bestimmtheitsgebot, Analogieverbot und Rückwirkungsverbot) hätten eine gemeinsame Grundlage: Sie sollen dem Einzelnen die Möglichkeit geben, im Bereich des Strafrechts sein Verhalten eigenverantwortlich so einzurichten, dass eine Strafbarkeit vermieden werden kann. In dem Urteil zum Europäischen Haftbefehl charakterisiert das Bundesverfassungsgericht die Bedeutung des Gesetzlichkeitsprinzips als „eine spezielle rechtsstaatliche Garantie des Vertrauens in die Verlässlichkeit der Rechtsordnung, die eine klare Orientierung zu geben hat, was strafbar und was straflos ist. Ohne eine solch verlässliche Orientierung vermag sich individuelle Freiheit nicht zu entfalten.“284 Durch die Verknüpfung der Strafgesetzlichkeit mit der Subjektstellung des Bürgers und seiner Freiheit hat das Bundesverfassungsgericht der Verbindung der Idee

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278 H.L. Schreiber ZStW 80 (1968) 348, 350; vgl. auch BVerfGE 13 261, 271; 14 288, 297; 15 313, 324; 25 269, 285; 26 41, 42; 37 201, 207. 279 BVerfGE 75 329, 341, 342; 78 374, 382; Grünwald ZStW 76 (1964) 1, 13 f, 16; Ransiek S. 40 ff; Schünemann Nulla poena S. 9 ff; Schütz S. 55; Volkmann ZRP 1995 220, 221 ff. 280 BVerfGE 71 108, 114; 73 206, 234 f; 92 1, 12. 281 Roxin AT I § 5 Rdn. 21. 282 BVerfGE 109 133, 171. 283 Zur Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Gesetzlichkeitsprinzip Grünwald FS Arthur Kaufmann 433, 437 ff. 284 BVerfGE 113 273, 308.

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der Freiheitsrechte mit dem Gesetzlichkeitsprinzip, wie sie in der Zeit der Aufklärung entstanden ist, Rechnung getragen und die staatsrechtliche Fundierung des „nullum crimen“-Satzes wieder in den Vordergrund gerückt. Das Gericht hat herausgestellt, dass sich Art. 103 Abs. 2 GG nicht in dem Postulat erschöpft, der Einzelne müsse wissen können, was strafrechtlich verboten ist und welche Strafe ihm für den Fall einer Straftat droht. Es geht letztlich um die Stellung als selbstverantwortliches Subjekt, in dessen Freiheit der Gesetzgeber nur durch Gesetze, d.h. durch gleichmäßige, berechenbare und allgemeine strafrechtliche Regelungen eingreifen darf. Die Gründe lassen sich aber auch noch stärker strafrechtsbezogen darstellen: Straf58 rechtliche Vorschriften sind noch deutlich stärker als diejenigen anderer Rechtsgebiete darauf ausgerichtet, dass sie unbedingt vom Bürger selbst eingehalten werden, und sich nicht erst gerichtlich – eventuell gar nur als Sekundäransprüche – durchsetzen lassen. Strafrecht ist nicht hoheitlich exekutierbar, es geht nicht eigentlich um Strafe, sondern um einen Rahmen besonders wichtiger Verhaltensregeln zur Vermeidung sozialschädlichen Verhaltens und zum Schutz von Rechtsgütern durch regelkonformes Verhalten. Das aber setzt voraus, dass es dem Bürger selbst tatsächlich möglich ist, die an ihn gerichteten Vorgaben zielgerichtet zu erkennen und ebenso zielgerichtet zu befolgen (auch wenn es letztlich genügt, wenn er sich richtig verhält, ohne die Regeln zuvor reflektiert zu haben). Das strafrechtliche Programm setzt daher denknotwendig eine starke Form des weit zu verstehenden Grundsatzes nemo obligatur ultra posse voraus, und eine seiner Konsequenzen ist das Gesetzlichkeitsprinzip, insbesondere in seiner Ausprägung als Bestimmtheitsgebot: Nur wenn der Bürger die strafbewehrte Pflicht in der konkreten Handlungssituation erkennen kann, kann er sein Verhalten zielgerichtet danach ausrichten, und er kann sie nur erkennen, wenn die zuvor in bestimmter Weise festgelegt wurde. Zugleich darf sein Verhalten auch ex post nur anhand desselben, für den Bürger bereits in der Tatsituation, d.h. ex ante erkennbaren Maßstabs beurteilt werden. Auf diesen Zusammenhang stellt v.a. auch der EGMR ab (Rdn. 8). 59

b) Generalpräventive Begründung des Gesetzlichkeits- und Schuldprinzips. Um das Gesetzlichkeitsprinzip zu legitimieren, wird teilweise auch auf die Generalprävention und das Schuldprinzip abgestellt.285

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aa) Generalprävention. Die Herleitung des „nullum crimen“-Satzes aus der Generalprävention ist strafrechtlicher Natur. Sie findet sich bereits bei v. Feuerbach, der im Rahmen der Theorie des psychologischen Zwanges darauf abgestellt hat, dass die abschreckende Wirkung durch Strafe nur erreicht werden kann, wenn die verbotene Handlung vor der Tat möglichst exakt im Gesetz festgelegt wird (s. dazu Entstehungsgeschichte Vor Rdn. 1).286 Im Hinblick darauf, dass nur ein geringer Teil der kriminalitätsgeneigten Menschen überlegt an eine Straftat herangeht und insbesondere nicht die Höhe der angedrohten Strafe, sondern die Tatsache, dass bestraft wird, generalpräventiv im Sinne der Abschreckung der Allgemeinheit (negative Generalprävention) wirkt, ist die Theorie des psychologischen Zwanges jedoch erheblicher Kritik ausgesetzt. Deshalb muss der Abschreckungsgedanke durch die positive Generalprävention ersetzt werden, um den „nullum crimen“-Satz straftheoretisch zu begründen:287 Wenn die Androhung und Verhängung von Strafe wesentlich dazu dienen soll, die Rechtstreue der

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285 Noch allgemeiner, auf verschiedenen Straftheorien und den Konzepten des strafwürdigen vs. strafbaren Verhaltens sowie des Rechtsgüterschutzes aufbauend, Kargl Rdn. 54 ff; ferner Böhm S. 37 ff. 286 Roxin AT I § 5 Rdn. 22 f; vgl. auch BGHSt 28 72, 73 f. 287 Grundlegend Schünemann Nulla poena S. 11 ff.

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Bevölkerung zu stabilisieren und in vielen Fällen normentsprechende Verhaltensdispositionen überhaupt erst aufzubauen, so ist dies nur bei klarer gesetzlicher Regelung des strafbaren Verhaltens möglich.288 bb) Schuldprinzip. Eine weitere strafrechtliche Begründung des „nullum-crimen“- 61 Satzes soll sich aus dem Schuldprinzip ergeben: Wenn Strafe Schuld voraussetzt, könne man nur dann von Schuld sprechen, wenn der Täter vor seiner Tat wusste oder wenigstens Gelegenheit hatte zu erfahren, dass sein Verhalten verboten ist. Das setze aber voraus, dass die Strafbarkeit vor der Tat gesetzlich bestimmt war.289 Gleichwohl spricht sich die h.M. gegen eine Herleitung des Gesetzlichkeitsprinzips aus dem Schuldprinzip aus, da Anknüpfungspunkt für den Schuldvorwurf nicht die Kenntnis des Strafgesetzes, sondern des Verbots der betreffenden Handlung ist. 290 Außerdem setzt strafrechtliche Schuld nur das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit und nicht auch der Strafbarkeit oder gar der Höhe der angedrohten Strafe voraus.291 Deshalb kann aus dem Schuldprinzip insbesondere nicht hergeleitet werden, dass auch die Deliktsfolgen dem Gesetzlichkeitsprinzip unterliegen.292 Insoweit geht das Gesetzlichkeitsprinzip über die Erfordernisse des Schuldprinzips hinaus. Gleichwohl erfordert § 17 die Möglichkeit, ein tatbestandsbezogenes Unrechtsbewusstsein zu erlangen, und dies setzt in der Regel voraus, dass der Täter die Strafvorschrift hätte kennen können.293 Jedoch betrifft § 17 nicht die Unbestimmtheit des Gesetzes. Bei Art. 103 Abs. 2 GG handelt es sich um eine objektive Garantie, die nicht auf die individuelle Vorhersehbarkeit begrenzt ist (Rdn. 54), wie dies bei Art. 7 Abs. 1 EMRK der Fall ist (Rdn. 15). Insofern kann das Schuldprinzip zu den Voraussetzungen des Gesetzlichkeits- 62 prinzips gezählt werden, das einen engen Zusammenhang zur Gesetzestatbestandlichkeit aufweist, jedoch wesensmäßig nicht unmittelbar mit ihm verknüpft ist. cc) Gleichheitsgrundsatz. Insbesondere in der schweizerischen Lehre wird das Be- 63 stimmtheitserfordernis als Willkürverbot verstanden, das traditionellerweise aus dem Gleichheitsgrundsatz hergeleitet wird (Rdn. 179). Das schweizerische Bundesgericht hat seit dem Jahre 1905 aus Art. 4 der Bundesverfassung hergeleitet, dass jede richterlich ausgesprochene Strafe sich auf eine Rechtsnorm stützen muss und dass kein Tatbestand mit Strafe belegt werden darf, den das Gesetz offensichtlich nicht hat treffen wollen.294 Wenig später hat v. Cleric jedes Strafgesetz, welches nicht von vornherein einer willkürlichen Auslegung Raum bietet als genügend bestimmt bezeichnet.295 Dieser Zusammenhang von Gleichheit und „nullum crimen“-Gebot ist in der Folgezeit ständig betont worden und kann wohl als dogmatischer Grund für die Beschränkung des „nullum crimen“-Satzes auf das Willkürverbot angesehen werden. Zwar mögen unbestimmte Gesetzesvorschriften in besonderem Maße geeignet sein, Recht in ungleicher Weise anzuwenden.296 Jedoch han-

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288 Roxin AT I § 5 Rdn. 21. 289 Sax in Bettermann/Nipperdey/Scheuner Die Grundrechte Bd. III/2 S. 909, 998 ff; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 1 f; vgl. auch Roxin AT I § 5 Rdn. 24. 290 Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 257 f; Grünwald ZStW 76 (1964) 1, 11 f; Krey Strafe Rdn. 128; Ransiek S. 25 f; Schünemann Nulla poena S. 15; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 192. 291 Jäger SK Rdn. 2. 292 Näher dazu H.L. Schreiber S. 211 ff; ders. ZStW 80 (1968) 359 f. 293 Roxin AT I § 5 Rdn. 25; siehe auch Rdn. 445. 294 BGE 31 1, 11 ff. 295 v. Cleric SchwJZ 9 (1912/13) 329, 332. 296 BVerfGE 4 352, 354, 357; 11 234, 238; Class FS Eb. Schmidt 122, 137 f; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 192.

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delt es sich beim Willkürverbot nicht um ein Kriterium, das für eine unmittelbare Sinndeutung des Bestimmtheitserfordernisses als objektive Garantie, die über die individuelle Vorhersehbarkeit hinausgeht (Rdn. 54), geeignet ist.297 2. Reichweite des § 1 StGB a) Kriminalstrafrecht. Der Anwendungsbereich des Grundsatzes „Keine Strafe ohne Gesetz“, wie er in § 1 normiert ist, gilt für die Voraussetzungen der Strafbarkeit, unabhängig davon, ob es sich dabei um Regelungen des Besonderen Teils oder des Allgemeinen Teils handelt (Rdn. 81 ff), sowie für die Deliktsfolgen (Rdn. 89 ff). Er reicht aber auch, wenn das Strafrecht durch Blankettgesetze auf außerstrafrechtliche Regelungen verweist, über die Strafnormen im engeren Sinne hinaus und ist auf die in Bezug genommenen außerstrafrechtlichen Regelungen anwendbar (Rdn. 115 ff). Jedoch erfasst § 1 – abweichend von Art. 103 Abs. 2 GG – nur das Strafrecht im enge65 ren Sinne, da sich im Ordnungswidrigkeitenrecht in § 3 OWiG eine inhaltlich § 1 entsprechende Vorschrift findet (Rdn. 69). Demgegenüber betrifft Art. 103 Abs. 2 GG generell das Strafrecht im weiteren Sinne (Rdn. 69 f).

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b) Abgrenzung des Kriminalstrafrechts zum Strafrecht im weiteren Sinne. Der verfassungsrechtliche Grundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG gilt über das Kriminalstrafrecht hinaus mit gewissen, sich aus der Natur der Rechtsmaterie ergebenden Abweichungen auch für das „Strafrecht im weiteren Sinne“, insbesondere für das Ordnungswidrigkeitenrecht (Rdn. 69)298 sowie für ehrengerichtliche und Disziplinarstrafen (Rdn. 70).299 Die Abgrenzung zwischen Kriminalstrafrecht und Strafrecht im weiteren Sinne 67 nimmt das Bundesverfassungsgericht danach vor, ob ein mit staatlicher Autorität versehenes sozialethisches Unwerturteil getroffen wird: Jede Strafnorm und jede Strafe enthalte ein mit staatlicher Autorität versehenes sozialethisches Unwerturteil über die jeweils pönalisierte Handlungsweise.300 Der Verhängung der Kriminalstrafe werde ein ehrenrühriges, autoritatives Unwerturteil über eine Verhaltensweise des Täters, der Vorwurf einer Auflehnung gegen die Rechtsordnung zugeschrieben.301 Das sozialethische Unwerturteil ist allerdings als Abgrenzungskriterium fragwürdig, 68 da es nur ermöglicht, das je eigene subjektive Vorverständnis vom Strafcharakter oder der Strafähnlichkeit einer Maßnahme in die Entscheidung einzubringen.302 Daher ist es erforderlich, die Kriminalstrafe vor dem Hintergrund von Funktion und Stellung des Strafrechts im demokratischen Verfassungsstaat vom Strafrecht im weiteren Sinne abzugrenzen und darauf abzustellen, ob eine besondere Gefährdungslage für den Bürger besteht, weil er in einem besonderen staatlichen Verfahren demonstrativ zur Rechenschaft gezogen und ihm seine defizitäre Einstellung zur Verhaltensnorm verbindlich vorgehal66

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297 Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 192. 298 BVerfGE 9 167, 169 f; 38 348, 371; 41 314, 319 f; 42 261, 263; 55 144, 152; 71 108, 114; 81, 132, 135; 87 399, 411; ferner BGHSt 42 79 = NStZ 1996 342 m. Anm. Günther; BGH NStZ-RR 1996 340; Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 62; v. Münch/Kunig/Kunig Art. 103 Rdn. 19; Rogall KK-OWiG § 3 Rdn. 2; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 5; Schmitz MK Rdn. 21; Wassermann AK-GG Art. 103 Rdn. 46. 299 BVerfGE 26 186, 203 f; 42 261, 262 f; 45 346, 351; 57 29, 35; 60 215, 234; 66 337, 355 f; vgl. auch BGHSt 28 333, 336 f; aA Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 78; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 6; Schmitz MK Rdn. 21; Satzger SSW Rdn. 11. 300 BVerfGE 6 389, 439; 8 197, 207; 21 391, 403 f; 22 125, 132; 25 269, 286; 27 18, 29, 33; 43 101, 105; 45 187, 259 f; 88 203, 258; 90 145, 172; 92 277, 329, 333. 301 BVerfGE 22 49, 80; 43 101, 105. 302 So zutreffend Appel S. 487.

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ten wird, indem ihm ein materielles Übel als Reaktion auf die Normverletzung auferlegt wird. Fehlt es hieran, so findet § 1 keine Anwendung, wohl aber können Art. 103 Abs. 2 GG und Art. 7 Abs. 1 EMRK eingreifen. aa) Ordnungswidrigkeitenrecht. Für das Ordnungswidrigkeitenrecht sieht § 3 69 OWiG eine § 1 entsprechende Regelung vor303 und trägt damit dem Umstand Rechnung, dass Art. 103 Abs. 2 GG auf das Ordnungswidrigkeitenrecht anwendbar ist. § 1 greift im Ordnungswidrigkeitenrecht angesichts der dortigen Spezialregelung nicht ein. So hat das BVerfG z.B. die Anwendung von § 335 HGB an Art. 103 Abs. 2 GG gemessen und eine erweiternde Auslegung bzgl. § 325 Abs. 1 S. 3 HGB a.F. für verfassungswidrig erklärt.304 Zum Anwendungsbereich des Grundsatzes „nullum crimen sine lege“ (Art. 103 Abs. 2 GG) außerhalb des Strafgesetzbuchs vgl. auch §§ 1, 5 ff BDO, §§ 14, 95, 97 BNotO, §§ 43, 113 ff BRAO, §§ 2, 9, 13, 17 ff JGG, §§ 6 ff, 23 SG i.V.m. §§ 7 ff, 18 ff WDO, §§ 57 ff, 89 ff StBerG, § 3 Abs. 1, §§ 9 ff, 15 ff WStG, §§ 52 ff, 58 ff ZOG. bb) Standesrecht. Sodann entspricht es der herkömmlichen Struktur des Standes- 70 rechts, dass die Berufspflichten der Standesangehörigen nicht in einzelnen Tatbeständen erschöpfend umschrieben werden können. Eine vollständige Aufzählung sämtlicher mit einem Beruf verbundener Pflichten ist nämlich nicht möglich. Deshalb werden die Berufspflichten im Allgemeinen lediglich in einer Generalklausel zusammengefasst, die die Berufsangehörigen zu gewissenhafter Berufsausübung und zu achtungs- und vertrauenswürdigem Verhalten innerhalb und außerhalb des Berufs anhält. Eine abschließende Umschreibung aller denkbaren Berufspflichten wird auch nicht für notwendig gehalten, weil es sich hierbei um Normen handele, die nur den Kreis der Berufsangehörigen betreffen, die sich aus der ihnen gestellten Aufgabe ergeben und daher für sie im Allgemeinen leicht erkennbar sind. Diese seit jeher bestehenden Besonderheiten des Standesrechts hat der Grundgesetzgeber durch Art. 103 Abs. 2 GG nicht ändern wollen. Es wird daher in der Rechtsprechung anerkannt, dass derartige Generalklauseln eine hinreichend bestimmte Grundlage für eine berufsgerichtliche Bestrafung darstellen.305 Allerdings greift auch in diesen Fällen § 1 nicht ein. Vielmehr ergeben sich die Grenzen des „nullum crimen“-Satzes für das Standesrecht unmittelbar aus der Verfassungsnorm des Art. 103 Abs. 2 GG.306 3. Überprüfung strafrechtlicher Normen durch das Bundesverfassungsgericht a) Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde. Wird ein Angeklagter unter Verstoß 71 gegen § 1 zu einer Strafe verurteilt, so kann er eine hierin liegende Grundrechtsverletzung (Art. 103 Abs. 2 GG) nach Erschöpfung des Rechtszuges im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend machen.307 Hält ein Gericht ein nachkonstitutionelles Strafgesetz (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a, §§ 90, 92 ff BVerfGG), auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG für verfassungswidrig, so hat

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303 Vgl. BVerfGE 55 144, 152; 71 108, 114; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 5. 304 BVerfG NJW 2014 1431 ff. 305 Vgl. BVerfGE 26 186, 203; 45 346, 351 f; 53 96, 99; 60 215, 230; 66 337, 355 f; aA Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 78; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 6; eingehend (und kritisch) dazu Brüning insb. S. 261 ff, 558 f. 306 Näher dazu nur Appel S. 290 ff m.w.N. 307 Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 1 ff; Schmidt-Bleibtreu/Klein Art. 103 Rdn. 1; Sax in Bettermann/Nipperdey/Scheuner Die Grundrechte Bd. III/2 S. 909, 997.

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es das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen (Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG).308 Dies gilt auch, wenn es sich um die Verletzung des Art. 103 Abs. 2 GG durch Landesrecht handelt (Art. 100 Abs. 1 S. 2 GG). Allerdings betont das Bundesverfassungsgericht die Pflicht der Fachgerichte zur verfassungskonformen Auslegung, indem es die Zulässigkeit einer Vorlage gemäß Art. 100 Abs. 1 GG davon abhängig macht, dass das vorlegende Gericht zunächst jede Möglichkeit nutzt, die Beurteilung der Norm als verfassungswidrig und damit die Vorlage an das Bundesverfassungsgericht zu vermeiden.309 Hingegen können die Fachgerichte vorkonstitutionelle Strafgesetze selbst verwerfen.310 b) Überblick über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Das Bundesverfassungsgericht hat bislang folgende Strafvorschriften wegen Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 2 GG für nichtig erklärt (§ 95 Abs. 3 Satz 1 BVerfGG): § 43a StGB, der durch Art. 1 des Gesetzes zur Bekämpfung des illegalen Rauschgift73 handels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität vom 15.7.1992 (BGBl. I S. 1302) in den Allgemeinen Teil des StGB eingestellt wurde;311 zur Sicherungsverwahrung (§§ 66 ff) siehe Rdn. 408 f; § 366 Nr. 10 StGB a.F. in Verbindung mit § 2 der bayerischen Verordnung über die öffentliche Verbreitung von Plakaten, Flugblättern und Flugschriften vom 7.11.1951 (BayGVBl. S. 214);312 § 15 Abs. 2 Buchst. a FernmG;313 § 10 Abs. 1 und Abs. 3 RiFlEtikettG i.d.F. vom 17.11.2000 (BGBl. I S. 1510);314 § 49 StVO i.d.F. der VO zur Änderung der StVZO und der StVO vom 24.8.1953 (BGBl. I S. 1131) und der Bekanntmachungen der StVO vom 24.8.1953 (BGBl. I S. 1166, 1201) und vom 29.3.1956 (BGBl. I S. 271, 327);315 § 71 StVZO i.d.F. der VO zur Änderung der StVZO und der StVO vom 24.8.1953 (BGBl. I S. 1131) und der Bekanntmachungen der StVZO vom 24.8.1953 (BGBl. I S. 1166), vom 29.3.1956 (BGBl. I S. 271) und vom 6.12.1960 (BGBl. I S. 897);316 § 99 Abs. 1 Nr. 1 StGB i.d.F. des 8. StRÄndG.317 Dagegen haben folgende Vorschriften einer Überprüfung nach Art. 103 Abs. 2 GG 74 durch das Bundesverfassungsgericht standgehalten: Straftatbestände (siehe ergänzend Rdn. 191 ff, 330 f): § 13 StGB;318 § 94 Abs. 1 StGB 75 i.d.F. der Bekanntmachung vom 2.1.1975 (BGBl. I S. 1);319 § 99 Abs. 1 Nr. 1 StGB i.d.F. des 8. StRÄndG;320 § 100 Abs. 1 i.V.m. § 99 StGB i.d.F. des 1. StRÄndG, und zwar auch insoweit, als er den publizistischen Landesverrat umfasste;321 § 100c Abs. 1 i.V.m. § 99 StGB i.d.F. des 1. StRÄndG;322 § 100e Abs. 1 StGB i.d.F. des 1. StRÄndG i.V.m. § 99 StGB i.d.F. 72

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308 BVerfGE 8 210, 213; 14 245, 249; 16 230, 231. 309 BVerfGE 85 329, 333 f; 86 71, 77; kritisch dazu Voßkuhle AöR 125 (2000) 177, 199 f; vgl. auch Kuhlen S. 8 f; Umbach/Clemens/Dollinger § 80 BVerfGG Rdn. 55; aA Bettermann S. 31 f; Stern Staatsrecht Bd. I S. 316; Skouris S. 106 ff, die hierin einen Verstoß gegen die Verwerfungskompetenz des BVerfG sehen. 310 BVerfGE 1 184, 201; Maurer Staatsrecht I § 20 Rdn. 104 f; Maunz/Dürig/Maunz Art. 100 Rdn. 12; vgl. auch Krey JZ 1978 361, 363. 311 BVerfGE 105 135, 151. 312 BVerfGE 23 265, 270. 313 BVerfGE 78 374. 314 BVerfGE 143 38, 52 ff, 58 f. 315 BVerfGE 14 254, 255, 258; 16 211, 213. 316 BVerfGE 14 174, 175. 317 BVerfGE 57 250, 262. 318 BVerfGE 96 68, 97 ff. 319 BVerfGE 45 363, 372. 320 BVerfGE 57 250, 262. 321 BVerfGE 20 162, 177; 21 239, 242. 322 BVerfGE 21 239, 242.

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des 8. StRÄndG;323 § 130 Abs. 4 StGB i.d.F. vom 24.3.2005;324 § 170b StGB i.d.F. der Bekanntmachung vom 2.1.1975 (BGBl. I S. 1);325 § 177 Abs. 1 Nr. StGB i.d.F. des 33. StrÄndG v. 1.7.1997 (BGBl. I S. 1607);326 § 184 Abs. 1 Nr. 7 StGB i.d.F. der Bekanntmachung vom 2.1.1975 (BGBl. I S. 11);327 § 187a StGB, eingefügt durch das 1. StRÄndG;328 § 240 Abs. 1 StGB, soweit darin Nötigungen mit dem Mittel der Gewalt unter Strafe gestellt werden;329 § 220a StGB, soweit die Gerichte die Zerstörungsabsicht anders als i.S. einer physischbiologischen Vernichtung verstehen;330 §§ 242, 248a StGB n.F., soweit sie in Verbindung mit Art. 300 EGStGB einen vor dem 1.1.1975 begangenen „Mundraub“ (§ 370 Abs. 1 Nr. 5 StGB a.F.) als Vergehen erfassen;331 § 266 i.d.F. des 6. StrRG;332 § 315 Abs. 3 Nr. 1 StGB i.d.F. des StrRG vom 16.1.1998;333 § 327 Abs. 2 Nr. 1 StGB i.d.F. des 18. StRÄndG i.V.m. § 4 Abs. 1, § 15 Abs. 1 S. 1 BImSchG, soweit danach bestraft wird, wer eine genehmigungsbedürftige Anlage im Sinne des Bundesimmissionsschutzgesetzes ohne die nach diesem Gesetz erforderliche Genehmigung betreibt;334 § 353d Nr. 3 StGB i.d.F. der Bekanntmachung vom 2.1.1975 (BGBl. I S. 1), soweit die in dieser Bestimmung unter Strafe gestellte wörtliche öffentliche Mitteilung der Anklageschrift oder anderer amtlicher Schriftstücke ohne oder gegen den Willen des von der Berichterstattung Betroffenen geschehen ist;335 § 360 Abs. 1 Nr. 11 StGB a.F., 2. Alternative – „grober Unfug“;336 § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977;337 § 370 AO i.V.m. §§ 8 Abs. 2, 12 Abs. 1 MOG;338 § 25 Abs. 1 AZO i.d.F. der VO vom 30.4.1938 (RGBl. I S. 447) i.V.m. Nr. 37 AV AZO vom 12.12.1938 (RGBl. I S. 1799);339 §§ 42, 47 BVerfGG, aufgehoben durch § 28 VereinsG vom 5.8.1984 (BGBl. I S. 593);340 § 6 Abs. 1 i.V.m. § 21 Abs. 1 GjS vom 9.6.1953 (BGBl. I S. 377);341 § 30 Buchst. a, § 31 Abs. 1 S. 2 HeimarbeitsG vom 14.3.1951 (BGBl. I S. 191.) i.d.F. des Gesetzes vom 25.6.1969 (BGBl. I S. 645), soweit sie einen Verstoß gegen die Vorschrift über die Listenführung (§ 6 HeimarbeitsG) hinsichtlich der in § 1 Abs. 1 HeimarbeitsG bezeichneten Personen unter Strafe stellten;342 § 81 Abs. 6 GWB (Art. 103 Abs. 2 GG nicht darauf anwendbar),343 § 10 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 JGG;344 § 240 Abs. 1 Nr. 4 KO, aufgehoben durch Art. 5 Nr. 4 des 1. WiKG, in der bis zum 31.8.1976 geltenden Fassung in Verbindung mit § 39 Abs. 2 HGB;345 § 52 Abs. 1 Nrn. 9 und 10 LMBG i.V.m. § 17 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2b LMBG;346 Art. VIII MRG Nr. 53

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323 324 325 326 327 328 329 330 331 332 333 334 335 336 337 338 339 340 341 342 343 344 345 346

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BVerfGE 28 175, 183, 189; 57 250, 263, 270. BVerfGE 124 300 Rdn. 87 ff. BVerfGE 50 142, 164 f. BVerfG StV 2005 262 f. BVerfGE 47 109, 120 ff. BVerfGE 4 352, 357. BVerfGE 73 206, 232 f, 236 ff; 76 211, 216; 92 1, 13 f, 18; 104 92 ff; BVerfG NJW 2002 2308, 2309. BVerfG NStZ 2001 240, 241. BVerfGE 46 188, 192. BVerfGE 126 170, 208 (Rdn. 105 ff). BVerfGE 97 198 ff. BVerfGE 75 329, 340, 343. BVerfGE 71 206, 217, 219. BVerfGE 26 41, 42. BVerfG NStZ 1991 88. BVerfG NStZ-RR 2004 275, 278. BVerfGE 22 1, 9, 18 ff. BVerfGE 25 44, 55. BVerfGE 11 234, 237. BVerfGE 41 314, 323. BVerfGE 133, 1, Rdn. 92 ff. BVerfGE 74 102, 115, 126. BVerfGE 48 48, 57 ff. BVerfG ZLR 1988 632; vgl. dazu auch Achenbach NStZ 1989 497, 498 m.w.N.

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(Neufassung) i.V.m. Art. I Nr. 1 Buchst. d und Nr. 2 dieses Gesetzes;347 § 392 Abs. 1 S. 1 RAbgO in Verbindung mit §§ 9, 15 MinöStG i.d.F. vom 20.12.1963 (BGBl. I S. 1004), zuletzt geändert durch Gesetz vom 26.6.1973 (BGBl. I S. 691) und mit § 36 MinöStG vom 26.5.1953 (BGBl. I S. 237), zuletzt geändert durch die 14. ÄndVO vom 3.1.1969 (BGBl. I S. 13);348 § 21 StVG vom 19.12.1952 (BGBl. I S. 837) i.d.F. des Gesetzes über Maßnahmen auf dem Gebiet des Verkehrsrechts und Verkehrshaftpflichtrechts vom 16.7.1957 (BGBl. I S. 710), soweit er Zuwiderhandlungen gegen die Rechtsverordnungen mit Strafe bedroht, die über den Straßenverkehr zur Erhaltung der Ordnung und Sicherheit auf den öffentlichen Wegen oder Plätzen erlassen worden sind;349 § 21 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1, Abs. 2 Nr. 1 StVG vom 19.12.1952 (BGBl. I S. 837) i.d.F. des 2. Straßenverkehrssicherungsgesetzes (geändert durch EGOWiG und EGStGB) in Verbindung mit § 2 Abs. 1 S. 1 StVG;350 § 20 Abs. 1 Nr. 1 VereinsG i.d.F. vom 25.6.1968 (BGBl. I S. 741);351 § 26 Abs. 1 WaffG vom 18.3.1938 (RGBl. I S. 265) in Verbindung mit §§ 11 und 14 WaffG, soweit darin das Veräußern, Überlassen, der Erwerb und das Führen von Waffen ohne Waffenerwerbsschein oder Waffenschein unter Strafe gestellt waren,352 § 53 Abs. 1 ZOG i.d.F. vom 16.7.1965 (BGBl. I S. 984);353 76 Strafrahmen: § 94 Abs. 2 S. 1 und 2 Nr. 2 StGB i.d.F. der Bekanntmachung vom 2.1.1975 (BGBl. I S. 1);354 § 212 Abs. 2 StGB.355 Verjährungsvorschriften: Art. 2 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 1 des hessischen Ge77 setzes zur Ahndung nationalsozialistischer Straftaten vom 29.5.1946 (GVBl. S. 146), der nachträglich für bestimmte Vergehen und Verbrechen eine Hemmung der Verjährungsfristen in der Zeit vom 30.1.1933 bis zum 1.7.1945 vorsah;356 Art. I § 1 der inhaltsgleichen Verordnung des Zentraljustizamts für die Britische Zone zur Beseitigung nationalsozialistischer Eingriffe in die Strafrechtspflege vom 23.5.1947 (VOBIBrZ S. 65);357 § 1 Abs. 1 des Gesetzes über die Berechnung strafrechtlicher Verjährungsfristen vom 13. April 1965 (BGBl. I S. 315);358 § 78a StGB in der Auslegung, dass bei fortgesetzter Handlung die Strafverfolgungsverjährung für sämtliche Teilakte erst mit der Beendigung des letzten Teilaktes beginnt;359 § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB, durch den der Gesetzgeber bei Straftaten nach den §§ 176 bis 179 StGB das Ruhen der Verfolgungsverjährung bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers angeordnet hat.360 Die Übersicht zeigt, dass die Zahl der Strafvorschriften, die der verfassungsrechtli78 chen Überprüfung standgehalten haben, die Zahl der nach Art. 103 Abs. 2 GG für verfassungswidrig erklärten Vorschriften bei weitem übersteigt. Hierin spiegelt sich wider, dass die wesentliche Bedeutung des Gebots gesetzlicher Bestimmtheit der Strafbarkeit im Grundsätzlichen liegt und seine Umsetzung in der Praxis dem Gesetzgeber einen erheblichen Spielraum lässt, der von der Rechtsprechung sachgerecht auszufüllen ist. Al-

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347 BGHSt 31 323, 332 f betr. den innerdeutschen Handel. 348 BVerfGE 37 201, 209 betr. Steuerhinterziehung durch „Vorbeilieferung“ von Mineralöl, das mit einer bedingten Steuerschuld belastet ist, an einem genehmigten Steuerlager, mit abweichender Meinung der Richter Seuffert und Hirsch aaO 213 ff. 349 BVerfGE 14 245, 254; 16 211, 213; 22 21, 25. 350 BVerfGE 51 60, 70. 351 BVerfGE 80 244, 256 f. 352 BVerfGE 33 206, 219 f. 353 BVerfGE 23 127, 131 f; 24 362, 366. 354 BVerfGE 45 363, 370. 355 BVerfG JR 1979 28 mit Anm. Bruns. 356 BVerfGE 1 418, 423. 357 OGHSt 3 93, 95; BGH NJW 1952 271. 358 BVerfGE 25 269, 286 ff; vgl. auch BVerfGE 50 42, 47 f; BVerfG NJW 1995 145. 359 BVerfG NStZ 1991 383; BGHR AO § 370 Abs. 1 – Gesamtvorsatz 9. 360 BVerfG NJW 2000 1554 ff.

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lerdings zeigen gerade die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Vermögensstrafe (Rdn. 227 ff),361 zum Europäischen Haftbefehl (Rdn. 106, 412, 422),362 zur Untreue (Rdn. 195, 215, 291)363 und zur Rindfleischetikettierung (Rdn. 160),364 dass nunmehr etwas strengere Maßstäbe angelegt werden, was zu einer deutlichen Aufwertung des Art. 103 Abs. 2 GG führt.365 IV. Geltungsbereich des § 1 StGB 1. Begriff der Tat. Mit dem Begriff der „Tat“ meint § 1 ebenso wie in zahlreichen an- 79 deren Vorschriften (§§ 5, 6, § 11 Nrn. 5 und 6) zunächst tatbestandsmäßiges Verhalten.366 Darin erschöpft sich der Begriff hier aber nicht.367 Er umfasst vielmehr jegliches menschliche Tun und Unterlassen. Die Bedeutung des § 1 liegt gerade auch darin, dass er nicht tatbestandsmäßiges Verhalten für straffrei erklärt (nullum crimen)368 und die Bestrafung einer zwar tatbestandsmäßigen, aber nicht mit einer gesetzlich bestimmten Strafe bedrohten Handlung (nulla poena) verbietet. 2. Reichweite des Begriffs der Strafbarkeit. § 1 verlangt, dass „die Strafbarkeit“ 80 vor Begehung der Tat gesetzlich bestimmt sein muss. Der Begriff der „Strafbarkeit“ lässt sich – vom Wortlaut her – verschieden auslegen: Man kann ihn allein auf die Straftatbestände des Besonderen Teils, die Verhaltensanforderungen für den Bürger normieren, aber auch auf alle rechtlichen Voraussetzungen der Bestrafung, einschließlich der Regeln des Allgemeinen Teils (Rdn. 82 ff), beziehen, und schließlich zudem auf die Strafen als Rechtsfolgen der Tat (Rdn. 89 ff) erstrecken, welche die rechtswidrige und schuldhafte Verwirklichung des Straftatbestands zur Folge haben sollen. Darüber hinaus ist es denkbar, den Begriff auf weitere, insbesondere prozessuale Voraussetzungen anzuwenden, welche die Zulässigkeit der Strafverfolgung betreffen (Rdn. 104 ff). a) Straftatbestände des Besonderen Teils. Unstreitig ist, dass die strafrechtlichen 81 Verbotsnormen des Besonderen Teils § 1 und Art. 103 Abs. 2 GG unterfallen. Hingegen besteht hinsichtlich der übrigen Strafbarkeitsvoraussetzungen und der Tatfolgen keine Einigkeit. b) Regelungen des Allgemeinen Teils. Umstritten ist insbesondere, ob das Gesetz- 82 lichkeitsprinzip auch für den Allgemein Teil des Strafgesetzbuchs gilt, der – anders als der Besondere Teil – keine Verhaltensregeln enthält, an denen sich der Bürger orientieren soll,369 sondern aus Regeln über die Geltung und Anwendung des Strafrechts besteht, welche die Bedingungen nennen, die erfüllt sein müssen, damit die Normen des Besonderen Teils überhaupt zur Anwendung gelangen können. Sodann enthält der Allgemeine Teil Vorschriften über die Begründung und den Ausschluss der Zurechnung (Vorsatz, Fahrlässigkeit, Irrtum, Zwangslage, Zurechnung fremden Normbruchs zu Teilnehmern etc.). Schließlich finden sich im Rahmen der Rechtfertigungsgründe Vorrangregeln für

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BVerfGE 105 135, 151. BVerfGE 113 273, 308 f. BVerfGE 126 170, 194 ff, 221 ff. BVerfGE 143 38, 52 ff, 58 f. In diesem Sinne auch Greco ZIS 2018 475. Vgl. ferner Schuhr NStZ 2014 437, 440. Nicht erforderlich ist ein schuldhaftes Verhalten; aA Jäger SK Rdn. 12. AA Fischer Rdn. 2. Schmitz MK Rdn. 11; Matt/Renzikowski/Basak Rdn. 5. Jescheck/Weigend AT § 3 III 2.

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Fälle der Kollision subjektiver Rechte zum Ausschluss der Rechtswidrigkeit. Die Geltungs-, Anwendungs-, Zurechnungs- und Vorrangregeln fordern kein Verhalten, sondern setzen ein normwidriges Verhalten voraus.370 Der Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht gehen davon aus, 83 dass Art. 103 Abs. 2 GG im Grundsatz auf das gesamte materielle Strafrecht anwendbar ist, wie die Entscheidungen zum Strafanwendungsrecht, 371 zum unechten Unterlassungsdelikt,372 zum Erlaubnistatbestandsirrtum bei fehlender pflichtgemäßer Prüfung,373 zur actio libera in causa (näher dazu Rdn. 178)374 und zur Einschränkung der Notwehr bei der Absichtsprovokation (Rdn. 263)375 belegen.376 Jedoch werden von der Rechtsprechung im Bereich des Allgemeinen Teils geringere Anforderungen an die Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit gestellt, um Elastizität bei der Rechtsanwendung im Interesse der Einzelfallgerechtigkeit zu erreichen (Rdn. 219 f). Auch die Literatur geht unter Berufung auf den Wortlaut und den Grundgedanken des Art. 103 Abs. 2 GG ganz überwiegend von der grundsätzlichen Anwendbarkeit des Art. 103 Abs. 2 GG auf den Allgemeinen Teil aus.377 Für die Erstreckung des Art. 103 Abs. 2 GG auf den Allgemeinen Teil spricht zu84 nächst, dass die h.M. in den Normen über Anstiftung und Beihilfe, Versuch und Rücktritt vom Versuch, Irrtum und Schuld vor die Klammer gezogene ergänzende Bestandteile der im Besonderen Teil vertypten Verbote sieht.378 Wenn es sich aber bei den Regelungen des Allgemeinen Teils lediglich um vor die Klammer gezogene Bestandteile des Besonderen Teils handelt, muss Art. 103 Abs. 2 GG auch hierauf angewendet werden. Ansonsten könnte der Gesetzgeber durch die Entscheidung, ob er eine Regelung in den Allgemeinen oder den Besonderen Teil einstellt, der Anwendbarkeit des Art. 103 Abs. 2 GG ausweichen. So gibt es keinen vernünftigen Grund, eine Bestrafung wegen „fahrlässiger Sachbeschädigung“ nur deshalb nicht als Verletzung des Gesetzlichkeitsprinzips anzusehen, weil sich die alleinige Strafbarkeit der vorsätzlichen Sachbeschädigung nicht aus der Strafdrohung des § 303 selbst, sondern aus der das Vorsatzerfordernis vor die Klammer ziehenden allgemeinen Regel des § 15 ergibt.379 85 Allerdings unterscheiden sich die Regelungen des Allgemeinen und des Besonderen Teils inhaltlich dadurch, dass nur Letztere Verhaltensnormen statuieren. Gleichwohl ist Art. 103 Abs. 2 GG auf sämtliche Strafbarkeitsvoraussetzungen anzuwenden. Denn wenn es bei Art. 103 Abs. 2 GG um die Subjektstellung des Bürgers und seine Freiheit geht, die durch gesetzliche Regelungen über die Strafbarkeit garantiert werden müssen (Rdn. 56 ff, vgl. auch Rdn. 374 ff), verliert die einfachrechtliche Zuordnung der gesetzlichen Regelungen zum Besonderen oder Allgemeinen Teil des Strafrechts im Hinblick auf das Gesetzlichkeitsprinzip ihre Bedeutung. Entscheidend ist dann nur, ob der Bürger durch eine gesetzliche Regelung einer möglichen Bestrafung ausgesetzt und so in seiner Freiheit betroffen wird. Dieses Verständnis hat eine umfassende Geltung des Gesetzlich-

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370 Tiedemann FS Baumann 7 ff; vgl. auch R. Schreiber S. 25; Moreso in Kudlich/Montiel/Schuhr S. 145, 157 ff. 371 BGHSt 45 64 ff mit Anm. Ambos NStZ 1999 404. 372 Vgl. dazu BVerfGE 96 68, 97. 373 BGHSt 35 347, 350; BGH JZ 1977 139 mit Anm. C. Schroeder. 374 BGHSt 42 235 ff. 375 BGHSt 39 374, 378; BGH NStZ 1983 452. 376 Siehe dazu nur Jähnke FS [Praxis] 50 J. BGH 393 ff. 377 Vgl. nur Frister AT 4. Kap. Rdn. 35; Jakobs AT 4/9; Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 67; Maunz/Dürig/ Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 68; Schmitz MK Rdn. 13; Stratenwerth/Kuhlen AT § 3 Rdn. 8, jeweils m.w.N.; Tiedemann Verfassungsrecht und Strafrecht S. 36 f; eingehend Kirsch Gesetzlichkeitsprinzip im AT S. 216 ff; aA Hardwig ZStW 78 (1966) 1, 8 f m.w.N. 378 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 11; Krey Studien S. 229 f; Roxin AT I § 1 Rdn. 15. 379 Frister AT 4. Kap. Rdn. 35.

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keitsprinzips auch für den Allgemeinen Teil zur Folge. Entsprechend geht das Bundesverfassungsgericht zu Recht davon aus, dass Art. 103 Abs. 2 GG grundsätzlich auch auf den Allgemeinen Teil anwendbar ist, so etwa wenn es die Regelung des § 13 über die Strafbarkeit des Unterlassens380 am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG misst oder in den Mauerschützenfällen381 die Vereinbarkeit mit Art. 103 Abs. 2 GG nur deshalb verneint, weil das Vertrauen auf menschenrechtswidrige Straffreistellungsgründe nicht geschützt sei.382 In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass es sich bei dem Grundsatz 86 „nullum crimen, nulla poena sine lege“ nicht um einen allgemein gültigen Satz handelt, der losgelöst von der jeweiligen Entwicklungsstufe des Strafrechts gilt. Zutreffend hebt Arthur Kaufmann hervor, dass dieser Satz nur in einem umfassend kodifizierten Strafrecht, das echte Tatbestände hat, Geltung beanspruchen kann, nicht hingegen für ein nur unvollkommen kodifiziertes Strafrecht oder ein System des richterlichen Fallrechts.383 Dies bedeutet für den Allgemeinen Teil, dass erst mit zunehmender Ausgestaltung durch den Gesetzgeber eine Anwendung des Art. 103 Abs. 2 GG in Betracht kommen konnte. Dieser Gedanke findet sich im Ansatz bereits bei v. Feuerbach, der den Allgemeinen Teil noch als „philosophisch“ gegen den „positiven“ Besonderen Teil abgrenzte und die „Philosophie des Strafrechts“ als Quelle des Rechts nur anerkannte, „soweit dies in ihrer Anwendung nicht durch positiv gesetzliche Bestimmungen beschränkt wird“.384 Erst wenn der Gesetzgeber in einem Allgemeinen Teil Regelungen getroffen hat, wie dies im Strafgesetzbuch geschehen ist, ist die Judikative hieran gebunden (zur Bedeutung der einzelnen Ausprägungen des Gesetzlichkeitsprinzips für den Allgemeinen Teil s. Rdn. 172 ff, 218 ff, 259 ff, 390 ff). Dies bedeutet, dass überall dort, wo der Allgemeine Teil über den Besonderen Teil hinausgehende straferweiternde Vorschriften enthält, wie dies beim Versuch, der Mittäterschaft und Teilnahme der Fall ist, Art. 103 Abs. 2 GG anwendbar ist.385 Inzwischen ist auch in Rechtsprechung und Literatur weitgehend anerkannt, dass 87 das Strafanwendungsrecht der §§ 3 ff der Regelung des Art. 103 Abs. 2 GG bzw. des § 1 unterfällt. Dies ist zu billigen, da es sich hierbei um einen Teil des materiellen Strafrechts handelt und die Strafbarkeit der in den Anwendungsnormen genannten Taten bestimmt wird.386 Aber auch strafeinschränkende Vorschriften wie der Rücktritt vom Versuch, 88 Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe oder Irrtumsregelungen enthalten Begrenzungen für die Strafverfolgungsorgane und schützen so den Freiheitsbereich des Bürgers. Daher sind die Strafverfolgungsorgane gehalten, die gesetzlichen Vorgaben zu beachten und dürfen die Freiheit des Bürgers nicht durch Verhängung von Strafen weitergehend einschränken, als das Gesetz es vorsieht.387 Dies ist allerdings in Bezug auf die Rechtfertigungsgründe äußerst umstritten, da diese allen Rechtsbereichen entstammen können (eingehend dazu Rdn. 221 f, 261 ff).

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380 BVerfGE 96 68, 98 f. 381 BVerfGE 95 96, 133; kritisch dazu Classen GA 1998 215 ff; dazu P. A. Albrecht NJ 1997 1 f; Starck JZ 1997 141 ff. 382 Kritisch dazu Paeffgen/Zabel NK Vor §§ 32 ff Rdn. 57a m.w.N. 383 Arthur Kaufmann Das Schuldprinzip S. 92 Fn. 31. 384 v. Feuerbach Peinliches Recht § 4. 385 Roxin AT I § 5 Rdn. 41. Zu den Bestimmtheitsanforderungen an die Vorschriften des Allgemeinen Teils siehe Rdn. 218 ff. 386 BVerfG wistra 2003 255, 277 (zu § 370 Abs. 7 AO a.F.); BGHSt 20 22, 25; 27 30 ff; 45 64, 71; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 2 Rdn. 18; Jäger SK § 2 Rdn. 5; Schmitz MK Rdn. 19; Fischer Rdn. 2, 5. 387 Vgl. nur Otto AT § 2 Rdn. 8.

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c) Strafrechtliche Rechtsfolgen. Nach dem Wortlaut des Art. 103 Abs. 2 GG bezieht sich der Grundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege“ nur auf die Strafbarkeit und nicht auch auf die Rechtsfolgen der Tat. Das Bundesverfassungsgericht hat gleichwohl von Anfang an auch die Rechtsfolgen der Tat in den Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 2 GG einbezogen,388 weil Tatbestand und Rechtsfolge gemessen an der Idee der Gerechtigkeit sachlich aufeinander abgestimmt sein müssten. Das Gewicht einer Straftat, der ihr in der verbindlichen Wertung des Gesetzgebers beigemessene Unwertgehalt, lasse sich in aller Regel erst aus der Höhe der angedrohten Strafe entnehmen. Insofern sei auch die Strafdrohung für die Charakterisierung, Bewertung und Auslegung des Straftatbestandes von entscheidender Bedeutung. Von daher werde unmittelbar einsichtig, dass sich Art. 103 Abs. 2 GG sowohl auf den Unrechtstatbestand als auch auf die Höhe der Strafdrohung beziehe.389 § 1 bezieht sich daher nicht nur auf die rechtlichen Voraussetzungen für die Bestrafung einer Tat, sondern auch auf die strafrechtlichen Rechtsfolgen.390 Dies gilt sowohl für die Art391 als auch für das Ausmaß392 der strafrechtlichen Rechtsfolgen (Rdn. 223 ff, 268 ff, 400 ff). 90 Die Strafe ist im Gegensatz zur reinen Präventionsmaßnahme dadurch gekennzeichnet, dass sie – wenn nicht ausschließlich, so doch auch – auf Repression und Vergeltung für ein rechtlich verbotenes Verhalten abzielt.393 Hingegen sind zivilrechtliche und zivilprozessrechtliche Regelungen und Maßnahmen wie Schmerzensgeld,394 Verwirkung von Ansprüchen395 und zivilgerichtliche Verfahren396 von vornherein nicht von Art. 103 Abs. 2 GG erfasst. aa) Strafen. „Bestrafung“ im Sinne des § 1 ist demnach Zufügung eines strafrechtlichen oder strafrechtsähnlichen Übels als staatliche Reaktion auf vorwerfbares Verhalten des Beschuldigten, das sich in erster Linie am Maß der Vorwerfbarkeit orientiert. Für die Beantwortung der Frage, ob eine von staatlicher Seite verhängte Sanktion gegen den Täter „Strafe“ in diesem Sinne ist, kommt es nicht darauf an, ob es sich um eine gesetzliche oder im Gesetz nicht (oder zur Tatzeit noch nicht) vorgesehene Reaktion auf die Tat handelt. § 1 verbietet auch die Verhängung von „Strafen“, die das Gesetz für eine tatbestandsmäßige Tat nicht zulässt. Soweit es um gesetzliche Folgen einer Tat geht, hängt deren Eigenschaft als „Strafe“ nicht notwendig von der gesetzlichen Bezeichnung ab, sondern von dem normativen Charakter der Maßnahme. Die Bezeichnung kann jedoch ein wichtiger Anhaltspunkt dafür sein, wie der einfache Gesetzgeber eine Tatfolge bewertet (vgl. § 61). Als „Strafe“ in diesem Sinne kommen demnach in Betracht: die Todesstrafe,397 Kör92 perstrafen, lebenslange und zeitige Freiheitsstrafe (§ 38), Strafarrest (§ 9 WStG), Jugend91

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388 BVerfGE 25 269, 286 ff. 389 Vgl. auch BVerfGE 105 135, 153. 390 So die ganz h.M; vgl. nur Jäger SK Rdn. 4; Lackner/Kühl/Kühl Rdn. 1; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 1, 22; Roxin AT I § 5 Rdn. 4; Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 70 ff; Fischer Rdn. 5. 391 BVerfGE 25 269, 285; 45 363, 371; BGHSt 18 40; Langer FS Dünnebier 433; Schmitz MK Rdn. 64; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 22; Fischer Rdn. 17. 392 Grundlegend BVerfGE 105 135, 153 f m.w.N.; BGHSt 13 190 ff; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 22; Schmitz MK Rdn. 64; Fischer Rdn. 17. 393 BVerfGE 20 323, 331; Appel S. 217 ff; Frister AT 1. Kap. Rdn. 1 ff; Jescheck/Weigend AT § 8 I 2; Otto AT § 1 Rdn. 8 ff; Schmidhäuser Begriff der Strafe S. 11 ff, 16; Stratenwerth/Kuhlen AT § 1 Rdn. 3 ff; jeweils m.w.N. 394 BVerfGE 34 269, 293. 395 BVerfGE 27 231, 235. 396 BVerfGE 84 82, 89. 397 Abgeschafft durch Art. 102 GG, in Westberlin durch Gesetz vom 9.1.1951, GVBl. S. 57.

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strafe (§§ 17 ff JGG), Vermögensstrafen wie Geldstrafe (§§ 40 ff) und Einziehung nach § 56 WaffG, sofern sie Strafcharakter hat,398 sodann die Einziehung, der (bisherige) Verfall und die Unbrauchbarmachung (§§ 73 ff),399 soweit sie Straf- oder strafähnlichen Charakter haben (Rdn. 400 ff).400 bb) Maßregeln der Besserung und Sicherung. Umstritten ist, ob die strafrechtli- 93 che Unterscheidung von Strafen (§§ 38 bis 45 b) und Maßregeln der Besserung und Sicherung (§ 61) auch im Hinblick auf den Grundsatz „Keine Strafe ohne Gesetz“ gilt.401 Das Bundesverfassungsgericht hat zunächst in mehreren Entscheidungen offen 94 gelassen, ob sich Art. 103 Abs. 2 GG nicht nur auf die Voraussetzungen der Strafe und die Strafe selbst, sondern auch auf alle sonstigen Reaktionen im Hinblick auf strafrechtlich missbilligtes Verhalten, also auch auf Maßregeln der Besserung und Sicherung, bezieht.402 In der Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des Wegfalls der Höchstdauer der erstmaligen Sicherungsverwahrung hat das Gericht an der Abgrenzung zwischen Strafen einerseits und Maßregeln der Besserung und Sicherung andererseits festgehalten und Art. 103 Abs. 2 GG für nicht anwendbar erklärt (näher Rdn. 408 ff).403 Dies wird damit begründet, dass die neben einer Strafe verhängte Maßregel im Allgemeinen nicht der Tatvergeltung, sondern einem schuldunabhängigen Zweck diene. Sie sei ein zur Strafe hinzutretendes Übel, das dem Täter im Interesse des Schutzes der Öffentlichkeit vor einer von ihm ausgehenden Gefahr auferlegt wird. In der Literatur wird demgegenüber teilweise eine Anwendung von Art. 103 Abs. 2 95 GG auf strafähnliche Maßnahmen gefordert, bei denen der Maßregelcharakter hinter den strafähnlichen Zielen oder Wirkungen der Sanktion derart zurückbleibe, dass dem Präventionsgedanken nur noch untergeordnete Bedeutung zukomme.404 So fordert Jung fordert für den gesamten Bereich der strafrechtlichen Sozialkontrolle ein Eingreifen des Art. 103 Abs. 2 GG, nachdem sich Strafen und Maßregeln näher gerückt seien und der Vollzug der Maßregel vor der Strafe unter Anrechnung auf die Strafe zur Regel geworden sei. Letztlich sei das Sanktionssystem zu einem untrennbar verfügten Gerüst aus präventiven und repressiven Elementen geworden, zumal die Einordnung als Strafe oder Maßregel im Belieben gesetzgeberischer Entscheidung stehe. Der Gesetzgeber dürfe aber die verfassungsrechtliche Garantie nicht durch den Übergang zu einem Maßregelrecht unterlaufen.405 Vereinzelt wird sogar die Auffassung vertreten, § 2 Abs. 6 sei verfassungswidrig. Nach dieser Vorschrift ist über Maßregeln der Besserung und Sicherung nach dem Gesetz zu entscheiden, das zur Zeit der Entscheidung gilt, wenn gesetzlich nichts anderes bestimmt ist. Wenn man Art. 103 Abs. 2 GG dahingehend auslegt, dass die Voraussehbarkeit aller Deliktsfolgen sichergestellt und die in der Strafrechtspflege wirkende Staatsgewalt gebunden werden soll, liegt ein Verstoß gegen dieses Grundrecht vor.406

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398 BVerfGE 44 308, 313, 321. 399 Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 309 ff; Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 64; Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 60; Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 21; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 2 Rdn. 5. 400 Näher dazu Saliger NK Vor § 73 ff Rdn. 7 ff; Sch/Schröder/Eser/Hecker Vorbem. § 73 Rdn. 14, 16, 19. 401 Eingehend dazu Appel S. 507 ff; Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 290 ff; Jung FS Wassermann 875 ff. 402 BVerfGE 74 102, 126; 83 119, 128. 403 BVerfGE 109 133, 172 (Rdn. 144 ff); 128 326, 392 f (Rdn. 141 f). 404 Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 64; Jäger SK Rdn. 4; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 16; Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 21; Stratenwerth/Kuhlen AT § 3 Rdn. 12; Wassermann AK-GG Art. 103 Rdn. 46. 405 Jung FS Wassermann 875, 884 ff. 406 Diefenbach S. 22, 80; Dietz S. 129; Jäger SK § 2 Rdn. 53; Schorn S. 37.

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Maßregeln der Besserung und Sicherung unterscheiden sich jedoch grundlegend von Strafen, da sie keinen sozialethischen Vorwurf ausdrücken407 und auch kein Verschulden voraussetzen. Es fehlt das normative Element, dass ein Schuldvorwurf erhoben und deshalb Vergeltung geübt werden soll.408 Das Wesen der Maßregeln erschließt sich erst vollständig, wenn der mit ihnen verfolgte Zweck, die Sicherung der Gemeinschaft gegen zukünftige Gefahren durch spezialpräventive Einwirkung auf den Täter,409 einbezogen wird. Maßregeln sind nur zulässig, um der Gefahr weiterer Straftaten vorzubeugen. Der Zweck der Maßregeln ist insoweit zwar teilidentisch mit dem Zweck der Spezialprävention. Andere Ziele wie die Einwirkung auf die Allgemeinheit, die Wiederherstellung des Rechtsfriedens oder der Ausgleich von Schuld werden durch die Verhängung von Maßregeln nicht verfolgt und dürfen auch bei der Bemessung der Maßregeln keine Rolle spielen.410 Außerdem unterscheiden sich Strafen und Maßregeln hinsichtlich der Legitimation: Die Maßregel richtet ihren Blick nach dem Willen des Gesetzgebers nur in die Zukunft; sie knüpft gerade nicht an den Vorhalt der defizitären Einstellung zur Norm an, sondern an die voraussichtliche Entwicklung des Täters in der Zukunft. Damit fehlt es an einer ausreichenden Verknüpfung zwischen dem Vorhalt der Normverletzung und dem auferlegten Übel. Mangels Strafcharakters der Maßregeln gelten deshalb die spezifisch strafrechtlichen Verfassungsgarantien des Art. 103 Abs. 2 GG nicht. 97 Der Bundesgerichtshof hat deshalb die Anwendbarkeit des Art. 103 Abs. 2 GG auf die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zu Recht verneint.411 Er hat ebenso entschieden für die durch die Führungsaufsicht ersetzte Polizeiaufsicht des früheren Rechts,412 für die Entziehung der Fahrerlaubnis413 und für die Einziehung und Unbrauchbarmachung, soweit sie Sicherungsmaßnahmen sind.414 § 2 Abs. 4 StGB 1969, der § 2 Abs. 6 der geltenden Fassung entspricht, wurde ausdrücklich als mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar angesehen.415 Unter Hinweis auf die Begründung zum E 1962416 hat der Bundesgerichtshof ausgeführt, der Grundgesetzgeber habe eine Strafrechtsordnung vorgefunden, die zwischen Strafe und Maßregel scharf unterscheidet. Da die Verfassungsbestimmung nur die Strafe unter Art. 103 Abs. 2 GG stelle, müsse hieraus geschlossen werden, dass der einfache Gesetzgeber hinsichtlich der Maßregeln freigestellt sei.417 Problematischer ist die Einordnung der im Jugendgerichtsgesetz als Erziehungs98 maßregel vorgesehenen Weisungen, Arbeitsleistungen zu erbringen (§ 5 Abs. 1, § 9 Nr. 1, § 10 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 JGG). Das Bundesverfassungsgericht konnte die Frage offen lassen, ob sich das Gebot der gesetzlichen Bestimmtheit nach Art. 103 Abs. 2 GG nur auf die Voraussetzungen der Strafe und diese selbst bezieht oder ob es darüber hinaus für alle Reaktionen auf missbilligtes Verhalten gilt, weil die Voraussetzungen, Ziele, Dauer und Begrenzungen dieser Weisungen in § 10 Abs. 1 S. 1 und 2, § 11 Abs. 1 und 2 JGG so eingehend geregelt sind, wie es in einem notwendig abstrakt gehaltenen Gesetz, das eine dem

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407 BVerfGE 22 79; 25 286; 27 29; 43 105; 105 135, 151; BGHSt 5 32; 11 266; Jescheck/Weigend AT § 9 II; R. Schmitt FS Würtenberger 277. 408 So schon Birkmeyer S. 15, 39. 409 BVerfGE 55 31. 410 Vgl. nur Frisch ZStW 102 (1990) 358 m.w.N. 411 BGH bei Dallinger MDR 1975 722; näher dazu Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 307 f. 412 BGHSt 24 103, 104 ff. 413 BGHSt 5 168, 173. 414 BGHSt 16 49, 56. 415 BGHSt 24 103, 106. 416 BTDrucks. IV/650 S. 108. 417 Im Ergebnis ebenso Lackner/Kühl/Kühl Rdn. 8.

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Einzelfall gerecht werdende erzieherische Einflussnahme des Richters auf den Jugendlichen ermöglichen soll, verfassungsrechtlich geboten ist.418 Da es bei den Weisungen, Arbeitsleistungen zu erbringen, nicht um Ahndung und Sühne, sondern allein darum geht, der durch die konkrete Straftat erkennbar gewordenen Erziehungsbedürftigkeit des Täters mit sachgerechten und zumutbaren Mitteln Rechnung zu tragen, ist § 1 bzw. Art. 103 Abs. 2 GG nicht anwendbar.419 Umstritten ist weiterhin, inwieweit Bewährungsauflagen nach §§ 56b ff den Garan- 99 tien des Art. 103 Abs. 2 GG und des § 1 unterliegen. Die h.M. verneint dies.420 Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts soll § 56b Abs. 2 Nr. 3 nicht das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG verletzen.421 Die Gegenmeinung beruft sich darauf, dass es sich bei den Bewährungsauflagen um Rechtsfolgen handele, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Strafausspruch stehen.422 Dies ist zwar zutreffend; gleichwohl betrifft die Strafaussetzung zur Bewährung ihrer rechtlichen Konstruktion nach nicht die Strafe, sondern bedeutet eine Modifikation der Vollstreckung der Freiheitsstrafe, die zum Aufschub der Vollstreckung und zum späteren Erlass der Strafe führt, sofern der Täter die Widerrufsvoraussetzungen nicht erfüllt.423 Außerdem sieht § 56c vor, dass Bewährungsauflagen nachträglich geändert werden dürfen. Die Rechtsprechung behandelt die Strafaussetzung zur Bewährung auch als Modifikation der Vollstreckung, indem sie die Strafhöhe unabhängig von der Aussetzung bemisst.424 Zwar kann die einfachrechtliche Regelung des § 56c die Verfassungsnorm des Art. 103 Abs. 2 GG nicht ändern.425 Jedoch hat es der Gesetzgeber in der Hand, eine Rechtsfolge so auszugestalten, dass es sich bei dieser nicht um eine Strafe handelt, und dies ist bei der Strafaussetzung zur Bewährung und den Bewährungsauflagen der Fall. Deshalb greifen nur die allgemeinen rechtsstaatlichen Garantien (dazu sogleich Rdn. 100), nicht aber Art. 103 Abs. 2 GG ein. Da das Bundesverfassungsgericht in späteren Entscheidungen immer wieder klar ge- 100 stellt hat, dass sich Strafen einerseits und Maßregeln der Besserung und Sicherung andererseits in ihrer Zwecksetzung erheblich voneinander unterscheiden müssen (sog. Abstandsgebot)426 und auch bezüglich der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung ein Eingreifen des Art. 103 Abs. 2 GG ausdrücklich verneint wurde (Rdn. 408), sind auf Maßregeln der Besserung und Sicherung lediglich die allgemeinen rechtsstaatlichen Garantien anwendbar:427 Die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind allgemein an Gesetz und Recht gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG), woraus sich gemeinsam mit dem Recht auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) und verstärkt durch Art. 5 und 7 EMRK auch ein besonderer Vertrauensschutz bzgl. bestehender rechtlicher Grenzen eines Freiheitsentzugs ergibt.428 Die Freiheit der Person kann nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden (Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG). Über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsent-

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418 BVerfGE 74 102, 126. 419 BVerfGE 74 102, 122 f; aA Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 74; Schmitz MK Rdn. 18. 420 Jäger SK Rdn. 3; Fischer Rdn. 5; jeweils m.w.N. 421 BVerfG NStZ 1991 181. 422 OLG Schleswig NJW 1978 2107, 2108; Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 74; Schmitz MK Rdn. 18; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 8, 16. 423 BGHSt 7 189; Lackner/Kühl/Heger § 56 Rdn. 2 m.w.N. 424 BGHSt 29 319; OLG Karlsruhe NStZ-RR 1997 2. 425 So zutreffend Schmitz MK Rdn. 18. 426 BVerfGE 109 133, 167 (Rdn. 126); 128 326, 374 ff (Rdn. 100 ff), 134 33, 62 (Rdn. 74), 65 ff (Rdn. 81 ff). 427 BVerfGE 109 133, 172 (Rdn. 144 ff); 128 326, 392 f (Rdn. 141 f); 134 33, 80 f (Rdn. 110 ff). 428 BVerfGE 133 40 (Rdn. 27 ff); 134 33, 59 ff (Rdn. 66 ff), 91 ff (Rdn. 133 ff).

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ziehung hat nur der Richter zu entscheiden (Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG). Auch das Eigentum ist von Verfassungs wegen gewährleistet (Art. 14 Abs. 1 und 3 GG). Der Gesetzgeber hat das Problem des fehlenden Eingreifens des Art. 103 Abs. 2 GG 101 weiter dadurch entschärft, dass er für den Bereich der Maßregeln der Besserung und Sicherung mit den §§ 62 bis 72 Regelungen geschaffen hat, die dem Gebot gesetzlicher Bestimmtheit weitgehend Rechnung tragen. Jedoch setzt § 2 Abs. 6 das Rückwirkungsverbot des § 1 für sie grundsätzlich außer Kraft (Rdn. 407; § 2 Rdn. 167 ff). Deshalb bleibt die Haltung des Bundesverfassungsgerichts, das Maßregeln der Besserung und Sicherung nicht unter den Begriff der „Strafbarkeit“ im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG subsumiert, von praktischer Bedeutung. Wenn der Gesetzgeber die Maßregeln der Besserung und Sicherung so ausgestaltet, dass es sich um „strafrechtliche Reaktionen“ handelt, bedarf es einer verfassungskonformen restriktiven Auslegung des § 2 Abs. 6. Indizien hierfür sind, dass die Verhängung einer Maßregel nur eine Anlasstat und nicht auch weitere nicht-strafrechtliche Merkmale voraussetzt und dass die Ausgestaltung der Maßregelvollstreckung nicht der eigenständigen Zielsetzung der Maßregel entspricht und nicht außerstrafrechtlichen (verwaltungsrechtlichen) Grundsätzen folgt. Wenn die gesetzgeberische Einordnung als außerstrafrechtliches Reaktionsmittel hingegen nicht gerechtfertigt ist, sondern willkürlich erscheint, bedarf es des umfassenden Freiheitsschutzes des Art. 103 Abs. 2 GG.429 cc) Außerstrafrechtliche Rechtsfolgen. § 1 gilt – ebenso wie Art. 103 Abs. 2 GG – nicht für sonstige Rechtsfolgen, die keine Strafen darstellen. Dabei ist der Anwendungsbereich des § 1 insofern enger als der des Art. 103 Abs. 2 GG, als die Verfassungsnorm auch das Strafrecht im weiteren Sinne, insbesondere das Ordnungswidrigkeitenrecht erfasst, für das § 3 OWiG eine § 1 StGB vergleichbare Regelung enthält, die den Grundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege“ normiert (Rdn. 69). Als Strafe sind nicht gewertet worden: die Teilnahme an einem Verkehrsunterricht 103 auf Grund einer Vorladung nach § 6 StVO a.F., der dem geltenden § 48 StVO entspricht;430 die Verzinsungspflicht kartellbehördlicher Geldbußen nach § 81 Abs. 6 GWB, da diese Zinsen keinen pönalen Charakter besitzen,431 die Entziehung der Verteidigungsbefugnis eines Rechtsanwalts432 vor Einführung der §§ 138a, 138b StPO durch das Gesetz zur Ergänzung des 1. StVRG vom 20.12.1974;433 die Versagung rückerstattungsrechtlicher Ansprüche nach § 43a BRüG i.d.F. des Gesetzes vom 2.10.1964 (BGBl. I S. 809).434

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d) Verfahrensrecht. Verfahrensrechtliche Vorschriften, die ausschließlich die Verfolgungsvoraussetzungen betreffen, werden nach h.M. von Art. 103 Abs. 2 GG nicht erfasst.435 So hat das Bundesverfassungsgericht in einem Fall, der die Verfassungskonformität von Observationen unter Einsatz des Global Positioning Systems (GPS) betraf, ausdrücklich hervorgehoben, dass die strengeren Anforderungen des Gebots der Gesetzesbestimmtheit in Art. 103 Abs. 2 GG für die Vorschriften des Strafverfahrensrechts keine

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429 Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 296; zur verfassungskonformen Auslegung des § 2 Abs. 6 vgl. auch Ullenbruch NStZ 1998 326 ff; Jung FS Wassermann 875, 878 f, 884 ff. 430 BVerfGE 22 21, 24, 25 f. 431 BVerfGE 133, 1, Rdn. 92 ff. 432 Vgl. BGHSt 15 326. 433 BVerfGE 22 114, 119. 434 BVerfGE 27 231, 236 f. 435 BVerfGE 25 269, 286 f; BVerfG NJW 1995 1145; BGHSt 40 113, 118; Kindhäuser LPK Vor §§ 78–78c Rdn. 3; Lackner/Kühl/Kühl § 78 Rdn. 5; Jescheck/Weigend AT § 15 IV 4; Jäger SK Rdn. 21; Schmitz MK Rdn. 19; Gaede AnwK Rdn. 10.

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Geltung beanspruchen.436 Dies wird damit begründet, dass das Gesetzlichkeitsprinzip nicht dazu diene, dem Bürger zu ermöglichen, sich über das Ob und Wie der Verfolgbarkeit einer Straftat zu informieren.437 Demgegenüber beruft sich eine Mindermeinung darauf, dass auch das Strafprozess- 105 recht strafbestimmend sein könne, da nur die justizförmig bewiesene Tat strafbar sei. Wenn die Strafbarkeit in einem Rechtsstaat nur durch ein justizförmiges Verfahren festgestellt werden könne, werde das Verfahren auf diese Weise selbst zur Strafbarkeitsvoraussetzung und das Verfahrensrecht damit zu einem untrennbaren Teil des Strafrechts.438 Außerdem wird für „eingreifende“ Verfahrensakte jedenfalls das Eingreifen des Analogieverbots gefordert.439 Ähnlich deutet das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum Europäi- 106 schen Haftbefehl an, dass das strafrechtliche Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG auch dann in Erwägung zu ziehen sein könnte, wenn sich ein bislang vor Auslieferung absolut geschützter Deutscher für Taten in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union verantworten muss, die keinen maßgeblichen Auslandsbezug aufweisen und zum Zeitpunkt ihrer Begehung in Deutschland straffrei waren (näher dazu Rdn. 412, 422). Diese Rechtsänderung könne einer materiellen rückwirkenden Rechtsänderung gleichstehen.440 Diese Ausführungen stimmen mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts überein, wonach Art. 103 Abs. 2 GG verbietet, im Falle einer bereits eingetretenen Verjährung im Nachhinein die Tat wieder für strafbar zu erklären,441 auch wenn es sich bei der Verjährung nach h.M. nicht um ein rein prozessrechtliches Rechtsinstitut handelt (Rdn. 424). Bezüglich der Anwendbarkeit des Art. 103 Abs. 2 GG auf verfahrensrechtliche Vorschriften ist eine Differenzierung nach den verschiedenen Ausprägungen des „nullum crimen“-Satzes erforderlich (näher dazu Rdn. 272 ff, 411 ff). 3. Personeller Schutzbereich. Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 gelten für jedermann, also 107 für natürliche und auch für juristische Personen, sofern letztere Sanktionen staatlicher Strafgewalt unterworfen werden.442 V. Gewährleistungsgehalt des „nullum crimen, nulla poena sine lege“-Satzes (Art. 103 Abs. 2 GG; § 1 StGB) Das Gesetzlichkeitsprinzip hat vier wesentliche Ausprägungen bzw. Teilprinzi- 108 pien, die sich jeweils gegen bestimmte Möglichkeiten der Beeinträchtigung einer rechtsstaatlichen Ausübung der Strafgewalt richten:443 das Gesetzlichkeitsprinzip (Rdn. 109, 114 ff); den Bestimmtheitsgrundsatz (Rdn. 110, 179 ff), das Analogieverbot (Rdn. 111, 238 ff) und das Rückwirkungsverbot (Rdn. 112, 360 ff). Es setzt für die Strafbegründung und Strafschärfung einen geschriebenen Straf- 109 rechtssatz voraus (nullum crimen, nulla poena sine lege scripta).444 Gesetzliches

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436 BVerfGE 112 304, 315. 437 Jescheck/Weigend AT § 15 III 2c; Kindhäuser LPK Vor §§ 78 bis 78c Rdn. 3; Jäger SK Rdn. 10 m.w.N. 438 So Jäger GA 2006 615, 619; näher dazu Rdn. 274. 439 Tiedemann FS Peters 131, 133 ff; Roxin/Arzt/Tiedemann Einführung S. 112; näher dazu unten Rdn. 274. 440 BVerfGE 113 273, 308 f. 441 BVerfGE 25 269, 286, 287. 442 Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 27. 443 Vgl. dazu Krahl S. 284 ff; Roxin AT I § 5 Rdn. 7 ff. 444 BVerfGE 32 346, 362; 33 206, 219.

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Recht ist stets nur das geschriebene, das verschriftlichte Recht. Ganz allgemein ist daher unter Gesetz im Sinne von Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 jede geschriebene, aus einer verfassungsmäßig anerkannten Quelle stammende und mit verbindlicher Kraft ausgestattete (Rechts-)Norm zu verstehen (Rdn. 117 f).445 Daraus ergibt sich folgerichtig das Verbot jeglicher Strafbegründung und Strafschärfung durch ungeschriebenes Recht, gleichviel, ob es sich dabei um Gewohnheitsrecht oder sonst ungeschriebenes Recht handelt.446 Es gelten ein strikter Vorbehalt des Strafgesetzes (Rdn. 54, 118) und das Verbot des Gewohnheitsrechts in malam partem (Rdn. 169). Dabei ist insbesondere umstritten, inwieweit Gewohnheitsrecht im Bereich des Allgemeinen Teils auch in malam partem zulässig ist (Rdn. 171 ff). Hinzu tritt ein im Grundsatz an den Gesetzgeber gerichtetes Gebot, diese Strafrechts110 sätze hinreichend bestimmt zu fassen (nullum crimen, nulla poena sine lege certa), um Strafen auf der Grundlage ungenauer und damit manipulierbarer Gesetze auszuschließen (Rdn. 179 ff). Durch das Bestimmtheitsgebot soll dem Bürger ermöglicht werden, das strafrechtlich verbotene Verhalten zu erkennen und sein Verhalten danach auszurichten. Verstößt der Gesetzgeber hiergegen, so führt dies zur Verfassungswidrigkeit der Strafnorm (Rdn. 54).447 Darüber hinaus richtet sich das Bestimmtheitsgebot auch an den Richter, der bei unbestimmten Tatbestandsmerkmalen im Wege der verfassungskonformen Auslegung sowie ggf. Präzisierung den Vorgaben des Art. 103 Abs. 2 GG entsprechen muss (Rdn. 195, 201, 326 ff). Das Verbot der strafbegründenden und strafschärfenden Analogie448 (nullum cri111 men, nulla poena sine lege stricta) bindet den Rechtsanwender an den möglichen Wortsinn, der nicht zum Nachteil des Strafrechtsunterworfenen überschritten werden darf (Rdn. 238 ff). Es dient der Absicherung der Garantiefunktion des Strafgesetzes und ergänzt das Bestimmtheitsgebot, indem es dem Strafrichter untersagt, einen gesetzlichen Straftatbestand auf einen von ihm „an sich“ nicht erfassten, rechtsähnlichen Fall (Lebenssachverhalt) zu erstrecken. Sowohl die Gesetzesanalogie, bei der die Übertragung einer einzelnen Rechtsregel auf einen im Gesetz nicht geregelten anderen Fall im Wege eines Ähnlichkeitsschlusses erfolgt, als auch die Rechtsanalogie, bei der ein aus mehreren Vorschriften abzuleitender Rechtsgedanke übertragen wird, sind im Strafrecht unzulässig (Rdn. 244).449 Dabei ist es erforderlich, die verbotene Analogie von der erlaubten Auslegung des Gesetzes abzugrenzen (Rdn. 247 ff). Weiterhin muss die Auslegung den verfassungsrechtlichen Vorgaben Rechnung tragen (Rdn. 291 ff). Als weitere Unterausprägung des Gesetzlichkeitsprinzips ist das Rückwirkungsver112 bot (nullum crimen, nulla poena sine lege praevia) zu nennen (Rdn. 360 ff): Die Strafrechtssätze müssen zur Tatzeit gültig und anwendbar sein,450 dürfen demnach mit rückwirkender Kraft weder erlassen werden noch zur Anwendung kommen.451 Dies gilt auch für nach der Tatbegehung erfolgende Strafschärfungen. Das Rückwirkungsverbot richtet sich sowohl an den Gesetzgeber als auch an den Strafrichter.

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445 Jäger SK Rdn. 6; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 8. 446 BVerfGE 75 329, 340. 447 Vgl. nur BVerfGE 105 135, 152 ff; Schmitz MK Rdn. 6; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 17. 448 Nach h.M. handelt es sich hierbei um eine vierte selbständige Gewährleistung des Gesetzlichkeitsprinzips; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 1; Krey Strafe Rdn. 35 ff, 106 ff; Jäger SK Rdn. 13; siehe auch Felix S. 194, 201; Schroeder NJW 1999 89. Teilweise wird hierin eine Konsequenz des Bestimmtheitsgebots gesehen, so Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 14. 449 BVerfGE 41 261, 263; 75 329, 340. 450 Vgl. BVerfGE 14 178, 185; 25 269, 285; 32 346, 362; 44 308, 313. 451 BVerfGE 7 111, 119; 44 297, 300; 75 329, 340.

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Alle vier Ausformungen des Gesetzlichkeitsprinzips452 gehören eng zusammen und 113 bringen erst in ihrer Gesamtheit die Aufgabe des Gesetzlichkeitsprinzips zustande, die darin liegt, die Strafrechtspflege verlässlich, voraussehbar, täuschungsfrei und nachprüfbar zu machen.453 1. Vorbehalt des Strafgesetzes und Verbot des Gewohnheitsrechts. Art. 103 114 Abs. 2 GG gebietet formell, dass die Strafbarkeit und die Art der Strafen grundsätzlich in einem parlamentarischen Gesetz bestimmt sein müssen (nullum crimen sine lege scripta).454 Insoweit wird der allgemeine Gesetzesvorbehalt konkretisiert, um den Normadressaten dahingehend zu schützen, dass für ihn vorhersehbar ist, welches Verhalten strafbar ist. 455 Dennoch darf die verhaltenssteuernde Wirkung von Strafgesetzen (Rdn. 54) nicht überschätzt werden.456 Wichtiger ist, dass objektivrechtlich sichergestellt werden soll, dass der parlamentarische Gesetzgeber und nicht die Exekutive oder Judikative über die Strafbarkeit der Bürger entscheidet457 und der Strafrichter an das geschriebene Gesetz hinsichtlich der Rechtsquelle gebunden ist (Rdn. 54 ff). Straftatbestände sind vielfach auf eine Ausfüllung durch andere Rechtsakte ange- 115 legt und angewiesen. Da sich der parlamentarische Strafgesetzesvorbehalt nur auf die wesentlichen Voraussetzungen der Strafbarkeit und Straffolge erstreckt, ist es nicht erforderlich, dass alle Einzelheiten in einem Gesetz im formellen Sinn geregelt sind. Vielmehr kann in Strafgesetzen auch auf Ausfüllungsnormen verwiesen werden (Rdn. 125 ff). In der strafrechtlichen Literatur wird die Konkretisierungsbedürftigkeit des Strafgesetzes durch einen weiteren Rechtsakt der Legislative oder Exekutive in der Regel als Problematik der Blankettstrafgesetze behandelt (Rdn. 148 ff). Außerdem ist strafbegründendes und strafschärfendes Gewohnheitsrecht mit § 1 und Art. 103 Abs. 2 GG nicht vereinbar; diesbezüglich ist insbesondere problematisch, inwieweit dies auch für den Allgemeinen Teil des Strafrechts gilt (Rdn. 169, 171 ff). Selbst in ganz klassischen Deliktstatbeständen, die nicht offenkundig akzessorisch 116 sind, werden die Verhaltensregeln für konkrete Situationen oft letztlich erst durch Dritte bestimmt. So hängt das Bestehen des Verbots, sich in eine fremde Wohnung zu begeben, und damit die Begehung einer Tat nach § 123 Abs. 1, vom Bestehen bzw. Nicht-Bestehen eines Einverständnisses des Berechtigten ab. Das Bestehen des Verbots, einem Patienten chirurgisch den Bauchraum zu öffnen, und damit eine rechtswidrige Verwirklichung von § 223 Abs. 1, hängt von der wirksamen Erklärung einer Einwilligung ab bzw. vom Fehlen einer solchen. Zudem werden strafbewehrte Verhaltensregeln aus Privatverträgen übernommen, z.B. als Garantenstellung aus tatsächlicher Übernahme, wenn die

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452 Marxen GA 1985 535 ff entnimmt dem Gesetzlichkeitsprinzip weiterhin das Verbot einer experimentellen Strafgesetzgebung. Hiergegen spricht jedoch, dass angesichts der Aufgabe des Gesetzgebers zur Planung und Gestaltung jedes Gesetz die Vermutung einer dauerhaften Regelung in sich trägt. Deshalb hat das BVerfG die Unterscheidung zwischen Dauer- und Maßnahmegesetz zu Recht für verfassungsrechtlich irrelevant erklärt, vgl. BVerfGE 25 371, 396. 453 Hassemer/Kargl NK Rdn. 13. 454 BVerfGE 75 329, 342; 78 374, 382; 85 69; 72; 87 399, 411; Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 222 f; Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 63; Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 28. Mit einem Überblick zur Genese des Gesetzeskonzepts Kargl Rdn. 17 ff. 455 BVerfGE 87 399, 411; Appel S. 117 f; Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 68; Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 28; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 241 m.w.N.; krit. Grünwald FS Arthur Kaufmann 433, 435 ff. 456 Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 259; Ransiek S. 14 ff; Schünemann Nulla poena S. 12 ff; Wassermann AK-GG Art. 103 Rdn. 45. 457 BVerfGE 71 108, 114; 87 399, 411; 89 209, 224; Schütz S. 55; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 248.

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übernommene Verpflichtung durch Vertrag bestimmt wird.458 Dort, wo das Strafrecht Autonomie schützt – in einem wirklich freiheitlichen Strafrecht sollte das überall der Fall sein –, entscheidet über die Geltung (Maßgeblichkeit) der Verhaltensregel, die in der konkreten Straftat verletzt wird, nicht allein der Gesetzgeber. Vielmehr besteht die geschützte Autonomie gerade darin, dass die berechtigte Person selbst über die Maßgeblichkeit der Verhaltensregel bestimmen darf. Wenn dabei die strafrechtliche Vorschrift als gesetzlich und die Entscheidung des Berechtigten als bloß tatbestandlich relevante Tatsache angesehen werden, ist das eine rein formale Konstruktion, die den wesentlichen Kern der Kompetenzverteilung und damit den strafrechtlichen Schutzzweck nicht erfasst. Zugleich fallen die privat gesetzten Normen unzweifelhaft nicht mehr unter den Gesetzesbegriff des § 1 bzw. Art. 103 Abs. 2, Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG. Vielmehr ist zunächst zu präzisieren, welche Entscheidungen vom Strafgesetzgeber in der Form eines Gesetzes (im weiten, sogleich Rdn. 118–147 eingehend darzustellenden Sinne) zu treffen sind: Die Sanktionsnorm bedarf der Gesetzesform, d.h. der Strafdrohung einschließlich ihres Bezugs auf eine Verhaltensnorm. Dieser Bezug darf (wie in den gegebenen Beispielen) indes schematisch sein in dem Sinne, dass das Gesetz nur Form und Inhalt der Norm vorgibt (etwa das Verbot oder die Erlaubnis, die Wohnung zu betreten, in der Form des Bestehens oder Nichtbestehens eines Einverständnisses), während es die Geltung (Maßgeblichkeit im konkreten Fall) offenlässt und insoweit an die Entscheidung eines Berechtigten anknüpft. Zulässig ist dies dort, wo diese Entscheidungskompetenz zum strafrechtlich geschützten Rechtsgut gehört. Insbesondere wenn es sich dabei um eine menschenrechtlich geschützte Position handelt (wie dem Recht auf körperliche Unversehrtheit), liegt nicht einmal eine staatliche Übertragung einer Kompetenz vor, sondern wird vielmehr eine für den Staat verbindliche Kompetenz des Einzelnen geachtet. In solchen Fällen dürfte der Staat also gar nicht mehr als eine im angegebenen Sinne schematische Regelung treffen. Eine Kompetenzverlagerung innerhalb des Staates von der Legislative auf die Exekutive oder Judikative ist hingegen nur eingeschränkt zulässig (dazu eingehend Rdn. 125 ff). Die weiteren Anforderungen des Gesetzlichkeitsprinzips – das Bestimmtheitsgebot (Rdn. 179 ff), das Analogieverbot (Rdn. 238 ff), deren Konsequenzen für die Auslegung (Rdn. 291) und das Rückwirkungsverbot (Rdn. 360) – gelten nicht nur für das Gesetz, sondern auch für in ihm in Bezug genommene, die Geltung der vorausgesetzten Verhaltensnorm betreffende Entscheidungen, soweit diese sich für den Beschuldigten nachteilig auswirken. Sie dürfen also insbesondere nicht über ihren für den Beschuldigten bereits zur Tatzeit eindeutig erkennbaren Inhalt hinaus einer Verurteilung zugrunde gelegt werden (vgl. z.B. Rdn. 136). 117

a) Verweisung der Strafnormen auf andere Rechtsakte. Gesetz im Sinne des § 1 meint die einzelne gesetzliche Vorschrift, nicht das Gesetzeswerk im Ganzen.459 Als gesetzliche Vorschriften in diesem Sinne kommen nach h.M. alle geschriebenen Normen (leges scriptae) in Betracht, die aus einer verfassungsmäßig anerkannten Rechtsquelle stammen.460 Deshalb kann in formellen Strafgesetzen nicht nur auf andere förmliche Gesetze (Rdn. 117), sondern auch auf andere Normen wie Rechtsverordnungen (Rdn. 126 ff), Satzungen (Rdn. 129 ff) und (normkonkretisierende) Verwaltungsvorschrif-

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458 Die Tatsächlichkeit der Übernahme ist dafür relevant, dass das Bestehen der strafrechtlichen Pflicht nicht von Details der Wirksamkeit des Vertrages abhängt, doch den Gegenstand der Verpflichtung bestimmt der Vertrag. 459 Fischer Rdn. 2. 460 Wassermann AK-GG Art. 103 Rdn. 47; Jäger SK Rdn. 6; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 8.

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ten (Rdn. 132) sowie auf administrative Einzelentscheidungen (Rdn. 133) verwiesen werden.461 Dabei steht außer Frage, dass die Gesetzeskette lückenlos sein muss.462 aa) Gesetzesbegriff des Art. 103 Abs. 2 GG und des § 1 StGB. „Gesetze“ sind in ers- 118 ter Linie formelle Gesetze, also Rechtsnormen, die im vorgeschriebenen Gesetzgebungsverfahren beschlossen worden sind. Es kann sich im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 72, 74 Nr. 1 GG) um Bundes- oder Landesrecht handeln. Fraglich ist allerdings, ob der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt ein formelles Gesetz erfordert oder ob auch materielle Gesetze, insbesondere Rechtsverordnungen ausreichen, um den Anforderungen des Gesetzlichkeitsprinzips zu entsprechen. Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet als Gesetz im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG nicht nur formelle Gesetze, sondern auch Rechtsverordnungen, die im Rahmen von Ermächtigungen ergangen sind (BVerfGE 14 174, 185; 51 60, 73) sowie kommunale Satzungsvorschriften (BVerfGE 32 246, 363; 38 348, 371 f; 71 108, 114 ff).463 Es geht damit von einem materiellen Gesetzesbegriff aus. Allerdings wird teilweise auch betont, Art. 103 Abs. 2 GG enthalte einen strengen Gesetzesvorbehalt (BVerfGE 47 109, 120; 91 1, 11 f) bzw. setze diesen voraus (BVerfGE 14 174, 185; 29 183, 196; 73 206, 234). Hier wird deutlich, dass das materielle Verständnis des Gesetzesbegriffs auf der Blankettdefinition beruht: Wenn der Straftatbestand bei Blanketten durch Verweisungs- und Ausfüllungsnorm gebildet und die Ausfüllungsnorm in das Blankett inkorporiert wird, erstrecken sich die Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG auch auf die Ausfüllungsvorschrift, sofern es sich hierbei um eine Rechtsverordnung handelt, die den Voraussetzungen des Art. 80 Abs. 1 GG genügt. Hiergegen spricht jedoch, dass der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt eine Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers erfordert (Rdn. 54), und eine solche ist nur gewährleistet, wenn für Art. 103 Abs. 2 GG nur ein formelles Gesetz genügt. Deshalb ist – entgegen der h.M.464 – bei Art. 103 Abs. 2 GG nicht von einem einheitlichen Gesetzesbegriff auszugehen: Während beim Bestimmtheitsgebot ein weiter Gesetzesbegriff zugrunde zu legen ist, der alle geschriebenen Normen umfasst, die aus einer verfassungsmäßig anerkannten Rechtsquelle fließen465 und damit die objektiv-individuelle Vorhersehbarkeit für den Bürger garantieren, erfordert der Gesetzesvorbehalt im Interesse der demokratischen Legitimation des Freiheitseingriffs durch Strafrecht einen formellen Gesetzesbegriff: Das förmliche Gesetz muss bei echten Blankettgesetzen, bei denen nur die verweisende Vorschrift ein formelles Gesetz ist (Rdn. 150), auf der Tatbestandsseite nicht nur den geschützten Wert (so die h.M.), sondern auch die strafbaren Verhaltensweisen beschreiben (Rdn. 127).466 Hingegen reicht es bei unechten Blankettgesetzen, da sowohl das verweisende als auch das in Bezug genommene Gesetz formelle Gesetze sind, aus, wenn der abstrakte Pflichtenverstoß und der geschützte Wert aus dem formellen Gesetz hervorgehen, während der konkrete Umfang der Pflicht sich auch durch Auslegung ergeben kann.467 Spezifizierende Vorschriften (näher dazu Rdn. 127) müssen nicht in einem formel- 119 len Gesetz enthalten sein. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Regelungstechnik des parlamentarischen Gesetzgebers sind dahingehend zu interpretieren, dass

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461 Eingehend Cornelius Verweisungsbedingte Akzessorietät passim, zu einem kategoriellen Überblick siehe dort S. 10 ff, zu diversen konkreten Verweisungsformen S. 243 ff. 462 OLG Stuttgart NStZ-RR 1999 379. 463 Vgl. auch BVerfG NStZ 1990 394. 464 Käckell S. 228 ff; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 2 Rdn. 49 m.w.N. 465 Vgl. nur Jäger SK Rdn. 6; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 8; Fischer § 1 Rdn. 2; jew. m.w.N. 466 Enderle S. 216 ff; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 254 ff, 258; Th. Schröder NZWiSt 2015 321, 332. 467 Vgl. BVerfGE 75 329, 342; 87 399, 407; Appel S. 129.

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dieser entscheiden muss, ob er auf Unions-, Landes-, kommunales oder administratives Recht verweist. Er selbst muss die wesentlichen Voraussetzungen der Strafbarkeit bestimmen. Die rechtsstaatlich-demokratische Komponente des Gesetzlichkeitsprinzips erfordert – entgegen der h.M., die auch Rechtsverordnungen ausreichen lässt (Rdn. 127) – die Förmlichkeit des Gesetzes für die wesentlichen Strafbarkeitsvoraussetzungen entsprechend der Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 49 89, 126). Diesen Anforderungen tragen jedenfalls solche Blankettgesetze Rechnung, bei denen das Schutzgut aus dem Gesetz selbst oder dem Gesetzeszusammenhang entnommen werden kann und die zumindest generische Angaben des deliktischen Verhaltens vorgeben. Die untergesetzlichen Akte dürfen Umfang und Inhalt der Strafbarkeitsvoraussetzungen nicht selbst kraft Delegation gestalten. Sie können nur die gesetzgeberische Entscheidung konkretisieren bzw., wie das Bundesverfassungsgericht formuliert hat, spezifizieren.468 Eine über die bloße Spezifizierung hinausgehende Konkretisierung des förmlichen Gesetzes durch Gesetze im materiellen Sinne ist mit dem rechtsstaatlichdemokratischen Gehalt des Art. 103 Abs. 2 GG nicht vereinbar. 120 Im Gegensatz zur neuen Verabschiedung des ganzen Inhalts eines schon bisher geltenden und nur zum Teil geänderten Gesetzes durch die gesetzgebenden Körperschaften selbst und zur Verkündung des derart neu gesetzten Rechts469 ist die Bekanntmachung eines Gesetzes durch einen Bundesminister kein konstitutiver gesetzgeberischer Akt. Er unterliegt daher nicht Art. 103 Abs. 2 GG. Gilt ein Strafgesetz des früheren Reichsrechts, das nicht aufgehoben worden ist, 121 nach Art. 123 Abs. 1 und Art. 125 GG als Bundes- oder Landesrecht fort, so verstößt dies nicht gegen Art. 103 Abs. 2 GG. Durch die Überleitung bestehender Strafvorschriften wird die Strafbarkeit nicht neu oder erstmals begründet. Das von dem normalen Gesetzgebungsverfahren abweichende Fortgelten von altem Recht kann nicht gegen eine andere Verfassungsbestimmung von gleichem Rang verstoßen. Die verfassungsrechtliche Garantie, dass eine Tat nur bestraft werden darf, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde, wird jedenfalls durch die Zuordnung der Strafvorschrift zur Landesgesetzgebung nicht verletzt.470 Eine Ersatzfreiheitsstrafe kann nicht an die Stelle einer uneinbringlichen Geldstrafe treten, wenn die Verurteilung zur Geldstrafe nicht auf einer gültigen Strafvorschrift beruht.471 Ein Sonderproblem stellen Anweisungen des EU-Gesetzgebers an die Mitglied122 staaten dar, Strafnormen eines bestimmten Inhalts einzuführen (vgl. Rdn. 33).472 Auch unter dem Topos der Mindestvorschriften werden den Mitgliedstaaten zunehmend detaillierte Vorgaben zum Inhalt der Sanktionsnormen gemacht.473 Teilweise werden die strafbaren Handlungen sogar wörtlich vorgegeben; weiterhin finden sich Mindestvorschriften für Art und Höhe der Strafen.474 Wenn vorformulierte Verbotsregelungen vorgegeben werden, ist den Mitgliedstaaten die „Tatbestandskompetenz“, so Tiedemann, entzogen.475 Hiergegen werden von der h.M. keine grundsätzlichen Bedenken erhoben, da den nationalen Parlamenten nur irgendein Entscheidungsspielraum zustehen müsse,

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468 Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 253. 469 BVerfGE 8 210, 213; 10 185, 191 f. 470 BVerfGE 33 206, 219 f; Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 45. 471 BVerfGE 14 254, 259. 472 Dazu Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht, § 7 Rdn. 8, § 9 Rdn. 38 ff. 473 Vgl. dazu bereits Sieber ZStW 103 (1991) 957, 965. 474 Böse R.A.E. – L.E.A. 2001 – 2002 S. 103 ff. 475 So Tiedemann NJW 1993 23, 26; zustimmend Kühne JZ 1998 1070 f; vgl. auch Rupp ZRP 1990 1, 3 m.w.N.

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und dieser sei bei den Sanktionen gegeben.476 Dieser Auffassung ist zuzustimmen, soweit es sich tatsächlich um strafwürdiges und strafbedürftiges Verhalten handelt und die Ausgestaltung des Straftatbestands rechtsstaatlichen Anforderungen entspricht.477 Dies ist nicht gewährleistet, wenn verwaltungsrechtliche Normen in Bezug genommen werden, die dem verwaltungsrechtlichen Vorsorgeprinzip478 Rechnung tragen, so wenn lebensmittelrechtliche Verbotsnormen in Bezug genommen werden, die das Inverkehrbringen von potentiell gesundheitsschädlichen Lebensmitteln verbieten und das Gefahrenpotential von den Auswirkungen auf nachfolgende Generationen abhängig machen (Art. 14 Abs. 4 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 178/2002, genannt BasisVO). Denn das Vorsorgeprinzip lässt sich gegenständlich, räumlich und zeitlich praktisch unbegrenzt ausdehnen und eröffnet damit immer weiterreichende Inpflichtnahmen.479 Deshalb taugt eine solche Norm nicht als Grundlage für eine Strafbewehrung.480 Diese extreme Vorverlagerung des Gesundheitsschutzes481 ist mit so erheblichen Bewertungs- und Feststellungsunsicherheiten verbunden, dass solche Normen die Anforderungen an die Vorhersehbarkeit im Strafrecht nicht erfüllen (näher dazu Rdn. 166).482 Hierbei handelt es sich nicht nur um ein punktuelles Problem des Lebensmittelrechts. Denn die Kommission gesteht dem Vorsorgeprinzip in ihrer Mitteilung den Status eines allgemeinen Grundsatzes für den gesamten Umwelt- und Gesundheitsbereich483 zu.484 Davon erfasst sein sollen all jene Fälle, in denen zwar Unsicherheit, aufgrund einer vorläufigen objektiven wissenschaftlichen Bewertung aber auch berechtigter Grund für die Besorgnis besteht, dass die möglichen Gefahren für die Umwelt und die Gesundheit von Menschen, Tieren oder Pflanzen nicht hinnehmbar oder mit dem hohen Schutzniveau der Europäischen Union unvereinbar sein könnten. Wenn in solchen Fällen der Bürger in die Problemlösung durch Ge- und Verbote eingebunden wird, eignen sich solche Rechtssätze nicht als Anknüpfungspunkte für das Strafrecht. Vielmehr bedarf es zunächst konkretisierender Akte, z.B. des Erlasses von Verwaltungsakten (Rdn. 133), deren Verletzung dann unter Sanktionsandrohung gestellt werden kann. Auf diese Weise kann die erforderliche Vorhersehbarkeit hergestellt werden. Ebenso ist es unzulässig, in Strafgesetzen auf unionsrechtliche „Programmsätze“ zu verweisen bzw. solche zur Konkretisierung strafrechtlicher Normen heranzuziehen. So darf nicht auf Art. 19 BasisVO zurückgegriffen werden, wonach der Inverkehrbringer eines unsicheren Lebensmittels verpflichtet ist, „die Verbraucher effektiv und genau über den Grund für die Rücknahme“ eines unsicheren Lebensmittels zu unterrichten, um die strafrechtliche Pflicht aus § 13 zu konkretisieren.485 bb) Gesetzesbegriff des Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG. Bei Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG ergibt 123 sich bereits aus dem Wortlaut dieser Verfassungsnorm, dass Grundlage einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme nur ein formelles Gesetz sein darf. Diese Verfassungsvorschrift schützt die körperliche Bewegungsfreiheit vor Verhaftung, Festnahme und ähnli-

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476 So Gröblinghoff S. 127 ff, 135 f; Tiedemann FS Roxin 1401, 1404; enger Moll S. 270 ff. 477 Näher dazu Dannecker ZStW 117 (2005) 698, 724 f. 478 Vgl. dazu Holle ZLR 2004 307 ff; jeweils m.w.N. 479 Eingehend dazu Appel in Hendler/Marburger/Reinhardt/Schröder Chemikalienpolitik (2003) S. 95 ff. 480 Dannecker ZStW 117 (2005) 697, 725 ff. 481 Näher dazu von Danwitz ZLR 2001 209, 219 ff; Gorny ZLR 2001 501, 509 ff. 482 Dannecker ZStW 117 (2005) 697, 725. 483 Mitteilung der Kommission über die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips, KOM (2000) 1, Brüssel 2.2.2000; vgl. dazu Falke ZUR 2000 265. 484 Vgl. dazu auch Trute Vorsorgestrukturen und Luftreinhalteplanung (1989) passim. 485 Dannecker ZStW 117 (2005) 697, 725.

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chen Eingriffen, also vor unmittelbarem Zwang.486 Deshalb ist, wenn Freiheitsstrafe angedroht wird, gemäß Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG stets ein förmliches Gesetz (oder eine ihm gleichstehende gesetzesvertretende Verordnung, Rdn. 125) erforderlich.487 Das Bundesverfassungsgericht leitet aus Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG für die Verfassungsmäßigkeit echter Blankettstrafgesetze ab, dass ein förmliches Gesetz vorliegen muss und Rechtsverordnungen, wenn Freiheitsstrafe angedroht wird, nicht ausreichen. Eine Rechtsverordnung soll selbst dann kein förmliches Gesetz im Sinne des Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG sein, wenn sie auf Grund einer im förmlichen Gesetz enthaltenen Ermächtigung erlassen worden ist. Deshalb müssten die Voraussetzungen, unter denen der Eingriff als solcher überhaupt zulässig ist, und die Natur des Eingriffs in dem förmlichen Gesetz selbst geregelt sein (BVerfGE 14 174, 186 f). Damit vertritt das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf Strafgesetze, die Freiheitsstrafe androhen, dasselbe Ergebnis, das hier für alle Strafgesetze vertreten wird (Rdn. 118). Allerdings lässt das Bundesverfassungsgericht auch im Rahmen des Art. 104 Abs. 1 124 S. 1 GG eine Spezifizierung durch den Verordnungsgeber zu (BVerfGE 14 174, 187). Dem steht der Wortlaut des Art. 104 Abs. 1 GG nicht im Wege, verlangt dieser doch nur, dass die Freiheitsstrafe „auf Grund eines förmlichen Gesetzes“ verhängt werden muss.488 In den ersten Entscheidungen prüfte das Bundesverfassungsgericht die Anforderungen des Art. 104 Abs. 1 GG bei Strafgesetzen, die Freiheitsstrafen androhten, grundsätzlich separat.489 Seit BVerfGE 14 245, 252 f geht das Gericht von einem Gesamtanforderungsprofil der Art. 103 Abs. 2, 80 Abs. 1, 104 Abs. 1 GG an Strafblankette aus490 oder spricht von „dem in Art. 103 Abs. 2 GG vorgeschriebenen, dem Art. 104 Abs. 1 GG ähnlichen Gebot bestimmter gesetzlicher Regelung“ (BVerfGE 29 183, 196). Auch wenn für die Verordnung die Vorgaben des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG Bedeutung erlangen, darf dies nicht dazu führen, dass Abstriche gegenüber den aus Art. 103 Abs. 2 GG resultierenden Bestimmtheitsanforderungen gemacht werden. Im Bereich des Strafrechts kann Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG nicht isoliert vom Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG gesehen werden. Vielmehr gilt Art. 80 GG in einer „strafrechtstypischen Verschärfung“ (BVerfGE 51 60, 71).491 125

cc) Gesetzesvertretende Verordnungen. Für Art. 103 Abs. 2 (und demnach auch für § 1) und Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG sind die mit dem Rang eines förmlichen Gesetzes erlassenen gesetzesvertretenden Verordnungen der Weimarer Zeit den förmlichen Gesetzen im Sinne des Grundgesetzes ebenso gleich zu achten wie die vom Reichstag der Weimarer Zeit beschlossenen Gesetze.492 Gesetzesvertretende Verordnungen können unter der Geltung des Grundgesetzes nicht mehr erlassen werden. Die Gültigkeit der früheren gesetzesvertretenden Verordnungen bleibt durch Art. 129 Abs. 3 GG aber unberührt. Diese Vorschrift knüpft an die von der Staatsrechtslehre der Weimarer Zeit vorgenommene Unterscheidung zwischen gesetzesvertretenden (das heißt, den Vorrang des Gesetzes besitzenden) Verordnungen und einfachen Verordnungen an. Da nach Art. 129 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 123 Abs. 1 GG nur die Ermächtigungen erlöschen, die den „an

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486 BVerfGE 22 21, 26. 487 BVerfGE 14 174, 186, 254; 75 329, 342; OLG Hamburg GA 1964 56; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 8; Satzger SSW Rdn. 16; aA OLG Düsseldorf NJW 1961 1831; OLG Köln NJW 1962 1214; kritisch auch Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 251 ff. 488 Vgl. Veit S. 99; Krey EWR 1981 109, 184; Satzger Europäisierung S. 248. 489 Näher dazu Enderle S. 213 f. 490 BVerfGE 22 1, 19; 51 60, 70; 78 205, 213; 374, 383; BVerfG NJW 1992 35; BVerfG NJW 1992 107. 491 Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 104 f; Veit S. 99; zustimmend Satzger Europäisierung S. 248; aA Schünemann FS Lackner 367, 379 Fn. 42. 492 BVerfGE 22 1, 12 f.

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Stelle von Gesetzen“ erlassenen Verordnungen zugrunde liegen, und da gesetzesvertretende Verordnungen seit Inkrafttreten des Grundgesetzes nicht mehr ergehen können, ergibt sich aus Art. 129 Abs. 3 GG, dass die Fortgeltung dieser Verordnungen vom Grundgesetz als ranggleich mit förmlichen Gesetzen zu erachten sind.493 dd) Rechtsverordnungen. Unter den Gesetzesbegriff des Art. 103 Abs. 2 GG fallen 126 nach der h.M. in Rechtsprechung und Literatur (Rdn. 118) ferner Rechtsverordnungen, die im Rahmen einer nach Inhalt, Zweck und Ausmaß bestimmten Ermächtigung (Art. 80 Abs. 1 GG) von einer Behörde erlassen worden sind.494 Wie das Bundesverfassungsgericht mehrfach ausgeführt hat, unterliegt die inhaltliche Bestimmtheit der Ermächtigungsnorm für Eingriffe und zumal für Strafgesetze strengen Anforderungen: Der Gesetzgeber muss die Ermächtigung zur Strafdrohung unzweideutig aussprechen und Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung so genau umreißen, dass die Voraussetzungen der Strafbarkeit und die Art der Strafe aus der Ermächtigung oder der auf sie gestützten Verordnung voraussehbar sind.495 Dabei ist nach der Rechtsprechung keine Festlegung aller Einzelheiten erforderlich; vielmehr soll es ausreichen, wenn „mögliche Straftatbestände einschließlich der Schuldform und der Art und des Höchstmaßes der Strafe nach den anerkannten Regeln juristischer Auslegung hinreichend deutlich bestimmt“ werden können.496 Dem Verordnungsgeber darf folglich nur die Spezifizierung des Straftatbestands 127 überlassen bleiben.497 Dies ist unproblematisch, wenn es um eine detaillierte Regelung überwiegend technischer Fragen auf einer (auf einer ausreichenden Ermächtigungsgrundlage beruhenden) Rechtsverordnung geht.498 Die h.M. fordert, dass der Gesetzgeber im förmlichen Gesetz zumindest eine normative Wertbestimmung vorgibt, welche den Rahmen des Strafbaren angibt (BVerfGE 22 1, 25). Dies hat zwar zur Folge, dass nicht der bloße Ungehorsam inkriminiert werden darf, sondern sichergestellt ist, dass nur materiell wertwidrige Verhaltensweisen als strafbar erfasst werden. Trotz dieser gesetzlichen Inhaltsbestimmung der Strafbarkeit bleiben Bedenken hinsichtlich des Gesetzlichkeitsprinzips des Art. 103 Abs. 2 GG bestehen, da die Beschränkung der gesetzgeberischen Vorgabe auf eine Wertverletzung sämtliche die Wertverwirklichung störenden Verhaltensweisen potenziell umfasst, so dass die Verwaltung zu einer sehr weitgehenden Entscheidung über die Ausgestaltung der Strafbarkeit ermächtigt ist. Letztlich bleiben Art und Umfang der Ausgestaltung des Wertschutzes, über die generelle Tendenz der schützenden untergesetzlichen Akte, über Vorverlagerung oder Zurückziehung der strafrecht-

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493 BVerfGE 22 1, 12. 494 BVerfGE 14 174, 185; 22 21, 25; 32 346, 362; 38 348, 371; 51 60, 73; 75 329, 342; 76 374, 382; 78 374, 382; BVerfG NStZ-RR 2001 22; von Danwitz Jura 2002 93 ff; Jescheck/Weigend AT § 13 II, § 15 III; v. Münch/ Kunig/Kunig Art. 103 Rdn. 22; Jäger SK Rdn. 6; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 103; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 8. Eingehend zur Verweisung auf Rechtsverordnungen Cornelius Verweisungsbedingte Akzessorietät 325 ff. 495 BVerfGE 1 14, 60; 2 307, 334; 5 71, 76; 10 251, 258; 14 175, 185 f; 22 21, 25; 51 73; 75 341; 78 374, 382 f; BVerfG NZV 1996 284, 285; BVerfG NStZ-RR 2001 22; OLG Koblenz NJW 1999 3136; Enderle S. 187 ff; v. Münch/Kunig/Kunig Art. 103 Rdn. 23; Maurach/Zipf/Jäger § 10 Rdn. 11; Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 77; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 104; Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 33; Wassermann AK-GG Art. 103 Rdn. 47; Umbach/Clemens/Zierlein Art. 103 Rdn. 128; kritisch aber Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 254 ff. 496 BVerfGE 32 346, 363. 497 BVerfGE 14 174, 186 f; 14 245, 254, 257 f; 22 1, 19; 23 265, 270; 37 201, 209; 51 60, 70 f; 65 248, 258 ff; 75 329, 342; 76 374, 383; BVerfG NJW 1992 107; Bringewat Rdn. 147; Enderle S. 211 f; Kingreen/Poscher Rdn. 1256; vgl. auch Clemens AöR 111 (1986) 63, 112 f. 498 BVerfGE 75 329, 345.

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lichen Verteidigungslinien usw. offen.499 Diese Offenheit stellt sich nicht mehr als bloße Spezifizierung von gesetzgeberischen Entscheidungen dar, sondern erfordert weitreichende eigene Wertungen der Verwaltung, wodurch das Entscheidungsmonopol des Gesetzgebers über Inhalt und Umfang des Strafbaren unterlaufen wird. Außerdem besteht die Gefahr, dass die objektiv-individuelle Vorhersehbarkeit für den Bürger zur Fiktion wird, wenn es um den Strafschutz von Anordnungen geht, die nur mittelbar dazu dienen, die Ordnung und Sicherheit (z.B. im Straßenverkehr) zu erhalten.500 Dies wird besonders deutlich, wenn der Bundesgerichtshof unter Billigung des Bundesverfassungsgerichts501 bezüglich des strafrechtlichen Schutzes des Verkehrsunterrichts davon ausgeht, dass jeder Bürger damit rechnen „kann und muß“, dass jedes wirksam erlassene staatliche Gebot oder Verbot strafbewehrt ist.502 Dieser Schluss von der Existenz einer verwaltungsrechtlichen Regelung auf die Vorhersehbarkeit ihrer strafrechtlichen Relevanz bedeutet eine „völlige Entwertung des Kriteriums der Vorhersehbarkeit als eigenes Moment im Strafrecht“.503 Deshalb ist entgegen der h.M. zusätzlich zur Erkennbarkeit des geschützten Wertes dessen Verbindung mit der Handlung bereits im abstrakten Gesetz zu fordern, indem auch die strafrechtlich relevanten Verhaltensumschreibungen im förmlichen Gesetz geregelt werden.504 Ebenso wie das nachträgliche Erlöschen505 ist auch die nachträgliche Änderung ei128 ner Ermächtigung ohne Einfluss auf den Rechtsbestand der vor ihrer Änderung ordnungsgemäß erlassenen Rechtsverordnungen.506 Der Angeklagte kann nur nach der Bestimmung desjenigen Gesetzes oder der mit gesetzlicher Ermächtigung erlassenen Rechtsverordnung bestraft werden, durch welche die Strafbarkeit begründet ist. Die Bestrafung auf Grund einer nicht auf gesetzlicher Ermächtigung beruhenden Verordnung kann nicht damit gerechtfertigt werden, dass die Strafbarkeit in einer anderen Vorschrift bestimmt gewesen sei.507 129

cc) Satzungen. Schließlich umfasst der Gesetzesbegriff auch Satzungen.508 So können in Gemeindesatzungen wirksame Strafgesetze enthalten sein,509 wenn sie auf einer ausreichenden Ermächtigung durch Landesgesetz beruhen.510 Das Bundesverfassungsgericht hat die Ermächtigung zum Erlass „bewehrter Satzungen“ prinzipiell zugelassen und misst sowohl die Ermächtigung durch ein förmliches Gesetz als auch die Satzung selbst an Art. 103 Abs. 2 GG (BVerfGE 32 346, 361).511 Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG ist insoweit nicht anwendbar.512 Satzungen sollen sogar selbst wieder dynamisch, das heißt, auf

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499 Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 258. 500 Näher dazu Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 254 ff. 501 BVerfGE 22 21, 25. 502 BGHSt 21 135, 136. 503 So zutreffend Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 255. 504 So zutreffend Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 258 ff. 505 BVerfGE 9 3, 12; 12 341, 347. 506 BVerfGE 14 245, 249. 507 BVerfGE 14 174, 186. 508 BVerfGE 32 346, 362 f; BVerfG NStZ 1990 394; BGHSt 42 79, 84 = NStZ 1996 342 m. Anm. Günther; OLG Köln NVwZ 1994 935, 936; OLG Frankfurt NStZ-RR 2000 246 f; OLG Braunschweig NStZ-RR 2004 52, 53; Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 65; Enderle S. 203 f; v. Münch/Kunig/Kunig Art. 103 Rdn. 24; Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 78; Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 35; Wagner S. 195 f; krit. Geitmann NJW 1972 1856 ff. 509 BVerfG NStZ 1990 394 m. Anm. Mertens NStZ 1991 288. 510 Vgl. z.B. BGH NJW 1991 1691. 511 Vgl. auch Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 65; v. Münch/Kunig/Kunig Art. 103 Rdn. 24. 512 Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 35.

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künftiges Recht, verweisen dürfen.513 Allerdings reichen die allgemeinen Satzungsklauseln in den Kommunalgesetzen nicht aus; dies ergibt sich aus Art. 103 Abs. 2 GG in seiner Ausprägung des Vorbehalts eines förmlichen Gesetzes.514 Den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG ist nur Genüge getan, wenn sowohl die 130 Satzung als auch die gesetzliche Ermächtigung hinreichend bestimmt ist. Schon aus der Ermächtigung müssen sich die möglichen Straftatbestände und die Strafe bestimmen lassen. Anderenfalls kann weder der Bürger noch der Richter abwägen, ob der Satzungsgeber zum Erlass einer bestimmten strafbewehrten Satzung überhaupt befugt war und ob die ihm übertragene Strafgewalt ausreichte. Die Ermächtigung müsse deshalb so gehalten sein, dass sich aus ihr ablesen lässt, ob der in der Satzung geregelte Straftatbestand nach den Intentionen des Gesetzgebers überhaupt statuiert und wie er bewehrt werden könnte.515 Die Ermächtigung braucht allerdings die Straftatbestände nicht in allen Einzelheiten 131 zu regeln. Es genügt, wenn sich aus ihr die Wertverletzungen einschließlich der Schuldform sowie der Art und des Höchstmaßes der Strafe nach den anerkannten Regeln juristischer Auslegung hinreichend deutlich bestimmen lassen. Dabei kann der Gesetzgeber den Inhabern der Satzungsgewalt – sofern es sich nicht um unter den Gesetzesvorbehalt des Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG stehende Freiheitsbeschränkungen handelt – auch ein gewisses Ermessen hinsichtlich des Strafrahmens einräumen, um ihnen die Möglichkeit offen zu halten, den Unrechtsgehalt der pönalisierten Satzungsverstöße nach den örtlichen Gegebenheiten unterschiedlich zu bewerten.516 Hiergegen bestehen jedoch Bedenken, weil nicht mehr der demokratisch legitimierte Gesetzgeber über den Strafrahmen als ein zentrales Kriterium der Strafe im Sinne der Wesentlichkeitstheorie entscheidet und damit dem demokratischen Gehalt des Art. 103 Abs. 2 GG nicht Rechnung getragen wird (Rdn. 119). ff) Verwaltungsvorschriften. Verweisungen von Strafrechtsnormen auf Verwal- 132 tungsvorschriften sind grundsätzlich, da dem Zweck des Art. 103 Abs. 2 GG zuwiderlaufend, unzulässig. Sie können ein strafloses Verhalten nicht zu kriminellem Unrecht erklären.517 Eine Ausnahme kann nur für normspezifizierende Verwaltungsvorschriften, wie sie sich insbesondere im Umwelt- und Technikrecht finden, gelten, sofern die gesetzlich begründeten Pflichten lediglich näher spezifiziert werden.518 Für die Anerkennung einer solchen Wirkung spricht das in Verwaltungsvorschriften angelegte Potenzial an Rechtsklarheit, denn Pflicht und Pflichtenverstoß sind für den Normadressaten in den detaillierten Verwaltungsvorschriften regelmäßig leichter vorhersehbar als in einer gesetzgeberischen Generalklausel. Allerdings darf der durch Art. 103 Abs. 2 GG garantierte Gesetzesvorbehalt nicht gänzlich aufgegeben werden. Deshalb muss die Verwaltungsvorschrift in der strafrechtlichen Verweisungsnorm genau bezeichnet sein und ihrerseits rechtsstaatlichen Publizitätserfordernissen genügen.519 Solche Erlass- und Bekanntgabeverfahren sehen insbesondere umweltrechtliche Gesetze wie das Abfallbe-

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513 So Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 65; v. Münch/Kunig/Kunig Art. 103 Rdn. 24a; M. Schröder VVDStRL 50 (1991) 196, 215 ff; zweifelnd Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 35. 514 BVerfGE 32 346, 362 f; Appel S. 129 f. 515 BVerfGE 32 346, 361 f; Enderle 200 f; v. Münch/Kunig/Kunig Art. 103 Rdn. 23, 24; Schmitz MK Rdn. 22; Umbach/Clemens/Zierlein Art. 103 Rdn. 129. 516 BVerfGE 32 346, 362 f; 38 348, 371 f; Enderle S. 200 f; Geitmann NJW 1972 1856 f; v. Münch/Kunig/ Kunig Art. 103 Rdn. 23, 24; Schmidt-Bleibtreu/Klein Art. 103 Rdn. 9; Schmitz MK Rdn. 22; 517 BGHSt 11 241, 252; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 248 ff m.w.N. 518 M. Schröder VVDStRL 50 (1991) 196, 218. 519 Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 66; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 117.

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seitigungsgesetz, das Bundesimmissionsschutzgesetz und das Wasserhaushaltsgesetz vor. Nur die so qualifizierten Vorschriften, die zwischen den gesetzesinterpretierenden und den gesetzesvertretenden Verwaltungsvorschriften stehen, können als normspezifizierende Verwaltungsvorschriften520 den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG entsprechen. Sie sind in dem Maße, in dem sie Verwaltungsgerichte binden,521 auch unter dem Gesichtspunkt des Art. 103 Abs. 2 GG ausreichend. gg) Verwaltungsakte. Strafrechtsnormen dürfen grundsätzlich auch auf Verwaltungsakte Bezug nehmen,522 wie dies insbesondere im Umweltstrafrecht der Fall ist, soweit Anordnungen dort Auflagen und Untersagungen in Bezug nehmen. So hat der Zweck des § 327 Abs. 2 Nr. 1, dem Betreiben genehmigungsbedürftiger Anlagen im Sinne des Bundesimmissionsschutzgesetzes ohne die erforderliche Genehmigung auch mit den Mitteln des Strafrechts entgegenzuwirken, zwangsläufig eine enge Verzahnung von Strafrecht und Verwaltungsrecht zur Folge.523 Dabei kann die Strafbarkeit auch an einen sofort vollziehbaren, aber noch nicht unanfechtbaren Verwaltungsakt geknüpft werden,524 sofern sich dies aus der Formulierung des gesetzlichen Tatbestands ergibt.525 Auch Allgemeinverfügungen sind Verwaltungsakte, auf die Strafnormen verweisen können. 134 Auch in Bezug auf Verwaltungsakte gilt, dass der Gesetzgeber selbst die Verbotsmaterie und das strafbare Verhalten in Grundzügen im förmlichen Gesetz umschreiben muss.526 Den Verwaltungsakten darf nur die Rolle der Spezifizierung der im förmlichen Gesetz getroffenen Vorgaben zukommen (Rdn. 119). Diesbezüglich fordert das Bundesverfassungsgericht, dass die Ermächtigung der Exekutive zum Erlass belastender Verwaltungsakte nach Inhalt, Gegenstand, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt und begrenzt sein muss, so dass deren Eingriffe messbar und in bestimmtem Umfang für den Bürger voraussehbar und berechenbar sind (BVerfGE 8 274, 325). Allerdings soll es im Bereich der Wirtschaftsverwaltung zulässig sein, dass sich der Gesetzgeber abstrakter und unbestimmter Formulierungen bedient, „um die Verwaltungsbehörden in die Lage zu versetzen, ihren Aufgaben, den besonderen Umständen des einzelnen Falles und schnell wechselnden Situationen des wirtschaftlichen Lebens gerecht zu werden“.527 Dieser Verzicht auf Bestimmtheit hat die Gefahr zur Folge, dass durch Verweisung auf Verwaltungsakte der bloße Ungehorsam bestraft werden kann (s. auch Rdn. 127). Die Pflicht besteht in den Fällen der Verwaltungsaktsakzessorietät nicht mehr in einem materiellen Bezug auf konkretisierte Werte und Interessen, sondern in dem selbst als wertvoll angesehenen Gehorsam gegenüber der staatlichen Anordnung.528 Eine formelle Ungehorsamskonzeption der Straftat ist jedoch unannehmbar.529 Deshalb ist es auch bei auf Verwaltungsakte verweisenden Strafgesetzen erforderlich, keine abgeschwächten An133

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520 Ossenbühl HStR Bd. 5 § 104 Rdn. 30. 521 Ossenbühl HStR Bd. 5 § 104 Rdn. 41 ff; s. auch BVerfGE 78 214, 227; BVerwG NVwZ 1988 824 f. 522 BVerfGE 78 374, 382 f; BVerfG NJW 1987 3176; OLG Saarbrücken NJW 1988 368; Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 468 ff; Rühl JuS 1999 521 ff; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 118, M. Schröder VVDStRL 50 (1991) 196, 220 f; Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 37; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 260 ff. 523 BVerfGE 75 329, 346. 524 So Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 118 f. 525 BVerfGE 80 254, 256; BVerfG NJW 1993 581, 582. 526 BVerfGE 78 374, 383; Enderle S. 261. 527 BVerfGE 8 274, 326. 528 Dazu Kuhlen in Hilgendorf Gesetzlichkeitsprinzip S. 45, 50 ff; Schmitz MK Vor § 324 Rdn. 47 ff m.w.N. 529 Grundlegend Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 277; ders. JZ 1968 761, 769; zust. Baumann ZRP 1969 85, 86; vgl. auch BayObLG NJW 1965 1973, 1977.

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forderungen an die Bestimmtheit zu stellen (Rdn. 135) und die Verwaltungsakte als Tatumstände der richterlichen Überprüfung zu unterwerfen (Rdn. 140 ff).530 Somit sind, wenn eine Strafdrohung an die Nichtbefolgung eines Verwaltungsakts 135 geknüpft wird, an die Bestimmtheit der Strafnorm im förmlichen Gesetz keine geringeren Anforderungen zu stellen, als wenn die nähere Spezifizierung des Tatbestandes einer Rechtsverordnung überlassen wird.531 Die Stellung des Gesetzgebers gegenüber der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt wird in beiden Fällen durch dieselben Grundsätze, nämlich durch den Vorbehalt eines förmlichen Gesetzes und durch das Gewaltenteilungsprinzip, geprägt. Ebenso wenig wie es für die Bestimmtheit der Strafnorm genügt, dass sich die Merkmale des Tatbestands einer Rechtsverordnung entnehmen lassen, die auf einer selbst nicht hinreichend bestimmten Ermächtigung beruht, reicht die pauschale Anknüpfung einer Strafdrohung an Verstöße gegen inhaltlich nicht näher bestimmte Verwaltungsakte aus.532 Auch in diesen Fällen muss der Gesetzgeber selbst über die Strafbarkeit entscheiden (BVerfGE 78 374, 383 f).533 Deshalb ist es erforderlich, dass das Gesetz selbst Typus und Regelungsumfang des Verwaltungsakts jedenfalls so weit festlegt, wie der Verstoß gegen die entsprechende Verhaltenspflicht strafbewehrt werden soll. Die Verwaltung darf nicht durch die Ausgestaltung des Verwaltungsakts auf Inhalt und Umfang der Strafbarkeit bestimmenden Einfluss nehmen.534 Auf diese Weise wird sichergestellt, dass nicht der bloße Ungehorsam pönalisiert wird, sondern eine materiale Konzeption der Straftat gewährleistet ist. Deshalb ist z.B. die Strafbarkeit der Zuwiderhandlung gegen ein vereinsrechtliches Betätigungsverbot, das weder im Gesetz noch in der Verbotsverfügung tatbestandlich bestimmt wird, verfassungswidrig.535 Wenn demgegenüber überwiegend als Gesetz im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG nicht nur das formelle Gesetz, sondern auch Rechtsverordnungen und jeder geschriebene Rechtssatz oder überhaupt jedes geschriebene Recht bezeichnet wird, ist diese Ansicht folgerichtig auch auf von der Verwaltung erlassene Rechtsakte auszudehnen, sofern sie schriftlich bekannt gegeben oder ordnungsgemäß publiziert werden. Damit wird das Gesetzlichkeitsprinzip jedoch auf das Rechtssicherheitsinteresse des Einzelnen reduziert und die demokratische Bedeutung des Art. 103 Abs. 2 GG unberücksichtigt gelassen.536 Weiterhin muss der Verwaltungsakt selbst hinreichend bestimmt sein;537 diesbe- 136 züglich kann auf die Anforderungen des § 37 VwVfG zurückgegriffen werden.538 Den durch Art. 103 Abs. 2, Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG gestellten Anforderungen genüg- 137 ten nicht: § 15 Abs. 2 Buchst. a FernmG, der die Zuwiderhandlung gegen gesetzlich nicht umschriebene Verleihungsbedingungen mit Strafe bedroht;539 § 12 Abs. 2 StVZO in Verbindung mit § 69a Abs. 1 Nr. 6 StVZO und § 21 StVG, wonach ein Verstoß gegen eine Auflage, unter der eine Fahrerlaubnis erteilt ist, als Ordnungswidrigkeit zu ahnden ist, während ein Verstoß gegen eine Beschränkung der Fahrerlaubnis auf eine bestimmte Fahrzeugart oder ein bestimmtes Fahrzeug mit besonderen, im Führerschein genau zu

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530 Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 272 ff. 531 Näher dazu Kühl FS Lackner 834 ff; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 119. 532 BVerfGE 78 374, 382, 389; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 111 f, 113; Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 79. 533 Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 79; Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 37; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 242. 534 BVerfGE 78 374, 389; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 118. 535 Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 46; aA BVerfG NJW 2000 3637. 536 Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 248 f. 537 BVerfGE 8 274, 326 f; Enderle S. 262. 538 OLG Saarbrücken NStZ 1988 368; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 118. 539 BVerfGE 78 374, 383.

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bezeichnenden Einrichtungen als Vergehen strafbar ist.540 Als gesetzlich bestimmt ist dagegen die Strafbarkeit wegen Störung der Tätigkeit eines Gesetzgebungsorgans, § 106b StGB in Verbindung mit § 89 der Geschäftsordnung des Niedersächsischen Landtags, angesehen worden.541 Das Prinzip der „Verwaltungsakzessorietät“, das insbesondere das Umweltstraf138 recht und das Außenwirtschaftsstrafrecht beherrscht, deren Tatbestände oft an ein Handeln ohne verwaltungsbehördliche Genehmigung anknüpfen, berührt den Grundsatz der Gesetzesbestimmtheit nicht nur im Zusammenhang mit der Verweisungsproblematik, sondern auch insofern, als es um die Reichweite der Tatbestandswirkung fehlerhafter Verwaltungsakte geht.542 Dies gilt insbesondere für die Beantwortung der Frage, ob der Strafrichter an eine rechtswidrig erteilte, bestehende Genehmigung selbst dann gebunden ist, wenn er bei Sonderdelikten aus diesem Bereich die strafrechtliche Verantwortlichkeit beteiligter Amtsträger prüft.543 Knüpft ein Straftatbestand an die Tatbestandswirkungen eines Verwaltungsakts an, 139 so darf dieser nicht nichtig sein.544 Nach fast einhelliger Ansicht (BGHSt 23 86, 91; BGH NJW 2005 2095, 2097)545 entfaltet eine nichtige oder wegen fehlerhafter Bekanntgabe verwaltungsrechtlich unwirksame Genehmigung keine strafrechtliche Wirkung.546 Hingegen ist umstritten, wie sich eine rechtswidrige, aber verwaltungsrechtlich wirksame Genehmigung auf die Strafbarkeit auswirkt: Hierbei ist nach h.M. danach zu differenzieren, ob es sich bei der Genehmigung um einen Tatbestandsausschluss- oder einen Rechtfertigungsgrund handelt. Dies wird nach der verwaltungsrechtlichen Unterscheidung zwischen präventiven Verboten mit Erlaubnisvorbehalt und repressiven Verboten mit Befreiungsvorbehalt bestimmt.547 Bei präventiven Verboten mit Erlaubnisvorbehalt ist das in Frage stehende Verhalten an sich sozialadäquat, und das Erfordernis einer behördlichen Genehmigung bezweckt lediglich die Kontrolle über möglicherweise entstehende Gefahren. Hierbei handelt es sich um ein negatives Tatbestandsmerkmal, das schon auf Tatbestandsebene zu berücksichtigen ist (so z.B. die behördliche Genehmigung bei der Luftverunreinigung nach § 325). Bei repressiven Verboten mit Befreiungsvorbehalt wird ein sozial unerwünschtes und deshalb an sich verbotenes Verhalten nach Abwägung kollidierender Interessen im Einzelfall mit Rücksicht auf höherrangige Interessen ausnahmsweise gestattet. Durch eine solche Genehmigung wird erst die Rechtswidrigkeit ausgeschlossen548 (so z.B. bei der Genehmigung bei der Gewässerverunreinigung nach § 324). 140 Eine tatbestandsausschließende Genehmigung,549 die nicht nichtig ist, schließt die Tatbestandsmäßigkeit grundsätzlich aus, ohne dass es auf die Umstände des Zustandekommens ankommt. Nach zutreffender Auffassung kann bei Erschleichung oder sons-

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540 Vgl. BGHSt 28 72, wo der BGH bei der Prüfung der Frage, ob die Strafbarkeit gesetzlich hinreichend bestimmt ist, zu Unrecht in erster Linie auf die Eindeutigkeit des Verwaltungsaktes – der einschränkenden Eintragung im Führerschein – abstellt. 541 OLG Celle NStZ 1986 410, 411. 542 Eingehend dazu Kühl FS Lackner 815, 834 ff; Schall NJW 1990 1263, 1267; Steindorf LK11 Vor § 324 Rdn. 24 ff; Schenke FS Wolter 215 ff. 543 Vgl. LG Hanau NJW 1988 571; Keller FS Rebmann 241, 255. 544 OLG Oldenburg NVwZ 1992 607; M. Schröder VVDStRL 50 (1991) 196, 221 ff. 545 Sch/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vor § 32 Rdn. 62a; Heghmanns S. 216 ff; Jescheck/Weigend AT § 33 VI 3; Kühl AT § 9 Rdn. 128 m.w.N.; Tiedemann/Kindhäuser NStZ 1998 337, 343; Rogall GA 1995 299, 309 f. 546 Näher dazu Rönnau LK Vor § 32 Rdn. 279 m.w.N. 547 Eingehend dazu Heghmanns S. 179 ff. 548 Rönnau LK Vor § 32 Rdn. 274 m.w.N. 549 Eingehend zur Unterscheidung der Rollen von Genehmigungen Wagner S. 110 ff.

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tigem Missbrauch der Genehmigung nicht auf die Rechtswidrigkeit der wirksamen Genehmigung durchgegriffen werden. Einem solchen Durchgriff steht Art. 103 Abs. 2 GG entgegen, wenn nicht ausnahmsweise eine bereichsspezifisch normierte Rechtsmissbrauchsklausel, wie sie sich etwa in § 330d Abs. 1 Nr. 5 StGB,550 § 17 Abs. 6 AWG und § 16 Abs. 4 CWÜAG (Ausführungsgesetz zum Chemiewaffen-Übereinkommen; BGBl. I 1994 S. 1954 ff) findet, eine Durchbrechung der Verwaltungsrechtsakzessorietät (§ 48 VwVfG) vorsieht. Diese Rechtsmissbrauchsklauseln sind nicht verallgemeinerungsfähig (BGH NJW 2005 2095, 2098).551 Im Bereich des Umweltstrafrechts können nach Auffassung der Rechtsprechung Einschränkungen der tatbestandsausschließenden Wirkung vor allem mit dem Wortlaut der §§ 327 ff begründet werden. Sofern die entsprechenden Delikte auf eine „erforderliche Genehmigung“ abstellen, sei in das Erforderlichkeitskriterium die Rechtmäßigkeit der Genehmigung hineinzulesen. Diese Argumentation überdehnt jedoch die Grenzen des Wortsinns als äußerste Grenze der Auslegung (Rdn. 301).552 Hiermit ist es nicht zu vereinbaren, eine verwaltungsrechtlich wirksame, wenn auch rechtswidrige Genehmigung nicht als die „erforderliche“ im Sinne der entsprechenden Tatbestände anzusehen. Eine solche teleologische Reduktion des Garantietatbestandes zu Lasten des Täters ist als Rechtsfortbildung mit Art. 103 Abs. 2 GG nicht vereinbar.553 Im Übrigen hat der Gesetzgeber mit den Rechtsmissbrauchsklauseln für deren Anwendungsbereich gerade zum Ausdruck gebracht, dass auch rechtswidrige Genehmigungen grundsätzlich tatbestandsausschließend wirken, und damit die Verwaltungsakzessorietät implizit anerkannt.554 Ansonsten wären die Umgehungsregelungen überflüssig, wenn eine rechtsmissbräuchlich erlangte Genehmigung schon nach allgemeinen Grundsätzen strafrechtlich unbeachtlich wäre.555 Bei rechtfertigenden Genehmigungen vertritt die h.M. eine eingeschränkte Ver- 141 waltungsakzessorietät, welche die verwaltungsrechtliche Bestandskraft der Genehmigung als Basis des Rechtswidrigkeitsausschlusses anerkennt, und durchbricht die Verwaltungsakzessorietät ausnahmsweise in den Fällen einer rechtsmissbräuchlich erlangten Genehmigung (so genannte Rechtsmissbrauchslösung).556 Hierbei wird häufig der Regelungsgehalt der Rechtsmissbrauchsklauseln auf rechtfertigende Genehmigungen übertragen557 oder mit der Parallele zum Notwehrrecht und zum Charakter des Rechtsmissbrauchsgedankens als naturrechtlichem Prinzip der Rechtsordnungen zurückgegriffen.558 Die Verwaltungsakzessorietät müsse jedenfalls dann eingeschränkt werden,

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550 Näher dazu Rogall in Dolde Umweltrecht S. 795, 825 ff; Felix S. 320 ff, 356 ff; Heghmanns S. 209 ff; jeweils m.w.N. 551 Sch/Schröder/Heine/Hecker Vor § 324 Rdn. 17 m.w.N.; aA Schmitz S. 62 ff; zustimmend Perschke wistra 1996 161, 165. 552 Fortun S. 77 ff; Heider S. 113; Roxin AT I § 17 Rdn. 63; Schall NJW 1990 1263, 1268; krit. auch Frisch S. 115 mit Fn. 333. 553 Lenckner FS Pfeiffer 27, 33 ff; Paeffgen FS Stree/Wessels 587, 610; Winkelbauer S. 67; Kühl AT § 9 Rdn. 131 m.w.N. 554 Rönnau LK Vor § 32 Rdn. 281. 555 BGH NJW 2005 2095, 2098 (zum AuslG); ebenso Sch/Schröder/Cramer/Heine Vor § 324 Rdn. 17a; Jünemann S. 156; Rogall GA 1995 299, 308 f. 556 Lenckner FS Pfeiffer 27 ff; Sch/Schröder/Lenckner Vor § 32 Rdn. 63; Fischer Vor § 324 Rdn. 7; ebenso Bloy ZStW 100 (1988) 485, 504; Dölling JZ 1995 461, 469; Horn NJW 1981 1, 3; Kloepfer/Heger Rdn. 92; Niering S. 75; Sch/Schröder/Heine/Hecker Vor § 324 Rdn. 17a; vgl. auch Kölbel GA 2005 36 ff; Mumberg S. 39 ff; Scheele S. 124 ff. 557 So Rogall in Dolde Umweltrecht S. 795, 824 ff; Paetzold NStZ 1996 170, 171; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 15 Rdn. 165; Möhrenschlager NStZ 1994 513, 515; Fenner S. 28; näher dazu Roxin AT I § 17 Rdn. 64. 558 So Otto Jura 1991 808, 313; ders. Jura 1995 134, 139 m.w.N.

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wenn die Inanspruchnahme der Gestattung rechtsmissbräuchlich sei (BGHSt 39 381, 387 m. Anm. Horn JZ 1994 636 und Rudolphi NStZ 1994 433).559 Der Bundesgerichtshof sieht bei der Rechtsmissbrauchslösung jedoch inzwischen die Gefahr, dass letztlich auf Billigkeitserwägungen zurückgegriffen wird, weil die Voraussetzungen und Grenzen strafbaren Verhaltens im Einzelfall von zufällig nachweisbaren Umständen abhängig sind (BGH NJW 2005 2095, 2098).560 Auch eine Parallele zur missbräuchlichen Ausnutzung der Notwehrlage lehnt er ab, weil die behördliche Genehmigung eine Tatbestands- und Feststellungswirkung entfaltet, die über den Kreis der Verfahrensbeteiligten hinausreicht (BGH NJW 2005 295 f).561 Da das Korrektiv des Rechtsmissbrauchs gesetzlich nur sektoral und abschließend positiviert ist, verstieße seine Anwendung in allen sonstigen Fällen der Genehmigung gegen Art. 103 Abs. 2 GG:562 Weil die Tatbestände ausdrücklich ein „Handeln ohne Genehmigung“ voraussetzen, wäre es ein Verstoß gegen das Verbot teleologischer Reduktion zu Lasten des Täters, wenn mit Rechtsmissbrauchserwägungen eine verwaltungsrechtlich wirksame Genehmigung als nicht vorhanden bewertet würde.563 Soweit allerdings das Erschleichen einer Genehmigung oder deren Ausnutzung ausdrücklich unter Strafdrohung gestellt ist, wie dies bei § 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG oder § 95 Abs. 2 Nr. 2 Aufenthaltsgesetz der Fall ist, bestehen hiergegen keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Gleiches gilt für § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG und § 134 VAG. De lege lata ist daher außerhalb der Reichweite der gesetzlich geregelten Missbrauchsklauseln die Rechtsmissbrauchslösung aus den genannten Gründen abzulehnen (BGH NJW 2005 2095, 2098). Mit der geltenden Rechtslage ist daher nur die Lehre von der strengen Verwaltungsakzessorietät vereinbar, welche die strafrechtliche Wirkung des Verwaltungsakts ausschließlich nach verwaltungsrechtlichen Maßstäben, bezogen auf den Zeitpunkt des Täterhandelns, bestimmt.564 Nach den ausdrücklichen verwaltungsrechtlichen Vorgaben in § 48 Abs. 3 S. 2, Abs. 2 S. 3 Nr. 1 VwVfG wirkt demnach auch eine rechtsmissbräuchlich erlangte, gleichwohl wirksame Genehmigung rechtfertigend. Das in den Fällen von Täuschung, Drohung, Bestechung und Kollusion bestehende Sanktionsbedürfnis muss in diesen Fällen mit Hilfe der strafrechtlichen Beteiligungsvorschriften erfasst werden.565 Die materielle Genehmigungsfähigkeit, also das Vorliegen der materiellen verwal142 tungsrechtlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Genehmigung, die nicht beantragt oder nicht erteilt worden ist, bleibt bei der Beurteilung der Strafbarkeit nach h.M. unberücksichtigt und schließt die Strafbarkeit nicht aus (BGHSt 37 21, 29),566 wirkt aber

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559 Otto Jura 1991 308, 313; Rudolphi NStZ 1984 193, 197. 560 Vgl. auch Rogall FS Köln 505, 526 f m.w.N. 561 Rengier ZStW 101 (1998) 874, 895 f; Dolde NJW 1988 2329, 2333; Wimmer JZ 1993 67, 69. 562 Rönnau LK12 Vor § 32 Rdn. 385. 563 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 15 Rdn. 164; Dolde NJW 1988 2329, 2331; Paeffgen/Zabel NK Vor § 32 ff Rdn. 204 m.w.N.; Roxin AT I § 17 Rdn. 63; Schall NJW 1990 1263, 1267; Winkelbauer NStZ 1988 202; Wimmer JZ 1993 67, 69. 564 So Rönnau LK Vor § 32 Rdn. 286; Hirsch LK11 Vor § 32 Rdn. 165; Paeffgen/Zabel NK Vor § 32 ff Rdn. 152; Heghmanns S. 219; Ipsen VVDStRL 50 (1991) 310 f; Kuhlen WiVerw 1992 215, 246 ff; Musknug VVDStRL 50 (1991) 329 f; Ossenbühl/Huschens UPR 1991 161, 167; Ransieck NK Vor § 324 ff Rdn. 17, 46; Rengier ZStW 101 (1989) 874, 888 ff, 896 ff; Rogall NStZ 1992 561, 565 f; ders. NJW 1995 922, 924; Scheele S. 161 ff; M. Schröder VVDStRL 50 (1991) 196, 225; Steindorf FS Salger 167, 181 ff; Wimmer JZ 1993 67, 70. 565 Jakobs AT 16/29a; Rönnau LK Vor § 32 Rdn. 286. 566 OLG Frankfurt JR 1987 508; OLG Köln wistra 1991 74, 75; vgl. auch BVerwG DVBl. 1979 67; Bergmann S. 52 ff; Breuer NJW 1988 2072, 2079; Dannecker in Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht in der EU S. 369, 401; Dölling JZ 1985 461, 462 f, 468; Tiedemann/Kindhäuser NStZ 1988 337, 343; näher zum Streitstand Heghmanns S. 234 ff; Brauer S. 32 ff; Rönnau LK Vor § 32 Rdn. 290 f; A. Schröder S. 161 ff.

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strafmildernd, da unrechtsmildernd.567 Hierbei handelt es sich nicht um ein Problem des Art. 103 Abs. 2 GG, sondern um ein solches der Verhältnismäßigkeit.568 hh) Behördliche Auskünfte, Warnhinweise und Verlautbarungen. Auf Verwal- 143 tungsentscheidungen, welche nicht die Voraussetzungen eines Verwaltungsakts aufweisen (Auskünfte, Warnhinweise, Verlautbarungen), soll durch Strafnormen nicht verwiesen werden dürfen.569 Hierfür spricht, dass ansonsten der bloße Verwaltungsungehorsam inkriminiert würde. Wenn man eine formelle Ungehorsamskonzeption der Straftat ablehnt (Rdn. 134) und davon ausgeht, dass „die Verfassungsordnung nur einen materiell verstandenen Ungehorsam gegenüber Verwaltungsbefehlen als Straftat anerkennt“,570 muss der Gesetzgeber in Bereichen, in denen die Verwaltung keine konstitutiven Hoheitsakte setzt, die Strafbarkeitsvoraussetzungen selbst bestimmen und die Kriterien benennen, die für die Strafbarkeit relevant sind. Er darf die Entscheidung über die Strafbarkeit nicht der Verwaltung überlassen, die in den genannten Bereichen überwiegend nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten entscheidet. ii) Konstitutive Gerichtsurteile. In Strafgesetzen kann auf konstitutive Gerichts- 144 urteile Bezug genommen werden, insbesondere auf statusgestaltende Zivilrechtsurteile wie Ehescheidungen und Vaterschaftsfeststellungen, die für die Zukunft den Status einer Peron gegenüber Jedermann festlegen sollen.571 Solche statusgestaltenden Entscheidungen sind für das Strafrecht verbindlich; die materielle Aufhebbarkeit oder Vernichtbarkeit ist solange unbeachtlich, bis eine entsprechende gerichtliche Entscheidung vorliegt.572 jj) Rechtsakte der Europäischen Union. Inzwischen weit verbreitet ist auch die 145 Verweisung auf Unionsrecht durch nationale Strafrechtsnormen.573 Sie kann sowohl einem unmittelbar eigenen (nationalen) Regelungsinteresse folgen, wenn die Bezugsmaterie unionsrechtlich geprägt ist. Sie kann aber auch Folge einer Verpflichtung des deutschen Gesetzgebers sein, den in Bezug genommenen Vorschriften aus EU-Verordnungen zu praktischer Wirksamkeit zu verhelfen – eine Verpflichtung, die sich, wenn sie nicht gesondert angeordnet wurde, ganz allgemein aus Art. 4 Abs. 3 EUV i.V.m. Art. 288 Abs. 2 AEUV ergeben kann.574 Trotz verfassungsrechtlicher Bedenken, die aus dem Demokratieprinzip575 und dem Bestimmtheitsgebot576 hergeleitet werden, entspricht es der heute ganz h.M., dass nationale Strafgesetze auf das Recht der Europäischen Union verweisen können:577 „Gemeinschaftsrecht und nationales Recht der Mitgliedstaaten sind zwar zwei verschiedene Rechtordnungen […]. Diese vielfältige Verschränkung von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht verbietet es, Verweisungen auf Gemeinschaftsrecht anders

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567 Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 381. 568 Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 117 f; M. Schröder VVDStRL 50 (1991) 196, 226; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 381. 569 So Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 117. 570 Tiedemann JZ 1968 761, 769. 571 Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 470. 572 RGSt 60 246; 61 199. 573 Eingehend unter dem Gesichtspunkt des Gesetzlichkeitsprinzips Cornelius Verweisungsbedingte Akzessorietät 369 ff m.w.N. 574 Schützendübel S. 269 f. 575 Fuß FS Paulick 293, 315. 576 Krey EWR 1981 109, 166 f. 577 S. 54 ff, 198 ff, 265 ff; Hecker Europäisches Strafrecht Kap. 7 Rdn. 76 ff; Moll S. 23 ff; Satzger Europäisierung S. 210 ff; jeweils m.w.N.

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zu beurteilen als Verweisungen auf nationales Recht (vgl. BVerfGE 26 338, 367 für bundesrechtliche Verweisungen auf Landesrecht).“578 Durch die Verknüpfung der tatbestandsmäßigen Handlung mit der in Bezug genommenen EU-Verordnung entsteht ein unionsakzessorischer Tatbestand, der sich am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG messen lassen muss.579 Für die Vorschriften, die in EU-Verordnungen selbst geregelt sind, gilt der Vorrang des Unionsrechts (Rdn. 37). Sie werden deshalb vom Bundesverfassungsgericht nicht im Hinblick auf ihre Bestimmtheit an Art. 103 Abs. 2 GG überprüft.580 Insoweit kann nur der unionsrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz zum Tragen kommen (Rdn. 35 ff). Wenn ein nationaler Straftatbestand auf eine bestimmte EU-Verordnung verweist 146 und diese EU-Verordnung durch eine andere, selbst inhaltlich weitgehend identische EU-Verordnung ersetzt wird, kommt eine Strafbarkeit mit Rücksicht auf Art. 103 Abs. 2 GG, der einen eindeutig bestimmten Straftatbestand fordert, nicht in Betracht (BGHSt 27 181, 182).581 Art. 103 Abs. 2 GG verbietet es, die Verweisung auf eine bestimmte Vorschrift in eine Verweisung auf die entsprechende EU-Verordnung umzuinterpretieren, selbst wenn die neue Verordnung inhaltlich keine wesentliche Änderung gebracht hat. Zwar kann ein Mitgliedstaat nach Art. 4 Abs. 3 EUV verpflichtet sein, in einem solchen Fall den Schutzbereich bisherigen nationalen Strafrechts auf Verletzungen des Unionsrechts zu erstrecken bzw. seinen Änderungen entsprechend zu erweitern.582 Jedoch ist es auch nach Ansicht des EuGH für eine Bestrafung erforderlich, dass der Rechtsverstoß unter den Wortlaut des nationalen Strafgesetzes subsumiert werden kann. Dies folgt aus dem allgemeinen Rechtsgrundsatz „nullum crimen sine lege scripta“, den der EuGH anerkannt hat (Rdn. 33 ff).583 Mit der Entscheidung BGHSt 27 181 ff (damals noch zur EG) war die Grundlage für die Oberlandesgerichte geschaffen, die verfassungsrechtlichen Anforderungen an Blankettgesetzverweisungen weiter zu konkretisieren.584 Auch Ermächtigungsklauseln, die eine deklaratorische Anpassung an das Unionsrecht ohne förmliches Gesetzgebungsverfahren vorsehen, würden die Anforderungen nicht erfüllen;585 einer derartigen dynamischen Verweisung stünde zudem das Demokratieprinzip entgegen.586 An diesen Einschränkungen, von denen das Schrifttum indes zum Teil abrückt, um dem Gesetzgeber eine atemlose und von unionsrechtlicher Normgebung gehetzte Gesetzgebung zu ersparen,587 ist grundsätzlich festzuhalten. Durch eine Verweisung auf eine noch nicht in Geltung gesetzte Vorschrift kann deren Regelungsgehalt unabhängig vom Inkrafttreten des in Bezug genommenen Rechtsakts mit der Bezug nehmenden Norm wirksam werden, soweit die Verweisung als unmittelbare Einbeziehung des Wortlauts verstanden werden kann.588 Ob das der Fall ist, ist Auslegungsfrage.589 Zudem können Bestimmtheitsprobleme insbesondere dann entstehen, wenn die in Bezug genommene

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578 BVerfGE 29 210; ebenso BGHSt 25 196; BVerfGE 143 38, 55 f, Rdn. 42 ff. 579 Dazu z.B. für das Umweltstrafrecht Petzsche NZWiSt 2015 210, 212 ff. 580 Näher dazu Enderle S. 212. 581 Vgl. auch LG Bad Kreuznach ZLR 2001 898. 582 Näher dazu Dannecker ZIS 2016 723, 729. 583 Dannecker FG-Wiss. 50 J. BGH Bd. IV 339, 373. 584 Namentlich mit Bezug auf das WeinG OLG Koblenz LRE 23 249 mit Anm. Koch, ZLR 1989 199 ff und OLG Stuttgart NStZ 1990 88 ff mit Anm. Koch ZLR 1990 188 ff. 585 OLG Koblenz LRE 23 249. 586 Koch ZLR 1989 202 f. 587 So C. Schröder ZLR 2004 265; zustimmend A. H. Meyer/Streinz/A. H. Meyer § 58 LFGB Rdn. 6. 588 BGHSt 62 13, Rdn. 10 ff; bestätigend BVerfG NJW 2018 3091; WM 2018 1251; dazu Gehrmann wistra 2018 366 ff; Schäuble ZWH 2018 251 ff; eingehend die Kommentierung zu § 2 Rdn. 74 ff. 589 Kritisch zu der sehr weiten Auslegung des BGH im WpHG-Fall u.a. Rossi NJW 2017 969; Bülte/Müller NZG 2017 205 ff; Gaede wistra 2017 163 f (sowie vor dem Beschluss S. 41 ff); Köpferl ZIS 2017 201 ff; grundsätzlich zustimmend Kudlich ZBB 2017 72.

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Norm eine frühere, derzeit noch fortgeltende Regelung ersetzt, so dass im Ausgangsrechtsgebiet die alte Rechtslage noch gilt, während eine neue bereits strafbewehrt wird – einander widersprechende Verhaltensregeln für dieselbe Verhandlungsentscheidung können nicht bestimmt sein. EU-Richtlinien können nach ganz h.M. gar nicht akzessorisch in Bezug genommen werden, weil sie keine unmittelbar an den Bürger gerichteten Vorschriften enthalten und auch nach Ablauf der Umsetzungsfrist nicht in den Beschuldigten belastender Weise unmittelbar angewendet werden dürfen.590 Von den gerade behandelten Fällen zu unterscheiden sind solche, in denen nicht 147 ein Straftatbestand als bloß akzessorische Sanktionsnorm eine Verhaltensnorm aus dem Unionsrecht in Bezug nimmt, sondern auch bezüglich der Verhaltensnorm eine eigene Regelung trifft und dabei lediglich erläuternd auf Unionsrecht verweist. Von einer solchen Konstellation ging der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung NJW 2014 1029 aus. § 370 Abs. 6 S. 2 Alt. 2 AO zitierte in der bis zum 14.12.2011 geltenden Fassung Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 92/12/EWG des Rates vom 25.2.1992 (ABl. 1992 L 76, S. 1), welche mit Wirkung zum 1.4.2010 durch die Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16.12.2008 (ABl. 2009 L 9, S. 12) ersetzt wurde. Dieses Zitat enthielt auch noch die Fassung des § 370 AO vom 8.12.2010, gültig ab 14.12.2010, in deren Geltungszeit der Tatzeitraum vollständig lag. Obwohl dem vom BGH angenommenen Grundsatz zuzustimmen ist, lag hier doch nicht einfach ein Fall dieses Grundsatzes vor. § 370 AO (namentlich Abs. 6 S. 2 Alt. 2) enthält nämlich keine eigene Verhaltensnorm, sondern nimmt solche des Steuerrechts in Bezug. Im Ergebnis war die Entscheidung des BGH gleichwohl richtig.591 Verwiesen wurde im Straftatbestand nämlich auf die auf harmonisierte Verbrauchsteuern für Waren bezogenen Pflichten. Wie auch sonst in § 370 AO wurde nicht auf eine bestimmte Gebots- oder Verbotsnorm verwiesen. Das Zitat der Richtlinie spezifizierte hingegen eine Einschränkung der Strafdrohung auf Taten mit Bezug zu bestimmten (in der Richtlinie aufgezählten) Waren. Als Bezugnahme auf Verhaltensnormen wäre der Verweis auf eine Richtlinie von vornherein unzulässig gewesen (Rdn. 146), zur näheren Bestimmung einer Wortbedeutung aber war er nicht zu beanstanden.592 Die Pflichten, auf die § 370 AO verweist, werden hingegen jeweils ihrem Typus nach verbal bestimmt, und dieser Verweis besteht auch über Änderungen der sedes meteriae hinweg fort. Dabei ändern sich die in Bezug genommenen Pflichten, aber nicht als Folge einer dynamischen Verweisung (auf eine bestimmte Vorschrift), sondern als aktuelle, über den gleichbleibenden Typusbegriff bezeichnete Rechtslage. Die Einschränkung auf bestimmte Waren hingegen blieb auch nach Außerkrafttreten der Richtlinie bestehen und wurde auch nicht etwa durch die neue Richtlinie, die sich auf weitere Waren bezog, reduziert, denn eine solchermaßen erweiterte oder gar uneingeschränkte Sanktionsnorm hatte der Gesetzgeber in § 370 Abs. 6 S. 2 AO bis dato gerade nicht angeordnet.593 In ähnlicher Weise ging der BGH in seiner Mio Calvino-Entscheidung davon aus, dass § 143a Abs. 1 Nr. 1 MarkenG a.F. auch nach Aufhebung und Ersetzung der von ihm in Bezug genommenen GemeinschaftsmarkenVO ([EG] Nr. 207/2009) strafbegründend blieb, denn die Bezugnahme sei durch vollständiges Zitat des Normtextes erfolgt, so dass der deutsche Gesetzgeber die Regelung ins nationale Recht inkorporiert habe, und dort sei sie nicht aufge-

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590 EuGH Slg. 2005 I-3565 Rdn. 73 (Berlusconi); C. Schröder S. 20 f; Emmert EWS 1992 56, 63 Fn. 74; Jarass Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts S. 87; Winter DVBl. 1991 657, 660; F. Zimmermann NStZ 2008 662, 665; Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht § 9 Rdn. 59; Vedder/Heintschel v. Heinegg/Vedder Europäisches Unionsrecht Art. 288 AEUV Rdn. 37 ff. 591 Schuhr NStZ 2014 330. 592 Vgl. dazu Cornelius NZWiSt 2014 173 ff. 593 So auch der BGH NJW 2014 1029.

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hoben worden.594 Zu zeitlichen Grenzen der Geltung von Bezugsnormen siehe auch Rdn. 257. 148

b) Blankettgesetzgebung. Die Konkretisierungsbedürftigkeit des Strafgesetzes durch einen weiteren Rechtsakt der Legislative oder der Exekutive wird in der strafrechtlichen Literatur in der Regel als die Problematik des Blankettstrafgesetzes behandelt. Die h.M. betrachtet den Begriff des Blankettgesetzes als verfassungsrechtliche Kategorie, die insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Garantiefunktion des Gesetzestatbestands (Art. 103 Abs. 2 GG) relevant ist. Unter einem Blankettstrafgesetz (vgl. dazu auch § 2 Rdn. 103) werden im Anschluss an Binding Strafgesetze verstanden, bei denen die Ausfüllung des „offenen“ Tatbestandes einer anderen Instanz überlassen wird.595 Die Beschreibung des Straftatbestandes erfolgt aber auch (ganz oder teilweise) durch die Verweisung auf eine Ergänzung im selben Gesetz oder in anderen – auch zukünftigen – Gesetzen oder Rechtsverordnungen. Werden die Ergänzungen nicht von derselben rechtssetzenden Instanz erlassen, spricht man von Außenverweisungen.596 Außerdem kann auf Verwaltungsakte verwiesen werden. Schließlich können Unionsrechtsnormen in Bezug genommen werden, sofern der nationale Gesetzgeber selbst die wesentliche Grundentscheidung getroffen und lediglich die Ausgestaltung des Inhalts im Einzelnen delegiert hat.597 Wenn gegen diesen Grundsatz verstoßen wird, so hat dies zur Folge, dass das verweisende Strafgesetz verfassungswidrig und damit nichtig ist.

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aa) Abgrenzung zu normativen Tatbestandsmerkmalen. Kein Blankettstrafgesetz liegt dort vor, wo einzelne Tatbestandsmerkmale einer Strafrechtsnorm außerstrafrechtliche Rechtsbegriffe und Rechtsregeln voraussetzen, wie es beim Begriff „fremd“ in § 242 mit Teilen der zivilrechtlichen Sachenrechtsordnung der Fall ist. Hierbei handelt es sich um rechtsnormative Tatbestandsmerkmale, die durch Recht und Gesetz begründet werden.598 Dabei ist die Abgrenzung zwischen Blankettmerkmalen und normativen Tatbestandsmerkmalen danach vorzunehmen, ob das Merkmal das Schutzobjekt des Straftatbestandes bezeichnet, weil dann das fragliche Merkmal dem Schutz des außerstrafrechtlichen Rechtsinstituts (z.B. der Eigentumsordnung, der Unterhaltspflicht etc.) dient.599 Die Strafbestimmungen gestalten in diesen Fällen den Tatbestand inhaltlich selbst,600 sind also vollständig, auch wenn sich einzelne Rechtsbegriffe aus anderen Rechtsteilen ergeben, deren ursprüngliche Auslegung sich die Strafnorm zu eigen macht. Wenn aber die strafrechtliche Regelung an das außerstrafrechtliche Rechtsinstitut als solches anknüpft, ohne seine Umschreibung oder Benennung zu einer strafrechtlichen zu machen, gilt Art. 103 Abs. 2 GG bezüglich der Ausfüllungsnormen nicht. Die Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG richten sich allein an die Strafrechtsnorm.601 Nur

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594 BGH NJW 2018 801 ff. m. Anm. Bülte NZWiSt 2018 159 f. 595 Vgl. dazu nur Enderle S. 173 ff, 205 ff; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 94, 239 ff; ders. Artikel „Blankettstrafgesetz“ in Krekeler/Tiedemann/Ulsenheimer/Weinmann HWiStR S. 1; ders. Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 238 ff. 596 BVerfGE 14 245, 252; BVerfG NStZ-RR 2004 275, 278; RGSt 46 393, 395 f; Binding Die Normen und ihre Übertretungen Bd. I, 4. Aufl. (1922) S. 161 ff; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 239. 597 Tiedemann FS Roxin 1401, 1404. 598 Dazu Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 239. Zu Reichweite und uneinheitlicher Verwendung des Begriffs Schlüchter Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale S. 3 ff; Böhm S. 230 ff. 599 Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 249; Th. Schröder NZWiSt 2015 321, 331 f. 600 Vgl. Bülte JuS 2015 769, 770. 601 So BVerfGE 78 205, 213, zu § 23 baden-württembergisches Denkmalschutzgesetz, wonach bestimmte Kulturdenkmäler mit ihrer Entdeckung Eigentum des Landes werden.

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sie muss gesetzlich geregelt sein und das erforderliche Maß an Vorhersehbarkeit gewährleisten. Deshalb bestehen auch keine Bedenken, die Fremdheit nach einer ausländischen Rechtsordnung zu bestimmen, wenn der Erwerbsvorgang nicht dem inländischen Recht unterlag, obwohl eine ausländische Rechtsordnung dem Gesetzesvorbehalt des Art. 103 Abs. 2 GG nicht Rechnung tragen kann.602 Ebenso kann sich die Bestimmung der pflichtwidrigen Handlung bei der Untreue (§ 266) als Folge des jeweils einschlägigen Gründungsstatuts603 nach ausländischem Recht richten, ohne dass der Bestimmtheitsgrundsatz oder der Parlamentsvorbehalt (Rdn. 114 ff) verletzt wird.604 Auch ist eine analoge Anwendung der außerstrafrechtlichen Regelungen hier nicht durch das Analogieverbot ausgeschlossen. Die begrifflich einbezogenen außerstrafrechtlichen Normen und Rechtsinstitute gelangen nicht unter das spezielle strafrechtliche Bestimmtheitsgebot,605 so dass der Normadressat bei Zweifeln über die Auslegung nur über das strafrechtliche Vorsatzerfordernis geschützt werden kann.606 Dieser sich allein mit Blick auf Vorschriften ergebende Befund ist allerdings kein Freibrief für den Gesetzgeber, denn allen Tatbestandsmerkmalen müssen abgrenzbare Umstände entsprechen. Im Gegensatz zu deskriptiven Merkmalen, die sich auf mehr oder minder komplexe Zusammenhänge „roher Tatsachen“ beziehen, müssen normative Tatbestandsmerkmale sich auf „institutionelle Tatsachen“607 bzw. „konventionale Eigenschaften“608 beziehen.609 Diese müssen im allgemeinen Bewusstsein der Adressaten der Norm entsprechend klar umgrenzt sein, wie andere Eigenschaften von Dingen bzw. Tatsachen, an die deskriptive Merkmale anknüpfen. Nur dann haben die Merkmale einen Bezug, eine Bedeutung und können bestimmt sein. Diese Umgrenzung muss aber eben nicht im Recht erfolgen, sondern kann – wie auch sonst – im Gebrauch der Sprache erfolgen, und das schließt die Analogien ein, die im Adressatenkreis tatsächlich bereits gezogen werden, während ein Gericht durch neue, eigene Analogieschlüsse das Merkmal überdehnen würde. Unter Zugrundelegung dieser Abgrenzung ist die Steuerhinterziehung gemäß § 370 AO entgegen der h.M. kein Blankettstrafgesetz.610 Vielmehr handelt es sich um einen hochgradig normativ bestimmten Straftatbestand.611 Das als „Angaben machen“ näher bestimmte Verhalten wird durch die im Tatbestand umschriebene Verbotsmaterie weiter begrenzt: Die Angaben müssen sich auf steuererhebliche Tatsachen beziehen und bewirken, dass die Steuerschuld des Erklärenden verkürzt wird. Die Merkmale der Unrichtigkeit und Unvollständigkeit der Angaben über steuererhebliche Tatsachen setzen das Bestehen eines Steueranspruchs voraus, der von den steuerrechtlichen Vorschriften abhängt, unter die der Sachverhalt zu sub-

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602 BGHSt 21 279; Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 478. 603 Zur Anwendbarkeit des Gründungsstatuts bei im EU-Auslandsgesellschaften EUGH Slg 1999 I-1459 (Centros); EUGH Slg. 2002 I-9919 (Überseering); EUGH Slg. 2003, I-10155 (Inspire Art). 604 BGH NStZ 2010 632, 634 m. Anm. Beckemper ZJS 2010 554, 557; Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht, S. 36 m.w.N.; kritischer Radtke GmbHR 2008 729, 734 ff; Rönnau ZGR 2005 832, 856 f; Schlösser wistra 2006 81, 86 f, 88; 605 Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 249; aA Appel S. 128 f; Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 41. 606 BVerfGE 78 205, 213. 607 Grundlegend Searle The Philosophical Review 73 (1964) 43 ff; ders. Making the Social World S. 90 ff (Chapt. 5 und 6). Vgl. ferner Rowe S. 86 ff. Zu ihrer Funktion, Komplexität zu reduzieren, ohne dass dabei – entgegen den etwas übertriebenen Behauptungen Searles – generell Normen auf Tatsachen zu reduzieren wären Luhmann S. 255, 354 ff und 502. 608 Kindhäuser Jura 1984 465 ff insb. 470 ff. 609 Zur Abgrenzung eingehend Papathanasiou Irrtum S. 38 ff; Cornelius Verweisungsbedingte Akzessorietät 268 ff jeweils m.w.N. 610 So aber BVerfGE 37 201, 208; BVerfG wistra 1991 175; BGHSt 34 272, 382; BGH NStZ 1982 206; NStZ 1984 510. 611 Entsprechend Juchem wistra 2014 300 ff.

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sumieren ist. Jedoch ist die Art der Steuer oder der geringere oder höhere Betrag, um den die Steuer verkürzt wird, für die Unrechtsvertypung irrelevant. Es kommt allein auf die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der tatsächlich gemachten Angaben im Vergleich zu den im konkreten Fall normativ geforderten Angaben an. § 370 AO wird auch nicht dadurch zum Blankettstrafgesetz, dass die Angaben steuerlich erheblich sein müssen und eine Verkürzung der Steuer bewirkt werden muss. Dies spiegelt sich schon darin wider, dass nicht nur die für einen Steuertatbestand relevanten Umstände steuerlich erheblich sind, sondern auch sonstige Umstände, die nur mittelbar für die Entstehung des Steueranspruchs und dessen Feststellung durch die Finanzbehörde relevant sein können, unter den Straftatbestand fallen.612 Zwar wird das Tatobjekt des § 370 AO – das staatliche Steueraufkommen – durch Rechtsnormen konstituiert.613 § 370 Abs. 1 AO verweist jedoch nicht auf die Voraussetzungen des Steueranspruchs, sondern auf das Bestehen eines Steueranspruchs in bestimmter Höhe als Rechtsfolge der steuerrechtlichen Normen und dient dem Schutz eines außerstrafrechtlichen Rechtsguts: dem Anspruch des Staates auf den vollen Ertrag der jeweils tatbetroffenen Steuer. Da die strafrechtliche Regelung des § 370 AO an das außerstrafrechtliche Rechtsinstitut als solches anknüpft und den Tatbestand inhaltlich selbst gestaltet (so BVerfGE 78 205, 213), ist sie vollständig, auch wenn sich die steuerliche Erheblichkeit und die Steuerverkürzung aus dem Steuerrecht ergeben, deren ursprüngliche Auslegung sich die Strafnorm zu eigen macht. Deshalb enthält der Steuerhinterziehungstatbestand normative Tatbestandsmerkmale und ist keine Blankettgesetzverweisung.614 bb) Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG an Blankettstrafgesetze. Unter staatsrechtlichem Blickwinkel wird unter einem Blankettstrafgesetz ein solches verstanden, bei dem die Ausfüllung einer anderen Instanz (z.B. dem Landesgesetzgeber oder der Verwaltung) überlassen wird (echtes Blankettgesetz). Wenn die Strafvorschrift hingegen in demselben Gesetz geregelte und fest umrissene Tatbestände mit Strafe bewehrt (so genannte Binnenverweisungen), handelt es sich um ein unechtes Blankettgesetz, das verfassungsrechtlich unbedenklich ist. Bei den Blankettvorschriften unterliegen sowohl die verweisende als auch die in Be151 zug genommene Vorschrift dem Gesetzlichkeitsprinzip des Art. 103 Abs. 2 GG und müssen an dessen Maßstäben gemessen werden.615 Zunächst muss das verweisende Gesetz selbst, unabhängig vom Vorliegen eines echten oder unechten Blanketts, hinreichend bestimmt sein und die einschlägige Ausfüllungsnorm sowie deren möglichen Gegenstand und Inhalt hinreichend genau – in der Sprache des Bundesverfassungsgerichts: „hinreichend klar“ (BVerfGE 110 33, 62 ff; 143 38 Rdn. 42, 44) – bezeichnen und abgrenzen.616 Es muss hinreichend deutlich sein, worauf sich die Verweisung bezieht.617 Dabei

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612 Vgl. dazu nur Dannecker Steuerhinterziehung S. 189 ff m.w.N. 613 Vgl. Tiedemann LK12 § 283 Rdn. 188. Speziell zu Problemen verfassungswidriger Vorschriften, deren Weitergeltung angeordnet wurde, Wroblewski Unvereinbarerklärung S. 201 ff, 614 Bachmann S. 172 f; Backes S. 158; Enderle S. 243 f; Fissenewert S. 220 ff; von der Heide S. 194 ff; Tiedemann ZStW 107 (1995) 597, 640 f; aA Andrejitschitsch in Wannemacher Steuerstrafrecht Rdn. 24; Bürger S. 131 ff; Joecks/Jäger/Randt/Joecks Einl. Rdn. 5. 615 Eingehend dazu Enderle S. 173 ff, 205 ff; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 238 ff. 616 BVerfGE 23 265, 269; 75 329, 342; 78 374, 383; BVerfG NJW 1992 2624; v. Münch/Kunig/Kunig Art. 103 Rdn. 23; Schmitz MK Rdn. 60; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 241 ff und ZBB 2005 190, 191; ebenso Achenbach/Schröder ZBB 2005 135, 137 m.w.N. 617 BVerfGE 48 48, 55; 51 60, 74; 75 329, 342; BGHSt 37 266, 272; Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 65; Enderle S. 185 ff; Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 77; Ransiek S. 106 ff; Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 31; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 248.

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liegt es in der Gestaltungsfreiheit des Bundesgesetzgebers, ob er Strafsanktionen für Verstöße gegen Bundesgesetze im jeweiligen Fachgesetz (das heißt, im Nebenstrafrecht) oder etwa zur Betonung ihrer besonderen Bedeutung für das Wohl der Allgemeinheit im Strafgesetzbuch vorsieht,618 wie dies beim Umweltstrafrecht geschehen ist. Umstritten ist allerdings, ob die Verweisung auszulegen ist, was insbesondere bei höchst deskriptiven Begriffen wie Zahlenangaben nicht möglich ist, oder aber eigenen Kriterien der Klarheit unterliegt. Im Hinblick darauf, dass Art. 103 Abs. 2 GG die individuell-objektive Vorhersehbarkeit für den Bürger garantieren will, kommt es entscheidend auf die Klarheit der Verweisung (Rdn. 54) an.619 Da der Straftatbestand bei Blanketten durch Verweisungs- und Ausfüllungsnorm 152 insgesamt gebildet und die Ausfüllungsnorm in das Blankett inkorporiert wird, erstrecken sich die Bestimmtheitsanforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG auch auf die Ausfüllungsvorschrift. Deshalb muss auch die in Bezug genommene Norm an den strafrechtlichen Maßstäben des Art. 103 Abs. 2 GG gemessen werden. Bei echten Blankettgesetzen, die auf Rechtsakte der Verwaltung verweisen, reicht 153 es nicht aus, wenn rechtstechnisch einwandfrei auf die Ausfüllungsnorm verwiesen wird. Vielmehr müssen die Voraussetzungen der Strafbarkeit für den Bürger bereits aus der gesetzlichen Ermächtigung ersichtlich sein. So hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum Fernmeldeanlagegesetz von 1977 dargelegt, dass der demokratische Gesetzgeber selbst zumindest eine Grundentscheidung darüber treffen muss, was strafbar sein soll.620 Diese Entscheidung darf der Gesetzgeber nicht an eine andere Instanz delegieren. Aus Art. 103 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG und – soweit Freiheitsstrafe angedroht ist – aus Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG folgt, dass die möglichen Fälle der Strafbarkeit, die Sanktionsart und der Sanktionsrahmen in der Blankettvorschrift selbst oder in einer anderen Bezugsvorschrift, die ein förmliches Gesetz ist, schon auf Grund des Gesetzes und nicht erst auf Grund einer Rechtsverordnung hinreichend deutlich umschrieben sein müssen.621 Auch wenn die Rechtsverordnung die Bezugsvorschriften nicht selbst enthält, sondern ihrerseits aus höherrangigem Recht auswählt und entsprechend weiterverweist, genügt dies nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen;622 im vom BVerfG entschiedenen Fall nannten §§ 1 und 10 RiFlEtikettG a.F. nur pauschal „Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft oder der Europäischen Union über die Etikettierung von Rindfleisch und Rindfleischerzeugnissen“ und überließen die nähere Auswahl der nach § 10 RiFlEtikettG a.F. strafbewehrten unionsrechtlichen Pflichten einer Durchführungsverordnung (dazu auch Rdn. 160). Art. 103 Abs. 2 GG schließt jede Rechtsanwendung aus, die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht.623 Die Verwaltungsbehörde darf somit nicht die Grenzen des strafbaren Verhaltens

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618 BVerfGE 75 329, 343. 619 Krey EWR 1981 109, 137; Tiedemann ZBB 2005 190, 192 (unter Hinweis auf den parallelen Begriff der Bilanzklarheit); aA Schmitz MK Rdn. 61. 620 BVerfGE 75 239, 342; 78 374, 385 ff; näher dazu Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 241 ff. 621 BVerfGE 14 245, 252; 22 1, 18; 23 265, 269; 37 201, 209; 41 314, 319; 75 329, 342; 78 374, 382; BVerfG NStZ 1991 45 ff; BVerfG NJW 1992 35; BVerfG NStZ-RR 2004 275, 278; BGHSt 37 266, 272; Dreier-III/SchulzeFielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 33; Tiedemann Verfassungsrecht und Strafrecht S. 46. 622 BVerfGE 143 38, 58 f (Rdn. 48–52; allgemeiner zu den Kriterien Rdn. 38 ff). Zustimmend, auch bzgl. einer Übertragung in weitere Regelungszusammenhänge, u.a. Bülte BB 2016 3075 ff; Cornelius NStZ 2017 682; Hecker NJW 2016 3653. Einen entspr. Vorlagebeschluss bzgl. § 58 Abs. 3 Nr. 2 LFGB fasste das LG Stade wistra 2017 451 m zust Anm Schmitz wistra 2017 455; Honstetter NZWiSt 2017 325. Einschränkungen bzgl. einer Übertragbarkeit auf weitere Regelungszusammenhänge Brand/Kratzer JR 2018 422 ff. Mit weiterführenden Überlegungen zum Ultima-Ratio-Grundsatz ferner Jahn/Brodowski JZ 2016 969, 971 ff; dies. ZStW 129 (2017) 363, 372 ff und Kempf AnwBl 2017 34 ff. 623 BVerfGE 87 399, 411 unter Hinweis auf BVerfGE 47 109, 120 f; 82 236, 269.

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bestimmen, 624 sondern die Sanktionsnorm lediglich weiter präzisieren (grundlegend BVerfGE 78 374, 381 ff).625 So darf der Anwendungsbereich einer Strafnorm „spezifiziert“ werden (Rdn. 127), indem z.B. die Liste der in der Anlage zum Gesetz aufgeführten verbotenen Stoffe und Zubereitungen geändert wird (§ 1 Abs. 2 BtMG).626 Art. 103 Abs. 2 GG ist somit verletzt, wenn der Beschuldigte auf Grund eines 154 Blankettstrafgesetzes verurteilt wird, ohne dass eine Verordnung vorhanden ist, die zur Spezifizierung der Blankettnorm hätte dienen können, oder wenn eine Rechtsnorm zur Spezifizierung herangezogen wird, die nach ihrer Zielsetzung zur Ausfüllung des Blankettstrafgesetzes ungeeignet ist.627 Aus dem Grundgesetz können Bedenken dagegen, dass der Bund Landesrecht (durch ein Blankettstrafgesetz) mit Kriminalstrafe bewehrt, nicht hergeleitet werden.628 In der Literatur werden weitere Einschränkungen in Form von Kriterien dafür vertreten, welche besonders dynamischen und dringlich regelungsbedürftigen Entwicklungen es überhaupt rechtfertigen, den Verordnungsgeber mit der Regelungsaufgabe zu betrauen;629 im Sinne einer Lehre guter Gesetzgebung sind sie sehr beachtenswert, den äußeren Rahmen des verfassungsrechtlich noch Zulässigen ziehen sie indes zu eng. Allerdings wurden jedenfalls bis zur Aufhebung von § 10 Abs. 1 und 3 RiFlEtikettG 155 durch das BVerfG630 – die Folgeentwicklung bleibt abzuwarten – an die Grundentscheidung des Gesetzgebers von der Verfassungsrechtsprechung keine hohen Maßstäbe angelegt, wie ein Blick auf das Verkehrsstrafrecht zeigt. Dort wurde in Bezug auf § 21 StVG a.F. die Ermächtigung zur Schaffung von Regelungen zur „Abwehr von Gefahren für die Ordnung und Sicherheit des öffentlichen Straßenverkehrs“ als hinreichend bestimmt angesehen, um sämtliche Regelungen, die nicht völlig untauglich zur Gefahrenbekämpfung im Straßenverkehr waren, abzudecken. Zu Recht wird diese Regelungstechnik in der Literatur schon lange kritisiert (Rdn. 160).631 Als Blankettstrafgesetze sind z.B. angesehen worden: § 327 Abs. 2 Nr. 1 StGB i.d.F. 156 des 18. StRÄndG;632 § 366 Nr. 10 StGB a.F.;633 § 367 Abs. 1 Nr. 15 StGB a.F.;634 § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977;635 § 34 Abs. 1 Nr. 3 AWG a.F.;636 § 25 Abs. 1 AZO i.d.F. der VO vom 30.4.1938 (RGBl. I S. 446);637 §§ 42, 47 BVerfGG, aufgehoben durch § 28 VereinsG vom 5.8.1964

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624 Achenbach/Schröder ZBB 2005 135, 137; Otto Jura 2005 538; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 242. 625 Vgl. auch BVerfGE 14 245, 251; 22 1, 18; 22 21, 25; 23 265, 269; 37 201, 209; 51 60, 70 f; 75 329, 342; BVerfG NJW 1992 2624; auch BGH NStZ 1990 443; Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 65; Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 78; Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 33. 626 BVerfG NJW 1998 669 f; s. auch BVerfG NJW 1997 1910, 1911; Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 65; Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 33; krit. Volkmann ZRP 1995 220, 221. 627 BVerfGE 23 265, 270 f. 628 BVerfGE 23 113, 125; 33 206, 219. 629 Bode/Seiterle ZIS 2016 91 ff, ferner 173 ff. 630 BVerfGE 143 38. 631 Grundlegend Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 254 ff. Vgl. dazu am Beispiel des § 20a Abs. 5 WpHG (aus der Rechtsprechung: BGH ZIP 2003 2358) Schmitz ZStW 115 (2003) 501, 528; Vogel in Assmann/ Schneider WpHG, 3. Aufl. (2003) Rdn. 17 Vor § 20a; ders. WM 2003 2437, 2440, jeweils m.w.N; zustimmend Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht AT Rdn. 242. 632 BVerfGE 75 329, 343. 633 BVerfGE 23 265, 269. 634 BVerfGE 23 113, 125. 635 BVerfG, 3. Kammer des 2. Senats, Beschluss vom 21.3.1989 – 2 BvR 162/89 und 2 BvR 201/89; BVerfG NStZ 1991 88; BGH NStZ 1982 206 = wistra 1982 108 m. Anm. Jobski, wistra 1983 12 m. Anm. Ulsenheimer; krit. aber Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 239 m.w.N. 636 BVerfG NJW 1993 1909; zur Neufassung Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 611. 637 BVerfGE 22 1, 18.

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(BGBl. I S. 593);638 § 30 Buchst. a, § 31 Abs. 1 S. 2 HeimarbeitsG vom 14.3.1951 (BGBl. I S. 191) i.d.F. des Gesetzes vom 25.6.1969 (BGBl. I S. 645);639 § 392 Abs. 1 S. 1 RAbgO i.d.F. des Art. 161 Nr. 2a EGStGB;640 § 21 StVG vom 19.12.1952 (BGBl. I S. 837) i.d.F. des Gesetzes über Maßnahmen auf dem Gebiete des Verkehrsrechts und Verkehrshaftpflichtrechts vom 16.7.1957 (BGBl. I S. 710);641 § 52 Abs. 2 Nr. 1 Var. 3 VTabakG i.d.F. des Gesetzes vom 13.4.2006 (BGBl. I S. 855);642 § 67 Abs. 1 Nr. 1 WeinG a.F (heute in §§ 48, 49 WeinG).643 cc) Statische Verweisungen. Blankettbestimmungen, die eine statische Verwei- 157 sung auf eine bereits existierende, bzgl. des pflichtigen Verhaltens aussagekräftige (oder aussagekräftig weiterverweisende) nationale Rechtsnorm oder EU-Verordnung enthalten, sind im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich unbedenklich, da sie auch so die Art des Verstoßes hinreichend deutlich umschreiben.644 Wenn eine Verordnung, die durch das nationale Strafrecht in Bezug genommen wird, durch eine andere Verordnung ersetzt wird, so dass die Verweisung im Strafgesetz ins Leere läuft, darf keine Bestrafung erfolgen, auch wenn das Verhalten nach der neuen Verordnung verboten ist.645 Wenn die neue Verordnung dagegen eine Regelung enthält, dass Verweisungen auf die frühere Verordnung als Verweisungen auf die neue Verordnung anzusehen sind, ist dies bei Verweisungen auf nationale Regelungen zulässig, nicht hingegen im Unionsrecht. Wenn die neue EU-Verordnung schließlich vorsieht, dass Verweisungen auf die alte EU-Verordnung als Verweisungen auf die neue EU-Verordnung anzusehen sind, kann dies die Strafbarkeit nicht begründen, da die Europäische Union insoweit nicht über Rechtsetzungskompetenz verfügt.646 Eine Straflosigkeit wurde vom Bundesverfassungsgericht allerdings für die Fälle verneint, in denen eine Blankettnorm eine statische Verweisung auf eine bereits aufgehobene oder noch nicht anwendbare EU-Verordnung enthält und der Wille des deutschen Gesetzgebers erkennbar ist, die betreffende Regelung EU-Verordnung ohne Rücksicht auf die unionsrechtliche Anwendbarkeit als geltendes nationales Recht zu übernehmen (dazu Rdn. 146, 257).647 dd) Dynamische Verweisungen. Im Bereich des Strafrechts werden dynamische 158 Verweisungen, die auf wechselndes und deshalb auch auf zukünftiges Recht verweisen,648 zu Recht stark kritisiert (s. auch Rdn. 146).649 Demgegenüber vertritt das Bundesverfassungsgericht die Auffassung, dass Art. 103 Abs. 2 GG dynamischen Verweisungen nicht entgegenstehe, wenn eine Konkretisierung des Straftatbestandes durch Inbe-

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638 BVerfGE 25 44, 55. 639 BVerfGE 41 314, 320, 323. 640 BVerfGE 37 201, 208 f; BVerfG NStZ-RR 2004 275, 278; BGH NStZ 1982 206. 641 BVerfGE 14 245, 252. 642 BGHSt 61, 110, 123. 643 BVerfG ZLR 1979 203 f; OLG Koblenz NStZ 1989 188, 189; OLG Stuttgart NStZ 1990 88, 89; Schnell Verweisungsbedingte Normkomplexität, passim. 644 BVerfGE 47 285, 312; BVerfG ZLR 1978 203 f; Enderle S. 180 ff; Satzger Europäisierung S. 276 ff; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 250. 645 BayObLGSt 1998 121. 646 BayObLGSt 1998 121; zustimmend Hecker Europäisches Strafrecht Kap. 7 Rdn. 89. 647 BVerfG NJW 2018 3091; WM 2018 1251; BGHSt 62 13, Rdn. 10 ff. 648 Eingehend Cornelius Verweisungsbedingte Akzessorietät S. 320 ff. Zur Abgrenzung statischer von dynamischen Verweisungen Satzger Europäisierung S. 216 f. 649 Enderle S. 180 ff; Moll S. 270 ff; Satzger Europäisierung S. 263 f; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 250.

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zugnahme der jeweils geltenden Fassung erfolge.650 Das Demokratieprinzip erfordert, dass der Strafgesetzgeber selbst die Voraussetzungen der Strafbarkeit bestimmt und diese Entscheidungen nicht anderen Organen überlässt. Deshalb ist bei blankettausfüllenden untergesetzlichen Normen im Falle von dynamischen Verweisungen besonders darauf zu achten, dass der Gesetzgeber selbst die Verbotsmaterie formuliert hat und die in Bezug genommene Regelung lediglich Detailfragen konkretisiert.651 159 Zusätzliche Probleme entstehen, wenn der dynamische Blankettverweis nicht auf nationales, sondern auf Unionsrecht abzielt.652 In diesen Fällen ist die Vereinbarkeit der Blankettverweisungstechnik mit dem Demokratieprinzip und dem Bestimmtheitsgrundsatz besonders fragwürdig.653 Hier gelten grundsätzlich dieselben Anforderungen wie bei Verweisungen auf nationales Recht.654 Bei dynamischen Verweisen kann für die jeweils gültige Fassung der EU-Verordnung auch nicht auf eine genaue Fundstelle verwiesen werden, was das Auffinden der Bezugsnormen weiter erschwert.655 Im Übrigen darf die EU-Norm, solange sie kein unmittelbar anwendbares Strafrecht setzt, nicht einem nationalen förmlichen Strafgesetz gleichgestellt werden.656 Eine Klausel im Unionsrecht, dass die neue Verordnung an die Stelle der alten getreten ist, kann im Strafrecht daher aus Kompetenzgründen nicht als ausreichend angesehen werden, um die Strafbarkeit nach der neuen Rechtsverordnung zu begründen.657 160

ee) Rückverweisungsklauseln. Problematisch sind sodann so genannte Rückverweisungsklauseln, in denen der nationale Verordnungsgeber ermächtigt wird festzulegen, welche Ge- oder Verbote sanktionsbewehrt sein sollen, indem er diese in der Verordnung als nach dem Straftatbestand strafbar (so auf diesen zurückverweisend) benennt.658 Der Gesetzgeber verfolgt damit oft das Ziel, ein zeitaufwendiges Gesetzgebungsverfahren zu vermeiden, welches nötig wird, wenn sich das in Bezug genommene Unionsrecht ändert. Er verwendet dieses Verfahren indes auch aus deutlich weniger guten Gründen, z.B. im Ordnungswidrigkeitentatbestand des § 24 StVG. Solche Rückverweisungsklauseln tragen zwar – wenn der Rechtsanwender alle rückverweisenden Vorschriften gefunden hat – zu einem erhöhten Maß an Bestimmtheit bei. Die Erkennbarkeit des Rechts leidet jedoch gerade (und keineswegs nur) für Laien erheblich. Vor allem aber darf der Strafgesetzgeber die Entscheidung über das „Ob“ der Strafbarkeit nicht dem Verordnungsgeber überlassen und damit den von Art. 103 Abs. 2 GG geforderten Parlamentsvorbehalt unterlaufen. Dies gilt auch bei Verweisungen auf das Unionsrecht.659 Als

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650 So BVerfGE 14 245, 252 ff (zu § 21 StVG); BVerfGE 75 329, 345 ff (zu § 327 Abs. 2 StGB); BVerfG NStZ-RR 2004 275, 278 (zu § 370 AO i.V.m. §§ 8 Abs. 2, 12 Abs. 1 MOG). Zur Zulässigkeit steuerstrafrechtlicher Blankettgesetze vgl. auch BVerfGE 37 201, 208 f; BGH NStZ 2003 268. 651 BGHSt 42 79, 84 f; Schmitz MK Rdn. 63; Fischer Rdn. 6. 652 Eingehend dazu Moll S. 270 ff. 653 BGHSt 42 219 ff; Enderle S. 198 ff, 266; Krey EWR 1981 109, 143; Moll S. 61 ff, 75 ff; Satzger Europäisierung S. 237; ders. JuS 2004 943, 948; vgl. auch Böse S. 439; Kert S. 435 f; aA Streinz WiVerw 1993 1, 33. 654 BVerfGE 75 329, 342; BVerfG ZLR 1978 89 ff; ebenso vorhergehend OLG Zweibrücken ZLR 1978 89 ff mit Anm. Koch; vgl. auch BGHSt 25 190, 196; 42 219, 222; dazu Dannecker Jura 1998 79, 85; ders. FG-Wiss. 50 J. BGH Bd. IV 339, 370 ff; Kert S. 443; Enderle S. 266 hält demgegenüber nur statische Verweisungen auf EU-(EG-)Recht für zulässig; ebenso OLG Stuttgart NJW 1990 657 f. 655 Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht § 9 Rdn. 71; differenzierend Schützendübel S. 272. 656 So aber Eisele JZ 2001 1157, 1164. 657 OLG Koblenz NStZ 1989 188, 189; Bungert NStZ 1993 421, 424; Schmitz MK Rdn. 63. 658 Vgl. auch Gaede AnwK Rdn. 15. 659 BVerfGE 143 38, 58 f (Rdn. 48–52; allgemeiner zu den Kriterien Rdn. 38 ff – Rindfleischettikettierung). Dazu zustimmend und für eine Übertragung in weitere

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zulässig wird man eine Anpassungskompetenz des Verordnungsgebers dahingehend ansehen können, statische Verweisungen auf einzelne Vorschriften des Unionsrechts oder nationalen Rechts in einer Durchführungsverordnung zu formulieren und zu aktualisieren, wenn das Gesetz dazu selbst konkrete thematische Vorgaben gibt, so dass das inkriminierte Verhalten sich in Grundzügen bereits aus dem Text der Strafvorschrift ergibt.660 Unzulässig ist es hingegen, die strafbewehrten Tatbestände inhaltlich in die Hände des nationalen Verordnungsgebers zu geben, und auch wenn eine Einschränkung lediglich auf den Anwendungsbereich des Gesetzes (Rindfleischetikettierung, Straßenverkehr, etc.) erfolgt, ändert das in der Regel nichts am Charakter als pauschaler Blankoermächtigung, die mit Art. 103 Abs. 2 GG unvereinbar ist.661 In der Literatur werden bisweilen besondere Ausschüsse vorgeschlagen,662 die am Erfordernis einer gesetzlichen Entscheidung über die wesentlichen Inhalte indes nichts ändern würden. Gleiches gilt, wenn der nationale Verordnungsgeber gesetzlich ermächtigt wird, in- 161 nerhalb eines bestimmten Rahmens zur Absicherung und Durchsetzung unionsrechtlicher Ge- oder Verbote Strafvorschriften zu erlassen. Auch hierbei würde dem Verordnungsgeber Strafgesetzgebung übertragen,663 also gegen den strafrechtlichen Gesetzesvorbehalt des Art. 103 Abs. 2 GG verstoßen. Rein deklaratorische Techniken der Rückverweisung sowie Rückverweisungen 162 aus Verordnungen, die strafbewehrte Gesetzesvorschriften konkretisieren, sind grundsätzlich unbedenklich (BVerfGE 75 329, 343)664 und verbessern die Erkennbarkeit der Strafbarkeit (z.B. § 3 Abs. 1 WiStG).665 Erforderlich sind solche Verweisungen allerdings nicht, wenn die Verweisungskette von der Blankettnorm auf die ausfüllenden Vorschriften geschlossen ist und dadurch das strafbare Verhalten in verfassungsrechtlich ausreichender Weise erkannt werden kann (BVerfG NJW 1993 1909 f). Soweit in der Literatur gegen die inzwischen üblich gewordene deklaratorische Rückverweisungstechnik der Einwand erhoben wird, der Exekutive werde dadurch die Macht übertragen, über die Anwendbarkeit einer Strafvorschrift zu entscheiden,666 handelt es sich um ein strukturelles Problem aller Verweisungen. Wenn die Ausfüllung einer anderen Instanz überlassen wird, entsteht nur dann eine anwendbare Strafnorm, wenn diese Instanz eine entsprechende Ausfüllung vornimmt.667 ff) „Extensionale Verweisungstechnik“. Blankettverweisungen können schließ- 163 lich noch unter dem Gesichtspunkt problematisch sein, dass es sich um eine „extensionale Verweisungstechnik“ handelt. Eine solche liegt vor, wenn ein Strafgesetz auf ein anderes Gesetz verweist, das seinerseits wieder auf Gesetze Bezug nimmt, so dass Verweisungsketten entstehen.

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Regelungszusammenhänge u.a. Bülte BB 2016 3075 ff; Cornelius NStZ 2017 682; Hecker NJW 2016 3653. Vorlagebeschluss bzgl. § 58 Abs. 3 Nr. 2 LFGB LG Stade wistra 2017 451 m zust Anm Schmitz wistra 2017 455; Honstetter NZWiSt 2017 325. Eingehend Böse FS Krey 7, 18; Freund/Rostalski GA 2016 443, 447 ff. Einschränkend Brand/Kratzer JR 2018 422 ff. 660 Vgl. Dannecker FS Höpfel 577, 593 ff; für das Unionsrecht Schützendübel S. 269, 288 ff. 661 Dannecker Entsanktionierung S. 88 ff; Enderle S. 265 ff; Kühne ZLR 2001 379, 387 ff; Satzger Europäisierung S. 282 f; Schmitz MK Rdn. 63; aA C. Schröder ZLR 2004 265, 270 ff; 662 Schützendübel S. 301 m.w.N. 663 Hecker Europäisches Strafrecht Kap. 7 Rdn. 93 f. 664 BGHSt 61 110, Rdn. 61 ff; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 268; stärker einschränkend Hoven NStZ 2016 377, 381 ff. 665 Vgl. dazu nur Enderle S. 186 f; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 251; näher dazu H. Schneider Gesetzgebung Rdn. 77 ff. 666 So Freund ZLR 1994 261, 286, 290; Volkmann ZIP 1995 220 f. 667 So zutreffend Enderle S. 187; ferner BGHSt 61, 110, 130.

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Beispielhaft kann auf das Naturschutzstrafrecht und das Weinstrafrecht verwiesen werden, die lange Verweisungsketten auf Verordnungen und Richtlinien nebst Anhängen enthalten.668 So wurde mit der sog. Artenschutznovelle669 vom 10.12.1986 der Straftatbestand des § 30a BNatSchG a.F. (vgl. heute §§ 70, 71a BNatSchG) eingeführt, der bestimmten Formen des nationalen und internationalen Handels mit gefährdeten Arten entgegenwirken sollte. Hiernach machte sich strafbar, wer eine gesetzlich näher bezeichnete Handlung beging, die sich auf eine vom Aussterben bedrohte Art bezog. Was eine „vom Aussterben bedrohte Art“ ist, bestimmte sich nach einer EU-(EG-)Verordnung,670 auf die in den Vorschriften des Bundesnaturschutzgesetzes verwiesen wurde und die den im Bundesnaturschutzgesetz verwendeten Begriff der „besonders geschützten Art“ konkretisiert. Der Bundesgerichtshof sah hierin keinen Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz, weil der nationale Gesetzgeber die Voraussetzungen der Strafbarkeit selbst hinreichend genau umschrieben und nur zur weiteren Spezifizierung des Straftatbestandes auf die EU-Verordnung verwiesen habe, die unter Übernahme des Washingtoner Artenschutzabkommens vom 3. März 1973 in das Unionsrecht eine ins Einzelne gehende Bezeichnung der bedrohten Tierarten vornehme. Eine längere Verweisungskette sei im Nebenstrafrecht üblich und diene der lückenlosen Erfassung komplexer Materien.671 In der Literatur werden Bedenken gegen dieses „unübersichtliche Strafrecht“ erhoben, das erst aus Einzelregelungen des Bundesnaturschutzgesetzes, der immer wieder geänderten EU-Verordnung und der Bundesartenschutzverordnung mit angehängten Katalogen ermittelt werden müsse.672 Der Bundesgerichtshof verwarf diese Bedenken zwar im Ergebnis, machte aber deutlich, dass es sich um eine speziell gelagerte Konstellation handelt. Bei dieser Entscheidung dürfte eine Rolle gespielt haben, dass sich der konkrete Fall angesichts der eindeutigen Rechtsverstöße nicht geeignet hat, um Blankettverweisungen auf das Unions-(Gemeinschafts-)recht für verfassungswidrig zu erklären.673 Jedenfalls hat sich der Bundesgerichtshof mit dieser Entscheidung die Möglichkeit offen gehalten, in etwas anders gelagerten Fällen zur Unvereinbarkeit eines Blankettstrafgesetzes mit dem Verfassungsrecht zu kommen und so den Gesetzgeber zu klareren und übersichtlicheren Regelungen zu zwingen. Ein weiteres Beispiel stellt das Außenwirtschaftsstrafrecht mit seinen zahlreichen, 165 unübersichtlichen Verweisungen auf nationales und Unionsrecht dar – das Außenwirtschaftsgesetz verweist auf die Außenwirtschaftsverordnung (AWV) und diese wiederum auf die sog. „Ausfuhrliste“, die diejenigen Waren aufzählt, deren Ausfuhr nur mit Genehmigung des Bundesausfuhramts zulässig ist.674 Der Bundesgerichtshof musste sich in seiner Grundsatzentscheidung vom 21.4.1995675 mit § 34 Abs. 4 AWG a.F. (§ 18 Abs. 2 AWG

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668 Näher dazu Dannecker FG-Wiss. 50 J. BGH Bd. IV 339, 372 f, 375 f; Hecker Europäisches Strafrecht Kap. 7 Rdn. 94 ff m.w.N. 669 BGBl. I 1986 S. 2349. 670 Anhang A/Anhang I der Verordnung (EWG) Nr. 3626/92 des Rates zur Anwendung des Übereinkommens über den internationalen Handel mit gefährdeten Arten freilebender Tiere oder Pflanzen in der Gemeinschaft vom 3.12.1982, ABl. 1982 Nr. L 384 vom 31.12.1982 S. 1. 671 BGH wistra 1997 25, 26. 672 Weber S. 86 ff m.w.N. 673 Durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes vom 30.4.1998 (BGBl. I 1998 S. 823), das am 9.5.1998 in Kraft trat, wurde der unbefriedigende Rechtszustand behoben und § 30a BNatSchG neu geregelt; näher dazu Pfohl wistra 1999 161 ff. Mit Wirkung zum 1.3.2010 wurde das BNatSchG insgesamt neu gefasst. 674 Eingehend dazu Dannecker/Freitag ZStW 116 (2004) 797, 800 ff; Dannecker FG-Wiss. 50 J. BGH Bd. IV S. 339, 374 f. Zur Neuregelung des Außenwirtschaftsstrafrechts L. Schulz ZIS 2006 499, 504 ff. 675 BGHSt 41 127 ff.

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n.F.), der die Vorschriften der Außenwirtschaftsverordnung in Bezug nimmt, und mit dem Verhältnis der drei über die Blankettnorm miteinander verflochtenen Rechtsverordnungen befassen.676 Zunächst stellte der BGH fest, dass sich der deutsche Gesetzgeber bei der Ausfüllung der Blankettvorschrift durch die Außenwirtschaftsverordnung im Rahmen der vom Sicherheitsrat verhängten Maßnahmen, auf die der Gesetzeswortlaut ausdrücklich verweist, halten müsse, über deren Regelungsgehalt er „schon im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Gebot der Gesetzesgebundenheit im Strafrecht“ nicht hinausgehen dürfe.677 An diesem Ergebnis ändere – so der Bundesgerichtshof – auch nichts, dass der Wortlaut der in Bezug genommenen Außenwirtschaftsverordnungsvorschrift mit der entsprechenden Passage in der EU-(EG-)Verordnung übereinstimme. Letztere sei zwar in Deutschland unmittelbar geltendes Recht, jedoch komme ihr mangels kriminalstrafrechtlicher Kompetenz der damaligen EG keine strafrechtliche Bedeutung zu.678 Wenngleich die Blankettnorm des § 34 Abs. 4 AWG a.F. auch auf EG-Verordnungen verweise, müssten diese Verordnungen aufgrund einer autonomen, gerade im Hinblick auf § 34 Abs. 4 AWG a.F. getroffenen Entscheidung des zuständigen Organs nach dem Wortlaut des Strafgesetzes im Bundesgesetzblatt oder Bundesanzeiger veröffentlicht sein, um eine Strafbarkeit begründen zu können.679 Dies ergebe sich aus dem Wortlaut des § 34 Abs. 4 AWG a.F. Da somit weder die Vorschriften der Außenwirtschaftsverordnung noch der EG-Verordnung taugliche „Bezugsobjekte“ der Blankettnorm des § 34 Abs. 4 AWG a.F. waren, verneinte der BGH die Strafbarkeit in dem konkreten Fall. Der Bundesgerichtshof stellt in dieser Entscheidung zutreffend nicht auf die Vorhersehbarkeit für den Bürger ab, sondern überprüft, ob objektiv die Voraussetzungen des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts erfüllt sind. Wenn diese Anforderungen erfüllt sind, bestehen keine grundsätzlichen Bedenken gegen die vom Gesetzgeber gewählte Regelungstechnik, deren Legitimation sich daraus ergibt, dass der Gesetzgeber im Außenwirtschaftsrecht schnell und flexibel, auch im Verordnungswege, auf überraschend eintretende Umstände reagieren können muss.680 Hingegen können unionsrechtliche Vorschriften, die auf § 34 Abs. 4 AWG a.F. bzw. § 18 Abs. 2 AWG n.F. verweisen, mangels strafrechtlicher Kompetenzen der Europäischen Union eine Strafbarkeit nach nationalem Recht von Verfassungs wegen nicht begründen.681 Schließlich kennt das Lebensmittelstrafrecht extensionale Verweisungen, wenn 166 die Strafgesetze zunächst nationale Verbotsvorschriften in Bezug nehmen, die dann wiederum auf Vorschriften in nationalen oder europäischen Rechtsverordnungen verweisen.682 Diese Verweisungen führen insbesondere im Zusammenhang mit dem uferlosen Vorsorgeprinzip (Art. 7 BasisVO) und weiteren unionsrechtlichen Vorgaben zu einer extremen Unbestimmtheit der Straftatbestände, die mit Art. 103 Abs. 2 GG nicht mehr

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676 Vgl. dazu Böse S. 437 f; Samson/Gustafsson wistra 1996 201 ff; dies. wistra 1997 206 f. 677 BGHSt 41 127, 130. 678 BGHSt 41 127, 131. 679 BGHSt 41 127, 132. 680 BVerfG NJW 1992 2634; NJW 1993 1909, 1910 („Störung der auswärtigen Beziehungen“); Bieneck wistra 1994 173 ff; ders. in Müller-Gugenberger Wirtschaftsstrafrecht § 62 Rdn. 2; Hutt in Tiedemann Die Verbrechen in der Wirtschaft, 2. Aufl. (1972) S. 74 f; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 611; kritisch Trouet FS Krause 407, 419 ff. Bedenken unter dem Gesichtpunkt der Tatbestandsbestimmtheit erheben Dannecker/Freitag ZStW 116 (2004) 797, 813 f. 681 Dannecker/Freitag ZStW 116 (2004) 797, 810 f. 682 Dannecker ZStW 117 (2005) 697, 725 ff; vgl. auch Schnell Verweisungsbedingte Normkomplexität, passim sowie kritisch zur Zulässigkeit der Betrauung des Verordnungsgebers Bode/Seiterle ZIS 2016 91 ff, 173 ff.

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vereinbar ist.683 Allerdings ist grundsätzlich zu beachten, dass einer Anwendung des Art. 103 Abs. 2 GG der Anwendungsvorrang des Unionsrechts entgegensteht, so dass der unionsrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz den einzuhaltenden Maßstab setzt (Rdn. 46). So verweist § 58 Abs. 1 Nr. 2 LFGB auf § 5 Abs. 2 Nr. 1 LFGB, der wiederum Art. 14 Abs. 2 lit. a BasisVO (Verordnung (EG) Nr. 178/2002) in Bezug nimmt. Gerade letztere Vorschrift ist aber durch eine ungewöhnlich große Unbestimmtheit gekennzeichnet, weil der in diesem Rechtsgebiet geltende vorbeugende Gesundheitsschutz dadurch noch weiter vorverlagert wird, dass nach Art. 14 Abs. 2 BasisVO bei der Entscheidung, ob ein Lebensmittel potenziell gesundheitsschädlich ist, nicht nur die wahrscheinlichen sofortigen und/oder kurzfristigen und/oder langfristigen Auswirkungen des Lebensmittels auf die Gesundheit des Verbrauchers, sondern auch die Auswirkungen auf nachfolgende Generationen berücksichtigt werden müssen (Art. 14 Abs. 4 lit. a BasisVO). Die rechtlich geforderte Berücksichtigung auch künftiger Generationen birgt sowohl ein Zeitproblem als auch ein Maßstabsproblem und ein Steuerungsproblem in sich, das mit den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG an strafrechtliche Normen nicht vereinbar ist: Die Zeitproblematik besteht darin, dass Rechtsnormen auf den Erkenntnisstand, die Bewertungen und Ziele zum Zeitpunkt des Erlasses des Gesetzes bezogen sind. Recht soll aber auch für gegenwärtige und zukünftige Sachverhalte wirken. Auf veränderte, unvorhersehbare Situationen kann das Recht nur reagieren und mit der Dynamik von Wissenschaft und Technik mithalten, wenn es als „lernendes Recht“ seine Erkenntnisgrundlagen fortlaufend aktualisiert. Das Maßstabsproblem besteht darin, dass auch unter Ungewissheitsbedingungen Entscheidungen getroffen werden müssen. Der Gesetzgeber kann zwar auf konkrete Regelungen verzichten, muss dann aber die Risiken abschätzen, die mit dem Nichtstun für bestimmte Rechtsgüter verbunden sind. Das Steuerungsproblem schließlich liegt darin, dass staatliche Entscheidungen unter Ungewissheitsbedingungen vielfach davon abhängen, dass die Bürger die staatlichen Impulse aus eigener Motivation heraus annehmen. Staatliche Steuerung durch Befehl und Zwang kann hier mitunter nur wenig bewirken, da dem Staat Bürger gegenüberstehen, die zum einen spezielles Erfahrungsund Risikowissen, zum anderen auch eine besondere Verhinderungsmacht haben. Der rechtliche Schlüsselbegriff für dieses Problem ist der der Vorsorge (Rdn. 122). Unter dem Vorzeichen von Vorsorge wird hier Recht angewendet, obwohl ungewiss ist, ob dazu wirklich Anlass besteht. Es müssen Maßnahmen ergriffen werden, obwohl ungewiss ist, ob und inwieweit diese Maßnahmen dem Schutzgut tatsächlich dienen. Risikovorsorge geht ihrem Ansatz nach von unsicheren Ursache-Wirkungs-Beziehungen aus und operiert mit einem mehr oder weniger offenen Spektrum an möglichen schädlichen Entscheidungs- bzw. Ungewissheitsfolgen. Ein solches rechtliches Programm für den Umgang mit Ungewissheit ist aus der Perspektive des Strafrechts nicht vertretbar, da es in seinem Ansatz nach auf unbegrenzte Ausweitung angelegt ist. Vorsorge ist konzeptionell weder limitiert noch kennt sie immanente Grenzen. Sie lässt sich gegenständlich, räumlich und zeitlich unbegrenzt ausdehnen und eröffnet damit eine immer weiterreichende Inpflichtnahme der Bürger. Als Grundlage für eine Strafbewehrung sind solche Normen gänzlich ungeeignet. Die extreme Vorverlagerung des lebensmittelrechtlichen Gesundheitsschutzes684 ist mit so erheblichen Bewertungs- und Feststellungsunsicherheiten verbunden, dass Unvereinbarkeit mit den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG an die Vorhersehbarkeit im Strafrecht vorliegt. Da die unionsrechtlichen Vorschriften auch

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683 Dannecker ZStW 117 (2005) 697, 725 ff; Kert S. 440 ff; allgemein zur Fragwürdigkeit des Bestimmtheitsgebots im Lebensmittelstrafrecht Hufen Verfassungsrechtliche Maßstäbe und Grenzen lebensmittelstrafrechtlicher Verantwortung, passim. 684 Näher dazu von Danwitz ZLR 2001 209, 219 f; Gorny ZLR 2001 501, 509 ff; Dannecker FS Höpfel 577, 589.

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dann, wenn sie durch Strafnormen in Bezug genommen werden, am Vorrang des Unionsrechts teilhaben und deshalb am unionsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz zu messen sind, steht jedoch zu befürchten, dass der EuGH die lebensmittelrechtliche Auslegung der in Bezug genommenen Vorschriften übernimmt und keine erhöhten Anforderungen im Strafrecht gestellt werden (s. dazu Rdn. 36 f). c) Berichtigung von Redaktionsversehen. Wenn eine Unrichtigkeit des Gesetzes 167 vorliegt, die für Jedermann erkennbar und deshalb offenbar ist, kann eine solche nach BVerfGE 105 313 mit Blick auf „die Erfordernisse einer funktionsfähigen Gesetzgebung in Anknüpfung an die überkommene Staatspraxis“ durch die oberste Verwaltung berichtigt werden, sofern der materielle Normgehalt hierdurch nicht angetastet wird.685 Der materielle Normgehalt bleibt jedenfalls dann unberührt, wenn der zu korrigierende Fehler außerhalb des Gesetzgebungsverfahrens liegt. Eine solche Berichtigung hat nur deklaratorische Bedeutung686 und steht deshalb einer Strafbarkeit grundsätzlich nicht entgegen. In diesen Fällen greift Art. 103 Abs. 2 GG, da es nicht um eine Gesetzesänderung geht und die oberste Exekutive und nicht die Judikative tätig wird, grundsätzlich nicht ein. Wenn allerdings infolge des Fehlers die Anforderungen an die Gesetzesklarheit des Straftatbestandes nicht gewahrt sind, weil der Fehler nicht offensichtlich und damit für den Bürger auch nicht vorhersehbar war, steht nicht das Gesetzlichkeitsprinzip in seiner Ausprägung der lex scripta, sondern der Bestimmtheitsgrundsatz einer Bestrafung entgegen. Von Fehlern außerhalb des Gesetzgebungsverfahrens zu trennen sind Fehler, die 168 dem Gesetzgeber unterlaufen sind. Soweit es sich um eine fehlerhafte Binnenverweisung handelt, darf nicht im Wege der Auslegung eine Korrektur vorgenommen werden, um die Strafbarkeit auf die fälschlicherweise nicht in Bezug genommene Vorschrift zu stützen.687 Da Schreib- und Rechenfehler nicht im Wege der Auslegung korrigiert werden können688 – dies gilt insbesondere für Verweisungen auf bestimmte Ziffern, da es sich hierbei um höchst deskriptive Merkmale handelt –, stellt sich die Frage, ob der Richter – ebenso wie die oberste Verwaltungsbehörde – offensichtliche Schreib- oder Fassungsfehler des Gesetzes berichtigen darf oder ob Art. 103 Abs. 2 GG eine solche Berichtigung dem Gesetzgeber vorbehält. Der Bundesgerichtshof hat mehrfach die Berechtigung des Richters zur Korrektur von Redaktionsversehen bejaht.689 Die Grenze der Zulässigkeit muss in diesen Fällen, da es nicht um eine Frage der Auslegung geht, Art. 103 Abs. 2 GG entnommen werden, so dass es auf die objektive Vorhersehbarkeit der Strafbarkeit für den Normadressaten ankommt (Rdn. 54). Wenn der Fehler des Gesetzgebers hinreichend erkennbar ist, steht Art. 103 Abs. 2 GG einer nur deklaratorischen Klarstellung des Gesetzestextes690 zur Beseitigung eines offensichtlichen Redaktionsversehens nicht entgegen, da sowohl dem Demokratieprinzip und der Gewaltenteilung als auch dem Schutz des Bürgers durch das Merkmal der Klarheit Rechnung getragen ist.

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685 v. Mangoldt/Klein/Starck Art. 82 Rdn. 11; Staats ZRP 1974 183; Zippelius/Würtenberger Staatsrecht § 45 Rdn. 102. 686 BVerfGE 14 250; BVerfG wistra 2003 255, 257; BGH wistra 2001 263, 264. 687 So BVerfGE 97 157, 167 f zu einer fehlerhaften Verweisung in einer Bußgeldvorschrift (!). 688 Schorn S. 72; Tiedemann ZBB 2005 190, 192. 689 BGH NJW 1953 1926 (Nr. 28); BGH wistra 2001 262, 264; zustimmend Jahr FS Arthur Kaufmann 156; Jescheck/Weigend AT § 17 IV 5; Höpfel JBl. 1979 575 ff; Tiedemann ZBB 2005 190, 192; aA Krey Studien S. 168 ff, 171 ff; Lackner FS Heidelberg 39, 58; Rüthers JZ 2005 21 f; Schmitz MK Rdn. 75; Schmitz/Wulf wistra 2001 361, 362 ff; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 38. 690 BVerfGE 14 245, 250; 22 1, 14; 97 157, 158; Tiedemann ZBB 2005 190, 192.

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d) Verbot des Gewohnheitsrechts und Ermächtigung zur Rechtsfortbildung „intra legem“. § 1 und Art. 103 Abs. 2 GG verbieten strafbegründendes oder strafschärfendes Gewohnheitsrecht,691 das zu einer Verschlechterung der Rechtsposition des Täters führt.692 Nur das geschriebene Gesetz vermag den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG zu genügen (Prinzip der lex scripta). Gewohnheitsrecht ist Recht, das nicht durch förmliche Setzung, sondern durch 170 längere Übung entstanden ist, welche eine dauernde und ständige, gleichmäßige und allgemeine sein muss und von den Normunterworfenen als verbindliche Norm anerkannt wird.693 Die allgemeine Überzeugung, ein Verhalten sei strafwürdig, ersetzt den geschriebenen Rechtssatz nicht. Im Strafrecht kann Gewohnheitsrecht nur durch Übung der Strafinstanzen, vor allem der Gerichte, entstehen.694 Hinzukommen muss die Anerkennung der dauernden Übung als Rechtsanwendung durch die Rechtsgemeinschaft.695 Für den Bereich des Allgemeinen Teils wird die Geltung des Gewohnheitsrechts171 verbots nicht einheitlich beurteilt. Ein Teil des Schrifttums verneint die Geltung unter Hinweis auf die zahlreichen Lehren und Institute des Allgemeinen Teils, die sich auch zuungunsten des Täters auswirken. Dabei wird hervorgehoben, dass es sich nur um ergänzendes Gewohnheitsrecht, also um gewohnheitsrechtlich anerkannte Auslegung handele und der gesetzlich vorgegebene Rahmen nicht gesprengt werden dürfe.696 Nur diese Auffassung werde der Tatsache gerecht, dass vor allem allgemeine Lehren des Strafrechts „ihre Rechtsgeltung aus dem Gewohnheitsrecht“ beziehen dürfen. Demgegenüber geht eine Mindermeinung im Schrifttum von der Geltung des Gewohnheitsrechtsverbots auch im Allgemeinen Teil aus.697 172

aa) Notwendigkeit einer Kodifizierung strafbarkeitsbegründender und strafbarkeitsausdehnender Regelungen im Bereich des Allgemeinen Teils. Ein Teil der (traditionellen) Lehre bezieht die Garantiefunktion des Gesetzes von vornherein nur auf die besonderen Straftatbestände, die Verhaltensnormen statuieren.698 Hingegen geht die h.M. davon aus, dass die verfassungsrechtliche Notwendigkeit besteht, strafbarkeitsbegründende und -ausdehnende Normen auch im Bereich des Allgemeinen Teils gesetzlich zu regeln.699 Die Kodifikation des Allgemeinen Teils hat inzwischen ein solches Stadium erreicht, dass es für den Gesetzgeber praktisch zur Selbstverständlichkeit geworden ist, auch Regeln des Allgemeinen Teils in Gesetzesform zu erlassen. Strafbarkeitsbegründende und -ausdehnende Regelungen wie diejenigen zu Fahrlässigkeit, Unterlassen, Versuch, Täterschaft und Teilnahme müssen sogar zwingend gesetzlich geregelt werden. Dies gilt insbesondere, wenn durch solche Regelungen Verhaltensnormen neu geschaf-

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691 BVerfGE 14 174, 185; 71 108, 115; 73 206, 235; BGHSt (GS) 40 167, 168; BGHSt 42 235, 241; v. Münch/Kunig/Kunig Art. 103 Rdn. 25; Lackner/Kühl/Kühl Rdn. 3; Otto AT § 2 Rdn. 27 ff; Jäger SK Rdn. 39 ff; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 79 ff; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 9; Stratenwerth/Kuhlen AT § 3 Rdn. 26; vgl. auch Maurach/Zipf/Jäger § 8 Rdn. 41. 692 BVerfGE 71 108, 115 f; 73 206, 235; Wassermann AK-GG Art. 103 Rdn. 47. 693 Vgl. auch RGSt 58 6, 9; BVerfGE 22 114, 121. 694 Jäger SK Rdn. 39; Stratenwerth/Kuhlen AT § 3 Rdn. 25, 29. 695 Jescheck/Weigend AT § 12 IV 1; vgl. auch Hassemer/Kargl NK Rdn. 65 f. 696 Maurach/Zipf/Jäger § 8 Rdn. 41; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 14; Fischer Rdn. 20. 697 Dannecker FS Otto 25, 34 ff; Roxin AT I § 5 Rdn. 47; Stratenwerth/Kuhlen AT § 3 Rdn. 26; Jäger SK Rdn. 40. 698 Lemmel S. 137; R. Schmitt FS Jescheck 223, 224 ff; Gribbohm LK11 Rdn. 71; Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 53. 699 Vgl. nur Roxin AT I § 5 Rdn. 41 m.w.N.

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fen oder bestehende ausgeweitet werden, wie dies bei der Anstiftung und Beihilfe oder beim unechten Unterlassungsdelikt der Fall ist. Es ist grundsätzlich Aufgabe des Gesetzgebers, hierüber in abstrakt-genereller Form zu entscheiden, da es sich um wesentliche Voraussetzungen der Strafbarkeit handelt.700 Ein gewohnheitsrechtlicher Satz etwa des Inhalts, die erfolglose Beihilfe zu bestrafen, wäre unzulässig.701 bb) Ermächtigung zur Rechtsfortbildung „intra legem“. Jedoch erfordert Art. 103 173 Abs. 2 GG nach h.M. nicht, dass die Voraussetzungen der Strafbarkeit ausschließlich der Rechtsquelle des förmlichen Gesetzes entspringen; auch die ständige Praxis der Gerichte wird im Allgemeinen Teil prinzipiell als Rechtsquelle anerkannt, wenn sich die Rechtsprechung in dem durch den Gesetzgeber gesteckten Rahmen bewegt.702 Das Gesetz enthält in solchen Fällen eine Ermächtigung zur Rechtsfortbildung „intra legem“.703 Als Beispiel mag die eine monetäre ökonomische Betrachtung lockernde Einführung eines Quotenschadens für Fälle des Wettbetrugs704 dienen. Notwendig ist allerdings, dass der Gesetzgeber über die wesentlichen Voraussetzungen der Strafbarkeit entschieden hat. Diesem Erfordernis wurde nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts durch § 13 Rechnung getragen, weil hiernach eine Rechtspflicht zur Abwendung des deliktischen Erfolgs erforderlich sei und das Unterlassen bei wertender Betrachtungsweise der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestands durch aktives Tun entsprechen müsse. Die Anbindung an eine Rechtspflicht und an eine auf langjähriger Tradition beruhende einheitliche und klare richterrechtliche Umschreibung möglicher Garantenstellungen gewährleiste, dass das Risiko einer Bestrafung für den Normadressaten voraussehbar werde.705 cc) Richterrechtliche Begründung der materiellen Strafbarkeit im Rahmen der 174 Allgemeinen Lehren und Zurechnungsregeln. Auch eine richterrechtliche Begründung der materiellen Strafbarkeit ist ausgeschlossen,706 wenn dadurch die vom Gesetzgeber gezogene Grenze der Strafbarkeit überschritten wird. 707 Nicht hingegen steht Art. 103 Abs. 2 GG ergänzendem Richterrecht in Form der Handhabung der allgemeinen Lehren der Strafrechtsdogmatik und der Entwicklung von Zurechnungsregeln entgegen.708 Hierbei geht es nicht darum, allgemeine Zurechnungsregeln auf eine gewohnheitsrechtliche Geltung zu stützen, sondern um die Entfaltung von Zurechnungsregeln neben den gesetzlich ausformulierten Regeln der Zurechnung strafbaren Verhaltens.709 Hinsichtlich der allgemeinen Lehren, z.B. über die Kausalität und objektive Zurechnung, Vorsatz und Fahrlässigkeit, ist zu berücksichtigen, dass die Rechtsprechung hierüber

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700 Zusammenfassend Tiedemann in ders. Wirtschaftsstrafrecht in der EU S. 8 u.ö.; zur gewaltenteilungssichernden Funktion des Bestimmtheitsgrundsatzes BVerfGE 75 329, 341 m.w.N. 701 Straftenwerth/Kuhlen AT § 23 Rdn. 25. 702 Küper FS Heidelberg 451 ff. 703 Krey ZStW 101 (1989) 838 ff; übereinstimmend Tiedemann FS Baumann 7, 16. 704 BGHSt 51 165 Rdn. 32 f; 58 102 Rdn. 34 ff; dazu statt vieler Greco NZWiSt 2014 334 ff. 705 BVerfGE 96 68, 98 f; kritisch dazu aber Tiedemann Verfassungsrecht und Strafrecht S. 44; ders. Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 258; ders. Tatbestandsfunktionen S. 196 m.w.N. 706 BVerfGE 71 108, 115 f; 73 206, 235; 92 1, 12; BGHSt 37 226, 230; 38 144, 151; Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 68; v. Münch/Kunig/Kunig Art. 103 Rdn. 26; Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 44 ff; Dreier-III/ Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 30; Wassermann AK-GG Art. 103 Rdn. 47. 707 BVerfGE 95 96, 132; Jäger SK Rdn. 40, 44 m.w.N.; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Rdn. 84; Wassermann AK-GG Art. 103 Rdn. 43. 708 Jäger SK Rdn. 44; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 14 m.w.N. 709 Hassemer/Kargl NK Rdn. 67 ff; Roxin AT I § 5 Rdn. 46 ff; Tiedemann FS Baumann 7, 15; zustimmend Otto AT § 2 Rdn. 29.

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nicht in einem „rechtsfreien Raum“ entscheidet, sondern auf einem Gebiet, auf dem der Gesetzgeber sich auf die Setzung eines Normrahmens beschränkt hat.710 Auch hier gilt, dass die Ausfüllung dieses Rahmens zum großen Teil bewusst an die Organe der Rechtsanwendung delegiert worden ist. Ihnen ist daher gewohnheitsrechtlicher Charakter abzusprechen. Es handelt sich um ergänzendes Richterrecht,711 und dieses wird durch Art. 103 Abs. 2 GG unter Zugrundelegung der Interpretation durch das Bundesverfassungsgericht nicht ausgeschlossen.712 Dies gilt gleichermaßen, wenn der Gesetzgeber bestimmte Entscheidungen bewusst der Rechtsprechung überlässt, so z.B. bei der Ausgestaltung der Irrtumsregelungen, die keine Spezialnorm für die Behandlung des Irrtums über Rechtfertigungsgründe enthalten. Das Verbot, Gewohnheitsrecht im Strafrecht anzuwenden, gilt nur, soweit es den 175 Beschuldigten beschwert. Hingegen steht der gewohnheitsrechtlichen Geltung von Rechtfertigungs-, Schuld- und Strafausschließungsgründen Art. 103 Abs. 2 GG nicht entgegen,713 da sie den Täter begünstigen.714 Allerdings führt die Anerkennung gewohnheitsrechtlich gebildeter Rechtfertigungsgründe, weil die Erweiterung der Rechtfertigungsmöglichkeiten für den Täter zu einer Einschränkung der Befugnisse des Opfers führt, auf diese Weise unter Umständen auch zu einer Erweiterung der Strafbarkeit.715 Solche Erweiterungen der Strafbarkeit sind nach der ratio des Art. 103 Abs. 2 GG nicht vom Verbot belastenden Gewohnheitsrechts erfasst, da dieses Verbot auf den eigentlichen Unrechtstatbestand beschränkt ist.716 Sie fallen ebenso wie die außerstrafrechtlichen Rechtfertigungsgründe von vornherein nicht unter das Gewohnheitsrechtsverbot.717 176

dd) Aufhebung von Gesetzen durch Gewohnheitsrecht. Gewohnheitsrecht kann ein Strafgesetz aufheben (desuetudo),718 mag dies auch ein seltener Ausnahmefall sein719 und vor allem im Nebenstrafrecht eine Rolle spielen.720 Zweifel der zuständigen Behörden an der Weitergeltung einer Rechtsvorschrift setzen diese nicht außer Kraft, selbst wenn die Zweifel dazu führen, dass die Vorschrift vorübergehend nicht angewendet wird.721 Erforderlich ist vielmehr eine entsprechende einheitliche Rechtsüberzeugung.722

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710 Jakobs AT 4/46; ähnlich Tiedemann FS Baumann 7, 15. 711 Otto AT § 2 Rdn. 29; Roxin AT I § 5 Rdn. 47 ff; Jäger SK Rdn. 44; Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 52; H.L. Schreiber JZ 1973 713, 126; Stratenwerth/Kuhlen AT § 23 Rdn. 26; Wassermann AK-GG Art. 103 Rdn. 48. 712 Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 277. 713 BVerfGE 95 96, 132; RGSt 59 404, 406 f; BGHSt 11 241, 244 f; BayObLG MDR 1982 1040 m. Anm. Sack JR 1983 123; Hassemer/Kargl NK Rdn. 67; Jäger SK Rdn. 43; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Rdn. 82; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 12; Stratenwerth/Kuhlen AT § 3 Rdn. 28; Wassermann AK-GG Art. 103 Rdn. 48. 714 Jakobs AT 4/46; Roxin AT I § 5 Rdn. 46 ff. 715 Eingehend dazu Suppert S. 294 ff; vgl. auch Krey Studien S. 233 ff. 716 Hirsch LK11 Vor § 32 Rdn. 36; Jäger SK Rdn. 43; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 12; Suppert S. 297. 717 Hirsch GedS Tjong 63 ff; Krey Studien S. 234 ff; Jäger SK Rdn. 54. 718 v. Münch/Kunig/Kunig Art. 103 Rdn. 25 m.w.N.; Maurach/Zipf/Jäger § 8 Rdn. 42; Jäger SK Rdn. 42; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 10; Fischer Rdn. 20; Satzger SSW Rdn. 39; BGHSt 5 12, 23; 8 360, 381; vgl. auch OGHSt 1 63, 66; 1 343, 353. 719 OLG Braunschweig NJW 1955 355; vgl. auch Hassemer/Kargl NK Rdn. 65. 720 Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 10; Stratenwerth/Kuhlen AT § 3 Rdn. 28; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 62 f m.w.N. 721 BGHSt 5 12, 23 f; 8 360, 381 f; OLG Braunschweig NJW 1955 355; zust. Jäger SK Rdn. 42; vgl. auch Rogall KK-OWiG § 3 Rdn. 20. 722 BGHSt 5 12, 23 f; 8 360, 381 f; OLG Braunschweig NJW 1955 355; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 10; ähnlich Hassemer/Kargl NK Rdn. 65; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 62.

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Keine Strafe ohne Gesetz | § 1

ee) Einschränkungen gesetzlicher Rechtfertigungs- und Entschuldigungs- 177 gründe. Von größerer praktischer Bedeutung sind Einschränkungen von Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen aus sozialethischen Gründen, deren Vereinbarkeit mit dem Bestimmtheitsgebot das eigentliche Kernproblem der Rechtswidrigkeitsmerkmale darstellt.723 Solche Einschränkungen sind mit Art. 103 Abs. 2 GG nicht vereinbar,724 da durch sie die Strafbarkeit zu Lasten des Täters unmittelbar erweitert wird.725 Hierbei ist jedoch zu beachten, dass der Grundsatz „nullum crimen sine lege“ nur dann eingreift und solche Begrenzungen verbietet, wenn der Wortlaut des Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrundes der Einschränkung entgegensteht.726 Ist die Einschränkung hingegen mit dem Gesetzeswortlaut vereinbar, wie bei der rechtfertigenden Notwehr nach § 32 über das Merkmal der Gebotenheit, so bestehen im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG keine Bedenken. 727 Allerdings darf hierfür nicht auf den Gedanken der missbräuchlichen Rechtsausübung zurückgegriffen und das gesetzliche Merkmal von außen an das Notwehrrecht herangetragen werden. Vielmehr muss die Einschränkung aus der Grundkonzeption der Rechtfertigungsgründe im Allgemeinen sowie aus den Grundstrukturen und Schutzaspekten des Notwehrrechts im Speziellen erfolgen.728 Eine solche Einschränkung ist nur dort möglich, wo wertungsoffene Normmerkmale, wie dies bei dem Gebotensein bei § 32 oder der Interessenabwägung bei § 34 gegeben ist, vorliegen. In diesen Fällen ist eine teleologische Auslegung der jeweiligen Rechtsbegriffe möglich,729 zumal die Anknüpfung an solche Merkmale für den Bereich der Notwehr auch dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers entspricht.730 Gleichwohl wäre es vorzugswürdig, wenn die praktizierte und gewollte Regel im Gesetz klarer formuliert wäre.731 Der überwiegend zur Notwehreinschränkung herangezogene Begründungsansatz über die missbräuchliche Rechtsausübung732 ist entgegen der h.M., die den Rechtsmissbrauchsgedanken auf der Ebene der Rechtswidrigkeit zulässt,733 wegen der Garantie des Art. 103 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich fragwürdig.734 Verfassungsrechtlich wenig problematisch ist auch eine Einschränkung der gewohnheitsrechtlich anerkannten Rechtfertigungsgründe, etwa der Pflichtenkollision, weil nur eine gewohnheitsrechtliche Privilegierung ausgeformt wird.

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723 So Sch/Schröder/Eisele Vor § 13 Rdn. 66; Sinn FS Wolter 503 ff; zustimmend Rönnau LK Vor § 32 Rdn. 42. 724 Engels GA 1982 109 ff; Engisch FS Mezger 127, 131; Frister GA 1988 315; Hirsch LK11 Vor § 32 Rdn. 37; ders. GedS Tjong 50, 55 ff; Kratzsch GA 1971 65, 72; Otto AT § 8 Rdn. 60 ff; Paeffgen/Zabel NK Vor § 32 ff Rdn. 63; Schmitz MK Rdn. 13; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 13; aA Amelung JZ 1982 617, 620; Krey Studien S. 233 ff; Lenckner GA 1968 1, 9; ders. JuS 1968 249, 252; Roxin AT I § 5 Rdn. 42. 725 Die Einschränkung von Rechtfertigungsgründen lehnen generell ab: Paeffgen/Zabel NK Vor § 32 ff Rdn. 147 f; Hruschka JR 1979 125 ff (zu § 34); vgl. auch die zahlreichen Nachw. bei Stuckenberg JA 2001 894, 903. 726 In diesem Sinne BGHSt (GS) 40 167; Roxin AT I § 5 Rdn. 47. 727 Roxin ZStW 93 (1981) 68, 78 f. 728 Bitzilekis S. 106 ff; Kindhäuser NK § 32 Rdn. 98 f; Jescheck/Weigend AT5 § 32 III 3; Klesczewski FS E. A. Wolff 225, 226 ff; Kühl FS Triffterer 149, 151; Lackner/Kühl/Kühl § 32 Rdn. 15; Otto AT § 8 Rdn. 93; ders. FS Würtenberger 129, 138; Sch/Schröder/Perron § 32 Rdn. 47 m.w.N. 729 Krey/Esser AT Rdn. 566; Puppe NK Vor § 13 ff Rdn. 262; Roxin ZStW 93 (1981) 68, 78 f; ablehnend Paeffgen/Zabel NK Vor § 32 ff Rdn. 142 („belastende Analogie“) und Kratzsch S. 52 f, der in Bezug auf § 32 davon ausgeht, dass der Wortlaut keiner Auslegung zugänglich ist. 730 BTDrucks. V/4095 S. 14 zur Gebotenheit; näher dazu Roxin ZStW 93 (1981) 68, 79; Matt NStZ 1993 271, 272; Stuckenberg JA 2001 894, 895 f. 731 Mit konkreten Vorschlägen Puppe in Kudlich/Montiel/Schuhr S. 165 ff. 732 So BGHSt 24 356; BGH NJW 1962 308; BGH GA 1969 24; GA 1975 305; NStZ 2001 143; BayObLGSt 54 65; Frister GA 1988 313; Rudolphi JuS 1969 461, 464; Fischer § 32 Rdn. 36. 733 Näher dazu Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 382. 734 BGH NJW 1983 2267; 1962 308, 309; Roxin AT I § 15 Rdn. 65; Stuckenberg JA 2001 894, 897; Denker JuS 1979 779, 782.

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§ 1 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

Hingegen muss es als Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG gewertet werden, wenn ein geschriebener Rechtfertigungsgrund entgegen seinem Wortsinn eingeschränkt wird.735 178

ff) Actio libera in causa. Im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG ist weiterhin die Einschränkung des Schuldgrundsatzes über die Rechtsfigur der „actio libera in causa“ problematisch, weil nach § 20 die Schuld „bei Begehung der Tat“ vorliegen muss. Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs sah hierin für die Straßenverkehrsgefährdung und das Fahren ohne Führerschein zu Recht einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG,736 weil das den Schuldausschluss herbeiführende Verhalten wegen Art. 103 Abs. 2 GG nicht als tatbestandsmäßiges Verhalten uminterpretiert werden kann. Dies muss auch über die verhaltensbezogenen Delikte hinaus gelten, weil der Gesetzgeber mit den Regelungen über die Teilnahme von einem restriktiven Täterbegriff ausgeht, der grundsätzlich die Ausführung der tatbestandsmäßigen Handlung fordert. Diese gesetzgeberische Bewertung darf nicht über die „actio libera in causa“ außer Kraft gesetzt werden.737 Da in den Fällen der „actio libera in causa“ die Schuld „bei Begehung der Tat“ gerade nicht vorliegt, kommt allenfalls eine Einschränkung des § 20 StGB wegen rechtsmissbräuchlichen Verhaltens in Betracht. Der „nullum crimen“-Satz verbietet aber in einem kodifizierten Allgemeinen Teil vom Gesetzeswortlaut nicht gedeckte Einschränkungen gesetzlicher Regelungen, welche die Strafbarkeit ausschließen. Es kann daher nur darum gehen, die Reichweite der Zurechnungsregeln, die nicht in vollem Umfang gesetzgeberisch ausformuliert sind, zu konkretisieren.738 Die ansonsten weithin zu verzeichnende Offenheit des Strafgesetzbuchs gegenüber allgemeinen Zurechnungsgrundsätzen und deren Fortentwicklung besteht hier jedoch gerade nicht, wie ein Vergleich mit den Regelungen der §§ 17 und 35 StGB zeigt. Angesichts solcher Sonderregelungen, die im Rahmen einer Kodifikation getroffen worden sind, kann auch im Bereich des Allgemeinen Teils nicht mehr auf den allgemeinen Missbrauchsgedanken zurückgegriffen werden, um die „actio libera in causa“ zu legitimieren.739 Das „Ausnahmemodell“ kann somit im Rahmen des § 20 nur de lege ferenda gefordert,740 nicht aber aktuell angewendet werden. Auch die „actio illicita in causa“ ist im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG problematisch. Mit Blick auf das Bestimmtheitsgebot ist es bedenklich, wenn die einzelnen Straftatbestände durch die Vorverlagerung ausgedehnt werden und dadurch ihre Konturen verlieren.741 Eine Anknüpfung an das Vorverhalten ist jedenfalls dann ausgeschlossen, wenn der Täter ein verhaltensgebundenes oder eigenhändiges Delikt begeht, da sich schwerlich sagen lässt, in dem Vorverhalten liege bereits die tatbestandumschriebene Handlung.742

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735 Rönnau LK12 Vor § 32 Rdn. 103. 736 BGHSt 42 235, 236 mit Anm. Ambos NJW 1997 2296 ff; Fahnenschmidt/Klumpe DRiZ 1997 77 ff; Hirsch NStZ 1997 230 ff; Horn StV 1997 264 ff; Hruschka JZ 1997 22 ff; Neumann StV 1997 23 ff; Otto Jura 1999 217 ff; Spendel JR 1997 133 ff; M. Wolff NJW 1992 2032 f. 737 Grundsätzlich ablehnend Hettinger Die „Actio libera in causa“ S. 437 ff; Köhler AT S. 327; Paeffgen ZStW 97 (1985) 322 ff; Sydow S. 225. 738 Otto FG-Wiss. 50 J. BGH Bd. IV 111, 125. Für eine großzügige Bemessung dieses Spielraums Streng in Kudlich/Montiel/Schuhr S. 179, 180 ff. 739 So aber Otto FG-Wiss. 50 J. BGH Bd. IV 111, 125 f. 740 Näher dazu Dencker JZ 1984 454; Hruschka JZ 1996 64 ff; Neumann FS Arthur Kaufmann 581, 591; Sick/Renzikowski ZRP 1997 487; Streng JZ 1994 709; ders. JZ 2000 20, 26 f. 741 Paeffgen/Zabel NK Vor § 32 ff Rdn. 147; Kindhäuser NK § 32 Rdn. 130; Kühl AT § 7 Rdn. 243, § 8 Rdn. 144; Hruschka JR 1979 125, 127; Bitzilekis S. 144 f; Mitsch S. 119; Rönnau LK Vor § 32 Rdn. 104; Kirsch Gesetzlichkeitsprinzip im AT S. 261 ff, 285. 742 Paeffgen/Zabel NK Vor § 32 ff Rdn. 147; Roxin AT I § 16 Rdn. 64; Kühl AT § 8 Rdn. 144; Mitsch S. 118; Küper S. 52, 155.

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2. Bestimmtheitsgebot. Das Bestimmtheitsgebot dient ebenso wie der Gesetzesvor- 179 behalt einem doppelten Zweck:743 Jedermann soll „vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist“ (BVerfGE 73 206, 234 unter Verweis auf BVerfGE 71 108, 114 ff),744 damit er sein Verhalten entsprechend einrichten kann.745 Es soll Orientierungsgewissheit für den Bürger schaffen.746 Dabei ist Erkennbarkeit nicht als individualpsychologischer Befund, sondern als generalisierende Erkenntnismöglichkeit, die durch die Objektivierung nicht frei von generalisierenden Elementen sein kann, zu verstehen.747 Damit ist das Bestimmtheitsgebot Grundlage für die generalpräventive Wirkung der Normen (Rdn. 59 ff).748 Außerdem soll gewährleistet sein, dass der Gesetzgeber selbst und nicht das rechtsanwendende Gericht über die Reichweite der Strafbarkeit entscheidet.749 Die Verpflichtung des Gesetzgebers, „die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen“ (BVerfGE 75 329, 341; 81 228, 237), dient in erster Linie dem „rechtsstaatlichen Schutz des Normadressaten“ und entfaltet damit die freiheitsgewährleistende Funktion des Gesetzlichkeitsprinzips (näher dazu Rdn. 53, 56 ff). Zugleich wird dem Demokratieprinzip Rechnung getragen, da der Gesetzgeber die Strafbarkeitsvoraussetzungen festlegen muss (Rdn. 55 f). Schließlich stellt das Bestimmtheitsgebot eine spezielle Ausprägung des Willkürverbotes dar (BVerfGE 64 389, 394; 73 206, 234 ff; 78 374, 382), weil durch hinreichend konkrete Gesetze kaum noch Raum für richterliche Willkür bleibt.750 Jedoch reicht der Schutz des Willkürverbots letztlich nicht weiter als der der individuellen Vorhersehbarkeit (Rdn. 52), und diese wiederum bleibt hinter den Anforderungen der objektiven Vorhersehbarkeit zurück (Rdn. 54). Damit kommen im Verbot unbestimmter Strafgesetze bzw. dem ihm entsprechenden Bestimmtheitsgebot alle das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip tragenden strafrechtlichen und staatstheoretischen Erklärungs- und Begründungsansätze zum Ausdruck.751 Das Bestimmtheitsgebot richtet sich in erster Linie an den Gesetzgeber, der zum 180 Erlass hinreichend bestimmter Straftatbestände verpflichtet ist.752 Die Legislative muss die Grenzen der Strafbarkeit selbst bestimmen und darf diese Entscheidung nicht der Strafjustiz überlassen. Sie hat die Aufgabe, im Rahmen der Gesetzesauslegung für die

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743 BVerfGE 87 209, 224; 92 1, 12. 744 Vgl. auch BVerfGE 87 399, 411; 92 1, 12; 105 135, 153; BGHSt 23 167, 171; Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 63; Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 68; Moll S. 122 ff. 745 BVerfGE 25 269, 285; 78 374, 381 f; 87 363 391; 92 1, 12; Bringewat Rdn. 161; Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 254; Jäger SK Rdn. 26; Schürmann S. 156 ff; Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 38. 746 Krey Strafe Rdn. 133; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 16; Jäger SK Rdn. 26; aA Grünwald ZStW 76 (1964) 1, 10 ff; Lemmel S. 74 ff, 154 ff; krit. auch Schmidhäuser GedS Martens 240. Sogar außerhalb des Strafrechts entspricht nach dem österreichischen VfGH eine Vorschrift unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht dem erforderlichen Mindestmaß an Verständlichkeit, wenn „zu deren Sinnermittlung subtile verfassungsrechtliche Kenntnisse, qualifizierte juristische Befähigung und Erfahrung und geradezu archivarischer Fleiß von Nöten ist“; VfSlg 12420. 747 Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 24. 748 BVerfGE 37 201, 207; Eser FS Lenckner 25 ff; Jäger SK Rdn. 26. 749 BVerfGE 14 245, 251; 26 41, 43; 41 314, 320; 75 329, 341; 78 374, 382; 87 399, 411; 95 96, 131; BVerfG NJW 1995 3050, 3051; Felix S. 195; Moll S. 126 ff; Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 38; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 184 f. 750 Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 53; Grünwald ZStW 76 (1964) 1, 13 ff; Jescheck/Weigend AT § 15 III 3; Krey/Weber-Linn FS Blau 132; Jäger SK Rdn. 26; Schmitz MK Rdn. 43; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 185. 751 Bringewat Rdn. 161. 752 Vgl. etwa BVerfGE 75 329, 340 f; 92 1, 12; Maurach/Zipf/Jäger § 10 Rdn. 12; Schmitz MK Rdn. 43.

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§ 1 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

Berechenbarkeit des Rechts zu sorgen. 753 Deshalb ist das Bestimmtheitsgebot auch Handlungsanweisung an den Strafrichter und verbietet diesem, ein unbestimmtes Gesetz von sich aus allgemein nachzubessern.754 Die Rechtsprechung hat die von ihr anzuwendenden Sanktionsnormen stets auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 103 Abs. 2 GG zu überprüfen und gegebenenfalls im Wege der Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG zu verfahren.755 Die verfassungsgerichtliche Überprüfung beschränkt sich dabei nicht auf eine bloße Vertretbarkeitskontrolle. Vielmehr führt der strenge Gesetzesvorbehalt aus Art. 103 Abs. 2 GG zu einer höheren verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte.756 Der Bestimmtheitsgrundsatz kann aber auch eine restriktive Auslegung erfordern (Rdn. 189, 195, 207 f, 291 ff).757 a) Entscheidungsleitende Gesichtspunkte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aa) Erhöhte Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG an die Bestimmtheit. Art. 103 Abs. 2 GG bedeutet eine strafrechtsspezifische Verschärfung der Bestimmtheitsanforderungen (BVerfGE 49 168, 181; 78 374, 381 ff) gegenüber dem allgemeinen Bestimmtheitsgebot.758 Insbesondere kann die im Verwaltungsrecht bestehende Sorge, die Exekutive könne Aufgaben notwendiger Gefahrenabwehr nicht wahrnehmen, nicht auf das Strafrecht übertragen und zur Begründung von Einschränkungen und Relativierungen des Bestimmtheitsgebots angeführt werden. Angesichts des fragmentarischen Charakters des Strafrechts dürfen auch unter dem Gesichtspunkt von entstehenden Strafbarkeitslücken keine weniger strikten Anforderungen an die Bestimmtheit gestellt werden. Entsprechend führt das Bundesverfassungsgericht aus: „Dieses gilt auch dann, wenn als Folge der wegen des Bestimmtheitsgebots möglichst konkret abzugrenzenden Strafnorm besonders gelagerte Einzelfälle aus dem Anwendungsbereich eines Strafgesetzes herausfallen, mag auch das Verhalten in ähnlicher Weise strafwürdig erscheinen. Insoweit muß sich der Gesetzgeber beim Wort nehmen lassen. Es ist seine Sache zu entscheiden, ob er die sich aus einer möglichen Strafbarkeitslücke ergebende Lage bestehen lassen oder eine neue Regelung schaffen will“ (BVerfGE 71 108, 116; 73 206, 236 BVerfG NJW 1998 2945). Für die Bestimmtheit kommt es entscheidend auf den Verständnishorizont des 182 Bürgers an. Der Einzelne soll wissen können, was strafrechtlich verboten ist und welche Strafe ihm für den Fall eines Verstoßes gegen das Verbot droht, damit er in der Lage ist, sein Verhalten danach auszurichten.759 Der vom Bundesverfassungsgericht formulierte Grundsatz lautet, dass es dem Normadressaten anhand der gesetzlichen Vorschrift möglich sein muss, die Strafbarkeit eines Verhaltens vorauszusehen, wobei ausnahmsweise 181

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753 Bleckmann JZ 1995 685 ff. 754 BVerfGE 47 109, 120; 64 389, 393; 73 206, 235; 105 135, 152 f. 755 Vgl. Krey Strafe Rdn. 121; Rogall KK-OWiG § 3 Rdn. 26. 756 BVerfGE 126 170, 199 (Rdn. 81). 757 Vgl. auch BVerfGE 73 106, 236 ff; Amelung NJW 1995 2586 f; Küper JuS 1996 783, 785; Roxin AT I § 5 Rdn. 79; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 257 ff; aA Rogall KK-OWiG § 3 Rdn. 26, der die Rechtsanwendung nur am Analogieverbot und am Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG messen will. 758 So das BVerfG in ständiger Rechtsprechung seit den achziger Jahren; BVerfGE 71 108, 114; 78 374, 381 ff; vgl. auch Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 63; Jescheck/Weigend AT § 15 III 3; v. Münch/Kunig/Kunig Art. 103 Rdn. 27; Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 72; Maurer Staatsrecht § 8 Rdn. 38; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 77; Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 39; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 197 ff. 759 BVerfGE 25 269, 285; 78 374, 381 f; 87 363, 391 f; 92 1, 12.

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die Erkennbarkeit des Risiko der Bestrafung ausreichen soll (näher dazu Rdn. 184). Deshalb soll der Wortsinn der Strafnorm „aus der Sicht des Bürgers zu bestimmen“ sein (BVerfGE 71 108, 116)760 und nicht aus der Sicht des Rechtsanwenders. Entscheidend ist somit der Verständnishorizont des Normadressaten und nicht der des Rechtsanwenders. Dies hat zur Folge, dass das Problem der Verstehbarkeit nicht auf die juristische Fachsprache verlagert wird (näher dazu Rdn. 302 ff). Diese kann aber durchaus sichernd wirken, wenn z.B. der Begriff des GmbH-Geschäftsführers technisch und nicht faktisch verwendet wird und hieran bestimmte Pflichten geknüpft werden.761 Gleichwohl fordert das Bundesverfassungsgericht nicht, dass der parlamentarische 183 Gesetzgeber die Strafnorm so detailliert und präzise wie nur möglich selbst formuliert und nur deskriptive, exakt fassbare Tatbestandsmerkmale verwendet.762 Der Gesetzgeber sei nicht gehalten, alle Einzelheiten im förmlichen Gesetz selbst zu regeln; er könne vielmehr seine Vorgaben abstrakt umreißen und hierbei auch auf unbestimmte Gesetzesbegriffe zurückgreifen, wenn sie der näheren Deutung im Wege der Auslegung zugänglich seien (BVerfGE 78 384, 389). Auch im Strafrecht gelten allgemeine Begriffe, die der Auslegung bedürfen und deren Gehalt erst durch Rückgriff auf normative Leitideen zu erschließen ist, als unvermeidlich, damit das Strafrecht der Vielzahl der sozialen Phänomene Herr werden kann (grundlegend BVerfGE 45 363, 371).763 Das Gebot der Bestimmtheit dürfe nicht übersteigert werden. Sonst seien die Gesetze zu kasuistisch und könnten dem Wandel der Verhältnisse und der Besonderheit des Einzelfalles nicht mehr gerecht werden (BVerfGE 75 329, 342). Über die konkrete Reichweite sollen die Besonderheiten des jeweiligen Straftatbestandes unter Berücksichtigung der Umstände, die zur gesetzlichen Regelung geführt haben, entscheiden. Die Verwendung unbestimmter, wertausfüllungsbedürftiger Klauseln sei daher nicht generell ausgeschlossen (BVerfGE 66 337, 355; 92 1, 12; 96 68, 97 f), sofern sie der näheren Deutung im Wege der Auslegung (näher dazu Rdn. 198 ff) zugänglich sind (BVerfGE75 329, 341; 78 374, 389). Grundsätzlich muss im Wege einer wertenden Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung der denkbaren Regelungsalternativen und der Besonderheiten des jeweiligen Straftatbestands im Einzelfall geprüft werden, ob der Gesetzgeber den Anforderungen aus Art. 103 Abs. 2 GG gerecht geworden ist.764 In Grenzfällen soll Vorhersehbarkeit sogar schon bei bloßer Erkennbarkeit des Ri- 184 sikos der Strafbarkeit vorliegen.765 So soll es nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts für die Bestimmtheit einer Strafnorm ausreichen, wenn man das Risiko der Strafbarkeit des Verbrennens von Gurtabfällen zur Gewinnung der darin enthaltenen Kupfernadeln in Verbindung mit „der breiten Ökologiediskussion in der Öffentlichkeit“ erkennen konnte, nämlich „die Bedeutung der (…) Emissionen für die Menschen und die Umwelt“.766 Wenn, sei es auch nur in Grenzfällen, tatsächlich darauf abgestellt wird, ob

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760 Vgl. auch BVerfGE 47 109, 120 ff; 73 106, 236; 87 209, 224; 92 1, 18; zustimmend Lackner FS Heidelberg 39, 58 f; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 77; aA Bleckmann JuS 2002 942, 944; Reichenbach JR 2005 405 ff; Schmidhäuser Strafgesetze S. 48 f; ders. GedS Martens 231, 241; Simon S. 483; differenzierend Satzger JuS 2004 943 f. 761 BVerfGE 92 1, 16; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 280. 762 BVerfGE 45 363, 371; 48 48, 56; zustimmend Lenckner JuS 1968 249, 252 ff; Nickel S. 161; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 185; Schlüchter Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale S. 7 ff; vgl. auch Freund S. 75 f, 125 f. 763 BVerfGE 4 352, 358; 11 234, 237; 26 41, 42; 28 175, 183; 37 201, 208; 47 109, 120; 48 48, 56; vgl. auch BGHSt 18 102, 105; 30 285, 287; BayObLGSt 1977 89, 90; BayObLG GA 1969 181, 182; KG JR 1965 312, 313; OLG Hamburg NJW 1964 1814, 1815 f; NJW 1972 115, 116. 764 BVerfGE 28 175, 183; 126 170, 196. 765 BVerfGE 87 209, 224; 87 363, 391 f; 92 1, 12. 766 BVerfGE 75 329, 345; vgl. auch BVerfGE 22 21, 25 f.

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§ 1 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

bereits das Risiko einer Strafbarkeit nach dem Gesetz und seiner richterlichen Auslegung erkennbar ist, wird der Aspekt der Vorhersehbarkeit der Strafbarkeit für den Einzelnen auf ein Minimum reduziert und der in der Vorhersehbarkeit strafrechtlicher Sanktionen liegende besondere Aspekt des Vertrauensschutzes zur bloßen Fiktion, da letztendlich bei jeder staatlichen Verhaltensnorm mit einer Strafbewehrung gerechnet werden muss.767 Die Erkennbarkeit des Risikos, bestraft zu werden, reicht deshalb nicht aus, um Vorhersehbarkeit der Strafbarkeit zu bejahen.768 bb) Relativierung der Bestimmtheitsanforderungen. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts finden sich neben der Begrenzung der Vorhersehbarkeit auf die Erkennbarkeit des Risikos weitere Leitgesichtspunkte, die zu einer erheblichen Relativierung der Bestimmtheitsanforderungen führen: 186 Die Anforderungen an die Bestimmtheit sollen von der Schwere der Strafe abhängen: Die Anforderungen an die Bestimmtheit sollen umso höher sein, je belastender die Auswirkungen eines Gesetzes sind. Das Bundesverfassungsgericht fordert eine umso präzisere Bestimmung der Strafbarkeitsvoraussetzungen durch den Gesetzgeber, je schwerer die angedrohte Strafe ist (BVerfGE 75 329, 342 m.w.N.).769 Generell bestehen jedoch Bedenken gegen die auf den ersten Blick sinnvoll erscheinende stufenweise Abschichtung, die zu einer erheblichen Relativierung des Bestimmtheitsgebots führt und insbesondere nicht zur Folge haben darf, dass bei Bagatellstraftaten das Bestimmtheitsgebot preisgegeben wird;770 auch hier ist der Gesetzgeber verpflichtet, größtmögliche Präzision zu erreichen (Rdn. 195 f). Im Hinblick darauf, dass die spezifisch strafrechtlichen Garantien der Verfassung einer besonderen Gefährdungslage begegnen sollen, die mit dem Einsatz aller strafrechtlichen Mittel verknüpft ist, ist eine Relativierung der Bestimmtheitsanforderungen im Strafrecht – anders als im Rahmen des allgemeinen rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebots für verschieden eingriffsintensive Maßnahmen771 – nicht hinnehmbar, wenn Art. 103 Abs. 2 GG nicht von vornherein entwertet und dem allgemeinen rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot weitgehend gleichgestellt werden soll.772 Außerdem soll das besondere Fachwissen der Adressaten einer Norm berücksich187 tigt werden.773 Bei Normen, die sich nur an Angehörige spezieller Berufsgruppen wenden, sollten die Adressaten aufgrund ihrer besonderen Fachkenntnisse zur Orientierung an der Norm in der Lage sein (näher dazu Rdn. 211). Schließlich soll durch eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung eine 188 Konkretisierung unbestimmter Strafgesetze möglich sein (näher dazu Rdn. 201).774 So hat 185

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767 So bereits zutreffend Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 254 ff. 768 Appel S. 119; Schmidhäuser Strafgesetze S. 49; Schünemann Nulla poena S. 29 ff; Tiedemann Verfassungsrecht und Strafrecht S. 44 f. 769 BVerfGE 14 245, 251 f; 26 41, 43; 41 314, 320; 86 288, 311; 105 135, 155 f; BVerfG NJW 1993 1909, 1910. 770 Köhler AT S. 89; v. Münch/Kunig/Kunig Art. 103 Rdn. 29; Roxin AT I § 5 Rdn. 70; Schünemann Nulla poena S. 32 f. 771 So z.B. BVerfGE 59 104, 114; 49 89, 133; 86 288, 310. 772 Appel S. 119 f; kritisch auch v. Münch/Kunig/Kunig Art. 103 Rdn. 29; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 197 ff; Wassermann AK-GG Art. 103 Rdn. 52. 773 BVerfGE 48 48, 57 (zu § 240 Abs. 1 Nr. 4 KKO a.F., wonach die Jahresbilanz innerhalb der in einem ordnungsgemäßen Geschäftsgang entsprechenden Zeit zu erstellen war); BVerfGE 92 1, 16; Hill in Isensee/Kirchhof HStR2 Bd. 6 § 156 Rdn. 63 ff, 66; Vgl. auch BGHSt 29 6, 8 (für das „ärztlich begründete“ Verschreiben von Betäubungsmitteln). 774 BVerfGE 45 363, 371 f; 48 48, 56 f; 85 69, 73; 93 266, 292; 94 372, 394; 96 68, 98 f; vgl. dazu Birkenstock S. 115 Fn. 350.

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das Bundesverfassungsgericht zunächst den Wortsinn, den ein Tatbestandsmerkmal in der Rechtsprechung erhalten hat, in die Bandbreite zulässiger Interpretationsmöglichkeiten einbezogen.775 Anschließend hat es in der dritten Sitzblockaden-Entscheidung hiervon Abstand genommen,776 sich jedoch bereits in der Entscheidung zu § 185 auf eine hundertjährige, im Wesentlichen einheitliche Rechtsprechung wieder bezogen.777 Die Tatbestandauslegung darf sich dabei jedoch nicht gänzlich vom allgemeinen Sprachgebrauch lösen;778 sie muss für den Normadressaten vorhersehbar bleiben.779 Weiterhin geht das Bundesverfassungsgericht von einer generellen Befugnis des 189 Rechtsanwenders aus, unbestimmte Strafnormen durch interpretatorische Verengung erst bestimmt zu machen (Rdn. 201 ff).780 Hierbei handelt es sich um einschneidende Relativierungen, die insbesondere 190 dann, wenn sie miteinander kombiniert werden, zu einer weitgehenden Entwertung des Bestimmtheitsgrundsatzes führen. Entsprechend heftig ist die Kritik, auf die diese Rechtsprechung in der Literatur gestoßen ist:781 Weder biete der Wortlaut des Art. 103 Abs. 2 GG für solche Einschränkungen und Differenzierungen Anlass,782 noch bestehe ein Bedürfnis nach einer so weitreichenden Elastizität, wie sie die Rechtsprechung vornimmt.783 Letztlich sei fraglich, ob diese Rechtsprechung dem Gesetzgeber und der Strafrechtsanwendung eine wirksame Schranke errichte.784 Kasuistik (siehe ergänzend Rdn. 72 ff, 330 f): Nach diesen Grundsätzen sind als aus- 191 reichend „gesetzlich bestimmt“ i.S.d. § 1, Art. 103 Abs. 2 GG folgende Tatbestandsmerkmale oder tatbestandsähnliche Merkmale in Strafvorschriften des StGB angesehen worden:785 § 13 als Umschreibung der Garantenstellung;786 § 56b Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. §§ 56, 56a, der die Auflage, gemeinnützige Leistungen zu erbringen, regelt;787 § 94 Abs. 1 „Staatsgeheimnis“;788 § 94 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 „besonders schwerer Nachteil“;789 § 99 Abs. 1 Nr. 1 „geheimdienstliche Tätigkeit“;790 §§ 99, 100 Abs. 1, § 100c Abs. 1 i.d.F. des 1. StRÄndG „Staatsgeheimnis“;791 § 100e i.d.F. des 1. StRÄndG „Beziehungen aufnehmen oder unterhalten“;792

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775 BVerfGE 73 206, 242 ff für den Gewaltbegriff; vgl. auch BVerfGE 26 41, 43; 45 363, 371; 57 250, 262. 776 BVerfGE 92 1, 13 ff. Wiederum einschränkend dann aber durch Akzeptieren der „Zweite-ReiheRechtsprechung“ BVerfGK 18 365 = NJW 2011 3020 ff. 777 BVerfGE 93 266, 292 f. 778 BVerfGE 73 206, 242 ff. 779 BVerfGE 92 1, 13. 780 So insbesondere BVerfGE 26 41, 43 zur Strafbarkeit des groben Unfugs nach § 360 Abs. 1 Nr. 11 StGB a.F.; vgl. auch BVerfGE 4 352, 358 zu § 187a StGB a.F. und BVerfGE 45 363, 371 f zur Verfassungsmäßigkeit des Straftatbestands des Landesverrats nach § 94 StGB; zustimmend Lenkner JuS 1968 308 f und Tiedemann Verfassungsrecht und Strafrecht S. 42 sowie bereits ders. Tatbestandsfunktionen S. 38 ff m.w.N.; kritisch aber Duttge S. 172 f; Grünwald FS Arthur Kaufmann 433, 439; Köhler AT S. 88; Ridder AöR 87 (1962) 311, 325. 781 Geitmann S. 68 ff; Krahl S. 391 f, 402 ff; Krey Strafe Rdn. 128 Fn. 132; ders./Weber-Linn FS Blau 125, 136; Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 20; Schmidhäuser GedS Martens 231 ff; Schünemann Nulla poena S. 6 ff, 29 ff; vgl. auch Callies NJW 1989 1338 f; ders. NStZ 1987 209, 210. 782 v. Münch/Kunig/Kunig Art. 103 Rdn. 29. 783 Hill in Isensee/Kirchhof HStR2 Bd. 6 § 156 Rdn. 66. 784 Schmidhäuser GedS Martens 231 ff. 785 Umfassend zur Rechtsprechung Faller FS Merz 61 ff, 63 ff, 68 ff; Krahl passim. 786 BVerfGE 96 68, 97 f. 787 BVerfGE 83 119, 128; näher dazu oben Rdn. 94. 788 BVerfGE 45 363, 372. 789 BVerfGE 45 363, 372. 790 BVerfGE 57 250, 262. 791 BVerfGE 20 162, 177; 21 239, 242. 792 BVerfGE 28 175, 183, 189; 57 250, 263, 270.

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§ 107a Abs. 1 „unrichtiges Ergebnis einer Wahl herbeiführt“;793 § 131 i.d.F. des Gesetzes zur Neuregelung des Jugendschutzes in der Öffentlichkeit „in einer die Menschenwürde verletzenden Weise“;794 § 170b „Verletzung der Unterhaltspflicht“;795 § 170d i.d.F. vor dem 4. StrRG „Gefährdung des sittlichen Wohles eines Kindes“;796 § 180a Abs. 1 Nr. 2 „Förderung der Prostitution“;797 § 184 Abs. 1 Nr. 1 i.d.F. des Art. 1 Nr. 11 EGOWiG „unzüchtige Schriften verbreitet“;798 § 184 Abs. 1 Nr. 7 „Entgelt, das ganz oder überwiegend für diese Vorführung verlangt wird“;799 § 185 „Beleidigung“;800 § 187a „im politischen Leben des Volkes stehende Person“;801 § 220a „Völkermord“;802 § 240 „Gewalt“, „Drohung mit einem empfindlichen Übel“;803 § 241 Abs. 1 „Bedrohung“;804 § 263,805 „Täuschung durch schlüssiges Verhalten“,806 „Eingehungsbetrug“ und „konkrete Vermögensgefährdung“;807 § 266 „Vermögensnachteil“ und „schadensgleiche Vermögensgefährdung“ bei der Untreue;808 § 327 Abs. 2 Nr. 1;809 § 360 Abs. 1 Nr. 11 a.F. „grober Unfug“;810 § 366 Nr. 10 a.F. „Übertretung von Polizeiverordnungen, die zur Erhaltung der Sicherheit, Bequemlichkeit, Reinlichkeit und Ruhe auf den öffentlichen Wegen, Straßen, Plätzen oder Wasserstraßen erlassen wurden.811 192 Außerhalb des Strafgesetzbuchs hat die Rechtsprechung im Nebenstrafrecht folgende Tatbestandsmerkmale für genügend bestimmt erachtet: § 370 AO „unrichtige oder unvollständige Angaben über steuerlich erhebliche Tatsachen“;812 §§ 4, 15 Abs. 1 Nr. 4 BerlLImSchG „Lärm“;813 § 29 Abs. 1 Nr. 3 BtMG;814 § 10 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 JGG „Weisungen, Arbeitsleistungen zu erbringen;815 Art. VIII Militärregierungsgesetz (MRG) Nr. 53 (Neufassung), soweit er verbotene Geschäfte nach Art. I Nr. 1 Buchst. d und unerlaubtes Verbringen (Art. I Nr. 2) im Rahmen des innerdeutschen Handels mit Strafe bedroht;816 § 369 RAO, Steuerhinterziehung;817 § 7 Abs. 1 S. 1 StVO (in der 1963 geltenden Fassung) „einen

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793 BVerfG NJW 1993 55 f. 794 BVerfGE 87 209, 228 f, soweit darunter Darstellungen von grausamen und unmenschlichen Gewalttätigkeiten verstanden werden, die darauf angelegt sind, beim Betrachter eine Einstellung zu erzeugen, die den jeden Menschen zukommenden fundamentalen Wert- und Achtungsanspruch leugnen. 795 BVerfGE 50 142, 164 f. 796 BGH NJW 1952 476; BayObLG NJW 1952 988. 797 BVerfG NJW 1993 1911. 798 BVerfG (Vorprüfungsausschuss) NJW 1982 1512; vgl. auch BGHSt 23 40, 41. 799 BVerfGE 47 109, 120 ff. 800 BVerfGE 93 266, 291 f. 801 BVerfGE 4 352, 357. 802 BVerfG EuGRZ 2001 78 f. 803 BVerfGE 73 206, 236 ff; 76 211, 216; 92 1, 13 ff; vgl. auch BGHSt 35 270, 273 ff; 41 231, 240 f. 804 BVerfG NJW 1995 2776 f; näher dazu Küper JuS 1996 783 ff. 805 BVerfGE 130 1 mBespr Waßmer HRRS 2012 368 ff; Schlösser NStZ 2012 473, 475 ff; Bittmann wistra 2013 1 ff; Schuhr ZWH 2012 105. 806 In der Entscheidung Rdn. 168 ff. 807 In der Entscheidung Rdn. 171 ff. 808 BVerfGE 126 170, 205 (Rdn. 97 ff); BVerfG NJW 2009 2370, 2372 (Rdn. 30 ff); zur Kritik statt vieler Beulke FS Eisenberg 245, 262 m.w.N. 809 BVerfGE 75 329, 343 ff. 810 BVerfGE 26 41, 43; kritisch dazu Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 29; Jäger SK Rdn. 35; Sch/Schröder/ Eser/Hecker Rdn. 17; F. C. Schroeder JZ 1969 775 ff. 811 BVerfGE 23 265, 269. 812 BVerfG NJW 1992 35; vgl. auch BGHSt 37 266, 272. 813 BVerfG NJW 2010 754 ff. 814 BVerfG EuGRZ 1997 521. 815 BVerfGE 74 102, 126; s. dazu auch oben Rdn. 98. 816 BVerfG NJW 1999 3325; vgl. auch BGHSt 31 323, 333; 13 190, 193. 817 BVerfGE 37 201, 208.

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zur selbständigen Leitung geeigneten Führer“;818 § 21 StVG a.F. „Gefahr für die Sicherheit und Ordnung des öffentlichen Straßenverkehrs“.819 Weiterhin wurde die Verfassungsmäßigkeit verwaltungsrechtlich festgelegter Begrifflichkeiten als strafrechtlicher Anknüpfungspunkt anerkannt für Merkmale wie das Betreiben einer genehmigungspflichtigen Anlage ohne Genehmigung,820 den Begriff des Arzneimittels,821 die außenwirtschaftliche Betätigung nach § 34 AWG a.F. (§§ 17, 18 AWG n.F.),822 § 19 Abs. 2 TransplantationsG;823 das Gebot, die Jahresbilanz innerhalb der einem ordnungsgemäßen Geschäftsgang entsprechenden Zeit zu erstellen,824 sowie Listen nach dem Heimarbeitsgesetz zu führen.825 Selbst der Verweis von § 26 Nr. 2 VersG auf § 14 VersG wurde als verfassungsmäßig angesehen, obwohl erst durch eine verfassungskonforme Auslegung des § 14 VersG die Tatbestandsgrenzen festgelegt worden sind.826 Auch der Bundesgerichtshof hat in der Regel einen Verstoß gegen das Bestimmt- 193 heitsgebot verneint, so bei § 142 a.F. Nichtrückkehr an den (unvorsätzlich,)827 erlaubt oder schuldlos verlassenen Unfallort als „Flucht“;828 bei § 168 Abs. 1 nicht verbrennbares Zahngold als „Asche“;829 bei § 244 Abs. 1 Nr. 2 „Bande“ bei einer Verbindung von zwei Personen;830 bei § 261 Abs. 1 und 5 „leichtfertige Geldwäsche“;831 § 263a „unbefugte Verwendung von Daten“;832 bei der Schadensbestimmung beim Eingehungsbetrug gemäß § 263; 833 bei Einrichtung sog. „schwarzer Kassen“ als „Vermögensnachteil“ gemäß § 266;834 § 265b „unrichtige oder unvollständige Unterlagen, die für die Entscheidung über einen Kreditantrag erheblich sind“;835 § 315b Abs. 1 Nr. 3 „einen ähnlichen, ebenso gefährlichen Eingriff vornimmt“;836 bei § 370 AO i.V.m. § 3a Abs. 4 Nr. 1 UStG (i.d.F. vom 13.12.2006) Emissionszertifikate als „ähnliche Rechte“ (vgl. Rdn. 257).837 In der fachgerichtlichen Rechtsprechung wurde etwa § 370a AO („Steuerverkürzung in großem Ausmaß“) als verfassungswidrig angesehen,838 weiterhin das Verbot, sich „nach Art eines Land- oder Stadtstreichers herumzutreiben“839 oder „dem Anschluß- und Benutzungszwang zuwiderzuhandeln“,840 es sei denn dessen Satzung selbst ist nicht hinreichend

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818 BGHSt 18 359, 362. 819 BVerfGE 14 245, 253 f. 820 BVerfGE 75 329, 343 ff; ausführlich dazu U. Weber in H. J. Koch/Scheuing GK-BImSchG (1995) § 62 Rdn. 28 ff; Otto Jura 1991 308 ff; Eisenbach Probleme der Verwaltungsakzessorietät im Umweltstrafrecht, passim. 821 BVerfG NJW 1992 2624; BVerfG NJW 2000 3417; vgl. auch BGHSt 43 336, 342 f. 822 BVerfG NJW 1993 1909, 1910. 823 BVerfG NJW 1999 3400. 824 BVerfG 48 48, 57 ff. 825 BVerfGE 41 314, 320 ff. 826 BVerfGE 85 69, 72 ff, 75; aA BVerGE 85 77 ff – Sondervotum Seibert/Hentschel. 827 Dazu aber – verfassungswidrige Überdehnung des Merkmals – BVerfGK 10 442 = NJW 2007 1666 ff. 828 BGHSt 14 213, 217 f; 18 114, 118 ff; krit. dazu Roxin AT I 4 § 5 Rdn. 34. 829 BGHSt 60 302 ff. Ablehnend Becker/Martenson JZ 2016 779 ff, mit methodischer Kritik an dieser Ablehnung Kotsoglou ZIS 2017 257 ff. 830 BGHSt 23 239 f. 831 BGHSt 43 158, 167 f. 832 BGHSt 38 120, 121. 833 BGHSt 58 205, 209 ff; vgl. auch BGHSt 53 199, 202 f. 834 BGHSt 51 100 (Rdn. 64); vgl. BGHSt 52 323, 338 f. 835 BGHSt 30 285, 286 ff m. Anm. Lampe JR 1982 430. 836 BGHSt 22 365, 366 f. 837 BGHSt 63, 29 Rdn. 57 ff. 838 BGH NJW 2004 2990, 2991 f; NJW 2005 374 ff; näher dazu Rdn. 209. 839 VGH Baden-Württemberg NJW 1984 507, 508. 840 OLG Köln NuR 1995 163 f.

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bestimmt.841 Selbst Klauseln wie die „guten Sitten“ in § 228, die in der Literatur als zu unbestimmt kritisiert werden,842 sollen hinreichend bestimmt sein, wenn sie restriktiv ausgelegt werden (näher dazu Rdn. 207). Der Bundesgerichtshof räumt zwar ein, die Vorschrift knüpfe mit dem Ausdruck „gute Sitten“, der „für sich gesehen allerdings konturenlos“ bleibe, „an außerrechtliche, ethisch-moralische Kategorien“ an. Hieraus folge jedoch kein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot, sondern lediglich die Notwendigkeit einer Beschränkung des gesetzlichen Begriffs „auf seinen Kern“. Ein Verstoß der Tat „gegen die Wertvorstellungen einzelner gesellschaftlicher Gruppen oder des mit der Tat befaßten Strafgerichts“ genüge daher nicht; vielmehr sei erforderlich, dass die Tat „gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ verstößt (näher dazu Rdn. 207).843 Einwände des Schrifttums844 haben dazu geführt, dass sich der Gesetzgeber in man194 chen Bereichen um bestimmtere Tatbestandsfassungen bemüht hat, z.B. in § 170d i.d.F. des 4. StrRG und in § 118 OWiG, der Nachfolgevorschrift über den „groben Unfug“ (§ 360 Abs. 1 Nr. 11 a.F.). Ob vorgenommene Änderungen stets zu einer Verbesserung geführt haben, mag zweifelhaft sein. Bereits Tröndle845 hat zutreffend darauf hingewiesen, dass begriffliche Unschärfen in neuen Straftatbeständen verfassungsrechtlich bedenklicher sein können als in alten, weil ihnen die Präzisierung fehlt, die eine ständige Rechtsprechung zu bieten vermag (zu den hiergegen bestehenden Bedenken und Einschränkungen s.o. Rdn. 188, 201). 195

b) Bestimmtheitsgebot als Optimierungsgebot (Präzisierungsgebot). Angesichts der Zurückhaltung des Bundesverfassungsgerichts, Strafrechtsnormen wegen fehlender Bestimmtheit für verfassungswidrig zu erklären,846 und eines steten „Trends zum ungenauen Strafrecht“847 wurde in der Literatur teilweise die Auffassung vertreten, das Bestimmtheitsgebot sei „weitestgehend preisgegeben“848 oder bei strenger Fassung als „rechtsstaatliche Utopie“ zu betrachten.849 Gerade die jüngeren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs sollen allerdings belegen, dass der verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz „Konjunktur“ hat850 und wieder weniger zurückhaltend gehandhabt wird.851 In der Literatur findet insbesondere die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts überwiegend Zustimmung,852 weil sie, entgegen der früheren Zurückhaltung und im Einklang mit deren verbreiteten Kritik durch die Literatur dazu beitrage, dem in Art. 103 Abs. 2 GG positivierten Gesetzlichkeitsprinzip, und damit einem Grundpfeiler unseres rechtsstaatlichen Strafrechts, praktische Geltung zu

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841 So aber in BVerfGK 11 337 = NVwZ 2007 1172 ff. 842 Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 64; Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 87; Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 69; w.N. bei Hirsch LK11 § 228 Rdn. 2; aA BGHSt 4 24, 32; 49 34, 41; Lackner/Kühl/Kühl § 228 Rdn. 11; Sch/Schröder/Stree/Sternberg-Lieben § 228 Rdn. 6; Fischer § 228 Rdn. 8. 843 BGHSt 49 34, 41; vgl. dazu Herzberg Symposium für Schünemann 31, 49 ff und Matt/Renzikowski/Basak Rdn. 16 m.w.N. 844 Zusammenfassend Tröndle LK10 Rdn. 16. 845 Tröndle LK10 Rdn. 16. 846 Näher dazu Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 83 ff; Kuhlen in Hilgendorf Gesetzlichkeitsprinzip S. 45, 55 ff. 847 Achenbach JuS 1980 81, 88. 848 So Schünemann Nulla poena S. 8. 849 So Schmidhäuser GedS Martens 231, 238 ff, 241; s. auch R. Schmitt FS Jescheck 226 ff. 850 So Reichenbach JR 2005 405. 851 Eingehend dazu Krahl S. 104 ff; vgl. auch Birkenstock S. 103 ff; Schünemann Nulla poena S. 4. 852 Birkenstock S. 133 ff, 143; Herzberg Symposium für Schünemann 31, 51 ff.

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verschaffen.853 Tatsächlich ist fraglich, ob der Bestimmtheitsgrundsatz stärker respektiert wird als früher,854 denn das Bundesverfassungsgericht ist bislang lediglich in einer überschaubaren Anzahl von Entscheidungen zur Verfassungswidrigkeit strafrechtlicher Normen gekommen (Rdn. 73), weil die Strafbarkeit unklar war855 bzw. sich erst aus einer Ermessensentscheidung der Exekutive ergab.856 Außerdem hat das Bundesverfassungsgericht die Wortlautgrenze auch in früheren Entscheidungen respektiert.857 Gleichwohl entfaltet sich der Bestimmtheitsgedanke präventiv in der regulativen Idee, ob eine bestimmtere Gesetzesfassung unproblematisch praktisch möglich erscheint.858 Um zu vermeiden, dass das Bestimmtheitsgebot jegliche Bedeutung verliert,859 bestehen in der Literatur bereits seit längerem Forderungen, es als „Gebot relativer Bestimmtheit“,860 bzw. noch zielgerichteter auch als „Präzisierungs- bzw. Konkretisierungsgebot“,861 und als solches gerade auch an die Rechtsprechung gerichtet, zu verstehen.862 Diese Forderungen hat das Bundesverfassungsgericht sich in seiner Untreue-Entscheidung zu eigen gemacht.863 Es spricht hierzu auch von einem „Gebot restriktiver und präzisierender Auslegung“864 durch die Gerichte (Rdn. 201, ferner zum EuGH Rdn. 35). Hierbei handelt es sich um ein Optimierungsgebot,865 verstanden als ein Prinzip, 196 das durch Gegenprinzipien der Verfassung begrenzt werden kann,866 welches darauf gerichtet sein muss, das gesetzgeberische Programm zu sichern.867 Hierbei ist stets zu beachten, dass es sich bei Art. 103 Abs. 2 GG um ein abwägungsresistentes Grundrecht handelt, das auf dem Gewaltenteilungsprinzip (Rdn. 52 f) und einem gesunden Misstrauen gegenüber der Staatsgewalt beruht.868 So hebt auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Leitsatz zur „Mauerschützen-Entscheidung“ hervor, dass Art. 103 Abs. 2 GG absolut sei und seine rechtsstaatliche und grundrechtliche Gewährleistungsfunktion durch eine strikte Formalisierung erfülle (BVerfGE 95 96). Das Bestimmtheitsgebot erfordert insbesondere, dass der Vorschrift ein klarer gesetzgeberischer Schutzzweck entnommen werden kann. Hierfür ist es erforderlich, dass aus dem Kontext des Regelungszusammenhangs oder aus dem Kontext der legislativen Entscheidung die Bewertung des Gesetzgebers zu erkennen ist, die es ermöglicht, Bewertungskriterien zu entwickeln.869

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853 So Kuhlen S. 86 f. 854 Dies verneint Kargl JZ 2005 503, 505, der zu dem Ergebnis kommt, das Gesetzlichkeitsprinzip existiere praktisch nicht mehr; zurückhaltend auch Kuhlen S. 88. 855 BVerfGE 17 306, 314 f betr. §§ 1 Abs. 2 Nr. 1; 2 Abs. 1; 46 Abs. 2; 60 Personenbeförderungsgesetz a.F. 856 BVerfGE 78 372, 383 ff betr. § 15 Abs. 2 lit. a FAG a.F. mit Anm. Sachs JuS 1990 58; vgl. auch Kilger NJW 1990 1714 f. 857 Näher dazu Birkenstock S. 107 ff; Simon S. 47 ff, 100 ff. 858 Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 45. 859 S. dazu Meyer-Ludewig MDR 1962 262, 264, der in Art. 103 Abs. 2 GG eine „überlebte dogmatische Auffassung“ sieht. 860 So Schmidhäuser GedS Martens 243; vgl. dazu auch Jakobs AT 4/1. 861 So Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 20; Satzger SSW Rdn. 21. Skeptischer etwa Kargl Rdn. 557. Gerade für Präzision und Allgemeinheit – im Gegensatz zu Konkretheit – G. Kirchhof S. 333 ff. 862 Kuhlen JR 2011 246, 248; ders. in Kudlich/Montiel/Schuhr S. 429, 433 ff; Cornelius GA 2015 101, 117 ff. 863 BVerfGE 126 170, 198 ff (Rdn. 80 ff). 864 BVerfGE 126 170, 213 (Rdn. 117), 215 (Rdn. 122); dazu Kuhlen in Hilgendorf Gesetzlichkeitsprinzip S. 45, 59 ff; Saliger NJW 2010 3195, 3196. 865 Denninger S. 13 ff; Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 41; Paeffgen/ Zabel NK Vor § 32 ff Rdn. 57; Satzger SSW Rdn. 24; vgl. auch Dubs SchwJT 1974 S. 223 ff; zust. Rogall KK-OWiG § 3 Rdn. 27. Zu Bedeutung und Grenzen des Konzepts Duttge JZ 2014 261, 265. 866 Denninger S. 13 ff; zust. Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 41; vgl. auch Rogall KK-OWiG § 3 Rdn. 27. 867 Hassemer/Kargl NK Rdn. 20. 868 Zielinski FS Grünwald 811, 828 f. 869 Schroth S. 108; Köhler AT S. 87.

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Wenn der Vorschrift kein klarer gesetzgeberischer Schutzzweck entnommen werden kann, fehlt es an der hinreichenden Bestimmtheit.870 Außerdem muss – entgegen der h.M. – das Gesetz die tatbestandsmäßigen Verhaltensweisen umschreiben (Rdn. 127). Das Optimierungsgebot beinhaltet nicht nur den Auftrag an den Gesetzgeber, dass er sich vermeidbarer Unbestimmtheit enthält,871 ohne auf die erforderliche Allgemeinheit des Gesetzes zu verzichten.872 Wenn eine präzisere Gesetzesabfassung möglich ist, weil „funktional äquivalente“ Begriffsalternativen zur Verfügung stehen und genauere, inhaltsreichere Rechtsbegriffe verwendet werden können, muss der Gesetzgeber hierauf zurückgreifen.873 Er muss auch das Regelungsmodell austauschen, wenn sich nur auf diese Weise erreichen lässt, dass die Verfolgung des Gesetzeszwecks mit dem Bestimmtheitsgebot vereinbar ist.874 197

c) Beschreibung des tatbestandsmäßigen Verhaltens. Das Bestimmtheitsgebot bezieht sich zunächst auf die Beschreibung der tatbestandsmäßigen Handlung (nullum crimen sine lege).875 Hierzu gehört nicht nur der objektive Tatbestand, sondern auch die innere Tatseite; eine strafrechtliche Ahndung einer Tat ohne Schuld des Täters wäre rechtsstaatswidrig.876 Begriffe, mit denen der Gesetzgeber die Vorwerfbarkeit nach dem Maß der Schuld abstuft, sind z.B. „wider besseres Wissen“ bei § 145d Abs. 1, § 164 Abs. 1, „in der Absicht“ bei § 242 Abs. 1, § 263 Abs. 1, „böswillig“ bei § 223b Abs. 1 und „rücksichtslos“ bei § 315c Abs. 1 Nr. 2. Hingegen ist umstritten, ob und in welchem Umfang es sich auch auf den Allgemeinen Teil (Rdn. 218 ff) und auf die Deliktsfolgen (Rdn. 223 ff) bezieht.

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aa) Zulässigkeit allgemeiner Begriffe. Straftatbestände lassen sich unterschiedlich genau umschreiben. Während die Verwendung deskriptiver Merkmale (wie „Sache“ bei § 242) insbesondere in kasuistischen Regelungen den Vorzug größerer Präzision hat, erweisen sich normative (wertausfüllungsbedürftige) Begriffe (z.B. „zuzumuten“ bei § 323c) wegen ihrer Geschmeidigkeit bei der Rechtsanwendung oft als praktikabel, weil sie knappere Vorschriften ermöglichen und Einzelheiten der Entwicklung der Rechtsprechung überlassen. Es liegt auf der Hand, dass die Verwendung solcher wertausfüllungsbedürftiger Merkmale und Generalklauseln dem Grundgedanken des § 1 und Art. 103 Abs. 2 GG an sich widerspricht. Zutreffend bemerkt der Bundesgerichtshof in einer Auseinandersetzung mit der Lehre von der Typenkorrektur bei § 211, das Kriterium der „besonderen Verwerflichkeit“ sei von generalklauselartiger Weite und stelle infolgedessen Berechenbarkeit und Gleichmäßigkeit der die Tatbestandsfrage betreffenden Rechtsanwendung in einem zentralen Bereich des Strafrechts in Frage.877 Ebenso zutreffend hat das Bundesverfassungsgericht zur Verwerflichkeitsklausel des § 240 Abs. 2 hervorgehoben, durch sie werde die Entscheidung darüber, was im Einzelfall als Nötigung zu bestrafen sei, in erheblichem Umfang auf den Richter verlagert. Damit entstehe die

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870 Roxin AT I § 5 Rdn. 75; Müller-Dietz FS Lenckner 179, 191; vgl. auch Lemmel S. 180 ff. 871 Näher dazu Jakobs AT 4/25; Köhler AT S. 87; Lenckner JuS 1968 304, 305; Naucke Generalklauseln S. 3 ff; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 20 m.w.N. 872 Näher dazu Hassemer/Kargl NK Rdn. 20; Löwer JZ 1975 625; Naucke Generalklauseln S. 3 ff; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 20; G. Kirchhof S. 333 ff; vgl. auch Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 74 f; Schürmann S. 147 ff. 873 Hassemer/Kargl NK Rdn. 4; Kohlmann S. 252 ff; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 20, jeweils m.w.N. 874 Kausch S. 157, 165 ff; Kohlmann S. 252 ff; Loos FS Remmers 565 ff. 875 BVerfGE 25 269, 285; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 17; Fischer Rdn. 6. 876 BVerfGE 20 323, 331; 23 127, 132; 25 269, 285; 57 250, 275. 877 BGHSt 30 105, 115.

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Gefahr, dass nicht mehr die vor der Tat getroffene Konfliktregelung des Gesetzgebers, sondern die nach der Tat vom Richter empfundene Strafwürdigkeit zur Grundlage der Bestrafung werde.878 Deshalb ist der Einschätzung Welzels zuzustimmen, dass die dem Gesetzlichkeitsprinzip drohenden Gefahren nicht aus der Analogie des Richters, sondern aus unbestimmten Strafgesetzen herrühren.879 Gleichwohl kann auch das Strafrecht nicht völlig darauf verzichten, allgemeine Be- 199 griffe zu verwenden, die nicht eindeutig allgemeingültig umschrieben werden können und die an die Auslegung durch den Richter besondere Anforderungen stellen. Ohne die Verwendung solcher Begriffe wäre der Gesetzgeber nicht in der Lage, der Vielgestaltigkeit des Lebens Herr zu werden.880 Sie sind unentbehrlich, und ihre Verwendung ist in gewissen Grenzen legitim.881 Das Gebot der Gesetzesbestimmtheit bedeutet also nicht, dass der Gesetzgeber gezwungen wäre, sämtliche Straftatbestände ausschließlich mit rein deskriptiven, exakt fassbaren Tatbestandsmerkmalen zu umschreiben. Generalklauseln oder unbestimmte, wertausfüllungsbedürftige Begriffe im Strafrecht sind nicht von vornherein verfassungsrechtlich zu beanstanden,882 zumal auch durch deskriptive Tatbestandsmerkmale nicht immer eine größere Tatbestandsbestimmtheit erreicht werden kann. Sie unterscheiden sich nicht grundsätzlich von den normativen Tatbestandsmerkmalen.883 Vielmehr stehen alle rechtlichen Begriffe in einem normativen Verhältnis und haben bewertende Aufgaben und Ziele.884 Das Verfassungsgebot der inhaltlichen Bestimmtheit der Strafgesetze büßt durch die 200 Einsicht, dass der Gesetzgeber ihm zwar stets nach Kräften zu folgen hat, es aber nie vollkommen erfüllen kann, nichts von seiner Bedeutung ein. Ob die einzelnen Straftatbestände den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots genügen, ist nicht selten umstritten. Es handelt sich hierbei um eine Maßfrage. Welchen Grad an gesetzlicher Bestimmtheit der einzelne Straftatbestand haben muss, lässt sich dabei nicht allgemein sagen. Die erforderliche Gesetzesbestimmtheit hängt von der Besonderheit des jeweiligen Straftatbestandes und von den Umständen ab, die zu der gesetzlichen Regelung geführt haben.885 Maßgebend ist in erster Linie der für den Adressaten verstehbare Wortlaut des gesetzlichen Straftatbestandes (Rdn. 300).886 Einerseits ist sicher, dass die erforderliche Bestimmtheit fehlt, wenn sich nach dem Gesetzeswortlaut nicht vorhersehen lässt, welches Verhalten mit Strafe bedroht ist.887 Deshalb sind die Tatbestandsmerkmale so konkret zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen.888 Daran mangelt es, wenn erst eine über den Wortsinn hinausgehende Interpretation zu dem Ergebnis führt, dass ein Verhalten strafbar sei.889 Andererseits dürfen die Anforderungen an den Gesetzgeber

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878 BVerfGE 73 206, 238. 879 Welzel Das Deutsche Strafrecht § 5 II 3; vgl. auch Krahl S. 104 ff, 277 ff; Lemmel S. 35 ff; 180 ff; Naucke Generalklauseln, passim; Lenckner JuS 1968 249 ff, 304 ff. 880 BVerfGE 75 329, 341; Gaede AnwK Rdn. 19. 881 BVerfGE 4 352, 357 f; 11 234, 237; 26 41, 42 f; 28 175, 183; 37 201, 208; 45 363, 371; 47 109, 120 f; 48 48, 56; 71 108, 115; 73 206, 235; 75 329, 341. 882 BVerfGE 45 363, 371; 48 48, 56; Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 64; Schmitz MK Rdn. 46; Dreier-III/ Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 40. 883 Jakobs AT 4/29; Kohlmann S. 241 ff, 259 ff; Krey Studien S. 45, 71, 101; Lenckner JuS 1968 249, 256; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 19. 884 Hassemer/Kargl NK Rdn. 35 ff; vgl. auch Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 19. 885 BVerfGE 26 41, 43; 28 175, 183; 41 314, 320. 886 BVerfGE 47 109, 121; 71 108, 115; 73 206, 235; 75 329, 341. 887 BVerfGE 14 245, 252; 25 269, 285; 26 41, 42; 28 175, 183; 37 201, 207; 47 109, 121; 78 374, 389. 888 BVerfGE 41 314, 319; 47 109, 118, 120; 50 142, 164 f; 57 250, 262; 71 108, 114; 73 206, 234. 889 BVerfGE 47 109, 121; 75 329, 341.

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nicht übersteigert werden; die Gesetze würden sonst zu starr und kasuistisch werden.890 Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit müssen zu einem verhältnismäßigen Ausgleich gebracht werden.891 Es ist nicht ausreichend, lediglich eine kriminalpolitische Entscheidung zum Rechtsgüterschutz zu fordern und dieses Bestimmtheitskonzept „intersubjektiv“ zu ergänzen.892 201

bb) Konkretisierung unbestimmter Begriffe durch eine gefestigte Rechtsprechung und Präzisierungsgebot. Lässt der Wortlaut einer Strafvorschrift, die zum überlieferten Bestand an Strafrechtsnormen gehört, eine weite Auslegung zu, so kann der Tatbestand nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts durch eine gefestigte Rechtsprechung hinreichend präzisiert worden sein.893 Die Einhaltung der Grenzen eines gefestigten Verständnisses durch die Gerichte ist vom Bundesverfassungsgericht vollumfänglich überprüfbar.894 Möglich ist auch die Bildung von Fallgruppen mit einem jeweils für sich gefestigten Verständnis.895 Diese Auffassung ist in der Literatur auf erhebliche Kritik gestoßen. Die Anerkennung einer gefestigten Rechtsprechung als Grundlage für das Normverständnis ist insofern nicht unproblematisch, als das Erfordernis einer eigenständigen Bestimmtheit der Formulierung der Norm zugunsten bloßer Konkretisierungsfähigkeit der Vorschrift aufgegeben zu werden droht.896 Wenn es Anliegen des Art. 103 Abs. 2 GG ist, die Erkennbarkeit des Umfangs strafrechtlich sanktionierten Verhaltens bereits von der Strafvorschrift selbst zu verlangen, so wird dieses Ziel nur unvollkommen erreicht, wenn die Norm erst im Zusammenhang mit der zu ihrer Auslegung ergangenen, nicht selten widersprüchlichen Rechtsprechung „verstanden“ werden kann.897 Rechtsprechung wirkt auch keineswegs nur konkretisierend; uneinheitliche und stark fragmentierende Rechtsprechung zu Einzelfragen kann im Gegenteil sogar Unbestimmtheit verursachen, auf die der Gesetzgeber dann klarstellend zu reagieren hat, um der ihm durch Art. 103 Abs. 2 GG zugewiesenen Rolle gerecht zu werden.898 Bei nachträglicher „Heilung“ anfänglich verfassungswidrig unbestimmter Formulierungen droht hingegen die Gewaltenteilung unterlaufen zu werden, denn den konkreten Inhalt setzen dann die Gerichte, nicht der Gesetzgeber.899 Dies gilt insbesondere, sofern es sich um neuere Gesetze handelt.900 Gleichwohl ist dem Bundesverfassungsgericht in weitem Umfang zuzustimmen, und zwar aus Gründen, die im Wesen sprachlicher Bedeutungsbildung und Bedeutungsentwicklung liegen.901 Die Bedeutung von Worten, Ausdrücken und Regeln hängt von ihrem Gebrauch ab.902 Hat sich ein bestimmter Gebrauch etabliert, dann legt

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890 BVerfGE 14 245, 251; 41 314, 320; 45 363, 371 f; 48 48, 56; 75 329, 342 f; BGHSt 18 359, 362. 891 Hassemer/Kargl NK Rdn. 16 ff, 19 ff; Jäger SK Rdn. 33. 892 So aber Ransiek S. 45 ff, 55 ff, 68 ff, 87; krit. dazu Rogall KK-OWiG § 3 Rdn. 32. 893 BVerfGE 26 41, 43; 28 175, 183, 185; 37 201, 208; 45 363, 372; 73 206, 234 ff; 96 68, 98. 894 BVerfGE 126 170, 199; vgl. auch BVerfGE 92 1, 18, 23. 895 BVerfGE 126 170, 199. 896 Krahl S. 104 ff; v. Münch/Kunig/Kunig Art. 103 Rdn. 29; Rogall KK-OWiG § 3 Rdn. 33; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 20. 897 So BVerfGE 92 1, 14 ff. 898 Kargl/Hassemer NK Rdn. 28; v. Münch/Kunig/Kunig Art. 103 Rdn. 29; kritisch auch Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 46; Schürmann S. 162 f. 899 Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 73; Schmitz MK Rdn. 49; vgl. auch Hassemer/Kargl NK Rdn. 28. 900 BVerfGE 17 306, 314 ff; 37 201, 208; Geitmann S. 156 ff; v. Münch/Kunig/Kunig Art. 103 Rdn. 29; Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 73. 901 Ähnlich Kuhlen JR 2011 246, 248 f. 902 Grundlegend Wittgenstein Philosophische Untersuchungen § 43.

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dieser eine entsprechend bestimmte Bedeutung fest.903 Umgekehrt schwindet Bestimmtheit in dem Maße, in dem die Gebrauchspraxis diffuser wird. Eine vom Sprach- bzw. Anwendungsgebrauch und dessen Wandel in der Zeit unabhängige Bedeutung gibt es nicht. Es wäre zwar übertrieben anzunehmen, dass einzelne Entscheidungen als solche bereits eine Präzisierung sicher bewirken könnten.904 Unter Umständen gelingt dies nicht einmal einer ständigen Rechtsprechung. Beispiel dafür ist die Behandlung des unvorsätzlichen Entfernens vom Unfallort als berechtigt oder entschuldigt i.S.d. § 142 Abs. 2 Nr. 2, die als Verletzung der Wortlautgrenze angesehen wurde, weil sie – man beachte die argumentative Reihenfolge! – stets erheblich umstritten blieb und nicht in die übliche strafrechtliche Begrifflichkeit passte.905 Doch wenn sich tatsächlich eine gefestigte Rechtspraxis eingestellt hat (und eine solche kann sich auch nach einer einzigen Leitentscheidung ergeben), dann ist damit eine Präzisierung eingetreten. In einem solchen Fall gehen dann auch die angeführten Einwände fehl: Die Formulierung der Vorschrift selbst hat dann die etablierte Bedeutung und ist entsprechend bestimmt. Der Gesetzgeber dürfte, wenn die Vorschrift als verfassungswidrig aufgehoben würde, eine identisch formulierte Vorschrift erlassen, denn sie wäre verfassungskonform. Genau dies:, die Frage, ob der Gesetzgeber eine wortgleiche Vorschrift an gleicher Gesetzesstelle erlassen dürfte, muss der Test sein, denn zur Beurteilung steht bzgl. der Verfassungskonformität eines Gesetzes stets seine aktuelle Bestimmtheit. Zu unterscheiden ist davon allerdings richtigerweise der Maßstab für eine Verurteilung (und für die Begründetheit einer Urteilsverfassungsbeschwerde). Für sie kommt es auf die Bestimmtheit zum Zeitpunkt der Tat an. Nur der damals bereits bestimmte Kern der Vorschrift vermag eine verfassungskonforme Verurteilung zu tragen (Rdn. 291, 293, 445), selbst wenn das Gesetz aktuell nicht mehr zu beanstanden ist. Das bedeutet aber eben gerade nicht, dass der Gesetzgeber Vorschriften mit unvollständigem, in Widerspruch zu seinen erklärten Zielen stehendem, bewußt zu weit gefasstem oder nicht anwendungsfähigem Regelungsgehalt erlassen und die Bestimmung der Rechtspraxis überlassen dürfte.906 Es gibt keine „Karenzzeit“, in der Unbestimmtheit hinzunehmen wäre. Rechtsprechung und damit auch und gerade die Präzisierung darf sich immer nur im Rahmen des bereits eindeutig erkennbaren Regelungskerns bewegen. Schon § 238 war hier zumindest in seiner ursprünglichen Fassung verfassungsrechtlich problematisch, und § 217 ist es noch viel mehr.907 cc) Zulässigkeit von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen. Die 202 Wertausfüllungsproblematik stellt sich stets, wenn der Gesetzgeber Generalklauseln oder Begriffe verwendet, die dem Richter ein wertendes Urteil abverlangen, so z.B. § 228, der zur Berücksichtigung von Sitte und Anstand verpflichtet, oder die „sonstigen niedrigen Beweggründe“ beim Mord oder die für die Rechtswidrigkeit der Nötigung erforder-

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903 Eingehend dazu aus linuistischer Perspektive für den Kontext des Rechts Busse Juristische Semantik. 904 Näher zur dahinterstehenden gegenseitigen Abhängigkeit von Begründungs- und Anwendungsdiskurs Christensen/Kudlich in Müller Politik, [Neue] Medien und die Sprache des Rechts 2007 S. 135, 137 ff m.N. 905 BVerfGK 10 442 = NJW 2007 1666 ff gegen die Rspr. des BGH seit BGHSt 28 129. Zur Argumentation des BVerfG auch Küper NStZ 2008 597 ff. 906 Satzger SSW Rdn. 26. Besonders zum Kriterium der Anwendungsfähigkeit Bittmann wistra 2016 249, 252 ff. Eingehend gegen vom Gesetzgeber in Kauf genommene teleologische Reduktion Greco ZIS 2018 475 ff. 907 Dazu statt vieler dazu Kühl FS Seebode 61, 69 ff; ders. FS Volk 275, 285 f; Greco GA 2012 452, 455; ders. ZIS 2018 475, 481.

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liche Verwerflichkeit (§ 240 Abs. 2). Hier stellt sich die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen in einer pluralistischen Gesellschaft, in der verschiedene Wertvorstellungen toleriert werden, ein sicheres positives oder negatives Werturteil über ein menschliches Verhalten abgegeben werden kann.908 In diesen Fällen besteht die Gefahr, dass dem Richter die Aufgabe zugewiesen wird, „anstelle des Gesetzgebers durch eine unmittelbare Wertung zu entscheiden“.909 Hierin liegt eine unzulässige Verschiebung der Gesetzgebungskompetenz infolge Unbestimmtheit der gesetzlichen Regelung auf den Richter.910 Deshalb kann die neuere Rechtsprechung zu § 228 im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG nicht überzeugen, die sich bei der Feststellung der Sittenwidrigkeit an der Schwere des einverständlich durchgeführten Körpereingriffs orientiert und den Zweck nur subsidiär und täterbegünstigt heran zieht, um insbesondere bei medizinischer Behandlung (bei der ganz zu Recht z.B. auch die mit jeder Vollnarkose verbundenen Lebensrisiken akzeptiert werden) offensichtlich unbillige Ergebnisse zu vermeiden (BGHSt 49 34, 42; vgl. auch BGHSt 49 166, 171 ff).911 Vielmehr entspricht § 228 nicht den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG.912 203 Während in der Literatur teilweise wertausfüllungsbedürftige Begriffe als unzulässig angesehen werden, weil der Gesetzgeber „größtmögliche Bestimmtheit herstellen müsse“,913 sucht das Bundesverfassungsgericht die Lösung in der Annahme, dass die Anforderungen an die Gesetzesbestimmtheit mit der Höhe der angedrohten Strafe wachse (Rdn. 186) und die Konkretisierung eines unbestimmten Gesetzes durch die Rechtsprechung dem Verfassungsgebot genüge (Rdn. 188, 201).914 Damit werden aber die Anforderungen des Gewaltenteilungsprinzips – die Art. 103 Abs. 2 GG sichern will (Rdn. 55 f) – aufgegeben und Art. 103 Abs. 2 GG für leichtere Straftaten in unzulässiger Weise relativiert.915 Teilweise wird die Zulässigkeit wertausfüllungsbedürftiger Begriffe auf Fälle be204 schränkt, in denen die Belange einer gerechten Einzelfallentscheidung das durch Art. 103 Abs. 2 GG geschützte Rechtssicherheitsinteresse überwiegen. Diese Abwägung ist aber mit Art. 103 Abs. 2 GG nicht vereinbar, da dieses Grundrecht (Rdn. 53) absolut gilt (Rdn. 52). Strafwürdigkeit und -bedürftigkeit als Ausprägungen der verhältnismäßigen Gerechtigkeit müssen bereits bei der legislativen Wertentscheidung berücksichtigt werden, und die Gesetzesbestimmtheit darf nicht zugunsten richterlicher Gerechtigkeitsvorstellungen aufgegeben werden.916 Wenn man von den Grundlagen des Art. 103 Abs. 2 GG ausgeht und insbesondere 205 der staatsrechtlichen Fundierung Rechnung trägt, nach der der Gesetzgeber selbst die Wertentscheidung treffen muss und diese Aufgabe nicht der Rechtsprechung überlassen

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908 Vgl. Tröndle LK 10 Rdn. 15; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 20. 909 So BGHSt 2 194, 196 zur Bestimmung der Rechtswidrigkeit der Nötigung. 910 Roxin AT I § 5 Rdn. 69. 911 Zustimmend Moosbacher JR 2004 390, 391; krit. Sternberg-Lieben JuS 2004 954 ff; vgl. auch Hirsch FG-Wiss. 50 J. BGH Bd. IV 199, 219; Rönnau LK Vor § 32 Rdn. 190. 912 Ebenso Sternberg-Lieben Schranken der Einwilligung (1997) S. 136 ff; ders. JuS 2004 954, 955 f; Paeffgen/Zabel NK § 228 Rdn. 44 ff, 55 m.w.N.; Köhler AT S. 247; vgl. auch Rönnau S. 165 ff; Class FS Eb. Schmidt 122, 129; R. Schmitt FS Maurach 118 ff; ders. GedS Schröder 263; Woesner NJW 1963 275. Verfassungsrechtliche Bedenklichkeit nehmen an: Amelung NStZ 1999 458, 460; ders./Eymann JuS 2001 937, 940 f; Kühl GedS Meurer 545, 554 f; vgl. auch Kargl JZ 2002 389, 399, der sich für eine Streichung des § 228 ausspricht. 913 So Jakobs AT 4/25; Kohlmann S. 247 ff; Naucke Generalklauseln S. 3 ff; Schlüchter AT S. 8; Schmitz MK Rdn. 44 f; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 20. 914 BVerfGE 14 245, 252; 26 41, 42. 915 So zutreffend Roxin AT I § 5 Rdn. 70. 916 Lemmel S. 106 ff; Roxin AT I § 5 Rdn. 72; Schünemann Nulla poena S. 32.

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darf (Rdn. 119, 127), ist es erforderlich, dass der Gesetzgeber in seinen Gesetzen einen Regelungsrahmen vorgibt, dessen konkretisierende Ausfüllung noch als Auslegung eines bestimmten Gesetzes durch den Richter gelten kann. Hierfür ist es erforderlich, dass zumindest aus dem Kontext des Regelungszusammenhanges oder aus dem Kontext der legislatorischen Entscheidung eine Bewertung des Gesetzgebers zu erkennen ist.917 Nur wenn der Regelung mittels Auslegung ein gesetzgeberischer Schutzzweck entnommen werden kann, wird den Mindestanforderungen, die sich aus der gesetzlichen Bestimmtheit ergeben, entsprochen.918 Unter Zugrundelegung dieser Auffassung ist die Beleidigung nach § 185 noch verfassungskonform, da eine Kundgabe der Missachtung ihren Zweck nur erreicht, wenn sie auch als solche verstanden wird. Gleiches gilt für die „sonstigen niedrigen Beweggründe“ beim Mord, denn aus den explizit genannten niedrigen Beweggründen – Mordlust, Befriedigung des Geschlechtstriebes, Habgier – kann auf die erforderliche Verwerflichkeit geschlossen werden.919 Allerdings weist das Merkmal der „sonstigen niedrigen Beweggründe“ insoweit Be- 206 sonderheiten auf, als es sich hierbei um eine Verweisung auf außerrechtliche Normen handelt. Als weitere Beispiele, die solche Verweise enthalten, können die Verwerflichkeit nach § 240 Abs. 2 und die „guten Sitten“ in § 228920 genannt werden. Die Wertausfüllungsbedürftigkeit dieser Begriffe ist keine qualitative, sondern – da auf die Wirklichkeit verwiesen wird – eine quantitative.921 Hier kommt es nach der Rechtsprechung auf die allgemeine Überzeugung an, so dass ein gesichertes Urteil vorliegen muss und Einzelund Sonderansichten ausgeschlossen sind.922 Soweit der Gesetzgeber durch wertausfüllungsbedürftige Begriffe auf außerrechtliche Normen verweist, hat er zwar auf eine eigene legislatorische Entscheidung verzichtet. Dies bedeutet jedoch nicht, dass er auch von der allgemeinen Auffassung abweichende Ansichten gelten lassen will.923 Umstritten ist insbesondere, ob es ausreicht, dass sich ein eindeutiges negatives moralisches Urteil, z.B. im Rahmen des § 228, treffen lässt, weil alle vertretbaren Interpretationen zum Vorliegen des wertausfüllungsbedürftigen Begriffs führen,924 oder ob dieses Urteil einer Konkretisierung des Missbilligungsurteils anhand anderer gesetzlicher Vorschriften bedarf,925 mit der Folge, dass der Begriff der „guten Sitten“ in § 228 in Anlehnung an § 216 restriktiv auf konkret lebensgefährliche Körperverletzungen und irreversible schwerste Beeinträchtigungen beschränkt werden und die Verwerflichkeit in § 240 Abs. 2 auf rechtlich legitimierbare soziale Ordnungsprinzipien zurückgeführt werden muss.926 Gegen die erstgenannte Auffassung könnte zum einen sprechen, dass auch eine allgemein verbreitete moralische Auffassung im Einzelfall auf verfassungsrechtlich bedenklichen Vorurteilen beruhen kann, welche die Rechtsprechung nicht übernehmen sollte. Deshalb sind solche Interpretationen als (rechtlich) nicht vertretbar auszuscheiden. Zum anderen sind Fälle denkbar, in denen sich eine legislatorische Wertentscheidung eindeutig aus dem Gesetzeskontext entnehmen lässt, so dass der Richter hieran gebunden ist, auch wenn

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917 Schroth S. 108; Köhler AT S. 87. 918 Roxin AT I § 5 Rdn. 75; Müller-Dietz FS Lenckner 191; vgl. auch Lemmel S. 180 ff. 919 Vgl. dazu Roxin AT I § 5 Rdn. 76. 920 Eingehend dazu Kargl JZ 2002 394 ff. 921 Hassemer/Kargl NK Rdn. 38 m.w.N. 922 BGHSt 4 32 (zu § 228); ähnlich BGHSt 2 194, 196; 17 329, 331 (zu § 240 Abs. 2); zustimmend Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 261. 923 So aber Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 22. 924 Engisch FS H. Mayer 399, 401; Grünwald ZStW 76 (1964) 1, 16; Jescheck/Weigend AT § 15 I 4; Ransiek S. 68 ff, 78; Roxin JuS 1964 373, 379 ff; Schlüchter NStZ 1984 300, 301 ff; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 22. 925 So Roxin AT I § 5 Rdn. 75, 77. 926 Roxin AT I § 5 Rdn. 77.

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diese Bewertung in der Allgemeinheit nicht geteilt wird.927 Deshalb ist es erforderlich, moralisierende Strafbegründungen als außerrechtliche Wertungen auf rechtlich vertretbare Wertungen zu reduzieren, die sich aus dem strafrechtlichen Regelungszusammenhang, aber auch und insbesondere aus dem Verfassungsrecht ergeben können.928 Die „guten Sitten“ können deshalb nicht mit Hilfe demoskopischer Untersuchungen eindeutig aufgeklärt werden; sie sind auch normativ zu bestimmen.929 207 Für eine pluralistische Gesellschaft mit weit auseinander laufenden Vorstellungen über Ethik und Moral ist es allerdings geradezu typisch, dass bei Verweisen auf ethischmoralische Vorstellungen in der Bevölkerung ein eindeutiges Sittenwidrigkeitsurteil nicht festgestellt werden kann. Damit wird aber die Vereinbarkeit von Verweisungen – wie sie sich in § 228 finden – mit Art. 103 Abs. 2 GG fragwürdig.930 Geht man gleichwohl von der Verfassungsmäßigkeit aus, so müsste das Fehlen eines Sittenwidrigkeitsurteils in der Gesellschaft zur Folge haben, dass die Einwilligung des Verletzten die Strafbarkeit wegen Körperverletzung stets ausschließt und ihre Wirksamkeit nicht an § 228 scheitern kann. Diesen Schluss zieht der Bundesgerichtshof jedoch nicht, sondern stellt auf einen „rechtlichen Kern“ der „guten Sitten“ ab (BGHSt 49 166, 169). Er nimmt eine restriktive Auslegung vor, indem er fordert, dass „bei vorausschauender objektiver Betrachtung der Einwilligende durch die Körperverletzung in konkrete Todesgefahr gebracht wird“.931 Angesichts der zunehmenden Verflüchtigung eindeutiger Sittenwidrigkeitsurteile sollte der Gesetzgeber solche Regelungen streichen und seiner Verantwortung nachkommen, die Strafbarkeit und ihre Grenzen selbst zu bestimmen, indem er den Verweis auf Ethik und Moral durch eine Formulierung ersetzt, die auf die mit der Körperverletzung verbundene konkrete Todesgefahr für den Einwilligenden abstellt.932 Neben Generalklauseln wie den „guten Sitten“ und der Verwerflichkeit im Rahmen 208 des § 240 Abs. 2 sind gesetzliche Maßfiguren wie die des ordentlichen Kaufmanns oder des sorgfältigen Geschäftsleiters oder Maßstäbe wie der der gewissenhaften Rechnungslegung oder der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters zu nennen, die gleichermaßen auf außerrechtliche Anschauungen und Übungen verweisen. Die bewusste Weite dieser Klauseln dient dem Zweck, eine Anpassung an die Veränderung der Auffassungen und Verhältnisse zu ermöglichen, ohne dass das Gesetz den tatsächlichen Veränderungen angepasst werden muss. Bezüglich des empirischen Bestandteils ist der Grundsatz in dubio pro reo anzuwenden. Bezüglich der normativen Anteile sind die unbestimmten Gesetzesbegriffe und Maßstäbe im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG vom Strafrichter restriktiv auszulegen.933 So sollen Falschbewertungen nur bei Willkür, das heißt, bei Nichtverwendung rationaler, überprüfbarer Maßstäbe strafbar sein, wenn die

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927 Roxin AT I § 5 Rdn. 73; vgl. auch Jakobs AT 4/32. 928 Vgl. auch BGHSt 49 166, 169, der – anders als BGHSt 49 34 – nicht auf die „guten Sitten“ im klassischen Sinne abstellt, sondern nach dem „rechtlichen Kern“ der guten Sitten fragt. Weitergehend Jakobs AT 4/32, der nicht nur eine Reduzierung der moralischen Werturteile auf rechtlich vertretbare, sondern eine Ersetzung der moralischen durch rechtliche Wertungen fordert. Vgl. auch Moreso in Kudlich/Montiel/Schuhr S. 145, 159 ff. 929 Vgl. auch Hassemer/Kargl NK Rdn. 38. 930 Verfassungswidrigkeit nehmen an: Paeffgen/Zabel NK § 228 Rdn. 53; Rönnau Jura 2002 665, 668; Sternberg-Lieben Schranken der Einwilligung (1997) S. 136, 162; ders. GedS Keller (2003) 289 ff. 931 BGHSt 49 166; vgl. auch BGHSt 49 34, 44; zustimmend Hirsch JR 2004 475; Stree NStZ 2005 40; vgl. auch Krey/Hellmann/Heinrich BT 1 Rdn. 341; Otto AT § 8 Rdn. 122; Rengier BT 2 § 20 Rdn. 5; Roxin AT I § 13 Rdn. 61 ff; Wessels/Hettinger/Engländer BT 1 Rdn. 354. 932 Kühl FS Otto 63, 71. 933 BVerfGE 48 48, 61 f; grundlegend Lenckner JuS 1968 304 ff; Tiedemann in Belke/Oehmichen Wirtschaftskriminalität S. 34 f; vgl. auch ders. Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 258.

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Wertangabe als „schlechterdings nicht mehr vertretbarer erscheint“.934 Entsprechend wird für die Feststellung einer strafrechtlich erheblichen Überschuldung, die Voraussetzung der Strafbarkeit nach § 283 StGB und § 84 GmbHG ist, eine Berechnung als maßgebend angesehen, die auch ernsthaft vertretbaren abweichenden Berechnungsweisen gerecht wird.935 Die Unwirtschaftlichkeit von Ausgaben bei § 283 Abs. 1 Nr. 2 wird nur im Falle eindeutiger kaufmännischer Unvertretbarkeit angenommen.936 Soweit Straftatbestände die kaufmännische Verkehrssitte in Bezug nehmen, enthält dieser Verweis wiederum zwei Bestandteile: einen empirischen Bestandteil – nämlich die Verkehrsübung – und einen normativen Bestandteil, der in dem Erfordernis der Anerkennung oder Werthaftigkeit der Übung zum Ausdruck kommt. Letzterer wird durch Rechtsprechung und Lehre mitgestaltet. Auch hier dürfen der normativ-wertenden Entscheidung nur gesicherte allgemeine Maßstäbe und Wertungen sowie eine „gefestigte“ Rechtsprechung zugrunde gelegt werden. Es gilt, dass die Wertung des Täters eindeutig unvertretbar sein muss.937 Allgemein lässt sich somit sagen: Gegen die Verwendung unbestimmter Rechtsbe- 209 griffe und wertausfüllungsbedürftiger Generalklauseln, die als extreme Formen normativ unbestimmter Tatbestandsmerkmale verstanden werden können,938 bestehen jedenfalls dann keine Bedenken, wenn sich mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden – insbesondere durch Heranziehung anderer Vorschriften desselben Gesetzes, unter Berücksichtigung des Normzusammenhangs mit anderen Gesetzen oder auf Grund einer gefestigten Rechtsprechung (Rdn. 188, 201) – eine zuverlässige Grundlage für die Auslegung und Anwendung der Norm gewinnen lässt, so dass der Einzelne die Möglichkeit hat, den durch die Strafnorm geschützten Wert sowie das Verbot bestimmter Verhaltensweisen zu erkennen und die staatliche Reaktion vorauszusehen.939 Diese Voraussetzung ist nicht gegeben, wenn eine Strafvorschrift einen „Verstoß gegen die öffentliche Ordnung“ oder ein „Handeln gegen die Interessen“ der alliierten Streitkräfte oder eines ihrer Mitglieder für strafbar erklärt.940 Ebenso ist das Merkmale des „großen Ausmaßes“ bei der Steuerhinterziehung (§ 370a AO) zu unbestimmt, denn durch Auslegung lässt sich nicht bestimmen, unter welchen Voraussetzungen dieses Merkmal zu bejahen ist, zumal dieses Merkmal die Abgrenzung von dem Vergehen des § 370 AO und dem Verbrechen des § 370a AO leisten soll (s. auch Rdn. 314).941 Deshalb ist mit der Rechtsprechung des fünften Senats des Bundesgerichtshofs942 und weiten Teilen der Literatur943 von der Verfassungswidrigkeit des § 370a AO auszugehen.

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934 So Sch/Schröder/Perron § 265b Rdn. 39; ebenso Kießner S. 64; Lackner/Kühl/Heger § 265b Rdn. 5; Tiedemann LK12 § 265b Rdn. 66; ders. Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 259; vgl. auch Schlüchter NStZ 1984 301. 935 BGH wistra 2003 457, 459; Tiedemann LK12 Vor § 283 Rdn. 158 m.w.N. 936 Tiedemann LK12 § 283 Rdn. 65 m.N. 937 Rönnau/Hohn NStZ 2004 113, 118; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht und Wirtschaftskriminalität Bd. I S. 198 f; ders. Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 259. 938 Enderle S. 186 f im Anschluss an Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 95 ff m.w.N. 939 BVerfGE 45 363, 371 f; 48 48, 56 f; BVerfG NStZ 1991 383; problematisierend Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 7; Claß FS Eb. Schmidt 122 ff; Naucke Generalklauseln S. 3 ff; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 253 ff m.w.N. 940 BayVerfGH BayGVBl. 1952 8 f. 941 Vgl. Lutfullin S. 109 ff, 159, 166 ff m.w.N. Eingehend zu den hieraus resultierenden Konsequenzen Fahl ZStW 114 (2002) 794, 804. 942 BGH NJW 2004 2990 ff; NJW 2005 374 ff. 943 Vgl. nur Harms FS Kohlmann 413, 419 ff; Rüping DStR 2004 1780; aA Hunsmann NStZ 2005 72, 75.

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Selbst eine Häufung unbestimmter Rechtsbegriffe soll nach der Rechtsprechung mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar sein, wenn mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden eine hinreichend bestimmte Auslegung der Norm möglich ist.944 Hiergegen wird eingewandt, dass dadurch die Erkennbarkeit der Strafbarkeit für den Bürger vernachlässigt werde. Der Umstand, dass es dem Rechtsanwender mit Hilfe juristischer Technik möglich sei, eine Strafnorm zu interpretieren, heiße gerade nicht, dass sie auch für den Laien verständlich und damit das Verbot erkennbar sei. Hierbei werde die Forderung des Bundesverfassungsgerichts945 nicht ernst genommen, dass ein Tatbestand nur dann hinreichend bestimmt sei, wenn die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret umschrieben sind, dass der Einzelne die Möglichkeit hat, sein Verhalten auf die Rechtsfolge einzurichten, und wenn außerdem die Tragweite des Anwendungsbereichs des Straftatbestandes erkennbar ist. Gerade dies sei bei einer solchen Häufung unbestimmter Rechtsbegriffe nicht der Fall.946 Abgrenzungskriterium für die noch hinreichende Bestimmtheit muss auch hier sein, dass die tatbestandliche Grenzziehung wesentlich vom Gesetzgeber geleistet worden sein muss und nur im praktischen Ausnahmefall dem Auslegungsspielraum des Rechtsanwenders überlassen sein darf. Zwar sind pauschale Forderungen nach größtmöglicher Bestimmtheit durch deskriptive Begriffe und sonstige Quantifizierungen von Tatbestandsmerkmalen zu Lasten wertausfüllungsbedürftiger Begriffe nicht realisierbar und die in der Literatur teilweise geforderte höchstmögliche Präzision947 hätte zur Folge, dass nicht unerhebliche Teile des deutschen Strafrechts verfassungswidrig wären.948 Wohl aber ist die Forderung nach einer „Optimierung“ des Bestimmtheitsgrundsatzes zu stellen, verstanden als ein Prinzip, das durch Gegenprinzipien der Verfassung begrenzt werden kann (näher dazu Rdn. 195 f).949

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dd) Berücksichtigung des Adressatenkreises. Ein allgemeiner Leitgesichtspunkt, der bei der Bestimmung der Bestimmtheitsanforderungen zu berücksichtigen ist, kann – entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Rdn. 187) – neben der Schwere der Strafe (Rdn. 186) der Adressatenhorizont sein: Die Vorhersehbarkeit kann mit davon abhängen, an welchen Kreis von Adressaten sich die Strafvorschrift wendet. Richtet sie sich ausschließlich an Personen, bei denen auf Grund ihrer Ausbildung oder praktischen Erfahrung bestimmte Fachkenntnisse regelmäßig vorauszusetzen sind, und regelt sie Tatbestände, auf die sich solche Kenntnisse zu beziehen pflegen, so begegnet die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe unter dem Gesichtspunkt des Art. 103 Abs. 2 GG nach h.M. keinen Bedenken, wenn allgemein davon ausgegangen werden kann, dass der Adressat auf Grund seines Fachwissens imstande ist, den Regelungsinhalt solcher Begriffe zu verstehen und ihnen konkrete Verhaltensanweisungen zu entnehmen.950 Dadurch werden Erkundigungspflichten statuiert, deren Verletzung mit

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944 BVerfGE 45 363, 371 f; 87 209, 225 betr.§ 131; 92 1, 12; 96 68, 97 ff betr. § 13; BGHSt 28 312, 313; Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 64; Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 40; Fischer Rdn. 15. 945 BVerfGE 14 174, 185; 25 269, 285; 32 346, 362; 87 209, 224; 105 135, 153. 946 So Schmitz MK Rdn. 50. 947 BVerfGE 45 363, 371 f; 92 1, 12; Lenckner JuS 1968 304, 305; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 20; Wassermann AK-GG Art. 103 Rdn. 52; kritisch Schmitz MK Rdn. 45. 948 Hassemer/Kargl NK Rdn. 17; Jakobs AT 4/1; Schmitz MK Rdn. 45. 949 Denninger S. 13 ff; zust. Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 41; Paeffgen/ Zabel NK Vor § 32 ff Rdn. 57. 950 BVerfGE 14 245, 252; 48 48, 57; 75 329, 342 f; 78 374, 382 f; BVerfG NJW 1992 2624; BGHSt 37 266, 272; Hill in Isensee/Kirchhof HStR2 Bd. 6 § 156 Rdn. 63 ff, 66.

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dem Verstoß gegen die Strafnorm zum Teil gleichgesetzt wird.951 Dies ist allenfalls dann gerechtfertigt, wenn es sich um einen feststehenden Kreis spezieller Normadressaten handelt, der seinerseits hinreichend bestimmt sein muss.952 Hiervon ist auch das Bundesverfassungsgericht ausgegangen, das den Adressatenkreis zunächst für das Disziplinarrecht der Beamten und das Standesrecht der Rechtsanwälte herausgearbeitet953 und sodann auf Pflichten von Kaufleuten nach dem Handelsgesetzbuch und der (früheren) Konkursordnung (jetzt: Insolvenzordnung) übertragen hat.954 Schließlich wurde dieser Gedanke auf Betreiber gewisser technischer Anlagen angewandt, von denen erwartet werden könne, dass sie sich in Zweifelsfällen über die Genehmigungsbedürftigkeit sachkundig machen.955 Damit ist der äußerste Rahmen erreicht, der durch das Abstellen auf den Kreis von Adressaten der Vorschrift noch vertretbar erscheint.956 Erwägungen dieser Art sowie der Umstand, dass es nur um die Abgrenzung zur Ordnungswidrigkeit ging, mögen dazu beigetragen haben, dass die Gültigkeit einer so dehnbaren Norm wie § 3 WiStG 1954 i.d.F. vom 21.12.1958957 trotz der Häufung unbestimmter Abgrenzungskriterien (s. dazu Rdn. 210) in der Rechtsprechung anscheinend nicht in Zweifel gezogen worden ist.958 Nach dieser Vorschrift hing die Strafbarkeit von Zuwiderhandlungen gegen bestimmte wirtschaftsrechtliche Vorschriften und Preisregelungen davon ab, ob „1. die Tat ihrem Umfang oder ihrer Auswirkung nach geeignet ist, die Ziele der Wirtschaftsordnung, insbesondere einer geltenden Marktordnung oder Preisregelung, erheblich zu beeinträchtigen, oder 2. der Täter die Zuwiderhandlung hartnäckig wiederholt, gewerbsmäßig, aus verwerflichem Eigennutz oder sonst verantwortungslos handelt und durch sein Verhalten zeigt, dass er das öffentliche Interesse an dem Schutz der Wirtschaftsordnung, insbesondere einer geltenden Marktordnung oder Preisregelung, missachtet.“ Immerhin wurde diese Klausel vom Gesetzgeber aber wegen ihrer Unbestimmtheit 212 aufgehoben.959 ee) Rolle der Rechtsprechung. Unklarheiten, die in Grenzfällen über die Reich- 213 weite eines Strafgesetzes bestehen können, machen das Gesetz (auch ein Blankettstrafgesetz) nicht ungültig. Solche Unklarheiten müssen durch die Rechtsprechung oder weitere Gesetzgebung behoben werden (dazu bereits Rdn. 201).960 Die Konkretisierung des Gesetzes durch Richterspruch ist der klassische Weg, die Offenheit des Gesetzes in eine bestimmte Entscheidung zu überführen. Hiervon geht die grundgesetzliche Gewaltenteilung aus. Dies gilt auch für strafrechtliche Spezialgebiete wie das verwaltungsakzessorisch ausgestaltete Umweltstrafrecht, z.B. für § 327 Abs. 2 Nr. 1;961 allerdings können sich auf Grund der Eigengesetzlichkeiten und Regelungsziele des Verwaltungsrechts einer-

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951 So Schmitz MK Rdn. 54?; vgl. auch v. Münch/Kunig/Kunig Art. 103 Rdn. 29; Krahl S. 319 f; Wassermann AK-GG Art. 103 Abs. 2 Rdn. 52. 952 Maunz/Dürig/Schmidt-Aßmann Art. 103 Abs. 2 Rdn. 189 (bis 79. EL 2016). 953 BVerfGE 26 186, 204. 954 BVerfGE 48 48, 57. 955 BVerfGE 75 329, 345. 956 Maunz/Dürig/Schmidt-Aßmann Art. 103 Abs. 2 Rdn. 189 (bis 79. EL 2016). 957 BGBl. I S. 949. 958 Vgl. die Kommentierung bei Ebisch Wirtschaftsstrafgesetz (1959) § 3 Rdn. 1 ff. 959 Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 139 m.N. 960 BVerfGE 14 245, 253; 51 60, 73 f; 75 329, 341 f. 961 BVerfGE 75 329, 340 ff.

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seits und des Strafrechts andererseits im Einzelfall bei der Anwendung dieser Strafvorschrift Probleme ergeben.962 Derartige Auslegungsschwierigkeiten können und müssen aber mit den im Strafrecht und Strafprozessrecht zur Verfügung stehenden Möglichkeiten bewältigt werden.963 Wenn Art. 103 Abs. 2 GG gleichwohl erhöhte Anforderungen an die Bestimmtheit des Strafrechts stellt, soll dadurch die Vorhersehbarkeit für den Normadressaten in höherem als dem sonst notwendigen Maße sichergestellt und der Parlamentsvorbehalt gestärkt werden.964 Deshalb ist es bedenklich, wenn generell auf die gefestigte Rechtsprechung verwiesen wird, um Normen die erforderliche Bestimmtheit zu attestieren (Rdn. 188, 201).965 Wortsinn und anerkannte Rechtsprechung sind gerade nicht gleichrangige Erkenntnisquellen.966 Außerdem besteht bei Unklarheiten über die Reichweite eines Strafgesetzes die Mög214 lichkeit einer restriktiven verfassungskonformen Auslegung, durch die sichergestellt wird, dass nur Rechtsverstöße, die den Kernbereich der Strafnorm betreffen, zur Strafbarkeit führen, und im Randbereich auf die Anwendung des Strafrechts verzichtet wird (näher dazu Rdn. 326 ff). Allein aus dem Grund, dass der maßgebende Gesetzeswortlaut zu unbefriedigenden Ergebnissen führen kann, wird ein hinreichend bestimmtes Strafgesetz allerdings nicht zu einem (im dargelegten Sinne) unzureichend bestimmten. Art. 103 Abs. 2 GG schützt nicht gegen sachlich missglückte Strafvorschriften. Er besagt vielmehr, dass sich der Gesetzgeber beim Wort nehmen lassen muss. Den Gerichten ist es verwehrt, ihn zu korrigieren.967 Daraus sich ergebende Möglichkeiten einer „Umgehung“ des Tatbestandes sind als Folge der Verpflichtung des Gesetzgebers hinzunehmen, die Voraussetzungen der Strafbarkeit durch konkrete Umschreibung der Tatbestandsmerkmale möglichst präzise zu bestimmen.968 Entsprechendes gilt, wenn besonders gelagerte Einzelfälle aus dem Anwendungsbereich eines Strafgesetzes herausfallen, auch wenn das Verhalten – in ähnlicher Weise wie das vom Gesetzeswortlaut erfasste – strafwürdig erscheint.969 Umgehungssachverhalte dürfen allerdings im Rahmen der Auslegung in den Grenzen des Art. 103 Abs. 2 GG erfasst werden (Rdn. 264 ff). 215

ff) Verschleifungsverbot. Die Auslegung eines Tatbestandsmerkmals darf nicht dazu führen, dass die durch den Gesetzgeber intendierte, ggf. auch durch ein anderes Merkmal bewirkte Eingrenzung der Strafbarkeit im Ergebnis wieder aufgehoben wird. Nach früheren Formen dieses Grundsatzes hatte das Bundesverfassungsgericht bereits in seiner „Tanz der Teufel“-Entscheidung eine konturlos weite Auslegung von § 131 Abs. 1 StGB beanstandet970 und in der zweiten Sitzblockadenentscheidung den weiten psychischen Gewaltbegriff für mit Art. 103 Abs. 2 GG unvereinbar erklärt.971 In seiner UntreueEntscheidung hat es dann nicht nur ein Entgrenzungsverbot, sondern auch ein Ver-

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962 Etwa zur Frage der Auswirkungen einer mit schweren Mängeln behafteten erteilten Genehmigung, der behördlichen Duldung einer nicht genehmigten Anlage nach § 20 Abs. 2 S. 1 BImSchG oder der irrtümlichen Annahme der Verwaltungsbehörde, eine Anlage sei nicht genehmigungsbedürftig. 963 BVerfGE 75 329, 346. 964 Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 46. 965 BVerfGE 45 363, 371 f; 48 48, 56 f; 85 69, 73; 93 266, 292; 94 372, 394; 96 68, 98 f; BGHSt 38 120, 121 f; 43 158, 167 f. 966 Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 84. 967 BVerfGE 47 109, 123 f; 64 389, 393; 71 108, 115 f; 73 206, 236. 968 BVerfGE 71 206, 217. 969 BVerfGE 73 206, 236. 970 BVerfGE 87 209, 229 f. 971 BVerfGE 92 1, 16 ff. Danach akzeptierte es dann allerdings die „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“, BVerfGK 18 365 = NJW 2011 3020 ff.

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schleifungsverbot formuliert.972 Dabei geht die Aussage „Tatbestandsmerkmale dürfen also auch innerhalb ihres möglichen Wortsinns nicht so weit ausgelegt werden, dass sie vollständig in anderen Tatbestandsmerkmalen aufgehen, also zwangsläufig mit diesen mitverwirklicht werden“,973 zu weit, wenn man sie – wie sie allerdings (unglücklich) formuliert ist – unabhängig von der logischen Struktur der Vorschrift versteht. Es wäre z.B. sinnwidrig, im Zerstören bei § 303 Abs. 1 StGB etwas anderes als eine besondere Form der Beschädigung zu sehen, und dies würde – weil die Merkmale durch „oder“ verknüpft sind – auch keineswegs zur Begrenzung beitragen, sondern müsste zwangsläufig zu einer weiteren Ausdehnung (über das Beschädigen hinaus) führen, und das in unvorhersehbarer Weise (weil es die Grenzen der Wortbedeutung im Kontext verletzen würde). Ganz so schematisch darf das Verschleifungsverbot nicht verstanden werden. Richtig – und vom Bundesverfassungsgericht auch genau so angewendet – ist aber der Grundsatz, dass bei kumulativen Voraussetzungen974 keine für sich genommen oder gemeinsam mit anderen so verstanden werden darf, dass die Norm einen weiteren Anwendungsbereich erhält als vom Gesetzgeber intendiert, anhand der Wortbedeutung erkennbar und nach der üblichen Handhabung, insbesondere nach bestehender Rechtsprechung, vorhersehbar. Weder die Auffassung einzelner Merkmale für sich genommen noch ihre Verknüpfung darf gegen eine dieser Vorgaben verstoßen, und zwar weder wenn man auf die Vorgaben zu den einzelnen Merkmalen, noch wenn man auf die Formulierung der Vorschrift im Zusammenhang blickt. Im entschiedenen Fall ging es darum, dass Gerichte aus dem Eintritt eines Schadens (Nachteils) auf eine Pflichtverletzung geschlossen hatten. Dies beanstandete das Bundesverfassungsgericht ganz zu Recht.975 Der Schaden ist nämlich ex post zu bestimmen, während der konkrete Inhalt der Vermögensbetreuungspflicht und die tatsächlichen Umstände, die für die Pflichtgemäßheit oder Pflichtwidrigkeit des Verhaltens des Vermögensbetreuungspflichtigen relevant sind, ex ante aus der Perspektive des Letzteren zu bestimmen sind. Der Schluss vom Schaden auf die Pflichtwidrigkeit ist (ebenso wie jeder Schluss vom Erfolgseintritt auf die Tathandlung) logisch und semantisch unzulässig, und der Fehler führt zu einer weit über die gesetzlich bestimmte Strafbarkeit hinausgehenden „Anwendung der Vorschrift“. Dieser Typ der Verschleifung verletzt darüber hinaus auch das Schuldprinzip in eklatanter Weise. Dem Bundesverfassungsgericht ist indes auch darin zuzustimmen, dass nicht erst di Abweichung von den Grundsätzen des Tatstrafrechts und dem Erfordernis individueller Verantwortlichkeit einen Art. 103 Abs. 2 GG verletzenden Fehler begründen. Vielmehr begründet jede logisch oder semantisch unzulässige Operation (Auslegung oder Verknüpfung von Auslegungsergebnissen) im Zuge der Normanwendung einen solchen Fehler, wenn dadurch der Anwendungsbereich der Vorschrift überdehnt wird.976 Das bedeutet freilich nicht, dass jede von einem Autor unerwünschte Auslegung von diesem auch zu Recht als Verstoß gegen das Verschleifungsverbot apostrophiert werden könnte. Die Auslegung als solche ist erst einmal eine strafrechtliche Frage und verfassungsrechtlich nur auf die Einhaltung des Rahmens aus Art. 103

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972 BVerfGE 126 170, 197 f (Rdn. 77 f), 211 (Rdn. 112), 228 ff (Rdn. 148 ff); dazu Saliger SSW § 266 Rdn. 4, 8; Bittmann wistra 2013 1 ff; Schlösser NStZ 2012 473, 475 f, 478; Kuhlen FS Neumann 943 ff; Saliger FS Fischer 523 ff. 973 BVerfGE 126 170, 198 (Rdn. 78). 974 BVerfG NJW 2015 2949 (Rdn. 68). 975 Vgl. auch Kuhlen JR 2011 246, 248, 251. 976 Vgl. zur Geldwäsche BVerfG NJW 2015 2949 (Rdn. 48 f, 62, 68); zur Steuerhinterziehung BGH NJW 2013 1750 (Rdn. 7 f); zur Untreue z.B. BVerfG BVerfGK 20 114 ff = NJW 2013 365, 366 f; BGH NJW 2019 378 (Rdn. 24).

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Abs. 2 GG hin zu überprüfen. Erst dann, wenn keine verfassungsrechtlich zulässige Auslegung der Einzelmerkmale bei logisch und semantisch zulässiger Verknüpfung der Einzelergebnisse das gefundene Gesamtergebnis zu tragen vermag (bzw. das Urteil keine solche nachvollziehbar darstellt), ist eine unzulässige Verschleifung festzustellen. Und dagegen schützt der Tatbestand auch bei politischem bzw. allgemeinem Bestrafungswunsch, wie etwa dem bzgl. einer strafrechtlichen Aufarbeitung der Subprime Crisis und ihrer Folgekrisen.977 216

d) Bestimmtheitserfordernis bei blankettausfüllenden außerstrafrechtlichen Normen. Das Strafrecht wird zunehmend auch als Mittel zur Ahndung von Verstößen gegen Normen des Verwaltungs- und Wirtschaftsrechts eingesetzt. Dadurch werden die Tatbestände keineswegs zwingend unbestimmt. Ganz im Gegenteil wird gerade durch die Inbezugnahme detaillierter außerstrafrechtlicher Regelungen ein hoher Grad an Bestimmtheit erreicht. Die Konkretisierung offener Tatbestandsmerkmale durch andere Rechtsakte verbindet die Vorteile allgemeiner und nach Maßgabe der rechtsstaatlichen Publikationsgebote vorhersehbarer Maßstabsetzung mit den Vorzügen einer schrittweisen Verdichtung des Normprogramms, welche die Vorhersehbarkeit erhöhen.978 Allerdings erfordert dies vom Normadressaten nicht selten, dass er sich hierüber erst informieren muss, weil es sich in diesem Bereich nicht um delicta per se, sondern mala prohibita handelt. Damit der Bestimmtheitsgrundsatz nicht leer läuft, müssen auch Vorschriften, die selbst keine Strafgesetze sind, jedoch zur Ausfüllung eines strafrechtlichen Blanketts in Bezug genommen werden, den für Strafgesetze geltenden Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG entsprechen (Rdn. 152).979 So hat das Bundesverfassungsgericht das Bestimmtheitsgebot als verletzt angesehen, wo dem Betreiber einer Anlage eine Geldbuße nach § 62 Abs. 1 Nr. 3 BImSchG wegen Verletzung einer Nebenbestimmung auferlegt wurde, welche nicht hinreichend bestimmt war.980 Bei mehrfach gestuften Blanketten, wie bei § 34 Abs. 4 AWG a.F. (§ 18 Abs. 2 AWG n.F.),981 verflüchtigt sich unter Umständen die Bestimmtheit im Sinne einer Erkennbarkeit der Verbotsmaterie immer stärker, so dass diese Tatbestände auch unter dem Gesichtspunkt des Bestimmtheit fragwürdig werden können. 982 Insbesondere muss auf den Verständnishorizont des Normadressaten und nicht des Rechtsanwenders abgestellt werden. Allerdings darf hierbei berücksichtigt werden, dass es sich in der Regel um Rechtsnormen handelt, die sich ausschließlich an einen bestimmten Adressatenkreis richten (näher dazu Rdn. 211). Bei Verweisungen auf Rechtsakte der Europäischen Union besteht zudem die Besonderheit, dass sie autonom zu interpretieren983 und bei der Auslegung alle 24 Sprachfassungen zu berücksichtigen sind. Daraus ergibt sich kein generelles Argument gegen die Zulässigkeit von unionsrechtsakzessorischen Blankettvorschriften; im Einzelfall wä-

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977 Dazu Strate HRRS 2009 441 ff; Jahn wistra 2013 41 ff; Kubiciel ZIS 2013 53 ff. 978 Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 112; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 97 ff, 239 ff. 979 BVerfGE 14 245, 251; 75 329, 342; BVerfG NJW 1992 107; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 241 ff. 980 BVerfG NVwZ 2012 504 ff. 981 Näher dazu L. Schulz ZIS 2006 499, 504 ff; Herzog wistra 2000 41, 44, sieht darin eine „zunehmende Ersetzung von Recht durch Politik und damit eine Zersetzung der Garantiefunktionen des Strafrechts“. 982 Zur Bestimmtheitsproblematik des früheren Tatbestandsmerkmals „Eignung zur Gefährdung der auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland“ (vgl. etwa § 34 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 6 Nr. 4 lit. c AWG a.F.) BVerfGE 110, 33, 67 f; BGHSt 53, 128, 132 f; 238, 249. 983 Moll S. 153 f; Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht § 9 Rdn. 70; Schützendübel S. 272.

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ren aber „konkrete, mehrsprachigkeitsbedingte Unklarheiten“984 als die Bestimmtheit schmälernd zu berücksichtigen.985 e) Bestimmtheitsanforderungen an rechtsnormative Tatbestandsmerkmale. 217 Hingegen gilt der strafrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz nicht für Normen, die zur Konkretisierung rechtsnormativer Tatbestandsmerkmale erforderlich sind. Beispiele geben die gesetzlichen Vorschriften über die Eigentumsordnung, die für die Anwendung strafrechtlicher Tatbestände wie der §§ 242, 246 erheblich sind,986 und die pflichtbegründenden Normen (der Vermögensbetreuungspflicht), auf die das Merkmal der Pflichtwidrigkeit in § 266 StGB verweist987 (zur Abgrenzung zwischen Blankettmerkmalen und normativen Tatbestandsmerkmalen s. Rdn. 149). f) Allgemeiner Teil. Wenig geklärt ist, ob und in welchem Umfang der Bestimmt- 218 heitsgrundsatz für den Allgemeinen Teil des Strafrechts gilt (Rdn. 173 f). Der Gesetzgeber hat sich in diesem Bereich weitgehend aus den dogmatischen Streitfragen herausgehalten und deren Fortentwicklung der Rechtsprechung überlassen (Rdn. 174). Der Gesetzgeber trägt dem Bestimmtheitsgebot insoweit in erster Linie durch die Un- 219 terscheidung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit (§§ 15, 18) sowie durch die Anordnung Rechnung, dass strafbar nur vorsätzliches Handeln ist, wenn nicht das Gesetz fahrlässiges Handeln ausdrücklich mit Strafe bedroht (§ 15). Die Ausführungen zur Zulässigkeit der Verwendung relativ unbestimmter Merkmale im Tatbestandsbereich (Rdn. 198 ff) gelten in diesem Zusammenhang entsprechend. Zweifel werden gelegentlich im Bereich des Allgemeinen Teils an der Verfassungs- 220 mäßigkeit der Gleichstellungsklausel des § 13988 und der Fahrlässigkeitsinkriminierung gemäß § 15 geäußert, weil sich der Gesetzgeber jeder Definition enthalten hat.989 Die h.M. bejaht sowohl im Hinblick auf die Strafbarkeit des unechten Unterlassungsdelikts gemäß § 13 als auch auf die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit gemäß § 15 die Vereinbarkeit mit dem Bestimmtheitsgrundsatz.990 So hat das Bundesverfassungsgericht 991 entschieden, dass § 13 dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG genügte.992 Wie dargelegt (Rdn. 174), setzt Art. 103 Abs. 2 GG nach h.M. nicht voraus, dass strafrechtliche Regelungen ausschließlich der Rechtsquelle des förmlichen Gesetzes entspringen; gerade auf dem Gebiet des Allgemeinen Teils kann der Gesetzgeber zur Rechtsfortbildung „intra legem“ ermächtigen, indem er nur über die wesentlichen Voraussetzungen der Strafbarkeit entscheidet (Rdn. 173). Unter diesem Gesichtspunkt können Regelungen wie § 13

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984 BVerfG wistra 2010 396, 404. 985 Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht § 9 Rdn. 69; Satzger/Langheld HRRS 2011 460, 464 erachtet die Mehrsprachigkeit als grundlegendes und systemimmanentes Bestimmtheitsproblem bei allen auf Unionsrecht verweisenden Blanketten. 986 BVerfGE 76 205, 213; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 248. 987 Vgl. nur BGH NStZ 2010 632, 634 m. Anm. Beckemper ZJS 2010 554, 557; Radtke GmbHR 2008 729, 735 f m.w.N. Dazu auch Beulke FS Eisenberg 245, 250 ff; Perron in Hilgendorf, Gesetzlichkeitsprinzip S. 211, 212. 988 Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 276 f; Köhler AT S. 89; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 86, 100; Schmitz MK Rdn. 29, 56 f; Wohlers MK § 13 Rdn. 13. 989 Duttge S. 208 ff; ders. FS Kohlmann 13, 26 ff; ders. JZ 2014 261, 266 ff; ders. MK § 15 Rdn. 36 f; Schmitz MK Rdn. 58 ff; ders. FS Samson 181 ff. Dagegen Herzberg ZIS 2011 444 ff. 990 Bohnert ZStW 94 (1982) 68 ff; Lenckner JuS 1968 304; Jäger SK Rdn. 36; vgl. aber auch Tiedemann Verfassungsrecht und Strafrecht S. 42 m.w.N. (Beschränkung auf eindeutige Maßstäbe). 991 BVerfGE 96 68, 98 f. 992 Hingegen nehmen Köhler AT S. 89; Schöne Unterlassene Erfolgsabwendungen und Strafgesetz (1974) S. 341 ff und Schmitz MK Rdn. 57 Verfassungswidrigkeit des § 13 StGB an.

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und § 15 in Übereinstimmung mit der h.M.993 als noch mit dem Bestimmtheitsgebot vereinbar angesehen werden.994 Die h.M. in der Literatur verneint ein Eingreifen des Art. 103 Abs. 2 GG bei den straf221 rechtlichen Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen,995 während das Bundesverfassungsgericht und auch der Bundesgerichtshof zu Recht davon ausgehen, dass Rechtfertigungsgründe nicht generell vom Anwendungsbereich des Bestimmtheitsgebots ausgeschlossen sind.996 Allerdings kann es nicht überzeugen, außerstrafrechtliche Regelungen, die für das Strafrecht Geltung erlangen wie die zivilrechtlichen Rechtfertigungsgründe, vom Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 2 GG auszunehmen (s. oben Rdn. 177).997 Freilich gilt Art. 103 Abs. 2 GG nur, soweit Regelungen zu Lasten des Bürgers angewendet werden (zum Nichteingreifen des Bestimmtheitsgrundsatzes bei Einschränkungen der Strafbarkeit sogleich Rdn. 222). Es kann also allein darum gehen, eine zu enge Auslegung, die den Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund entgegen der gesetzgeberischen Bewertung einschränkt, als verfassungswidrig – da mit dem Bestimmtheitsgebot nicht vereinbar – zu kennzeichnen. 222 Das Bestimmtheitsgebot gilt – anders als für den Straftatbestand und die Schuldformen – nicht für Strafausschließungsgründe im weitesten Sinne, welche die Strafbarkeit eines bestimmt umschriebenen Bereiches einschränken und sich insofern zugunsten des Täters auswirken.998 Solche Gründe hängen nicht selten von den Umständen des Einzelfalls ab. Insofern entziehen sie sich einer im Voraus bestimmbaren normativen Umschreibung. In derartigen Fällen ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn sich der Gesetzgeber mit sprachlich verständlichen, wertungsabhängigen Begriffen begnügt und deren Anwendung im Einzelfall dem Richter überträgt. Das gilt unabhängig davon, wie diese Gründe dogmatisch genau einzuordnen sind,999 ob als tatbestandsregulierendes Korrektiv, Rechtfertigungs-, Entschuldigungs-, Strafausschließungs- oder Strafaufhebungsgrund. 223

g) Strafdrohung. Das Gebot der Gesetzesbestimmtheit gilt nicht nur für den Straftatbestand, sondern auch für die angedrohten Strafen.1000 Dabei besteht Einigkeit, dass die Bestimmtheit der Rechtsfolge sowohl bezüglich der Art als auch bezüglich der Höhe

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993 Zu § 13: Jäger SK Rdn. 36; Rogall KK-OWiG § 3 Rdn. 39, jeweils m.w.N.; Zur Fahrlässigkeit: Herzberg GA 2001 568 ff; ders. NStZ 2004 593 ff; Jescheck/Weigend AT § 5 I 3; Jäger SK Rdn. 36; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 19, jeweils m.w.N., siehe aber auch Bohnert ZStW 94 (1982) 68 ff, 71 ff. 994 Zur Sonderproblematik der Vereinbarkeit unionsrechtlicher Sorgfaltsnormen mit dem Bestimmtheitsgebot und zur „Europäisierung der Unterlassungsdelikte“ C. Schröder NStZ 2006 669, 673. 995 Amelung JZ 1982 617, 620; ders. in Schünemann Grundfragen S. 85, 95; Günther FS Grünwald 213 ff; Hardwig ZStW 78 (1966) 1, 8 f; Hassemer/Kargl NK Rdn. 67a; Jakobs AT 4/44; Krey JZ 1979 612; ders. Studien S. 233 ff; Jakobs/Esser AT Rdn. 102; Lenckner JuS 1968 249, 252; Gribbohm LK11 Rdn. 73; Maurach JZ 1964 529, 536 f; Maurach/Zipf/Jäger § 8 Rdn. 41; Otto Jura 1986 426, 430 f; ders. AT § 2 Rdn. 26, 29; R. Schmitt FS Jescheck 223, 231 f; Schroeder JZ 1992 990, 991; Suppert S. 299; aA Dannecker FS Otto 25, 26; Erb ZStW 108 (1996) 266, 284 ff; 296 f; Hirsch LK11 Vor §§ 32 ff Rdn. 35; Paeffgen/ Zabel NK Vor § 32 ff Rdn. 57.; Ransiek S. 100 ff, 112 f; Jäger SK Rdn. 55; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 12; Würtenberger FS Rittler 125, 133. Zur Einordnung von „Metaregeln“ Tiedemann FS Baumann 7, 16 f. 996 BGHSt 39 1, 27. In diesem Sinne auch Satzger Jura 2016 154 ff. 997 Vgl. dazu Jakobs AT 4/44 Fn. 75. 998 Monographisch dazu Montiel Grundlagen und Grenzen der Analogie in bonam partem (2014), zu Grenzen dieses Grundsatzes dort S. 139 ff. 999 BVerfGE 73 206, 238 f; kritisch dazu aber Tiedemann Verfassungsrecht und Strafrecht S. 48. 1000 BVerfGE 14 245, 252; 25 269, 285; 45 363, 371; BGHSt 18 136, 140; BVerfG 105 135, 153; Sachs/ Degenhart Art. 103 Rdn. 63; Hassemer/Kargl NK Rdn. 15; Roxin AT I § 5 Rdn. 80 f; Jäger SK Rdn. 37; Schmitz MK Rdn. 18, 64; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 22. Monographisch Schier (2012).

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der Strafe vorliegen muss1001 und der Gesetzgeber abstrakte Sanktionsunter- und Sanktionsobergrenzen festzulegen hat.1002 Bei der Grenzziehung der noch hinreichend bestimmten und schon zu unbestimm- 224 ten Strafdrohungen geraten zwei Verfassungsprinzipien in ein Spannungsverhältnis: Rechtssicherheit durch Rechtsfolgenbestimmtheit auf der einen Seite und schuldbezogene Einzelfallgerechtigkeit auf der anderen Seite. Hier bedarf es einer Abwägung, bei der beiden für das Strafrecht unverzichtbaren Prinzipien möglichst viel an Substanz belassen bleibt (Rdn. 195 f): Der Gesetzgeber muss durch die Wahl der Strafdrohung seine Bewertung der gesetzlich beschriebenen Delikte sowohl für den Strafrichter als auch für den Bürger deutlich zum Ausdruck bringen. Auch der Bürger muss das Maß der drohenden Strafe abschätzen können. Außerdem muss dem Strafrichter die Festsetzung einer schuldangemessenen Strafe möglich bleiben. Dabei hat der Gesetzgeber die grundsätzlichen Entscheidungen über die Art und das Ausmaß der Rechtsfolgen selbst zu treffen. Hierbei gilt, dass die Anforderungen umso strenger sind, je intensiver der Eingriff wirkt. Je schwerer die angedrohte Strafe ist, desto höher sind die Anforderungen an den Strafgesetzgeber bezüglich der Bestimmtheit (Rdn. 186). aa) Anforderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Der Bundesge- 225 richtshof war in diesem Bereich bislang großzügiger, als es mit der Verfassung vereinbar ist. So hat es der Bundesgerichtshof nicht für erforderlich gehalten, dass die Strafart festgelegt ist und daher die Androhung einer Bestrafung „mit jeder zulässigen Strafe, jedoch mit Ausnahme der Todesstrafe“ als hinreichend bestimmt angesehen.1003 Ebenso wurde ein grenzenloser Strafrahmen bei einer Geldstrafenandrohung in unbestimmter Höhe akzeptiert,1004 obwohl dies zur Folge hat, dass keine hinreichende Sicherheit gegen Willkür besteht.1005 Das Problem hat für den Anwendungsbereich der Geldstrafe insofern an Bedeutung verloren, als Art. 12 Abs. 2 EGStGB die Geldstrafe von unbeschränkter Höhe1006 aus dem Sanktionensystem gestrichen hat.1007 Aber auch die derzeitige Weite des Strafrahmens bei der Geldstrafe von fünf bis einhundertachtzig bzw. bei einer Gesamtgeldstrafe von bis zu dreihundertsechzig Tagessätzen ist im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot rechtsstaatlich bedenklich und deshalb schwerlich hinzunehmen.1008 Der Bundesgerichtshof erklärte auch die Vermögensstrafe für noch verfassungsmäßig (näher dazu Rdn. 227 ff, 231).1009 Auch das Bundesverfassungsgericht war zunächst eher zurückhaltend bei der Über- 226 prüfung der strafrechtlichen Sanktionen am Maßstab des Bestimmtheitsgrundsatzes und hat zunächst offen gelassen, ob wegen der unterschiedlichen Funktion der einzelnen Bestandteile der Strafnorm (Tatbestandsbestimmung und Rechtsfolgenbestimmung) unter dem Gesichtspunkt des Bestimmtheitsgebots unterschiedliche Anforderungen an die gesetzgeberische Ausgestaltung des jeweiligen Normteils gestellt werden müssen.1010

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1001 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 13; kritisch zu den überweiten Strafrahmen im Besonderen Teil Schünemann Nulla poena S. 37. 1002 BVerfGE 73 206, 253 f. 1003 BGHSt 13 191. 1004 BGHSt 3 262. 1005 So zutreffend Roxin AT I § 5 Rdn. 81. 1006 Vgl. § 27c Abs. 3 a.F.; kritisch dazu Jäger SK Rdn. 38 m.w.N. 1007 Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 22. 1008 Bringewat Rdn. 171; Roxin AT I § 5 Rdn. 81; Stratenwerth/Kuhlen AT § 3 Rdn. 17; vgl. auch Jescheck/Weigend AT § 15 I 5; aA Jäger SK Rdn. 38; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 22. 1009 BGHSt 41 20 ff. 1010 BVerfGE 45 363, 371.

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Mit seiner Entscheidung zur Vermögensstrafe hat das Bundesverfassungsgericht indes im Jahr 2002 neue Impulse gesetzt und Leitgedanken für eine verfassungsrechtlich gebotene Bestimmtheit gesetzlicher Strafdrohungen formuliert (BVerfGE 105 135, 152 ff). In dieser Entscheidung wird die generelle Zurückhaltung bei der Kontrolle im Bereich der Sanktionsgestaltung, wie sie sich z.B. in der Entscheidung zur lebenslangen Freiheitsstrafe widerspiegelt,1011 aufgegeben, und es werden hohe Anforderungen an die gesetzliche Bestimmtheit der Rechtsfolgen der Tat gestellt. Drei Richter – di Fabio, Jentsch und Mellinghoff – kommen bezüglich der Vermögensstrafe in einem Minderheitsvotum zu dem Ergebnis, dass die Vermögensstrafe jedenfalls in der Auslegung durch den Bundesgerichtshof1012 (vgl. Rdn. 225) mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar sei,1013 weil der Bestimmtheitsgrundsatz in erster Linie den Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs betreffe und gesetzliche Verhaltenssteuerung durch Vorhersehbarkeit nur für die Voraussetzungen der Strafbarkeit sowie für Art und Obergrenze der Strafe erforderlich sei, nicht aber für die im Einzelfall angemessene Strafart und Strafhöhe. Demgegenüber fordert das Bundesverfassungsgericht mehrheitlich, dass der parlamentarische Gesetzgeber genau festlegen muss, ob eine Vermögensstrafe zu verhängen ist.1014 Außerdem müssten sich dem Strafrahmen grundsätzlich das Mindestmaß einer Strafe sowie eine Sanktionsobergrenze entnehmen lassen, damit der Gesetzgeber durch den begrenzten Strafrahmen einen Orientierungsrahmen für die richterliche Abwägung nach Tatunrecht und Schuldmaß festlege. Dabei ist es zulässig, dass sich das Mindestmaß der jeweiligen Strafe aus Vorschriften des Allgemeinen Teils des Strafrechts ergibt.1015 Schließlich habe der Gesetzgeber die „eigentliche Zumessung der Strafe“ zu regeln. Dies habe er nicht getan, obwohl er das „ohne Schwierigkeiten“ hätte tun können.1016 Damit hat sich das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich gegen uferlose Straf228 rahmen gewendet, welche die Bestimmung der konkreten Strafe zu einem unberechenbaren Akt richterlicher Entscheidung machen, weil dann das Verhältnis zwischen Unrecht und Schuld einerseits und der Sanktion andererseits unklar bleibt.1017 Die bereits unter der Weimarer Verfassung viel diskutierte Frage, ob nach oben unbegrenzte Strafen mit dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz vereinbar sind, hat das Bundesverfassungsgericht hiermit verneint. Das Bundesverfassungsgericht fordert weiterhin, dass der Gesetzgeber dem Richter 229 über die herkömmlichen Strafregeln hinaus besondere Leitlinien an die Hand gibt, die dessen Entscheidung hinsichtlich der Auswahl und der Bemessung der Sanktion vorhersehbar machen.1018 Der Gesetzgeber muss Wertungskriterien benennen, an die sich die strafrechtliche Entscheidung bei der Auswahl der Strafart und bei der Ausfüllung des konkreten Strafrahmens zu halten hat. Diesbezüglich führt das Bundesverfassungsgericht aus:1019 „Dabei sind die allgemeinen Regeln des Strafgesetzbuchs zur Strafbemessung (§§ 46 ff) – neben ihrer Bedeutung als Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Schuldprinzips (BVerfGE 86 288, 313) – auch eine Bedingung der Verwirklichung des Bestimmtheitsgebots. Nur mit Hilfe der kodifi-

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1011 1012 1013 1014 1015 1016 1017 1018 1019

BVerfGE 45 187, 245 ff; näher dazu Tiedemann Verfassungsrecht und Strafrecht S. 34 f. BGHSt 41 20, 24 ff. BVerfGE 105 135, 172 ff. BVerfGE 105 135, 159 ff. BVerfGE 105 135, 163 ff. BVerfGE 105 135, 168 ff. Bringewat Rdn. 173. BVerfGE 105 135, 155 f. BVerfGE 105 135, 156 f.

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zierten und richterrechtlich konkretisierten Strafzumessungsregeln wird es im Einzelfall gelingen, weite Strafrahmen handhabbar zu machen. So bieten erst die in § 46 aufgezählten traditionellen Strafzumessungsgründe und ihre richterrechtliche Ausformung die Gewähr dafür, dass eine Strafe nicht unbegrenzter richterlicher Diskretion überlassen ist, sondern innerhalb eines strukturierten Rahmens gefunden werden kann. Nur so ist sie für den Normadressaten voraussehbar und für die Strafjustiz kontrollierbar. Auch hier gilt, dass die Anforderungen an den Gesetzgeber in dem Maße wachsen, in dem er Rechtsfolgen androht, die besonders intensiv in Grundrechte eines Verurteilten eingreifen.“

Diese Anforderungen sind an alle strafrechtlichen Deliktsfolgen (Rdn. 89 ff) anzu- 230 legen. Sie stimmen mit der Forderung der Literatur überein, dass dem Richter wegen des Bestimmtheitsgebots hinreichend konkrete Kriterien für die Strafbemessung zur Verfügung gestellt werden müssen, wie dies z.B. durch die Strafzumessungsrichtlinien in § 46 geschehen ist.1020 Dieses Postulat ist umso wichtiger, als bei den Rechtsfolgen eine größere Unbestimmtheit als bei den Strafbarkeitsvoraussetzungen hingenommen wird, die durch die kodifizierten Strafzumessungsgrundsätze bis zu einem gewissen Grad ausgeglichen werden.1021 Das Bundesverfassungsgericht orientiert sich in der Entscheidung zur Vermögens- 231 strafe sehr stark am Gesetzlichkeitsprinzip, das eine Bewertung der Tat durch den demokratisch legitimierten Gesetzgeber erfordert, und weniger an der Bestimmtheit im Sinne der Vorhersehbarkeit. Wenn der Gesetzgeber eine neue Strafart einführt, muss er selbst die Entscheidung treffen, in welchem Verhältnis diese Strafart zu den bisherigen Sanktionen steht und diese insoweit ergänzt oder neben diese tritt. In einem kodifizierten und ausdifferenzierten Sanktionensystem sind solche Entscheidungen vom Gesetzgeber in der gleichen Tiefe und Dichte wie bei den übrigen Strafarten gefordert. Da der Gesetzgeber bei der Einführung der Vermögensstrafe durch § 43a diesem Erfordernis nicht Rechnung getragen hat, wurde diese Norm zu Recht für verfassungswidrig erklärt. bb) Vereinbarkeit der gesetzlichen Strafrahmen des Strafgesetzbuchs mit 232 Art. 103 Abs. 2 GG. Im Strafgesetzbuch werden üblicherweise mehrere Strafarten und daneben auch Maßnahmen (§ 11 Abs. 1 Nr. 8) und Nebenfolgen vorgesehen. In der jüngeren Gesetzesentwicklung werden die Strafrahmen aber dergestalt begrenzt, dass angedrohte Freiheitsstrafen, die (neben wahlweise Androhung von Geldstrafe) beim allgemeinen gesetzlichen Mindestmaß von einem Monat beginnen (§ 38 Abs. 2), bei zwei, drei oder fünf Jahren enden, und dass Androhungen im Höchstmaß von fünf, zehn oder fünfzehn Jahren bei drei oder sechs Monaten und im letzten Fall bei einem oder zwei Jahren beginnen. Mit diesen Vorgaben entspricht das Strafrecht den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts. Denn das Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit bedeutet nicht, dass die Rechtsfolge, die jeweils im Einzelfall verwirkt ist, als feste Größe unmittelbar dem Gesetz zu entnehmen sein müsste. Der Gesetzgeber genügt dem Bestimmtheitsgebot in diesem Bereich vielmehr in der Regel, indem er einen Rahmen für die Rechtsfolgenbemessung normiert. Dabei ist es zulässig, dass sich das Mindestmaß der jeweiligen Strafart aus Vorschriften des Allgemeinen Teils des Strafrechts ergibt. Wo die tatbestandsmäßige Handlung und ihr Erfolg verschiedene Grade der Schwere des Unrechts und der Schuld aufweisen können, ist es sogar geboten, dem Richter im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Möglichkeit flexibler Reaktion einzuräumen.1022

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1020 1021 1022

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Vgl. nur Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 13. Roxin AT I § 5 Rdn. 82. BVerfGE 45 187, 260; BGHSt 30 105, 110.

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Der Regelstrafrahmen wird häufig für „besonders schwere“ und für „minder schwere“ Fälle modifiziert, ohne dass sich dadurch der Deliktscharakter als Verbrechen oder Vergehen ändert (§ 12 Abs. 3).1023 Durch solche „Wertgruppen“ innerhalb der gesetzlichen Strafdrohungen soll der Richter nach h.M. gesetzliche Leitlinien für die Strafzumessung erhalten.1024 Mit der dogmatischen Einordnung der besonders schweren bzw. minder schweren Fälle als Strafzumessungsleitlinien soll erreicht werden, dass diese Regelungstechnik mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar ist.1025 Diese Charakterisierung ist jedoch wenig aussagekräftig. Entscheidend ist, dass der Deliktstatbestand, aus dem die Strafe zuzumessen ist, dem Bestimmtheitsgebot entspricht; nur dieser bestimmt über das Ob der Strafbarkeit. Es ist dann letztlich eine Frage der Gesetzestechnik, ob unrechts- oder schuldrelevante Umstände, die Voraussetzungen eines bestimmten Strafrahmens sind, abschließend oder – wie dies bei Regelbeispielen der Fall ist – nur indiziell festgelegt werden.1026 Zweifel daran, ob der Gesetzgeber dem Gebot gesetzlicher Bestimmtheit der Strafbarkeit bei der Rechtsfolgenbestimmung genügt, sind in diesem Bereich nicht angebracht. Dem Richter ist die Anwendung eines gegenüber dem Regelstrafrahmen schärferen Strafrahmens oder einer schärferen absoluten Strafe nicht freigestellt. Vielmehr hat er, wenn ein Regelbeispiel verwirklicht ist, aufgrund der Indizwirkung ohne weitere Begründung von einem besonders schweren Fall auszugehen. Nur eine Abweichung von der tatbestandlich indizierten Bewertung muss unter Bezugnahme auf die dem Regelbeispiel zugrunde liegenden Wertungsgesichtspunkte begründet werden.1027 Wenn es die Rechtsprechung teilweise als ausreichend ansieht, wenn der Richter die Abweichung unter Einbeziehung allgemeiner Strafzumessungskriterien rechtfertigt,1028 bestehen gegen diese Praxis – nicht aber gegen die Regelbeispieltechnik als solche – verfassungsrechtliche Bedenken unter dem Gesichtspunkt des Art. 103 Abs. 2 GG, weil sich die Gerichte nicht an die gesetzlichen Vorgaben halten. Der Bestimmtheitsgrundsatz erfordert nicht, dass der Gesetzgeber die Voraussetzungen der Strafzumessungsregeln wie bei einem Straftatbestand abschließend gesetzlich umschreibt. 234 Zusätzliche besonders schwere Fälle können in Analogie zu den gesetzlich genannten Regelbeispielen gebildet werden, soweit das Gesetz neben gesetzlich bestimmten Regelbeispielen nicht näher bezeichnete andere Fälle als besonders schwer erfasst.1029 Bei solchen unbenannten besonders schweren Fällen ist die Unbestimmtheit größer als bei der unmittelbaren Anwendung der gesetzlichen „Regel-Umstände“. Gleichwohl hat das Bundesverfassungsgericht ein Regelbeispiel des besonders schweren Falles des Landesverrats (§ 94 Abs. 2 Nr. 2) für verfassungsmäßig erklärt.1030 Dieser Entscheidung ist zuzustimmen, da die gesetzlich geregelten Beispiele die gesetzgeberische Wertung verdeutlichen, so dass gesetzliche Leitlinien für die Strafzumessung vorgegeben sind, an denen sich der Richter zu orientieren hat. Daraus ergibt sich praktisch immer eine bessere Orientierung als aus nicht näher strukturierten Strafrahmen. Schließlich gibt es unbenannte besonders schwere Fälle, bei denen keine be235 stimmten konkreten Regelbeispiele im Gesetz genannt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat den unbenannten besonders schweren Fall des Totschlags gemäß § 212 Abs. 2

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1023 Eingehend dazu Eisele Die Regelbeispielsmethode im Strafrecht, passim; Scheffler S. 19 ff. 1024 BGHSt 26 104, 105; 33 370, 373; Dölling JuS 1986 689; Mitsch BT S. 83 f; Schmitz MK § 243 Rdn. 2. 1025 R. Schmitt FS Tröndle 313 f; zustimmend Kindhäuser LPK § 243 Rdn. 2. 1026 BGHSt 26 167, 173; Küper JZ 1986 518, 526; Maiwald FS Gallas 148; Satzger SSW Rdn. 33. 1027 BGH StV 1989 432. 1028 So BGHSt 23 254, 257; 29 319, 322; BGH StV 1988 249 f; kritisch Kindhäuser FS Triffterer 124 ff. 1029 Näher dazu Arzt JuS 1972 385 ff; Blei FS Heinitz 419 ff; Maiwald FS Gallas 137, 138 f; Scheffler S. 19 ff; Zieschang Jura 1999 561, 563 ff. 1030 BVerfGE 45 363, 370.

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für offensichtlich verfassungskonform erklärt, obwohl die Strafschärfungen bis zur Androhung lebenslanger Freiheitsstrafe reichen.1031 Hiergegen werden in der Literatur verfassungsrechtliche Bedenken geltend gemacht:1032 Selbst wenn man die Frage nach den materiellen Kriterien einer Unterscheidung zwischen Zugehörigkeit zum Straftatbestand oder zur Strafzumessung außer Betracht lasse, handele es sich um eine besondere Problematik, die mit der überkommenen Aufgabe des Richters, die im Einzelfall verwirkte Strafe innerhalb eines gesetzlich bestimmten Strafrahmens zu finden, nicht ohne weiteres erklärt werden könne. Vielmehr werde dem Richter – im Vorfeld der eigentlichen Strafzumessung – mit der Auswahl eines unter mehreren in Betracht kommenden Strafrahmens eine zusätzliche Aufgabe übertragen, die nach dem Grundgedanken des § 1 und des Art. 103 Abs. 2 GG in den Zuständigkeitsbereich des Gesetzgebers gehöre. Daher seien unbenannte Regelbeispiele mit Art. 103 Abs. 2 GG nicht vereinbar. Wenn man jedoch darauf abstellt, dass § 212 Abs. 2 in Anlehnung an § 211 auszulegen ist und deshalb nur bejaht werden kann, wenn „das in der Tat zum Ausdruck kommende Verschulden des Täters so außergewöhnlich groß ist, daß es ebenso schwer wiegt wie das eines Mörders“,1033 ist § 212 Abs. 2 mit den nicht näher bezeichneten besonders schweren Fällen vergleichbar, die neben gesetzlich bestimmten Regelbeispielen erfasst sind (Rdn. 234). Durch den Rückgriff auf § 211 wird im Wege einer an Art. 103 Abs. 2 GG orientierten Auslegung an die gesetzgeberische Wertung angeknüpft, so dass § 212 Abs. 2 noch als verfassungskonform angesehen werden kann. Die Regelbeispieltechnik ist somit solange berechtigt, wie der Gesetzgeber damit die Erfordernisse der möglichst weitgehenden Bestimmtheit und der schuldangemessenen Strafe in ein angemessenes Verhältnis bringt.1034 cc) Strafzumessungsregeln. Auch die allgemeinen Strafzumessungsregeln unter- 236 fallen dem Bestimmtheitsgebot. Der Gesetzgeber ist gehalten, bezüglich der Strafzumessung Wertungskriterien zu benennen, die der Richter bei der Auswahl und der Bemessung der Sanktion zugrunde zu legen hat. Dieser Aufgabe ist er in den §§ 46, 46a nachgekommen. Die Strafzumessungsregel des § 83a, die i.V.m. § 81 einen Rahmen von lebenslänglicher Freiheitsstrafe bis zum Absehen von Strafe zulässt, entspricht entgegen BGHSt 13 190, 191 ff nicht den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG:1035 Die Tatsache, dass der Gesetzgeber die Strafart festgelegt hat, reicht nicht aus, um den Vorgaben des Art. 103 Abs. 2 GG Rechnung zu tragen. dd) Vollstreckungsrechtliche Regelungen. Mit dem Gebot gesetzlicher Bestimmt- 237 heit der Strafbarkeit und dem Rückwirkungsverbot beziehen sich § 1 und Art. 103 Abs. 2 GG naturgemäß in erster Linie auf Vorschriften des materiellen Strafrechts, auf Grund derer im Erkenntnisverfahren allgemein angedrohte Strafen im Einzelfall verhängt werden. Inhalt und Schwere einer solchen Strafe werden jedoch nicht nur von den Normen über die Strafbarkeit geprägt, sondern hängen wesentlich auch von der strafrechtlichen Regelung der Strafvollstreckung ab. Gleichwohl unterliegen die materiellrechtlichen Bestimmungen des Vollstreckungsverfahrens nicht § 1 und Art. 103 Abs. 2 GG. Vielmehr

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1031 BVerfGE 45 363, 370 ff = JR 1979 28 m. krit. Anm. Bruns; vgl. auch BGH NJW 1982 2265; Momsen NStZ 1998 487. 1032 Vgl. auch Schmitz MK Rdn. 66; Strangas Rechtstheorie 16 (1985) 466, 485. 1033 So BGH NStZ 2001 647. 1034 Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 63f; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 29; kritisch dazu Krahl S. 146 ff; Maiwald NStZ 1984 433, 440;; Zieschang Jura 1999 561, 564. 1035 Bringewat Rdn. 171; Jäger SK Rdn. 37; Schmitz MK Rdn. 65; Stratenwerth/Kuhlen AT § 3 Rdn. 17.

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findet auf diesen Bereich nur das allgemeine rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot des Art. 20 Abs. 3 GG Anwendung.1036 Dies gilt nach Auffassung der Rechtsprechung auch für die Verjährungsvorschriften, die in erster Linie einen verfahrensrechtlichen Bezug haben sollen (BVerfG NStZ 2000 251; näher dazu Rdn. 106). 3. Analogieverbot. Aus Art. 103 Abs. 2 GG folgt weiterhin das Verbot strafbegründender und strafschärfender Analogie (nullum crimen sine lege stricta), das der Anwendung von Strafvorschriften zu Lasten des Täters eine verfassungsrechtliche Schranke setzt, die nicht überschritten werden darf (BVerfGE 92 1, 13).1037 Es verbietet die Analogie im technischen Sinne, durch die planwidrige Gesetzeslücken geschlossen werden (Rdn. 244). Außerdem verbietet das Analogieverbot eine teleologische Reduktion von Bestimmungen, welche die Strafbarkeit einschränken (Rdn. 261 f; vgl. auch Rdn. 140).1038 Das Verbot wendet sich an die Organe der Strafjustiz, insbesondere an den Strafrichter. Dieser darf die Strafgesetze bei den Voraussetzungen der Strafbarkeit und bei den Strafrechtsfolgen nicht zu Lasten des Betroffenen im Wege der Analogie über den möglichen Wortsinn des Gesetzes als „äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation“ (Rdn. 301) ausdehnen; der die Grenze bildende Wortsinn ist dabei aus der Sicht des Bürgers zu bestimmen (Rdn. 302). 239 Wenn das Analogieverbot die Übertragung der für einen Tatbestand oder für mehrere, untereinander ähnliche Tatbestände im Gesetz gegebenen Regel auf einen vom Gesetz nicht geregelten ähnlichen Sachverhalt untersagt, so ist die sich daraus ergebende Ungleichbehandlung wegen des fragmentarischen Charakters des Strafrechts grundsätzlich hinzunehmen.1039 Sie liegt in der freiheitssichernden Funktion des Gesetzlichkeitsprinzips begründet (Rdn. 52 f).1040 240 Die Gerichte sind durch das Analogieverbot nicht gehindert, Tatbestandseinschränkungen zugunsten des Täters vorzunehmen1041 oder die Vorschriften des Allgemeinen Teils analog anzuwenden (Rdn. 222), auch wenn dadurch die Berechtigung des Opfers, sich zur Wehr zu setzen und seinerseits gerechtfertigt zu handeln eingeschränkt wird (näher dazu Rdn. 221). 238

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a) Grundlagen des Analogieverbots. Das Verbot der sanktionsbegründenden oder sanktionsverschärfenden Analogie ist eng mit dem Bestimmtheitsgrundsatz verbunden.1042 Das Bestimmtheitsgebot liefe Gefahr, zum „Papiertiger“ zu verkommen, wenn es dem rechtsanwendenden Strafrichter gestattet wäre, einen gesetzlichen Straftatbestand auch auf einen von diesem „an sich“ nicht erfassten, aber rechtsähnlichen Fall (Lebenssachverhalt) zu erstrecken.1043 Das Bestimmtheitsgebot liefe dann ins Leere. Das Bundesverfassungsgericht hat in jüngerer Zeit das Analogieverbot sogar unmittelbar aus dem

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1036 BVerfGE 86 310 f zu § 57a Abs. 1 Nr. 2; BVerfGE 64 280 zu § 13 StVollzG; vgl. auch Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 68; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 24. 1037 Vgl. auch BVerfGE 25 269, 285; 29 183, 196; 64 389, 393; 71 108, 115; 73 206, 234; 75 329, 341; BVerfG NJW 1986 1672; Jescheck/Weigend AT § 15 III 2, § 17; Maurach/Zipf/Jäger § 10 Rdn. 15 f; Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 44; Jäger SK Rdn. 45; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 80; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 25 f; Wassermann AK-GG Art. 103 Rdn. 54. 1038 AA freilich BVerfG, Beschluss vom 9.7.1981 – 2 BvR 714/81 – (unveröff.) zitiert nach Tiedemann Verfassungsrecht und Strafrecht S. 11. 1039 Arzt FS Stree/Wessels 53 ff. 1040 Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 25. 1041 Eingehend dazu Montiel Grundlagen und Grenzen der Analogie in bonam partem (2014) passim. 1042 Eingehend dazu Amelung NJW 1995 2584, 2586 f; Schroeder JuS 1995 875, 876; Simon S. 444 ff; zusammenfassend Hettinger JuS 1986 L 19. 1043 Bringewat Rdn. 176.

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Bestimmtheitsgrundsatz hergeleitet.1044 Auch in der Literatur wird teilweise das Analogieverbot als Verlängerung des Bestimmtheitsgebots in die Rechtspraxis verstanden.1045 Hierfür spricht, dass die Durchsetzung des Analogieverbots insofern mit der Bestimmtheit der Strafgesetze zusammenhängt, als ein vager Gesetzeswortlaut es erschwert, eine analoge Anwendung überhaupt zu erkennen.1046 Allerdings richtet sich das Bestimmtheitsgebot primär an den Gesetzgeber, das Analogieverbot dagegen an den Richter.1047 Grundlage des Analogieverbots ist aber auch das Gebot der „gesetzlichen“ Be- 242 stimmtheit der Strafbarkeit, also das Gesetzlichkeitsprinzip (Rdn. 54 ff), denn der Strafrichter wird unter den gesetzlichen Zwang gestellt, sich an den durch das Gesetz gesteckten Rahmen zu halten. Nur der Gesetzgeber soll darüber entscheiden, welches Verhalten strafbar ist und wie es bestraft wird. Normen, die analog angewendet werden, sind nach der Intention des Gesetzgebers (zur Zeit ihres Erlasses) gerade nicht zur Regelung der Fälle gedacht, auf die sie durch Analogie anwendbar gemacht würden.1048 Das Analogieverbot verschärft deshalb zugleich die Bindung der Strafverfolgungsorgane an den Gesetzesinhalt im Strafrecht. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass der Bürger nur in dem Umfang strafrechtlich belangt werden kann, in dem der Gesetzgeber dies angeordnet hat. Insofern dient das Analogieverbot der Durchsetzung des Gesetzlichkeitsprinzips. Somit werden durch das Analogieverbot sowohl das Gesetzlichkeitsprinzip als auch der Bestimmtheitsgrundsatz verwirklicht.1049 Damit wurzelt das Analogieverbot letztlich sowohl im Rechtsstaatsprinzip, das den Schutz des Bürgers vor richterlicher Willkür bezweckt (Rdn. 52),1050 als auch im Demokratieprinzip, das die Setzung von Strafnormen dem durch das Volk legitimierten Parlament vorbehält (Rdn. 55).1051 Nur dem Gesetzgeber kommt die Kompetenz zu, über die Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit eines Verhaltens zu entscheiden. Den Strafgerichten steht es wegen des Gewaltenteilungsprinzips nicht zu, den Gesetzgeber zu korrigieren bzw. seiner neuen Entscheidung vorzugreifen (BVerfGE 71 108, 116; 92 1, 13).1052 Vielmehr muss sich dieser auch bei sachlich missglückten Strafbestimmungen „beim Wort nehmen lassen“.1053 Dies gilt grundsätzlich auch für den Fall eines gesetzgeberischen Versehens: Dieses darf nur in engen Grenzen durch den Strafrichter berichtigt werden,1054 selbst wenn dies zur Folge hat, dass vergleichbar strafwürdige Konstellationen straflos bleiben (Rdn. 181).

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1044 BVerfGE 95 1, 12; Hassemer/Kargl NK Rdn. 70; näher zu diesem Beschluss des BVerfG Amelung NJW 1995 2584, 2586; kritisch zu diesem Beschluss Schroeder JuS 1995 875, 876, der darin eine „Fehlauffassung“ sieht, die allerdings keine Folgen in der Praxis habe. 1045 Vgl. Hassemer/Kargl NK Rdn. 70 m.w.N.; zustimmend Schmitz MK Rdn. 67. 1046 Hassemer/Kargl NK Rdn. 15; vgl. dazu auch Grünwald ZStW 76 (1964) 1, 14; Mangakis ZStW 81 (1969) 997, 1003; Schünemann Nulla poena S. 17; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 248 f, 253. 1047 Tiedemann Verfassungsrecht und Strafrecht S. 47. 1048 BVerfGE 29 183, 196. 1049 Vgl. nur v. Mangoldt/Klein/Starck/Nolte Art. 103 Abs. 2 Rdn. 157. 1050 BVerfG NStZ 1998 506; BVerfGE 110 33, 52 ff; Albrecht S. 53; Hassemer/Kargl NK Rdn. 71; Krey Studien S. 20, 207 ff; ders. Strafe Rdn. 130; Lemmel S. 156 ff, 164, 170. 1051 BVerfGE 47 109, 120; 81 298, 309; 87 209, 224; Krey Studien S. 210 ff; Krey/Weber-Linn FS Blau 131; Grünwald ZStW 76 (1964) 1, 14; Mangakis ZStW 81 (1969) 997, 1003; Roxin AT I § 5 Rdn. 20; Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 44; Jäger SK Rdn. 47; Schünemann Nulla poena S. 17, 20; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 248 f, 253; Wassermann AK-GG Art. 103 Rdn. 54; Umbach/Clemens/Zierlein Art. 103 Rdn. 136; krit. dazu Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 31. 1052 Vgl. auch Hill in Isensee/Kirchhof HStR2 Bd. 6 § 156 Rdn. 60; Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 47; ders. AöR 122 (1997) 1, 6; Umbach/Clemens/Zierlein Art. 103 Rdn. 136. 1053 BVerfGE 47 109, 120; 71 108, 116; BVerfG NJW 1995 3050, 3051. 1054 Vgl. nur Lackner FS Heidelberg 54, 58 f; v. Mangoldt/Klein/Starck/Nolte Art. 103 Abs. 2 Rdn. 158 Fn. 255; zur Berichtigung gesetzgeberischer Redaktionsversehen siehe Rdn. 168 und Tiedemann ZBB 2005 190, 192.

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Ergänzend kann das Analogieverbot generalpräventive Funktionen erfüllen, da erst der richterliche Akt der Analogiebildung Recht setzt und dieses im Tatzeitpunkt noch nicht wirken konnte.1055 Jedoch kommt diesem Gesichtspunkt nur nachrangige Bedeutung zu.1056 Allerdings lässt sich gerade das Analogieverbot als Ausdruck strafrechtlicher Eigengesetzlichkeit (vgl. Rdn. 58) auffassen.1057

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b) Inhalt und Bedeutung des Analogieverbots. Das strafrechtliche Analogieverbot steht einer analogen Anwendung eines Rechtssatzes auf einen vom Gesetz nicht erfassten Sachverhalt entgegen, sofern sich die Analogie zum Nachteil des Täters auswirkt (Rdn. 246).1058 Eine Analogie im technischen Sinne liegt vor bei der Anwendung eines Rechtssatzes auf einen von ihm nicht erfassten, aber rechtsähnlichen Sachverhalt, um eine planwidrige Lücke des Gesetzes zu schließen.1059 Sie ist in der Form der Gesetzesanalogie und der Rechtsanalogie möglich,1060 die sich darin unterscheiden, dass der von einem geregelten auf einen nicht geregelten Fall zu übertragende Rechtsgedanke bei der Gesetzesanalogie einer einzelnen Gesetzesnorm, bei der Rechtsanalogie dagegen einem sich aus mehreren Tatbeständen ergebenden „allgemeinen Rechtsgedanken“ entnommen wird.1061 Voraussetzung beider Arten methodengerechter Analogie ist eine „planwidrige Unvollständigkeit“ des Gesetzes, bei der eine Beseitigung wegen der vorhandenen Ähnlichkeiten im Sachverhalt als ein Gebot der Gerechtigkeit erscheint.1062 Es muss sich um eine echte Gesetzeslücke handeln, die nicht durch Auslegung geschlossen werden kann.1063 245 Allerdings darf das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 nicht auf die Analogie im engeren technischen Sinne beschränkt werden. Es besteht Einigkeit darüber, dass jede Rechts-„Anwendung“ ausgeschlossen ist, die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm und ihre mögliche Auslegung hinweggeht,1064 welche die Sanktionierbarkeit in einer für den Bürger nicht von vornherein erkennbaren Weise begründet. 1065 Verboten ist jede den Norminhalt überschreitende Auslegung, insbesondere wenn sie objektiv unhaltbar und deshalb willkürlich erscheint.1066 Damit stellt sich das Abgrenzungsproblem zwischen der noch zulässigen Auslegung und der verbotenen analogen Rechtsanwendung (Rdn. 248 ff).

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1055 Krey Strafe Rdn. 132; Schünemann Nulla poena S. 17. 1056 Krey/Weber-Linn FS Blau 123, 131; ders. Strafe Rdn. 132; zustimmend Rogall KK-OWiG § 3 Rdn. 59. 1057 So auch Greco GA 2016 138, 144. 1058 BGHSt 7 190, 193; 8 59, 70; BGH NJW 1951 809; BayObLG NJW 1970 497; Fuhrmann FS Tröndle 139, 145; K. Schmidt FS Rebmann 414, 438. 1059 Vgl. bereits Rdn. 238 sowie Rdn. 283; Engisch Einführung S. 241 ff; Larenz Methodenlehre S. 381 ff. 1060 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 27 f; Fikentscher Methoden Bd. IV S. 283 ff, 297 f; Maurach/Zipf/Jäger § 10 Rdn. 15; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 25; Wank S. 88 ff. 1061 Larenz Methodenlehre S. 383 ff. 1062 Vgl. bereits Rdn. 244; BGHSt 7 190, 193 f; BGH NJW 1951 809; Larenz Methodenlehre S. 374 f, 381 ff. 1063 Canaris S. 71 ff; Engisch Einführung S. 236 ff; Larenz Methodenlehre S. 373 ff; Jäger SK Rdn. 45; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 25. 1064 BVerfGE 71 108, 115 = NStZ 1986 261 m. Anm. Hanack; BVerfGE 73 206, 235; 82 236, 269; 87 209, 224; 87 399, 411; 92 1, 12, 16; BVerfG NJW 1993 2524 f; NJW 1995 3050, 3051; NJW 2004 3768, 3769; Amelung NJW 1995 2584, 2587; Hassemer Tatbestand und Typus S. 162 ff; Kim FS Roxin 119, 127, 130 ff; Kuhlen S. 46, v. Mangoldt/Klein/Starck/Nolte Art. 103 Abs. 2 Rdn. 157; Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 71; Roxin AT I § 5 Rdn. 36; Jäger SK Rdn. 52; Schmitz MK Rdn. 68; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 26; Schünemann Nulla poena S. 19 f; Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 47; kritisch dazu Küper JuS 1996 783, 785 f; Simon S. 110. 1065 So v. Mangoldt/Klein/Starck/Nolte Art. 103 Abs. 2 Rdn. 157. 1066 Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 69; Küper JuS 1996 783, 786 f; Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 47.

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Das Analogieverbot gilt nur zu Ungunsten des Täters.1067 Auch der Rückgriff auf 246 den Grundsatz des Rechtsmissbrauchs zum Zweck der Erfassung von Gesetzesumgehungen verstößt gegen das Analogieverbot, wenn der Gesetzgeber keine (außer)strafrechtliche Umgehungsregelung geschaffen hat (Rdn. 263, 265 ff). Zu beachten ist, dass Art. 103 Abs. 2 GG nicht nur der Tatbestandsergänzung, sondern auch einer tatbestandsausweitenden Interpretation Grenzen setzt (BVerfGE 92 1, 16; zur Abgrenzung von verbotener Analogie und erlaubter Auslegung Rdn. 252). Deshalb sind unbestimmte Gesetzesbegriffe nicht nur nach dem allgemeinen Sprachgebrauch zu bestimmen, vielmehr ist insbesondere bei technischen Begriffen, wie z.B. dem des Schuldners bei § 283 (Rdn. 304), auf den Zusammenhang des Normgefüges abzustellen (Rdn. 251). c) Abgrenzung von verbotener Analogie und Auslegung aa) Analogische Grundstruktur der Auslegung. Vielfach wird in der Literatur in 247 Frage gestellt, ob das Analogieverbot tatsächlich ein an den Strafrichter gerichtetes Verbot, sich bei seiner Rechtsanwendung und Rechtsgewinnung der Methode des Analogieschlusses zu bedienen, bedeuten kann. Denn nach den Erkenntnissen und Befunden der juristischen Methodologie unterscheidet sich die Auslegung von Gesetzen als Methode der Rechtsanwendung und Rechtsfindung in ihrer methodologischen Struktur nicht von einer Analogie, weil auch sie „analogisch“ vorgeht.1068 Auch jede Auslegung arbeitet mit Analogieschlüssen, indem sie die von einem gesetzlichen Straftatbestand erfassten Lebenssachverhalte mit denjenigen vergleicht, die im Prozess der Rechtsanwendung zu bewerten und zu beurteilen sind, und ermöglicht so, den konkret zu entscheidenden Fall bei hinreichender normativer Ähnlichkeit mit Vergleichsfällen in den Normbereich des angewendeten Strafgesetzes einzuordnen bzw. bei Fehlen einer solchen Ähnlichkeit aus dem Normbereich des gesetzlichen Straftatbestandes auszugrenzen.1069 Bei der Auslegung handelt es sich um das Ergebnis eines stetigen, wechselbezüglichen „Hin- und Herwanderns des Blickes zwischen (angewendeter) Norm und (konkretem) Lebenssachverhalt (Engisch).1070 Dieses „Hin- und Herwandern“ ist auf ein Verstehen der zwischen ihnen bestehenden Entsprechung gerichtet.1071 bb) Notwendigkeit der Abgrenzung von Analogie und Auslegung im Hinblick 248 auf Art. 103 Abs. 2 GG. Trotz der Schwierigkeiten, die sich aus der analogischen Grundstruktur der Auslegung für die Abgrenzung der verbotenen Analogie zur (noch) zulässigen Auslegung ergeben,1072 besteht die Notwendigkeit, dem rechtsstaatlichen Sinngehalt

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1067 BVerfGE 14 174, 185; 25 269, 285; 26 41, 42; 71 108, 115; 73 206, 236. 1068 Vgl. nur Hassemer Tatbestand und Typus S. 160 ff; Hassemer/Kargl NK Rdn. 95 ff; Jakobs AT 4/33 Fn. 60; Jeand’Heur NJ 1995 465, 466; Arthur Kaufmann Natur der Sache S. 44 ff; v. Münch/Kunig/Kunig Art. 103 Rdn. 26; Jäger SK Rdn. 46 und 83; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 83. Für Zurückhaltung bei der Berufung auf das Analogieverbot auch Streng in Kudlich/Montiel/Schuhr S. 179, 191 ff. 1069 Vgl. nur Roxin AT I § 5 Rdn. 36; Jäger SK Rdn. 46; jeweils m.w.N. 1070 Engisch Logische Studien S. 15; dazu Jescheck/Weigend AT § 17 II 2 m.w.N.; Vogel Juristische Methodik S. 19. 1071 Zur Erweiterung dieses Bildes zum „hermeneutischen Zirkel“ bzw. zur „hermeneutischen Spirale“ unter dem Einfluss der philosophischen Hermeneutik Vogel Juristische Methodik S. 19 m.w.N. 1072 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 18 ff; Köhler AT S. 90 ff; Lackner/Kühl/Kühl Rdn. 7; Sch/ Schröder/Eser/Hecker Rdn. 54; Wassermann GG-AK Art. 103 Rdn. 54. Teilweise wird in der Literatur wegen der analogischen Struktur der Gesetzesinterpretation jeglicher Unterscheid zwischen Auslegung und Analogie geleugnet; Hassemer in Grewendorf Rechtskultur als Sprachkultur S. 74 ff; ders. in Hassemer/ Neumann/Saliger Einführung S. 96, 160 ff; Hassemer/Kargl NK Rdn. 95 ff; Jakobs AT 4/33 ff; Arthur Kaufmann Natur der Sache S. 52 ff, 62 ff; Sax Analogieverbot S. 94 ff, 142 ff; Stratenwerth/Kuhlen AT § 3

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des Gesetzlichkeitsprinzips Rechnung zu tragen und deshalb eine an den verfassungsrechtlichen Garantien des Art. 103 Abs. 2 GG orientierte Grenzziehung vorzunehmen (näher dazu Rdn. 252). Das Analogieverbot ist daher von Art. 103 Abs. 2 GG her zu verstehen und das analogische Vorgehen innerhalb der Norm (Auslegung) von der verbotenen Analogie zur Norm, der Rechtsfindung praeter legem, abzugrenzen.1073 Diese Notwendigkeit anerkennen auch die Autoren, die von der Strukturgleichheit 249 von Auslegung und Analogie ausgehen. Sie bestimmen die durch Art. 103 Abs. 2 GG gesteckte Grenze nicht zwischen der noch zulässigen Auslegung und der schon verbotenen Analogie, sondern zwischen zulässiger Auslegung und Analogie auf der einen Seite und der unzulässigen, da außergesetzlichen, freien Rechtsfindung zum Nachteil des Täters auf der anderen Seite1074 oder zwischen einer noch zulässigen und durch Art. 103 Abs. 2 GG verbotenen extensiven Auslegung.1075 Gerade diese Abgrenzung erweist sich aber bei Umgehungsgeschäften als schwierig zu bestimmen (näher dazu Rdn. 263 ff). Demgegenüber bestimmt die h.M. die Grenzlinie zwischen verbotener Analogie und 250 erlaubter Auslegung nach dem möglichen Wortsinn des Gesetzes innerhalb einer Norm:1076 Art. 103 Abs. 2 GG schließt „jede Rechtsanwendung aus, die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht. Auslegungen, die den möglichen Wortsinn überschreiten, sind danach mit Art. 103 Abs. 2 GG unvereinbar.“1077 Da nur der Gesetzestext Gegenstand der Auslegung sein kann, bestimmt der aus der Sicht des Bürgers1078 mögliche Wortsinn „die äußerste Grenze zulässiger, richterlicher Interpretation“.1079 Die verbotene Analogie beginnt also erst jenseits der äußersten sprachlichen Sinngrenze.1080 Verboten

_____ Rdn. 32 ff; zum Streitstand Jäger SK Rdn. 46; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 54; Rogall KK-OWiG § 3 Rdn. 52; jeweils m.w.N.; vgl. auch Krey Studien S. 50 ff, 140 ff. 1073 Arthur Kaufmann Natur der Sache S. 52 ff, 62 ff; Kim FS Roxin 119, 130 ff; Krey Studien S. 146 ff; Jäger SK Rdn. 46; Schünemann FS Klug Bd. 1, 169, 180 ff; Kargl Rdn. 475; Perron in Hilgendorf, Gesetzlichkeitsprinzip S. 211 ff. 1074 So zutreffend Sax Analogieverbot, passim. 1075 So Arthur Kaufmann Natur der Sache S. 52 ff; 62 ff; Hassemer in Hassemer/Neumann/Saliger Einführung S. 227, 235 ff; Schroth S. 106 ff; jeweils m.w.N. 1076 BVerfGE 14 174, 185; 25 269, 285; 26 41, 42; 47 109, 121; 71 108, 115; 73 206, 234; 82 236, 269; BGHSt 3 300, 303; 4 144, 148; 10 157, 160; 26 95, 96; 28 224, 230; 29 129, 133; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 18 ff; Herberger/Koch JuS 1978 810, 813 ff; Jescheck/Weigend AT § 17 IV 5; Krey JZ 1978 316 ff, 428 ff, 465 ff; ders. Studien S. 49 ff, 140 ff; Kuhlen S. 12; Lackner FS Heidelberg 39, 54 ff; Lackner/Kühl/Lackner Rdn. 6; Otto AT § 2 Rdn. 41; ders. Symposium für Schünemann S. 71 f; Rogall KK-OWiG § 3 Rdn. 53; Roxin AT I § 5 Rdn. 26 ff; ders. ZStW 83 (1971) 369, 376 ff; Jäger SK Rdn. 83; Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 44; Scheffler Jura 1996 505 ff; Schlüchter Mittlerfunktion S. 126 ff; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 84; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 54; H.L. Schreiber S. 227 ff; Schünemann FS Klug Bd. 1, 169, 180 ff; Fischer Rdn. 24; Wank S. 83; Wassermann AK-GG Art. 103 Rdn. 54; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 75; Umbach/Clemens/Zierlein Art. 103 Rdn. 136; Löffelmann in Jahn/Krehl/Löffelmann/Güntge Verfassungsbeschwerde Rdn. 580. Demgegenüber stellen (nur) auf den möglichen Wortlaut des Gesetzes als Abgrenzungskriterium ab: Hassemer/Kargl NK Rdn. 77 ff; Krey Studien S. 127 ff; krit. dazu Wank S. 83 ff. 1077 BVerfGE 82 236, 269; vgl. auch BGHSt 43 237, 238 m.w.N. 1078 So die ganz h.M.; vgl. nur BVerfGE 71 108, 115; 82 236, 269; 87 209, 224; 92 1, 12; BVerfG NJW 1995 3050, 3051; Lackner FS Heidelberg 54 ff; Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 70; v. Mangoldt/Klein/Starck/Nolte Art. 103 Abs. 2 Rdn. 158; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 37; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 84; Schünemann Nulla poena S. 20; Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 46; Umbach/Clemens/Zierlein Art. 103 Rdn. 136. 1079 BVerfGE 71 108, 114 ff; 73 206, 235 f; 75 329, 341; 85 69, 73; 87 209, 223 f; 87 362, 392; 92 1, 12; 105 135, 157; BVerfG NJW 2002 3693, 3694; BGHSt 37 220, 230; 40 272, 279; 48 354, 357; Simon S. 100 ff m.w.N. der Rechtsprechung; Umbach/Clemens/Zierlein Art. 103 Rdn. 136; krit. dazu Depenheuer S. 38 ff; Klatt S. 19 ff; Roxin AT I § 5 Rdn. 36; jeweils m.w.N. 1080 Grünwald FS Arthur Kaufmann 433, 440; aA BVerfGE 92, 1, 16; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 257.

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ist danach jene Analogie, mit der die gesetzgeberische Entscheidung durch eine andere „entsprechende“ Autorität ersetzt wird.1081 Außerdem darf nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „auch in- 251 nerhalb des möglichen Wortsinnes die Auslegung nicht weiter gehen, als es Zweck und Sinnzusammenhang der Norm zulassen“ (BVerfGE 92 1, 20). Deshalb hob das Bundesverfassungsgericht beispielsweise zutreffend hervor, dass „der Begriff der Gewalt, der im allgemeinen Sprachgebrauch mit unterschiedlicher Bedeutung verwendet wird“, bei § 240 Abs. 1 „im Zusammenhang des Normgefüges verstanden werden“ muss.1082 Damit erlangen auch die teleologische und systematische Auslegung Bedeutung für Art. 103 Abs. 2 GG und dienen der Einhaltung des Gesetzlichkeitsprinzips im Strafrecht (Rdn. 310 ff, 317 f). Für die Bestimmung der Grenzlinie zwischen verbotener Analogie und erlaubter 252 Auslegung durch die h.M. spricht, dass der rechtsstaatliche Sinngehalt des Gesetzlichkeitsprinzips eine Abgrenzung erfordert, die vor allem auf den Empfängerhorizont des Bürgers (Rdn. 250) abstellt, der sich auf die gesetzlichen Regelungen einschließlich der durch den Straftatbestand in Bezug genommenen außerstrafrechtlichen Gesetze beziehen muss (näher zu dieser Sonderproblematik Rdn. 257).1083 Unter diesem Aspekt stellt sich die Frage nach einer Abgrenzung zwischen Auslegung und Analogie als Methoden der Gesetzeskonkretisierung anders als aus methodologischer Perspektive, von der die Mindermeinung (Rdn. 247, 249) ausgeht:1084 Die methodologische Strukturgleichheit zwischen Auslegung und Analogie, der gleiche modus operandi, zwingt nicht dazu, eine qualitative Grenzziehung zwischen zulässiger Auslegung und unzulässiger Analogie zu verneinen.1085 Vielmehr ist vom hermeneutischen Erscheinungsbild her eine Differenzierung möglich, die zugleich den Zielen des Art. 103 Abs. 2 GG Rechnung trägt: Analogie ist die Übertragung eines Rechtssatzes auf einen weder von ihm noch von einem anderen Rechtssatz erfassten, ihm in den rechtlich wesentlichen Eigenschaften strukturgleichen Sachverhalt. Es geht um die Übertragung eines in sich konsistenten Rechtssatzes auf einen Sachverhalt, der im Vergleich zu den in diesem Rechtssatz erfassten Lebenssachverhalten zwar verschieden, unter dem Aspekt seiner rechtlichen Bewertung jedoch so ähnlich ist, dass er unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten demselben Rechtssatz unterstellt werden muss. Hingegen zielt die Auslegung darauf ab, den rechtlichen Gehalt einer Vorschrift auszuloten und zu bestimmen, was von vornherein schon in dem Rechtssatz an rechtlichem Gehalt angelegt ist. Bei der Auslegung geht es um die Frage, ob der rechtliche Gehalt des Rechtssatzes so weit reicht, dass auch der zu beurteilende Sachverhalt von ihm erfasst ist. Für die Rechtsgewinnung durch Auslegung ist somit maßgeblicher Bezugspunkt das angewendete Gesetz und sein zu ermittelnder Bedeutungsgehalt, für die Rechtsgewinnung durch Analogie hingegen der Gesamtkomplex von bereits gewerteten Sachverhalten, der den Normbereich des Gesetzes konstituiert. Im Falle der Analogie bleibt der rechtsähnliche Sachverhalt in rechtstatsächlicher Weise verschieden – er verbleibt außerhalb des angewendeten Rechtssatzes in dessen normativem Grenzbereich.1086 Deshalb steht Art. 103 Abs. 2 GG einer Analogie im Sinne der Übertragung eines Rechtssatzes auf einen von ihm nicht erfassten rechtsähnlichen Sachverhalt (Gesetzesanalogie) und der Übertragung eines sich aus mehreren Tatbeständen ergebenden „all-

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1081 BVerfG wistra 2004 99; Arthur Kaufmann Natur der Sache, passim; Krey Studien S. 127 ff; ders. JZ 1978 364 ff; Lackner FS Heidelberg 39 ff; Otto AT § 2 Rdn. 61. 1082 BVerfGE 92 1, 16. 1083 Roxin in Hilgendorf Gesetzlichkeitsprinzip S. 113, 120 ff. 1084 So zutreffend Bringewat Rdn. 180. 1085 So aber Hassemer/Kargl NK Rdn. 99. 1086 So zutreffend Bringewat Rdn. 182.

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gemeinen Rechtsgedankens“ (Rechtsanalogie) entgegen, während die Auslegung der Funktionsverteilung zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung Rechnung trägt. Sowohl die Auslegung als auch die Analogie erfordern einen methodengeleiteten 253 Verstehensprozess (Rdn. 247).1087 Aus „hermeneutischer Perspektive“ ist die Verstehensrichtung trotz der Strukturgleichheit im Hinblick auf die Methode eine gegenläufige. Diese Gegenläufigkeit legt es nahe, von der Auslegung auszugehen und hieran die begrenzenden Vorgaben des Gesetzlichkeitsprinzips anzulegen (Rdn. 249).1088 Wenn und solange ein Lebenssachverhalt noch in den gesetzlichen Regelungsrahmen passt, dessen konkretisierende Ausfüllung als Auslegung eines hinreichend bestimmten Gesetzes gelten darf, weil ein gesetzgeberischer Schutzzweck erkennbar ist (näher dazu Rdn. 205), liegt noch ein Fall der zulässigen Auslegung vor (eingehend dazu Rdn. 291 ff). Wenn der Schutzzweck unklar oder zweideutig ist, liegt eine verbotene Analogie vor. Da im Strafrecht an die Auslegung wegen Art. 103 Abs. 2 GG strengere Anforderungen zu stellen sind als in den übrigen Rechtsgebieten (Rdn. 291 f), ist es denkbar, dass gesetzliche Regelungen, die durch Blankettstrafgesetze in Bezug genommen werden, im Strafrecht enger ausgelegt werden müssen als im außerstrafrechtlichen Bereich. Eine außerhalb des Strafrechts noch zulässige Auslegung kann deshalb im Strafrecht eine verbotene Analogie darstellen (zur daraus resultierenden Normspaltung Rdn. 341). Deshalb ist die Abgrenzung der Auslegung zur Rechtsfortbildung praeter legem nicht generell möglich, sondern muss für das jeweilige Rechtsgebiet eigenständig vorgenommen werden. Für das Strafrecht ist deshalb von den Grenzen auszugehen, die Art. 103 Abs. 2 GG der Auslegung setzt (Rdn. 253). 254

d) Anwendungsbereich des Analogieverbots. Das Analogieverbot gilt – ebenso wie die übrigen Ausprägungen des Gesetzlichkeitsprinzips – für das gesamte materielle Strafrecht,1089 also sowohl für den Besonderen Teil des Strafrechts (Rdn. 255 ff) als auch für den Allgemeinen Teil (Rdn. 259 ff) und die Strafrechtsfolgen einschließlich der Strafzumessungsregeln (Rdn. 268 ff). Es betrifft unmittelbar den Rechtsanwender, indirekt jedoch auch den Gesetzgeber: Eine Vorschrift, die vom Rechtsanwender eigene Analogieschlüsse verlangt, könnte nicht dem Gesetzlichkeitsprinzip entsprechend angewendet werden und verstößt daher selbst gegen das Gesetzlichkeitsprinzip.1090 Das bedeutet allerdings nicht, dass dem Gesetzgeber jedes Formulieren von Tatbestandsmerkmalen unter Verwendung von Ähnlichkeitskriterien versagt wäre (Rdn. 256). Selbst darf der Gesetzgeber Analogien in Gesetzesform ziehen, ohne dass das Analogieverbot ihn dabei einschränken würde. Solche Vorschriften haben indes nur dann einen nachvollziehbaren Inhalt und genügen entsprechend nur dann dem Bestimmtheitsgrundsatz, wenn die Analogie insoweit methodengerecht gezogen und im Gesetz selbst formuliert wird, dass sich ergibt, welche Fälle letztlich welcher Rechtsfolge unterworfen werden sollen.1091 Gerade um Strafgesetze an neuere Entwicklungen anzupassen und sich dabei auf bewährte Strukturen und Begriffe stützen zu können, bieten sich dem Gesetzgeber das Mittel der Analogie oft an, und er hat davon vielfach Gebrauch gemacht.1092 So wurde z.B. das Ausspähen von Daten (§ 202a) in Anlehnung an die Verletzung des Briefgeheimnis-

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1087 Vgl. nur Hassemer/Kargl NK Rdn. 97 m.w.N. 1088 Bringewat Rdn. 183; Roxin AT I § 5 Rdn. 26 ff, 75. 1089 Vgl. nur Krey Studien S. 70 ff, 115 ff, 130 ff; ders. ZStW 101 (1989) 838, 841; Roxin AT I § 5 Rdn. 40; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 80 ff; Schmitz MK Rdn. 68; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 26 f; Fischer Rdn. 21; jeweils m.w.N. 1090 Eingehend Greco GA 2012 452, 457 ff. 1091 Schuhr ZIS 2012 441, 457. 1092 Schuhr ZIS 2012 441, 442 f.

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ses (§ 202), die Entziehung elektrischer Energie (§ 248c) angelehnt an den Diebstahl (§ 242) und der Computerbetrug (§ 263a) in Analogie zu (§ 263) formuliert. Gerade im letzteren Fall geht die Analogie in vielfacherer Weise über den Ausgangstatbestand hinaus. Obwohl ein Tatbestand, der nur eine zuvor bestehende Regelungslücke schließt, nicht durch dasselbe Verhalten gleichzeitig mit seinem Ausgangstatbestand verwirklicht werden kann, stehen beide dann, wenn der Gesetzgeber wirklich eine Analogie angeordnet und den neuen Tatbestand nicht nur ähnlich zum alten formuliert hat nicht in Exklusivität, denn durch die Analogie werden die neue Fälle gerade derselben Regelung unterstellt.1093 Explizit formuliert einen solchen Fall § 270. Probleme, die bis zur verfassungswidrigen Unbestimmtheit gehen können, entstehen, wenn der Gesetzgeber von Ähnlichkeiten ausgeht, die tatsächlich nicht bestehen, und der Tatbestand auch keine hinreichenden anderen Kriterien enthält. So ist der Versuch, die Datenveränderung (§ 303a) in Analogie zur Sachbeschädigung (§ 303) zu fassen, gescheitert, weil Daten weder eine Sachen entsprechende Identität noch eine dem Eigentum entsprechende eindeutige Zuordnung zu Rechtssubjekten besitzen. Deshalb vertypen die § 303 entsprechenden Tatbestandsmerkmale kein Delikt, das von nicht-deliktischem Verhalten (wie dem Drücken an einer elektronischen Fußgängerampel) abgrenzbar wäre. Die h.M. sieht „rechtswidrig“ in § 303a deshalb im Gegensatz zu § 303 als Tatbestandsmerkmal an, beseitigt die Bestimmtheitsprobleme damit indes noch keineswegs.1094 aa) Besonderer Teil des Strafrechts. Das Verbot der strafbegründenden und straf- 255 schärfenden Analogie zum Nachteil des Angeklagten gilt zunächst und klassischer Weise für den Besonderen Teil des Strafrechts. Hieraus folgt, dass im Wege der Analogie weder neue Straftatbestände geschaffen noch die Rechtsfolgen bestehender verschärft oder gesetzlich vorgeschriebene Milderungen unberücksichtigt gelassen werden dürfen.1095 So wäre es z.B. unzulässig, § 123 auf belästigende Telefonanrufe1096 oder §§ 22, 23 KunstUrhG bereits auf die eigenmächtige Herstellung eines Bildnisses anzuwenden,1097 da diese Verhaltensweisen vom Gesetzeswortlaut nicht mehr gedeckt wären. Soweit sich Anweisungen zu einer innertatbestandlichen Analogie auch für strafbe- 256 gründende oder qualifizierende Merkmale finden, wie z.B. in § 315b Abs. 1 Nr. 3: „ähnlicher, ebenso gefährlicher Eingriff“, oder in § 211: „oder sonst aus niedrigen Beweggründen“, bildet nicht das Analogieverbot, sondern das Bestimmtheitsgebot den verfassungsrechtlichen Maßstab1098 dafür, ob derartige Vorschriften mit einer unzulässigen „gesetzlichen Analogie“ (bei der im Wesentlichen doch der Anwender über den Inhalt der Regel entscheidet) verbunden sind.1099 Die Zulässigkeit über Ähnlichkeit beschriebener Tatbestandsmerkmale wird von der Rechtsprechung und überwiegenden Literatur zu Recht bejaht, wenn sie „in einer für die richterliche Rechtsanwendung aus-

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1093 Schuhr ZWH 2012 48, 49 anhand von § 263a, dessen Verhältnis zu § 263 die h.M. allerdings anders beurteilt (vgl. Kindhäuser NK § 263a Rdn. 62). 1094 Meinhardt 1991, S. 88 ff, insb. S. 166; Tolksdorf LK11 § 303a Rdn. 7; Zaczyk NK § 303a Rdn. 4; Popp AnwK § 303a Rdn. 3; Schuhr ZIS 2012 441, 444 ff, 454 f. Vgl. auch Kusnik CR 2011 718, 719. 1095 BVerfGE 81 70, 94; BGHSt 24 54, 62; Langer FS Dünnebier 421 ff; Jäger SK Rdn. 48. 1096 Kindhäuser LPK § 123 Rdn. 12; Herzog GA 1975 263; Ostendorf NK § 123 Rdn. 26; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 27; Fischer § 123 Rdn. 13. 1097 OLG Hamburg NJW 1972 1290. 1098 Zur Zulässigkeit solcher Verweisungen Jäger SK Rdn. 56; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 29; krit. Bruns GA 1986 14 f. 1099 Kratzsch GA 1971 65, 74 f; vgl. auch Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 293 (zu gesetzlichen Umgehungsklauseln).

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reichend klaren Weise abgegrenzt“ sind,1100 was dann der Fall ist, wenn das Gesetz selbst einen bereits einigermaßen konturierten Oberbegriff (in den Beispielen „gefährlicher Eingriff“, „niedrige Beweggründe“) verwendet oder ein solcher sich aus dem Zusammenhang erschließen lässt und dieser dann durch die nötige Ähnlichkeit zu den weiteren Beispiele gebenden Merkmalen nur weiter verdeutlicht wird. Bei Blankettstrafgesetzen (Rdn. 150) gilt das Analogieverbot nach h.M. sowohl für 257 das verweisende Strafgesetz als auch für die das Strafgesetz ausfüllenden außerstrafrechtlichen Vorschriften (BVerfGE 48 48, 57 ff).1101 Denn die durch das Strafrecht in Bezug genommenen außerstrafrechtlichen Normen erlangen durch das Zusammenlesen zwar nicht die Rechtsqualität der Strafnorm,1102 wohl aber nehmen solche Vorschriften, soweit sie zur Begründung der strafrechtlichen Verantwortung herangezogen werden, an der Rechtsnatur der verweisenden Strafnorm teil (Rdn. 151) und müssen deshalb an den strafrechtlichen Maßstäben des Art. 103 Abs. 2 GG (Rdn. 152) und damit auch am Analogieverbot gemessen werden.1103 So hat der Bundesgerichtshof z.B. in der TeerfarbenEntscheidung die blankettausfüllende Norm des § 1 GWB dem strafrechtlichen bzw. bußgeldrechtlichen Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG unterstellt und das Vorliegen einer wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung1104 abgelehnt, weil kein Vertrag und damit keine Vereinbarung im zivilrechtlichen Sinne, sondern nur ein abgestimmtes Verhalten vorgelegen hat.1105 Auch § 3a Abs. 4 Nr. 1 UStG (a.F.) hat er bzgl. § 370 AO als blankettausfüllend (dazu Rdn. 149) eingeordnet, den Begriff der „ähnlichen Rechte“, der dort erkennbar im Kontext einer Aufzählung bestimmter Immaterialgüterrechte steht, aber auch in der – auf Vorlage in demselben Verfahren ausgesprochenen – Auslegung durch den EuGH zu Recht als hinreichend bestimmt angesehen.1106 Aufzählungen werden unter Umständen auch gerade durch einen unionsrechtlichen Hintergrund noch weiter bestimmt; das nimmt der BGH z.B. für § 20a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 WpHG a.F. und letztlich den dortigen Begriff „sonstige Täuschungshandlung“ an.1107 Verweist ein Gesetz (im entschiedenen Fall § 38 Abs. 3 WpHG a.F., nun § 119 Abs. 3 WpHG) auf eine noch nicht in Geltung getretene EU-Verordnung, und ist dieser Verweis so auszulegen, dass der in Bezug genommenen Regelung damit im Kontext der verweisenden Regelung Geltung verliehen wurde,1108 so liegt in ihrer Anwendung die Befolgung des nationalen Rechts und keine verbotene Analogie.1109 Zu zeitlichen Grenzen der Geltung von Bezugsnormen siehe auch Rdn. 147.

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1100 BGHSt 22 365, 367 zu § 315b; vgl. auch Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 293 (zu gesetzlichen Umgehungsklauseln); Krey Studien S. 223 m.w.N. 1101 BVerfGE 14 174, 185; 75 329, 342; BVerfG NJW 1993 1909; Laaths Das Zeitgesetz gem. § 2 Abs. 4 StGB, passim; Roxin AT I § 5 Rdn. 40; m.w.N.; Tiedemann Artikel „Auslegung“ in Krekeler/Tiedemann/Ulsenheimer/Weinmann HWiStR S. 1, 4 f; ders. Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 240 ff; aA Gribbohm LK11 Rdn. 82; Höpfel JBl 1979 575, 585; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 33. 1102 Vgl. nur Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 476 f m.w.N. 1103 Tiedemann Artikel „Auslegung“ in Krekeler/Tiedemann/Ulsenheimer/Weinmann HWiStR S. 1, 4; ders. Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 245. 1104 BGHSt 24 54 ff; näher dazu Dannecker Rivista Trimestrale di Diritto Penale dell’Economia 1990 434, 449 ff; Tiedemann Artikel „Auslegung“ in Krekeler/Tiedemann/Ulsenheimer/Weinmann HWiStR S. 1, 5; ders. Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 268. 1105 Inzwischen hat der Gesetzgeber die kartellrechtliche Verbotsnorm entsprechend ergänzt und auch abgestimmtes Verhalten ausdrücklich verboten. 1106 BGHSt 63, 29 Rdn. 57 ff; EuGH NZWiSt 2017 181; dazu Pflaum wistra 2018 223 f; Gehm ZWH 2018 322. 1107 BGH NJW 2016 3459 Rdn. 14 ff; aA Raabe Marktmanipulation S. 174 ff. 1108 Eingehend zu den sich dabei stellenden Fragen die Kommentierung zu § 2 Rdn. 74 ff. 1109 BVerfG NJW 2018 3091; WM 2018 1251; BGHSt 62 13, Rdn. 10 ff; vgl. auch Klöhn/Büttner ZIP 2016 1801, 1805 ff.

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Demgegenüber gilt das Analogieverbot nicht bei außerstrafrechtlichen Regelungen, 258 die durch rechtsnormative Tatbestandsmerkmale in Bezug genommen werden (zur Abgrenzung von Blankettverweisungen und normativen Tatbestandsmerkmalen siehe Rdn. 149). Bei rechtsnormativen Tatbestandsmerkmalen kann eine außerstrafrechtliche Analogie daher strafbegründende oder strafschärfende Wirkung haben.1110 So kann ein Vermögensschaden unter Rückgriff auf eine zivilrechtliche Analogie begründet werden oder die Fremdheit einer Sache auf einer analogen Anwendung zivilrechtlicher Normen beruhen. Ein Beispiel bietet die Rechtsprechung zum sogenannten Beitragsbetrug, der in der Zeit vor dem Inkrafttreten des 2. Gesetzes zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität im Zusammenhang mit unerlaubter gewerbsmäßiger Arbeitnehmerüberlassung begangen worden ist:1111 Der Bundesgerichtshof behandelte den illegalen Verleiher, der den Leiharbeiter entlohnt hat, trotz Nichtigkeit des Arbeitsvertrags und trotz der gesetzlichen Fiktion eines Arbeitsverhältnisses nur zwischen ihm und dem Entleiher1112 im Rahmen des § 263 als Arbeitgeber, der der Einzugsstelle an seinem Sitz „in typisch sozialversicherungsrechtlicher Betrachtungsweise“ zur Beitragszahlung verpflichtet war, zumal das Bundessozialgericht eine planwidrige Unvollständigkeit des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes im Wege der Lückenausfüllung behoben hatte.1113 Auf dieser Grundlage außerstrafrechtlicher Analogie hat der Bundesgerichtshof angenommen, dass die Arbeitgebereigenschaft, welche die Beitragspflicht begründe – anders als bei den Strafvorschriften der Reichsversicherungsordnung und des Arbeitsförderungsgesetzes (jetzt Sozialgesetzbuch III) – bei § 263 nicht Tatbestandsmerkmal oder sonstiger Inhalt der Strafbestimmung sei. Das Verbot strafbegründender und strafschärfender Analogie werde deshalb nicht dadurch berührt, dass das Verhalten des illegalen Verleihers als vollendeter Betrug gewertet werde.1114 Auch die Pflichtwidrigkeit bei § 266 ist nach h.M. normatives Tatbestandsmerkmal, ihre Verweisung auf das Aktiengesetz usw. ist daher nicht an Art. 103 Abs. 2 GG zu messen.1115 bb) Allgemeiner Teil des Strafrechts. Darüber hinaus gilt das Analogieverbot nach 259 Auffassung des Bundesgerichtshofs (BGHSt 42 158, 161) auch für strafbarkeitsbegründende und strafbarkeitsbegrenzende Merkmale des Allgemeinen Teils. Dies ist heute auch im Schrifttum ganz überwiegend anerkannt.1116 Soweit im Schrifttum gelegentlich nur eine Gesetzesanalogie (Rdn. 244) im Allgemeinen Teil zugelassen und eine Rechtsanalogie (Rdn. 244) ausgeschlossen wird,1117 besteht für diese Einschränkung des Analogieverbots kein überzeugender Grund. Das Analogieverbot gilt auch für die allgemeinen Zurechnungslehren (Rdn. 174)1118 260 sowie für die Regelungen des Allgemeinen Teils, die die Strafbarkeit begründen oder

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1110 So ausdrücklich Roxin AT I § 5 Rdn. 41 m.w.N; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 240; vgl. auch. 1111 BGH NStZ 1987 454 f m. zust. Anm. Seibert NStZ 1988 30. 1112 BGHSt 31 32 ff. 1113 BSG Urteilssammlung für die gesetzliche Krankenversicherung (USK) 1984 Nr. 8495. 1114 BGH NStZ 1987 454, 455. 1115 Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 264 m.N. Vgl. auch BVerfGE 126 170, 204 (Rdn. 95 f). 1116 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 21; Bringewat Rdn. 176; Hassemer/Kargl NK Rdn. 72; Höpfel JBl. 1979 505 ff, 548; Jescheck/Weigend AT § 15 III 2c; Krey Studien S. 228 ff; Maurach/Zipf/Jäger § 10 Rdn. 21; Jäger SK Rdn. 51; Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 50; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 81; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 31; näher dazu auch Dannecker FS Otto 25, 30; Fincke S. 13 ff; Jähnke FS [Praxis] 50 J. BGH 393 ff; jeweils m.w.N.; aA Schick FS Walter 625, 639, der sich für eine kriminalpolitisch motivierte Interpretation ausspricht. 1117 So Tröndle LK10 Rdn. 38; vgl. auch R. Schmitt FS Jescheck 231 f. 1118 AA Jakobs AT 4/43.

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diese begrenzen (Rdn. 172 ff, 177 ff), wie z.B. die §§ 13, 18, 23 Abs. 2, 27 Abs. 2, 30, 38 Abs. 2, 40 Abs. 1 Satz 2.1119 Auch hier muss sich die Rechtsprechung im Rahmen des Gesetzeswortlauts und des möglichen Wortsinns halten und ihrer Konkretisierungsaufgabe nachkommen (Rdn. 300 ff). Dabei hat der Gesetzgeber vielfach Streitfragen bewusst der Klärung durch die Rechtsprechung und Wissenschaft überlassen (Rdn. 174, 318). In diesen Bereichen bleibt dem Richter – entsprechend dem Willen des Gesetzgebers – ein sehr viel größerer Spielraum bei der konkretisierenden Auslegung als im Bereich des Besonderen Teils (Rdn. 173 f).1120 Auch eine den möglichen Wortsinn überschreitende teleologische Reduktion1121 261 strafgesetzlich geregelter Rechtfertigungsgründe im Wege der (Gegen-)Analogie stellt eine unzulässige Korrektur des Gesetzeswortsinns dar und ist deshalb nach h.M. unzulässig.1122 Denn die Rechtfertigungsnormen bestimmen den Umfang der Strafbarkeit mit. Eine Einschränkung der gesetzlichen Regelung entgegen dem Wortlaut zum Nachteil des Täters bedeutet daher eine unzulässige Ausweitung der Strafbarkeit.1123 Deshalb wäre z.B. eine allgemeine Güterabwägung im Rahmen des § 32 unzulässig. Gleiches gilt nach h.M., wenn Entschuldigungs- oder Strafmilderungsgründe über die Grenzen des Wortlauts hinaus im Wege der teleologischen Reduktion eingeschränkt werden.1124 262 Bei den außerstrafrechtlich geregelten oder gewohnheitsrechtlichen Rechtfertigungsgründen sollen Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 nach h.M. nicht eingreifen, da es sich um außerstrafrechtliche oder gewohnheitsrechtliche Rechtsquellen handele, die von vornherein Art. 103 Abs. 2 GG nicht unterliegen sollen.1125 Jedoch müssen auch diese Rechtfertigungsgründe, wenn sie im Strafrecht Anwendung finden, den strafrechtlichen Garantien entsprechen und sind damit dem Analogieverbot zu unterstellen, das eine den möglichen Wortsinn überschreitende teleologische Reduktion verbietet.1126 Wenn hiergegen der Einwand erhoben wird, dass diese Rechtfertigungsgründe regelmäßig nicht nur strafrechtliche Wirkungen entfalten, sondern auch auf dem Gebiet des Zivil- und des öffentlichen Rechts zum Unrechtsausschluss führen, die Gewährleistungen des Art. 103 Abs. 2 GG sich aber nicht auf die gesamte Rechtsordnung erstreckten,1127 kann dies nicht überzeugen. Soll die Rechtfertigung eines Verhaltens mit Rücksicht auf zivil- oder öffentlichrechtliche Folgewirkungen entgegen dem Wortlaut eines Erlaubnistatbestandes versagt werden, so kann dies auch dadurch geschehen, dass dem Rechtfertigungsgrund in der jeweiligen Konstellation nur eine strafunrechtsausschließende Wirkung beigemes-

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1119 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 21; Schmitz MK Rdn. 13, 68; Maurach/Zipf/Jäger § 10 Rdn. 21; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 31. 1120 Dannecker FS Otto 25, 33 ff; Jäger SK Rdn. 51; Tiedemann FS Baumann 7, 15. 1121 Vgl. dazu Larenz/Canaris Methodenlehre S. 191 ff m.w.N. 1122 Engels GA 1982 109, 114; Engisch FS Mezger 127, 131; Erb ZStW 108 (1996) 271 ff, 279, 296 f; Hassemer/Kargl NK Rdn. 70; Gaede AnwK Rdn. 39; Hirsch LK11 Vor § 32 Rdn. 37; ders. GedS Tjong 50 ff; ders. FG-Wiss. 50 J. BGH Bd. IV 199; Krause GA 1979 329, 330; Kratzsch GA 1971 65, 72; Krey Studien S. 233 ff; Paeffgen/Zabel NK Vor §§ 32 ff Rdn. 66; Rogall KK-OWiG § 3 Rdn. 63; Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 50; Jäger SK Rdn. 55; Seebode FS Krause 375, 380 ff; aA Günther FS Grünwald 213, 218 ff; Jakobs AT 2 4/44 Fn. 75 m.w.N.; Roxin AT I § 5 Rdn. 42; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 80. 1123 Engels GA 1982 109, 114 ff; Kratzsch GA 1971 72; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 13; Tiedemann Artikel „Auslegung“ in Krekeler/Tiedemann/Ulsenheimer/Weinmann HWiStR S. 1, 5; aA Amelung JZ 1982 620; Krey Studien S. 234 ff; Roxin AT I § 5 Rdn. 42; ders. ZStW 93 (1981) 68, 79 f. 1124 Krey Studien S. 233, 236; Schmitz MK Rdn. 68; vgl. auch BGHSt 42 158, 161 zu § 24. 1125 Hirsch GedS Tjong 50, 63 ff; Jescheck/Weigend AT § 13 III 3; Kratzsch GA 1971 65, 72 f; Roxin AT I § 5 Rdn. 42; Jäger SK Rdn. 55 m.w.N.; wohl auch Engels GA 1982 109, 120. 1126 So zutreffend Paeffgen/Zabel NK Vor §§ 32 ff Rdn. 67; Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 50. 1127 So Krey Studien S. 234 ff; Amelung in Schünemann Grundfragen S. 95; Roxin AT I § 5 Rdn. 42.

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sen wird1128 oder aus dem Verbot einer dem Gesetzeswortlaut zuwiderlaufenden Bestrafung nach Art. 103 Abs. 2 GG in diesen Fällen ein unmittelbar aus der Verfassung wurzelnder Strafausschließungsgrund abgeleitet wird, der die Rechtswidrigkeit des Verhaltens als solche unberührt lässt.1129 Auch der Einwand, dass die Erlaubnisnormen infolge ihrer Geltung für die jeweils unterschiedlichsten Sachverhalte „naturgemäß“ so konzipiert werden müssten, dass sie dem Rechtsanwender einen Spielraum für einzelfallbezogene Angemessenheitsüberlegungen überlassen,1130 kann nicht legitimieren, sich über den klaren Gesetzeswortlaut hinwegzusetzen.1131 Ebenso wenig kann der Hinweis auf die sich aus dem Analogieverbot ergebende Ungleichbehandlung ähnlich gelagerter Sachverhalte überzeugen, da diese Ungleichbehandlung in der freiheitssichernden Funktion des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips angelegt und deshalb grundsätzlich hinzunehmen ist (Rdn. 239).1132 cc) Gesetzesumgehendes Verhalten. Eine Gesetzesumgehung liegt vor, wenn es 263 dem Täter gelingt, die Lücke zwischen Wortlaut und Telos der Norm zu finden.1133 Für die allgemeine Dogmatik des Strafrechts hat die Gesetzesumgehung nur geringe Bedeutung erlangt.1134 Gesetzesumgehungen1135 können nach h.M. nur geahndet werden, soweit das in Frage stehende Verhalten noch mit den Mitteln zulässiger Auslegung unter den Straftatbestandes subsumiert werden kann.1136 Die sich aus Art. 103 Abs. 2 GG ergebenden Möglichkeiten einer Umgehung des Tatbestandes sind als Folge der Verpflichtung des Gesetzgebers hinzunehmen, die Voraussetzungen der Strafbarkeit durch konkrete Umschreibung der Tatbestandsmerkmale präzise zu bestimmen.1137 Charakteristisch für die Gesetzesumgehung ist, dass die Rechtsnormen unvollkommen und schlecht gefasst sind und der Gesetzeswortlaut deshalb den Sachverhalt – der nach dem Sinn der Vorschrift umfasst sein sollte – nicht abdeckt. Die Überschreitung des Wortlauts stellt aber eine verbotene Analogie dar, der im Strafrecht Art. 103 Abs. 2 GG entgegensteht. So konnte das Reichsgericht (RGSt 71 135 ff) in einem Fall, in dem der Zolltarif für Kaviar von Umschließung und Menge abhing, einen Importeur, der hochwertigen Kaviar aus kleinen Dosen in größere Behälter umgefüllt und sich damit einen günstigeren Zolltarif erschlichen hatte, nur deshalb wegen Zollhinterziehung verurteilen, weil zur damaligen Zeit das Analogieverbot nicht gegolten hat (siehe dazu oben Entstehungsgeschichte Vor Rdn. 1). Neben der künstlichen Vermeidung von Verboten fällt auch das Erschleichen eines gewährenden Rechtssatzes unter den Umgehungsbegriff,1138 so wenn die Not-

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1128 Vgl. dazu Hirsch GedS Tjong 60. 1129 Hirsch LK11 Vor § 32 Rdn. 37; ders. GedS Tjong 50, 61. 1130 Roxin Kriminalpolitik S. 24 ff; ders. ZStW 93 (1981) 68, 79 f. 1131 Erb ZStW 108 (1996) 266, 272 f. 1132 Näher dazu Erb ZStW 108 (1996) 266, 274 ff. 1133 Th. Schröder S. 31 f, 245 ff, 409 f, 416; Pohl S. 8; Stöckel S. 14; Tiedemann Artikel „Umgehung“ in Krekeler/Tiedemann/Ulsenheimer/Weinmann HWiStR S. 1; Teichmann S. 104; Wank S. 73 f; Westerhoff S. 21 f, 205. 1134 Dazu Bruns GA 1986 1; Th. Schröder S. 46; Vogel in Schünemann/Suárez Wirtschaftsstrafrecht S. 151 f. 1135 Eingehend dazu Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 283 ff m.w.N. 1136 RG JW 1918 451; BGH NStZ 1982 206; OLG Frankfurt JZ 1982 477, 478; Jäger SK Rdn. 49; Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 49; Schmitz MK Rdn. 69; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 55; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 293; vgl. dazu auch Bruns GA 1986 1, 25 ff; Stöckel S. 98 ff. 1137 BVerfGE 71 206, 217; vgl. auch Schmitz MK Rdn. 69; Th. Schröder S. 401 f. 1138 Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 287; eingehend dazu auch Vogel in Schünemann/Suárez Wirtschaftsstrafrecht S. 151 ff m.w.N.

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wehr als Erlaubnisnorm durch eine Absichtsprovokation erschlichen wird,1139 um in den Anwendungsbereich einer Norm zu kommen.1140 Hingegen unterfällt gesetzesumgehendes Verhalten einem Straftatbestand, wenn 264 der Strafgesetzgeber einen speziellen strafrechtlichen Umgehungstatbestand geschaffen hat, wie dies bei § 145c mit der Androhung der Strafbarkeit desjenigen, der einen Beruf „durch einen anderen für sich ausüben lässt, obwohl dies ihm … strafgerichtlich untersagt ist“, der Fall ist. Teilweise verwendet auch der Gesetzgeber den Begriff des Umgehens, so bei § 108b Abs. 1 Nr. 1 UrhG i.d.F. von 2003, oder des Erschleichens, so bei § 265a,1141 als ausdrückliches Tatbestandsmerkmal. Solche Umgehungsklauseln sind bei hinreichend bestimmter tatbestandlicher Ausgestaltung der Handlungsumschreibung vertretbar und unterfallen nicht dem Analogieverbot.1142 Umgehungsverhalten kann grundsätzlich auch bei außerstrafrechtlichen Normen, 265 die durch Blankettstrafgesetze in Bezug genommenen werden, keine Strafbarkeit begründen. Wenn ein Straftatbestand allerdings an ein Gesetz anknüpft, das seinerseits eine Gesetzesumgehung im Wege einer entsprechenden Anwendung erfassen will und hierfür gesetzliche Sonderregelungen bestehen, die einem Gestaltungsmissbrauch entgegenwirken sollen, wendet die h.M. solche außerstrafrechtlichen Umgehungsklauseln auch im Strafrecht an. Solche gesetzliche Missbrauchsregelungen finden sind in § 42 AO (Rdn. 266), § 4 SubvG und Art. 4 Abs. 3 EGVO Nr. 2988/95, die nach h.M. zur Begründung der Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung bzw. Subventionserschleichung herangezogen werden können.1143 Allerdings finden sich nur vereinzelt strafrechtliche Entscheidungen zu diesen Vorschriften. Dies liegt darin begründet, dass die Umgehungsregelungen zu Recht restriktiv ausgelegt werden. Dies kann anhand der steuerrechtlichen Regelung des § 42 AO verdeutlicht werden: 266 Diese Vorschrift beinhaltet eine Fiktion des den wirtschaftlichen Vorgängen angemessenen Sachverhalts, damit ein steuerlich relevanter Vorgang unter einen Steuertatbestand subsumiert werden kann, der diesen Vorgang zwar nicht zwingend nach seinem Wortlaut, aber jedenfalls nach seinem Sinn und Zweck erfasst. Dogmatisch ist § 42 AO nicht als Analogie im technischen Sinne (Rdn. 244), sondern als extensive Auslegung vorhandener steuerlicher Rechtssätze einzuordnen, die aber im Falle der Ausfüllung strafrechtlicher Bezugsnormen ohne ausdrückliche Normierung einer Umgehungsklausel nicht mehr zulässig wäre. Seit der Änderung durch das Jahressteuergesetz 2008 definiert § 42 Abs. 2 Satz 1 AO (in Anlehnung an die ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs und zur Ersetzung der bis dahin entstandenen steuerrechtlichen Kasuistik)1144 selbst den Begriff des „Missbrauchs“: „Ein Missbrauch liegt vor, wenn eine unangemessene rechtliche Gestaltung gewählt wird, die beim Steuerpflichtigen oder einem Dritten im Vergleich zu einer angemessenen Gestaltung zu einem gesetzlich nicht vorgesehenen Steuervorteil führt“. Nach Satz 2 gilt dies nicht, wenn der Steuerpflichtige für die gewählte Gestaltung außersteuerliche Gründe nachweist, die nach dem Gesamtbild der Verhältnisse „beacht-

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1139 Th. Schröder S. 46 ff; vgl. auch Jakobs AT 4/42a Fn. 72c. 1140 Th. Schröder S. 72 ff m.w.N. und weiteren Beispielen. 1141 Näher dazu Tiedemann LK12 § 265a Rdn. 36. 1142 Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 293; Th. Schröder S. 361 ff; aA S. Cramer NStZ 1996 136. 1143 BGH wistra 1982 108, 109 m. Anm. Jobski; BGH wistra 1990 307, 308; Jakobs AT 4/42; Joecks/Jäger/Randt/Jäger § 370 AO Rdn. 199 ff m.w.N.; Tiedemann LK12 § 264 Rdn. 140; aA Röckl S. 263, 283; Schulze-Osterloh in Kohlmann Strafverfolgung und Strafverteidigung im Steuerstrafrecht (1983) S. 43, 62 ff; Wenderoth S. 280 ff; Bedenken äußern auch Schmitz MK Rdn. 69 und Th. Schröder S. 386 ff. 1144 BTDrucks. 16/7036 S. 2; vgl. BFH DB 1997 1747; DStR 2002 1348, 1349 m.w.N.; vgl. auch die Urteilsübersicht bei Werdich DStR 1995 672, 673 f.

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lich“ sind; d.h. der Steuerpflichtige trägt im Verhältnis zur Finanzverwaltung die Beweislast. Nach wie vor wird die Bestimmung einer missbräuchlichen Gestaltung i.S.d. § 42 AO so von unbestimmten Rechtsbegriffen geprägt, deren konkrete Ausfüllung noch immer umstritten ist.1145 Entscheidend ist jedoch, dass § 42 AO kein eigenständiger Ausfüllungstatbestand ist, sondern dazu ermächtigt, über den Anwendungsbereich der Steuergesetze hinaus Fälle zu erfassen, die ansonsten nur durch eine extrem weite wirtschaftliche Betrachtungsweise (näher dazu Rdn. 320 ff) erfasst werden könnten. Dies ist zur Begründung der Strafbarkeit nur dann mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar, wenn diese steuerliche Umgehungsregelung im Zusammenhang mit dem Steuerhinterziehungstatbestand des § 370 AO äußerst restriktiv gehandhabt wird.1146 Spezielle Umgehungsklauseln stellen weiterhin Straftatbestände dar, die materielle 267 Fälle der Mittäterschaft oder Beihilfe auch für den Fall unter Sanktionsandrohung stellen, dass die Mittäterschaft oder Beihilfe nicht nachzuweisen ist, so z.B. § 291 Abs. 1 S. 2, der für die Berechnung des auffälligen Missverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung beim Wucher im Falle des Zusammenwirkens mehrerer als Leistende, Vermittler oder „in anderer Weise“ vorsieht, dass alle Leistungen zusammenzurechnen sind.1147 Solche gesetzlichen Regelungen verstoßen nicht gegen das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG, das sich an den Rechtsanwender richtet, sondern allenfalls gegen das primär an den Gesetzgeber gerichtete Bestimmtheitsgebot, wenn sie nicht hinreichend bestimmt sind. dd) Strafrechtliche Rechtsfolgen und Strafzumessung. Das Verbot der Analogie 268 zum Nachteil des Angeklagten gilt ebenso wie das Gesetzlichkeitsprinzip (Rdn. 89 ff) und der Bestimmtheitsgrundsatz (Rdn. 223 ff) nach h.M. auch für die strafrechtlichen Rechtsfolgen.1148 So ist es verboten, im Wege der Analogie die Strafdrohung zu schärfen oder gesetzlich nicht vorgesehene Nebenstrafen oder Nebenfolgen zu verhängen (BGHSt 18 136, 140). Auch bei der Auslegung von Strafzumessungsvorschriften ist das Analogie- 269 verbot zu beachten, da auch die Strafzumessung Rechtssicherheit, Vertrauensschutz und Täuschungsfreiheit verletzen kann und das vom Gesetzgeber durch Strafzumessungsregeln vorgegebene Entscheidungsprogramm für den Strafrichter verbindlich ist (Rdn. 232). Im Rahmen der Strafzumessung handelt es sich um eine zulässige Analogie, wenn 270 die Annahme eines besonders schweren Falles eines Straftatbestandes entweder – im Zusammenhang mit der Regelbeispieltechnik – durch einen Vergleich mit einem gesetzlichen Regelbeispiel (Rdn. 233 f) begründet wird oder wenn dies – bei den unbenannten besonders schweren Fällen (Rdn. 234) – durch eine vergleichende Betrachtung mit einem schwereren anderen Delikt geschieht, bei § 212 Abs. 2 etwa in Abwägung zu den verschiedenen Formen des Mordtatbestandes (Rdn. 235). Die analoge Anwendung der Regelbeispiele auf unbenannte besonders schwere Fälle, bei denen der gleiche Schweregrad wie im Beispielsfall vorausgesetzt wird, ist gerade der Sinn der Regelbeispieltechnik, durch die dem Strafrichter ein differenzierteres Argumentationsprogramm und we-

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1145 Zum Streitstand Th. Schröder S. 99 f m.w.N. 1146 Für eine rechtstheoretische Begründung der restriktiven Anwendung des § 42 AO Th. Schröder S. 107. 1147 Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 296; Th. Schröder S. 168 f. 1148 BVerfGE 105 135, 153; BGHSt 18 136, 140; OLG Karlsruhe NStZ 1991 302; Bringewat Rdn. 176; Krey Studien S. 215 ff; Jäger SK Rdn. 49; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 80; Sch/Schröder/Eser/ Hecker Rdn. 28; Stree Deliktsfolgen S. 33 ff, 79 ff.

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niger ein bestimmtes Ergebnis vorgeben wird. Da der Gesetzgeber ein solches Vorgehen ausdrücklich anordnet, liegt hierin kein Verstoß gegen das Analogieverbot;1149 es handelt sich um eine gleichsam „legalisierte“ Analogie,1150 bei der die Gleichwertigkeit mit den Regelbeispielen eine Anwendung des erhöhten Strafrahmens rechtfertigt.1151 Der Gesetzgeber selbst unterliegt bei der Ausgestaltung der Regelbeispiele dem Be271 stimmtheitsgebot. Entsprechend ist das Analogieverbot bei der Auslegung der Regelbeispiele zu beachten.1152 Die Erlaubnis einer analogen Rechtsanwendung bei den Regelbeispielen würde in der Strafrechtspraxis das Bestimmtheitsgebot leer laufen lassen, weil der Strafrichter die Bedeutungsgrenzen präziser gesetzlicher Merkmale wie „Schutzvorrichtung“ oder „gewerbsmäßig“ überschreiten dürfte. Hierfür gibt es keine Rechtfertigung, denn die exemplifizierende Methode soll gerade verhindern, dass das Auslegungsverfahren konturenlos wird. Es soll ermöglicht werden, dass die richterliche Gesamtwürdigung sich an präzisen begrifflichen Vorgaben orientiert.1153 So hat das Bundesverfassungsgericht es zutreffend als Verletzung von Art. 103 Abs. 2 GG angesehen, einen PkW unter den Begriff der Waffe in § 113 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 zu fassen;1154 ein unbenannter besonders schwerer Fall hätte freilich angenommen werden dürfen, so dass es hier letztlich eher um die Sicherung einer präzisen Argumentation als um ein falsches Ergebnis der Rechtsanwendung geht. ee) Verfahrensrecht. Das Analogiegebot des Art. 103 Abs. 2 GG beschränkt seine Wirkung auf das materielle Strafrecht. Im Verfahrensrecht soll eine Analogie zu Lasten des Täters nach h.M. grundsätzlich zulässig sein,1155 weil der Prozessbeteiligte regelmäßig diejenige Verfahrensbehelligung zu erdulden habe, die sich aus den Erfordernissen des Prozesses ergebe.1156 273 Eine Ausnahme wird allerdings zutreffend für Fälle gemacht, in denen sich aus dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt bei Grundrechtseingriffen ein Analogieverbot ergibt. Dies ist bei Eingriffen in Freiheitsrechte der Beschuldigten1157 und bei Vorschriften mit Ausnahmecharakter der Fall.1158 Daher kann die Vorschrift des § 232 Abs. 1 S. 1 a.F. (Ersetzung des Strafantrags durch Erklärung des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung bei gewissen Körperverletzungen, jetzt § 230) nicht auf das Gebiet der Beleidigung analog angewendet werden (BGHSt 7 256, 258 ff), dies auch deshalb nicht, weil das 21. StRÄndG eine – beschränkte – Verfolgungsmöglichkeit von Amts wegen bei Beleidigung und Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener besonders geregelt hat

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1149 Krey Studien S. 237; krit. dazu aber Arzt JuS 1972 385 ff, 515 ff, 576 ff; Blei FS Heinitz 419, 425 f; Degener FS Stree/Wessels 323 f; Dietmeier ZStW 110 (1998) 408; Hassemer/Kargl NK Rdn. 73; Maiwald NStZ 1984 433 ff; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 80 f; Schmitz MK Rdn. 66, 70; Zieschang Jura 1991 561 ff. 1150 Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 29. 1151 Bindokat JZ 1969 541; Krey Studien S. 237; Schmitz MK Rdn. 70. 1152 So zutreffend Arzt JuS 1972 515, 516; aA Jäger SK Rdn. 56; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 29. 1153 AA Schmitz MK Rdn. 70, der die Analogie „in engen Grenzen“ für zulässig hält. 1154 BVerfG NJW 2008 3627 ff; dazu Kudlich JR 2009 210; Wörner ZJS 2009 236 ff. 1155 Vgl. nur Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 23; Krey Studien S. 35, 238; Roxin AT I § 5 Rdn. 43, 57 ff; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 34; jeweils m.w.N.; aA Jahn in Kudlich/Montiel/Schuhr S. 223, 230 m.w.N., der von einer grundsätzlichen Gleichwertigkeit von Strafrecht und Strafprozessrecht ausgeht. 1156 Henkel S. 69. 1157 Amelung NJW 1977 835 ff; Loos AK-StPO Einleitung III Rdn. 22; Schwabe S. 113 ff; Kudlich in Kudlich/Montiel/Schuhr S. 233, 244 ff. 1158 Satzger SSW Rdn. 67. Weitergehend Mertens S. 147 ff, der sich generell gegen die Analogie im Strafverfahrensrecht ausspricht, dies jedoch nicht auf Art. 103 Abs. 2 GG stützt.

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(§ 194 Abs. 1 S. 2 bis 5, Abs. 2 S. 2 bis 4). Ebenso ist die Schaffung oder Ausweitung von Untersuchungshaftgründen im Wege der Analogie ausgeschlossen.1159 Weitergehend wird in der Literatur teilweise die Auffassung vertreten, das Analogie- 274 verbot sei für alle „eingreifenden“ Verfahrensakte1160 bzw. im Bereich beweisbildender Verfahrensnormen wegen deren strafbegründendem Charakter1161 bzw. bei den Beweisverboten1162 anwendbar. Dies wird damit begründet, dass nicht die Straftat, sondern erst die justizförmig nachgewiesene Straftat strafbar sei, so dass die Strafbarkeit durch das Prozessrecht mitbegründet werde. Wenn die Strafbarkeit in einem Rechtsstaat nur durch ein justizförmiges Verfahren festgestellt werden könne, werde das Verfahren auf diese Weise selbst zur Strafbarkeitsvoraussetzung und das Verfahrensrecht damit zu einem untrennbaren Teil des Strafrechts.1163 Strafbestimmenden Inhalt sollen alle Beweiserhebungsnormen haben, sofern sie nicht lediglich der Verfahrensordnung oder einleitung dienen oder keinerlei Beschwer für den Betroffenen mit sich bringen. Außerdem soll dies dort gelten, wo Verfahrensvorschriften den prozessualen Eingriff auf bestimmte Katalogtaten beschränken; einer analogen Erweiterung der Katalogtaten soll Art. 103 Abs. 2 GG entgegenstehen, weil das Verfahrensrecht an der Strafbarkeit anknüpfe und gleichsam den Bestimmtheitsgrundsatz in Prozessrecht transformiere. Diese Argumentation kann nicht überzeugen. Wenn ein zivilrechtlicher Schadenser- 275 satzanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit einem strafrechtlichen Schutzgesetz geltend gemacht wird, bewirkt die Inbezugnahme durch das Zivilrecht nicht, dass im Zivilverfahren der strafrechtliche Grundsatz „in dubio pro reo“ gilt. Vielmehr nimmt die in Bezug genommene Strafvorschrift den Charakter des Bezugsrechts an und ist an den dort geltenden Rechtsprinzipien zu messen, wie dies im umgekehrten Fall bei strafrechtlichen Blankettverweisungen der Fall ist, die eine Anwendung des Art. 103 Abs. 2 GG auf die außerstrafrechtlichen Regelungen zur Folge haben (Rdn. 152). Auch das Abstellen auf die strafrechtsdienende und damit rechtsgüterschützende Funktion der Beweisvorschriften kann die Anwendbarkeit des Art. 103 Abs. 2 GG auf das Beweisrecht nicht begründen. Vielmehr kommt es entscheidend darauf an, ob es sich um eine Tatoder eine Rechtsfrage handelt. Erst wenn durch prozessuale Vorschriften eine Bewertung des Unrechts vorgenommen wird, greift Art. 103 Abs. 2 GG ein (näher dazu Rdn. 415).1164 Dies ist aber bei den Beweisregeln der Strafprozessordnung nicht der Fall.1165 Das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG muss jedoch für strafprozessuale Normen 276 gelten, welche sich unmittelbar auf die Strafbarkeit auswirken, so z.B. für den Rechtfertigungsgrund des § 127 StPO. Dieser darf nicht im Wege der teleologischen Reduktion zu Lasten des Täters eingeschränkt werden; hierin läge eine unzulässige Gegenanalogie (Rdn. 261 f). Gleiches muss für prozessuale Normen gelten, sofern diese eine Bewertung des Gesetzgebers über das Unrecht der Tat zum Ausdruck bringen (Rdn. 415 ff). Dies kann bei den Vorschriften über die Einstellung des Verfahrens aus Opportunitätsgründen (Rdn. 419 ff) und über Prozessvoraussetzungen und Prozesshindernisse, wie das Strafantragserfordernis und die Verjährung (Rdn. 424 ff), der Fall sein.

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1159 Jäger GA 2006 615, 617 verallgemeinernd für alle „eingreifenden“ Verfahrensakte; Tiedemann FS Peters 131, 133 ff. 1160 So Tiedemann FS Peters 131, 133 ff; Roxin/Arzt/Tiedemann Einführung S. 112. 1161 Jäger GA 2006 615 ff. 1162 So H.L. Schreiber ZStW 80 (1976) 366; näher dazu Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 353 ff. Grundlegend zu dieser Auffassung K. Peters Strafrechtsgestaltende Kraft, passim. 1163 Jäger GA 2006 615, 619. 1164 Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 354 ff. 1165 Näher dazu Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 353 ff.

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ff) Maßregeln der Besserung und Sicherung. Der Problematik, die sich bei der Anwendung des § 1 und des Art. 103 Abs. 2 GG aus dem Nebeneinander von Strafen und Maßregeln der Besserung und Sicherung ergibt (Rdn. 165),1166 ist der Bundesgerichtshof für den Bereich des Analogieverbots mit einem Hinweis auf das Rechtsstaatsprinzip ausgewichen. Danach betrifft das Analogieverbot aus rechtsstaatlichen Gründen, die über den Bereich der Bestimmung der Strafbarkeit hinausreichen, auch sichernde Maßnahmen und andere Rechtsfolgen, die keinen Strafcharakter haben. Das gilt auch für die Einziehung und Unbrauchbarmachung, soweit sie keine Strafen sind (Rdn. 92; vgl. auch § 2 Abs. 5; näher dazu § 2 Rdn. 134). Durch diese Maßnahmen wird vielfach bedeutsam in das Eigentum oder andere dingliche Rechte Beteiligter eingegriffen. Das Grundgesetz stellt das Eigentum unter besonderen Schutz. Die Schranken des Eigentums werden nach Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG durch die Gesetze bestimmt. 1167 Damit erzielt die Rechtsprechung dieselben Ergebnisse wie das Schrifttum, soweit dieses das Analogieverbot auch auf die Maßregeln der Besserung und Sicherung anwendet (Rdn. 95). Nunmehr ist aufgrund der inzwischen gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts davon auszugehen, dass Maßregeln der Besserung und Sicherung nicht Art. 103 Abs. 2 GG unterfallen (Rdn. 94; 408 f).1168

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e) Beispiele aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Rechtliche Wertungen, in denen eine unzulässige Analogie gesehen worden ist, sind (in der Reihenfolge der StGB-Normen mit anschließenden Beispielen zum Nebenstrafrecht): Die „actio libera in causa“ als Ausnahme von § 20,1169 die Verhängung eines Berufsverbots (§ 70 Abs. 1) in Fällen, in denen betrügerische Handlungen im Hinblick auf eine beabsichtigte oder vorgetäuschte Tätigkeit schon deutlich die künftige Unzuverlässigkeit des Täters zeigen und deshalb eine die Betrügereien fördernde Geschäftsaufnahme verhindert werden muss;1170 das Behandeln von Parolen, die denen einer verfassungswidrigen Organisation nur ähneln, als Kennzeichen einer solchen nach § 86a;1171 die Subsumtion der Verunglimpfung der ersten beiden Strophen des Deutschlandlieds unter § 90a Abs. 1 Nr. 2;1172 die Subsumtion eines Zusammenschlusses zweier Personen unter den Begriff der Vereinigung i.S.d. § 129;1173 die Subsumtion eines menschenähnlichen Wesens (sog. Zombies) unter den Begriff „Mensch“ bei § 131;1174 das Unterlassen einer Unfallmeldung bei der Polizei, nachdem der Täter die Unfallstelle zur Rettung eines Verletzten verlassen hat, als „Flucht“ von der Unfallstelle im Sinne des § 142 a.F. (Fassung vor dem 13. StRÄndG)1175 sowie die Behandlung des unvorsätzlichen Entfernens als berechtigt oder entschuldigt in § 142 Abs. 2 Nr. 2;1176 die Qualifikation einer feststehenden Wand als „gefährliches Werkzeug“;1177 die Gleichsetzung des Begriffs „wider Willen“ (§ 237 a.F.) mit dem Merkmal „ohne Einwilligung“;1178 die Erstreckung des Begriffs nahestehende Person in § 241 Abs. 1

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1166 1167 1168 1169 1170 1171 1172 1173 1174 1175 1176 1177 1178

Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 28. BGHSt 18 136, 140. Ebenso Appel S. 507 ff. BGHSt 42 235, 241; s. dazu auch oben Rdn. 178. Hanack LK12 § 70 Rdn. 19 unter Hinweis auf BGHSt 22 144, 145 f. BVerfGK 8 159 = NJW 2006 3050 ff. BVerfGE 81 298, 309. BGHSt 28 167 ff. BVerfGE 87 209, 224 f. BGHSt 5 124, 129. BVerfGK 10 442 = NJW 2007 1666 ff. BGHSt 22 235, 236 f. BGHSt 23 1, 3.

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auf nicht existierende Personen;1179 eine „erweiternde Auslegung“ des Begriffs Gewalt in § 240 Abs. 1 auf Fälle der sog. passiven Gewalt;1180 die Subsumtion der Entziehung elektrischer Energie unter den Begriff der Wegnahme einer fremden beweglichen Sache gemäß § 242;1181 die Ausweitung des Begriffs der Bande (§ 244 Abs. 1 Nr. 2) auf den Zusammenschluss von zwei Personen;1182 die Ausdehnung des Tatbestands der Unterschlagung (§ 246 a.F.) im Wege „berichtigender Auslegung“ auf alle Fälle, in denen sich der Täter die Sache nicht durch Diebstahl zugeeignet hat („große berichtigende Auslegung“);1183 die Bejahung einer missbräuchlichen Benutzung eines Münzfernsprechers, bei der die Sperrvorrichtung mit Hilfe veränderter Zweipfennigmünzen überwunden wird, als Entziehung elektrischer Energie „mittels eines Leiters“ nach § 248c;1184 die Annahme eines Vermögensschadens ohne nach wirtschaftlichen Maßstäben nachvollziehbare konkrete Bezifferung bei § 263;1185 die Annahme eines Vermögensnachteils durch pflichtwidrige Keditaufnahme ohne konkret bezifferten Schaden bei § 266;1186 die Subsumtion einer Kettenbrief-Aktion unter den Begriff des Glücksspiels gemäß § 284;1187 die Ausdehnung des Begriffs „Führen eines Fahrzeugs im Verkehr“ (§ 316) auf das Starten des Motors;1188 die Ausdehnung des § 370 AO auf steuerliche Nebenleistungen;1189 die „wertende Auslegung“ des Merkmals „geringe Menge“ „mit Rücksicht auf den Einzelfall“ gemäß §§ 29a Abs. 2 Nr. 2, 30 Abs. 1 Nr. 4, 30a Abs. 1 BtMG;1190 die Bewertung des Besitzes von Zubehörteilen, mit denen mit wenigen Handgriffen eine genehmigungsbedürftige Fernmeldeanlage errichtet werden kann, als „Errichten“ einer solchen Anlage nach § 15 Abs. 1 FAG;1191 die Annahme, dass eine Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung „in entsprechender Anwendung“ des § 30 Abs. 1 S. 2 JGG unzulässig sei, wenn ein Schuldspruch (§ 27 JGG) gemäß § 31 Abs. 2 S. 1 JGG in eine neue Verurteilung zu Jugendstrafe einbezogen werde,1192 die Ahndung der Verletzung der Pflicht, einen Aufsichtsrat zu bilden (gem. § 1 Abs. 1 Nr. 3 DrittelbG) nach § 335 HGB i.V.m. § 325 Abs. 1 S. 3 HGB a.F. als Verletzung der Pflicht zur Veröffentlichung eines Jahresabschlusses, da dieser keinen Aufsichtsratsbericht enthielt;1193 die Erstreckung der bußgeldrechtlichen Verantwortung nach § 30 OWiG (a.F.) auf den Gesamtrechtsnachfolger bei fehlender (Nahezu-)Identität.1194 In zahlreichen anderen Fällen hat der Bundesgerichtshof allerdings eine noch zu-

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1179 BVerfG NJW 1995 2776, 2777; krit. dazu Küper JuS 1996 783, 788. 1180 BVerfGE 92 1, 14 ff. 1181 RGSt 32 165, 185; vgl. auch RGSt 29 111, 115. Die dadurch entstehende Regelungslücke wurde durch das „Gesetz betreffend die Bestrafung der Entziehung elektrischer Arbeit“ vom 9.4.1900 geschlossen; vgl. zu dieser Rechtsentwicklung und der Kritik hieran Kohlrausch ZStW 20 (1900) 459 ff. 1182 BGHSt (GS) 46 321, 326 ff; zust. Erb NStZ 2001 561 f; Ellbogen wistra 2002 9 f; Kindhäuser LPK § 244 Rdn. 31; Lackner/Kühl/Kühl § 244 Rdn. 6; Otto BT § 41 Rdn. 62; Rengier BT 1 § 4 Rdn. 91; Schmitz MK § 244 Rdn. 41; Sowada GedS Schlüchter 383, 387 ff; aA Sch/Schröder/Eser/Bosch § 244 Rdn. 24; Wessels/Hillenkamp BT 2 Rdn. 271a, jeweils m.w.N. Siehe auch Hermann Begriffsrelativität S. 265 ff. 1183 BGHSt 2 317, 319; Fischer § 244 Rdn. 34. 1184 Vgl. RGSt 68 65, 67 ff. 1185 BVerfGE 130 1, Rdn. 176 f mBespr Waßmer HRRS 2012 368 ff; Schlösser NStZ 2012 473, 475 ff; Bittmann wistra 2013 1 ff; Schuhr ZWH 2012 105. 1186 BVerfG BVerfGK 20 114 ff = NJW 2013 365, 366 f. 1187 BGHSt 34 171, 178. 1188 BGHSt 35 390, 392 ff. 1189 BGHSt 43 381, 406. 1190 BGHSt 42 1, 3. 1191 OLG Zweibrücken NStZ 1981 356. 1192 So zutreffend Bietz NStZ 1981 185, 186 gegen OLG Karlsruhe NStZ 1981 26. 1193 BVerfG NJW 2014 1431 ff. 1194 BGHSt 57 193, Rdn. 13 ff sowie bzgl. § 81 Abs. 4 GWB BGHSt 60 121 Rdn. 11, 20 f. Darauf hat der Gesetzgeber mit dem 8. Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen vom

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lässige Auslegung bejaht (näher dazu Rdn. 357 f), so dass in der Literatur in Zweifel gezogen wird, ob das allgemein anerkannte Analogieverbot tatsächlich eine wirksame Grenze für eine den Wortlaut des Tatbestands überschreitende Rechtsprechung darstellt.1195 Hingegen hat das Bundesverfassungsgericht keinen Verstoß gegen das Analogie279 verbot angenommen bei der Auslegung des § 125, der zufolge als Täter eines Landfriedensbruchs auch ein „ortsabwesender Hintermann“ bestraft wird, wenn und soweit diesem die Gewalttätigkeit als eigene Tat gemäß § 25 zugerechnet werden kann.1196 Zwar könne das Tatbestandsmerkmal „aus einer Menschenmenge“ den Schluss nahe legen, dass als Täter nur ein Mitglied dieser Menschenmenge in Frage komme. Ein solches Verständnis ließe jedoch wesentliche Veränderungen des 3. StRG vom 20.5.1970 (BGBl. I S. 505) außer Acht; diese Auslegung sei mit Sinn und Zweck der Strafnorm vereinbar.1197 Weiterhin wurden das Erschleichen einer Beförderung i.S.d. § 265a Abs. 1,1198 die Bejahung eines Vermögensschadens beim Anstellungsbetrug1199 und die Straßenverkehrsgefährdung durch falsches Überholen1200 als zulässig angesehen. In der Regel sieht das Bundesverfassungsgericht die Ergebnisse der Strafrechtsdogmatik und Strafrechtsprechung als verfassungsmäßig an.1201 Während der Zeit des Nationalsozialismus, in der das Analogieverbot aufgehoben 280 war (siehe Entstehungsgeschichte), hat die Rechtsprechung strafbegründende oder strafschärfende Analogien unter Anwendung des § 2 StGB 1935 (RGBl. I S. 839) in zunehmendem Maße für möglich gehalten, so in folgenden Fällen: Ahndung beschimpfenden Unfugs, der gegenüber einer Leiche in einer Leichenhalle verübt wird, als beschimpfenden Unfug „an einer Beisetzungsstätte“ im Sinne des § 168 a.F.;1202 Einbeziehung des leiblichen Vaters in den Täterkreis des § 174 Abs. 1 Nr. 1 a.F., der nach dem Gesetzeswortlaut auf Vormünder, Adoptiv- und Pflegeeltern, Lehrer und Erzieher beschränkt war;1203 Gleichstellung unzüchtiger Reden, die durch unzüchtige Anschauungsmittel unterstützt werden, mit einer „Vornahme unzüchtiger Handlungen“ im Sinne des § 174 Abs. 1 Nr. 1 a.F., durch die der Körper der Minderjährigen in Mitleidenschaft gezogen wird;1204 Bestrafung wegen schwerer Unzucht zwischen Männern entsprechend § 175a Nr. 3 a.F. wie bei einer „Verführung“, wenn der Täter einen Minderjährigen durch Verleitung zum Alkoholgenuss in einen willenlosen oder bewusstlosen Zustand versetzt und dann, vorgefasster Absicht entsprechend, zur Unzucht missbraucht;1205 entsprechende Anwendung des § 185 bei Beschimpfung und kränkender Herabsetzung eines Gefallenen, ohne dass die Voraussetzungen der Verleumdung Verstorbener (§ 189 a.F.) vorliegen;1206 Verfolgung der Verunglimpfung eines Kriegsvermissten ohne Strafantrag entsprechend § 189 Abs. 3

_____ 26.6.2013 (BGBl. I S. 1738) reagiert und den § 30 Abs. 2a OWiG für Fälle der Gesamtrechtsnachfolge oder partiellen Gesamtrechtsnachfolge durch Aufspaltung eingefügt. 1195 Grünwald ZStW 76 (1964) 1, 2; Hassemer/Kargl NK Rdn. 93 f; Schmitz MK Rdn. 77; Schünemann Nulla poena S. 4, 8. 1196 BVerfGE 82 236, 270. 1197 BVerfGE 82 236, 270. 1198 BVerfG NJW 1998 1135, 1136. 1199 BVerfG NJW 1998 2589, 2590. 1200 BVerfG NJW 1995 315. 1201 Tiedemann Verfassungsrecht und Strafrecht S. 10 ff, 21 ff. Zu den „Sündenfällen“ der Rechtsprechung Scheffler Jura 1996 505, 507; Schünemann Nulla poena S. 4. 1202 RGSt 71 323, 325. 1203 RGSt 76 242, 243 f; 77 59, 61. 1204 RGSt 76 165, 167. 1205 RGSt 72 50, 52. 1206 RGSt 77 53, 54 f; 77 56, 58.

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i.d.F. des Art. 9 der Verordnung vom 29.5.1943 (RGBl. I S. 339);1207 Anwendung des Tatbestands der schweren Diebstahls gemäß § 243 Abs. 1 Nr. 2 a.F., wenn der Dieb ein Behältnis, das er aus einem Gebäude weggenommen hat, in unmittelbarem Anschluss an die Wegnahme außerhalb des Gebäudes und des dazu gehörenden umschlossenen Raumes erbricht (vgl. jetzt § 243 Abs. 1 Nr. 2);1208 Möglichkeit der Hehlerei (§ 259) an Ersatzsachen, die der Vortäter selbst mit dem Erlös aus den durch die Vortat erlangten Gegenständen gekauft hat;1209 Bestrafung als Hehlerei in der Form des „Ansichbringens“ (§ 259), wenn der Täter sich ohne Einverständnis des Vortäters den Besitz an Sachen verschafft, die durch eine strafbare Handlung erlangt sind;1210 Annahme von Versicherungsbetrug entsprechend § 265, auch wenn der Versicherungsnehmer oder Versicherte selbst nicht an der Brandstiftung beteiligt ist, dem Täter die Versicherungssumme aber wirtschaftlich zugute kommt.1211 Trotz Aufhebung des Analogieverbots hat es das Reichsgericht dagegen abgelehnt, 281 kleinere unbewohnte Segel- oder Motorsportboote „Gebäuden“ oder „umschlossenen Räumen“ im Sinne des § 243 Abs. 1 Nr. 2 a.F. gleichzustellen.1212 f) Zulässigkeit der Analogie zugunsten des Täters. Die Gerichte werden nach 28 ganz h.M. in Rechtsprechung und Literatur durch das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG nicht gehindert, Tatbestandseinschränkungen vorzunehmen (Rdn. 284) oder die Vorschriften des Allgemeinen Teils (Rdn. 285 ff) analog anzuwenden, wenn dies zur Straffreiheit oder zu einer Strafmilderung führt.1213 Auch im Bereich der Rechtsfolgen kann die Analogie zugunsten des Täters nach allgemeiner Meinung zur Anwendung kommen (Rdn. 289 f).1214 Grenzen können sich hier im Einzelfall im Hinblick auf die Bindung der Rechtsprechung an das Gesetz gemäß Art. 20 Abs. 3 GG ergeben,1215 wenn das Gesetz erkennbar eine endgültige Regelung getroffen hat1216 und damit die allgemeinen Voraussetzungen einer Analogie nicht vorliegen (Rdn. 244, 283), nicht aber aus § 1 und Art. 103 Abs. 2 GG. aa) Voraussetzungen. Die Analogie zugunsten des Täters erfordert, dass die Vor- 283 aussetzungen einer Analogie im technischen Sinne vorliegen.1217 Daher muss zunächst eine planwidrige Gesetzeslücke festgestellt werden. Eine solche scheidet aus, wenn das Gesetz erkennbar eine endgültige Regelung getroffen hat.1218 Eine Gesetzeslücke kann sich im Rahmen einer Rechtserneuerung auch daraus ergeben, dass der Gesetzgeber die gebotene Folgerung aus einem allgemeinen Rechtsgedanken, dem er mit einer

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1207 RGSt 77 379. 1208 RGSt 75 43, 45 f. 1209 RGSt 72 146 ff; 76 31, 32. 1210 RGSt 73 151, 153 f. 1211 RGSt 75 60, 61. 1212 RGSt 70 360, 362 f. 1213 Vgl. nur BVerfGE 95 96, 132; BGHSt 7 190, 193; 9 311 f; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 24; Bringewat Rdn. 176; Jescheck/Weigend AT § 15 III 2d; Jäger SK Rdn. 53; Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 50; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 25; Schmitz MK Rdn. 67; Fischer Rdn. 23; Wassermann AK-GG Art. 103 Rdn. 54.; monographisch Montiel Grundlagen und Grenzen der Analogie in bonam partem (2014) passim. 1214 Vgl. nur Jäger SK Rdn. 49; Schmitz MK Rdn. 67; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 31 ff; jeweils m.w.N. 1215 Vgl. RGSt 73 398, 399; 75 42 f. 1216 BGHSt 7 190, 193; 9 310, 311 f; Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 51. 1217 Näher dazu Engisch Einführung S. 241 ff; Larenz Methodenlehre S. 381 ff. 1218 BVerfG NJW 1990 1593; BGHSt 9 310, 312.

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Gesetzesänderung Rechnung trägt, ohne erkennbaren Grund in einem bestimmten Bereich nicht zieht.1219 Eine Analogie zugunsten des Täters erfordert weiterhin, dass wegen der Ähnlichkeit des gesetzlich nicht geregelten Falles mit dem gesetzlich geregelten die Analogie ein Gebot der Gerechtigkeit ist.1220 284

bb) Besonderer Teil des Strafrechts. Im Bereich des Besonderen Teils steht Art. 103 Abs. 2 GG einer analogen Anwendung der Straffreistellungserklärungen der §§ 193, 199, 233 im Falle von § 323a nicht entgegen. Gleiches gilt für eine analoge Heranziehung der Strafsätze des § 113 im Rahmen des § 240 beim Widerstand gegen eine vermeintliche Vollstreckungshandlung oder eine Privatfestnahme nach § 127 Abs. 2 StPO.1221 Weiterhin sind täterbegünstigende Tatbestandskorrekturen, z.B. über die Verwerflichkeitsklausel des § 240 Abs. 2, möglich.1222

cc) Allgemeiner Teil des Strafrechts. Eine Analogie zugunsten des Täters kommt im Bereich des Allgemeinen Teils insbesondere bei den Strafmilderungs-, Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründen in Betracht,1223 so z.B. eine analoge Anwendung der Rücktrittsregel des § 31 (§ 49a Abs. 3 und 4 a.F.) auf die nach § 234a Abs. 3 als Vergehen strafbare Vorbereitung einer Verschleppung1224 oder des § 158 auf die §§ 145d, 164.1225 Die Entscheidung BGHSt 11 324, 328 zum Rücktritt vom untauglichen Versuch betrifft dagegen einen Fall der Gesetzesauslegung (§ 46 Nr. 2 a.F.) unter Berücksichtigung des Rechtsgedankens des § 49a Abs. 4 a.F. Eine Analogie zugunsten des Täters kommt sodann bei Rechtfertigungsgründen in 286 Betracht, selbst wenn sich dadurch derjenige, der von der gerechtfertigten Tat betroffen ist, nicht mehr auf Notwehr berufen kann und sich daher für ihn die Strafbarkeit erweitert.1226 Denn das Analogieverbot soll nur den Täter schützen, nicht hingegen das Opfer einer Straftat. Erst wenn dessen Strafbarkeit zu beurteilen ist, kann zu seinen Gunsten das Analogieverbot eingreifen. Weiterhin hat die Rechtsprechung eine Analogie zugunsten des Täters durch Anerkennung eines übergesetzlichen Strafausschließungsgrundes bei Mitwirkung an nationalsozialistischen Gewaltverbrechen vorgenommen.1227 Schließlich wurde die Anwendung des Strafantragserfordernisses (§§ 247, 263 Abs. 5 a.F.) bei der Untreue (§ 266) gegenüber Angehörigen bis zur Einführung des § 266 Abs. 3 durch das 3. StRÄndG 1953 im Wege der täterbegünstigenden Analogie bejaht.1228 Hingegen hat es die Rechtsprechung abgelehnt, Vorschriften über die tätige Reue 287 (§ 49a Abs. 3 und 4 a.F., §§ 82, 89 Abs. 3 a.F.) auf das frühere Unternehmensdelikt der Gefangenenmeuterei (§ 122 Abs. 2 a.F.) anzuwenden1229 oder den Grundgedanken der tätigen Reue mit strafbefreiender Wirkung bei der unterlassenen Hilfeleistung (§ 330c a.F., § 323c) anzuerkennen.1230 Einer entsprechenden Anwendung dieser Regelungen stand jedoch nicht das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG entgegen. Es geht vielmehr 285

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1219 1220 1221 1222 1223 1224 1225 1226 1227 1228 1229 1230

Vgl. BGHSt 9 96, 97 ff. BGHSt 7 190, 193 f. Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 32. BVerfG NJW 1987 43, 45, 48. Höpfel JBl. 1979 575, 585 f. BGHSt 6 85, 87 f; BGH NJW 1956 30; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 31. Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 31. Eingehend dazu Hirsch GedS Tjong 50, 53 ff; Jäger SK Rdn. 54. OGHSt 1 312, 337 f; 2 117, 126. RGSt 70 205, 209; 71 323, 325; 75 242. BGHSt 15 198, 199. AA BGHSt 14 213, 217; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 31.

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um das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem Teil (mit Vorrang des Besonderen Teils).1231 Weiterhin ist die Analogie zugunsten des Täters im Bereich der Verjährung, die 288 auch materiellrechtlichen Gehalt aufweist (Rdn. 106, 424), anwendbar. So werden die kürzeren Verjährungsvorschriften für Presseinhaltsdelikte auf Kartellordnungswidrigkeiten, die durch Verbreitung von Druckwerken begangen worden sind, entsprechend angewendet.1232 dd) Deliktsfolgen. Die Analogie zugunsten des Täters kann außerhalb gesetzlicher 289 Anordnung auch bei der Straffestsetzung und der Bestimmung anderer Rechtsfolgen der Tat angewendet werden. Zu nennen ist insbesondere die Entscheidung des Großen Senats des Bundesgerichtshofs zur Strafmilderung beim Mord nach § 49 Abs. 1 Nr. 1 in außergewöhnlichen Fällen heimtückischer Tötung. 1233 Eine gegenläufige Tendenz findet sich – allerdings ohne grundsätzliche Stellungnahme zur Zulässigkeit strafmildernder Analogie – in der Entscheidung BGH NJW 1978 1336, wonach die Unterschreitung der lebenslangen Freiheitsstrafe beim Mord nicht unter dem Gesichtspunkt einer „Schuldminderung wegen Verstrickung in ein System der Gewaltherrschaft“ statthaft ist.1234 Weitere Fälle der Analogie zugunsten des Täters im Rahmen des Rechtsfolgenaus- 290 spruchs: Absehen von der durch § 245a Abs. 3 a.F. ausnahmslos gebotenen Einziehung in entsprechender Anwendung des für Jagd- und Fischwildereigeräte geltenden § 295 Abs. 2 (i.d.F. vor dem EGOWiG 1968), wenn das dem Täter nicht gehörende „Diebeswerkzeug“, das seiner Art nach für einen anderen Zweck bestimmt ist, dem Eigentümer gestohlen worden ist, ohne dass ihn ein Verschulden trifft;1235 Absehen von Strafe beim Vollrausch (§ 323a) in entsprechender Anwendung des Akzessorietätsgedankens des § 323a Abs. 2 und 3, wenn die Strafvorschrift, unter die die Rauschtat fällt, eine solche Möglichkeit vorsieht.1236 Dagegen hat es die Rechtsprechung abgelehnt, dem Teilnehmer an der Falschaussage des Zeugen Strafermäßigung nach § 157 zu gewähren.1237 4. Auslegung. Aus der Mehrdeutigkeit1238 der meisten Begriffe folgt für den Rechts- 291 anwender die Notwendigkeit der Auslegung. Auch das Grundgesetz verschließt bei Art. 103 Abs. 2 GG nicht die Augen davor, dass Gesetze keine Speicher vorgefertigter Antworten sind und Gesetzesvollzug folglich kein bloßer Nachvollzug, sondern stets ein Recht setzender Erkenntnisvorgang ist. Die Schaffung des konkreten Strafrechts wird daher als Aufgabe sowohl des Gesetzgebers als auch des Strafrichters angesehen.1239 Deren Kompetenzen sind nach Maßgabe des Verfassungsrechts näher zu bestimmen. Der Gesetzeswortlaut und der Bedeutungsumfang des Gesetzes (Rdn. 300 ff) markieren die Grenze zwischen verbotener Analogie und zulässiger Auslegung (Rdn. 250 ff) und zu-

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1231 Tiedemann FS Baumann 7, 17 ff. 1232 BGHSt 28 53, 55; Fischer Rdn. 23. 1233 BGHSt 30 105, 120 f. 1234 AA LG Hamburg NJW 1976 1756 m. Anm. Hanack, das bei einem NS-Täter einen übergesetzlichen Schuldminderungsgrund mit Strafmilderungsmöglichkeit in Analogie, insbesondere zu § 17 S. 2, angenommen hatte. 1235 BGHSt 9 96, 97 ff. 1236 OLG Stuttgart NJW 1964 413, 414 zu § 173 Abs. 5 § 330a a.F. 1237 BGHSt 1 22, 28 f; 3 320, 321 f; 7 2, 5. 1238 Zu deren unterschiedlichen Erscheinungsformen statt vieler Kargl Rdn. 355 ff m.w.N. 1239 Ortiz de Urbina Gimeno in Kudlich/Montiel/Schuhr S. 87 ff.

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gleich eine Kompetenzgrenze, die freilich ihrerseits nicht anders als durch Interpretation bestimmt werden kann (Rdn. 301).1240 Die Auslegung muss die Funktionenteilung im Staat in Betracht ziehen und den Regelungszweck des Gesetzgebers verwirklichen. Im gewaltenteilenden Staat hat der Rechtsanwender die Regelungskompetenz des Gesetzgebers zu achten. Hierfür gibt Art. 103 Abs. 2 GG für das Strafrecht eine eigenständige, in anderen Rechtsgebieten so nicht vorhandene Antwort: Durch das Gesetz wird dem Richter als Grenze vorgegeben, Strafbarkeit dort, wo sie vom Gesetzeswortlaut nicht mehr gedeckt ist, zu verneinen. Alles, was vom Gesetz nicht entschieden ist, ist dem Bereich der Freiheit des Bürgers zuzurechnen.1241 Der gesetzlich nicht geregelte Fall ist straffrei.1242 Der Vorstellung dienlich ist das Bild von einem eindeutigen Bedeutungskern der Strafvorschrift (der den Bereich des Strafbaren bestimmt), einem eindeutig nicht von dieser Strafvorschrift erfassten Bereich sowie dem zwischen diesen Bereichen liegenden „vagen Rand“ der Vorschrift. Richtigerweise ist dieser Unschärfebereich strafrechtlich als nicht strafbar einzuordnen (§ 1).1243 Freilich sind der eindeutige Kern und sein vager Rand ihrerseits nicht trennscharf abzugrenzen. Es sind bildhafte Bezeichnungen, die eine auf sich selbst anwendbare Abbildung ausdrücken – ähnlich wie Fraktale. Dieses Bild zeigt eine Struktur – nicht mehr und nicht weniger. In der Entscheidung (erst des Bürgers, dann des Gerichts) aber ist für den jeweiligen Fall eine konkrete Grenzziehung vorzunehmen, die ihrerseits als „Spielzug im Sprachspiel des Strafrechts“ auf die künftige Bedeutung der behandelten Merkmale zurückwirkt. Weil es in der angegebenen Weise an vorbestimmter Trennschärfe fehlt, ist die Grenzziehung – unbeschadet der strengen, fachgerichtlich vollständig überprüfbaren strafrechtlichen Vorgabe aus § 1 – verfassungsrechtlich nicht vollständig kontrollierbar. 1244 Verfassungsgerichtlich ist ein Art. 103 Abs. 2 GG verletzendes Auslegungsergebnis regelmäßig erst dort feststellbar, wo es außerhalb des Unschärfebereichs eindeutig außerhalb des Anwendungsbereichs der Vorschrift liegt, denn die Entscheidung über die Grenzen des Eindeutigen ist im Verfahren Sache der Fachgerichte. Es ist daher grundsätzlich verfehlt, den strafrechtlichen Maßstab aus den Maßstäben des Bundesverfassungsgerichts ableiten zu wollen, denn jener hat strenger zu sein als dieser; es gilt auch hier eine Art Abstandsgebot. Weil der Bundesgerichtshof allerdings bislang keine dieser Unterscheidung konsequent entsprechende Haltung eingenommen hat, liefert das bestehende Entscheidungsmaterial noch keine Grundlage, um den nötigen Abstand in der Rechtsprechung tatsächlich nachzeichnen zu können. Richtigerweise gebietet Art. 103 Abs. 2 GG allerdings auch nicht nur ein Auslegungs- und Anwendungsergebnis außerhalb des eindeutig Straflosen, sondern verlangt darüber hinaus auch eine richtige Anwendung der richtigen Maßstäbe (zu Folgen für Rechtsprechungsänderungen Rdn. 445). Stärker als bisher sollte das Bundesverfassungsgericht daher kontrollieren, ob die Auslegung durch die Fachgerichte nachvollziehbar mit dem Ziel erfolgte, Strafvorschriften nur innerhalb ihres Bedeutungskerns anzuwenden und nicht in den vagen Bedeutungsrand hinein auszudehnen. Auch die Einhaltung dieser verfassungsrechtlichen Vorgabe ist ohne Eingriff in die fachgerichtli-

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1240 Zu dieser Einschränkung des Bildes vom Wortlaut als Grenze Busse Juristische Semantik S. 191; Christensen/Kudlich Gesetzesbindung 2008, S. 187; Klatt S. 235 ff; ders. in Kudlich/Montiel/Schuhr S. 121, 134 f; Silva Sánchez in Kudlich/Montiel/Schuhr S. 55, 65 ff. 1241 Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 84 m.w.N. 1242 Kirchhof FS Heidelberg 11, 31. 1243 Tiedemann in Belke/Oehmichen Wirtschaftskriminalität S. 26, 34; Cornelius GA 2015 101, 110; Brunhöber HRRS 2010 412, 416; J. Otto Rechtstheorie 49 (2018) 199, 204 ff. 1244 Zur Unterscheidung des strafrechtlichen und des verfassungsrechtlichen Maßstabs auch Greco in Strafrecht und Verfassung 2013, S. 13 ff; Schuhr NStZ 2014 437, 440.

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che Domäne verfassungsgerichtlich überprüfbar, und gerade durch sie wird der Vorhersehbarkeit für den Bürger Rechnung getragen. Zugleich kann nur durch sie der chilling effect für die Ausübung von Grundrechten eingeschränkt werden, der entsteht, wenn der Gesetzgeber Tatbestände bewusst konkretisierungsbedürftig fasst.1245 Mit einer ähnlichen, allerdings bislang weniger weit reichenden Kontrolle der Ziele und Maßstäbe der Fachgerichte hat das Bundesverfassungsgericht spätestens in seiner Untreue-Entscheidung bereits begonnen, indem es ein „Gebot restriktiver und präzisierender Auslegung“1246 durch die Fachgerichte formuliert hat (vgl. Rdn. 195, 201). Der methodische Freiraum der Gerichte zur Konkretisierung des Rechts im Wege 292 der Auslegung ist im Strafrecht stärker als in anderen Bereichen des Rechts eingeschränkt. Dies bedeutet, dass bei der Auslegung im Strafrecht der allgemein übliche Auslegungskanon nicht in ganzer Breite verfügbar ist und nicht unbesehen übernommen werden darf. Es muss vielmehr dem Erfordernis der demokratischen Legitimation von Strafgesetzen bei den verschiedenen Auslegungsmethoden Rechnung getragen (Rdn. 296, 302 ff, 310, 313 ff, 317) und bei generalklauselartigen, unbestimmten Tatbestandsmerkmalen gegebenenfalls Tatbestandsbestimmtheit im Wege einer restriktiven Auslegung hergestellt werden (Rdn. 206, 208).1247 Es fehlt somit nicht nur ein besonderer, komplementärer Konkretisierungsauftrag für den Richter, in Fällen fehlender Gesetzesbestimmtheit eine richterliche Nachbesserung vorzunehmen; er hat vielmehr Verfassungswidrigkeit anzunehmen und, soweit es sich um nachkonstitutionelles Recht handelt (Rdn. 71), das Gesetz dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen (Rdn. 71). Bei der Auslegung geht es um die „Sinnermittlung von Rechtssätzen zum Zwecke ih- 293 rer Anwendung auf konkrete Sachverhalte“.1248 Gegenstand der Auslegung ist stets der Normtext, dessen Bedeutung der Auslegende zu ermitteln hat. § 1 und Art. 103 Abs. 2 GG stehen einer Auslegung der Strafgesetze grundsätzlich nicht entgegen, auch wenn sich die Auslegung nicht auf die Betrachtung des Gesetzeswortlauts beschränkt (Rdn. 301 ff). Das Bundesverfassungsgericht hat im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass die Auslegung mit Hilfe der üblichen Methoden,1249 insbesondere unter Berücksichtigung anderer Vorschriften desselben Gesetzes, des Normzusammenhangs und einer gefestigten Rechtsprechung verfassungsrechtlich unbedenklich ist.1250 § 1 verbietet die Auslegung nach den anerkannten Auslegungsregeln auch dann nicht, wenn sie zum Nachteil des Täters wirken.1251 Der Grundsatz, dass im Zweifel zugunsten des Angeklagten zu entscheiden ist, bezieht sich nur auf die Feststellung von Tatsachen; er ist auf den Bereich der Gesetzesauslegung schon deshalb nicht direkt übertragbar, weil Bedeutungen von Tatsachen epistemisch verschieden sind.1252 Ziel der Auslegung ist nicht die Feststellung von Tatumständen, sondern ein Verstehen der rechtlichen Vorgaben. Auch verlangt Art. 103 Abs. 2 GG nicht schlechthin eine benigna

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1245 Vgl. auch Gaede AnwK Rdn. 25; Cornelius GA 2015 101, 116 f. 1246 BVerfGE 126 170, 213 (Rdn. 117), 215 (Rdn. 122). 1247 Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 258, im Anschluss an Lenckner JuS 1968 304 ff. 1248 Larenz Methodenlehre S. 204; Maurach/Zipf/Jäger § 9 Rdn. 1. 1249 Zu den klassischen Auslegungsmethoden Larenz Methodenlehre S. 312 ff; Christensen/Kudlich ARSP 88 (2002) 230 ff; L. Beck Jura 2018 330 ff; Jäger SK Rdn. 62 ff; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 36 ff; zu den klassischen Ursprüngen vgl. Savigny Methodenlehre S. 18 f; ders. Römisches Recht Bd. I S. 212 ff. 1250 BVerfGE 45 363, 371 f; 48 48, 56 f; 57 29, 35, 37; 250, 262. 1251 BVerfG NJW 1982 1512; BGHSt 6 131, 133; Tiedemann GS Delitala 2149, 2155 ff (auch zur ausländischen Lehre von „in dubio mitius“). 1252 BGHSt 14 68, 73; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 259 m.w.N.; Greco GA 2016 195, 203 f. Vgl. auch vHH/v. Heintschel-Heinegg Rdn. 24 f.

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interpretatio.1253 Verlangt wird vielmehr, den Beschuldigten an genau den rechtlichen Vorgaben zu messen, an denen er zur Tatzeit seinen Tatentschluss hätte ausrichten können und müssen. D.h. einer Verurteilung darf kein dem Täter nachteiligeres Verständnis der Vorschriften zu Grunde gelegt werden, als das, zu dem er zur Tatzeit bei sorgfältiger, ihm möglicher Prüfung der Rechtslage als ihn eindeutig bindend hätte gelangen müssen, und zwar bei einer Gesamtschau der einschlägigen Rechtsregeln im Kontext. Das hat Ähnlichkeiten mit einem Zweifelssatz, ist als Gebot restriktiver und präzisierender Auslegung (Rdn. 195, 291) aber ungleich treffender ausgedrückt. Bei der Auslegung muss nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 294 der in der gesetzlichen Vorschrift zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, wie er sich aus dem Wortlaut der gesetzlichen Bestimmung und aus dem Sinnzusammenhang ergibt, in den sie hineingestellt ist, festgestellt werden (BVerfGE 105 135, 157), wobei vom Wortlaut auszugehen ist, um die „äußerste sprachliche Sinngrenze“1254 zu bestimmen (Rdn. 291, 302).1255 Die Festlegung dieser Grenze, die nach h.M. die Grenze zur verbotenen Analogie bildet1256 und zugleich die Konkretisierungsaufgabe der Rechtsprechung einschränkt,1257 erfolgt durch die grammatische Auslegung (Rdn. 300 ff). Daneben gibt es die systematische (Rdn. 310 ff), die historische (Rdn. 313 ff) und die teleologische Auslegungsmethode (Rdn. 316 ff), wobei auch die Rechtsfolgen zu berücksichtigen sind (Rdn. 325). Weiterhin ist den verfassungsrechtlichen und den unionsrechtlichen Vorgaben durch die verfassungskonforme (Rdn. 326 ff) bzw. die unionsrechtskonforme Auslegung (Rdn. 342 ff) Rechnung zu tragen. Dabei herrscht weder über die Methoden der Auslegung (Rdn. 299 ff) noch über ihr Verhältnis zueinander Einigkeit (Rdn. 350 ff). 295

a) Ziel der Auslegung. Bereits die Bestimmung des Ziels der Auslegung hängt davon ab, ob man der von der h.M. vertretenen objektiven Theorie1258 oder aber der subjektiven Theorie folgt: Der objektiven Theorie geht es darum, den aktuellen Sinn der Sanktionsnorm zu ermitteln, während die subjektive Theorie die Entstehungsbedingungen des Gesetzes und der vom Gesetzgeber verfolgten Zwecke untersucht.1259 Ein erheblicher Teil der strafrechtlichen Lehre hält eine Synthese beider Theorien für erforderlich, um die Entstehungsbedingungen des Gesetzes und die Vorstellungen des historischen Gesetzgebers in die Auslegung einbeziehen zu können, geht aber von einem grundsätzlichen Vorrang der objektiven Theorie aus.1260 Die Rechtsprechung ist uneinheitlich und

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1253 Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 84 f; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 51 m.w.N.; Tiedemann GS Delitala 2149, 2150 ff. 1254 Fikentscher Methoden Bd. IV S. 300. 1255 BVerfGE 64 389, 393 f; 71 108, 114 ff; 81 228, 237; 92 1, 12; BVerfG NStZ 2001 240, 241; enger Baumann MDR 1958 394, der nicht jede, auch die ganz entfernt mögliche Bedeutung, ausreichen lässt, sondern auf die natürliche Wortbedeutung abstellt; zustimmend Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 65; ähnlich Schünemann FS Bockelmann 117, 126, der auf die äußerste Grenze des Umgangssprachgebrauchs abhebt. 1256 Oben Rdn. 250, vgl. hier nur Grünwald FS Arthur Kaufmann 433, 440 m.w.N. 1257 Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 84. 1258 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 78; Lackner/Kühl/Kühl Rdn. 6; Maurach/Zipf/Jäger § 9 Rdn. 15 ff; Fischer Rdn. 24; Welzel Naturrecht § 5 II 2. 1259 Bindokat JZ 1969 541 ff; Engisch Einführung S. 160 ff; ders. in Thiel Geisteswissenschaftliche Arbeitsmethoden S. 50 ff; Loos FS Wassermann 123 ff; Rogall KK-OWiG § 3 Rdn. 71 f; Tiedemann Artikel „Auslegung“ in Krekeler/Tiedemann/Ulsenheimer/Weinmann HWiStR S. 1; aus dem rechtstheoretischen Schrifttum vgl. insbesondere Fikentscher Methoden Bd. IV S. 359, 360; Koch/Rüßmann S. 163, 166 ff. 1260 Jakobs AT 4/21; Jescheck/Weigend AT § 17 IV 2; Roxin AT I § 5 Rdn. 32; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 44 f; Stratenwerth FS Germann 257, 266; aus dem Methodenschrifttum: Deckert JA 1994 412, 416 ff; Larenz Methodenlehre S. 316 ff.

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geht überwiegend von der objektiven,1261 teilweise von der subjektiven Theorie aus1262 oder schließt sich auch der Vereinigungslehre an.1263 Wenn man das Demokratie- und das Gewaltenteilungsprinzip ernst nimmt, das den 296 Vorrang des Gesetzes begründet, und insbesondere den Vorgaben des Art. 103 Abs. 2 GG Rechnung tragen will, der im Strafrecht erhöhte Anforderungen gegenüber Art. 20 Abs. 3 GG statuiert (Rdn. 3), folgt hieraus, dass grundsätzlich von einer subjektiven Theorie der Auslegung auszugehen ist.1264 Nur so kann der Gesetzesbindung der rechtsprechenden Gewalt entsprochen werden. Hierbei ist nicht auf den historisch-psychologischen Willen des Gesetzgebers, sondern auf die Entstehungsbedingungen der legislatorischen Willenserklärung1265 bzw. auf die Problemstellung und -lösung bei Erlass des Gesetzes abzustellen.1266 Dabei kommt es nicht auf die Motivlage einzelner Parlamentarier an,1267 sondern auf die Würdigung des Gesetzes gewordenen Textes nach Maßgabe der ihn tragenden Begründung, wie sie sich in den Gesetzesmaterialien findet (näher dazu Rdn. 313 ff). Hiergegen wird von der h.M. der Einwand erhoben, die Bindung an die Zweckvor- 297 stellung des Gesetzgebers stehe einer Anpassung des Gesetzes an gewandelte Verhältnisse entgegen.1268 Es entspricht jedoch gerade dem Willen des Gesetzgebers, dass die Rechtsprechung neuartige Fälle unter das Gesetz subsumiert, sofern diese den Fällen gleichen, die Motiv für die Schaffung der gesetzlichen Regelung waren.1269 Dies spiegelt sich auch darin wider, dass der Gesetzgeber häufig die Entscheidung über die konkrete Reichweite der Norm an die Rechtsprechung delegiert.1270 Eine objektiv-teleologische Methode darf daher nur zur Anwendung kommen, soweit kein Widerspruch zum erklärten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers entsteht. Wenn dadurch Strafbarkeitslücken entstehen, ist es Aufgabe des Gesetzgebers, diese zu schließen. Das Bundesverfassungsgericht hat dies damit begründet, dass sich der Gesetzgeber beim Wort nehmen lassen müsse.1271 Es sei Sache des Gesetzgebers, ob er die sich aus einer möglichen Strafbarkeitslücke ergebende Lage bestehen lassen oder eine neue Regelung schaffen wolle.1272 Den Gerichten ist es wegen des Gewaltenteilungsprinzips nicht gestattet, die Gesetzesnorm zu korrigieren bzw. einer neuen Entscheidung des Gesetzgebers vorzugreifen.1273 Deshalb müssen die Gerichte zum Freispruch gelangen, wenn ein Verhalten

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1261 So z.B. BVerfGE 1 299, 312; 11 126, 129 f; 34 269, 288; 105 135, 157 m.w.N.; BGHSt 1 1, 3; 1 74, 76; 10 157, 159; 26 156, 159 f; 29 196, 198. 1262 BGHSt 25 97, 99; 27 45, 47 f; 27 52, 54 ff; 28 224, 230. 1263 BGHSt 6 147, 149; 14 116, 119; 24 40, 41. 1264 Fikentscher Methoden Bd. IV S. 360; Hettinger JuS 1997 L 25, 26; Koch/Rüßmann S. 179 ff; Schünemann FS Klug Bd. 1, 169, 175 ff. Diese Auffassung ist von der extrem subjektiven Sicht Nauckes (Lehre vom strafbaren Betrug S. 187) zu unterscheiden, der davon ausgeht, dass Generalprävention und an den Gesetzeswortlaut gebundene „historische“ Auslegungsmethode Inhalt des § 2 PrStGB und damit, „da durch einen Akt der Gesetzgebung nicht geändert“, des Art. 103 Abs. 2 GG sei; kritisch dazu Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 186. 1265 Schünemann FS Klug Bd. 1, 175, 183. 1266 Loos FS Wassermann 125. 1267 BVerfGE 1 299, 312; Roxin AT I § 5 Rdn. 32. 1268 BGHSt 1 1, 3; 10 157, 159; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 78; Jäger SK Rdn. 68; jeweils m.w.N. 1269 Engisch in Thiel Geisteswissenschaftliche Arbeitsmethoden S. 50; Jahr FS Arthur Kaufmann 141, 157 ff. 1270 Rogall KK-OWiG § 3 Rdn. 74. 1271 So BVerfGE 71 108, 116. Vgl. bereits oben Rdn. 181, 242. 1272 BVerfGE 47 109, 124; 71 108, 116; 92 1, 13. 1273 BVerfGE 71 108, 116; 92 1, 13; vgl. dazu auch Schünemann FS Klug Bd. 1, 169, 182.

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vom Wortlaut einer Strafnorm1274 oder vom historischen Regelungszweck nicht mehr erfasst ist.1275 298

b) Technik der Auslegung. Bei der Auslegung handelt es sich um einen Verstehensprozess (Rdn. 247). Es geht darum, durch Deutung der einzelnen Begriffe einer Norm deren Inhalt durch Auslegung zu ermitteln. Deshalb „fängt alle Auslegung beim Worte an“ (Rdn. 300).1276 Das vom Gesetzgeber Gemeinte ist jedoch nicht allein die Summe der Begriffe eines gesetzlichen Tatbestandes. Die Interpretation einer Rechtsnorm muss auf die soziale Wirklichkeit bezogen sein. Norm und Realität dürfen nicht als isolierte Bereiche verstanden werden, die sich allein dadurch berühren, dass die Realität unter die Norm subsumiert wird. Vielmehr ist in der Auslegung die einem Konflikt angemessenste Regelung aufzudecken. Hierbei ist zu beachten, dass Normen, die eine bestimmt strukturierte soziale Realität beeinflussen sollen, mit dem Wandel dieser Realität einer Änderung ihres Sinnes unterliegen. Richtig ist daher diejenige Auslegung, die den Sinn der gesetzlichen Regelung optimal verwirklicht.1277 Die Auslegung ist deshalb auf die Ermittlung dieses Sinns, des konkreten Norminhalts zum Zwecke ihrer Anwendung auf konkrete Lebenssachverhalte, gerichtet.1278

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c) Auslegungsmethoden. Über die Methoden der Auslegung und ihr Verhältnis zueinander herrscht Streit. Im Allgemeinen werden vier verschiedene Methoden unterschieden, die den traditionellen Auslegungskanon bilden: die grammatische (Rdn. 300 ff), die systematische (Rdn. 310 ff), die historische (Rdn. 313 ff) und die teleologische Methode (Rdn. 316 ff).1279 Diese Auslegungsmethoden sollen nach überwiegender Meinung nebeneinander stehen, ohne dass es eine Metaregel gebe, nach der sich deren Verhältnis zueinander bestimmt (näher dazu Rdn. 351 ff). Hinzu kommen die verfassungskonforme (Rdn. 326 ff) und die unionsrechtskonforme Auslegung (Rdn. 342 ff).

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aa) Grammatische Auslegung. Nach h.M. ist Ausgangspunkt der Auslegung der Gesetzeswortlaut1280 und nicht etwa der Gesetzessinn,1281 der die Unsicherheiten der teleologischen Auslegung in das Gesetzlichkeitsprinzip hineinträgt und damit die Bestimmung unsicher macht, ob das Analogieverbot verletzt ist; der „Gesetzessinn“ steht weithin in der Interpretationsherrschaft dessen, der das Gesetz auslegt, während das Analogieverbot gerade die Aufgabe hat, der Interpretation des Rechtsanwenders eine

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1274 Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 69; Umbach/Clemens/Zierlein Art. 103 Rdn. 136. 1275 S. dazu Krey Studien S. 182 ff. 1276 BGHSt 3 259, 262; vgl. auch BGHSt 14 116, 118; 27 45, 50; 29 204, 206. 1277 So zutreffend Otto AT § 2 Rdn. 39. 1278 Näher dazu Bydlinski Methodenlehre S. 428 ff; Engisch Einführung S. 155 ff; Fikentscher Methoden Bd. IV S. 356 ff; Hruschka Verstehen von Rechtstexten, passim; Arthur Kaufmann Jura 1992 297 ff, 346 ff; Larenz/Canaris Methodenlehre S. 133 ff; Pawlowski Methodenlehre Rdn. 359 ff; Schapp Methodenlehre, passim; Zippelius Methodenlehre S. 35 ff. 1279 Allgemein dazu Engisch Einführung S. 130 ff; Larenz Methodenlehre S. 320 ff; Schünemann FS Klug Bd. 1, 169 ff; Kargl Rdn. 611 ff, jeweils m.w.N. 1280 So die inzwischen ganz h.M.; BVerfGE 71 108, 115; 73 206, 235; 92 1, 12; BGHSt 26 95, 96; 28 224, 230; 29 129, 133; 35 390, 395; Hassemer/Kargl NK Rdn. 78 ff; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 65; Jescheck/Weigend AT § 17 IV 5; v. Mangoldt/Klein/Starck/Nolte Art. 103 Abs. 2 Rdn. 159; Roxin AT I § 5 Rdn. 26 ff; Jäger SK Rdn. 63; R. Schmitt FS Jescheck 233. Allgemein zur Bedeutung des Gesetzeswortlauts F. Müller Methodik S. 182 ff. 1281 So aber Jescheck/Weigend AT § 17 IV 5, die sowohl auf den Gesetzeswortlaut als auch auf den Gesetzessinn abstellen; vgl. auch Schmidhäuser AT § 3 Rdn. 48 ff.

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Grenze zu setzen.1282 Mit dem Gesetzeswortlaut einer Vorschrift hat der Gesetzgeber einen Regelungsrahmen geschaffen, der durch den Richter konkretisierend ausgefüllt werden muss.1283 Deshalb gilt erneut: „Alle Auslegung fängt beim Worte an.“1284 Der Richter darf allerdings nicht bei der Bedeutung des für sich betrachteten Wortes 301 stehen bleiben. Er hat vielmehr mittels der grammatischen Auslegung zu ermitteln, welcher Sinn nach dem Sprachgebrauch der Sprachgemeinschaft und nach der Sprachregelung des Gesetzgebers den Gesetzesworten in ihrem Kontext zukommen kann. Es geht darum, den „möglichen Wortsinn“, den Bedeutungsumfang des Gesetzes, zu erfassen (ständ. Rspr., s. nur BVerfGE 71 108, 115). Dessen Sinn wird auch durch den textlichen Zusammenhang, in dem es steht, erhellt.1285 Der auf der Grundlage und sich im Rahmen des Wortlauts haltende mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze der Auslegung strafrechtlicher Bestimmungen zum Nachteil des Täters (vgl. bereits Rdn. 238). Dabei ist der Wortsinn in der Regel, wenn auch nicht immer, enger als der isoliert betrachtete Wortlaut. Deshalb kann kein Primat des Gesetzessinns vor dem Gesetzeswortlaut begründet werden,1286 doch auch die Vorstellung, dass sich der mögliche Wortsinn stets einfach Wörterbüchern entnehmen ließe, wäre verfehlt.1287 Die Bestimmung des „noch möglichen Wortsinns“ ist aus der Sicht des Bürgers als 302 Normadressaten zu bestimmen, weil Art. 103 Abs. 2 GG die Vorhersehbarkeit staatlichen Strafens für ihn garantieren will.1288 Für ihn muss daher das Strafgesetz und der ihm entnommene rechtliche Sinngehalt erkennbar und damit verstehbar sein (BVerfGE 73 206, 235; 87 209, 224). Dies bedeutet, dass der „noch mögliche Wortsinn“ alltagssprachlich1289 zu bestimmen und zu begrenzen ist, indem auf den Sprachgebrauch abgestellt wird, der das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen in der staatlichen Gemeinschaft beherrscht. Der Wortsinn darf sich nicht gänzlich vom allgemeinen Sprachgebrauch lösen, sondern muss für den Bürger erkennbar bleiben.1290 In diesem Zusammenhang kann auf die Auseinandersetzung des Bundesverfassungsgerichts mit dem Gewaltbegriff des § 240 verwiesen werden. Der von der Rechtsprechung entwickelte vergeistigte Gewaltbegriff, der beim Täter keinen körperlichen Kraftaufwand und beim Opfer keine körperliche Krafteinwirkung verlangt, sondern psychischen Zwang genügen lässt, wurde vom Bundesverfassungsgericht im Dritten Sitzblockadenbeschluss verworfen, weil die Tatbestandsauslegung nicht gänzlich vom allgemeinen Sprachgebrauch gelöst werden dürfe. Die Gesetzesauslegung müsse für den Betroffenen vorhersehbar

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1282 So zutreffend Hassemer/Kargl NK Rdn. 77. 1283 Krey Studien S. 113 ff; ders. ZStW 101 (1989) 838; Roxin AT I § 5 Rdn. 28. 1284 BGHSt 3 259, 262. Vgl. auch BGHSt 14 116, 118; 18 151, 152; 19 305, 307; Jescheck/Weigend AT § 17 IV 1a; Maurach/Zipf/Jäger § 9 Rdn. 18; Jäger SK Rdn. 63; Tiedemann Artikel „Auslegung“ in Krekeler/ Tiedemann/Ulsenheimer/Weinmann HWiStR S. 1; Vogel Juristische Methodik S. 116 ff. 1285 Vgl. nur v. Mangoldt/Klein/Starck/Nolte Art. 103 Abs. 2 Rdn. 159; Hermann Begriffsrelativität S. 98 ff. 1286 So zutreffend v. Mangoldt/Klein/Starck/Nolte Art. 103 Abs. 2 Rdn. 159. 1287 Kudlich/Christensen JR 2011 146 ff. 1288 BVerfGE 71 108, 115; 82 236, 269; 92 1, 12; OLG Düsseldorf NJW 2000 1129; AG Münster NStZ 1999 574; ebenso Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 77; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 37; zu Gegenauffassungen (objektive Richtigkeit oder auch nur Verbot der Willkür bei der Rechtsanwendung) Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 184 ff m.w.N. 1289 Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 69; Köhler AT S. 93; Herzberg JuS 2005 1, 2 f; Lackner/Kühl/Kühl Rdn. 6; Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 70; Schlehofer JuS 1992 572, 573; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 84; Schmitz MK Rdn. 74; Fischer Rdn. 24 m.w.N.; Vogel Juristische Methodik S. 117; kritisch dazu Schmidhäuser Strafgesetze S. 49. 1290 BVerfGE 73 206, 244 f; Scheffler Jura 1996 505 ff; Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 46.

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bleiben (BVerfGE 92 1, 13).1291 Die darauf bezogene „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ des BGH hat es später aber akzeptiert.1292 Außerdem wurde in diesem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zutreffend festgestellt, dass der Wortsinn, den ein Tatbestandsmerkmal durch die Rechtsprechung erhalten hat, für die Auslegung des Tatbestandsmerkmals nicht maßgeblich ist.1293 Der alltagssprachliche Wortsinn ist weder mit dem umgangssprachlichen1294 noch 303 mit „natürlicher Wortbedeutung, Wortbedeutungszusammenhang und Satzbedeutung“1295 identisch. Zur Alltagssprache gehört die Fachsprache nicht.1296 Deshalb ist es zunächst erforderlich, den Wortsinn nach dem besonderen gesetzlichen Sprachgebrauch zu ermitteln, soweit ein allgemeiner juristischer Sprachgebrauch existiert oder eine Legaldefinition1297 vorhanden ist. Sowohl der gesetzliche Sprachgebrauch im engeren Sinne (Legaldefinitionen, Fiktionen, Verweisungen) als auch der Sprachgebrauch der juristischen Fachsprache genießt Vorrang vor dem allgemeinen Sprachgebrauch.1298 Sodann ist zu überprüfen, ob der juristische Sprachgebrauch mit der allgemeinsprachlichen Bedeutung noch vereinbar ist.1299 Insoweit kommt dem allgemeinsprachlichen Wortsinn begrenzende Bedeutung zu. Sofern keine gesetzliche Definition vorgegeben oder kein allgemeiner juristischer Sprachgebrauch einschlägig ist, ist vom allgemeinen Wortsinn nach dem Sprachgebrauch auszugehen1300 und auf die allgemeinsprachliche Bedeutung des in Frage stehenden Begriffs abzustellen.1301 Wenn sich die gebräuchliche Verwendung von Begriffen allerdings einer Präzisierung widersetzt oder mehrere Deutungen möglich sind, muss auf einen (engeren) juristischen Sprachgebrauch zurückgegriffen werden,1302 sofern die juristischen Anwendungskriterien mit den in der Lebenspraxis vorhandenen Sprachregeln noch vereinbar sind.1303 Allerdings kann es auch geboten sein, vom juristischen Sprachgebrauch auszuge304 hen und nicht auf die allgemeinsprachliche Bestimmung des Begriffs abzustellen. Diese Frage erlangt insbesondere beim faktischen Geschäftsführer und Vorstand und beim Begriff des Schuldners im Rahmen des § 283 Abs. 1 Nr. 1 Bedeutung, wo sich die Frage

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1291 Aus dem verfassungsrechtlichen Schrifttum vgl. nur Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 69f; Hill in Isensee/Kirchhof HStR2 Bd. 6 § 156 Rdn. 60; Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 72; Umbach/Clemens/ Zierlein Art. 103 Rdn. 137. 1292 BVerfGK 18 365 = NJW 2011 3020 ff. 1293 Die Widersprüchlichkeit zur Rechtsprechung des BVerfG in der Entscheidung zu § 185 (BVerfGE 93 266, 292 f), in der auf eine hundertjährige und im Wesentlichen einhellige Rechtsprechung verwiesen wird, hebt Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 69 zutreffend hervor. 1294 Hierauf stellen Roxin AT I § 5 Rdn. 37 und Schünemann FS Bockelmann 117, 126 ab. 1295 So Baumann MDR 1958 394; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 65. 1296 AA Bringewat Rdn. 195; vgl. auch Herzberg JuS 2005 1, 2 f. 1297 Eingehend zu deren Rolle für die Gesetzlichkeit und Anwendung des Strafrechts Sánchez-Ostiz in Kudlich/Montiel/Schuhr S. 69 ff. 1298 Bydlinski Methodenlehre S. 439; Engisch Einführung S. 139 f; Fikentscher Methoden Bd. III S. 670 f; Hassold FS Larenz 211, 223; Hassold/Canaris Methodenlehre S. 142 f; Vogel Juristische Methodik S. 114 f. Zur Gegenansicht Greco GA 2016 138, 147 m.w.N. 1299 BVerfGE 92 1, 18 f; Schmitz MK Rdn. 81. 1300 Deckert JA 1994 412, 414; Koch/Rüßmann S. 189; Larenz Methodenlehre S. 323 f; Jescheck/Weigend AT § 17 IV 1a; Schmitz MK Rdn. 81; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 37; Vogel Juristische Methodik S. 115; vgl. auch Wank S. 43 f. 1301 Hassemer/Kargl NK Rdn. 106; Lackner/Kühl/Kühl Rdn. 6; Neuner S. 120; Otto AT § 2 Rdn. 41; Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 70; Fischer Rdn. 24; Velten/Mertens ARSP 76 (1990) 516 ff; Vogel Juristische Methodik S. 117; aA Jakobs AT 4/35. 1302 BGHSt 14 118; Hassemer/Kargl NK Rdn. 106; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 37; Wessels/Beulke/ Satzger Rdn. 80. 1303 Vgl. BVerfGE 92 1, 18 f; Schmitz MK Rdn. 81.

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stellt, ob diese Begriffe zivilrechtsakzessorisch oder gezielt faktisch auszulegen sind. Wenn das Strafrecht auf zivil- oder verwaltungsrechtlich geprägte Begriffe verweist, darf die strafrechtliche Auslegung grundsätzlich nicht über den Anwendungsbereich der in Bezug genommenen Regelung hinausgehen. Eine weitergehende faktische Betrachtungsweise ist nur zulässig, um einem Formenmissbrauch entgegenzutreten. Dabei bestimmen sich die Grenzen der faktischen Betrachtungsweise nach der Struktur der einzelnen Straftatbestände und der Art der Tathandlung (näher dazu Rdn. 320, 324). Der vom Wortlaut ausgehende Zugriff auf den rechtlichen Bedeutungsgehalt (die 305 sprachliche Sinngrenze) einer gesetzlichen Vorschrift und dementsprechend auch eines gesetzlichen Straftatbestandes ist nur vermeintlich zuverlässig.1304 Insbesondere der alltagssprachliche Sinn gesetzlicher Begriffe ist häufig unklar, weil es mehrere Wortbedeutungen geben kann und nicht selten offen bleibt, welcher Wortsinn den rechtlichen Gehalt eines Gesetzes bestimmen soll. Denselben Unwägbarkeiten unterliegt auch der juristische Sprachgebrauch. Je auslegungsfähiger ein Begriff ist, desto unsicherer werden die Grenzen. Daher ist es häufig nicht möglich, eine klare Abgrenzung zwischen noch zulässiger Auslegung und verbotener Analogie zu ziehen.1305 Da der semantische Gehalt gesetzlicher Normen grundsätzlich nicht in eindeutiger 306 Weise festgestellt werden kann,1306 wird im Schrifttum teilweise die Auffassung vertreten, der Wortlaut ermögliche angesichts der Unbestimmtheit der Sprache und ihrer juristischen Manipulierbarkeit keine brauchbare Abgrenzung.1307 Wenn man allerdings berücksichtigt, dass die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten für den Rechtsanwender durch den Gesetzeswortlaut begrenzt – wenn auch nicht exakt vorgezeichnet werden – und zudem den Kontext zur Begrenzung des Wortsinnes mit heranzieht,1308 kann man sich im Großen und Ganzen auf das semantische Potential der Sprache verlassen,1309 so dass auf diese Weise auch den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 103 Abs. 2 GG Rechnung getragen werden. Die Erfahrung zeigt gerade, dass der sprachliche Gehalt einer Norm sich in aller Regel jedenfalls aus dem situativen Kontext erschließen lässt.1310 Die Verstehbarkeit des semantischen Gehalts ist geradezu Voraussetzung für die Tätigkeit des Gesetzgebers, der nur über die Sprache die gewünschte Verhaltenssteuerung bewirken kann.1311 Die Auslegungsgrenze des möglichen Wortlauts, aus der sich der Bedeutungsum- 307 fang des Gesetzes ergibt, entfaltet Bindungswirkung.1312 Der mögliche Aussagegehalt eines im Gesetz verwendeten Begriffes darf nicht überschritten werden.1313 Vielmehr muss die Interpretation stets innerhalb der durch den Wortlaut gezogenen Grenze mit

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1304 Vgl. nur Hassemer/Kargl NK Rdn. 77; Herzberg NJW 1990 2225, 2530; Jakobs AT 4/35; Puppe GedS Armin Kaufmann 15, 17; Schnapp Jura 2003 173, 176; Sternberg-Lieben JZ 2001 1024. 1305 Näher dazu Jakobs AT 4/35 m.w.N.; Hassemer/Kargl NK Rdn. 82 ff. 1306 Deckert JA 1994 412, 414 f; Herberger/Koch JuS 1978 810 ff; Höpfel JBl. 1979 505, 514. 1307 Hassemer Tatbestand und Typus S. 162 ff, 165; Jakobs AT 4/35 ff; Arthur Kaufmann Natur der Sache S. 3 ff, 31, 47; Sax Analogieverbot S. 147 ff, 152 ff; Stratenwerth/Kuhlen AT § 3 Rdn. 33 ff. 1308 Näher dazu Roxin AT I § 5 Rdn. 37; Schünemann Nulla poena S. 19 ff; Velten/Mertens ARSP 76 (1990) 516, 529 ff; Vogel Juristische Methodik S. 116 f. 1309 Näher dazu Röhl FS Lampe 227, 240. 1310 Koch/Rüßmann S. 191; Müller-Dietz FS Lenckner 179, 184 f; Christensen/Kudlich Gesetzesbindung 2008, S. 195 ff; dies. Theorie richterlichen Begründens S. 230 ff. 1311 Schünemann FS Klug Bd. 1, 169, 176. 1312 Hassemer/Kargl NK Rdn. 78 ff; Lackner FS Heidelberg 39 ff; Jäger SK Rdn. 63; Scheffler Jura 1996 505; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 37. 1313 BVerfGE 14 174, 185; 25 269, 285; 26 41, 42; 71 108, 115; 73 206, 234; 82 236, 269; 92 1, 12; BGHSt 3 300, 303; 4 144, 148; 10 157, 160; 26 95, 96; 28 224, 230; 29 129, 133; näher dazu Rdn. 300 f. Zur Zulässigkeit der Berichtigung gesetzgeberischer Redaktionsfehler s. Rdn. 168.

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Hilfe der übrigen Auslegungsmethoden erfolgen.1314 Dies gilt allerdings nicht für fehlerhafte Verweisungen auf andere (außerstrafrechtliche) Normen, da es hierbei nicht um Auslegung im eigentlichen Sinne, sondern um die Gesetzesklarheit als objektive Erkennbarkeit des Straftatbestandes geht (näher dazu Rdn. 168).1315 Die Bindung der Auslegung an die Wortlautgrenze ist keineswegs willkürlich, son308 dern ergibt sich aus den staats- und strafrechtlichen Grundlagen des Gesetzlichkeitsprinzips (Rdn. 52 ff): Eine über den Gesetzeswortlaut hinausgehende Strafrechtsanwendung entbehrt der erforderlichen demokratischen Legitimation,1316 so dass eine Rechtsfortbildung im Strafrecht unzulässig ist. Auch kann der Bürger sein Verhalten nur an einer Deutung des Gesetzes, die dem Wortlaut zu entnehmen ist, ausrichten. Deshalb kann nur eine Interpretation im Rahmen des möglichen Wortsinnes die Präventivwirkung des Gesetzes sichern und seine Verbotsübertretung vorwerfbar machen.1317 Jedoch kann nicht von einer vollständigen Gesetzesbindung ausgegangen werden, wie sie noch Montesquieu vorschwebte, der den Richter als „Mund“ ansah, der die Worte des Gesetzes ohne eigene Hinzufügungen ausspreche: „Les juges ne sont que la bouche qui prononce les paroles de la loi.“1318 Eine solche mechanistische Richterkonzeption, von der auch Beccaria1319 ausging, ist nicht durchführbar. Der Richter ist bei der Auslegung nicht frei, sondern den gesetzlichen Wertentscheidungen verpflichtet, die er im Auftrag des Gesetzes bei der Auslegung normvollendend zu konkretisieren hat. Nach diesen Gesichtspunkten ist auch der Streit zwischen der subjektiven und der 309 objektiven Auslegungstheorie zu Gunsten ersterer zu entscheiden (Rdn. 295 ff). Dies bedeutet, dass die Ermittlung des Wortsinns nach dem entstehungszeitlichen Sprachgebrauch zu erfolgen hat.1320 Wenn die Bedeutung des Begriffs offen war und der Gesetzgeber sich nicht auf ein bestimmtes Verständnis festgelegt hat, hat der Gesetzgeber den Strafrichter insoweit ermächtigt, den Gesetzesbegriff zu konkretisieren. Soziale und wirtschaftliche Veränderungen erfordern notfalls neue gesetzgeberische Entscheidungen und dürfen nicht durch Weiteranwendung der alten Normen aufgefangen werden.1321 Gerade angesichts des beschleunigten Gesetzgebungsrhythmus und der Bereitschaft des Gesetzgebers, Hinweise auf unerwünschte Strafbarkeitslücken aufzugreifen, wie dies z.B. bei der Anwendung des Betruges auf Submissionsabsprachen der Fall war,1322 ist eine strenge Bindung an den Gesetzeswortlaut zu fordern und ein Abstellen auf den entstehungszeitlichen Sprachgebrauch geboten. 310

bb) Systematische Auslegung. Die systematische Auslegung knüpft an der Erkenntnis an, dass ein Gesetz eine Einheit bildet, weshalb die einzelnen Normen nicht isoliert, sondern im Gesetzeskontext gesehen werden müssen. Diese Auslegungsmethode, die den einzelnen Rechtsgedanken in den Kontext der Rechtsordnung stellen will, bezieht ihre Überzeugungskraft daraus, dass mit ihrer Hilfe der Wille des Gesetzgebers

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1314 BGHSt 39 36, 38. 1315 Vgl. dazu Tiedemann ZBB 2005 190, 192 m.w.N.; aA BVerfGE 105 313. 1316 Neuner S. 134 ff, 138. 1317 Roxin AT I § 5 Rdn. 30. 1318 Montesquieu 11. Buch Kap. 6. 1319 Näher dazu Roxin AT I § 5 Rdn. 26. 1320 Bydlinski Methodenlehre S. 439 ff, 450 f; Engisch Einführung S. 145; Koch/Rüßmann S. 166, 189; Larenz Methodenlehre S. 323; Larenz/Canaris Methodenlehre S. 144 f; Rüthers/Fischer/Birk Rechtstheorie Rdn. 782; Zippelius Methodenlehre S. 15 ff. 1321 Schünemann FS Klug Bd. 1, 169, 182; zustimmend Rogall KK-OWiG § 3 Rdn. 55. 1322 Vgl. nur Dannecker NK § 298 Rdn. 4; Tiedemann LK12 § 298 Rdn. 1; jeweils m.w.N.

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präzisiert und zur Geltung gebracht wird.1323 Er ergibt sich aus der Systematik und dem Gesamtinhalt des Rechtssatzes, erforderlichenfalls auch aus dem Zusammenhang des Rechtssatzes mit sonstigen Rechtssätzen sowie aus seiner Stellung in einer Kodifikation. So folgt z.B. aus dem Gesamtzusammenhang innerhalb des Normgefüges, in dem § 253 und § 263 stehen, das Erfordernis einer Vermögensverfügung als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal.1324 Die Systematik kann sich weiterhin aus der Stellung der Straftatbestände im Gesetz ergeben, im Strafgesetzbuch also aus dem Abschnitt oder Titel, in den die Vorschrift eingestellt ist, oder aus der Stellung der Strafvorschrift in einem speziellen Gesetz, so z.B. des Bilanzstrafrechts im Handelsgesetzbuch (§§ 331 ff HGB). Bei mehreren nach dem Wortsinn möglichen Bedeutungen erhält diejenige den Vorzug, die sich am besten in den Gesetzeszusammenhang einpassen lässt. So können nach der grammatischen Auslegung verbleibende Zweifel am rechtlichen Bedeutungsgehalt eines gesetzlichen Begriffs, einer gesetzlichen Regel oder Vorschrift beseitigt werden. Voraussetzung für die systematische Auslegung ist allerdings, dass ein Systemzu- 311 sammenhang tatsächlich existiert und die systematische Stellung nicht zufällig erfolgt ist oder auf einem gesetzgeberischen Versehen beruht, das gegen den Wortlaut korrekturfähig ist (zur Korrektur von Redaktionsversehen Rdn. 168). Dabei wird grundsätzlich unterstellt, dass der Gesetzgeber im Zweifel systematisch verfährt und den Kontext der Normen beachtet.1325 Wenn allerdings Individualrechtsgüter schützende Strafvorschriften wie § 123 (Hausfriedensbruch) und § 142 (Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort) im Abschnitt über die Straftaten gegen die öffentliche Ordnung stehen, kann aus der Stellung dieser Strafvorschriften im Strafgesetzbuch nichts hergeleitet werden, weil jegliche Systematik fehlt1326 und die Gesetzesüberschrift nicht zum Wortlaut des Straftatbestandes gehört. Weiterhin geht es bei der systematischen Auslegung um die Wahrung der Einheit 312 des Rechts, um die Vermeidung logischer Widersprüche sowie darum, Konflikte unterschiedlicher Normzwecke zu einem gerechten und schonenden Ausgleich zu bringen. Die auszulegende Norm soll sich in den Kontext der übrigen Normen einfügen. Das eigentliche rechtfertigende Element liegt in der Forderung, die Widerspruchsfreiheit des Rechts und damit auch die Rechtssicherheit zu wahren und Zielkonflikte zu einem gerechten Ausgleich zu bringen. Da das Recht nach demokratischem Legitimationsverständnis für den überwiegenden Teil der Gemeinschaft konsensfähig sein soll, ist es gerechtfertigt, danach zu fragen, welche Auslegung jenen Gerechtigkeitsvorstellungen am nächsten kommt, die beim Erlass des Gesetzes in der Rechtsgemeinschaft vorherrschten, aber auch einen Wandel dieser Vorstellung in Rechnung zu stellen.1327 cc) Historische Auslegung. Entsprechend der hier vertretenen Auffassung ist auch 313 im Rahmen der historischen Auslegung in erster Linie auf die gesetzgeberische Zweckvorstellung abzustellen. Die Erforschung des historischen Willens des Gesetzgebers darf dabei nicht auf die Vorstellungen der an der Gesetzgebung beteiligten Personen abstellen (sog. subjektiv-historische Methode),1328 sondern auf den vom Gesetzgeber verfolgten

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1323 Vgl. etwa Zippelius Methodenlehre S. 43; Vogel Juristische Methodik S. 120; ähnlich Raisch Methoden S. 147 ff; ders. Auslegungskanones S. 34 ff. 1324 Vgl. nur Vogel LK12 § 253 Rdn. 12 ff m.w.N. 1325 Rogall KK-OWiG § 3 Rdn. 78. 1326 So zutreffend Schmitz MK Rdn. 83. 1327 Näher dazu Zippelius Methodenlehre S. 47 f. 1328 Hierfür sprechen sich Naucke Lehre vom strafbaren Betrug S. 191 ff; ders. FS Engisch 274 ff; Krahl S. 40 ff; Schroth S. 37 ff, unter Berufung auf Art. 103 Abs. 2 GG aus; kritisch dazu Bringewat Rdn. 187 f; Stratenwerth FS Germann 257, 258.

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Zweck (sog. objektiv-historische Methode).1329 Dies ermöglicht es, sich daran zu orientieren, was mit dem auszulegenden Gesetz angesichts der gegenwärtigen Lebensverhältnisse, rechtspolitischen Fragestellungen und gesellschaftlichen Interessen vernünftigerweise bezweckt worden ist. Hierbei geht es nicht um den Willen der mitwirkenden Parteien oder eine Referentenauffassung.1330 Da Gesetze in einer parlamentarischen Demokratie typischerweise auf einem Kompromiss widerstreitender Regelungsinteressen beruhen, darf auch nicht nur auf den Willen derjenigen abgestellt werden, die das Gesetz zustande gebracht haben. Es geht vielmehr um die konkrete Fassung des Gesetzes, das die Lösung eines spezifischen Entscheidungsproblems darstellt.1331 Es kommt auf den erkennbaren Horizont des Gesetzgebers im Hinblick auf die Zwecke und Grenzen der Strafnorm an.1332 Hierbei ist die gesamte Entstehungsgeschichte zu berücksichtigen einschließlich der damals geltenden Wert- und Sozialvorstellungen1333 und der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse sowie der Interessenlagen, von denen der Gesetzgeber ausgegangen ist. Erkenntnisquelle für die gesetzgeberischen Zweckvorstellungen sind die Gesetzesmaterialien (Bundestags- und Bundesratsdrucksachen, stenographische Berichte des Bundestags und des Bundesrats). Diese sind im Hinblick auf bestimmte Regelungsziele heranzuziehen, welche der Strafrichter als den wahren Willen des Gesetzgebers seiner Entscheidung zugrunde zu legen hat,1334 sofern diese Ziele im Wortlaut der Norm selbst ihren Niederschlag gefunden haben1335 und zudem auf die Gesetzgebungsorgane – Bundestag und Bundesrat – zurückgeführt werden können.1336 Nur in diesem Rahmen darf dem Bedürfnis, mit zunehmendem zeitlichem Abstand eine stärkere Objektivierung der Auslegung vorzunehmen,1337 entsprochen werden. Hingegen kann auf die historische Auslegung nicht zurückgegriffen werden, wenn 314 ein Straftatbestand vom Parlament kaum beraten worden ist, so dass den Abgeordneten nicht bewusst war, worüber sie abgestimmt haben,1338 oder wenn Gesetzesänderungen erst während einer laufenden Gesetzesberatung in Ausschüssen vorgenommen werden, von denen das Parlament keine Kenntnis mehr nimmt, wie dies bei der Verabschiedung des 6. StRG1339 der Fall war.1340 Das Fehlen jeglicher Anhaltspunkte für das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel in den Gesetzesmaterialien war bei dem Verbrechenstatbestand des § 370a AO eines der Argumente, die zur Begründung der Verfassungswidrigkeit dieses Tatbestandes wegen fehlender Bestimmtheit herangezogen wurden (Rdn. 209). Weder die Einführung des § 370a AO durch das Steuerverkürzungsbekämpfungsgesetz (StVBG)1341 noch die Änderung dieses Verbrechenstatbestandes durch das Fünfte Gesetz zur Änderung des Steuerbeamten-Ausbildungsgesetzes und zur Änderung

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1329 Eingehend dazu Schroth S. 37 ff m.w.N.; vgl. dazu auch Rüthers JZ 2006 53, 58. 1330 Vgl. Hassemer/Kargl NK Rdn. 117; Schmitz MK Rdn. 86; Larenz Methodenlehre S. 328 ff; Loos FS Wassermann 123 ff; Schroth S. 78 f. 1331 Näher dazu Loos FS Wassermann 123; Jäger SK Rdn. 68; Schroth in Hassemer/Neumann/Saliger S. 243, 259. 1332 BVerfGE 82 236, 270 f; vgl. auch v. Mangoldt/Klein/Starck/Nolte Art. 103 Abs. 2 Rdn. 161; Papier/ Möller AöR 122 (1997) 177, 195. 1333 Vgl. nur Schmitz MK Rdn. 87; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 41 m.w.N. 1334 Naucke FS Engisch 274 ff; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 41. 1335 N. Horn Einführung Rdn. 179a; vgl. auch BGHSt 1 74, 76; 8 295, 298; Jescheck/Weigend AT § 17 IV 2; Jäger SK Rdn. 69; Schmitz MK Rdn. 85; krit. dazu Tiedemann Anfängerübung S. 78. 1336 BVerfGE 54 297; Bleckmann JuS 2002 942, 943; Hassemer/Kargl NK Rdn. 108. 1337 BVerfGE 34 269, 288 f; Heusinger S. 97. 1338 Hassemer/Kargl NK Rdn. 108. 1339 BGBl. 1998 I 160 ff. 1340 Vgl. nur Schmitz MK Rdn. 86. 1341 BGBl. 2001 I 3922.

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von Steuergesetzen“1342 waren vom Parlament beraten worden. Deshalb wird in der Literatur in Frage gestellt, ob dem Parlament überhaupt bewusst war, worüber es jeweils abgestimmt hat.1343 Ein weiteres Beispiel dafür, dass in denkbar kurzen Zeiträumen Strafgesetze erarbeitet werden, bildet der Straftatbestand des § 201a (Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen), der durch das 36. StrÄndG1344 eingeführt wurde.1345 Die hektische Arbeitsweise, die bisweilen fehlerhaften und zudem in kurzen Fristen widerrufenen Regelungen der Gesetzgebung bedeuten eine Gefahr für den Rechtsstaat, die insbesondere im Strafrecht nicht hingenommen werden kann. Sie stellt die Gewaltentrennung in Frage, also die Gesetzesbindung der Rechtsanwender, weil diese den Gesetzen zunehmend misstrauen. Deshalb wird man gerade bei neueren Rechtsvorschriften auch die Ansicht der an der Gesetzgebung beteiligten Personen heranziehen dürfen, solange davon auszugehen ist, dass sich die soziale Basis der Normentstehung nicht gewandelt hat. Mit zunehmendem zeitlichem Abstand wächst zwar das Bedürfnis nach stärkerer Objektivierung der Auslegung.1346 Gleichwohl setzt Art. 103 Abs. 2 GG diesem Bedürfnis von vornherein enge Grenzen (Rdn. 313). Insgesamt weist die historische Methode den Nachteil auf, dass die Regelungsab- 315 sicht des Gesetzgebers häufig aus den Gesetzesmaterialien nur sehr unzuverlässig hergeleitet werden kann und deshalb schwer feststellbar ist. Hinzu kommt, dass es „den“ Regelungswillen „des“ Gesetzgebers in der parlamentarischen Demokratie nicht gibt.1347 Außerdem kann gegen die historische Auslegung eingewendet werden, sie lasse außer Acht, dass ein Gesetz, wenn es erst einmal in Kraft getreten ist, ein dynamisches Eigenleben entwickelt und „nicht ein für alle Mal in seinem Regelungsgehalt auf das beschränkt sein kann, was der historische Gesetzgeber tatsächlich gewollt hat“.1348 Das Gesetz müsse in der Lage sein, Antworten auf neue rechtspolitische Fragen, an die zur Zeit seiner Entstehung noch gar nicht zu denken war, zu geben.1349 So berechtigt diese Einwände auch sind, so zwingt doch das Gesetzlichkeitsprinzip des Art. 103 Abs. 2 GG in Bezug auf das Strafrecht dazu, den aus der Entstehungsgeschichte heraus ermittelten Willen des Gesetzgebers ernst zu nehmen und als Schranke der Auslegung anzuerkennen. Die Fortbildungsfähigkeit des Rechts wird zwar erhöht, wenn man diese in weitem Maße den Gerichten und der Wissenschaft überlässt. Rechtsnormen sind jedoch in erster Linie Steuerungs- und Gestaltungsinstrumente; das Lenken im Sinne von Steuern und Gestalten der Staats- und Gesellschaftsordnung ist aber im demokratischen Rechtsstaat vorrangig eine Aufgabe der Gesetzgebung im Rahmen ihrer Normsetzungsprärogative.1350 Hier besteht die Gefahr des Wandels vom Gesetzes- zum Richterstaat. So wünschenswert die Zukunftsfähigkeit der Rechtsordnung auch sein mag, so sicher ist auch der prinzipiell bewahrende, im positiven Sinn „konservative“ Zweck jeder Rechtsnorm für die damit angestrebte Ordnung der geregelten Bereiche. Seine Festlegung und Änderung ist in der Demokratie primär Aufgabe der Gesetzgebung – trotz all ihrer Schwächen. Rechtsanwender haben es im Wesentlichen mit der Gegenwart des geltenden Rechts zu tun. Die

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1342 BGBl. 2002 I 2715. 1343 So Schmitz MK Rdn. 86; vgl. auch Bittmann wistra 2003 161; Wegner wistra 2002 205, 206 f. 1344 BGBl. 2004 I 1950. 1345 Näher zur Entstehungsgeschichte Kargl NK § 201a Rdn. 1 m.w.N. 1346 Zusammenfassend Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 44 ff; Tiedemann Anfängerübung S. 79; ders. Artikel „Auslegung“ in Krekeler/Tiedemann/Ulsenheimer/Weinmann HWiStR S. 1; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 77. 1347 Vgl. nur Bringewat Rdn. 187; Hassemer/Kargl NK Rdn. 117. 1348 Jäger SK Rdn. 68. 1349 Vgl. nur Jäger SK Rdn. 68; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 43, jeweils m.w.N. 1350 Rüthers JZ 2003 995, 996.

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§ 1 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

Gestaltung der Zukunft bleibt primäre Aufgabe des Gesetzgebers. Gerade in Zeiten einschneidender Veränderungen der Sozialstruktur und der Wertvorstellungen ist zwar die Versuchung groß, erwünschte Gesetzesänderungen durch ein „Umdenken“ zentraler Begriffe eines Rechtsgebiets zu bewirken. Der Strafrichter hat jedoch das gesetzte Recht zu beachten und anzuwenden. Dies ist gerade der Sinn des Gesetzlichkeitsprinzips des Art. 103 Abs. 2 GG mit seinen Ausprägungen des Gesetzesvorbehalts (Rdn. 109, 114 ff), des Bestimmtheitsgrundsatzes (Rdn. 111, 238 ff) und des Analogieverbots (Rdn. 110, 179 ff). Abweichungen vom Gesetz sind dem Strafrichter nur zu Gunsten, nicht zu Lasten des Täters erlaubt. Wenn der Rechtsanwender davon ausgeht, das Gesetz anders zu Ende denken zu müssen, als der Gesetzgeber es gemeint hat, ist den subjektiven Regelungswünschen Tor und Tür geöffnet. Dies widerspricht aber dem Grundrecht des Art. 103 Abs. 2 GG, das garantiert, dass der Gesetzgeber die Freiheit des Bürgers beschränkt haben muss. Wenn man den historischen Normzweck für nachrangig erklärt, führt dies zu einer weitreichenden Befreiung der Rechtsprechung von der Bindung an das Gesetz. Dadurch wird die Gesetzesbindung in einer im Strafrecht nicht hinnehmbaren Weise geschwächt. dd) Teleologische Auslegung. Die teleologische Methode, die als „Krone der Auslegungsverfahren“ angesehen wird,1351 kann entweder als „subjektiv-teleologische“ oder aber als „objektiv-teleologische“ Methode konzipiert werden.1352 Im Strafrecht ist die objektiv-teleologische Auslegungsmethode vorherrschend,1353 mit der im Wege einer umfassenden Situations- und Folgenanalyse versucht wird, den „dem Gesetz innewohnenden Zweckgedanken“,1354 „den heute gültigen objektiven Sinn des Gesetzes“ festzustellen.1355 Es geht um die Bestimmung des Gegenwartssinns des Rechtssatzes. Angesichts einer unter Umständen erheblich veränderten sozialen Situation seit Erlass eines Strafgesetzes wird der Bedarf gesehen, einem Gesetz einen anderen Sinn zu geben, als es der historische Gesetzgeber getan hat.1356 Dabei ist unstreitig, dass der mögliche Wortsinn des Begriffs wiederum die Möglichkeiten teleologischer Interpretation begrenzt.1357 Geht man demgegenüber richtigerweise vom Vorrang der subjektiv-teleologi317 schen Methode aus (Rdn. 296), so kommt es auf die Zwecke an, die der Gesetzgeber mit dem Gesetz verfolgt hat. Hier berühren sich die subjektiv-historische (Rdn. 313 ff) und die subjektiv-teleologische Auslegung und bilden eine Synthese.1358 Hierbei ist das Schwergewicht auf die subjektiv-historische Auslegungstheorie zu legen. Die hohe Zahl an Strafrechtsnovellen fügt in der Regel neue Rechtsschichten hinzu, die jeweils selbst wieder inhaltlich anhand des sozioökonomischen Hintergrundes und des politischen Willens des Gesetzgebers zu erschließen sind. Gelegentlich kann auch aus dem Unterblei-

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1351 So Jescheck/Weigend AT § 17 IV 1b. 1352 Engisch Einführung S. 176; kritisch Müller/Christensen Bd. I S. 370 f. 1353 Vgl. nur Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 73 ff; Maurach/Zipf/Jäger § 9 Rdn. 21 ff; Jäger SK Rdn. 70; Schmidhäuser FS Würtenberger 91 ff; vgl. auch Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 44 f, der allerdings eine Synthese aus der subjektiv-historischen und der objektiv-teleologischen Auslegung für erforderlich hält. 1354 BGHSt 4 303, 305. 1355 Jäger SK Rdn. 70. 1356 BVerfGE 105 135, 158 ff; BGHSt 10 157, 159; Jakobs AT 4/21; Maurach/Zipf/Jäger § 9 Rdn. 22; Jäger SK Rdn. 70 ff m.w.N.; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 43. 1357 Vgl. nur Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 52 m.w.N. 1358 Vgl. auch Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 44, der bei der Synthese aus der subjektiv-historischen und der objektiv-teleologischen Auslegung das Schwergewicht auf letztere legt.

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ben einer Änderung auf den dem Gesetzgeber zuzuschreibenden Willen geschlossen werden. Die Zwecke, die der Gesetzgeber verfolgt, müssen keineswegs ausschließlich gegen- 318 wartsorientiert gewesen sein, sondern können auch in die Zukunft weisen, in der sich das Gesetz als beständig und verlässlich erweisen soll.1359 Aus diesem Grund ist das Gesetz bei der Beurteilung neuer Probleme so zu interpretieren, wie es dem mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers entspricht, um auf diese Weise eine größtmögliche Gesetzesbindung zu erreichen.1360 Hierbei treten insbesondere dann Schwierigkeiten auf, wenn gegenwärtige Fallkonstellationen außerhalb der Vorstellung des historischen Gesetzgebers liegen. Es ist dann jedoch nicht Aufgabe des Rechtsanwenders, sondern der Gesetzgebung, die Gesetzeslage gegebenenfalls den neuen gesellschaftlichen Bedürfnissen anzupassen (Rdn. 315). Dies bedeutet keineswegs, dass die teleologische Auslegung in weitem Umfang bedeutungslos wird, denn der Gesetzgeber hat nicht selten die Entwicklung und Konkretisierung bestimmter Begriffe bewusst der Rechtsprechung und Lehre überlassen und damit einen entsprechenden gesetzlichen Rahmen zur Verfügung gestellt. Dies gilt sowohl für den Allgemeinen Teil des Strafrechts1361 als auch für diejenigen Tatbestände des Besonderen Teils, denen der Gesetzgeber Auffangfunktion beimisst, wie den Tatbeständen der §§ 263a und 265a, die den Betrug ergänzen und die bewusst weit gefasst wurden, um nicht absehbare zukünftige Manipulationsformen erfassen zu können.1362 Fehlt es an ausdrücklichen gesetzgeberischen Zweckfestsetzungen, so kann die Er- 319 mittlung des geschützten Rechtsguts jedenfalls im Besonderen Teil des Strafrechts wertvolle Hinweise für die Auslegung liefern;1363 sie darf jedoch nicht in rechtspolitische Überlegungen abgleiten.1364 Je nach geschütztem Rechtsgut kann auch ein und derselbe Begriff unterschiedliche Bedeutung haben, wie das Beispiel der „Öffentlichkeit“ in den §§ 111, 126, 186, 271 und 304 zeigt. Auch haben die Strafgerichte beim Begriff der „Gewalt“ im Straftatbestand der Nötigung maßgeblich auf die körperliche Zwangswirkung beim Opfer abgestellt, während beim gleichen Begriff im Straftatbestand der Vergewaltigung weiterhin ein erhebliches Maß an körperlicher Kraftentfaltung verlangt wurde.1365 Entsprechendes gilt für die Deliktstypologie und für die jeweilige Sanktionsdrohung, insbesondere die Höhe der Strafdrohung,1366 die in der Regel zu einer Beschränkung auf besonders gravierende Fälle und damit zu einer restriktiven Auslegung zwingt. So wird aus der sehr hohen Strafdrohung der §§ 239 und 239b (Erpresserischer Menschenraub und Geiselnahme) geschlossen, dass bei „Zwei-Personen-Verhältnissen“, bei denen der Entführte zugleich der Erpresste ist, auch wegen des regelmäßigen Eingreifens der §§ 177, 178 sowie §§ 253, 255 einschränkende Kriterien eingeführt werden müssen,1367 um zum einen nicht jede Erpressung mittels Entführung oder Bemächtigung des Opfers bereits als Fall des § 239a bewerten und dadurch die eigentlichen Kernstrafnormen der

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1359 Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 44. 1360 Rogall KK-OWiG § 3 Rdn. 80. 1361 Vgl. nur Jähnke FS [Praxis] 50 J. BGH 393, 397, 400; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 42; siehe auch Rdn. 173. 1362 Für § 263a vgl. BTDrucks. 10/5058 S. 30; Tiedemann/Valerius LK12 § 263a Rdn. 3; Kindhäuser NK § 263a Rdn. 3; für § 265a vgl. Mitsch BT S. 434 f. 1363 Vogel ZStW 128 (2016)139 ff; Kühl FS Volk 275, 287 ff; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 83; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 48. 1364 Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 83; Schünemann FS Bockelmann 118, 129 f. 1365 Vgl. dazu die Nachw. bei BVerfGE 81 298, 309. 1366 Jäger SK Rdn. 33 m.w.N.; Tiedemann Anfängerübung S. 81. 1367 Näher dazu Sch/Schröder/Eser/Eisele § 239a Rdn. 13; Fischer § 239 Rdn. 6; jeweils m.w.N.

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§§ 253, 255 verdrängen zu müssen und zum anderen um den Strafrahmen – Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren – zu vermeiden.1368 Aus der Strafdrohung des § 239 wird abgeleitet, dass die Freiheitsberaubung über einen minimalen Zeitraum nicht ausreicht, um den tatbestandsmäßigen Erfolg zu bejahen.1369 320

ee) Faktische Betrachtungsweise. Einen Sonderfall der teleologischen Auslegung betrifft die wirtschaftliche Betrachtungsweise, die keineswegs auf ihren Ursprung im Steuerrecht beschränkt ist,1370 sondern auch im Strafrecht als „tatsächliche“ oder „faktische“ Betrachtungsweise wiederkehrt.1371 Sie kommt bei der Bestimmung des Gewahrsamsbegriffs beim Diebstahl, bei der eigenständigen, von § 1 BGB abweichenden strafrechtlichen Bestimmung der Menschqualität auf der Grenze von Abtreibung und Tötung, aber auch beim „wirtschaftlichen“ oder „faktischen“ Vermögensbegriff zum Tragen. Weiterhin stellt sich bei allen akzessorischen Straftatbeständen, die von außerstrafrechtlichen, insbesondere wirtschaftsrechtlichen Regelungen abhängig sind, die Frage, ob und inwieweit sie zivil- oder verwaltungsakzessorisch oder aber autonom und dann unter „faktischer Betrachtungsweise“ auszulegen sind. Nicht selten verweisen auf den ersten Blick autonom erscheinende Straftatbestände konkludent auf außerstrafrechtliche Normen. So ist die Pflichtwidrigkeit im Rahmen des § 266 bei Privatentnahmen der Gesellschafter aus dem GmbH-Vermögen nach dem GmbH-Gesetz und bei Bewilligung hoher Prämien für erfolgreiches Verhalten für den Vorstand einer Aktiengesellschaft durch deren Aufsichtsrat nach dem Aktiengesetz zu bestimmen.1372 Aber auch Straftatbestände wie Betrug, Nötigung und Erpressung verweisen stillschweigend auf außerrechtliche Normen, so z.B. auf die kaufmännische Verkehrssitte (Rdn. 208) oder das europäische Verbraucherleitbild.1373 Die wirtschaftliche Betrachtungsweise scheint also die richtige, dem Strafrecht und seiner im Verhältnis zum Zivilrecht meist autonomen Zielsetzung angemessene Methode zu sein. Die hierin liegende „Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken“1374 ist allerdings nicht durchgängig festzustellen, und wäre auch keineswegs allgemein wünschenswert. Im Gegenteil kann der Adressat bei unterschiedlichen Vorgaben aus den Rechtsgebieten nicht gleichzeitig unterschiedlich handeln, sondern eben nur auf eine Weise. Die Rechtsordnung muss daher in ihren Ge- und Verboten vor allem konsistent sein, und unnötige Autonomiebestrebungen einzelner Rechtsgebiete wären hierzu kontraproduktiv. Dort allerdings, wo andere Rechtsgebiete die letztliche Klärung der Rechtslage auf die Zeit nach der Tatzeit verschieben, kann das Strafrecht, das allein auf Pflichtverstöße zur Tatzeit zu blicken hat, nicht an die noch vorbehaltene Klärung anknüpfen. So kann z.B. eine Garantenstellung, in deren Hintergrund ein Vertrag steht, nicht von einer noch offenen Klärung seiner Wirksamkeit, von ex tunc wirkenden späteren Erklärungen etc. abhängen, sondern muss sich allein nach Umständen bestimmen, die dem Täter zur Tatzeit erkennbar sind. In diesem Sinne ist daher „faktisch“ zu betrachten und an die „tatsächliche Übernahme“ anzuknüpfen. Freilich ist der Ausdruck irreführend, denn das Bestehen einer Pflicht ist in keiner Weise „faktisch“, und der Inhalt der Verpflichtung darf richtigerweise nicht über das hinaus-

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1368 Tiedemann Anfängerübung S. 81. 1369 Sch/Schröder/Eser/Eisele § 239 Rdn. 4; Fischer § 239 Rdn. 2; jeweils m.w.N. 1370 Vgl. Rittner S. 13 f; Ulmer WuW 1971 878, 879 ff. 1371 Hierzu Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 267 ff sowie ders. NJW 1979 1849, 1850 f, NJW 1980 1557 ff und bereits ders. Tatbestandsfunktionen S. 56 ff. 1372 BGHSt 50 331 ff. 1373 Näher dazu Dannecker WiVerw 1996 190, 205 f; ders. ZStW 117 (1995) 697, 704 ff; Hecker Strafbare Produktwerbung S. 282 ff. 1374 Bruns Die Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken.

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gehen, was aus dem „tatsächlich gelebten“ Vertrag im Falle seiner Wirksamkeit geschuldet ist (vgl. auch Rdn. 304). Diesbezüglich zeigt Tiedemann auf, dass die Rechtsprechung insgesamt eher intui- 321 tiv vorgeht und wirtschaftlich-faktische Gesichtspunkte gelegentlich heranzieht, nicht selten aber auch verwirft:1375 Während ein eigenständiger strafrechtlicher Eigentumsbegriff verworfen und so das Sicherungs- und Vorbehaltseigentum sowie die Trennung von GmbH-Eigentum und Eigentum des Alleingesellschafters wie im Zivilrecht behandelt wird,1376 beurteilt der Bundesgerichtshof das Beiseiteschaffen von Vermögensstücken einer juristischen Person für die Gesellschaft oder für den Geschäftsführer selbst mittels einer unmittelbar-faktischen Betrachtungsweise: Auch das Handeln als Vertreter im Sinne des § 14 bestimmt der Bundesgerichtshof – obwohl es um ein rechtsgeschäftliches Handeln geht – in Durchbrechung der zivilrechtlichen Lösung auf Grund einer faktischen Betrachtungsweise nach der Interessenformel (BGHSt 30 127, 129 f), indem er auf das äußere Auftreten abstellt und die Interessen wirtschaftlich beurteilt.1377 Weiterhin soll die wirtschaftliche Betrachtungsweise bei § 291 bei der Mitwirkung mehrerer an einem wucherischen Rechtsgeschäft für die Beurteilung der Einheitlichkeit1378 sowie beim faktischen Geschäftsführer (Rdn. 324) maßgebend sein. Hingegen wird im Bereich der Untreue gegenüber der GmbH zunehmend eine am Gesellschafts- und Zivilrecht orientierte und damit rechtliche Betrachtungsweise zugrunde gelegt, wenn Kriterien wie die Erhaltung des Stammkapitals (§ 30 GmbHG) und die Gewährleistung des Bestandsschutzes der Gesellschaft, die im Gesellschaftsrecht anerkannt wird, herangezogen werden1379 oder wenn sich der Bundesgerichtshof im Rahmen der konzernrechtlichen Untreue an der zivilrechtlichen Haftungslösung orientiert1380 oder wenn er den Begriff des Kreditnehmers im wirtschaftlichen Sinne verwirft und auf den „Kreditnehmer“ im technischen Sinn abstellt.1381 Demgegenüber vertritt der Bundesgerichtshof im Kriegswaffenkontrollstrafrecht eine wirtschaftlich-faktische Auslegung, um einer Umgehung der Bestimmungen entgegenzutreten.1382 Unter strafrechtlichem Blickwinkel ist die faktische Betrachtungsweise keineswegs 322 unbedenklich, da sie mit der (begrüßenswerten) Zielsetzung einer Erfassung des „wahren“, eigentlichen Gehaltes wirtschaftlich-sozialer Vorgänge tendenziell die formalrechtsstaatlichen Sicherungen unterläuft, die vor allem in der Tatbestandsbindung des Strafrechts, aber auch in der (teilweisen) Bindung seiner Begriffe an das Zivilrecht liegen. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise sucht insbesondere Normumgehungen und andere, durch „normale“ Auslegung nicht oder nur schwer fassbare Erscheinungen in den Griff zu bekommen und dabei auch zivilrechtliche Gestaltungen für irrelevant zu erklären. Die Vernachlässigung der Bindung an rechtliche Formen führt insgesamt zu einer nicht unerheblichen Beeinträchtigung der Rechtssicherheit und stellt damit ein Problem der Tatbestandsbestimmtheit dar. Im Strafrecht ist die wirtschaftliche oder faktische Betrachtungsweise deshalb nur im Rahmen der allgemeinen strafrechtlichen Aus-

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1375 Tiedemann GS Delitala 2149, 2155 ff. 1376 So die fast einhellige Meinung; vgl. nur Kindhäuser NK § 242 Rdn. 15 ff; Vogel LK12 § 242 Rdn. 18. Für einen strafrechtlichen Eigentumsbegriff spricht sich z.B. Otto BT § 40 Rdn. 9 ff m.w.N. aus. 1377 Kritisch dazu Achenbach FG-Wiss. 50 J. BGH Bd. IV 600 ff m.w.N. 1378 Vgl. nur Lackner/Kühl/Heger § 291 Rdn. 5. 1379 BGHSt 35 333, 336 ff. 1380 BGHSt 49 147 ff mit Anm. Tiedemann JZ 2006 45 ff. 1381 BGHSt 31 264, 288 f. 1382 BGH wistra 1996 145, 147; zustimmend Bieneck wistra 2000 441, 442; vgl. auch Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 272 („noch eingehalten“); aA Pottmeyer wistra 1996 121 ff (Überschreitung der Wortlautgrenze).

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legungsgrenzen, also nur innerhalb des Wortlauts der einschlägigen Rechtsnorm und des Bedeutungsumfangs des Gesetzes, zulässig. Es ist daher stets zu überprüfen, ob die Grenze des möglichen Wortsinnes überschritten wird.1383 Eine weitere Grenze kann sich aus der gesetzgeberischen Zweckvorstellung ergeben (Rdn. 313 ff). Die Frage, wann eine faktische und wann eine zivilrechtsakzessorische Auslegung 323 geboten ist (vgl. dazu auch Rdn. 303), ist differenziert zu beantworten: Wenn ein wirtschaftlicher Vorgang unmittelbar zu beurteilen ist, ist die wirtschaftliche Betrachtung angemessen, so bei der Bestimmung ordnungsgemäßen Wirtschaftens oder der Unwirtschaftlichkeit von Ausgaben bei § 283 Abs. 1 Nr. 2 oder bei der Frage, ob eine Einlage bei der Gesellschaftsgründung „geleistet“ ist (§ 82 Abs. 1 Nr. 1 GmbHG), wenn sie durch Begebung eines Schecks erbracht wird. Hingegen wäre es eine unzulässige Durchbrechung des zivilrechtlichen Bestellungserfordernisses, wenn ein beherrschender Mehrheitsgesellschafter als faktischer Geschäftsführer oder faktischer Vorstand eingeordnet wird, wie dies in der Entscheidung BGHZ 65 15 der Fall war. Wenn das Strafrecht auf zivil- oder verwaltungsrechtlich geprägte Begriffe ver324 weist, muss Ausgangspunkt der Grundsatz sein, dass die strafrechtliche Auslegung nicht über den Anwendungsbereich der wirtschaftsrechtlichen oder zivilrechtlichen bzw. verwaltungsrechtlichen Regelung hinausgehen darf.1384 Sodann gilt, dass immer dann, wenn eine rechtliche – insbesondere zivilrechtliche – Vorprägung des Sachverhalts vorhanden ist und diese nicht auf Wertungen beruht, die denen des Strafrechts zuwiderlaufen, grundsätzlich die Maßgeblichkeit der rechtlichen Form die Regel ist und die wirtschaftliche Betrachtung die Ausnahme bleiben muss. Nur wenn die Voraussetzungen eines Formenmissbrauchs vorliegen, ist ein Durchgriff durch eine rechtliche Regelung oder Form in Erwägung zu ziehen.1385 Wenn man allerdings die Vorgaben des Bundesgerichtshofs ernst nimmt, dass der Gesetzgeber mit den Rechtsmissbrauchsklauseln für deren Anwendungsbereich gerade zum Ausdruck gebracht habe, dass rechtliche Formen grundsätzlich verbindlich sind,1386 muss der Gesetzgeber ausdrückliche Umgehungsklauseln einführen, die einem Formenmissbrauch entgegenwirken. Deshalb ist der zivilrechtsakzessorischen Auslegung Vorrang vor der faktischen Betrachtungsweise einzuräumen, soweit nicht wirtschaftliche Vorgänge unmittelbar zu beurteilen sind (dazu Rdn. 323). Die Rechtsprechung trägt diesen Anforderungen nicht immer Rechnung, wie ein Blick auf die Entscheidungen zum faktischen Geschäftsführer zeigt. Die h.M. praktiziert unter dem Stichwort des faktischen Geschäftsführers eine gezielt faktische Auslegung, die sich von einer formalen, am Gesellschaftsrecht orientierten Betrachtungsweise löst, indem der Begriff des vertretungsberechtigten Organs nicht auf wirksam bestellte und im Handelsregister eingetragene Mitglieder dieses Organs beschränkt wird, sondern unter Rückgriff auf tatsächliche Kriterien wie das tatsächliche Wahrnehmen der Geschäftsführung ein „Handeln als Organ“ bejaht wird.1387 Damit kommt es für das Handeln als Geschäftsführer nicht mehr auf die Wirksamkeit der Bestellung als solcher an.1388 Die Grenzen der faktischen Auslegung sind dabei nach der Struktur der einzelnen Straftatbestände und der Art der Tathandlung zu bestimmen: Unstreitig ist, dass ein unwirk-

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1383 Zutreffend Faller DB 1972 1757, 1759; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 272. 1384 Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 267; Lüderssen FS Hanack 487, 488 f; vgl. auch Felix S. 317 f. 1385 So Tiedemann GS Delitala 2149, 2155. 1386 Rönnau LK Vor § 32 Rdn. 281. 1387 BGHSt 3 32, 37 f; BGH GmbHR 1955 61; BGH bei Herlan GA 1971 36 und bei Holtz MDR 1980 453; Rowedder/Schmidt-Leithoff/Schaal § 82 GmbHG Rdn. 11; Scholz/Tiedemann/Rönnau § 82 GmbHG Rdn. 41; Kratzsch ZGR 1985 506, 532; Montag S. 11 ff. 1388 BGHSt 3 32, 37 f; 6 314, 316; Radtke MK § 14 Rdn. 118; Scholz/Tiedemann/Rönnau § 84 GmbHG Rdn. 18 ff; jeweils m.w.N. für die Genossenschaft RGSt 16 269, 270 ff; für die AG RGSt 64 81, 84.

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samer Bestellungsakt ausreichende Grundlage für die Entstehung der strafrechtlichen Pflichtenstellung sein kann. Bei § 246 kann auf einen rechtsgeschäftlichen Bestellungsakt verzichtet werden, da die körperliche Einwirkung auf eine Sache keine besondere Täterqualifikation erfordert; auch das Anvertrautsein bei § 246 Abs. 2 kann rein faktisch erfolgen. Gleiches gilt für die Untreue, da auch der nur faktische Geschäftsführer Inhaber einer tatsächlichen Treuepflicht sein kann.1389 Bei § 283 Abs. 1 Nr. 1 reicht es aus, dass der Täter seine tatsächliche Geschäftsführerstellung im Einverständnis aller Gesellschafter einnimmt, da in dem Einverständnis eine „tatsächliche Organbestellung“ gesehen werden kann.1390 Dies gilt gleichermaßen für den Begriff des Schuldners in § 283: Wenn die GmbH Schuldner ist, kann der durch Einverständnis der Gesellschafter konkludent zum Geschäftsführer Bestellte nach dem Rechtsgedanken des § 14 Abs. 3 Täter sein.1391 Hingegen ist es bedenklich und mit Art. 103 Abs. 2 GG nicht mehr vereinbar, wenn die Rechtsprechung den Begriff des faktischen Geschäftsführers bei Straftatbeständen wie § 84 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG (Insolvenzverschleppung)1392 oder § 82 Abs. 1 Nr. 5 GmbHG, die die Verletzung von Organpflichten sanktionieren, anwendet.1393 Bei diesen Tatbeständen ist auf den (engeren) juristischen Sprachgebrauch zurückzugreifen. ff) Lehre von der Folgenberücksichtigung. Seit den 80er Jahren wird neben den 325 genannten Auslegungsmethoden zusätzlich die Lehre von der Folgenberücksichtigung als eigenständige Methode genannt,1394 die den Strafrichter anweist, die Folgen seiner Entscheidung für den Betroffenen als eigenständigen Gesichtspunkt zu berücksichtigen und untragbare Ergebnissen zu korrigieren.1395 Dieses Konzept ruft zur Entscheidung nach Einzelkriterien auf und dient deshalb nicht der Verwirklichung des Gesetzlichkeitsprinzips. Als Beispiel kann die „Strafzumessungslösung“ zur Ausschaltung der lebenslangen Freiheitsstrafe genannt werden,1396 die gerade unter Berufung auf Art. 103 Abs. 2 GG in der Literatur überwiegend abgelehnt wird.1397 Die folgenberücksichtigende Auslegung darf deshalb unter dem Gesichtspunkt der Sicherung des Gesetzlichkeitsprinzips nur insofern Anwendung finden, als die Folgen der Gesetzesauslegung für den Täter im Lichte der gesetzgeberischen Vorstellungen1398 bewertet werden.1399 Hierbei sind insbesondere solche Praktikabilitätserwägungen anzustellen, welche die durch die Auslegung gefundenen Ergebnisse zugunsten des Täters korrigieren oder von vornherein zu einem bestimmten Ergebnis drängen können.1400 gg) Verfassungskonforme Auslegung und Postulat der Auslegungsbestimmt- 326 heit. Die Auslegung muss sich stets an der Verfassung orientieren und die dort gezoge-

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1389 BGHSt 3 33, 39 f; 34 379, 389; Roxin AT I § 27 Rdn. 108 m.w.N.; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 277. 1390 BGHSt 3 33, 38. 1391 BGHSt 3 33, 38. 1392 BGHSt 31 118, 119; zustimmend Roxin AT I § 27 Rdn. 106. 1393 Vgl. nur Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 279 f. 1394 Deckert Folgenorientierung in der Rechtsanwendung; Hassemer FS Coing 493 ff; Hassemer/Kargl NK Rdn. 112 m.w.N.; Jäger SK Rdn. 75; Schroth S. 293 ff; vgl. auch Bruns JR 1984 133 ff; Cadus S. 17 ff; Rácz JR 1984 234 ff; Schmitz MK Rdn. 98. 1395 Vgl. dazu auch Koch in Alexy/Koch/Kuhlen/Rüßmann BegründungslehreS. 235, 246 ff; Larenz/ Canaris Methodenlehre S. 184; Pawlowski Methodenlehre S. 320 ff. 1396 BGHSt 30 105 ff. 1397 Vgl. nur Neumann/Saliger NK § 211 Rdn. 128 m.w.N. 1398 Fikentscher Methoden Bd. IV S. 365. 1399 Koch/Rüßmann S. 227 ff. 1400 Tiedemann Anfängerübung S. 82.

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nen Grenzen achten. Dies bedeutet, dass der semantische Gehalt des Gesetzes vom Rechtsanwender nur so festgesetzt werden darf, dass sich kein Widerspruch zu den Normen und Wertentscheidungen der Verfassung ergibt.1401 Die normtheoretische Begründung der verfassungskonformen Auslegung liegt im Stufenbau der Rechtsordnung, nach dem die Verfassung als oberste Norm stets den Inhalt der nachrangigen Rechtsnormen mitbestimmt.1402 Der Vorrang der Verfassung schließt es aus, eine gerichtliche Entscheidung auf eine in einer bestimmten Auslegung verfassungswidrige Norm zu stützen.1403 Die Pflicht, eine verfassungskonforme Auslegung zu wählen und das Gesetz nicht als verfassungswidrig zu beurteilen, beruht auf dem gebotenen Respekt vor der gesetzgeberischen Entscheidung, die nach Möglichkeit aufrecht zu erhalten ist (Gebot des favor legis).1404 Bei der verfassungskonformen Auslegung kann zwischen einer solchen im engeren 327 und im weiteren Sinne differenziert werden:1405 Wenn ein verfassungsrechtliches Problem, das durch ein bestimmtes Verständnis einer gesetzlichen Bestimmung aufgeworfen wird, durch die verfassungskonforme Auslegung eben dieser Vorschrift gelöst wird, führt dies zu einer engeren Auslegung desselben Tatbestandes; diese Konstellation kann als verfassungskonforme Auslegung im engeren Sinne bezeichnet werden. Wird das durch eine in bestimmter Weise interpretierte Norm entstehende verfassungsrechtliche Problem durch verfassungskonforme Auslegung einer anderen Bestimmung gelöst, so z.B. wenn bei § 29 Abs. 1 BtMG die zu weite Tatbestandsfassung durch verfassungs konforme Auslegung der strafprozessrechtlichen Einstellungsvorschriften korrigiert wird,1406 so kann von verfassungskonformer Auslegung im weiteren Sinne gesprochen werden. Wenn eine Strafrechtsvorschrift mit der Verfassung unvereinbar ist, muss der Rich328 ter gemäß Art. 100 GG das Bundesverfassungsgericht anrufen, dem die Normverwerfungskompetenz zusteht, oder, sofern es sich um vorkonstitutionelles Recht handelt, die Normanwendung unterlassen.1407 Wenn allerdings eine einschränkende Auslegung möglich ist, die der Verfassung entspricht und die Vorschrift auch bei dieser Auslegung noch sinnvoll bleibt, ist diese Auslegung zu wählen (BVerfGE 67 70, 88 f). Die verfassungskonforme Auslegung, die maßgeblich vom Bundesverfassungsgericht entwickelt worden ist1408 und für alle Gebiete des öffentlichen und des Privatrechts Geltung beansprucht, 1409 dient damit der Erhaltung einer ansonsten verfassungswidrigen Norm (BVerfGE 32 54, 71; 39 1, 38).1410 Das Gebot verfassungskonformer Auslegung hat die

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1401 Eingehend dazu Bleckmann JuS 2002 942 ff; Kudlich JZ 2003 127 ff; Seetzen NJW 1976 1997 ff; Zippelius FG 25 Jahre BVerfG Bd. II 108 ff; vgl. auch Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 81 f; Hassemer/ Kargl NK Rdn. 110; vHH/v. Heintschel-Heinegg Rdn. 21 ff; Jescheck/Weigend AT § 17 IV 1b; Kuhlen S. 8 ff; Maurach/Zipf/Jäger § 9 Rdn. 25; Jäger SK Rdn. 76; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 50. 1402 Ausführlich Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 25 f. m.N. 1403 Campiche S. 12 ff; Canaris FS Kramer 141, 146 ff; Schenke S. 40 f. 1404 BVerfGE 48 40, 46; näher dazu Campiche S. 16 f; Canaris FS Kramer 141 ff; Dreier-I/Dreier Art. 1 III GG Rdn. 85. 1405 So Kuhlen S. 39 f. 1406 BVerfGE 90 145, 190 f; kritisch das Sondervotum des Richters Sommer aaO 224 ff. 1407 Maunz/Dürig/Maunz Art. 100 Rdn. 12 m.w.N. 1408 Vgl. Dreier-I/Dreier Art. 1 III GG Rdn. 85; Schlaich/Korioth Bundesverfassungsgericht Rdn. 440 ff; Stern Staatsrecht Bd. I S. 135 ff; Voßkuhle AöR 125 (2002) 177, 185 ff. 1409 Bleckmann JuS 2002 942 f. 1410 Grundlegend Eckardt Die verfassungskonforme Auslegung (1964); Larenz/Canaris Methodenlehre S. 159 ff; Schack/Michel JuS 1961 269 ff; Zippelius FG 25 Jahre BVerfG Bd. II 108 ff; vgl. auch Schmitz MK Rdn. 93; Tiedemann Artikel „Auslegung“ in Krekeler/Tiedemann/Ulsenheimer/Weinmann HWiStR S. 1, 3; ders. Tatbestandsfunktionen S. 186 f; Fischer Rdn. 24.

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Struktur einer Regel,1411 da es strikt dazu anhält, verfassungswidrige Auslegungsmöglichkeiten zugunsten verfassungsgemäßer zu verwerfen.1412 Dabei ist es möglich, dass neben einer verfassungswidrigen mehrere verfassungsgemäße Auslegungsvarianten vorliegen, von denen dann eine zu wählen ist (vgl. BVerfG NJW 2005 349, 350). Nach h.M. ist nicht nur das Bundesverfassungsgericht, sondern jedes Gericht berufen, die für die Entscheidung erheblichen Normen am Maßstab des Verfassungsrechts zu prüfen und gegebenenfalls verfassungskonform auszulegen.1413 Mit Blick auf das Strafrecht wird eine solche Pflicht auch für die Staatsanwaltschaft zu bejahen sein.1414 Allerdings darf auch die verfassungskonforme Auslegung den „eindeutigen gesetz- 329 geberischen Willen“ nicht überspielen (BVerfGE 67 299, 329) oder das „gesetzgeberische Ziel in einem wesentlichen Punkt verfehlen oder verfälschen“ (BVerfGE 8 28, 34). Sie findet ihre Grenze, „wo sie zu dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde“.1415 Hiernach soll sich die verfassungskonforme Auslegung nicht über die erkennbaren Absichten des Gesetzgebers hinwegsetzen dürfen,1416 wohl aber über den möglichen Wortsinn, wenn im Übrigen die allgemeinen Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung gewahrt werden.1417 Im Strafrecht steht jedoch Art. 103 Abs. 2 GG einer Überschreitung des Wortsinns entgegen,1418 da es sich sonst um Rechtssetzung durch den Rechtsanwender handeln würde.1419 Bei der verfassungskonformen Auslegung kommt es daher darauf an, „von der Absicht des Gesetzgebers das Maximum dessen aufrechtzuerhalten, was nach der Verfassung aufrechterhalten werden kann“ (BVerfGE 33 52, 70).1420 So können sich aus der Entscheidung des Gesetzgebers, welche Verhaltensweisen er unter Sanktionsandrohung stellt, Rückwirkungen auf die Auslegung der strafrechtlichen und der außerstrafrechtlichen Normen ergeben.1421 Durch strafrechtliche Normen darf nämlich der Schutz von Rechtsgütern nur verfolgt werden, wenn dabei der Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit (näher dazu Rdn. 336) beachtet wird.1422 Hingegen ist die Grenze der Auslegung überschritten, wenn eine den

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1411 Zur Unterscheidung von Regel und Prinzipien Alexy in Alexy/Koch/Kuhlen/Rüßmann Begründungslehre S. 217 ff; Dworkin Bürgerrechte ernstgenommen (1977) S. 58 ff. 1412 Canaris FS Kramer 141, 143 ff; Kuhlen S. 2; vgl. auch Kudlich JZ 2003 127, 129 f. 1413 BVerfGE 22 373, 377; 48 40, 45; 85 329, 333; 86 71, 77; Bleckmann JuS 2002 942, 947; Lüdemann JuS 2004 27, 30; jeweils m.w.N. 1414 Kuhlen S. 8 Fn. 46. 1415 BVerfGE 18 97, 111; 90 263, 275; 93 37, 84; BGHSt 49 275, 297; Kargl JZ 2005 503, 508; Koch/Rüßmann S. 266 ff; Oeter AöR 119 (1994) 529, 548 f; Stern Staatsrecht Bd. I S. 136. 1416 BGHSt 30 105, 118; 40 371, 373; 47 68, 72 f; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 187; aA OLG Hamburg NJW 2000 673 ff. 1417 Canaris FS Kramer 141, 155 ff; Stern BK Art. 93 Rdn. 321; Umbach/Clemens/Dollinger § 80 BVerfGG Rdn. 55. 1418 Schmitz MK Rdn. 93; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 37f; Fischer Rdn. 24; vgl. auch BVerfGE 17 163 ff. Dies wird verkannt von BayVerfGH NJW 1983 1600 ff zu § 11 Abs. 2 und 3 BayPresseG. 1419 BVerfGE 17 155, 163 ff; 45 187, 259 ff; BGHSt 30 105, 118; 40 371, 373; 47 68, 72 f; Hassemer/Kargl NK Rdn. 110; Schmitz MK Rdn. 93; aA OLG Hamburg NJW 2000 773 ff; Jescheck/Weigend AT § 17 IV 1; Krey Studien S. 140 ff; Fischer Rdn. 24 m.w.N.; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 38. 1420 Vgl. auch Koch/Rüßmann S. 262 ff, 266 ff; Larenz Methodenlehre S. 339 ff; Rogall KK-OWiG § 3 Rdn. 82. 1421 Vgl. BVerfG JZ 2004 1121, 1122; Krey EWR 1981 109, 176 ff; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 181 m.w.N. 1422 Zur Einschränkung des Mordtatbestandes nach Verhältnismäßigkeitsgesichtpunkten vgl. BVerfGE 45 187, 259 ff. Zu der der Gewährleistung von Verhältnismäßigkeit dienenden Verwerflichkeitsklausel des § 240 Abs. 2 vgl. BVerfGE 73 206, 233 ff. Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an das Aussetzungsverfahren vgl. BVerfGE 86 288, 310 ff. Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an § 24a Abs. 2 StVG, damit kein unverhältnismäßiger Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) vorliegt, vgl. BVerfG NJW 2005 349, 350, 351 f.

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möglichen Wortsinn überschreitende Reduktion des Tatbestandes vorliegt. Dann besorgt die Rechtsprechung mit der „einschränkenden Auslegung“, die in Wahrheit Rechtssetzung ist, das Geschäft des Gesetzgebers und verstößt so gegen Art. 103 Abs. 2 GG.1423 Die Abgrenzung zwischen einschränkender Auslegung und Rechtssetzung ist allerdings nicht immer einfach zu bestimmen, wie ein Blick auf das Drittmittel-Urteil (BGHSt 47 295 ff) zeigt, in dem der Bundesgerichtshof den Tatbestand des § 331 bei der Einwerbung von Drittmitteln für Forschung und Lehre, die eine hochschulrechtlich verankerte Dienstaufgabe bildet, dahingehend einschränkt, dass trotz eines Äquivalenzverhältnisses zwischen Drittmittelgewährung und Beschaffungsentscheidungen keine Unrechtsvereinbarung vorliegen soll, wenn das hochschulrechtlich vorgeschriebene Verfahren für die Mitteleinwerbung eingehalten wird. Überwiegend wird hierin in der Literatur eine den möglichen Wortsinn überschreitende Reduktion des Tatbestandes gesehen,1424 die allerdings, da sie sich zugunsten des Täters auswirkt, nicht gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstößt. Man kann in der Formulierung „für die Dienstausübung“ aber auch eine fachsprachliche Inbezugnahme einer „abgeschwächten“ Unrechtsvereinbarung sehen, die ein regelwidriges Beziehungsverhältnis zwischen Zuwendung und dienstlichem Handeln erfordert,1425 so dass die Herausarbeitung von Regeln für bestimmte Bereiche wie das Einwerben von Drittmitteln noch innerhalb des möglichen Wortsinns liegt.1426 Das Bundesverfassungsgericht hat u.a. zur verfassungskonformen Auslegung folgen330 der Straftatbestände Stellung genommen (zu weiterer Kasuistik Rdn. 72 ff, 191 ff): § 57a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 (besondere Schwere der Schuld) ist nur hinreichend bestimmt, wenn die Zuständigkeits- und Verfahrensregelungen verfassungskonform dahingehend ausgelegt werden, dass die relevanten Tatsachen im Erkenntnisverfahren vom Gericht festgestellt und im Urteil dargestellt werden, und wenn das Gericht zudem die Schuld gewichtet;1427 § 90a (verfassungsverräterische Vereinigungen) darf wegen der durch Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG geschützten Meinungsfreiheit nur dann auf Meinungsäußerungen Außenstehender angewendet werden, wenn die Äußerungen einen unmittelbaren Bezug auf die verbotene Organisation haben;1428 § 129 (kriminelle Vereinigung) umfasst nicht politische Parteien, da hierin ein Verstoß gegen Art. 21 GG läge;1429 § 130 Abs. 4 (Volksverhetzung) ist in einer den Kern des Art. 5 Abs. 1 GG wahrenden Weise anzuwenden;1430 § 131 Abs. 1 (Gewaltdarstellung; Aufstachelung zum Rassenhass), der eine „Darstellung in einer die Menschenwürde verletzenden Weise“ erfordert, ist nur bei verfassungskonformer Auslegung noch hinreichend bestimmt; 1431 § 185 (Beleidigung) ist ausreichend bestimmt (Art. 103 Abs. 2 GG), weil durch eine „über hundertjährige und im wesentlichen einhellige Rechtsprechung“ hinreichend konturiert – allerdings erfordere das Grundrecht der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) eine restriktive Auslegung des Ehren- und Institutionenschutzes;1432 § 211 ist nur bei einer am verfassungsrechtlichen Verhältnismäßig-

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1423 So zutreffend Kargl JZ 2005 503, 508. 1424 Bernsmann StV 2003 521, 522; Höltkemeier Sponsoring als Straftat (2005) S. 218; Rönnau JuS 2003 232, 237. 1425 So Kuhlen NK § 331 Rdn. 77, 86 ff; vgl. auch ders. S. 71 Fn. 502. 1426 So Dölling JR 2005 519, 520: „Die Abgrenzung des BGH ergibt sich aus einer systematischen, verfassungskonformen Gesetzesauslegung.“ 1427 BVerfGE 86 288, 310 ff; zur strafprozessualen Umsetzung dieses Beschlusses siehe BGHSt 39 121; 208. 1428 BVerfGE 25 79, 86 unter Hinweis auf BVerfGE 25 44, 57 ff. 1429 BVerfGE 17 155, 165 ff. 1430 BVerfGE 124 300, Rdn. 70 ff. 1431 BVerfGE 87 209, 224; krit. zur nachfolgenden Rechtsprechung Köhne GA 2004 180 ff. 1432 BVerfGE 93 266, 292 ff.

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keitsgrundsatz orientierten restriktiven Auslegung verfassungsgemäß;1433 § 240 Abs. 2 (Gewaltbegriff) ist nur verfassungsgemäß, wenn nach der Bejahung der nötigenden Gewalt bei Sitzblockaden die Rechtswidrigkeit der Tat nicht schon zwingend indiziert ist;1434 § 266 (Untreue) ist im Hinblick auf die zuvor erfolgte und vom BVerfG weiter geschärfte Konkretisierung (Verschleifungsverbot, Rdn. 215; Bezifferungsgebot für Schäden, gravierende Pflichtverletzung) in der Rechtsprechung verfassungsgemäß;1435 § 29 BtMG (unerlaubter Umgang mit Cannabis-Produkten) ist mit der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) vereinbar, da dieser Straftatbestand zum Schutz erheblicher Gemeinschaftsbelange geeignet und erforderlich sei – das Übermaßverbot erfordert allerdings, dass der Erwerb und Besitz von Cannabis-Produkten in kleinen Mengen zum gelegentlichen Eigenverbrauch regelmäßig nicht bestraft werden dürfte;1436 § 24a Abs. 2 StVG (bußgeldbewehrtes Führen eines Kraftfahrzeugs im Straßenverkehr unter der Wirkung bestimmter Rauschmittel) erfordert, dass die Möglichkeit einer drogenbedingten Einschränkung der Fahrtüchtigkeit bestand – es bedeutet einen unverhältnismäßigen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), wenn es ausreichen soll, dass sich die einschlägige Substanz zur Tatzeit im Blut befand;1437 § 26 Nr. 2 VersG ist auf Spontan- und Eilversammlungen nicht einschränkungslos anwendbar, da hierin ein unverhältnismäßiger Eingriff in das Grundrecht der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) liegt;1438 § 29 Abs. 1 Nr. 2 VersG (bußgeldbewehrte Weigerung, sich unverzüglich von einer aufgelösten Versammlung zu entfernen) ist wegen Art. 8 GG und Art. 103 Abs. 2 GG auf Zuwiderhandlungen gegen rechtmäßige Auflösungsverfügungen zu beschränken.1439 Der Bundesgerichtshof hat u.a. zur verfassungskonformen Auslegung folgender 331 Straftatbestände Stellung genommen: § 20 (Schuldgrundsatz) setzt Verschulden „bei Begehung der Tat“ voraus und deshalb darf bei verhaltensgebundenen Delikten nicht unter Rückgriff auf die Grundsätze der actio libera in causa wegen Unvereinbarkeit mit Art. 103 Abs. 2 GG bestraft werden;1440 ein strafbefreiender Rücktritt (§ 24) ist vom versuchten Raub wegen des Wortlauts des § 24 Abs. 1 noch möglich, nachdem der Tod des Opfers als die den Raub gemäß § 251 qualifizierende Folge leichtfertig verursacht wurde;1441 § 43a (Vermögensstrafe) ist keine schuldunabhängige Vermögenskonfiskation, sondern eine Geldstrafe als Teil eines Sanktionenbündels im Rahmen schuldangemessenen Strafens und damit hinreichend bestimmt;1442 zur Sicherungsverwahrung (§§ 66 ff) siehe Rdn. 408 f; § 69 (Entziehung der Fahrerlaubnis) erfordert, dass aus der Anlasstat

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1433 BVerfGE 45 187; zur methodischen Problematik Kargl Jura 2004 189, 192. 1434 BVerfGE 73 206, 247 ff; in der dritten Sitzblockaden-Entscheidung erklärte BVerfGE 92 1, 16 ff den Gewaltbegriff für verfassungswidrig, weil er die Grenze möglicher Gesetzesauslegung überschreite und damit gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstoße. 1435 BVerfGE 126 170 Rdn. 79, 96 f, 103 f, 111 ff, 123, 131 ff, 141 ff, 151 ff; Krüger NStZ 2011 369, 373 ff. 1436 BVerfGE 90 145, 181 ff; näher dazu Kuhlen S. 2 f. 1437 BVerfG NJW 2005 349, 351. 1438 BVerfGE 85 69, 74 f; aA Richterin Seibert und Richter Henschel, BVerfGE 85 69, 78, nach deren abweichender Meinung der „klare Wortlaut“ einer solchen Korrektur entgegensteht, so dass Verfassungswidrigkeit wegen unverhältnismäßiger Beeinträchtigung der Versammlungsfreiheit anzunehmen sei. 1439 BVerfGE 87 399, 408 f. 1440 BGHSt 42 235, 241; näher dazu Rdn. 178. 1441 BGHSt 42 158, 161. Ein Vorprüfungsausschuss des BVerfG hatte 15 Jahre zuvor im Jahre 1981 diese Auffassung als „für jeden Rechtskundigen erkennbar unzutreffend“ qualifiziert; vgl. dazu Tiedemann Verfassungsrecht und Strafrecht S. 11. 1442 BGHSt 41 20, 23 f, 28; BVerfGE 105 135, 152 ff hat § 43a wegen fehlender gesetzlicher Bestimmtheit als mit Art. 103 Abs. 2 GG unvereinbar und deshalb nichtig angesehen; näher dazu Rdn. 227 ff.

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konkrete Anhaltspunkte dafür zu erkennen sind, dass der Täter bereit ist, die Sicherheit des Straßenverkehrs seinen eigenen kriminellen Interessen unterzuordnen, denn die Entziehung der Fahrerlaubnis stellt einen schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechtssphäre des Einzelnen dar;1443 § 73d Abs. 1 a.F. (erweiterter Verfall) ist entgegen seinem Wortlaut nur anwendbar, wenn der Tatrichter die uneingeschränkte Überzeugung gewonnen hat, dass der Angeklagte die von der Anordnung erfassten Gegenstände aus rechtswidrigen Taten erlangt hat, ohne dass diese selbst im Einzelnen festgestellt werden müssten;1444 § 89a (Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat) ist im subjektiven Tatbestand dahingehend einzuschränken, dass der Täter bei der Vorbereitungshandlung zur Gewalttat schon fest entschlossen sein muss;1445 § 228 (Einwilligung) erfordert eine Beschränkung des Begriffs „gute Sitten“ auf seinen Kern, um Art. 103 Abs. 2 GG Rechnung zu tragen (Rdn. 193);1446 § 246 Abs. 1 (Unterschlagung) ist nach dem Wortsinn als äußerste Grenze der Auslegung nicht nur subsidiär zu „Straftaten mit gleicher oder ähnlicher Angriffsrichtung“, sondern zu „allen Delikten mit höherer Strafdrohung“;1447 § 261 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 und 2 (leichtfertige Geldwäsche) erfordert eine „einengende Handhabung der Schuldform“ durch Auslegung des Begriffs der Leichtfertigkeit „als vorsatznahe Schuldform und Anknüpfung an bestehende Rechtsprechung“;1448 §§ 331, 333 (Vorteilsannahme und Vorteilsgewährung) sind wegen der grundrechtlich garantierten Gleichheit des passiven Wahlrechts einschränkend auszulegen;1449 § 339 (Rechtsbeugung) darf wegen des Rückwirkungsverbots (Art. 103 Abs. 2 GG) nur auf Handlungen ehemaliger DDR-Richter angewendet werden, die den Rechtsbeugungstatbestand des § 224 DDR-StGB erfüllt haben;1450 § 370 AO (Steuerhinterziehung) erfasst steuerliche Nebenleistungen nicht, weil eine erweiternde Strafnorm der §§ 370 ff AO über § 1 Abs. 3 AO gegen das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG verstößt;1451 § 92 Abs. 1 AuslG (unerlaubte Einreise oder unerlaubter Aufenthalt von Ausländern) greift wegen Art. 103 Abs. 2 GG (Bestimmtheitsgebot) nicht ein, wenn eine wirksam erteilte Genehmigung rechtsmissbräuchlich erlangt worden ist, sofern das Gesetz dies nicht eigens anordnet (Rdn. 140);1452 Art. VIII MRG Nr. 53 (Embargoverstöße) ist auf Bürger der DDR nur anwendbar, wenn deren Verhalten „bei gedachter Anwendung“ des Außenwirtschaftsgesetzes auch nach diesem Gesetz strafbar gewesen wäre, ansonsten liegt ein Verstoß gegen den „verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“ vor;1453 § 20 Abs. 1 Nr. 4 VereinsG (Zuwiderhandlung gegen ein vollziehbares vereinsrechtliches

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1443 BGH NStZ 2004 86, 87 f unter Berufung auf BVerfG NJW 2002 2378, 2380; ebenso BGH NJW 2004 3497, 3499. 1444 BGHSt 40 371, 373; ebenso BGH NStZ 2001 531. Inzwischen hat BVerfGE 110 1, 13 ff die Auffassung des BGH gebilligt und § 73d „in der Auslegung des Bundesgerichtshofs mit dem Grundgesetz vereinbar“ erklärt. 1445 BGHSt 59 218, Rdn. 8 ff, 45; 62 102, Rdn. 26. 1446 BGHSt 49 34, 41. 1447 BGHSt 47 243, 244 unter Hinweis auf BGHSt 43 237, 238, der die gleich lautende Subsidiaritätsklausel in § 125 Abs. 1 ebenso ausgelegt hat. Kritisch zu BGHSt 47 243 ff insbesondere Freund/Putz NStZ 2003 242, 243 m.w.N.; Hoyer JR 2002 517, 518; Kindhäuser NK § 246 Rdn. 45; Küpper JZ 2002 1115 f; Wessels/Hillenkamp BT 2 Rdn. 300a. 1448 BGHSt 43 158, 168; zum Urteil BVerfGE 110 226 ff zur verfassungskonformen Auslegung des § 261 Abs. 2 Nr. 1, soweit es um die Annahme von Honoraren durch Strafverteidiger geht, siehe Rdn. 335. 1449 BGHSt 49 275, 292 ff; in der Sache zustimmend Dölling JR 2005 519 f; Kargl JZ 2005 503, 512; Knauer/Kaspar GA 2005 385, 399; Korte NStZ 2005 512; Saliger/Sinner NJW 2005 1073, 1076; krit. Kuhlen NK § 331 Rdn. 94. 1450 BGHSt 40 30, 40 ff; vgl. auch BGHSt 40 169, 179 ff; 41 247, 253 ff; 317, 327 f. 1451 BGHSt 43 381, 400 f; zum Blankettgesetzcharakter des § 370 AO siehe Rdn. 149. 1452 BGH NJW 2005 2095, 2098; krit. dazu Kuhlen S. 97. 1453 BGHSt 42 129, 132, 135 f.

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Betätigungsverbot) erfordert für den Bereich der Verbreitung von Texten in Presseerzeugnissen eine konkretisierende Eingrenzung des Begriffs der Verbotszuwiderhandlung.1454 § 370a AO (gewerbsmäßige oder bandenmäßige Steuerhinterziehung) hingegen ist nach Auffassung des BGH verfassungsrechtlich erheblich bedenklich, aber keiner verfassungskonformen Auslegung zugänglich, weshalb er zu § 154a StPO greift und dies auch den Instanzgerichten empfiehlt,1455 Gleiches galt für § 95 Abs. 1 Nr. 2a AMG a.F. (Inverkehrbringen von Arzneimitteln zu Dopingzwecken im Sport)1456 – letztlich spiegeln sich in diesem seinerseits problematischen Vorgehen zu hohe Zulässigkeitsanforderungen des Bundesverfassungsgerichts an eine Richtervorlage nach Art. 100 GG. Diese Entscheidungen des Bundesgerichtshofs, die in der Literatur als zurückhaltende Praktizierung der verfassungskonformen Auslegung gewertet werden,1457 dienten teilweise der Umsetzung konkreter Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts;1458 teilweise war die verfassungskonforme Auslegung durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur angeregt worden.1459 Bei einigen Entscheidungen ergab sich die verfassungsrechtliche Problematik aus der Diskussion in der Literatur.1460 In der Literatur wird teilweise eine weitere Differenzierung vorgenommen und 332 zwischen verfassungskonformer und verfassungsorientierter Auslegung unterschieden.1461 Aufgrund der verfassungsrechtlichen Vorgaben kann es erforderlich sein, bei der Entscheidung zwischen mehreren verfassungsgemäßen Auslegungsvarianten die relevanten verfassungsrechtlichen Vorgaben (Rdn. 334 ff) zu berücksichtigen (BGH JR 2005 209, 211 zum Begriff des „Handeltreibens“ in § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG).14621463 Hierbei handelt es sich ebenso wie bei den klassischen Auslegungsmethoden um ein Prinzip, dem bei Abwägung zwischen mehreren Auslegungsmöglichkeiten ein mehr oder weniger großes Gewicht zukommen kann.1464 Auch wenn die verfassungsrechtlichen Argumente bei der verfassungsorientierten Auslegung – anders als bei der verfassungskonformen Auslegung – keine bestimmte Auslegungsentscheidung erzwingen, sind sie doch mit erheblichem Gewicht bei der interpretatorischen Gesamtabwägung zu berücksichtigen. Die Grenzen zwischen verfassungskonformer und verfassungsorientierter Aus- 333 legung sind in der Praxis der juristischen Argumentation häufig fließend. Insbesondere die Rechtsprechung lässt gelegentlich offen, ob eine extensive Auslegung verfassungswidrig und deshalb eine verfassungskonforme Auslegung geboten ist oder ob nur verfassungsrechtliche Bedenken gegen eine weite Auslegung bestehen, so dass eine Restriktion im Wege der verfassungsorientierten Auslegung geboten ist.1465

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1454 BGHSt 43 41, 43 f; näher dazu Kuhlen S. 32. 1455 BGH NJW 2004 2990, 2991 f; wistra 2005 30, 31 f; 2007 18 Rdn. 22. 1456 BGH NStZ-RR 2019 86 f. 1457 Kuhlen S. 41; vgl. auch Voßkuhle AöR 125 (2000) 177, 192 f. 1458 So die Entscheidungen BGHSt 35 270; 39 121; 208. 1459 So die Entscheidungen BGHSt 43 41, 43; 129, 134 f. 1460 So die Entscheidungen BGHSt 40 371; 41 20; 42 235; 43 158, 167 ff; BGH NJW 2005 2095, 2098. 1461 Burmeister Verfassungsorientierung S. 14 ff; Dreier-I/Dreier Art. 1 III GG Rdn. 86; Lüdemann JuS 2004 27, 28; Schlaich/Korioth Das Bundesverfassungsgericht, 6. Aufl. (2004) Rdn. 448; Stern Staatsrecht Bd. I S. 136. 1462 Eingehend dazu Oğlakcıoğlu (2013) S. 479 ff. 1463 Näher dazu Kuhlen S. 3; vgl. auch Niehaus JR 2005 192, 194, der jedoch den Unterschied zwischen verfassungskonformer und verfassungsorientierter Auslegung verkennt. 1464 Kuhlen S. 2. 1465 Vgl. z.B. BGHSt 39 392, 401 zur Offenbarungspflicht beim Betrug wegen besonderer Höhe des drohenden Schadens; BGHSt 26 156 zu §§ 5, 21 GjS, § 15 JSchGM; 28 103 zu § 120 Abs. 4 GVG; 29 244 zu G 10 § 7 Abs. 3; 31 258 zu § 6 LadenschlußG; 37 55, 60 zu § 184; 37 226, 230 zu § 258 Abs. 2; 38 144 zu § 218a; 42

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Verfassungsrechtliche Maßstäbe, auf die die verfassungskonforme wie auch die verfassungsorientierte Auslegung der Strafgesetze gestützt werden kann, können sich zunächst aus den Grundrechten ergeben (Rdn. 335 ff).1466 Jedoch sind die Grundrechte wegen der erforderlichen Abwägungen als Prüfungsmaßstab oft wenig ergiebig.1467 Für die Überprüfung der Strafnormen hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass bei der Prüfung zwischen der Verhaltensnorm und der Sanktionsnorm – bei letzterer wieder zwischen Primär- und Sekundärsanktion – zu unterscheiden ist.1468 Die Verhaltensnormen sind am Maßstab des thematisch einschlägigen Grundrechts, die Primärsanktion des spezifisch strafrechtlichen sozialethischen Vorwurfs am allgemeinen Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 2 GG und die Sekundärsanktion der tatsächlich zu verhängenden Sanktion – im Falle der Freiheitsstrafe an der Freiheit der Person nach Art. 2 Abs. 2 GG und im Falle der Geldstrafe an der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG1469 bzw. an der Eigentumsgarantie1470 – zu messen. Allerdings darf bei der Verhaltensnorm nicht ausgeblendet werden, dass die Rechtsfolge eine besonders eingriffsintensive ist; insofern ist die Strafnorm auch als Einheit zu berücksichtigen.1471 Dem steht nicht entgegen, dass die Pönalisierung beeinträchtigender Verhaltensweisen aus Opferperspektive zugleich staatlicher Freiheitsschutz ist.1472 Als thematisch einschlägige Grundrechte können z.B. die durch Art. 2 Abs. 1 GG 335 geschützte allgemeine Handlungsfreiheit, die entweder explizit oder mit der Erwägung angesprochen wird, eine bestimmte Tatbestandsinterpretation führe zu einer unverhältnismäßigen Beeinträchtigung,1473 die durch Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG geschützte Freiheit der Person,1474 die durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützte Meinungsfreiheit,1475 die durch Art. 4 GG geschützte Glaubensfreiheit,1476 die durch Art. 8 Abs. 1 GG geschützte Versammlungsfreiheit,1477 die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit,1478 das durch Art. 14 GG geschützte Eigentum1479 oder Art. 21 GG (politische Parteien)1480 zu einer restriktiven Auslegung führen. So hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 110 226 ff) die kontrovers diskutierten Fragen nach der Strafbarkeit des Strafverteidigers gemäß § 261 Abs. 2 Nr. 1 und der Verfassungskonformität einer solchen Sichtweise im Wege der verfassungskonformen Auslegung – auch unter Rückgriff auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Rdn. 336) – beantwortet: 1481 Zunächst bestätigte das Bundesverfassungsgericht die

_____ 30, 37 f zu § 20 Abs. 1 Nr. 4 VereinsG; 48 354, 357 ff zu § 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 2, 2. Alt.; 48 360, 361 ff zu § 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 2; vgl. auch BGHSt 33 16, 18 zum Begriff des Werbens für eine terroristische Vereinigung (§ 129a); näher dazu Kuhlen S. 4. Vgl. auch Matt/Renzikowski/Basak Rdn. 22. 1466 Vgl. nur Kudlich JZ 2003 127, 128 f; Kuhlen S. 10 f, 44 ff; jeweils m.w.N. Dies wurde allerdings in der älteren Literatur vereinzelt in Frage gestellt; näher dazu Lagodny S. 92 ff; Staechelin S. 103 ff. 1467 Näher dazu Lagodny S. 138 ff, 275 ff. 1468 Vgl. nur Appel S. 559 ff; Lagodny S. 6, 72 ff; Paulduro S. 112, 178 ff, 195 ff; Staechelin S. 11 ff. Zum analytischen Wert dieser Unterscheidung jenseits verfassungsrechtlicher Prüfungen z.B. A. Schneider Verhaltensnorm S. 35 ff. 1469 Appel S. 590 f; Lagodny S. 133 f. 1470 So Staechelin S. 114. 1471 So zutreffend Kudlich JZ 2003 127, 129. 1472 Grimm KritV 1986 38, 48; Kaspar S. 91 f. 1473 Vgl. BVerfGE 45 187, 267; 73 206, 247 ff; BVerfG NJW 2005 349; BGHSt 43 129, 135 f. 1474 BVerfGE 90 145, 171; BGH NStZ 2004 86, 87 f; BGH NJW 2004 3497, 3499. 1475 BVerfGE 25 79, 86; 93 266, 292; BGHSt 43 41, 43; Kudlich JZ 2003 127, 128 Fn. 7. 1476 BVerfGE 32 98 zur Auswirkung der Glaubensfreiheit auf die Unterlassene Hilfeleistung (§ 323c). 1477 BVerfGE 85 69, 74 f; 104 92, 107 ff. 1478 Eingehend dazu Kudlich JZ 2003 127 ff. 1479 BGHSt 41 20, 23 f. 1480 BVerfGE 17 155, 158. 1481 Eingehend dazu Kuhlen S. 52 ff.

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schon bisher h.M.,1482 dass der Strafverteidiger dem tauglichen Täterkreis nach § 261 Abs. 2 zuzuordnen ist,1483 so dass mit Annahme eines Honorars, das aus einer der in § 261 Abs. 1 S. 2 genannten Vortaten herrührt, der objektive Tatbestand der Geldwäsche erfüllt ist.1484 Sodann stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass die Vorschrift des § 261 Abs. 2 Nr. 1 einen Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) des Strafverteidigers darstelle, weil zum einen das in § 261 normierte Verbot der Annahme bemakelter Vermögenswerte die Entschließungsfreiheit des Verteidigers und damit die angemessene wirtschaftliche Verwertung seiner beruflichen Leistung beeinträchtigt und zum anderen das Entstehen eines Vertrauensverhältnisses zwischen Verteidiger und Mandant sowie eine wirksame Vertretung der Mandanteninteressen durch den Verteidiger gefährdet wird.1485 Das Institut der Pflichtverteidigerbestellung vermag nach zutreffender Begründung des Bundesverfassungsgerichts diesen Verlust der Berufsausübungsfreiheit auch nicht auszugleichen.1486 Ein derartiger Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG ist nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts mangels Verhältnismäßigkeit nicht zu rechtfertigen. Allerdings vermeidet das Bundesverfassungsgericht das Ergebnis der Verfassungswidrigkeit, indem es dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Wege der verfassungskonformen Auslegung Rechnung trägt (Rdn. 336). Weiterhin kann die Berufsfreiheit bei der Frage zum Tragen kommen, ob ein Handeln im Rahmen der rechtmäßigen Berufsausübung der Strafbarkeit sogenannter neutraler Beihilfehandlungen entgegensteht.1487 Der Bundesgerichtshof verneint dies allerdings mit der Begründung, dass jede Handlung in einen „strafbaren Kontext“1488 gestellt werden könne. Hierfür soll es genügen, dass der Gehilfe sicher weiß, dass sein berufsrollengemäßes Verhalten die Tat des Haupttäters fördert und er sich so mit dem Haupttäter solidarisiert. In der Literatur wird demgegenüber in diesem Zusammenhang die Existenz eines (ungeschriebenen) Rechtfertigungsgrundes des berufsgemäßen Verhaltens bzw. das Eingreifen der Lehre von der Sozialadäquanz diskutiert.1489 Hierbei sind die berufsrechtlichen Regelungen als gesetzgeberische Konkretisierungen der verfassungsrechtlichen Berufsfreiheit zu berücksichtigen, die den Freiheitsbereich des Bürgers bestimmen und deshalb durch das Strafrecht nicht überspielt werden dürfen.1490 Einen wichtigen Bestandteil jeder Grundrechtsprüfung stellt auch die Verhältnis- 336 mäßigkeitsprüfung dar. Hiernach sind Eingriffe in verfassungsrechtlich geschützte Positionen nur erlaubt, wenn sie zur Verfolgung eines legitimen Ziels geeignet sind, das heißt, das Mittel den Zweck fördert, außerdem erforderlich sind, das heißt, dass der verfolgte Zweck nicht durch ein gleich wirksames aber weniger belastendes Mittel erreichbar ist, und schließlich angemessen sind, das heißt, dass Grundrechtseingriff und Ertrag für den verfolgten Zweck nicht außer Verhältnis zueinander stehen.1491 Der Maßstab der

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1482 Vgl. dazu nur Altenhain NK § 261 Rdn. 124 f. sowie den Überblick bei BVerfG NJW 2004 1305, 1306 m.w.N. 1483 BVerfG NJW 2004 1305, 1306 f. 1484 Vgl. dazu auch Hassemer/Kargl NK Rdn. 121; ders. NJ 2001 57, 63, der das rechtspolitische Argument, den tragenden Grundsätzen des Strafverfahrens gebühre als höherrangigem Recht der Vorrang, als Auslegungsregel zu Recht verwirft; aA OLG Hamburg NJW 2000 676; OLG Hamm NJW 2000 636. 1485 BVerfGE 110 226, 251 f. 1486 BVerfGE 110 226, 261. 1487 Vgl. dazu Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 365 f m.w.N. 1488 BGHSt 46 107, 113. 1489 Vgl. dazu nur Kudlich JZ 2003 127, 130; Otto FS Lenckner 221 ff; ders. JZ 2001 436 ff; Wohlleben Beihilfe, passim; Wolf-Reske Berufsbedingtes Verhalten, passim; jeweils m.w.N. 1490 Dannecker FS Mangakis 267 ff. 1491 Näher dazu Günther S. 183 f; Kudlich JZ 2003 127, 130 ff; Paulduro S. 139 ff; Kingreen/Poscher Rdn. 330 ff; Vogel StV 1996 110, 113; Weigend FS Hirsch 917, 924; vgl. auch Hefendehl GA 2002 21, 24.

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Verhältnismäßigkeit wird bei einer verfassungsrechtlichen Überprüfung auf zwei Ebenen relevant: Zum einen geht es um die Frage, ob bestimmte Verhaltensweisen zum Schutz des Rechtsguts unter Sanktionsandrohung gestellt werden dürfen, weil es sich um tatsächlich strafwürdige und strafbedürftige Verhaltensweisen handelt. Der Einsatz der Sanktion muss geeignet und erforderlich sein, um das Rechtsgut zu schützen. So ist das Bundesverfassungsgericht bei der Geldwäschestrafbarkeit eines Strafverteidigers durch Annahme eines Honorars, das aus einer der in § 261 Abs. 2 S. 2 genannten Vortaten stammt, einem Verstoß gegen das Übermaßverbot (also die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) dadurch begegnet, dass in subjektiver Hinsicht gefordert wird, dass „der Strafverteidiger im Zeitpunkt der Entgegennahme des Honorars (oder Honorarvorschusses) sicher weiß, dass dieses aus einer Katalogtat herrührt“,1492 womit die Feststellung eines dolus eventualis zur Strafbarkeitsbegründung nicht ausreicht.1493 Zum anderen geht es darum, ob die Art und Höhe der angedrohten Strafe den verfassungsrechtlichen Anforderungen entspricht:1494 Die Sanktion muss angemessen sein.1495 Durch dieses Kriterium können insbesondere offensichtlich unhaltbare Ergebnisse korrigiert werden.1496 Bei der Kontrolle von Strafgesetzgebung und Strafrechtsprechung am Maßstab der Verhältnismäßigkeit ist zwar eine unterschiedliche Kontrolldichte zu konstatieren.1497 Jedoch sollten Gesetzgebung und Rechtsanwendung mit gleicher Strenge an allen Elementen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gemessen werden. 1498 Für den Strafrichter kann dies bedeuten, dass eine restriktive Auslegung des Tatbestands geboten ist, wenn die Strafbarkeit besonders weit in das Vorfeld der eigentlichen Schädigung ausgedehnt ist und deshalb Fälle erfasst werden, die nicht strafwürdig und strafbedürftig sind. So hat das OLG Karlsruhe einen Subventionsbetrug im Ergebnis zu Recht abgelehnt, weil ein Steuerberater unrichtige Angaben gemacht hat, die zu einem Subventionsanspruch geführt haben, der aber auch bei wahren Angaben entstanden wäre.1499 Allerdings ist die Begründung des Gerichts, dass es sich bei § 264 um einen Gefährdungstatbestand handele, „durch den die Strafbarkeit weit nach vorne verlegt wird“, nicht tragfähig. Entscheidend ist, dass dieser Tatbestand im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut nicht bereits die bloße Erschwerung einer behördlichen Entscheidungsfindung unter Strafe stellt und zudem der Versuch straflos ist. Es geht insoweit um eine „normale teleologische“ Auslegung,1500 bei der zugleich dem verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung getragen wird. Weiterhin ist zu überprüfen, ob bestimmte Tatbestandsinterpretationen den Anfor337 derungen von Art. 103 Abs. 2 GG genügen. Hierbei geht es nicht um die materielle Verfassungsmäßigkeit, die am Maßstab der Grundrechte (Rdn. 335) zu messen ist und darüber entscheidet, ob „die in der angefochtenen Entscheidung vertretene Rechtsauf-

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1492 BVerfGE 110 226, 267; zustimmend (und ausweitend auf alle rechtsberatenden Berufe) Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 943 m.w.N. 1493 Im Ergebnis zustimmend Barton JuS 2004 1033, 1037; siehe auch Dahs/Krause/Widmaier NStZ 2004 261; kritisch Ranft Jura 2004 759, 765; Wohlers JZ 2004 678, 680 f. 1494 Vgl. BVerfGE 37 201, 212. 1495 Eingehend zur „strafrahmenorientierten Auslegung“ Kudlich ZStW 115 (2003) 1 ff, der darin ein Auslegungskriterium sieht, das insbesondere bei der systematischen und der teleologischen Auslegung hilft, den entsprechenden Kontext zu erschließen (S. 24). Hierbei handelt es sich in der Sache in der Regel um Ausprägungen des verfassungsrechtlichen Übermaßverbots; so zutreffend Roxin AT I § 5 Rdn. 28 Fn. 43. 1496 So Kingreen/Poscher Rdn. 340. 1497 Näher dazu Roxin AT I § 5 Rdn. 86 f, 89; Tiedemann Verfassungsrecht und Strafrecht S. 59. 1498 So zutreffend Weigend FS Hirsch 917, 925; zustimmend Kuhlen S. 49 f. 1499 OLG Karlsruhe JW 1981 1383 f. 1500 Tiedemann GS Delitala 2149, 2151 f.

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fassung – als Gesetz gedacht – gegen das Grundgesetz verstößt“;1501 vielmehr steht die formelle Verfassungsmäßigkeit von Gesetzesinterpretationen in Frage, bei der es darauf ankommt, „ob es mit dem Grundgesetz vereinbar ist“, ein bestimmtes Ergebnis gerade „durch richterliche Entscheidungen herbeizuführen“ (BVerfGE 34 269, 285). In diesen Fällen könnte der Gesetzgeber, indem er dem Postulat des Gesetzlichkeitsprinzips entspricht, ein entsprechendes Gesetz wirksam erlassen.1502 Neben Fällen, in denen der Gesetzeswortlaut überschritten werden müsste, um die verfassungsrechtlichen Vorgaben zu wahren, sind Fälle fehlender Bestimmtheit denkbar. Dies war bei der Entscheidung BVerfGE 87 209, 224 zu § 131 Abs. 1 der Fall sowie bei den Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zur Beurteilung der Berücksichtigung von Fernzielen bei der Verwerflichkeitsprüfung gemäß § 240 Abs. 2 (BGHSt 35 270, 283), zur weiten Auslegung des Begriffs „leichtfertig“ im Zusammenhang mit § 261 Abs. 5 (BGHSt 43 158, 167 f), zum Ausdruck „gute Sitten“ im Rahmen des § 228 (BGHSt 49 34, 40 f) und zum materiellen Verständnis von § 92 Abs. 1 AuslG (BGH StV 2005 330, 332). Weiterhin können sich aus dem Analogieverbot (Rdn. 238) und dem Bestimmtheitsgebot, aus dem das Bundesverfassungsgericht das Postulat der Auslegungsbestimmtheit hergeleitet hat (dazu sogleich Rdn. 338),1503 Grenzen für den Richter ergeben. Die verfassungsrechtlichen Vorgaben können so weit gehen, dass die fraglichen Vor- 337a schriften letztlich im zu entscheidenden Fall gar keine Anwendung mehr finden dürfen. Ein Beispiel dafür gibt die Entscheidung des Bundesgerichtshofs im Göttinger Organzuteilungsfall. Dort hat der BGH im Ergebnis zu Recht abgelehnt, im Rahmen von § 212 StGB strafbegründend auf eine Richtlinie der Bundesärztekammer abzustellen.1504 Zwar zog er es grundsätzlich in Betracht, trotz ihrer privatrechtlichen Organisation als nicht rechtsfähiger Verein ihre Richtlinien als exekutive Rechtsetzung zu qualifizieren, und dies ist zumindest nach dem neuen § 16 Abs. 3 S. 1 TPG (Genehmigung der Richtlinien durch das Bundesgesundheitsministerium) plausibler als nach der für die Entscheidung maßgeblichen Rechtslage. Er lehnte die Anwendung der Richtlinie aber wegen Verfassungswidrigkeit generell ab. Dem ist zuzustimmen, soweit er dabei auf das Fehlen einer hinreichenden Ermächtigungsgrundlage abgestellt hat. Auch die Annahme, dass an alkoholbedingter Leberzirrhose leidende Patienten durch das Erfordernis einer Abstinenzzeit in ihren Grundrechten verletzt wurden, trifft zu.1505 Er übersah jedoch, dass ohne die Richtlinie ein verfassungsunmittelbarer Teilhabeanspruch am Organaufkommen nach Dringlichkeit und Erfolgsaussichten bestand, in den eingegriffen wurde, soweit diese Abstinenzzeit nicht in Frage stand, und insoweit wäre eine Verurteilung wegen Totschlags nicht ausgeschlossen gewesen.1506 Beim Postulat der Auslegungsbestimmtheit handelt es sich nicht um eine „Hand- 338 lungsbegrenzung“, die den Richter an eine gesetzliche Grundlage von hinreichender Bestimmtheit bindet, sondern um eine „Handlungsanweisung“, die von dem Rechtsanwender eine aktive Bestimmung des Rechts durch bestimmte Auslegung des Gesetzes verlangt, wie sie der Bestimmtheitsgrundsatz vom Gesetzgeber durch Erlass bestimmter Gesetze fordert. Dadurch wird der Orientierungssicherheit des Bürgers Rechnung getra-

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1501 So Schumann Verfassungs- und Menschenrechtsbeschwerde gegen richterliche Entscheidungen (1963) S. 334; näher zum Verhältnis zwischen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Art. 103 Abs. 2 GG Kaspar S. 368 f. 1502 Näher zur Unterscheidung von materieller und formeller Verfassungsmäßigkeit von Gesetzesauslegungen Kuhlen S. 45 ff m.w.N. 1503 BVerfGE 105 132, 152 f. 1504 BGHSt 62 223, Rdn. 30 ff. 1505 Näher dazu Dannecker/Streng-Baunemann NStZ 2014 673, 674 ff; Henckel HRRS 2018 273, 277 ff. 1506 Dannecker/Streng-Baunemann NStZ 2014 673, 674 ff.

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gen. Allerdings dürfen an die Bestimmtheit der Gesetzesinterpretation keine überzogenen Anforderungen gestellt werden. Vielmehr handelt es sich auch hier um ein Optimierungsgebot (Rdn. 195 f), das mit anderen Gesichtspunkten in praktische Konkordanz zu bringen ist.1507 Aus dem Postulat der Auslegungsbestimmtheit kann sich die Notwendigkeit einer 339 engen Handhabung unbestimmter Gesetzesbegriffe ergeben,1508 mit der Folge, dass Strafbarkeit nur angenommen werden kann, wenn über das Vorliegen der Strafbarkeitsvoraussetzungen vernünftigerweise nicht mehr gestritten werden kann, wenn also die Tatbestandsmäßigkeit eindeutig gegeben ist.1509 Dies ist im Strafrecht jedenfalls insoweit zu berücksichtigen, als diffuse Randbereiche nicht als strafbewehrt angesehen werden dürfen.1510 Der Gegen-Gesichtspunkt, dass es nur eine richtige, aber keine restriktive oder extensive Auslegung gibt, ist zwar rechtstheoretisch zutreffend. Wenn aber der Sinn des Bestimmtheitsgebotes des Art. 103 Abs. 2 GG nicht nur in einem bloßen Willkürverbot gegenüber der Rechtsprechung gesehen, sondern mit der h.M. als Grundrecht des einzelnen Rechtsunterworfenen verstanden wird (Rdn. 53), kann die Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit des Auslegungsergebnisses nicht irrelevant sein. Die Beachtung des Postulats der Auslegungsbestimmtheit kann ferner zur Folge ha340 ben, dass ein Begriff, der durch eine Strafnorm im Weg der Blankettverweisung in Bezug genommen wird, im Strafrecht enger zu handhaben ist als im außerstrafrechtlichen Bereich (zu Fragen der Normspaltung s. Rdn. 341). Das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 48 48, 60 f) hat diese Möglichkeit am Beispiel des Konkursstrafrechts für die Konstellation aufgegriffen, dass die Strafnorm einen (teilweise) anderen Zweck als die Wirtschaftsrechtsnorm verfolge. Wenn das Bundesverfassungsgericht allerdings die von ihm selbst im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG postulierte „enge“ Auslegung von wirtschaftsrechtlichen Begriffen bei ihrer Verwendung im Strafrecht dazu benutzt, die Strafbarkeit auszuweiten, läuft dies dem von Art. 103 Abs. 2 GG intendierten Grundrechtsschutz zuwider. 341 Bei Verwendung desselben Begriffes im Strafrecht und im außerstrafrechtlichen Bereich, dessen Ge- oder Verbote durch die Strafnorm in Bezug genommen werden, stellt sich die Frage, ob von demselben oder aber einem je nach Verfahrensart unterschiedlichen Norminhalt auszugehen ist. Hierfür hat Tiedemann den Begriff „Normspaltung“ geprägt und die praktische Bedeutung dieser Fragestellung insbesondere für das Kartellrecht aufgezeigt.1511 Die Praxis plädiert im Interesse der Rechtsklarheit und damit der Rechtssicherheit für eine einheitliche und damit einheitlich „enge“ Rechtsanwendung.1512 Hierfür spricht, dass der Strafaspekt den Norminhalt auch dann mitprägt, wenn kein Strafverfahren durchgeführt wird. Die interpretatorische Annahme einer „Normspaltung“ sollte deshalb nach Möglichkeit vermieden werden.1513 Dies setzt aber eben die

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1507 Kuhlen FS Otto 89, 95. 1508 Vgl. BVerfGE 71 108, 122; 87 209, 224; 87 399, 408; 92 1, 19; 93 266, 292; BVerfG NJW 2005 349 ff; BGHSt 40 371, 372; 42 158, 161; 43 158, 167 f; 43 381, 406; 47 243, 244; 49 34, 41; BGH StV 2005 330, 332. 1509 BGHSt 4 24, 32; Lenckner JuS 1968 304, 308 ff; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 262; ders. NJW 1980 1557, 1559 m.w.N. 1510 Näher dazu Tiedemann Artikel „Auslegung“ in Krekeler/Tiedemann/Ulsenheimer/Weinmann HWiStR S. 1, 3; ders. in 40 Jahre Grundgesetz S. 155, 168. 1511 Vgl. nur Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht I S. 188 und jetzt Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 253, 268. 1512 BGH NJW 1978 1856; Fischer ZGR 1978 235, 239; vgl. auch BVerfGE 21 292, 305; näher dazu auch Otto FS Gitter 715 ff. 1513 Immenga/Mestmäcker/Dannecker/Biermann Vor Art. 23 VO 1/2003 Rdn. 54; Pfeiffer Schwerpunkte 1978/79 S. 1, 11 f; K. Schmidt Kartellverfahrensrecht (1977) S. 126 ff; aA Fischötter GK-GWB Anm. 8 Vor § 38 a.F.; Kartte WuW 1962 241, 250 f; Reinhart S. 31 f; Strickrodt WuW 1960 825, 833 f; Ulmer WuW 1971 878, 885.

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einheitlich enge Handhabung voraus. Wird die Vorschrift außerhalb des Strafrechts weiter als nach dem Analogieverbot zulässig angewandt, ist eine Normspaltung unausweichlich.1514 Die Normentheorie geht entsprechend von einem „Vorrang“ der außerstrafrechtlichen Norm aus, während strafrechtlich zu kontrollieren ist, in welchem Umfang die Bezugnahme bzw. Übernahme erfolgen, wodurch die Möglichkeit letztlich verschiedener Norminhalte entsteht.1515 In neuerer rechtstheoretischer Sprechweise wird die ursprüngliche (außerstrafrechtliche) Regelung als Verhaltensregel bzw. Verhaltensnorm bezeichnet, die in der Sanktionsnorm mit Strafe bewehrt wird, welche den Umfang der Bezugnahme ggf. einschränkt, so dass es strafrechtlich letztlich auf einen Verstoß gerade gegen den strafbewehrten Teil der Verhaltensnorm ankommt, der sich auch als „strafbewehrte Verhaltensnorm“ auffassen lässt (Rdn. 334).1516 Der Bundesgerichtshof hat z.B. in seiner Bandidos-Entscheidung eine Übernahme der in § 9 Abs. 3 VereinsG vom Gesetzgeber selbst ausformulierten analogen Erweiterung des Kreises verbotener Vereinskennzeichen in den Anwendungsbereich der Strafvorschrift des § 20 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 VereinsG mit guten Gründen abgelehnt, denn diese trifft selbst nähere Bestimmungen zu ihrem Anwendungsbereich; zudem verfolgte der Gesetzgeber mit § 9 Abs. 3 VereinsG andere Ziele, so dass die Erweiterung anhand der Strafvorschrift nicht erkennbar wäre.1517 Die Pflicht zur Offenlegung eines Jahresabschlusses nach § 325 Abs. 1 S. 3 HGB a.F. hat das Bundesverfassungsgericht mit Blick auf die Bußgeldfolge nach § 335 HGB auf periodenbezogene Verstöße beschränkt, wodurch es eine Normspaltung vermeiden konnte, und es für verfassungswidrig gehalten, diese Pflicht schon dann als verletzt anzusehen, wenn schlichte Untätigkeit bzgl. der Pflicht, nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 DrittelbG einen Aufsichtsrat zu bilden, vorlag (obwohl mangels Aufsichtsratsbericht kein regelkonformer Jahresbericht offengelegt wurde).1518 In seiner Siemens-AUB-Entscheidung übernahm er hingegen in nicht überzeugender Weise die arbeitsrechtlich nicht zu beanstandende erweiternde Anwendung von § 20 Abs. 2 BetrVG für die Strafvorschrift des § 119 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 BetrVG (um darauf ein steuerliches Abzugsverbot zu stützen und die Verurteilung wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung zu bestätigen),1519 während auch hier die Annahme einer Normspaltung zutreffend gewesen wäre.1520 hh) Unionsrechtskonforme Auslegung. Der Vorrang des Unionsrechts gebietet es 342 den Mitgliedstaaten, dem Unionsrecht bei der Auslegung des relevanten nationalen Rechts Rechnung zu tragen.1521 Dies gilt auch für das Strafrecht, das deshalb unionsrechtskonform auszulegen und im Lichte des Unionsrechts fortzubilden ist.1522 So vertritt der

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1514 Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 187; ders. GS Delitala 2149, 2162 ff; Kudlich/Oğlakcıoğlu Rn. 49b; Gaede AnwK Rn. 9. 1515 Vgl. nur Binding Die Normen und ihre Übertretungen Bd. I, 4. Aufl. (1922) S. 160; Herschel NJW 1968 533 f; vgl. auch BGHSt 24 54 ff; WuW/E BGH 3067, 3072 „Fremdleasingboykott II“. 1516 Vgl. dazu im Kontext des Kartellrechts H. Richter Die Diskriminierung als Kartellordnungswidrigkeit (1982) S. 16 ff. 1517 BGHSt 61 1, Rdn. 30 ff m. zust. Anm. Bock JZ 2016 158 ff; Eisele NJW 2015 3593, 3594; Becker NStZ 2016 90, 92. 1518 BVerfG NJW 2014 1431 ff. 1519 BGHSt 55 288, Rdn. 51 ff. 1520 Eingehend Kudlich FS Stöckel 93, 114; Joecks MK § 119 BetrVG Rdn. 10, 18 f. 1521 Vgl. dazu BGHSt 37 168, 174 ff; 37 333 ff; 43 219, 224 ff; Dannecker JZ 1996 869, 872 f; ders. FG-Wiss. 50 J. BGH Bd. IV 364 ff; ders. Jura 2005 173, 175 f; Eisele JZ 2001 1157 ff; Hecker Europäisches Strafrecht Kap. 10 Rdn. 1 ff; Hugger NStZ 1993 421 ff; vHH/v. Heintschel-Heinegg Rdn. 22 ff; Rogall KK-OWiG § 3 Rdn. 83; Tiedemann FS Roxin 1401, 1403 m.w.N. 1522 Näher dazu Dannecker JZ 1996 869, 873; Hugger NStZ 1993 421 ff; Satzger Europäisierung S. 518 ff; C. Schröder S. 355 ff; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 171; Hecker JuS 2014 385 ff.

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EuGH in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass nationales Recht richtlinienkonform auszulegen ist.1523 Dogmatisch stützt er seine Auffassung auf folgende Begründung: „Allerdings ist klarzustellen, dass sich die aus einer Richtlinie ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das in dieser vorgesehene Ziel zu erreichen, sowie die Pflicht der Mitgliedstaaten gemäß Art. 10 (ex-Art. 5) EGV [heute Art. 4 Abs. 3 EUV], alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten obliegen, und zwar im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auch den Gerichten. Daraus folgt, dass das nationale Gericht bei der Anwendung des nationalen Rechts, insbesondere auch der Vorschriften eines speziell zur Durchführung der Richtlinie 76/207 erlassenen Gesetzes, dieses nationale Recht im Lichte des Wortlauts und der Richtlinie auszulegen hat, um das in Art. 189 Abs. 3 (Art. 249 Abs. 3 EG n.F.) [heute Art. 288 Abs. 3 AEUV] genannte Ziel zu erreichen.“ 343 Der Bundesgerichtshof hat die unionsrechtskonforme Auslegung in den Kanon der Auslegungsmethoden aufgenommen, ohne diese Methode als solche zu benennen. Dies wird besonders deutlich am Beispiel der Auslegung des Abfallbegriffs im Umweltstrafrecht, bei der sich der Bundesgerichtshof im sog. „Pyrolyse“-Urteil1524 stark an den Vorgaben der EuGH-Rechtsprechung orientiert und unter Berufung auf die einschlägigen EU-(bzw. EG-)Richtlinien entschieden hat, dass gewillkürter Abfall auch dann vorliege, wenn ein Stoff nach seiner Entsorgung zwar wiederverwertet oder weiterverarbeitet werden kann, der Besitzer sich aber des Stoffes entledigen will, weil dieser für ihn wertlos geworden ist. Eine solche von subjektiven Zweckbestimmungen losgelöste Definition des Abfallbegriffes stehe auch im Einklang mit den bereits zur Tatzeit geltenden EGRichtlinien.1525 Mit dieser Begriffsbestimmung hat der Bundesgerichtshof die Rechtsprechung des EuGH1526 de facto übernommen, der festgestellt hatte, dass der Begriff „Abfall“ i.S.d. Art. 1 der Richtlinie des Rates 75/4421527 und des Art. 1 der Richtlinie des Rates 78/3191528 Stoffe nicht ausschließe, die wirtschaftlich wiederverwertet werden könnten. Der Abfallbegriff setze nicht die Absicht des Besitzers voraus, jede wirtschaftliche Wiederverwertung durch andere Personen auszuschließen.1529 In der Literatur wird deshalb die Auslegung des Abfallbegriffs zutreffend als ein Anwendungsfall der richtlinienkonformen Auslegung im Strafrecht gesehen.1530 Darüber hinaus sind aber auch sämtliche sonstigen Rechtsakte der Europäischen 344 Union im Wege der unionsrechtskonformen Auslegung zu beachten. So forderte der EuGH bereits im Jahre 1989, dass Empfehlungen gemäß Art. 288 Abs. 5 AEUV (damals Art. 249 [ex-Art. 189] EG) bei der Auslegung des nationalen Rechts zu berücksichtigen seien, obwohl diese Rechtsform keine Verbindlichkeit hatte:1531 „Die innerstaatlichen Gerichte sind nämlich verpflichtet, bei den Entscheidungen der bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten die Empfehlungen zu berücksichtigen, insbesondere dann, wenn diese

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1523 EuGH Slg. 1984 1909 (von Colson und Kamann); Slg. 1984 1942 (Harz); Slg. 1991 I-4159 (Marleasing). 1524 BGHSt 37 333 ff m. Anm. Sack JR 1991 337 ff und Horn JZ 1991 885 ff. 1525 BGHSt 37 333, 335 f. 1526 EuGH Slg. 1990 I-1461 ff (Vessoso und Zanetti). 1527 Richtlinie 75/442 EWG des Rates über Abfälle, ABl. Nr. L 194 vom 25.7.1975 S. 47. 1528 Richtlinie 78/319 EWG des Rates über giftige und gefährliche Abfälle, ABl. Nr. L 84 vom 31.3.1978 S. 43. 1529 EuGH Slg. 1990 I-1461, 1478 (Vessoso und Zanetti). 1530 Dannecker JZ 1996 869, 873; ders. FG-Wiss. 50 J. BGH Bd. IV 339, 368; Tiedemann NJW 1993 23, 24 ff; aA Hugger NStZ 1993 421, 422; kritisch auch Fritsch Das neue Kreislaufwirtschafts- und Abfallrecht (1996) Rdn. 833. 1531 EuGH Slg. 1989 4421 (Grimaldi).

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Aufschluss über die Auslegung zu ihrer Durchführung erlassener innerstaatlicher Rechtsvorschriften geben oder wenn sie verbindliche gemeinschaftliche Vorschriften ergänzen sollen.“ Im Urteil „Marleasing“ kam der Gerichtshof zum ersten Mal zu dem Ergebnis, dass sich das Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung nicht auf Umsetzungsakte beschränke, sondern – gleich, ob es sich um vor oder nach der Richtlinie erlassene Vorschriften handele – die Auslegung so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie auszurichten sei, um das mit der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen.1532 Auch wenn es sich um eine vor der Richtlinie erlassene Vorschrift handelt, muss das nationale Recht somit richtlinienkonform ausgelegt werden. Daher ist davon auszugehen, dass nach Auffassung des EuGH das gesamte nationale Recht im Lichte des Wortlauts und Zwecks einer Richtlinie auszulegen ist, sofern es nur in deren Regelungsbereich fällt.1533 Dies ist insbesondere bei normativen Tatbestandsmerkmalen (z.B. Urkunde, Kreditgeber) geboten, die einer entsprechend ausweitenden Auslegung zugänglich sind.1534 Der EuGH hat im „Pupino“-Urteil die für die damalige erste Säule der Europäischen 345 Union entwickelten Grundsätze auf den daran angelehnten Rahmenbeschluss in der dritten Säule der Europäischen Union übertragen und eine unionsrechtliche Pflicht zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung des nationalen Rechts bejaht.1535 Dadurch wurde die seinerzeit gemäß Art. 34 Abs. 2 lit. B EU expressis verbis ausgeschlossene unmittelbare Wirkung von Rahmenbeschlüssen für den Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen gleichsam „durch die Hintertür“ eingeführt und dieser Bereich damit partiell „vergemeinschaftet“. Damit entfalten die europäischen Rahmenbeschlüsse Rechtswirkungen, die zu einer Verrechtlichung der Zusammenarbeit in Strafsachen beitragen.1536 Auf Richtlinien mit Mindestvorschriften nach Art. 83 Abs. 1 oder 2 AEUV müssen diese Grundsätze übertragen werden. Der EuGH geht davon aus, dass unionsrechtliche Normen stets gleich auszulegen 346 sind, sei es im Rahmen eines außerstrafrechtlichen Verfahrens oder im Rahmen des Strafrechts, wenn dieses außerstrafrechtliche Regeln des Unionsrechts in Bezug nimmt (Rdn. 36).1537 Demgegenüber wird in Deutschland im Strafrecht eine Begrenzung der Sanktionsvorschriften auf tatbestandsmäßig zweifelsfreie Verstöße gefordert, auch wenn dies zu einer „Normspaltung“ führt, da nur so dem verfassungsrechtlich garantierten Bestimmtheitsgebot Rechnung getragen werden kann (Rdn. 206).1538 Dies soll gleichermaßen für auf EU-Richtlinien beruhende Sanktionsvorschriften gelten.1539 Hiergegen spricht jedoch, dass nur allgemeine Rechtsgrundsätze zu einer Begrenzung der unionsrechtskonformen Auslegung führen können. Das Gebot einer restriktiven Auslegung im Strafrecht (Rdn. 195, 291 ff) ist zwar kein solcher Grundsatz. Immerhin aber sieht auch

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1532 EuGH Slg. 1990 I-4159 (Marleasing). 1533 Eingehend dazu Brechmann S. 69; Heinrichs NJW 1995 153, 154. 1534 Schroeder NJW 1990 1406 f; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 35; ders. FS Roxin 1401, 1405; ders. ZStW 116 (2004) 945, 950; vgl. auch Hecker Europäisches Strafrecht Kap. 10 Rdn. 70 ff; aus der Rechtsprechung BayObLG NJW 1980 1057 f (italienische Benzingutscheine). 1535 EuGH Slg. 2005 I-5309 (Pupino) = NJW 2005 2839 ff mit Anm. Herrmann EuZW 2005 436 ff und Hillgruber JZ 2006 841 ff; vgl. auch Adam EuZW 2005 1 558 ff; Baddenhausen/Pietsch DVBl. 2005 1562 ff; Gärditz/Gusy GA 2006 225, 235 ff; Killmann JBl 2005 566 ff; Lorenzmeier ZIS 2006 576, 578 ff;von Unger NVwZ 2006 46 ff; Wehnert NJW 2005 3760 ff; Weißer ZIP 2006 562 ff; Zeder ÖJZ 2001 81 ff. 1536 Tinkl StV 2006 36, 41. 1537 EuGH Slg. 1986 805 ff (Gemeinsame Marktorganisation für Wein); näher dazu Dannecker ZStW 117 (2005) 697, 738 f. Dies gilt jedoch nicht für das europäische Kartellordnungswidrigkeitenrecht, wo nur eindeutige Zuwiderhandlungen für bußgeldrelevant gehalten werden; näher dazu Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 503 m.w.N. 1538 Grundlegend dazu Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 172 ff. 1539 de Weerth Bilanzordnungswidrigkeiten S. 65 ff.

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der EuGH den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Strafrecht als spezieller an als das allgemeine Prinzip der Rechtssicherheit; entsprechend können auch die besonderen Anforderungen des Art. 49 GRCh unter Umständen eine Normspaltung begründen. 347 Die unionsrechtskonforme Auslegung wurde für das Strafrecht von einem Teil der Literatur1540 ablehnt. Zur Begründung wurde vorgetragen, das Unionsrecht dürfe zur Auslegung des Strafrechts generell nicht herangezogen werden. Diese Vorstellung kann heute als überholt gelten, und schon früher handelte es sich um eine petitio principii. Grenzen für eine unionsrechtskonforme Auslegung des Strafrechts können sich lediglich aus verfassungsrechtlichen Vorgaben ergeben. In diesem Zusammenhang kommt als begrenzende Norm nur der Grundsatz „nullum crimen sine lege“ in Betracht. Problematisch wird die Reichweite der unionsrechtskonformen Auslegung erst dann, 348 wenn ein klar erkennbarer Widerspruch zwischen nationalem Gesetz und Richtlinie oder zwischen einer an einer EU-Richtlinie orientierten Auslegung und nationalem Verfassungsrecht besteht. Hierbei geht es um die Frage, ob die Richtlinie oder Verordnung ein imperatives, andere Auslegungsregeln überspielendes Interpretationsgebot enthält1541 oder ob Art. 103 Abs. 2 GG als nationale Verfassungsnorm eine bei der Berücksichtigung des Unionsrechts zu beachtende Grenze statuieren kann.1542 Gegen eine Anerkennung der unionsrechtskonformen Auslegung als ranghöchstes Auslegungsprinzip spricht, dass auch der EuGH die Ansicht vertritt, dass die unionsrechtskonforme Auslegung „ihre Grenzen in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die Teil des Gemeinschaftsrechts sind, und insbesondere in dem Grundsatz der Rechtssicherheit und im Rückwirkungsverbot“ finde.1543 In den Entscheidungen „von Colson und Kamann“ und „Harz“ erklärte der EuGH den eindeutigen Wortlaut des Gesetzes zur Grenze der Auslegung: „Es ist Sache des nationalen Gerichts, das zur Durchführung der Richtlinie erlassene Gesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen und anzuwenden.“1544 Der Wortlaut des Gesetzes, aber auch der erkennbar andere Wille des Gesetzgebers muss daher im Strafrecht eine Grenze für die unionsrechtskonforme Interpretation bilden, die zu einer Ausweitung des Anwendungsbereichs einer Strafnorm führen würde. Hingegen bestehen gegen eine die Strafbarkeit einschränkende unionsrechtskonforme Auslegung keine verfassungsrechtlichen Bedenken.1545 Allerdings geht der EuGH bei unionsrechtlichen Normen davon aus, dass diese stets 349 gleich auszulegen sind (Rdn. 36), sei es im Rahmen eines außerstrafrechtlichen Verfahrens oder im Rahmen von Strafverfahren, wenn das Strafrecht auf unionsrechtliche Regeln Bezug nimmt (Rdn. 346). Insofern statuiert er für das Strafrecht keine erhöhten Anforderungen (Rdn. 348). Damit bleibt er zunächst hinter den Anforderungen zurück, die im nationalen Recht gelten. Da der Anwendungsvorrang grundsätzlich auch für das Verfassungsrecht Geltung beansprucht, kann grundsätzlich nicht auf die nationalen Verfassungsgarantien, sondern nur auf das „Verfassungsrecht“ der Europäischen Union als einzuhaltende Schranke zurückgegriffen werden (näher dazu Rdn. 33 ff). Dies würde bedeuten, dass bei blankettausfüllenden unionsrechtlichen Normen geringere Anforde-

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1540 Hugger NStZ 1993 421 ff. 1541 So z.B. Everling RabelsZ 50 (1986) 193, 225, der die Rechtsprechung des EuGH wiedergibt. 1542 So Heise S. 109 ff. 1543 EuGH Slg. 1987 3986 (Kolpinghuis Nijmegen BV); vgl. dazu auch Zuleeg JZ 1992 761, 765. 1544 EuGH Slg. 1984 1909 (von Colson und Kamann); Slg. 1984 1942 (Harz). 1545 Beisse BB 1990 2007, 2012; Bleckmann in Leffson/Rückle/Großfeld Handwörterbuch (1986) S. 28; ders. BB 1984 1525, 1526; vgl. auch Dieblich Der strafrechtliche Schutz der Rechtsgüter der Europäischen Gemeinschaften (1985) S. 148 ff; Gröblinghoff S. 51 f; Heise S. 151 ff, Möhrenschlager in Dannecker Subventionsbetrug S. 162, 164.

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rungen an die Bestimmtheit gelten als beim Verweis auf nationale Regelungen (kritisch dazu oben Rdn. 166). In diesem Sinne hat der EuGH in seiner Taricco I-Entscheidung1546 tatsächlich formuliert und verlangt, nationale Verjährungsvorschriften unangewendet zu lassen. In seiner Entscheidung M.A.S. und M.B. („Taricco II“) stellte er indes klar, dass eine Ausnahme für solche Fälle gilt, in denen der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen wegen mangelnder Bestimmtheit oder Rückwirkung verletzt würde, und dabei bezieht er sich ausdrücklich sowohl auf die Anforderungen des Unionsrechts als auch auf diejenigen des nationalen (im entschiedenen Fall italienischen) Rechts (siehe auch Rdn. 36).1547 Allerdings begrenzt der EuGH seine Ausführungen in fragwürdiger Weise auf die Zeit, in der die unionsrechtlichen Vorgaben noch nicht in nationales Recht umgesetzt werden müssen.1548 d) System der Auslegungslehren. Angesichts der verschiedenen Auslegungsre- 350 geln, die divergierende Orientierungsgesichtspunkte liefern, stellt sich die Frage nach einer Rangordnung der Auslegungsmethoden, um zu verhindern, dass die Gerichte nach Belieben und damit willkürlich wählen können (vgl. schon oben Rdn. 299).1549 Das System der Auslegungsregeln ist jedoch durch das Prinzip der Konkurrenz geprägt, ohne dass es eine Metatheorie der Auslegungstheorien gibt, die Aufschluss darüber verleiht, in welcher Entscheidungssituation welche Auslegungsvariante anzuwenden ist.1550 So führt BVerfGE 105 135, 157 aus, bei der Auslegung „helfen alle herkömmlichen Auslegungsmethoden in abgestimmter Berechtigung. Unter ihnen hat keine einen unbedingten Vorrang vor einer anderen“. aa) Rangverhältnis der klassischen Auslegungsmethoden im Strafrecht. In der 351 Rechtsprechung hat sich unter Zustimmung der wohl herrschenden Lehre als Regel etabliert, von der grammatischen Interpretation auszugehen, um dann mittels der systematischen und historischen Auslegung unter Einbeziehung objektiv-teleologischer Erwägungen einer nicht eindeutigen Wortbedeutung die notwendige Kontur zu verleihen.1551 Die Rechtsprechung wägt dabei die verschiedenen Auslegungsregeln gegeneinander ab, um das gewünschte Ergebnis auf die jeweils vorzugswürdige Auslegungstheorie zu stützen. Gleichwohl findet in der Praxis die teleologische Auslegung am häufigsten Anwendung,1552 da sie dem bereits gefundenen Ergebnis in der Regel nicht entgegensteht, sondern dieses begründen kann, insbesondere wenn man der objektiv-teleologischen Auslegungstheorie folgt und nicht auf die vom Gesetzgeber verfolgten Zwecke abstellt (Rdn. 316). Gerade die objektiv-teleologische Auslegung gibt aber dem Rechtsanwender keine Kriterien an die Hand, die seiner Auslegung gegenüber extern sind und über die er nicht frei verfügen kann,1553 da der „objektive Sinn des Gesetzes“ nicht falsifizierbar

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1546 EuGH NZWiSt 2015 390 (Taricco [I]) m. Anm. Bülte. 1547 EuGH NJW 2018 217 (M.A.S. und M.B.) m. Anm. Pilz. Näher dazu Meyer JZ 2018 304 ff; Staffler ZStW 130 (2018) 1147 ff und Wegner wistra 2018 107 ff. 1548 Dannecker in: Ambos/Beck 115, 138 ff, 144 ff. 1549 Engisch Einführung S. 167 ff. 1550 Bydlinski Methodenlehre S. 553 ff; Esser S. 124; Schroth in Hassemer/Neumann/Saliger Einführung S. 243, 263; Hassemer/Kargl NK Rdn. 120; Kriele S. 85 ff; Larenz Methodenlehre S. 343; ders. FS Huber 294; Mastronardi Juristisches Denken (2001) S. 166 ff; Neumann in Hassemer/Neumann/Saliger Einführung S. 303, 309 ff. 1551 Näher dazu Hassemer/Kargl NK Rdn. 122 ff m.w.N. 1552 BGHSt 9 84, 87; 10 157, 159 f; 24 40, 42 f; 39 100, 103 ff; dazu Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 44 f m.w.N. 1553 Duttge S. 125.

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ist,1554 sondern nur durch eine konkurrierende Sinndeutung bestritten werden kann. Vielmehr kann diese Auslegungsmethode gerade zur (unzulässigen) Überwindung der Wortlautgrenze herangezogen werden1555 und birgt deshalb besondere Gefahren im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG. Sie ist deshalb im Lichte dieses Grundrechts dahingehend anzuwenden, dass auf die Zwecke abgestellt wird, die der Gesetzgeber mit dem Gesetz verfolgt hat (näher dazu oben Rdn. 317 f). Auch eine rein rechtsgutsorientierte Auslegung kann zur Überwindung des Wortlauts und des Bedeutungsumfangs des Gesetzes führen, wenn auf den Schutz der „Interessen“ oder des materialen Unwerts einer Straftat verwiesen wird.1556 Daher ist auch sie nicht geeignet, die Bindung des Strafrichters an das Gesetz zu gewährleisten (siehe aber Rdn. 319).1557 Demgegenüber geben die grammatische, die systematische und die historische 352 Auslegung dem Strafrichter zu beachtende Kriterien vor und binden ihn damit an die Entscheidung des Gesetzgebers. Diese Auslegungsmethoden sind daher grundsätzlich geeignet, dem Gesetzlichkeitsprinzip des Art. 103 Abs. 2 GG Rechnung zu tragen. Deshalb sind im Strafrecht der Gesetzeswortlaut und die Bindung des Richters an die subjektivhistorische Auslegung besonders zu beachten, um aussagekräftige und auslegungskritische Kriterien zu erhalten. 1558 Allerdings weisen auch diese Auslegungsmethoden Schwächen auf: Die grammatische Methode kann bei Begriffen mit einem weiten semantischen Spielraum keine klaren Ergebnis liefern (Rdn. 306), die historische Methode verliert mit nachlassender Aktualität des Gesetzes an Überzeugungskraft (näher dazu Rdn. 313),1559 und die systematische Auslegung scheitert gelegentlich daran, dass dem fraglichen Zusammenhang nicht immer „wirklich“ ein System zugrunde liegt (Rdn. 314). Gleichwohl darf die Leistungsfähigkeit dieser Methoden nicht unterschätzt werden. Insbesondere die grammatische Auslegung vermag durchaus Schranken aufzuzeigen, insbesondere wenn der Kontext zur Begrenzung des Wortlauts (Rdn. 306) herangezogen wird. Um den Vorgaben des Gesetzlichkeitsprinzips, das den Richter an die gesetzgeberi353 schen Entscheidungen bindet, zu entsprechen, ist, unabhängig vom Fehlen einer Metatheorie der Auslegungstheorien, von einer Art Rangverhältnis auszugehen:1560 Zunächst ist – ausgehend vom Gesetzeswortlaut – mittels der grammatischen Auslegung der Bedeutungsumfang des Gesetzes zu bestimmen. Es besteht Einigkeit darüber, dass dieser Methode im Hinblick auf die Funktion des Wortlauts als Ausgangspunkt und äußerste Auslegungsgrenze ein gewisser Vorrang zukommt.1561 Hierbei ist der Wortsinn zunächst unter Berücksichtigung des besonderen gesetzlichen Sprachgebrauchs zu ermitteln, sofern ein solcher besteht (Rdn. 304), und erst im Falle des Fehlens eines solchen Sprachgebrauchs auf den alltagssprachlichen Wortsinn abzustellen.1562 Alle weiteren Auslegungsmethoden bewegen sich innerhalb des Bedeutungsspielraums, den der allgemeine

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1554 So zutreffend Hassemer/Kargl NK Rdn. 114b; zustimmend Schmitz MK Rdn. 100. 1555 Zur mit Art. 103 Abs. 2 GG nicht mehr vereinbaren Auslegung des Organhandelsverbots vgl. Schroth in Oduncu/Schroth/Vossenkuhl Transplantation (2003) S. 166 ff. 1556 Kargl JZ 1997 283 ff. 1557 Hassemer/Kargl NK Rdn. 114b. 1558 Kargl Jura 2001 178 ff; ders. ZStW 114 (2002) 570 ff; Koch/Rüßmann S. 176 ff; Schmitz MK Rdn. 102; Schünemann Nulla poena S. 20. 1559 Vgl. nur Maurach/Zipf/Jäger § 9 Rdn. 16. 1560 AA z.B. Satzger SSW Rdn. 54. 1561 Vgl. nur Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 52. 1562 Vgl. auch Wank S. 71 ff, der allerdings auf den Gesetzessinn und nicht auf den Wortsinn abstellt; krit. dazu zu Recht Herzberg JuS 2005 1, 3; aA Hassemer/Kargl NK Rdn. 122; Roxin AT I § 5 Rdn. 28; Schmitz MK Rdn. 81, die auf den durch den umgangssprachlichen Wortsinn geschaffenen Rahmen abstellen.

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Sprachgebrauch zulässt. Die Frage nach dem Rangverhältnis der übrigen Konkretisierungsgesichtspunkte stellt sich nur innerhalb dieses Rahmens.1563 Sodann sind – entgegen der h.M., die der objektiv-teleologischen Methode Vorrang 354 einräumt1564 – die subjektiv-historische Methode und die systematische Auslegung heranzuziehen, um dem Rechtsanwender eine außerhalb seiner eigenen Überzeugungen liegende Sinndeutung zu ermöglichen, die dem Willen des Gesetzgebers entspricht.1565 Diese Vorrangstellung der am gesetzgeberischen Willen ausgerichteten historischen und systematischen Auslegung vor der teleologischen Auslegung bedeutet zwar noch keine Metaregel, sie entspricht aber dem methodenorientierten Anliegen der Sicherung des Gesetzlichkeitsprinzips. Erst danach kommt die teleologische Methode zur Anwendung. Hierbei ist der Gesetzesbindung des Richters dadurch Rechnung zu tragen, dass auf die Zwecke abgestellt wird, die der Gesetzgeber mit dem Gesetz verfolgt hat (Rdn. 317 f). Diese Auslegungsmethoden haben innerhalb des durch den Wortlaut und den Wortsinn abgesteckten Spielraums jene Bedeutung zu bestimmen, die den Gesetzesworten richtigerweise zu geben ist. bb) Verfassungskonforme Auslegung. Die verfassungskonforme Auslegung, die 355 anders als die klassischen Auslegungsmethoden eine negative und keine positive Anleitung der Auslegung enthält, erfordert ihrerseits eine Auslegung der Verfassung und stellt deshalb kein auslegungsexternes Kriterium zur Verfügung.1566 Sie hat Vorrang vor den klassischen Auslegungsmethoden und begrenzt diese.1567 Allerdings kann sie nicht zu einer Ausweitung über den Wortsinn des Gesetzes führen, da dies ihrerseits verfassungswidrig, da nicht mit der Verfassungsnorm des Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar wäre. Daher ist im Anschluss an die Auslegung eines Gesetzes noch zu prüfen, ob ein Verstoß gegen das Analogieverbot vorliegt.1568 cc) Unionsrechtskonforme Auslegung. Die unionsrechtskonforme Auslegung 356 nimmt am Anwendungsvorrang des Unionsrechts teil,1569 der auch für das Strafrecht gilt (BGHSt 37 168 ff),1570 und kann deshalb ausnahmsweise zu einer Ausweitung der Strafnormen führen, die mit Art. 103 Abs. 2 GG nicht mehr vereinbar ist, da der EuGH bei blankettausfüllenden Normen den strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz nicht anwendet (Rdn. 36). Eine Grenze ergibt sich gleichwohl aus dem nationalen (verfassungs-

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1563 Roxin AT I § 5 Rdn. 28; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 52; L. Beck Jura 2018 330, 338, jeweils m.w.N. 1564 Vgl. nur Jescheck/Weigend AT § 17 IV 1b; Jäger SK Rdn. 70; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 53; jeweils m.w.N. 1565 Hassemer/Kargl NK Rdn. 122; Koch/Rüßmann S. 182; Krahl S. 402 ff; Naucke FS Engisch 274, 276 f; Schroth S. 82 ff; vgl. auch BVerfGE 105 135, 157 f. 1566 Hassemer/Kargl NK Rdn. 114a. 1567 Kaspar S. 526 m.w.N., der die verfassungskonforme Auslegung als Unterfall der systematischen Auslegung einordnet. 1568 Vgl. dazu Rüthers JZ 2005 21, 24 f. 1569 EuGH Slg. 1984 1909 (von Colson und Kamann); Slg. 1984 1942 (Harz); Slg. 1990 I-4159 (Marleasing); vgl. auch Brechmann S. 128; Dannecker FG-Wiss. 50 J. BGH Bd. IV 339, 364 ff; ders. JZ 1996 869, 873; di Fabio NJW 1990 953; Hugger NStZ 1993 421 ff; Müller-Gugenberger in ders. Wirtschaftsstrafrecht § 5 Rdn. 86 ff. 1570 Der EuGH hat Bestrebungen, eine „Bereichsausnahme“ zum Anwendungsvorrang für das Strafrecht zu konstruieren, eine klare Absage erteilt; vgl. zur Unanwendbarkeit einer italienischen Bußgeldvorschrift EuGH Slg. 1997 I-1449 f (Tommaso Morellato); zum schwedischen Lebensmittelstrafrecht EuGH Slg. 1999, I-3143 (Antoine Kortas); zur Rechtmäßigkeit einer lebenslangen Ausweisung aus einem Mitgliedstaat EuGH Slg. 1999 I-29 (Donatella Calfa) m. Anm. Streinz JuS 1999 1120; zu belgischen Polizeiund Sicherheitsgesetzen EuGH Slg 1999 I-8453 (Arblade und Leloup); siehe auch Dannecker FG-Wiss. 50 J. BGH Bd. IV 339, 359 f; Howarth JCL 1989 358 f.

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rechtlichen) Bestimmtheitsgrundsatz, den der EuGH prinzipiell auch anerkennt hat (näher dazu Rdn. 35, 37). 357

e) Beispiele aus der Rechtsprechung. Beispiele zulässiger Gesetzesauslegung sind: Deutung des Begriffs „Ausland“ in § 5 (zu Nr. 4) dahin, dass er alle Gebiete umfasst, die außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs des StGB liegen, also auch das Hoheitsgebiet der früheren DDR mit der Folge, dass frühere hauptamtlich tätige MfS-Angehörige weiterhin wegen Landesverrats und Gefährdung der äußeren Sicherheit (§§ 94 bis 100a) für Taten verfolgt werden können, die sie vor dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland auf dem Gebiet der DDR begangen haben.1571 – Dem ist zuzustimmen in der Erwägung, dass diese Auslegung notwendig mit der restriktiven Deutung des Inlandsbegriffs des § 3 korrespondiert, wonach das Strafrecht der Bundesrepublik grundsätzlich nicht für Taten gilt, die auf dem Territorium der früheren DDR verübt wurden.1572 Absehen von der durch § 28 Abs. 1 zwingend vorgeschriebenen Strafrahmenmilderung für Gehilfen, wenn die Annahme von Beihilfe, die notwendig schon zur Strafrahmenmilderung nach § 27 Abs. 2 S. 2 führt, allein auf dem Fehlen eines strafbegründenden besonderen persönlichen Merkmals beruht, z.B. darauf, dass der Gehilfe nicht in einem Treueverhältnis zu dem durch eine Untreuehandlung (§ 266) geschädigten Vermögensinhaber steht.1573 – Es ist fraglich, ob es sich hierbei nicht in Wirklichkeit um eine analoge Anwendung des § 50 zum Nachteil des Beschuldigten handelt, die über die Grenzen hinweggeht, welche einer Auslegung des § 28 Abs. 1 durch den Gesetzeswortlaut gezogen sind. Verhängung eines Zuchtmittels, das nach § 13 Abs. 3 JGG nicht die Wirkung einer Strafe hat, als Verurteilung zu „Strafe“ bei der Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 42m a.F. (jetzt § 69).1574 – Die Entscheidung beruht auf der Ansicht, die Auslegung der Vorschrift sei durch den Wortlaut nicht begrenzt; es komme vielmehr auf den Sinn und Zweck an, den der Gesetzgeber – nach ihrer Stellung im Gesetz – erkennbar verfolgt habe.1575 Im Grunde handelt es sich um die Schließung einer Gesetzeslücke durch Analogie, und die Frage hätte lauten müssen, ob die Maßregel nach § 42m a.F. unter das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG und des § 1 fällt (Rdn. 238 ff). Das spezielle Problem ist heute nach § 7 JGG und § 69 Abs. 1 gegenstandslos; Zulässigkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 42m a.F. auch dann, wenn der Angeklagte freigesprochen wird, weil sich nicht ausschließen lässt, dass er bei Begehung der mit Strafe bedrohten Handlung zurechnungsunfähig war.1576 Dem entspricht heute die Fassung des § 69 Abs. 1. Zulässigkeit der Sicherungszwecken dienenden Einziehung von Schriften trotz Eintritts der Strafverfolgungsverjährung, obwohl § 76a Abs. 2 S. 1 i.d.F. vor dem 21. StRÄndG (in Verbindung mit § 78 Abs. 1) sie nach dem Gesetzeswortlaut ausschloss;1577 Wertung der fortgesetzten Handlung als einheitliche Tat im Rechtssinne mit der Folge, dass die Verjährung für alle Handlungsteile gemäß § 78a erst mit der Beendigung des letzten Teilaktes beginnt;1578 Subsumtion der Nichtrückkehr an den erlaubt oder schuldlos verlassenen Unfallort unter den Begriff der Flucht i.S.d. § 142 a.F. Inzwischen hat der Gesetzgeber die Vorschrift durch das 13. StrÄG v. 13.6.1975 umformuliert und diese Fälle in den Wortlaut

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1571 BGH NStZ 1991 231 = JZ 1991 713 m. Anm. Classen; KG NJW 1991 2501, 2502 m. Anm. Wilke NJW 1991 2465; C. Arndt NJW 1991 2466 und Volk JR 1991 431; offen gelassen in BGH NJW 1991 2498 = NStZ 1991 429. 1572 BGHSt 30 1, 4 f; 32 293, 297. 1573 BGHSt 26 53, 54 f = JR 1975 509 m. Anm. Bruns; BGHR-StGB § 28 Abs. 1 Merkmal 2. 1574 BGHSt 6 394, 397. 1575 BGHSt 6 394, 396. 1576 BGHSt 14 68, 70 ff. 1577 Ablehnend Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 48; BGHSt 31 226. 1578 BGH NJW 1991 1306, 1308; BVerfG NStZ 1991 383.

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einbezogen. Diese Entscheidung hätte die Rechtsprechung nicht vorwegnehmen dürfen.1579 Weitere Beispiele bilden: gewaltsame Beibringung von Alkohol in solchen Mengen, dass hierdurch die Widerstandskraft der Frau gegen unzüchtige Handlungen gebrochen wird, als Gewaltanwendung nach § 176 Abs. 1 Nr. 1 a.F.;1580 Annahme der Erregung „öffentlichen“ Ärgernisses (§ 183 a.F., § 183a i.d.F. des 4. StrRG) auch dann, wenn eine unbestimmte Vielheit von Personen, die die Handlung wahrnehmen könnten, zwar nicht zur Stelle ist, aber nach den örtlichen Verhältnissen jederzeit zur Stelle sein könnte;1581 auf chemischem Wege wirkendes Mittel (verdünnte Salzsäure) als „Waffe“ im Sinne des § 223a a.F. und des § 250 Abs. 1 Nr. 1 a.F.:1582 Beschränkung des Waffenbegriffs auf Gegenstände, die durch mechanische Einwirkung auf den Körper verletzen; ein auf einen Menschen gehetzter Hund als „gefährliches Werkzeug“ im Sinne des § 223a a.F.;1583 Erstreckung der Gewaltalternative des § 240 Abs. 1 auf Sitzdemonstrationen, bei denen die Teilnehmer Zufahrten zu militärischen Einrichtungen ohne gewalttätiges Verhalten durch Verweilen auf der Fahrbahn versperren; dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die Tatbestandsmäßigkeit der Handlung nicht schon deren Verwerflichkeit (§ 240 Abs. 2) indiziert;1584 gewaltsames Beiseiteschieben eines Schrankes, der eine Türöffnung versperrt, als „Einbrechen“ im Sinne des § 243 Abs. 1 Nr. 2 a.F.;1585 Hindurchkriechen durch eine ebenerdige Öffnung, bei dem Hindernisse zu überwinden sind, als „Einsteigen“ im Sinne des § 243 Abs. 1 Nr. 2 a.F.;1586 ein im Inneren eines Gebäudes liegendes Zimmer, desgleichen ein Wohnwagen als „umschlossener Raum“ im Sinne des § 243 Abs. 1 Nr. 2 a.F., der auch gegen Diebstahl durch Einsteigen besonders geschützt ist;1587 Annahme einer „Bande“ bei einer Verbindung von nur zwei Personen;1588 gewaltlose Beibringung eines Betäubungsmittels (Chloraethyls) als Anwendung von Gewalt beim Raub, § 249;1589 offener Zugang zu einem Gebäude, den sich der Täter durch List oder Täuschung von Hausbewohnern verschafft, als „Einschleichen“ im Sinne des früheren Tatbestands des Raubes zur Nachtzeit, § 250 Abs. 1 Nr. 4 a.F.;1590 „ohne Anwendung des § 2 StGB“, das heißt, ohne dass es auf die Aufhebung des Analogieverbots durch das Gesetz vom 28.6.1935 angekommen wäre; Annahme, der Dieb sei vom Bestohlenen gemäß § 252 auf frischer Tat „betroffen“, wenn dieser das Opfer niederschlägt, ohne von ihm vorher bemerkt worden zu sein;1591 Annahme vollendeter Hehlerei (§ 259) in der Form des Absetzens oder des Absetzenhelfens auch dann, wenn es nicht zum Absatz des Hehlgutes gekommen ist;1592 ein mit Wänden und Dach versehener Rohbau als „Gebäude“ im Sinne des § 308, auch wenn Türen und Fenster noch nicht eingesetzt sind,1593 dies im Gegensatz zum Begriff des Gebäudes in § 243 Abs. 1 Nr. 2 a.F.;1594 Auslegung des frü-

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1579 Roxin AT I § 5 Rdn. 34. 1580 BGHSt 14 8, 10. 1581 RGSt 70 90, 94. 1582 BGHSt 2 29, 30 – anders demgegenüber noch RG JW 1938 791 und RG DR 1940 1937. 1583 BGHSt 14 152, 153 ff gegen RGSt 8 315, 316. 1584 BVerfGE 73 206, 254 ff, 260; BVerfG NStZ 1991 279. 1585 RGSt 60 378, 379. 1586 RGSt 13 257, 258. 1587 BGHSt 1 158, 163 f, 167 f; aA RGSt 60 378, 379. 1588 BGHSt 23 239 f; aA nunmehr BGHSt (GS) 46 321, 325 ff. Vertiefend unter dem Gesichtspunkt des „Mengenbegriffs“ Lutfullin S. 156 ff. 1589 BGHSt 1 145, 147 f. 1590 RGSt 73 9, 10 f. 1591 BGHSt 26 95, 96 f. 1592 BGHSt 27 45, 47 ff, 50 f; BGH NStZ 1990 539. 1593 BGHSt 6 107, 108 f. 1594 BGHSt 1 158, 163.

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heren Tatbestands des § 330 über die Verletzung der Regeln der Baukunst dahin, dass nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Stellung und Zweck der Vorschrift ein fahrlässiger Verstoß zur Bestrafung ausreicht;1595 Muschelfang als „Fischen“ im Sinne der §§ 296, 370 Nr. 4 a.F.1596 In Strafvorschriften außerhalb des Strafgesetzbuchs sind als Fälle zulässiger Ge358 setzesauslegung angesehen worden: Annahme des in § 29 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4 BtMG genannten Regelbeispiels der unerlaubten Abgabe von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, wenn der Angeklagte wegen einer – in dieser Vorschrift nicht ausdrücklich genannten – Veräußerung einer solchen Menge verurteilt wird;1597 die Anwendung von Sondertatbeständen, die Geschäftsführer, Organe oder Mitglieder von Organen von Kapitalgesellschaften betreffen (z.B. §§ 82, 84, 85 GmbHG), sowie die Anwendung des § 14 StGB, der den Täterkreis bei Sonderdelikten erweitert, auf „faktische Organe“, insbesondere den tatsächlichen Geschäftsführer einer GmbH, der im Einverständnis mit den Gesellschaftern handelt;1598 Kraftfahrzeug als „bespanntes Fuhrwerk“ im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 6 des Preuß. Gesetzes betreffend den Forstdiebstahl vom 15.4.1878, wonach die Strafe verschärft wurde, „wenn zum Zwecke des Forstdiebstahls ein bespanntes Fuhrwerk, ein Kahn oder Lasttier mitgebracht“ war1599 – Bei dieser Entscheidung handelt es sich um einen geradezu klassischen Fall einer vernünftigen, gleichwohl aber unzulässigen Analogie, mit der ein Versäumnis des Gesetzgebers korrigiert wurde.1600 Die Rechtsprechung hat als unzulässig, da über den Wortsinn hinausreichend 359 oder als willkürliche Auslegung des geschriebenen materiellen Strafrechts angesehen:1601 die Erfassung eines PkW als „Waffe“ in § 113 Abs. 2 S. 2 Nr. 1;1602 die Subsumtion eines Zusammenschlusses von zwei Personen unter eine „Vereinigung“ i.S.d. § 129, weil hierin eine Überdehnung des Straftatbestandes liege;1603 die Annahme, eine feste Wand, der gewachsene Boden oder Fels, allgemein ein nicht durch Menschenkraft beweglicher Gegenstand, gegen den das Opfer gestoßen oder geworfen wird, sei ein gefährliches Werkzeug im Sinne des § 223a a.F.;1604 die Wertung einer Kettenbriefaktion als Glücksspiel im Sinne der §§ 284, 284a, das nach dem vom Gesetzgeber vorgefundenen und zugrunde gelegten Begriff einen „Einsatz“ des Spielers voraussetzt, woran es bei einer Kettenbriefaktion fehlt;1605 die Annahme, die Bezahlung einer Geldstrafe durch Dritte sei eine strafbare Strafvereitelung nach § 258 Abs. 2;1606 die Behandlung schlichten Nichtsagens als „Verschweigen“ in § 264a;1607 die Auffassung, dass das bloße unbefugte Plakatieren eine Sachbeschädigung (§ 303) sei1608 (nunmehr in § 303 Abs. 2 geregelt); die Annahme, dass wegen unerlaubter Ausübung der tatsächlichen Gewalt über eine Schusswaffe nach § 53 Abs. 3 Nr. 1a in Verbindung mit § 28 Abs. 1 S. 1 WaffG bestraft werden könne, wer es unterlassen habe, eine Waffe, die er bereits zuvor legal erworben hatte, nach dem Inkrafttreten

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1595 BGHSt 6 131, 134. 1596 RGSt 17 161, 162 ff. 1597 BGHSt 37 147; BVerfG NJW 1991 2823. 1598 BGHSt 31 118, 122; kritisch hierzu K. Schmidt FS Rebmann 419, 438 ff; Fuhrmann FS Tröndle 139, 145 ff m.w.N. aus Rechtsprechung und Schrifttum. 1599 BGHSt 10 375 f. 1600 Ablehnend auch Roxin AT I § 5 Rdn. 34; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 55. 1601 BVerfGE 64 389, 394. 1602 BVerfG NJW 2008 3627 ff. 1603 BGHSt 28 147, 148. 1604 BGHSt 22 235, 236; RGSt 24 272, 274 f. 1605 BGHSt 34 171, 177 f. 1606 BGHSt 37 226, 229 ff. 1607 BVerfG NJW 2008 1726, 1727 (Rdn. 17). 1608 BGHSt 29 129, 133 f.

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des WaffG i.d.F. vom 19.9.1972 (BGBl. I S. 1797) anzumelden, dies ungeachtet der Sonderregelung des § 53 Abs. 3 Nr. 7 WaffG und der Tatsache, dass er die Waffe vor Ablauf der Anmeldefrist des § 59 WaffG einem Dritten überlassen hat. Der Besitz anmeldepflichtiger „Altwaffen“ während der Anmeldefrist war weder verboten noch mit Strafe bedroht; die Nichterfüllung der Anmeldepflicht als solche hat der Gesetzgeber nicht unter Strafe gestellt.1609 Vergleichbare Fälle aus dem Recht der Ordnungswidrigkeiten: bei der Anwendung des § 13 Abs. 4 des Niedersächsischen Kommunalwahlgesetzes i.d.F. vom 20.7.1977 (Nds. GVBl. S. 267);1610 Deutung einer Vorschrift einer Ortssatzung als Bußgeldtatbestand, obwohl sie nach ihrem Wortsinn nur einen Hinweis darauf enthält, dass es nach Landesrecht möglich sei, das Verbot der Satzung mit einer Bußgelddrohung zu bewehren.1611 5. Rückwirkungsverbot a) Überblick. § 1 und Art. 103 Abs. 2 GG fordern, dass die Strafbarkeit gesetzlich be- 360 stimmt war, „bevor“ die Tat begangen wurde: Hierin kommt die vierte Garantiefunktion des Strafgesetzes, das Verbot einer rückwirkenden Strafbegründung und Strafschärfung, zum Ausdruck (nullum crimen, nulla poena sine lege praevia).1612 Hierbei handelt es sich um die älteste und strikteste Gewährleistung des Art. 103 Abs. 2 GG (siehe dazu oben Entstehungsgeschichte), die sehr viel klarere Konturen als das Bestimmtheitsgebot oder das Analogieverbot hat, so dass ihre Anwendung in der Regel weniger Probleme bereitet. Umstritten ist jedoch, inwieweit das Rückwirkungsverbot die Bestrafung von Taten ausschließt, die der im Zeitpunkt der Tat herrschende Gesetzgeber in Widerspruch zu ansonsten allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen gerechtfertigt hat. Diese Frage stellt sich vor allem bei der Ahndung der Untaten des Nationalsozialismus und bei der strafrechtlichen Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit (Rdn. 446 ff). Auch das Rückwirkungsverbot dient der Vorhersehbarkeit für den Bürger (Rdn. 57). 361 Zugleich wird die Strafbefugnis des Staates auf den Umfang begrenzt, der vor der Tatbegehung durch Gesetz festgelegt war (zur Fundierung des Rückwirkungsverbots Rdn. 370 ff). Deshalb verbietet das Rückwirkungsverbot eine nachträgliche Umbewertung der Tat zu Lasten des Bürgers (BVerfGE 25 269, 286; 46 188, 193; 95 96, 131)1613 und trägt auf diese Weise der Funktion des Gesetzes Rechnung, den Freiheitsbereich des Bürgers abzustecken und ihm abschließend die Grenzen des Verbotenen aufzuzeigen (siehe dazu Rdn. 380). Es darf nicht im Nachhinein durch die Anwendung eines neuen Gesetzes in die Freiheit des Bürgers stärker eingegriffen werden, als das Gesetz zum Zeitpunkt der Tatbegehung zugelassen hat. Dies ist immer dann der Fall, wenn das Verhalten als schwerwiegenderer Unrechtsverstoß bewertet wird (näher dazu Rdn. 415). Hierbei kommt es nicht darauf an, ob eine materiellrechtliche oder eine verfahrensrechtliche Norm nachträglich geändert wird. Entscheidend soll in letzterem Fall sein, ob die Rechtsänderung einer materiellen rückwirkenden Rechtsänderung gleichsteht (BVerfG NJW 2005 2289, 2294; näher dazu Rdn. 422).

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1609 BVerfGE 64 389, 394 ff. 1610 BVerfGE 71 108 = NStZ 1986 261 m. Anm. Hanack. 1611 BVerfG NStZ 1990 394, 395 m. Anm. Mertens NStZ 1991 288. 1612 BVerfGE 7 111, 119; 14 288, 297; 25 269, 285 f; 26 41, 42; 37 201, 207; 46 188, 192; 95 96, 131; 113 273, 308. 1613 BVerfGE 46 188, 193; 81 132, 135; 95 96, 131; eingehend dazu Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 253 ff; Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 71; Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 50; vgl. auch Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 207: „Das Rückwirkungsverbot gewährleistet damit den Bestand der Handlungsumschreibung als Träger des typischen Unrechts.“

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Das Rückwirkungsverbot richtet sich primär an den Strafgesetzgeber und verbietet ihm den Erlass rückwirkender Strafgesetze.1614 Es wendet sich aber auch an den Strafrichter und untersagt diesem eine rückwirkende Anwendung von zur Tatzeit noch nicht in Kraft getretenen Strafgesetzen, die sich zu Lasten des Täters auswirken. Es gilt also sowohl das Verbot rückwirkender Strafbegründung als auch das Verbot rückwirkender Strafverschärfung (BVerfGE 25 269, 285; 46 188, 192; 81 132, 135):1615 Eine Tat, die zur Zeit ihrer Begehung nicht strafbar war, darf nicht rückwirkend für strafbar erklärt werden. Außerdem darf für eine gesetzlich verbotene Straftat die zur Zeit der Tatbegehung gültige Strafdrohung weder der Art noch dem Maß nach rückwirkend verschärft werden (näher Rdn. 400).1616 Das strikte Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG gilt als Sonderfall des all363 gemeinen Rückwirkungsverbots1617 nicht allgemein für die Rechtsordnung, sondern nur im Strafrecht (BVerfGE 30 367, 385).1618 Im Unterschied zum allgemeinen Rückwirkungsverbot, bei dem auf Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip zurückgegriffen werden muss (dazu Rdn. 3),1619 enthält Art. 103 Abs. 2 GG ein absolutes Verbot der Rückwirkung (BVerfGE 30 367, 385; 95 96, 131), das nicht unter Abwägungsvorbehalten steht und insofern ein „Spezifikum unter den Garantien der Rechtsstaatlichkeit“ darstellt (BVerfGE 95 96, 131).1620 Das Rückwirkungsverbot dient deshalb dem Postulat der Rechtssicherheit und nicht der materiellen Gerechtigkeit (Rdn. 52).1621 Dies bedeutet, dass das Spannungsverhältnis zwischen materieller Gerechtigkeit und Rechtssicherheit im Strafrecht allgemein dahingehend zu lösen ist, dass eine Bestrafung nur möglich ist, wenn beide Forderungen eingehalten werden. Wenn der Gesetzgeber der materiellen Gerechtigkeit zu Lasten der Rechtssicherheit zum Durchbruch verhelfen will, so erfordert dies ein verfassungsänderndes Gesetz, das allerdings nur in den Grenzen des Art. 79 Abs. 2 GG zulässig ist.1622 Was den Anwendungsbereich anbetrifft, so bezieht sich das strafrechtliche Rück364 wirkungsverbot auf den gesamten Straftatbestand einschließlich blankettausfüllender und sonstiger durch den Straftatbestand in Bezug genommener Regelungen (Rdn. 394 ff), auf die Vorschriften des Allgemeinen Teils (Rdn. 390 ff) und die strafrechtlichen Folgen der Tat (Rdn. 400 ff), grundsätzlich aber nicht auf das Verfahrensrecht und die Verfolgungsvoraussetzungen (Rdn. 411 ff, 424 ff). Hingegen unterliegen die Maßregeln der Besserung und Sicherung mangels Strafcharakters nach h.M. nicht dem strafrechtlichen Rückwirkungsverbot (Rdn. 407 ff); dies hat allerdings bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung zu erheblichen Problemen geführt (Rdn. 408). Art. 103 Abs. 2 GG enthält verfassungsrechtliche Gewährleistungen für das Strafrecht 365 unter der Geltung des Grundgesetzes. Ob die Strafbarkeit einer Tat gesetzlich bestimmt

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1614 Vgl. nur Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 123. 1615 BVerfG NJW 1990 1103; BGHSt 39 1, 29; Pieroth S. 41 ff. 1616 BGHSt 15 227, 228. 1617 Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 74; Rogall KK-OWiG § 3 Rdn. 40. 1618 Vgl. auch BVerfGE 7 89, 95; Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 71; Jescheck/Weigend AT § 15 IV 1; Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 74; Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 69; Umbach/Clemens/Zierlein Art. 103 Rdn. 144. 1619 BVerfGE 88 384, 403; Krey/Weber-Linn FS Blau 123, 149 f; v. Münch/Kunig/Kunig Art. 103 Rdn. 33; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 66; zu den verfassungsrechtlichen Einzelfragen vgl. Bauer JuS 1984 241 ff; Pieroth JZ 1984 971 ff. 1620 Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 71, Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 74; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 120; Umbach/Clemens/Zierlein Art. 103 Rdn. 144. 1621 Vgl. für die h.M. Wassermann AK-GG Art. 103 Rdn. 49. 1622 Dazu Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 269 ff; ders. Jura 1994 585, 594 f; Dannecker/ Stoffers JZ 1996 490, 494.

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war, bevor die Tat begangen wurde, bestimmt sich, wenn das deutsche Strafrecht im Hinblick auf denselben Sachverhalt mit anderen Rechtsordnungen konkurriert, in erster Linie aufgrund des Strafrechts der Bundesrepublik Deutschland (BVerfG NJW 2005 2289, 2294). Auch soweit sich der Anwendungsbereich des Strafrechts der Bundesrepublik auf Sachverhalte erstreckt, die hinsichtlich des Tatorts, des Täters oder des Verletzten internationale Bezüge aufweisen, ist die Beachtung des Verbots rückwirkender Strafgesetze grundsätzlich auf der Grundlage des innerstaatlichen Rechts zu beurteilen (BVerfGE 92 277, 324). Hierbei kommt es nicht darauf an, ob die Tat auch im Ausland mit Strafe bedroht war. Selbst wenn das in Frage stehende Verhalten nach der fremden Rechtsordnung gerechtfertigt war, steht Art. 103 Abs. 2 GG einer Bestrafung im Inland nicht entgegen. Wenn sich ein Deutscher allerdings infolge einer Ausweitung des Auslieferungsrechts für Taten in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union verantworten muss, die keinen maßgeblichen Auslandsbezug aufweisen und zum Zeitpunkt ihrer Begehung in Deutschland straffrei waren, kann dies einer rückwirkenden Rechtsänderung des materiellen Strafrechts gleichstehen (BVerfGE NJW 2005 2289, 2294; näher dazu Rdn. 422). b) Ersetzung eines Strafgesetzes durch ein anderes Strafgesetz; Verhältnis von 366 § 1 zu § 2 StGB. Das Rückwirkungsverbot verbietet nicht, den Beschuldigten nach einem Gesetz zu bestrafen, welches das zum Tatzeitpunkt geltende Strafgesetz ersetzt, sofern altes und neues Gesetz den Unrechtsgehalt der Tat gleich bewerten (BVerfGE 46 188, 193; näher dazu § 2 Rdn. 89 ff), sofern Unrechtskontinuität vorliegt bzw. Identität des Schutzzwecks und eine gleiche Angriffsweise gegeben ist (§ 2 Rdn. 93 ff, 98 ff) und dem Schuldgrundsatz Rechnung getragen wird (eingehend dazu § 2 Rdn. 101 ff). Wenn der Normgeber des neuen Gesetzes ein anderer als der der aufgehobenen Rechtsnorm ist, steht dies der Strafbarkeit nicht entgegen (BVerfGE 81 132, 136 zum Verhältnis von Bundes- und Unionsrecht [seinerzeit EG-Recht]).1623 Für den Fall einer nachträglichen Änderung der vom Täter verletzten Strafnorm ent- 367 hält die Vorschrift des § 2, die in Absatz 1 das Rückwirkungsverbot des § 1 und Art. 103 Abs. 2 GG wieder aufgreift, weitere Regelungen, die folglich in § 1 und Art. 103 Abs. 2 GG hineinzulesen sind:1624 Das „Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt“ (§ 2 Abs. 1), muss zu dieser Zeit schon in Kraft getreten (§ 2 Rdn. 12) und darf nicht wieder außer Kraft getreten sein (§ 2 Rdn. 13). Da es nach § 2 Abs. 1 auf die „Zeit der Tat“ ankommt, kommt es gemäß § 8 auf die Handlung bzw. das pflichtwidrige Unterlassung und nicht auf den Erfolg an (BGHSt 11 199, 121).1625 Bei Dauerdelikten und fortgesetzten Taten entscheidet nach § 2 Abs. 2 die Beendigung, das heißt der letzte Teilakt (§ 2 Rdn. 54 ff). Allerdings darf bei Dauerdelikten eine Strafschärfung nur die Teilakte erfassen, die nach der Rechtsänderung begangen worden sind (BayObLG NJW 1996 1422; näher dazu § 2 Rdn. 57).1626 Das Rückwirkungsverbot ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht 368 schon dann verletzt, wenn die Tat in der Zeit zwischen ihrer Begehung und der Entscheidung vorübergehend nicht mit Strafe bedroht gewesen ist (BVerfGE 81 132, 135).1627 Die nur vorübergehende Aufhebung oder Milderung einer Norm lässt den Garantiegehalt des Rückwirkungsverbots unberührt (§ 2 Rdn. 69).

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1623 Ebenso Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 71; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 127. 1624 Vgl. nur Bringewat Rdn. 200. 1625 Vgl. nur Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 127. 1626 v. Mangoldt/Klein/Starck/Nolte Art. 103 Abs. 2 Rdn. 119; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 127. 1627 Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 430 f; Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 75; Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 51.

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In § 2 Abs. 3 spiegelt sich wider, dass das Rückwirkungsverbot nur zu Lasten des Täters gilt,1628 während eine rückwirkende Rechtsanwendung zugunsten des Täters zulässig (BVerfGE 8 197, 201f; 95 96, 137)1629 und wegen der Geltung des Grundsatzes der lex mitior sogar grundsätzlich geboten ist (Rdn. 54 ff),1630 ohne dass dies zum traditionellen Gehalt der Verbürgungen des Art. 103 Abs. 2 GG zählt (näher dazu § 2 Rdn. 231 ff). Mit Blick auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 7 EMRK (Rdn. 10) und im Lichte von Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh (vgl. Rdn. 39 f) wird auch eine erweiternde Interpretation von Art. 103 Abs. 2 GG in Erwägung gezogen.1631 Diese Verortung überzeugt nicht, aber die Lex mitior-Regel bezieht Verfassungsrang aus dem Rechtsstaatsprinzip, denn das mildere Gesetz beseitigt als Rex posterior die Ermächtigungsgrundlage, die zum Zeitpunkt des staatlichen Eingriffs, der Verurteilung, vorliegen muss (§ 2 Rdn. 20 f).

c) Fundierung des Rückwirkungsverbots. aa) Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit von Strafbarkeit und Strafe. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 26.2.1969 zur nachträglichen Verlängerung der Mordverjährung (BVerfGE 25 269 ff) eingehend zur Fundierung des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots Stellung genommen. Es stützte das Rückwirkungsverbot zunächst auf die Bestimmungsfunktion des Strafgesetzes, das den Täter zu rechtstreuem Verhalten motivieren soll:1632 Art. 103 Abs. 2 GG verbiete es, „jemanden auf Grund eines Gesetzes zu bestrafen, das zur Zeit der Tat noch nicht in Kraft getreten war, dem Täter also nicht bekannt sein konnte (BVerfGE 7 111, 119). Damit ist sowohl die rückwirkende Anwendung neu geschaffener Straftatbestände als auch die Strafbegründung im Wege der Analogie verfassungskräftig verboten.“1633 Aus der Funktion des Gesetzes als Bestimmungsnorm folgt, dass bei der Bestimmung 371 der Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit nicht auf den Verbrecher, sondern auf den Bürger als Normadressaten abzustellen ist.1634 Entsprechend sieht die h.M. – entgegen Franz v. Liszt1635 – in dem Grundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege“ nicht mehr die „magna charta des Verbrechers“, welche diesem verbrieft, dass er nur unter den gesetzlichen Voraussetzungen und nur innerhalb der gesetzlichen Grenzen bestraft wird, sondern den Schutz des Bürgers (s. auch Entstehungsgeschichte). Sinn des Rückwirkungsverbots ist es, „dem Bürger die Grenze des straffreien Raumes klar vor Augen zu stellen“.1636 Sodann verknüpft das Bundesverfassungsgericht in der soeben genannten Entschei372 dung das Rückwirkungsverbot mit dem Freiheitseingriff, der durch die Verurteilung erfolgt, und trägt dem Erfordernis einer demokratischen Legitimation freiheitsbeschränkender Eingriffe und der Bindung des Richters an das Gesetz Rechnung: „Aus dem Gebot, daß die Strafbarkeit der Tat vor deren Begehung ‚gesetzlich bestimmt‘ sein muss, folgt fer-

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1628 Vgl. nur Sch/Schröder/Eser/Hecker § 2 Rdn. 1; vgl. auch Schmitz MK Rdn. 33, der dies jedoch aus § 2 Abs. 3 herleiten will. Eine einfachrechtliche Norm wie § 2 Abs. 3 kann aber das Grundrecht des Art. 103 Abs. 2 GG nicht einschränken. 1629 Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 75; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 125; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 2 Rdn. 1; Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 50; Wassermann AK-GG Art. 103 Rdn. 49. 1630 Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 403 ff, 461 ff. 1631 Bohlander StraFo 2011 169 ff. 1632 Zur Funktion der Strafgesetze als Bestimmungs- und Bewertungsnormen Engisch Einführung S. 65 f m.w.N.; Radbruch Rechtsphilosophie 2 S. 45; Larenz Methodenlehre S. 243 ff; Philipps in Hassemer/Neumann/Saliger S. 291, 294 f; vgl. auch Bringewat Rdn. 198; Jescheck/Weigend AT § 24 II. 1633 BVerfGE 25 269, 285; vgl. auch Hassemer/Kargl NK Rdn. 44. 1634 Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 257 ff; Roxin AT I § 5 Rdn. 3; Schünemann Nulla poena S. 1; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 198 f. 1635 v. Liszt Aufsätze und Vorträge Bd. II S. 75, 80. 1636 BVerfGE 32 345, 362; zustimmend Larenz Richtiges Recht S. 149 f.

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ner, dass nur auf Grund eines gültigen Strafgesetzes eine strafgerichtliche Verurteilung erfolgen kann (BVerfGE 14 174, 185).“1637 Hierin kommt zugleich die Bewertungsfunktion des Strafgesetzes zum Tragen (s. dazu auch Rdn. 54, 57 f). Denn die gesetzlich angedrohte Rechtsfolge ist für das Gewicht des im Tatbestand vertypten Unrechts maßgeblich und entspricht dadurch dem Zusammenhang zwischen Verbrechen und Strafe. Weiterhin wird das Rückwirkungsverbot auf die Rechtsklarheit im Interesse des 373 Bürgers gestützt: „Art. 103 Abs. 2 GG fordert darüber hinaus auch, daß die Strafbarkeit ‚gesetzlich bestimmt‘ ist. Der einzelne soll nicht nur von vornherein wissen können, was strafrechtlich verboten ist, sondern auch, welche Strafe ihm für den Fall eines Verstoßes gegen jenes Verbot droht.“1638 bb) Schuldgrundsatz, Menschenwürde und Eigenverantwortlichkeit. Schließ- 374 lich beruft sich das Bundesverfassungsgericht auf den Schuldgrundsatz, den es aus der Menschenwürde und der Eigenverantwortlichkeit des Menschen herleitet (BVerfGE 85 282; vgl. auch Rdn. 62). Es zieht hieraus zutreffend den Schluss, Art. 103 Abs. 2 GG bewahre den Bürger auch davor, dass der Unrechtsgehalt einer von ihm begangenen Zuwiderhandlung gegen das Strafgesetz bei seiner Verurteilung höher bewertet wird als zur Zeit der Tat.1639 Der Grundsatz der Eigenverantwortlichkeit, der auf der Funktion des Rechts als 375 Grundlage freier Entscheidungen des Bürgers beruht, erfordert die Möglichkeit, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden. Nur wer von vornherein die Maßstäbe seiner Entscheidung kennt und sich auf die Rechtsfolgen seines Tuns einstellen kann, wird als Subjekt behandelt (Rdn. 378). Der Verantwortlichkeitsgrundsatz, der Bestandteil des Rechtsstaatprinzips ist, gilt über das Strafrecht hinaus in allen Rechtsgebieten, soweit an ein Verhalten Sanktionen wegen eines Fehlverhaltens geknüpft werden. Gleichwohl kommt dem Strafrecht insofern eine Sonderstellung zu, als die Möglichkeit einer nachträglichen Pönalisierung menschlichen Tuns den Einzelnen gerade im Bereich des Strafrechts in seiner Persönlichkeit und der daraus resultierenden Freiheit eigenverantwortlichen Handelns besonders stark verletzen würde. Entsprechend ist beim Rückwirkungsverbot zwischen dem allgemeinen rechtsstaat- 376 lichen Grundsatz, dass ein zunächst erlaubtes Verhalten nicht nachträglich als unzulässig bewertet werden darf, und dem spezifisch strafrechtlichen Satz „nulla poena sine lege“, der es verbietet, nachträglich eine höhere Strafe als die zur Zeit der Tatbegehung angedrohte zu verhängen, zu unterscheiden: Wenn sich der Bürger im Rahmen des gesetzlich Erlaubten bewegt hat, darf sein Verhalten nicht nachträglich als strafbar qualifiziert werden. Er muss sich darauf verlassen können, dass sein dem damals geltenden Recht nicht widersprechendes Verhalten auch weiterhin vom Gesetzgeber und von der Rechtsprechung nicht als Unrecht bewertet wird. Hierbei handelt es sich um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz, der Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips ist1640 und auch im Zivil- und Verwaltungsrecht gilt. Er beruht auf der Forderung der Aufklärung, dass alle Gesetze dem Bürger Orientierungssicherheit gewährleisten müssen. Während im Zivilund Verwaltungsrecht der allgemeine Satz „lex retro non agit“ durch die objektive Vorhersehbarkeit und den Vertrauensschutzgedanken eingeschränkt wird, so dass in nicht abgeschlossene Sachverhalte nachträglich eingegriffen werden darf, ist dies im Strafrecht generell unzulässig (Rdn. 363). Weitergehend als im Zivil- und Verwaltungsrecht ist

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BVerfGE 25 269, 285. BVerfGE 25 269, 285. BVerfGE 25 269, 286. BVerfGE 63 343, 357.

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hier jede Bewertungsänderung zu Lasten des Täters untersagt (näher dazu Rdn. 361, 415).1641 Der Begründungszusammenhang zwischen Menschenwürde und Schuldprinzip 377 liegt in dem durch die Würde des Menschen gebotenen Begriff und Zweck der Strafe: Die Strafe setzt die Fähigkeit des Menschen voraus, sich zwischen Recht und Unrecht zu entscheiden. Erst unter dieser Prämisse wird der Begriff der Strafe sinnvoll definierbar. Dies wird schon in der Entscheidung zur lebenslangen Freiheitsstrafe deutlich, in der das Bundesverfassungsgericht das Schuldprinzip aus der Achtung und dem Schutz der Menschenwürde herleitet und als Konstitutionsprinzip des Grundgesetzes einstuft, dem die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde liege, das darauf angelegt sei, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und zu entfalten. Die unverlierbare Würde bestehe gerade darin, dass er als verantwortliche Person anerkannt bleibe.1642 Selbstbestimmung, Personalität und Verantwortlichkeit prägen damit das Verständnis der Subjektivität des Einzelnen, die zu einem materialen, an der Autonomie des Menschen orientierten Grundsatz wird. Hierbei handelt es sich um die Grundlage aller aus dem „nullum crimen“-Grundsatz abgeleiteten Gewährleistungen (Gesetzlichkeitsprinzip, Bestimmtheitsgebot, Analogieverbot und Rückwirkungsverbot): Dem Einzelnen muss die Möglichkeit gegeben werden, im Bereich des Strafrechts sein Verhalten eigenverantwortlich so einzurichten, dass eine Strafbarkeit vermieden werden kann. Nur wer diesen Maßstab kennen und sich auf die Rechtsfolgen seines Tuns einstellen kann, ist verantwortliches Subjekt.1643 Ohne eine verlässliche Orientierung kann sich individuelle Freiheit nicht entfalten.1644 Damit gründet das Rückwirkungsverbot letztlich in der Menschenwürde.1645 Durch die Verknüpfung der Strafgesetzlichkeit mit der Subjektstellung des Bürgers 378 und seiner Freiheit wird der aus der Aufklärung stammenden Verbindung der Idee der Freiheitsrechte mit dem Gesetzlichkeitsprinzip Rechnung getragen (Rdn. 52 ff) und deutlich gemacht, dass sich Art. 103 Abs. 2 GG nicht in dem Postulat erschöpft, dass der Einzelne wissen können muss, was strafrechtlich verboten ist und welche Strafe ihm für den Fall einer Straftat droht. Es geht vielmehr um die Stellung als selbstverantwortliches Subjekt, in dessen Freiheit der Gesetzgeber nur durch Gesetze eingreifen darf.1646 Das Recht auf Achtung der Menschenwürde ist etwas Unverfügbares, das auch dem 379 Straftäter nicht abgesprochen werden darf.1647 Art. 103 Abs. 2 GG schützt jeden Freiheitsgebrauch. Die natürliche Freiheit ist nicht eine schon unter dem Gesichtspunkt der Gemeinverträglichkeit ihres Gebrauchs vorstrukturierte, naturrechtlich präformierte Freiheit, sondern eine nicht von vornherein begrenzte Freiheit des Beliebens.1648 Auch wer seine Freiheit missbraucht und Dritte schädigt, soll durch Art. 103 Abs. 2 GG geschützt werden. Ansonsten würde man das Grundrecht um die Schutzfunktion bringen, die in dem Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für jede Beschränkung der Freiheit liegt. Hinter dieser weiten Schutzbereichsbestimmung steht nicht die Vorstellung, dass die Freiheit die Schädigung Dritter umfasst, sondern die verfassungsrechtliche Überzeu-

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1641 BVerfGE 25 269, 286; Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 253 ff; Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 50. 1642 BVerfGE 45 187, 228. 1643 BVerfG NJW 2004 739, 745. 1644 BVerfGE 113 273, 308. 1645 Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 260 ff; zustimmend Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 51. 1646 BVerfG NJW 2004 739, 745; vgl. auch Dannecker FS Otto 25, 29 f. 1647 BVerfGE 45 187, 229. 1648 BVerfGE 64 261, 284; 72 105, 115.

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gung, dass die Abgrenzung zwischen Freiheit und Willkür in erster Linie Sache des Gesetzgebers ist und dass Strafe nur dann verhängt werden darf, wenn der Gesetzgeber dieser Aufgabe nachgekommen ist. cc) Erfordernis gesetzlicher Bewertungsnormen zur Begrenzung der angeborenen und unveräußerlichen Freiheit des Bürgers. Da durch Art. 103 Abs. 2 GG sichergestellt werden soll, dass der Gesetzgeber selbst über die Strafbarkeit entscheidet (BVerfGE 78 374, 382) und damit eine freiheitsgewährleistende Funktion hat (so ausdrücklich BVerfG 75 329, 341), ist tragender Gesichtspunkt für das Rückwirkungsverbots die dem Staat vorgegebene, angeborene und unveräußerliche Freiheit des Bürgers, die einer Bestrafung entgegensteht, wenn das in Frage stehende Verhalten nicht vor Begehung der Tat durch das Gesetz unter Strafe gestellt war. Es ist das unveräußerliche und unverletzliche Menschenrecht eines jeden Bürgers und auch jedes Delinquenten, dass Strafe erst aufgrund eines Gesetzes und nur in dem vor der Tat bestimmten Umfang verhängt werden darf.1649 Das Rückwirkungsverbot richtet sich deshalb primär an den Gesetzgeber, der die Grenzen der Freiheit vor Begehung der Tat bestimmen muss (BVerfGE 73 206, 235). Es geht vorrangig um die rechtsstaatlichen Anforderungen an Gesetze als strafrechtliche Bewertungsnormen (zur Bestimmungsfunktion strafrechtlicher Regelungen siehe Rdn. 60, 384). Damit ist zugleich die Frage, ob die Erkennbarkeit nach dem konkreten Täter oder aber objektiv im Sinne der Vorhersehbarkeit für den Bürger zu bestimmen ist, dahingehend zu beantworten, dass die Verbindlichkeit einer abstrakten Rechtsnorm wie auch des konkreten Sollensbefehls unabhängig von der Kenntnis des Täters entsteht. Vielmehr kommt es für die Rechtsgeltung auf das Vertrauen der Rechtsgemeinschaft und damit auf die objektive Erkennbarkeit an (Rdn. 54). Eine Ausprägung der rechtsstaatlich-liberalen Begründung ist auch die Ansicht Grünwalds, Art. 103 Abs. 2 GG solle vor allem verhindern, dass die Entscheidung über die Strafbarkeit unter dem Eindruck eines konkreten Einzelfalles und der dadurch entstandenen Emotionen gefällt wird (Verbot von ad-hoc-Entscheidungen).1650 Das Rückwirkungsverbot wendet sich gegen eine vorrangig effektive, flexible Strafrechtspflege, die rasch auf den sozialen Wandel reagiert und aktuelle kriminalpolitische Ziele sofort in praktisches Handeln umsetzen will.1651 Hierbei bleibt allerdings offen, weshalb der Gesetzgeber die zukünftige Strafbarkeit unter dem Eindruck aktueller Geschehnisse bestimmen darf, wenngleich einzuräumen ist, dass das Gesetzgebungsverfahren zur Versachlichung der Diskussion beitragen soll.1652 Daher schützt das Rückwirkungsverbot auch die Gewährleistung eines im Rechtstaat unverzichtbaren Vertrauens in die Integrität staatlichen Strafens und ist hierfür unentbehrlich.1653 Insofern dient das Rückwirkungsverbot auch der materiellen Gerechtigkeit.1654 Aus diesem Grund legt Schünemann den Akzent auf die vom Gewaltenteilungsprinzip markierte Funktionsdifferenz zwischen Rechtsprechung und Gesetzgebung, durch die Übergriffe des Gesetzgebers auf das Gebiet der Justiz, der allein die Entschei-

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1649 Vgl. bereits Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 257. 1650 Grünwald ZStW 76 (1964) 14, 17; zustimmend Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 34; Bringewat Rdn. 199; Roxin AT I § 5 Rdn. 51. 1651 So Hassemer/Kargl NK Rdn. 47 unter Berufung auf Stoll S. 19 ff; Kühne S. 1 ff; Hassemer Vorgänge 2002 Heft 3 S. 10; ders. ZStW 116 (2004) 304, 312. 1652 Schünemann Nulla poena S. 24. 1653 Bringewat Rdn. 198; Jescheck/Weigend AT § 15 IV 1; Roxin AT I § 5 Rdn. 51; Jäger SK Rdn. 15. 1654 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 34.

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dung über konkrete Fälle zusteht, verhindert werden sollen. Hiergegen spricht jedoch, dass der Gesetzgeber auch bei rückwirkenden Gesetzen nur das Entscheidungsprogramm formuliert, ohne die Einzelfälle selbst zu entscheiden. Die rückwirkende Anordnung einer Rechtsfolge tastet die Gesetzesbindung des Richters und den Vorrang der Legislative nicht an.1655 Damit kommt die kompetenzwahrende Funktion des Gesetzlichkeitsprinzips nicht zum Tragen, bei der es darum geht, die Bestimmungsmacht des Parlaments herauszustellen, weil die Entscheidung über die Beschränkung von Grundrechten nach dem Gewaltenteilungsprinzip dem Gesetzgeber und nicht den anderen staatlichen Gewalten obliegt. Denn Grundlage des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots sind (nur) die Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit von Strafbarkeit und Strafe. Erneut: Der Bürger soll im Vertrauen darauf geschützt werden, dass die in den Strafgesetzen festgelegte Bewertung seiner Tat nicht nachträglich zu seinen Lasten verändert wird. dd) Verbindung von staatsrechtlicher und strafrechtlicher Fundierung des Rückwirkungsverbots. Die Beschränkung des Rückwirkungsverbots auf das Strafrecht (Rdn. 363) findet ihre Legitimation darin, dass Strafe ein Übel bedeutet, das seinen Rechtsgrund in einer begangenen Tat hat und angedroht und verhängt wird, damit sich der Normbruch für den Täter nicht lohnt. Strafe ist eine Übelszufügung wegen und nach dem Maß eines schuldhaft begangenen Unrechts. Sie dient aber auch der Verfolgung von Präventionsinteressen. Da die positive und die negative Generalprävention gleichermaßen als Strafzwecke anerkannt werden, behält auch die spezifisch strafrechtliche Wurzel des „nulla poena“-Satzes neben der staatsrechtlichen ihre Bedeutung: Das Rückwirkungsverbot entfaltet eine generalpräventive Funktion, indem es den zur Tatzeit geltenden Strafgesetzen die ihnen zukommende verhaltensbestimmende Wirkung flankierend absichert. Diese aus dem Charakter der Strafrechtsnormen als Bewertungs- und Bestimmungsnormen resultierende Aufgabe des Strafgesetzes wäre nur teilweise erfüllbar, wenn eine rückwirkende Strafbegründung oder Strafschärfung zulässig wäre. Die verhaltenssteuernde Funktion des Strafrechts setzt zwingend einen Gegenwarts- oder Zukunftsbezug voraus. Auf ein bereits begangenes Verhalten kann nachträglich nicht mehr Einfluss genommen werden. Rückwirkende Strafgesetze sind deshalb unter dem Aspekt der Bestimmungsfunktion strafrechtlicher Regelungen sinnlos.1656 Das Rückwirkungsverbot bildet damit einen Eckpfeiler der Voraussehbarkeit, Bere385 chenbarkeit und Kontrollierbarkeit staatlichen Strafens1657 und trägt dadurch zur Wahrung der Rechtssicherheit bei (Rdn. 52 ff, 57).1658 Strafrecht und Strafrechtspflege sollen täuschungsfrei sein, sie dürfen den Bürger nicht überraschen und keine nachträglich belastenden Strafgesetze als „Normenfallen“ stellen.1659 Allerdings ergeben sich aus dem Erfordernis gesetzlicher Bewertungsnormen insofern höhere Anforderungen an die Vorhersehbarkeit, als diese objektiv zu bestimmen ist (näher dazu Rdn. 54).

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1655 So zutreffend Neumann ZStW 103 (1991) 331, 346; Jakobs AT 4/5; vgl. auch Jescheck/Weigend AT § 15 IV 1 und Roxin AT I § 5 Rdn. 51. 1656 Hassemer/Kargl NK Rdn. 44; Krey/Weber-Linn FS Blau 123, 133; Maurach/Zipf/Jäger § 12 Rdn. 2; Roxin AT I Rdn. 51 i.V.m. Rdn. 22 ff; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 2 Rdn. 1; Schünemann Nulla poena S. 24; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 195; vgl. auch Rogall KK-OWiG § 3 Rdn. 43. 1657 BVerfGE 13 261, 271; 18 429, 439; 25 269, 290; 95 96, 131; BGHSt 28 72, 73 f; 39 1, 29; Müller-Dietz FS Maurach 42; Jäger SK Rdn. 15; Krey Strafe Rdn. 133. 1658 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 34; Jescheck/Weigend AT § 15 IV 1; Sch/Schönke/Eser/ Hecker § 2 Rdn. 1. 1659 Albrecht S. 49 ff; Hassemer/Kargl NK Rdn. 46; Lüderssen in Hassemer/Lüderssen/Naucke Generalprävention S. 54, 55 ff.

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Das Rückwirkungsverbot kann zwar nicht aus dem Bestimmtheitsgrundsatz herge- 386 leitet werden,1660 ergänzt aber das Bestimmtheitsgebot insofern, als nur „bestimmte“ Strafgesetze einer Aushöhlung des Rückwirkungsverbots entgegenwirken können, indem sie Verstöße gegen dieses Verbot sichtbar werden lassen.1661 ee) Rückwirkungsverbot als unmittelbare Ausprägung des Schuldprinzips? Im 387 älteren Schrifttum ist das Rückwirkungsverbot teilweise als unmittelbare Ausprägung des Schuldprinzips gedeutet worden (zur davon zu unterscheidenden Bedeutung des Schuldgrundsatzes als Ausprägung der Menschenwürde und Eigenverantwortlichkeit Rdn. 374 ff). So führt Sax aus: „Da der strafrechtliche Schuldvorwurf auf einer bewussten oder vorwerfbar unbewussten Fehlentscheidung zur Verwirklichung straftatbestandsspezifischen Unrechts aufbaut, ist die unausweichliche Konsequenz, daß zum Zeitpunkt der Tatentscheidung ihr Richtpunkt: das den Unrechtstatbestand spezifizierende Strafgesetz, bereits vorhanden gewesen sein muß.“1662 Diese Herleitung kann inzwischen als widerlegt gelten, da nach h.M. nicht das Strafgesetz Anknüpfungspunkt für die Schuld ist, sondern allein das Verbot der betreffenden Handlung (näher dazu Rdn. 61).1663 d) Anwendungsbereich des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots. Das Rück- 388 wirkungsverbot ist nach h.M. auf den gesamten Rechtszustand zu beziehen, von dem die Bestrafung abhängt.1664 Dieser darf nicht rückanknüpfend von einem strafrechtlich neutralen oder milden in einen strafrechtlich relevanten (strafbegründenden) oder strafschärfenden verwandelt werden. Wenn aber auf die Summe der Voraussetzungen für den Eintritt der Rechtsfolge „Strafe“ abgestellt wird, ist damit der Begriff des Strafgesetzes für das Rückwirkungsverbot aufgegeben.1665 Da es nicht um formale Abgrenzungen, sondern um Sachfragen geht, kann auch die Aufteilung in materielles und prozessuales Recht nicht überzeugen;1666 vielmehr muss nach sachlichen Gesichtspunkten entschieden werden, ob und inwieweit auch verfahrensrechtliche Regelungen dem Rückwirkungsverbot unterliegen (Rdn. 411 ff). aa) Besonderer Teil des Strafrechts. Es steht außer Frage, dass jede Erweiterung 389 der Strafbarkeit auf Tatbestandsebene dem Rückwirkungsverbot unterfällt. Die Zielsetzung des Art. 103 Abs. 2 GG, jede strafbegründende und strafschärfende Anwendung nachträglich entstandener Gesetze zu verhindern, kann nur erreicht werden, wenn sich das Rückwirkungsverbot auf sämtliche Strafbarkeitsvoraussetzungen des Besonderen Teils einschließlich der objektiven Strafbarkeitsbedingungen bezieht.1667

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1660 So aber Krahl S. 52 f; Ransiek S. 8. 1661 Hassemer/Kargl NK Rdn. 47; Müller-Dietz FS Maurach 41, 46 f; H.L. Schreiber JZ 1973 713, 715 f. 1662 Sax in Bettermann/Nipperdey/Scheuner Die Grundrechte Bd. III/2 S. 909, 999; ebenso; Kielwein S. 135. 1663 Eingehend dazu Grünwald ZStW 76 (1964) 1, 14 ff; Jakobs AT 4/3; Jung FS Wassermann 875, 883 f; H.L. Schreiber S. 209 ff; Schünemann Nulla poena S. 15. 1664 Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 244 f. 1665 Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 245. 1666 So schon Baumann in Summum ius summa iniuria S. 117, 122 f; Grünwald MDR 1965 521 ff; Hassemer Einführung S. 245 ff; Jakobs AT 4/9; 57; Jung Straffreiheit für den Kronzeugen? (1974) S. 62; H. Kaufmann Strafanspruch, Strafklagerecht (1968) S. 134 ff; Lüderssen JZ 1979 450 f; Naucke NJW 1968 2321 ff; Peters FS Stock 197, 203 f; H.L. Schreiber S. 220; ders. ZStW 80 (1968) 348 ff; Schünemann Nulla poena S. 25 f; ders. NStZ 1981 143 f; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 245 Fn. 189. 1667 Vgl. nur BVerfGE 81 132, 135; Jäger SK Rdn. 20; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 120 ff; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 2 Rdn. 3.

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bb) Allgemeiner Teil des Strafrechts. Bereits die historische Entwicklung hat gezeigt, dass es sich bei dem „nullum crimen, nulla poena sine lege“-Satz nicht um einen allgemeingültigen Satz handelt, der losgelöst von der jeweiligen Entwicklungsstufe des Strafrechts gilt (Rdn. 86). Nachdem sich der Gesetzgeber für die Ausformung eines gesetzlich geregelten Allgemeinen Teils entschieden hat, verbietet Art. 103 Abs. 2 GG auch eine nachträgliche Verschärfung der Geltungs-, Anwendungs-, Zurechnungs- und Vorrangregelungen des Allgemeinen Teils, soweit diese gesetzlich normiert sind.1668 Daher wäre eine nachträgliche Ausweitung der Teilnahme- oder Versuchsregelungen unzulässig.1669 Dabei greift das Rückwirkungsverbot unabhängig davon ein, ob die bereits existierende Regelung erforderlich war oder nicht. Auch wenn sich im Nachhinein erweist, dass ein Gesetz auf Grund einer zu detaillierten Regelung zu eng gefasst war und nicht alle strafwürdigen und strafbedürftigen Fälle erfassen konnte, unterliegt eine nachträgliche Verschärfung, durch welche die alte Regelung korrigiert wird, dem Rückwirkungsverbot. Deshalb ist auch die in der Literatur gelegentlich vertretenen Auffassung, das Rückwirkungsverbot hänge vom Grundsatz der Tatbestandsbestimmtheit ab,1670 unzutreffend.1671 Kontrovers diskutiert wird insbesondere die Anwendbarkeit des Art. 103 Abs. 2 GG 391 auf die Rechtfertigungsgründe. Soweit strafrechtliche Rechtfertigungsgründe gesetzlich normiert sind, unterliegen sie unstreitig dem Rückwirkungsverbot.1672 Dies muss gleichermaßen für außerstrafrechtliche Rechtfertigungsgründe gelten, 1673 auch wenn diesbezüglich unter Berufung auf das Analogieverbot der Einwand erhoben wird, die Einheit der Rechtsordnung sei in Gefahr, wenn eine Rechtsfortbildung durch teleologische Reduktion im Zivil- oder Verwaltungsrecht vom Strafrichter nicht übernommen werde (Rdn. 262).1674 Diese Einschränkung kann jedenfalls für das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG, das einer nachträglichen Ausweitung der Strafbarkeit im Interesse des Freiheitsschutzes entgegensteht (Rdn. 372), nicht überzeugen: Wenn der Gesetzgeber ein bestimmtes Verhalten für rechtmäßig erklärt hat, ist diese Entscheidung unabhängig von der Lozierung des Rechtfertigungsgrundes im Straf-, Verwaltungs- oder Zivilrecht verbindlich und darf nicht nachträglich zu Lasten des Täters verändert und als rechtswidrig bewertet werden. Der Freiheitsschutz des Bürgers ist nur gewährleistet, wenn der Gesetzgeber die Freiheitsbeschränkung vor der Begehung der Tat durch Gesetz vorgenommen und auf diese Weise im Nachhinein die Berechtigung des Staates zur Bestrafung geschaffen hat. 392 Inwieweit das Rückwirkungsverbot auch für ungeschriebene Rechtfertigungsgründe gilt, hat das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung BVerfGE 95 96, 132 offen gelassen. Wenn man jedoch mit der h.M. die Grundlage des strikten Rückwir-

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1668 Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 60; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 122; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 2 Rdn. 3. 1669 Bringewat Rdn. 200; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 38; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 2 Rdn. 3. 1670 So Krahl S. 52 f; Ransiek S. 8. 1671 Jäger SK Rdn. 11. 1672 BVerfGE 95 96, 132; BGHSt 39 1, 27 f; 40 113, 118; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 38; Bringewat Rdn. 200; Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 71; Dreier JZ 1997 421, 431; Erb ZStW 108 (1996) 226, 271 ff; Hassemer/Kargl NK Rdn. 48; Jakobs AT 4/9; Jescheck/Weigend AT § 15 IV 3; Arthur Kaufmann NJW 1995 81, 83; Roxin AT I § 5 Rdn. 55; Jäger SK Rdn. 20; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 2 Rdn. 3; Fischer Rdn. 28; Umbach/Clemens/Zierlein Art. 103 Rdn. 156; vgl. dazu auch Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 131; v. Mangoldt/Klein/Starck/Nolte Art. 103 Abs. 2 Rdn. 119; aA Schroeder JZ 1992 990 f. 1673 Vgl. nur Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 71 m.N.; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 201; Wassermann AK-GG Art. 103 Rdn. 49; Umbach/Clemens/Zierlein Art. 103 Rdn. 146 Fn. 270. 1674 So z.B. Krey Studien S. 234 f.

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kungsverbots auch im Vertrauensschutz des Bürgers sieht (Rdn. 381), muss dieses Verbot in der Konsequenz auch auf gewohnheitsrechtlich oder durch Richterrecht anerkannte Rechtfertigungsgründe Anwendung finden.1675 Auch Strafausdehnungen durch Aufhebung oder Einschränkung von Entschuldi- 393 gungsgründen unterliegen dem Rückwirkungsverbot, denn dessen Zielsetzung ist nur dann zu erreichen, wenn das „gesamte sachliche Recht“,1676 soweit es für den Strafbarkeitsbereich bestimmend ist, erfasst wird.1677 Nur wenn das Rückwirkungsverbot für alle Komponenten gilt, die für die effektive Bestrafung des Täters von Bedeutung sein können, ist das Strafrecht wirkliche „magna charta des Verbrechers“ bzw. Bürgers (Rdn. 52, 371).1678 cc) Außerstrafrechtliche Bezugsnormen. Zum gesamten strafrechtlichen Rechts- 394 zustand, auf den sich das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG erstreckt, gehören auch die Ausfüllungsnormen von Strafblanketten (Rdn. 395 f) sowie sämtliche außerstrafrechtlichen Bezugsnormen, die durch rechtsnormative Tatbestandsmerkmale in Bezug genommen werden (Rdn. 397). Daher kann z.B. ein rückwirkend für allgemeinverbindlich erklärter Tarifvertrag mit Mitteilungspflichten an Sozialkassen nicht rückwirkend eine über § 13 strafbewehrte Garantenstellung begründen.1679 Außerdem unterliegen Strafrechtsnormen dem strafrechtlichen Rückwirkungsverbot, die Vortaten für Straftatbestände wie die Strafvereitelung, Begünstigung, Geldwäsche etc. bilden und im Falle der Gesetzesänderung zu sog. mittelbaren Rechtsänderungen führen (Rdn. 399). Da sich das verbotene Verhalten bei Blankettvorschriften erst aus dem Zusam- 395 menhang mit den Ausfüllungsnormen ergibt,1680 beeinflusst die Änderung der Ausfüllungsnorm auch das Strafgesetz, so dass das Rückwirkungsverbot nach h.M. in Rechtsprechung und Literatur auch auf die blankettausfüllenden Regelungen anzuwenden ist.1681 Praktische Relevanz erlangt die Einbeziehung blankettausfüllender außerstrafrechtlicher Normen insbesondere im Steuerstrafrecht, da die h.M. im Steuerhinterziehungstatbestand des § 370 AO, der durch die Merkmale der Steuerverkürzung und der Pflichtwidrigkeit Vorschriften des materiellen Steuerrechts in Bezug nimmt, ein Blankettstrafgesetz sieht (näher dazu Rdn. 149). Unabhängig von der Einordnung als Blankettstraftatbestand oder als vollständige Strafnorm mit rechtsnormativen Tatbestandsmerkmalen gilt, dass alle steuerrechtlichen Regelungen, die zu einer nachträglichen Verschärfung der Rechtslage führen, weil bisher steuerrechtlich irrelevante Sachverhalte danach zur Entstehung oder Erhöhung eines Steueranspruchs führen oder Steuervergünstigungen in Folge einer Gesetzesänderung nachträglich entfallen oder eingeschränkt werden, im Steuerstrafrecht nicht angewendet werden dürfen.1682 Hingegen unterliegen Rechtsprechungsänderungen des Bundesfinanzgerichtshofs nicht dem straf-

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1675 BVerfG NJW 1998 669; siehe auch BVerfG NJW 1997 1910, 1911; näher dazu Ebert FS Müller-Dietz 171 ff; zustimmend Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 71. 1676 So zutreffend Tröndle LK10 Rdn. 3. 1677 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 38; Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 279; Jescheck/Weigend AT § 15 IV 3; Maurach/Zipf/Jäger § 12 Rdn. 6 f; Jäger SK Rdn. 7; Schmitz MK Rdn. 13; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 2 Rdn. 3; Fischer Rdn. 29. 1678 So zutreffend Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 38. 1679 BGH NStZ-RR 2017 282 m. Bespr. Henckel HRRS 2018 273, 276 f. 1680 BGH JZ 1982 301; Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 463 ff; Jescheck/Weigend AT § 12 III; Schmitz MK Rdn. 39. 1681 Vgl. nur BGHSt 20 177, 181; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 39; Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 58; Sch/Schröder/Eser/Hecker Vor § 1 Rdn. 3, § 1 Rdn. 8, 18a, § 2 Rdn. 26 m.w.N.; überholt RGSt 49 410, 413; BGHSt 7 294, 295. 1682 Vgl. nur Schmitz MK Rdn. 40.

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rechtlichen Rückwirkungsverbot, auch wenn sie in einem Steuerstrafverfahren zum Tragen kommen (allgemein zu diesem Problem Rdn. 432 ff); hierauf ist vielmehr die Vorschrift des § 17 über den Verbotsirrtum anzuwenden (näher dazu Rdn. 437).1683 Auch wenn Straftatbestände auf verfahrensrechtliche Vorschriften verweisen, wie dies z.B. bei §§ 153, 154 durch das Merkmal „zuständige“ Stelle der Fall ist, unterliegen die jeweiligen Verfahrensvorschriften dem strafrechtlichen Rückwirkungsverbot.1684 Zu berücksichtigen sind auch nachträgliche Veränderungen außerstrafrechtlicher Normen, soweit dadurch Merkmale des Tatbestands einen anderen Inhalt bekommen. Dies gilt z.B. für rechtsnormative Tatbestandsmerkmale, deren Inhalt sich nach außerstrafrechtlichen Regeln bestimmt (näher dazu 149). Hier gilt gleichermaßen, dass der gesamte materielle Rechtszustand dem Rückwirkungsverbot unterliegt.1685 Welche gesetzlichen Gründe für die Änderung oder Aufhebung des Gesetzes maßgeblich waren, ist unbeachtlich. Auch nach der Tat eintretende Umstände, wie die zivilrechtliche Rückwirkung der Anfechtung oder die rückwirkende Wiederherstellung eines aufgelösten Vertrages im Versicherungsrecht, bleiben für die strafrechtliche Würdigung irrelevant.1686 Eine nachträgliche Veränderung der Rechtslage würde gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstoßen. Dem Rückwirkungsverbot unterliegen schließlich die Fälle der mittelbaren Rechtsänderung (Rdn. 394). Solche liegen vor, wenn Strafgesetze geändert werden, die durch andere Straftatbestände in Bezug genommen werden, wie dies z.B. bei den §§ 257, 258, 259, 164, 145d, 261 der Fall ist (näher dazu § 2 Rdn. 114 ff). Wenn die Neuregelung eines in Bezug genommenen Straftatbestandes zu einer Verschärfung der Strafbarkeit führt, kann die Neuregelung im Strafrecht nicht angewendet werden, da das Verhalten zum Zeitpunkt der Tatbegehung straflos war. Damit konnte aber die neue Norm zum damaligen Zeitpunkt keine verhaltenssteuernde Wirkung entfalten. Außerdem war der Freiheitsbereich des Bürgers nicht vor Begehung der Tat durch das Gesetz begrenzt. Daher unterliegen auch Änderungen strafrechtlicher Bezugstatbestände uneingeschränkt dem strafrechtlichen Rückwirkungsverbot.1687 dd) Rechtsfolgen der Straftat. Art. 103 Abs. 2 GG bezieht sich – entgegen seinem Wortlaut – nicht nur auf die Strafbarkeit, sondern auch auf die strafrechtliche Folgen der Tat.1688 Verboten ist sowohl eine nachträgliche Zulassung von zuvor nicht vorgesehenen Sanktionen als auch die Verschärfung bereits angedrohter Sanktionen,1689 z.B. durch Anhebung des Strafrahmens oder Einführung von Strafschärfungsgründen. Zu den Rechtsfolgen der Straftat gehören sowohl die Haupt- und Nebenstrafen – Freiheitsstrafe, Geldstrafe, Fahrverbot, Verbot der Tierhaltung (§ 20 TierSchG), Entziehung des Jagdscheins (§ 41 BJagdG) – als auch die Nebenfolgen, die den Strafen gleich gestellt werden, wie der Verlust der Amtsfähigkeit (§ 45), der Wählbarkeit und des Stimmrechts sowie die Urteilsbekanntmachung (§ 200) und die Mehrerlösabführung nach § 8 WiStG.1690

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1683 Vgl. OLG Bremen MDR 1982 772; OLG Karlsruhe NJW 1967 2167; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 2 Rdn. 7. 1684 Zutreffend Schmitz MK Rdn. 41. 1685 BGH NStZ 2004 581; OLG Düsseldorf wistra 1996 279. 1686 BGHSt 32 152, 157; 33 172, 176; Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 58. 1687 Eingehend dazu Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 495 ff m.w.N. 1688 BVerfGE 25 269, 286; 45 363, 371; BGHSt 3 259, 262; 28 72, 74; näher dazu Rdn. 89 ff. 1689 So die ganz herrschende Meinung; vgl. nur Jäger SK Rdn. 4; Lackner/Kühl/Kühl Rdn. 1; Sch/ Schröder/Eser/Hecker § 2 Rdn. 1; Roxin AT I § 5 Rdn. 4; Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 70 ff; Fischer Rdn. 5. 1690 BGHSt 16 282, 284; Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 60; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 2 Rdn. 4.

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Art. 103 Abs. 2 GG gilt weiterhin für Sanktionen, welche an die Stelle einer Strafe treten, wie die Verwarnung unter Strafvorbehalt gemäß § 59 und das Absehen von Strafe nach § 60 oder die Straffreierklärung gemäß § 199, die es dem Richter ermöglicht, im Rahmen des Beleidigungstatbestandes beide Beleidiger oder einen von beiden für straffrei zu erklären, wenn eine Beleidigung auf der Stelle erwidert wird.1691 Weiterhin soll Art. 103 Abs. 2 GG einer nachträglichen Verschärfung der Strafaussetzung zur Bewährung zu Lasten des Täters entgegenstehen.1692 Für Rechtsfolgen, die an die Stelle der Strafe treten, muss Art. 103 Abs. 2 GG Anwendung finden, da sich das Gewicht, das der Gesetzgeber einer Straftat bemisst, nicht nur in der Höhe der angedrohten Strafe widerspiegelt, sondern auch in den Vorschriften über die Durchführung der Strafe. Dieser Zusammenhang wird besonders deutlich in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 45 187 ff) zur Aussetzung des Strafrests bei der lebenslangen Freiheitsstrafe. Dort wird festgestellt, dass auch der zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilte eine konkrete und realisierbare Chance haben muss, die Freiheit wiederzuerlangen (BVerfGE 45 187, 258). Die Strafe muss also von vornherein unter dieser Einschränkung stehen, um verfassungskonform zu sein. Aber auch im Übrigen beeinflusst die Strafaussetzung zur Bewährung die Strafzumessung. Wenn das Strafgesetzbuch keine Strafaussetzung kennen würde, müsste dem Erfordernis der Resozialisierung bereits bei der Strafzumessung Rechnung getragen werden. Allein aufgrund der Regelungen der §§ 56 ff sind diese Gesichtspunkte bei der Strafzumessung außer Betracht zu lassen (BGHSt 29 321 f). Dass gesetzliche Strafzumessungsregeln aber dem Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG unterfallen, ist unstreitig (zur Anwendbarkeit des Art. 103 Abs. 2 GG auf die Rechtsfolgen der Tat s. Rdn. 89). Daher ist der Auffassung Esers zuzustimmen, dass die möglichen Folgen, einschließlich der Nebenfolgen, zu denen auch die Voraussetzungen der Strafaussetzung zur Bewährung gehören, generell zur Tatzeit feststehen müssen.1693 Auch bei Regelungen wie bei § 57 Abs. 5, die an ein Nachtatverhalten anknüpfen, kommt es auf die Begehung der Ersttat und nicht auf das Nachtatverhalten an.1694 Soweit die Rechtsprechung in Fällen, in denen die Strafaussetzung von einem Nachtatverhalten abhängt, auf die Rechtslage zum Zeitpunkt des nachtatlichen Verhaltens abstellt, lässt sie sich ganz offensichtlich von dem Gedanken leiten, dass sich der Täter an dem neuen Gesetz orientieren konnte (so OLG Hamburg StV 1989 210, 212 mit krit. Anm. Geiter/Walter). Die rechtliche Bedeutung des Nachtatverhaltens für die Strafaussetzung zur Bewährung stellt jedoch keine eigene strafrechtliche Sanktion dar, sondern betrifft die Vollstreckung der vom Strafgericht bereits verhängten Strafe. Deshalb ist auch bei Regelungen, die an ein Nachtatverhalten anknüpfen, stets auf die Begehung der Ersttat und nicht auf das Nachtatverhalten abzustellen. Unabhängig davon, ob ein schutzwürdiges Vertrauen des Täters besteht, geht es auch um Nebenfolgen der Tat, für die es auf das zur Zeit der Tat geltende Gesetz ankommt, weil zu diesem Zeitpunkt alle möglichen Folgen der Straftat bereits feststehen müssen.1695 Bezüglich der die Strafaussetzung flankierenden Maßnahmen ist danach zu differenzieren, ob es sich um Weisungen oder um Auflagen handelt: Weisungen dienen der

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1691 Bringewat Rdn. 201; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 2 Rdn. 4. 1692 So OLG Düsseldorf NStE Nr. 22 zu § 56 f; OLG Hamm MDR 1988 74; NStZ-RR 1996 357; Bringewat Rdn. 201; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 2 Rdn. 4; differenzierend Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 282 ff. 1693 Sch/Schröder/Eser/Hecker § 2 Rdn. 4. 1694 AA OLG Hamburg StV 1989 210, 212 m. krit. Anm. Geiter/Walter. 1695 Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 287; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 2 Rdn. 4.

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sozialen Eingliederung des Täters; die Bewährungsaufsicht soll die Lebensführung des Verurteilten positiv beeinflussen. Sie gehören damit zu den Maßregeln der Besserung und Sicherung und unterliegen deshalb nicht Art. 103 Abs. 2 GG (Rdn. 407 ff). Hingegen soll durch die Auflagen, die § 56b abschließend auf die Schadenswiedergutmachung, die Zahlung eines Geldbetrages an eine gemeinnützige Einrichtung oder die Staatskasse sowie die Erbringung sonstiger gemeinnütziger Leistungen beschränkt, der Zweck der Genugtuung für das begangene Unrecht verfolgt werden. Sie sollen die Ausgleichsfunktion der Strafe verstärken, die im Falle der Aussetzung der Strafe auf den Schuldspruch und den Strafausspruch beschränkt bleibt. Sie haben damit strafähnliche Wirkung und unterliegen deshalb Art. 103 Abs. 2 GG. Für die Einziehung und Unbrauchbarmachung (§ 73 ff) gilt Art. 103 Abs. 2 GG glei406 chermaßen, soweit diese Sanktionen Strafcharakter haben.1696 Soweit diese Maßnahmen hingegen einen quasi-kondiktionellen Gewinnausgleich anstreben sowie bei der sicherungsbedingten Einziehung und Unbrauchbarmachung greift das Rückwirkungsverbot des § 1 und Art. 103 Abs. 2 GG nicht ein. Letzteres hat der BGH angenommen für die Einziehung von Taterträgen bzw. Wertersatz (§§ 73, 73c),1697 die Rückwirkung nach Art. 316h S. 1 EGStGB für die selbständige Einziehung von Erträgen aus verjährten Taten aber für verfassungswidrig erachtet.1698 Allerdings sieht § 2 Abs. 5 für die Einziehung und die Unbrauchbarmachung ungeachtet ihrer Zielsetzung und Rechtsnatur im Einzelfall vor, dass diese den Strafen und ihren Nebenfolgen gleichgestellt werden (eingehend dazu § 2 Rdn. 178). Diese Vorschrift hat, soweit die Sanktionen Strafcharakter haben, lediglich deklaratorische Bedeutung.1699 Im Übrigen ist diese Vorschrift aus Verfassungsgründen nicht geboten.1700 ee) Maßregeln der Besserung und Sicherung. Die höchstrichterliche Rechtsprechung geht davon aus, dass die Maßregeln der Besserung und Sicherung nicht Art. 103 Abs. 2 GG unterliegen (näher dazu Rdn. 93 ff). Jedoch hat der Gesetzgeber mit § 2 Abs. 6 eine Sonderregelung geschaffen, welche die Geltung des § 2 Abs. 1–4 anordnet, sofern der Gesetzgeber keine hiervon abweichende Regelung trifft (näher dazu § 2 Rdn. 170). Damit gilt das Rückwirkungsverbot nur aufgrund einfachrechtlicher Anordnung (näher dazu Rdn. 408 f). Der Bundesgerichtshof hat die Regelung des § 2 Abs. 4 a.F., der dem heutigen § 2 Abs. 6 entspricht, als verfassungsmäßig angesehen und eine rückwirkende Fahrerlaubnisentziehung1701 und eine rückwirkende Verschärfung der Polizeiaufsicht für zulässig erklärt.1702 Die Frage, ob Maßregeln der Besserung und Sicherung Art. 103 Abs. 2 GG unterlie408 gen, hat angesichts der verfassungsrechtlichen und europäischen Rechtsprechungsentwicklung und Verschärfungen bei der Sicherungsverwahrung in den letzten Jahren erheblich an Aktualität gewonnen.1703 Während nach früherem Recht die Dauer der erstmalig angeordneten Sicherungsverwahrung auf zehn Jahre beschränkt war (§ 67d Abs. 1 a.F.), galt dies nach der Neuregelung durch das „Gesetz zur Bekämpfung von Sexualde407

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1696 Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 309 ff; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 2 Rdn. 5. 1697 BGH NStZ-RR 2018 241. 1698 BGH v. 7.3.2019 – 3 StR 192/18; dazu – zur vorangehenden Entscheidung des LG Kaiserslautern NZWiSt 2018 149 – bereits Saliger/Schörner StV 2018 388 ff und Rebell-Houben NZWiSt 2018 153 ff. 1699 Vgl. nur Sch/Schröder/Eser/Hecker § 2 Rdn. 5. 1700 Maunz/Dürig/Schmidt-Aßmann Art. 103 Abs. 2 Rdn. 244 (bis 79. EL 2016). 1701 BGHSt 5 168, 173 f. 1702 BGHSt 24 103, 105 f. 1703 Detaillierter Überblick bei Drenkhahn/Morgenstern ZStW 2012 132; Ullenbruch/Drenkhahn/ Morgenstern MK § 66 Rdn. 35 ff.

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likten und anderen gefährlichen Straftaten“ vom 26.1.1998 nur noch, „wenn nicht die Gefahr besteht, dass der Untergebrachte infolge seines Hanges erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden“ (§ 67d Abs. 3 S. 1). Der neu eingefügte (und mit dem Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung vom 22.12.2010 inzwischen wieder aufgehobene) Art. 1a Abs. 3 EGStGB bestimmte, dass § 67d in der gesetzlichen Neufassung „uneingeschränkt Anwendung“ findet. Dies hatte zur Folge, dass ein Sicherungsverwahrter, der nach früherem Recht wegen Ablauf der Zehnjahresfrist zu entlassen gewesen wäre, wegen fortdauernder Gefährlichkeit im Verwahrvollzug festgehalten werden konnte. In seiner grundlegenden Entscheidung (BVerfGE 109 133) hatte das Bundesverfassungsgericht diese Rückwirkungsregelung noch mit der Begründung für verfassungsmäßig erklärt, dass die Schwere des Eingriffs in die Rechtsstellung des Bürgers kein geeignetes Kriterium für die Bestimmung des sachlichen Anwendungsbereichs des Art. 103 Abs. 2 GG bilde.1704 Auch die Funktionsüberschneidung der vollzugs- und vollstreckungsrechtlichen Regelungen für Freiheitsstrafe und Sicherungsverwahrung rechtfertigten es nicht, die Sicherungsverwahrung als Bestrafen einer Tat im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG zu charakterisieren (näher dazu Rdn. 100).1705 In jedem Fall sei jedoch das sog. Abstandsgebot einzuhalten, nach welcher erkennbare Unterschiede zwischen Strafvollzug und Maßregelungsrecht von dem Gesetzgeber und der Exekutive herzustellen sind.1706 Im Jahre 2009 befasste sich der EGMR im Fall M. ./. Deutschland1707 mit der rückwir- 409 kenden Aufhebung der Zehn-Jahres-Grenze und sah darin einen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot des Art. 7 Abs. 1 EMRK. Bei der Sicherungsverwahrung handle es sich um eine Strafe i.S.d. EMRK, u.a. da die Ausgestaltung des Vollzugs dem Vollzug langer Freiheitsstrafen ähnelte. Dieser Ansicht schloss sich das Bundesverfassungsgericht in seiner neuerlichen Entscheidung (BVerfGE 128 326) nicht an, sondern hielt an der Einordnung der Sicherungsverwahrung als Maßregel der Sicherung fest, für die nicht Art. 103 Abs. 2 GG, sondern das allgemeine Gebot des Vertrauensschutzes aus Art. 20 Abs. 3 i.V.m. Art. 2 Abs. 2, Art. 104 GG maßgebend sei, das durch Art. 5 und 7 EMRK noch verstärkt wird.1708 Allerdings stellte es fest, dass das Abstandsgebot nicht ausreichend umgesetzt worden war, mit der Folge, dass der damalige § 66b Abs. 2 StGB und viele weitere Vorschriften des Rechts der Sicherungsverwahrung für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt wurden.1709 Auch in Fällen einer vorherigen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 66b Abs. 3 StGB a.F.) besteht der erhöhte Vertrauensschutz.1710 Eine zusätzliche Verletzung des Art. 1 Abs. 1 GG verneinte des BVerfG indes.1711

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1704 BVerfGE 109 133, 175 (Rdn. 153). Zur Problematik des Kriteriums der Eingriffsintensität in der früheren Rechtsprechung des BVerfG (BVerfGE 27 36, 40) Appel S. 231 ff; Robbers S. 53 f. 1705 BVerfGE 109 133, 172 (Rdn. 144). 1706 BVerfGE 109 133, 167 (Rdn. 126). Kritisch zu seiner Leistungsfähigkeit Höffler/Kaspar ZStW 124 (2012) 87 ff. 1707 EGMR M/D, 17.12.2009, ECHR 2009 = EuGRZ 2010 25 = NJW 2010 2495. Dazu u.a. Klesczewski HRRS 2010 394, Jung GA 2010 639, Laue JR 2010 198, Freund GA 2010 193, Eschelbach NJW 2010 2499, Radtke NStZ 2010 537, Renzikowski NStZ 2010 506, Grabenwarter EuGRZ 2012 507, Voßkuhle EuGRZ 2014 165, Peglau JR 2016 491. Entsprechend EGMR K/D und G/D, 7.6.2012. 1708 BVerfGE 128 326, 392 f (Rdn. 141 f); 133 40 (Rdn. 27 ff); 134 33, 59 ff (Rdn. 66 ff), 91 ff (Rdn. 133 ff). 1709 BVerfGE 128 326, 372 ff (Rdn. 95 ff). Dazu u.a. Zabel JR 2011 467, Streng JZ 2011 827, Mosbacher HRRS 2011 229, Peglau NJW 2011 1924, Radtke GA 2011 636, Schöch GA 2012 14, Drenkhahn/Morgenstern ZStW 124 (2012) 132, T. Zimmermann HRRS 2013 164, Kaspar ZStW 127 (2015) 654. Zu den Grenzen der Verstoßes gegen das Freiheitsgrundrecht BVerfGE 131 268, 290 (Rdn. 79 ff) m krit Anm G. Merkel ZIS 2012 521 ff. 1710 BVerfGE 133 40 (Rdn. 25 ff). 1711 BVerfGE 131 268, 286 (Rdn. 69 ff).

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§ 1 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

Als Reaktion auf die festgestellte Verfassungswidrigkeit der rückwirkenden Verlängerung der Sicherungsverwahrung trat für die Unterbringung ehemalig Sicherungsverwahrter das Therapieunterbringungsgesetz (ThUG) am 1.1.2011 in Kraft. Voraussetzung für die Fortsetzung der Unterbringung ist das Vorliegen einer „psychischen Störung“. Die Präzisierung des Begriffs erfolgte in einem weiteren Beschluss.1712 Es handle sich um eine „eigenständige Kategorie“, die sich nicht zwingend nach den Voraussetzungen für §§ 20, 21 richte. Das ThUG wurde unter Beibehaltung dieser Konkretisierung vom Bundesverfassungsgericht schließlich bei verfassungskonformer Auslegung für verfassungsgemäß erklärt,1713 wodurch die Zweifel an der richtigen Auslegung des Begriffs indes noch nicht abschließend ausgeräumt wurden.1714 Der EGMR stellte auf Basis dieser Rechtslage und entsprechender Vollzugspraxis keine Verletzung der EMRK mehr fest, wenn und weil der punitive Charakter nun hinreichend zurück- und der therapeutische hervortritt1715 oder die Maßnahme nunmehr als präventiv und nicht mehr als Strafe i.S.d. Art. 7 EMRK einzuordnen ist.1716 In der Literatur wurde eine Durchbrechung des Rückwirkungsverbots durch einfachrechtliche Regelungen überwiegend als mit Art. 103 Abs. 2 GG nicht vereinbar angesehen.1717 Begründet wird dies zum einen damit, dass Maßregeln in die Freiheit des Beschuldigten härter eingreifen können als Strafen, die der eingriffsbegrenzenden Wirkung des Schuldprinzips unterliegen,1718 und Maßregeln ebenso wie Strafen präventiven Zielen dienen.1719 Zum anderen wird geltend gemacht, dass es aus der Perspektive des Gesetzlichkeitsprinzips bei der Frage, ob und wie weit das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot die Maßregeln der Besserung und Sicherung erfasst, nicht darauf ankomme, dass sich Strafe und Maßregel ihrer straftheoretischen Sinngebung nach unterscheiden. Maßgeblich sei vielmehr, dass der rechtsstaatliche Sinngehalt des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips die Anwendung des Rückwirkungsverbots auf alle strafrechtlichen Sanktionen gebiete, weil sie der Kriminalstrafe an Eingriffsintensität und damit in ihren tatsächlichen Auswirkungen auf den Betroffenen gleichstehen. Hiergegen spricht jedoch, dass sich Maßregeln der Besserung und Sicherung grundlegend von Strafen unterscheiden, da sie keinen sozialethischen Vorwurf ausdrücken und auch kein Verschulden voraussetzen, so dass keine Vergeltung geübt wird. Mangels Strafcharakters der Maßregeln greift das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG daher nicht ein, so dass es nur aufgrund einfachgesetzlicher Anordnung Geltung erlangen kann (näher dazu Rdn. 407). 410

ff) Untersuchungshaft. Nach h.M. unterfällt die Untersuchungshaft nicht dem strafrechtlichen Rückwirkungsverbot.1720 Die grundsätzliche Unanwendbarkeit des § 1 und Art. 103 Abs. 2 GG auf die Untersuchungshaft beruht darauf, dass es sich um keine

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1712 BVerfG StV 2012 25 m. Anm. Krehl und Morgenstern ZIS 2011 974. 1713 BVerfGE 134 33, 82 ff (Rdn. 113 ff), 89 (Rdn. 130 f) m Anm T. Zimmermann JZ 2013 1108 und Höffler StV 2014 160. 1714 Ullenbruch/Drenkhahn/Morgenstern. MK § 66 Rdn. 50. 1715 EGMR Bergmann/D, 7.1.2016, §§ 81 f, NJW 2017 1007 m. Anm. Köhne und Anm. Schmitt-Leonardy StV 2017 598; ferner EGMR Brecht/D, 6.7.2017, §§ 43 ff, NLMR 2017 365. 1716 EGMR (GK) Ilnseher/D, 4. 12. 2018, §§ 236 ff, NLMR 2018 526. 1717 Vgl. Diefenbach S. 113 ff; Gropp AT § 2 Rdn. 36; Hassemer/Kargl NK Rdn. 57 ff; Jakobs AT 4/56; Jescheck/Weigend AT § 15 IV 3; Jung FS Wassermann 875 ff; Kindhäuser Strafrecht AT § 3 Rdn. 4; Maurach/Zipf/Jäger § 12 Rdn. 19; Roxin AT I § 5 Rdn. 55 f; Jäger SK § 2 Rdn. 52f; Schmitz MK Rdn. 18; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 2 Rdn. 42; Stratenwerth/Kuhlen AT § 3 Rdn. 12. 1718 Roxin AT I § 5 Rdn. 56. 1719 Eingehend dazu Best ZStW 114 (2002) 88 ff; Jung FS Wasssermann 875, 884 ff; Kinzig StV 2000 330 ff. 1720 Vgl. nur H.-C. Maier S. 74 ff.

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Strafe handelt. Es wird kein Rechtsbruch vorgeworfen, vielmehr geht es um ein Sonderopfer für die Allgemeinheit, das den Betroffenen abverlangt wird, um die Durchführung eines geordneten Strafverfahrens zu gewährleisten und die spätere Strafvollstreckung sicherzustellen. Allerdings will Jakobs Art. 103 Abs. 2 GG auf die Haftgründe der §§ 112 Abs. 3, 112a Abs. 1 StPO erstrecken, weil diese Vorschriften nicht nur der Sicherung der Anwesenheit des Beschuldigten im Strafverfahren und der Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Tatsachenermittlung dienen, sondern einen engen Bezug zu den Strafzwecken aufweisen. Aus diesem Grund handele es sich um Sanktionen mit Strafcharakter, die Art. 103 Abs. 2 GG unterliegen. Der Haftgrund der Tatschwere nach § 112 Abs. 3 StPO ermächtigt jedoch nicht zur Verhängung einer Verdachtsstrafe. Deshalb liegt auch keine Strafe vor, mit der Folge, dass Art. 103 Abs. 2 GG nicht anzuwenden ist.1721 Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr nach § 112a Abs. 1 StPO dient dem Schutz der Gemeinschaft vor der Begehung weiterer Strafen, ohne dass ein Schuldvorwurf gegen den Betroffenen erhoben würde. Daher handelt es sich der Sache nach um eine Art vorweggenommene Maßregel der Sicherung, vergleichbar der in § 126a StPO für Schuldunfähige vorgesehenen Maßregel. Deshalb sollte § 112a Abs. 1 StPO zumindest entsprechend der letzteren Vorschrift ausgestaltet und enger gefasst werden oder aber als der polizeilichen Gefahrenabwehr dienend aus dem Untersuchungshaftrecht ganz entfernt werden.1722 Würde hingegen der Haftgrund der Tatschwere oder der Wiederholungsgefahr ausgedehnt, so handelte es sich hierbei um Sanktionen, die nicht mehr als Untersuchungshaft bzw. als vorweg genommene Maßregel der Sicherung legitimiert werden könnten. Da solche Sanktionen nur unter der Voraussetzung des Vorwurfs eines strafbaren Verhaltens verhängt werden dürften, läge damit eine strafähnliche Wirkung vor, mit der Folge, dass Art. 103 Abs. 2 GG anzuwenden wäre.1723 Damit kann festgehalten werden, dass das Recht der Untersuchungshaft in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung nicht in den Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 2 GG fällt.1724 gg) Verfahrensrecht. Grundsätzlich unterliegen verfahrensrechtliche Vorschriften 411 nicht dem Rückwirkungsverbot.1725 So führt BGHSt 20 22, 27 (vgl. auch BGHSt 21 367, 369) aus: „Das Verbot rückwirkender Strafgesetze gilt nur für das sachliche Recht.“ Dass neue Vorschriften des Verfahrensrechts von ihrem Inkrafttreten an auch für bereits anhängige Verfahren gelten, sei eine „Selbstverständlichkeit“.1726 Deshalb soll nur das allgemeine Rückwirkungsverbot als Grenze eingreifen.1727 Entsprechend stellt der Bundesgerichtshof auf die Schutzwürdigkeit des Vertrauens lediglich im Hinblick auf das aus Art. 20 Abs. 2 GG folgende Gebot der Rechtsicherheit ab (BGHSt 46 317 ff). Auch das Bundesverfassungsgericht hat zunächst in ständiger Rechtsprechung zwi- 412 schen Strafbarkeit und Verfolgbarkeit differenziert und ein Eingreifen des Art. 103 Abs. 2 GG bei verfahrensrechtlichen Normen verneint (BVerfGE 1 418, 423; 25 269, 285 f): Solan-

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1721 Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 350. 1722 Wolter S. 41 Fußn. 107 a.E. 1723 Näher dazu Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 351 ff. 1724 Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 348 ff. 1725 BVerfGE 11 139, 146; 24 33, 55; 25 269, 286 f; BVerfG NJW 1995 1145; BGHSt 26 228, 231; 288, 289; 40 113, 118; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 40 ff; Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 316 ff; Hassemer/Kargl NK Rdn. 61 ff; Jescheck/Weigend AT § 15 IV 4; Kindhäuser LPR Vor §§ 78–78c Rdn. 3; ders. Strafrecht AT § 3 Rdn. 4; Köhler AT Kap. 2 II 3.1; Lackner/Kühl/Kühl § 78 Rdn. 5; Jäger SK Rdn. 21; Schmitz MK Rdn. 19; Pföhler, passim; Fischer Rdn. 30; aA Jahn in Kudlich/Montiel/Schuhr S. 223, 231. 1726 BGHSt 26 228, 231; vgl. auch BGHSt 26 287, 289. 1727 So Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 40 ff; Fischer Rdn. 30; Jäger SK Rdn. 21; Jescheck/ Weigend AT § 15 IV 4.

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ge eine dem Beschuldigten nachteilige Veränderung des Strafverfahrensrechts lediglich „rein“ prozessuale Auswirkungen habe, sei der Anwendungsbereich des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots nicht tangiert.1728 Für diese Auffassung, die grundsätzlich Zustimmung verdient (Rdn. 415), spricht sowohl der Wortlaut als auch die Entstehungsgeschichte des Art. 103 Abs. 2 GG (s. Rdn. 80 sowie die Ausführungen zur Entstehungsgeschichte),1729 weshalb teilweise allenfalls eine analoge Anwendung des Art. 103 Abs. 2 GG in Erwägung gezogen wird.1730 Vorschriften über die Durchführung oder Fortsetzung der gerichtlichen Hauptverhandlung ohne Anwesenheit des Angeklagten, über die Ausschließung eines Verteidigers von der Mitwirkung in einem Strafverfahren, über den Einsatz neuartiger prozessualer Zwangsmaßnahmen oder über die nachträgliche Erweiterung oder Neuschaffung von Haftgründen (Rdn. 410) gehören nicht zu den Gesetzen, die den von Art. 103 Abs. 2 GG verbürgten Vertrauensschutz, die Rechtssicherheit und Täuschungsfreiheit des Strafrechts in Frage stellen oder gefährden. Änderungen in diesen Bereichen bedeuten keine Umbewertung der Tat.1731 Dies gilt auch für das Auslieferungsrecht.1732 Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum Europäischen Haftbefehl dargelegt, dass das strafrechtliche Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG auch dann in Erwägung zu ziehen sein könnte, wenn sich ein bislang vor Auslieferung absolut geschützter Deutscher für Taten in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union verantworten muss, die keinen maßgeblichen Auslandsbezug aufweisen und zum Zeitpunkt ihrer Begehung in Deutschland straffrei waren. Diese Rechtsänderung könne einer materiellen rückwirkenden Rechtsänderung gleichstehen (näher dazu Rdn. 422).1733 Wenn aber die formale Abgrenzung von materiellem Strafrecht und Strafprozess413 recht für das verfassungsrechtlich verankerte Rückwirkungsverbot nicht verbindlich sein kann, muss die Frage nach dem Eingreifen des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots an materiellen Kriterien fest gemacht werden. In der Literatur wird auf den Vertrauensoder Willkürschutz als ratio des Art. 103 Abs. 2 GG zurückgegriffen. Da Art. 103 Abs. 2 GG dem rechtsstaatlichen Gedanken des Vertrauensschutzes und der Berechenbarkeit staatlichen Handelns diene, hänge die Entscheidung über das Eingreifen des Art. 103 Abs. 2 GG vom Vertrauensschutzgehalt der betreffenden Norm ab. Maßgeblich sei die Schutzwürdigkeit des Vertrauens.1734 Bei der Verjährung gelte z.B., dass der Bürger wegen der Möglichkeit der jederzeitigen Unterbrechung auf deren Eintritt weder hoffen könne, noch legitimer Weise hoffen dürfe.1735 Daher sei der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zuzustimmen, das die rückwirkende Verlängerung der Verjährungsfrist und die nachträglichen Anordnung des Ruhens der Verjährung mangels einer schutzbedürftigen Vertrauensposition für zulässig erklärt habe.1736 Dadurch wird jedoch das absolute Verbot der Rückwirkung, das keinem Abwä414 gungsprozess unterliegen darf (Rdn. 363), im Ergebnis relativiert und einer Abwägung

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1728 So auch Hassemer/Kargl NK Rdn. 60 m.w.N.; aA Jäger GA 2006 615 ff. 1729 Ebenso Hassemer/Kargl NK Rdn. 60 ff; Köhler AT S. 97 ff; v. Münch/Kunig/Kunig Art. 103 Rdn. 32; Maurach/Zipf/Jäger § 12 Rdn. 6; Jäger SK Rdn. 10; Schmidt-Bleibtreu/Klein-Brockmeyer Art. 103 Rdn. 8; Fischer Rdn. 30; zum Ganzen auch Pföhler, passim. 1730 So R. Schmitt FS Jescheck 228; s. auch Rogall KK-OWiG § 3 Rdn. 46. 1731 Bringewat Rdn. 205. 1732 BVerfGE 109 13, 37; vgl. auch OLG Braunschweig NStZ-RR 2005 18, 19. 1733 BVerfGE 113 273, 308 f. 1734 So Sch/Schröder/Eser/Hecker § 2 Rdn. 6. 1735 So Hassemer/Kargl NK Rdn. 62. 1736 BVerfGE 25 269, 286 f; BVerfG NJW 2000 1554; zust. Hassemer/Kargl NK Rdn. 63; aA Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 332 ff; Maier S. 49.

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zugänglich gemacht. Außerdem sind die Kriterien des Vertrauens- und Willkürschutzes zu allgemein, um hieraus konkrete Folgerungen zu ziehen. So besteht Einigkeit, dass auch Fälle, in denen das Vertrauen des Bürgers nicht schutzwürdig ist, Art. 103 Abs. 2 GG unterfallen. So hebt Grünwald zutreffend hervor, dass nachträgliche Strafschärfungen unstreitig verboten sind, obwohl sie mit individuellem Vertrauensschutz ebenso wenig zu tun haben wie die Verjährungsfrist.1737 Andererseits besteht Einigkeit, dass es ein Gebot der materiellen Gerechtigkeit war, die Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen durch eine Verlängerung der Verjährung zu ermöglichen. Willkürlich war die Fristverlängerung keineswegs, zumal sie der von der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Jahre 1969 beschlossenen Konvention über die Nichtverjährbarkeit von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit entsprach.1738 Deshalb setzt sich in der Literatur zunehmend die Auffassung durch, dass strafpro- 415 zessuale Regelungen insbesondere dann dem Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG unterliegen, wenn ihnen Strafwürdigkeits- und Strafbedürftigkeitserwägungen zugrunde liegen.1739 Ist dies der Fall, so wird nachträglich das Unrecht anders bewertet als zuvor. Wenn der Gesetzgeber durch die Neuregelung zum Ausdruck bringt, dass er die Strafwürdigkeit1740 – so bei der nachträglichen Verlängerung von Verjährungsfristen (näher dazu Rdn. 427 ff) – oder die Strafbedürftigkeit1741 – so bei der Aufhebung des Strafantragserfordernisses in bestimmten Fällen (näher dazu Rdn. 430) – höher bewertet als zuvor, so liegt darin eine unzulässige nachträgliche Umbewertung, die einen Eingriff in die verfassungsrechtlich geschützte Freiheit des Bürgers (Rdn. 361) bedeutet. Hingegen kann nicht unter Rückgriff auf die verfassungsrechtliche Fundierung des Rückwirkungsverbots legitimiert werden, das Rückwirkungsverbot generell auf das Verfahrensrecht zu erstrecken und nur einzelne Bereiche vom Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 2 GG auszunehmen, z.B. die Verfahrensnormen, welche die Gerichtsorganisation und den rechtstechnischen Ablauf des Prozesses betreffen.1742 Als strafprozessuale Regelungen, denen Strafwürdigkeits- und Strafbedürftigkeits- 416 erwägungen zugrunde liegen können, kommen beweisrechtliche Regelungen,1743 insbesondere Beweisverbote sowie Beweisvermutungen und Beweislastregeln (Rdn. 417 f),1744 sowie die Vorschriften über die Verfahrenseinstellung nach §§ 153 ff StPO in Betracht (Rdn. 419 ff).1745 Eine Sonderstellung nehmen Prozessvoraussetzungen und Prozesshindernisse ein, die im Grenzbereich von formellem und materiellem Recht liegen (Rdn. 424 ff). Hier ist das Eingreifen des Rückwirkungsverbots insbesondere bei der Verjährung (Rdn. 427 ff) und dem Strafantragserfordernis (Rdn. 430) umstritten. Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde die Einbeziehung des Beweisrechts in 417 den Schutzbereich des „nulla poena“-Prinzips erörtert.1746 Unter Berufung auf diese Dis-

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1737 Grünwald MDR 1965 522 f. 1738 Näher dazu Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 331; Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 73a. 1739 Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 253 ff, 322 f, 337 f, 347 f; Bringewat Rdn. 206; Grünwald MDR 1965 522 ff; ders. JZ 1976 771 ff; Jakobs AT 4/9, 57; Maier S. 43 ff; 54 ff; Pieroth Jura 1983 124; Schmitz MK Rdn. 19, 41; H.L. Schreiber ZStW 80 (1968) 348, 364 ff. 1740 Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 332 ff. 1741 Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 335 ff. 1742 So Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 42; Jakobs AT 4/9, 57; H.L. Schreiber S. 220 Fn. 61; ähnlich Roxin/Arzt/Tiedemann Einführung S. 112 („eingreifende Akte des Verfahrensrechts“); weitergehend Jäger GA 2006 615 ff; näher dazu Rdn. 417 f. 1743 So Jäger GA 2006 615, 619. 1744 So H.L. Schreiber ZStW 80 (1976) 348, 366; vgl. auch Jakobs AT 4/9, 57, der sich für eine generelle Einbeziehung des Prozessrechts in den Anwendungsbereich des Rückwirkungsverbots ausspricht. 1745 So Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 340 ff m.w.N. 1746 Näher dazu Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 353 ff.

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kussion fordert Schreiber1747 eine entsprechende Auslegung des Art. 103 Abs. 2 GG. Als Anwendungsfälle nennt er Verschärfungen der Beweisverbote sowie Änderungen außerstrafrechtlicher Beweisvermutungen und Beweislastregeln, die durch Blankettstrafgesetze in Bezug genommen werden. Hierfür spricht die enge Bindung des rechtlichen Urteils an die Feststellungen zur Tatfrage. Außerdem belegen die abstrakten Gefährdungsdelikte, bei denen auch aus Gründen des Nachweises auf den Eintritt eines Schadens verzichtet wird, den engen Zusammenhang zwischen materiellem Strafrecht und prozessualem Beweisrecht.1748 Wird ein Erfolgsdelikt in ein abstraktes Gefährdungsdelikt umgewandelt, so unterliegt eine solche Gesetzesänderung unstreitig Art. 103 Abs. 2 GG, auch wenn der Gesetzgeber nur das Ziel einer Beweiserleichterung verfolgt. Nunmehr will auch Jäger das Verfahrensrecht Art. 103 Abs. 2 GG unterwerfen, soweit es für den Nachweis relevant werden kann, weil nur die justizförmig bewiesene Tat strafbar sei. Wenn aber die Strafbarkeit nur durch ein justizförmiges Verfahren festgestellt werden könne, werde das Verfahren auf diese Weise selbst zur Strafbarkeitsvoraussetzung und das Verfahrensrecht damit zu einem untrennbaren Teil des Strafrechts.1749 418 Wenn Beweisverbote durch gesetzliche Regelungen eingeschränkt werden, ist lediglich die Tatsachenfeststellung betroffen. Diese unterliegt aber nicht dem Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 2 GG: Wenn man auf die Umbewertung der Tat, die sich auf die Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit bezieht, als Abgrenzungskriterium für das Eingreifen des Rückwirkungsverbots abstellt, können Beweisverbote als Schranke der Gewinnung und Verwertung von Beweisen nicht erfasst werden, da durch eine Änderung der Regelungen der Tatsachenfeststellung der Bewertungsmaßstab für die Tat, nach dem sich die Strafverfolgungsorgane zu richten haben, nicht geändert wird.1750 Beweisverbote dienen dem Schutz außerprozessualer Interessen und Rechte des Beschuldigten und enthalten deshalb keine Gesichtspunkte der Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit. Sie unterliegen deshalb nicht Art. 103 Abs. 2 GG. Weiterhin liegen den Einstellungsvorschriften der §§ 153 ff StPO Strafwürdigkeits419 und Strafbedürftigkeitserwägungen zugrunde,1751 so dass eine nachträgliche Verschärfung dem strafrechtlichen Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG unterliegt, wenn der Beschuldigte in seinem Vertrauen in die festgelegte Bewertung seiner Tat verletzt wird, weil eine nachträgliche Umbewertung vorliegt. Die Einstellungsvorschriften der §§ 153 ff StPO erfüllen eine doppelte Funktion: Sie sollen zum einen zur Beschleunigung des Strafverfahrens und zur Entlastung der Gerichte beitragen, zum anderen hat der Gesetzgeber diese Vorschriften als Korrelat für die Begrenzung der Strafbarkeit, namentlich bei Bagatell-Delikten (§§ 153, 153a StPO) eingeführt, um dem fehlenden Strafbedürfnis Rechnung zu tragen.1752 Soweit die Einstellungsvorschriften Geringfügigkeitsfälle erfassen, in denen die Belange der Strafrechtspflege nur in geringem Maße tangiert sind, erfüllen sie eine selektive Funktion, die auch materiell-rechtlichen Charakter aufweist. Diese Nähe zum materiellen Recht1753 wird besonders deutlich, wenn man die deutsche Rechtlage mit Strafrechtsordnungen der romanischen Länder und Österreichs vergleicht, welche die Strafbarkeit häufig von Mindestgrenzen bei der Schadenshöhe abhängig ma-

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1747 H.L. Schreiber ZStW 80 (1976) 348, 366. 1748 Neumann ZStW 101 (1989) 55. 1749 So Jäger GA 2006 615, 619. 1750 Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 357. 1751 Zum Zusammenhang zwischen materiellem Strafrecht und Strafprozessrecht bei den §§ 153 ff StPO K. Peters Strafrechtsgestaltende Kraft, passim; ders. Strafprozeß S. 7 f. 1752 Löwe/Rosenberg/Rieß § 153 StPO Rdn. 20. 1753 Neumann ZStW 101 (1989) 54 f.

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chen. Außerdem soll § 153a StPO erklärter Maßen als Ausgleich für entfallene Privilegierungstatbestände und zu Vergehen aufgewerteten Übertretungen dienen1754 und steht damit in unmittelbarem Zusammenhang mit dem materiellen Strafrecht (näher dazu Rdn. 421). Die Einstellung des Verfahrens nach § 153 StPO führt zu keiner Strafverhängung, 420 weil es an einer Schuldzuweisung fehlt. Daher ist die Einstellung als Verzicht auf Strafe zu qualifizieren. Wenn der Gesetzgeber nachträglich die Einstellungsmöglichkeiten einschränkt, weitert er damit den Anwendungsbereich der Strafe wieder aus. Soweit die Verzichtsgründe materiell-rechtlichen Charakter aufweisen, unterliegen sie Art. 103 Abs. 2 GG; soweit sie verfahrensrechtlicher Natur sind, z.B. der Entlastung der Strafverfolgung und der Prozessökonomie dienen, greift das strafrechtliche Rückwirkungsverbot nicht ein.1755 Die Einstellung des Verfahrens nach Erfüllung von Auflagen und Weisungen gemäß 421 § 153a StPO sieht Rechtsfolgen vor, die eindeutigen Sanktionscharakter haben. Da es sich bei den Auflagen um Leistungen handelt, die der Genugtuung für das begangene Unrecht dienen,1756 wie sich aus § 56b Abs. StGB und § 23 Abs. 2 JGG ergibt, tragen diese ausgesprochen repressiven Charakter und müssen deshalb Art. 103 Abs. 2 GG unterliegen.1757 Hingegen handelt es sich bei den Weisungen um Maßregeln der Besserung und Sicherung, auf die der „nulla poena“-Satz nicht anwendbar ist (eingehend dazu Rdn. 407 ff). Wenn hingegen der Anwendungsbereich der Einstellung nach § 153a StPO generell eingeschränkt wird, ist wiederum danach zu unterscheiden, ob die gesetzgeberische Entscheidung auf materiellrechtlichen Gründen beruhen, wenn z.B. bestimmte Vergehen generell aus dem Anwendungsbereich des § 153a StPO herausgenommen werden, weil sie als zu schwerwiegend angesehen werden, oder ob verfahrensrechtliche, z.B. verfahrensökonomische Ziele verfolgt werden. Nur in ersterem Fall greift Art. 103 Abs. 2 GG ein. Das Auslieferungsrecht gehört zum Verfahrensrecht und unterliegt grundsätzlich 422 nicht dem Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG.1758 Die erhebliche Ausweitung der Auslieferung in der Europäischen Union durch den Europäischen Haftbefehl darf jedoch nicht dazu führen, dass sich der Bürger an ausländischen Rechtsordnungen orientieren muss, um die Grenzen des strafrechtlich Erlaubten zu bestimmen. Das Bundesverfassungsgericht hat diesbezüglich ausgeführt, dass sich ein Deutscher, der sich für Taten in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union verantworten muss, die zum Zeitpunkt ihrer Begehung in Deutschland straffrei waren, darauf verlassen darf, sein Verhalten an den deutschen Normen des materiellen Strafrechts ausrichten zu dürfen, sofern kein Schaden oder keine Gefährdung von Rechtsgütern im Ausland eingetreten ist und damit ein Anknüpfungspunkt zur Bestrafung für den ausländischen Staat besteht. Fehle es an einem maßgeblichen Auslandsbezug, so dürfe nicht durch die Einführung des Europäischen Haftbefehls die Rechtslage dahingehend geändert werden, dass sich der Bürger nunmehr in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union strafrechtlich verantworten müsse. Dies stünde einer materiellen rückwirkenden Rechtsänderung gleich (BVerfG NJW 2005 2289, 2294). Wenn das Bundesverfassungsgericht hier allerdings eine Beschränkung auf Deutsche vornimmt, ist dies bedenklich. Entscheidend ist, wo der Bürger seinen Lebensmittelpunkt hat. Wenn ein ausländischer Bürger in Deutschland

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1754 1755 1756 1757 1758

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Vgl. BTDrucks. VI/3250 S. 236; 7/550 S. 247. Näher dazu Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 347 f. Löwe/Rosenberg/Rieß § 153a StPO Rdn. 9. Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 344. BVerfGE 109 13, 37; OLG Braunschweig NStZ-RR 2005 18, 19.

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wohnt und die von ihm begangene Straftat keinen Anknüpfungspunkt zur Bestrafung für einen ausländischen Staat aufweist, darf er nicht infolge einer Änderung des Rechtshilferechts ausgeliefert werden. Lediglich soweit er infolge des in seinem Ursprungsland geltenden Personalitätsprinzips dort zur Verantwortung gezogen werden kann, entfällt für ihn der Schutz des Rückwirkungsverbots. Im Übrigen unterliegen verfahrensrechtliche Regelungen grundsätzlich nicht dem 423 Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 2 GG (zu Ausnahmen hiervon s. unten Rdn. 424 ff). Aber auch wenn Art. 103 Abs. 2 GG nicht berührt ist, sind nachträgliche Änderungen verfahrensrechtlicher Vorschriften nicht uneingeschränkt zulässig. Sie sind am Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG; Rdn. 237) und am Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) zu messen, so dass der Gesetzgeber keinesfalls völlig freigestellt ist. 424

hh) Prozessvoraussetzungen und Prozesshindernisse. Besonders umstritten ist das Eingreifen des Rückwirkungsverbots bei Prozessvoraussetzungen und Prozesshindernissen.1759 Prozessvoraussetzungen, wie das Erfordernis eines Strafantrages, weisen eine große Nähe zu den objektiven Strafbarkeitsbedingungen und den Strafausschließungsgründen auf1760 und liegen deshalb im Grenzbereich von formellem und materiellem Recht. Auch bei Prozesshindernissen ist die Einordnung als materiellrechtliches oder verfahrensrechtliches Rechtsinstitut nicht selten zweifelhaft, weil ihnen sowohl Gesichtspunkte der Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit zugrunde liegen als auch solche, die sich auf den Nachweis beziehen, so z.B. bei der Verjährung, die deshalb als „gemischt-rechtliches Rechtsinstitut“ charakterisiert werden kann (vgl. auch Rdn. 106).1761 Bei einer nachträglichen Gesetzesänderung in diesem Bereich kommt es darauf an, 425 ob die Verjährung bereits eingetreten bzw. der Ablauf der Strafantragsfrist der Einleitung und Durchführung des Strafverfahrens entgegenstand. So geht die h.M. in Rechtsprechung und Literatur davon aus, dass nach bereits eingetretener Verjährung eine Wiedereröffnung der Strafverfolgung durch nachträgliche Verlängerung der Verjährungsvorschriften dem strafrechtlichen Rückwirkungsverbot unterliegt. Mit dem Eintritt der Verjährung ist der Täter nicht mehr strafbar und darf hierauf auch vertrauen. Eine nachträgliche Wiederbegründung der Strafbarkeit durch Aufhebung der Verjährung wird als Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG1762 bzw. gegen das Rechtsstaatsprinzip1763 gewertet. Nach Eintritt der Verfolgungsverjährung steht der Einleitung und Durchführung eines Strafverfahrens ein Prozesshindernis auf Dauer entgegen, so dass der Täter unbestraft ist und bleibt. Unter dem Aspekt des Eingriffs in die Freiheit des Bürgers unterscheidet sich diese Fallkonstellation nicht von einer erst nachträglich geschaffenen, nach Art. 103 Abs. 2 GG verbotenen Bestrafungsmöglichkeit. Diese Bedenken stehen auch einer Anwendung des Verjährungsgesetzes vom 4.4.1993 entgegen, durch das für die in der DDR aus politischen Gründen nicht verfolgten Taten des SED-Regimes ein Ruhen der Verjährung angeordnet wurde, sofern zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes bereits Verjährung eingetreten war.1764 Wenn hingegen noch keine Verjährung eingetreten ist,

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1759 Grünwald MDR 1965 522 ff; ders. JZ 1976 763, 771; Jakobs AT 4/9; Maier S. 43 ff, 54 ff; K. Peters Strafprozeß, 4. Aufl. (1985) S. 274; Pieroth Jura 1983 124; Schmitz MK Rdn. 19, 41; H.L. Schreiber ZStW 80 (1968) 348, 364 ff. 1760 Vgl. nur Roxin AT I § 5 Rdn. 43 m.w.N. 1761 Vgl. nur Fischer Rdn. 4 Vor § 78 m.w.N. 1762 Bringewat Rdn. 206; Roxin AT I § 5 Rdn. 60; aA Hassemer/Kargl NK Rdn. 62 f; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 2 Rdn. 6. 1763 So z.B. Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 66. 1764 Pieroth/Kingreen NJ 1993 385.

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steht der nachträglichen Unterbrechung der Verjährung Art. 103 Abs. 2 GG nicht entgegen (Rdn. 429; zur Verlängerung der noch laufenden Verjährungsfrist vgl. Rdn. 427). Ebenso sind rückwirkende Verlängerungen oder Aufhebungen bereits abgelaufener 426 Antragsfristen bei Strafantragsdelikten (z.B. § 230; §§ 242, 246, 247; §§ 242, 246, 248a) zu beurteilen.1765 Das endgültige Fehlen einer Prozessvoraussetzung darf nicht durch eine rückwirkende Verlängerung schon abgelaufener Antragsfrist relativiert werden.1766 Jede nachträgliche, dem Täter ungünstige Gesetzesänderung setzt voraus, dass nicht bereits aufgrund der bisherigen Regelung eine Bestrafung ausgeschlossen sei. Ist die Strafantragsfrist bereits abgelaufen, so ist der Zustand der Unentschiedenheit, ob die Tat verfolgt werden soll, beseitigt, und die Strafverfolgung der Tat, hinsichtlich derer es am Strafantrag fehlt, gehindert.1767 Gleiches muss entgegen der Rechtsprechung des Bundesgerichthofs (BGHSt 46 311, 317 m.w.N.) auch für die nachträgliche Umwandlung eines Strafantrags- in ein Offizialdelikt nach Ablauf der Strafantragsfrist gelten. Denn durch die nachträgliche Aufhebung einer Prozessvoraussetzung oder eines Prozesshindernisses wird ein staatliches Bestrafungsrecht geschaffen, das zuvor nicht bestand.1768 Hierauf ist Art. 103 Abs. 2 GG anwendbar (Rdn. 430). Wenn hingegen die Verjährung noch nicht eingetreten oder die Strafantragsfrist 427 noch nicht abgelaufen ist, soll eine nachträgliche Verschärfung der Rechtslage zulässig sein.1769 So soll eine Verlängerung oder Aufhebung noch laufender Verjährungsfristen, wie sie z.B. beim Mord im Hinblick auf die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen erfolgt ist,1770 nach h.M. nicht gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstoßen.1771 Dieses Ergebnis stützte die Rechtsprechung überwiegend auf den prozessrechtlichen Charakter der Verjährung.1772 Soweit in der Literatur auf den Vertrauensschutz abgestellt wird, wird hervorgehoben, dass der Bürger nur einen Anspruch darauf habe zu wissen, ob und gegebenenfalls wie hoch er bestraft werden kann, nicht hingegen, wie lange er sich nach verübter Tat verborgen halten muss, um im Anschluss daran wieder unbehelligt hervortreten zu können. Der Schutz eines solchen Kalküls lasse sich nicht aus dem Gesetzlichkeitsprinzip ableiten, zumal das Institut der Verjährungsunterbrechung (§ 78c) dem Täter ohnehin nicht die Erwartung einer von vornherein feststehenden Verjährungsdauer eröffne.1773 Wenn die Verlängerung der Verjährung auf der Anhebung des Höchstmaßes der Freiheitsstrafe beruht, soll eine Rückwirkung nach h.M. unabhängig vom Theorienstreit über die Rechtsnatur der Verjährung ausgeschlossen sein.1774 Für die Bestimmung des Anwendungsbereichs des Rückwirkungsverbots ist ent- 428 scheidend, welche Bedeutung die Verjährungsregelungen für die Unrechtsbewertung der Tat haben. Hierfür ist auf die materialen, die Verjährung tragenden Überlegungen

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1765 Jescheck/Weigend AT § 15 IV 4; Wolter SK Vor § 77 Rdn. 15. 1766 Bringewat Rdn. 207; Jescheck/Weigend AT § 15 IV 4. 1767 M.-K. Meyer S. 13. 1768 Jescheck/Weigend AT § 15 IV 4; Maurach/Zipf/Jäger § 12 Rdn. 6; Pieroth JuS 1977 394; Roxin AT I § 5 Rdn. 59 f; aA Lackner/Kühl/Kühl Rdn. 4; kritisch Tiedemann LK12 § 301 Rdn. 12. 1769 BVerfGE 25 269, 284 f; 46 188, 193. 1770 BVerfGE 95 96, 133 ff unter Bezugnahme auf BVerfGE 3 225, 232; 23 98, 106; vgl. auch Lüderssen JZ 1979 449 ff; Vogel ZRP 1979 1 ff. 1771 BVerfGE 18 240, 244; BVerfG NJW 2000 1554; RGSt 76 159; BGHSt 2 300, 305; 4, 379, 385; BGH VRS 32 (1967) 229; BGH bei Dallinger MDR 1970 196; BGH bei Herlan GA 1971 37; KG VRS 32 (1967) 264; OLG Düsseldorf VRS 96 (1999) 283, 284; Krey Strafe S. 50 f; ders. JA 1983 233, 234; Maurach/Zipf/Jäger § 12 Rdn. 6; Roxin AT I § 5 Rdn. 60; Roxin/Arzt/Tiedemann Einführung S. 112; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 66. 1772 BVerfGE 3 225, 295. 1773 Roxin AT I § 5 Rdn. 60; Roxin/Arzt/Tiedemann Einführung S. 112. 1774 BGH GA 1954 22; BGHSt 46 311, 316; Dreher NJW 1962 2209, 2210; Fischer § 2 Rdn. 7; Tiedemann LK12 § 301 Rdn. 12.

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abzustellen: Durch die Verjährung wird einerseits den verfahrensmäßigen Gesichtspunkten der Beweisverschlechterung, der Gefahr des Justizirrtums, der Unaufklärbarkeit der Sachverhalte und dem formellen Rechtsfrieden und andererseits den materiellen Gesichtspunkten der Abnahme der Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit durch Zeitablauf unter dem Gesichtspunkt der Resozialisierung, der Prävention und der Sühne Rechnung getragen.1775 Der materiell-rechtliche Gehalt der Verjährung erfordert eine Abstufung der Verjährungsdauer nach der vom Unrechtsgehalt der Tat bestimmten Strafdrohung, die das geltende Recht vornimmt. Dies hat bereits Powlowski anhand folgenden Beispiels verdeutlicht:1776 „Wenn der Gesetzgeber beispielsweise die Verjährungsfrist für Übertretungen – z.B. für falsches Parken – von drei Monaten auf fünf Jahre verlängern wollte, so würde sich nicht nur aus äußerlichen, etwa Zweckmäßigkeitsgründen, Widerstand gegen eine solche Regelung erheben, sondern vor allem aus Gründen der materiellen Gerechtigkeit. Die Möglichkeit einer solchen Verlängerung der Verjährungsfrist würde nicht zu dieser Tat gehören, sie wäre in einem Sachverhalt von dieser Geringfügigkeit von Anfang an nicht enthalten. Straftaten haben rechtlich gesehen keinen Ewigkeitscharakter.“ Hier wird deutlich, dass die Verjährungsdauer nicht losgelöst von der Höhe des Unrechts bestimmt werden kann, sondern hiervon aus Gerechtigkeitsgründen abhängt. Damit beeinflusst die Verjährungsdauer die Höhe des Unrechts (und umgekehrt).1777 Auch die Unverjährbarkeit bestimmter Straftaten ist Ausdruck des materiell-rechtlichen Gehalts der Verjährung. Angesichts ihres besonderen Unrechtsgehaltes sollen solche Taten zeitlich unbeschränkt geahndet werden können, obwohl die prozessualen Gesichtspunkte, welchen durch die Verjährung auch Rechnung getragen wird, grundsätzlich anerkannt bleiben. Die Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit wiegen so schwer, dass eine Bestrafung trotz Beweisschwierigkeiten für erforderlich gehalten wird. Somit ist die Abstufung der Verjährungsdauer nach der gesetzlich angedrohten Strafe Ausdruck der materiell-rechtlichen Unrechtsbewertung. Diese Abstufung belegt, dass die Verjährung nicht nur von den oben genannten verfahrensmäßigen Gesichtspunkten abhängig gemacht wird. Damit sind die Verjährungsregelungen auch Teil der Strafbarkeitsvoraussetzungen: Die Verjährung ist schon dadurch tatbezogen, dass sie nach der Schwere der Delikte, dem vom Gesetzgeber angedrohten Strafrahmen, zeitlich gestaffelt ist.1778 Da die Verjährungsdauer von der gesetzlichen Bewertung der Unrechtshöhe abhängig ist, unterliegt sie zwingend Art. 103 Abs. 2 GG.1779 Die rückwirkende Verlängerung der Verjährung ist daher in jedem Fall verfassungswidrig. 429 Demgegenüber unterliegen Vorschriften über die Unterbrechung der Verjährung, da sie keine Auswirkungen auf die Unrechtsbewertung der Tat haben, nicht Art. 103 Abs. 2 GG, sondern nur dem allgemeinen verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbot.1780 Deshalb bestehen auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen Art. 315a EGStGB, wonach die Verjährungsfrist bei Straftaten, die zum Beitrittszeitpunkt der DDR noch nicht verjährt waren, nach § 78d Abs. 3 EGStGB neu zu laufen beginnt.1781 Wenn hingegen bereits Verjährung eingetreten war, bevor der Gesetzgeber das Ruhen der Verjährung angeordnet hat, steht einer solchen Vorschrift Art. 103 Abs. 2 GG entgegen

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1775 Bloy S. 251; Gómez Rivero GA 2001 289 ff; Lorenz Verjährung (1955) S. 56; Silva Sanchez GA 1990 212 ff; von Stackelberg FS Bockelmann 759, 765. 1776 Näher dazu Powlowski NJW 1965 287, 288. 1777 Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 334. 1778 Powlowski NJW 1965 287, 288. 1779 Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 323 ff; Jakobs AT 4/9; Schmitz MK Rdn. 19 ; Schünemann Nulla poena S. 25 f. 1780 BVerfGE 25 269, 287. 1781 Näher dazu Dannecker/Stoffers JZ 1996 490 f; Otto Jura 1994 611, 613.

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(Rdn. 425). Eine Anwendung des Rückwirkungsverbots aus Art. 103 Abs. 2 GG auf kartellrechtliche Schadensersatzansprüche (§ 33 Abs. 4 und 5 GWB 2005) hat der BGH zu Recht abgelehnt.1782 Ebenso wie die Verlängerung oder Aufhebung noch laufender Verjährungsfristen 430 soll die nachträgliche Umwandlung eines Antrags- in ein Offizialdelikt oder die Verlängerung der Strafantragsfrist bei noch nicht verstrichener Antragsfrist nicht gegen das strafrechtliche Rückwirkungsverbot verstoßen, weil durch Art. 103 Abs. 2 GG potenziellen Straftätern nicht vor der Begehung von Straftaten „vertrauensgeschützte“ sichere Kenntnisse über das Ob und Wie ihrer Verfolgbarkeit vermittelt werden soll.1783 Das soll auch für relative Strafantragsdelikte gelten, bei denen das Strafantragserfordernis nicht besteht, wenn die Strafverfolgungsbehörde wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für erforderlich hält.1784 Demgegenüber sieht eine in der Literatur vertretene Auffassung1785 zu Recht einen nachträglichen Wegfall des Strafantragserfordernisses als unzulässig an, weil bei Antragsdelikten das staatliche Bestrafungsinteresse vom Genugtuungsbedürfnis des Verletzten abhängt, auf dessen Fehlen der Täter vielfach (so z.B. bei §§ 247, 123) mit Recht vertrauen kann. Wenn das Antragserfordernis rückwirkend abgeschafft und ohne Antrag bestraft wird, wird dadurch ein staatliches Bestrafungsrecht erst nachträglich geschaffen, und gerade das will Art. 103 Abs. 2 GG verhindern.1786 Hingegen bleibt die Tatbewertung unberührt, wenn allein die Geheimhaltungsin- 431 teressen der Opfer bei der Verführung, Beleidigung, Verwertung fremder Geheimnisse etc. für nicht mehr schützenswert gehalten oder das Strafantragsrecht, das bestimmten Fachbehörden wegen ihres besseren Überblicks über die Notwendigkeit der Strafverfolgung zugewiesen ist, aufgehoben wird. In diesen Fällen wirkt sich eine nachträgliche Änderung des Strafantragserfordernisses nur mittelbar auf den Straftäter aus; die Bewertung der Tat bleibt dadurch unberührt.1787 e) Rückwirkungsverbot und Änderung der Rechtsprechung. In Rechtsprechung 432 und Literatur ist nach wie vor umstritten, ob auch eine rückwirkende Änderung der Rechtsprechung bei gleich bleibendem Gesetzeswortlaut unter das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG fällt, wenn sich dies zu Lasten des Täters auswirkt, oder ob nur das allgemeine Vertrauensschutzprinzip (Rdn. 3, 363) eingreift.1788

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1782 BGH NJW 2018 2479 Rdn. 61 ff, 76 (Grauzementkartell II), dazu Weitbrecht NJW 2018 2450 ff. kritisch Bechtold NZKart 2018 61 f. 1783 RGSt 77 306, 310 f; BGHSt 20 22, 27; 46 310, 317 ff (zur rückwirkenden Umwandlung eines Antragsdelikts in ein Offizialdelikt) m. krit. Bespr. Knauth StV 2003 418; OLG Hamm NJW 1961 2030; Bringewat Rdn. 208; Hassemer/Kargl NK Rdn. 62 f; Maurach/Zipf/Jäger § 12 Rdn. 6; Wolter SK Vor § 77 Rdn. 15; Sch/Schröder/Stree/Sternberg-Lieben § 77 Rdn. 8; Fischer Rdn. 30; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 66. 1784 Bringewat Rdn. 208; Hassemer/Kargl NK Rdn. 61 f; Jäger SK Rdn. 10; aA Roxin AT I § 5 Rdn. 59; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 2 Rdn. 6. 1785 Jescheck/Weigend AT § 15 IV 4; Pieroth JuS 1977 396 m.w.N.; Roxin AT I § 5 Rdn. 59; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 2 Rdn. 6. 1786 Roxin AT I § 5 Rdn. 59. 1787 Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 338; Pföhler Rdn. 29. 1788 Eingehend dazu Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 364 ff; Ha Belastende Rechtsprechungsänderungen (2000); Haffke Das Rückwirkungsverbot bei Änderung der Rechtsprechung (1970); Kähler Strukturen und Methoden der Rechtsprechungsänderung (2004); Neumann ZStW 103 (1991) 331 ff; Robbers JZ 1988 481 ff; Scheffelt Rechtsprechungsänderung (2001); Schünemann Nulla poena S. 27 ff; zusammenfassend Otto FG-Wiss. 50 J. BGH Bd. IV 111, 112 ff.

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aa) Verneinung des Eingreifens von Art. 103 Abs. 2 GG durch die höchstrichterliche Rechtsprechung. Eine rückwirkende Rechtsprechungsänderung fällt nach Auffassung des Bundesgerichtshofs nicht unter das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG (BGHSt 41 111 ff).1789 Die Problematik der rückwirkenden Rechtsprechungsänderung hatte sich zunächst bei Betrugsfällen im Rahmen unsittlicher Geschäfte gestellt, die entgegen der früheren Rechtsprechung1790 von dem Vereinigten Strafsenat des Reichsgerichts unter Zugrundelegung eines rein wirtschaftlichen Vermögensbegriffs erstmals für strafbar erklärt worden waren.1791 Weiterhin stellte sich die Frage der rückwirkenden Rechtsprechungsänderung, als NS-Gewalttaten, die zwar mit Strafe bedroht, jedoch von den Gerichten nicht geahndet wurden, in der Nachkriegszeit abgeurteilt wurden.1792 Praktische Bedeutung erlangte die Frage nach der Anwendung des Rückwirkungs434 verbots auf Rechtsprechungsänderungen aber vor allem bei den Straßenverkehrsdelikten, die eine Fahruntüchtigkeit voraussetzen. In diesem Bereich hat die Rechtsprechung die Grenze der „absoluten“ Fahruntüchtigkeit mehrfach gesenkt. So hat der Bundesgerichtshof in der Entscheidung BGHSt 21 157 ff, in der er die Promillegrenze für den Beweis der absoluten Fahruntauglichkeit von 1,5‰1793 auf 1,3‰ Blutalkohol herabgesetzt hat (1,1‰ plus 0,2‰ Sicherheitszuschlag), hierin keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG gesehen und die Täter verurteilt.1794 Weiterhin ist die Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGHSt 24 200 ff) zur Fahruntauglichkeit beim „Sturztrunk“ zu nennen, in welcher der für die Zeit der Fahrt errechnete Blutalkoholgehalt geringfügig unter dem Grenzwert von 1,3‰ lag, dieser Wert aber danach nicht unerheblich überschritten wurde.1795 Sodann wandte der Bundesgerichtshof in den Entscheidungen zur absoluten Fahruntüchtigkeit von Mofafahrern1796 und Radfahrern1797 eine erstmals festgelegte Promillegrenze rückwirkend an.1798 Schließlich setzte der Bundesgerichtshof in der Entscheidung BGHSt 37 89, 99 den Promille-Grenzwert der absoluten Fahruntüchtigkeit von 1,3‰ auf 1,1‰ herab (1‰ plus 0,1‰ Sicherheitszuschlag),1799 weil sich die tatsächlichen Erkenntnisgrundlagen geändert hatten, ohne das Rückwirkungsverbot anzuwenden.1800 Auch das Bundesverfassungsgericht hat stets ein Eingreifen des Rückwirkungsver435 bots des Art. 103 Abs. 2 GG bei Rechtsprechungsänderungen (BVerfGE 18 224, 240 f; 32 311, 319) verneint.1801 Im Zusammenhang mit der Herabsetzung der Promillegrenze auf 1,1‰ bestätigte es die Auffassung des Bundesgerichtshofs mit der Begründung, der ge-

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1789 Vgl. weiter BGH VRS 32 (1967) 229, 230; BGH bei Dallinger MDR 1970 196; BGH bei Herlan GA 1971 37; BayObLG NJW 1990 2833 f; OLG Bremen MDR 1982 772, 773; KG VRS 32 (1967) 264 ff; OLG Celle NdsRpfl. 1968 90; OLG Düsseldorf MDR 1991 171; OLG Frankfurt NJW 1969 1634 f; OLG Karlsruhe NJW 1967 2167 f mit zustimmender Anm. Eckert NJW 1968 1390; OLG Köln VRS 49 (1984) 422, 424; abw. OLG Düsseldorf NJW 1973 1054. 1790 RGSt 36 334 hatte den Verkauf eines untauglichen Abtreibungsmittels an Schwangere für straflos erklärt, weil es an einem Eingriff in das „rechtlich geschützte Vermögen“ fehle. 1791 RGSt 44 230 ff. 1792 Näher dazu Schünemann FS Bruns 223, 228 f; zur Verjährung von NS-Verbrechen Lüderssen JZ 1979 449 ff; Vogel ZRP 1979 1 ff. 1793 BGHSt 19 243, 245. 1794 BGHSt 21 157, 167. 1795 Weitere Beispiele bei Mattil GA 1965 129, 135 f. 1796 BGHSt 30 149, 151. 1797 BGHSt 34 133. 1798 Näher dazu Hentschel NJW 1984 350 ff. 1799 Näher dazu Allgaier DAR 1990 50 ff; Bernreuther MDR 1991 829 f; Heifer NZV 1990 374 ff; Janiszewsiki NStZ 1990 271, 273; Krahl NJW 1991 808 f; Werny NZV 1990 137 ff. 1800 Vgl. auch BayObLG NJW 1990 2835. 1801 Vgl. auch BVerfG NStZ 1990 537.

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setzliche Tatbestand stelle nicht auf eine bestimmte Blutalkoholkonzentration, sondern auf die auf Alkoholgenuss beruhende Unfähigkeit, ein Fahrzeug im Verkehr sicher zu führen, ab und eröffne damit der Rechtsprechung von vornherein die Möglichkeit, bei der Feststellung der alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit gewandelten wissenschaftlichen Erkenntnissen und verbesserten wissenschaftlich-technischen Methoden Rechnung zu tragen, ohne dass damit schon die durch Art. 103 Abs. 2 GG geforderte Bestimmtheit des Straftatbestandes und das Verbot einer rückwirkenden Verschärfung der Strafbarkeit tangiert seien.1802 In dieser Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts deutet sich folgende Differenzierung an: Für eine Rechtsprechungsänderung, die das Unwerturteil modifiziert, soll das Rückwirkungsverbot gelten; demgegenüber soll für eine Rechtsprechungsänderung, die allein die Tatsachengrundlage berührt, das Rückwirkungsverbot nicht gelten.1803 bb) Verneinung des Eingreifens von Art. 103 Abs. 2 GG in der Literatur. Auch 436 die h.M. in der Literatur verneint einen Verstoß gegen das strafrechtliche Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG, wenn die Rechtsprechung im Rahmen der ihr rechtsstaatlich aufgetragenen Gesetzeskonkretisierung bei gleich bleibendem Gesetzeswortlaut den Bedeutungsgehalt eines Strafgesetzes dahingehend ermittelt, dass ein zur Tatzeit als straflos bewertetes Verhalten für strafbar erklärt wird.1804 Wenn das Gericht eine Norm ungünstiger für den Angeklagten auslegt, als dies in der bisherigen Rechtsprechung geschehen ist, muss dieser das gegen sich gelten lassen.1805 Gegen eine Anwendung von Art. 103 Abs. 2 GG auf rückwirkende Rechtsprechungsänderungen wird geltend gemacht, dass sich dieses Grundrecht nur auf Gesetze, nicht aber auf die Auslegung beziehe.1806 Ein Eingreifen des Rückwirkungsverbots würde zu einer Gleichstellung von Gesetzgebung und Rechtsprechung führen, obwohl Art. 103 Abs. 2 GG gerade von der Trennung der beiden Gewalten ausgeht und den Richter auf die Ausfüllung des gesetzlichen Regelungsrahmens beschränkt (Rdn. 55),1807 an dem allein sich der Bürger orientieren soll. Außerdem würde durch eine Einbeziehung der Rechtsprechung in den Anwen- 437 dungsbereich des Rückwirkungsverbots eine Fortentwicklung der Rechtsauslegung unmöglich.1808 Das deutsche Recht kennt weder „Von-nun-an“-Entscheidungen, noch sieht es sonstige verfahrensrechtliche Regelungen vor, um dem Rückwirkungsverbot Rechnung zu tragen.1809 Eine Lösung der problematischen Fälle sei über die Irrtumsvor-

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1802 BVerfG NStZ 1990 537; BVerfG NJW 1995 125, 126. 1803 Der Rechtsprechung des BVerfG zustimmend Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 53; Maunz/Dürig/ Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 128; Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 54; kritisch dazu Sachs/ Degenhart Art. 103 Rdn. 73, der die Abgrenzbarkeit von Feststellung und Bewertung der Tatsachenbasis in Frage stellt. 1804 Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 364 ff; Jakobs AT 4/80 ff; Jescheck/Weigend § 15 IV 3 Fn. 46; Kindhäuser Strafrecht AT § 3 Rdn. 4; Krey/Esser AT Rdn. 73 f; v. Münch/Kunig/Kunig Art. 103 Rdn. 32a; ders. S. 431 ff; v. Mangoldt/Klein/Starck/Nolte Art. 103 Abs. 2 Rdn. 120; Robbers JZ 1988 481, 484 f; Roxin AT I § 5 Rdn. 61; Jäger SK Rdn. 16; Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 63; H.L. Schreiber JZ 1973 713 ff; Tröndle FS Dreher 117 ff; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 70. 1805 Vgl. nur Roxin AT I § 5 Rdn. 61. 1806 Jescheck/Weigend AT § 15 IV 3 Fn. 476; Köhler AT S. 98; Krey Strafe Rdn. 113 mit Fn. 385; Roxin AT I § 5 Rdn. 61; Jäger SK Rdn. 16; Schünemann Nulla poena S. 28; Stree Deliktsfolgen S. 80 ff. 1807 Näher dazu Roxin AT/I § 5 Rdn. 61; vgl. auch Bringewat Rdn. 211. 1808 BGH bei Dallinger MDR 1970 196; BayObLG NJW 1990 2833; Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 63 f; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 2 Rdn. 7; Roxin AT I § 5 Rdn. 61; Jakobs AT 4/81. 1809 Siehe dazu Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 372 f; Schlüchter Mittlerfunktion S. 82 f; H.L. Schreiber JZ 1973 713, 716 f; Tröndle FS Dreher 117, 124 ff; Schünemann Nulla poena S. 28 f; zu den verfahrensrechtlichen Konsequenzen Neumann ZStW 103 (1991) 331, 351 ff; H.L. Schreiber JZ 1973 713 ff.

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schriften möglich und angemessen.1810 Wer sein Verhalten im Vertrauen auf eine beständige höchstrichterliche Rechtsprechung im Tatzeitpunkt für unverboten hält und halten darf, handelt ohne Unrechtsbewusstsein. Wenn sich erst auf Grund eines auf die Tatzeit zurück bezogenen Rechtsprechungswandels ergibt, dass das als straflos bewertete Verhalten in Wirklichkeit verboten war, kann das Fehlen des Unrechtsbewusstseins auf einem unvermeidbaren Verbotsirrtum beruhen, der zur Straflosigkeit führt (§ 17). Aus diesem Grund soll eine Anwendung des Rückwirkungsverbots auf Rechtsprechungsänderungen weder erforderlich noch praktisch durchführbar sein.1811 Sie führe selbst dann, wenn es sich um eine mit Ausnahmecharakter versehene und überaus eng begrenzte Einbeziehung von Rechtsprechungsänderungen in den Verbotsbereich des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots handele, zu einem Verlust an Aktualität und Flexibilität in der strafrechtlichen Rechtsanwendung.1812 Letztlich bleibe Rechtsanwendung stets Gesetzeskonkretisierung und sei in keinem Falle originäre gesetzesgleiche Rechtssetzung, auch dann nicht, wenn eine „ständige“ höchstrichterliche Rechtsprechung als gesetzesergänzendes Richterrecht fungiere oder in fortlaufender Konformität ihre Entscheidung zu bestimmten Rechtsfragen formelhaft festgelegt hat.1813 cc) Bejahung des Eingreifens von Art. 103 Abs. 2 GG in der Literatur. Allerdings können auch für ein Eingreifen von Art. 103 Abs. 2 GG bei nachträglichen Rechtsprechungsänderungen gewichtige Argumente ins Feld geführt werden:1814 So wurde insbesondere in Auseinandersetzung mit der Entscheidung BGHSt 21 157 ff zur Änderung der Promille-Grenze (Rdn. 434) und sodann mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu dieser Frage zunehmend eine (zumindest analoge)1815 Anwendung des Art. 103 Abs. 2 GG gefordert,1816 weil die Strafbarkeit nicht nur durch den Gesetzestext, sondern auch durch die gerichtliche Anwendungspraxis im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG „gesetzlich bestimmt“ werde.1817 In diesem Zusammenhang wird hervorgehoben, dass es sich um eine bisher völlig konforme und formelhaft festgelegte Rechtsprechung gehandelt habe.1818 In einem solchen Fall sei die Abweichung von der bisherigen Auffassung von einer Bedeutung, die ein Eingreifen des Gesetzgebers hätte erwarten lassen.1819 Außerdem wird zu Recht darauf hingewiesen, dass die Auswirkungen einer rück439 wirkenden Änderung der Rechtsprechung für den Betroffenen faktisch kaum andere als

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1810 Bringewat Rdn. 214; Jakobs AT 7/82; Jäger SK Rdn. 16; für das Zivilrecht schlägt Huep Beschränkung einer Rückwirkung (2001) S. 150 ff, 254, eine Anwendung der Grundsätze des Wegfalls der Geschäftsgrundlage vor. 1811 H.-W. Arndt S. 29 ff; Burmeister Vertrauensschutz S. 36; Jakobs AT 4/80 ff; Jescheck/Weigend AT § 15 IV 3; Meyer-Ladewig MDR 1962 262, 264; Schünemann Nulla poena S. 27 f; Tröndle FS Dreher 117, 124 f; Fischer Rdn. 31. 1812 Hassemer/Kargl NK Rdn. 50; zustimmend Bringewat Rdn. 212. 1813 Näher dazu Hassemer/Kargl NK Rdn. 57; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 2 Rdn. 7; jeweils m.w.N. 1814 Vgl. z.B. Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 73; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 128; Wassermann AK-GG Art. 103 Rdn. 51; jeweils m.w.N. 1815 So Neumann ZStW 103 (1991) 331, 336. 1816 Bernreuther MDR 1991 829 f; Hassemer/Kargl NK Rdn. 51 ff; Hüting/Kunzak NZV 1991 255; dies. NZV 1992 136; Krahl S. 53; ders. NJW 1991 808 f; Naucke NJW 1968 758 f; ders. NJW 1968 2321 ff; Messmer/Bergschneider DAR 1967 45 ff; Straßburg ZStW 82 (1970) 948, 967; vgl. auch Kohlmann S. 268 ff; Maurach/Zipf/Jäger § 12 Rdn. 8; Schmitz MK Rdn. 38; w.N. bei Neumann ZStW 103 (1991) 331, 332. 1817 So Hettinger/Engländer FS Meyer-Goßner 145, 157. 1818 So Sch/Schröder/Eser/Hecker § 2 Rdn. 7; H.L. Schreiber JZ 1973 713, 717; zustimmend Wassermann AK-GG Art. 103 Rdn. 51. 1819 So Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 45.

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die Rückwirkung eines Gesetzes seien.1820 Wenn man es – wie das Bundesverfassungsgericht – im Rahmen des Bestimmtheitsgebotes für möglich halte, dass die gesetzliche Bestimmtheit durch die Rechtsprechung geleistet werde (Rdn. 188), sei es nur konsequent, Gleiches für das Rückwirkungsverbot gelten zu lassen.1821 Weiterhin wird auf die rechtstheoretische Einsicht in die Fragwürdigkeit des syllo- 440 gistischen Modells, den verstärkten Einsatz von Generalklauseln in Strafgesetzen und die faktische Bindung der Strafgerichte an vorausgegangene Entscheidungen verwiesen, und hieraus auf die eigenständige Bedeutung des Richterrechts bei der Konkretisierung des Gesetzesrechts geschlossen. 1822 Da die Rechtsprechung zunehmend Funktionen übernehmen müsse, die zunächst die Gesetzgebung inne gehabt habe, bestehe angesichts der gesteigerten Bedeutung des Richterrechts die Notwendigkeit, Art. 103 Abs. 2 GG auch auf den Rechtsanwendungsbereich zu übertragen.1823 Deshalb spricht sich eine im Vordringen begriffene Mindermeinung für eine Anwendung des Rückwirkungsverbots auf Rechtsprechungsänderungen aus, die das strafrechtliche Unrecht modifizieren,1824 nicht hingegen auf Änderungen, welche die Rechtsprechung wegen einer Veränderung der Tatsachenbasis zu einer anderen rechtlichen Bewertung bestimmter Sachverhalte vornimmt (Rdn. 435). Hierbei finden sich insofern Differenzierungen, als unterschiedliche Anforderungen an die geänderte Rechtsprechung gestellt werden. Das Rückwirkungsverbot soll nach verbreiterter Auffassung jedenfalls dann eingreifen, wenn eine „völlig konforme“ und „formelhaft festgelegte“ Rechtsprechung geändert wird,1825 oder angesichts der Bedeutung der Rechtsänderung ein Eingreifen des Gesetzgebers zu erwarten gewesen wäre,1826 oder ein Fall einer „gesetzesergänzenden höchstrichterlichen Rechtsprechung“ in Frage steht.1827 dd) Einbeziehung der Rechtsprechungsänderung in den Anwendungsbereich 441 des Art. 103 Abs. 2 GG als Fall des Verfassungswandels. Es steht außer Frage, dass weder in der Zeit der Aufklärung noch während des 19. Jahrhunderts Rechtsprechungsänderungen dem „nulla poena“-Satz unterfielen.1828 Dieser Grundsatz betraf nur gesetzliche Regelungen. Wenn heute entgegen dem Wortlaut des Art. 103 Abs. 2 GG und der durch diese Verfassungsnorm intendierten Kompetenzverteilung die Rechtsprechungsänderung in den Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 2 GG erfolgen soll, stellt sich die

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1820 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 45; Kohlmann S. 269 ff; Mattil GA 1965 129 ff; Maurach/Zipf/Jäger § 12 Rdn. 8; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 2 Rdn. 9; vgl. auch Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 73; Hanack JZ 1967 297, 300. 1821 Hassemer/Kargl NK Rdn. 51 ff; v. Münch/Kunig/Kunig Art. 103 Rdn. 32a; Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 93 m.w.N.; Ransiek S. 22; Schmitz MK Rdn. 37; Umbach/Clemens/Zierlein Art. 103 Rdn. 148; vgl. auch Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 205 f. 1822 Näher zu diesen Veränderungen Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 370 ff; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 184 f. 1823 Kohlmann S. 268 ff; Ranft JuS 1992 468, 470; Schmitz MK Rdn. 37 f; H.L. Schreiber JZ 1973 713, 715 ff; Wassermann AK-GG Art. 103 Rdn. 51; Umbach/Clemens/Zierlein Art. 103 Rdn. 148. 1824 Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 74 f; Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 93; v. Münch/Kunig/Kunig Art. 103 Rdn. 32a; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 128. 1825 Groß GA 1971 13, 18 ff; Ha Belastende Rechtsprechungsänderungen (2000) S. 108 f, 252; Kohlmann S. 271 ff; Maurach/Zipf/Jäger § 12 Rdn. 8; Naucke NJW 1968 758 f; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 2 Rdn. 8 und 9; H.L. Schreiber JZ 1973 713 ff; Straßburg ZStW 82 (1970) 948, 964 ff; vgl. auch Hassemer/Kargl NK Rdn. 49 ff, 57 ff. 1826 So Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 45. 1827 Zustimmend Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 93; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 9; vgl. auch Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 128 ff. 1828 Vgl. nur H.L. Schreiber JZ 1973 713, 715.

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Frage nach der Zulässigkeit und den Grenzen des Verfassungswandels.1829 Eine solche Fortentwicklung ist auch bei Grundrechtsnormen zulässig, um den Schutz neu entstehender Formen nicht auszuschließen. Deshalb ist Art. 103 Abs. 2 GG gegebenenfalls der Entwicklung des Strafrechts anzupassen.1830 Für eine Anwendung von Art. 103 Abs. 2 GG spricht, dass die vom Bundesverfas442 sungsgericht tolerierte Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe in Strafgesetzen, um starre und kasuistische Gesetze zugunsten abstrakter, mit unterschiedlichen Problemlagen kompatibler Regelungen zu vermeiden, einen Verzicht auf Bestimmtheit und eine Kompetenzverlagerung vom Gesetzgeber auf die Gerichte zur Folge hat. Dies darf grundsätzlich nicht zu Lasten des Freiheitsschutzes des Bürgers gehen. Allerdings spricht gegen eine Öffnung des Art. 103 Abs. 2 GG, dass in dieser Vorschrift nicht nur die inhaltlichen Anforderungen an die Gesetzesbestimmtheit geregelt werden, sondern auch der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt als Postulat der Gewaltenteilung des Demokratieprinzips vorausgesetzt wird. Die Regelungen über die Kompetenzverteilung zwischen Gesetzgeber und Richter gehören aber zu den Normen, für die eine interpretatorische Schließung der Verfassung im Sinne einer Präzisierung und Festschreibung geboten ist.1831 Beim Rückwirkungsverbot steht demgegenüber der freiheitssichernde Aspekt und nicht die Gewaltenteilung im Vordergrund (Rdn. 53), so dass Art. 103 Abs. 2 GG insoweit zukunftsoffen ist, als ein weitergehender Schutz des Bürgers angesichts des Funktionswandels der Gerichte und der Unbestimmtheit der Gesetze in Frage steht. Die Notwendigkeit hierfür kann dann bejaht werden, wenn der bislang gewährleistete Schutz, der sich bei Rechtsprechungsänderungen auf den Aspekt des individuellen Vertrauensschutzes bezieht und dem durch das allgemeine Rückwirkungsverbot und den Schuldgrundsatz Rechnung getragen wird, nicht hinreichend ist. 443 Aus der Sicht des Bürgers stellt sich eine nachträgliche Rechtsänderung zunächst als Problem des Vertrauensschutzes dar.1832 Eine richterliche Praxis kann eine Vertrauensgrundlage schaffen, auf die sich der Bürger einstellen darf.1833 Vertrauensgrundlage ist dabei nicht der konkrete Spruch des Gerichts, die Rechtsanwendung auf den Einzelfall, sondern die generelle Auslegung des Gesetzes, der in der Rechtsanwendung verallgemeinerungsfähig gebildete Rechtssatz. Dem individuellen Vertrauensschutz kann dabei im Strafrecht bereits durch das Verschuldenserfordernis entsprochen werden. Aufgabe der Rechtsprechung ist es aber auch, die Rechtsordnung über den individuellen Fall hinaus zu strukturierten und die Verlässlichkeit der Rechtsordnung in ihrer Ausgestaltung durch die Gerichte sicherzustellen. Hierbei kommt es nicht auf die Kenntnis des Bürgers an.1834 Insoweit ist eine Verobjektivierung erforderlich, um der oben dargelegten übergreifenden Funktion der Rechtsprechung (Rdn. 440) Rechnung zu tragen. Diese Verobjektivierung des Vertrauensschutzes, die sich auch bei Art. 103 Abs. 2 GG findet (Rdn. 54), reicht jedoch noch nicht aus, um Art. 103 Abs. 2 GG auf Rechtsprechungsänderungen anzuwenden, denn dieses Grundrecht lässt keine Durchbrechung der Rechtssicherheit zugunsten der materiellen Gerechtigkeit zu und schließt jede Abwägung aus (zum absoluten Schutz des Rückwirkungsverbots vgl. Rdn. 363). Der Schritt

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1829 Zur Zulässigkeit des Verfassungswandels ohne Änderung des Verfassungstextes vgl. nur Bryde S. 254; Fiedler S. 147 ff; Rhinow S. 98. 1830 Eingehend dazu Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 372 ff. 1831 Bryde S. 279 ff; vgl. auch BVerfGE 9 268, 280; 22 106, 111. 1832 Grunsky S. 10 ff; Knittel S. 46; Müller-Dietz FS Maurach 41, 46; Robbers JZ 1988 485 ff; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 206. 1833 Vgl. nur H.-W. Arndt passim; Viets S. 151 ff. 1834 Viets S. 157; Bettermann AöR 106 (1981) 471, 477; Tiedemann Verfassungsrecht und Strafrecht S. 43 f; aA Weber-Dürler S. 245; Rüberg S. 174 ff.

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von einer strikten Gesetzesbindung zu einer gleichermaßen strengen Bindung der Gerichte an die bereits vorliegende Rechtsprechung wäre nur dann zulässig, wenn bei einer rückwirkenden Rechtsprechungsänderung dieselben Garantien wie bei einer Gesetzesänderung eingreifen. ee) Vertrauensschutz und Verlässlichkeit der Rechtsordnung – allgemeines 444 Rückwirkungsverbot. Auch unabhängig von Art. 103 Abs. 2 GG sind rückwirkende Rechtsprechungsänderungen verfassungsrechtlich nicht völlig unproblematisch. Denn aus der Sicht des Bürgers stellt sich eine nachträgliche Rechtsprechungsänderung als Problem des Vertrauensschutzes und der Verlässlichkeit der Rechtsordnung dar. Solche Änderungen sind an dem im Rechtsstaatprinzip enthaltenen Grundsatz des Vertrauensschutzes und dem hierauf beruhenden allgemeinen verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbot zu messen (Rdn. 3, 363), der bereits im außerstrafrechtlichen Bereich zur Folge hat, dass eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung nur durchbrochen werden darf, wenn dies durch deutlich überwiegende oder schlechthin zwingende Gründe geboten ist.1835 Gerade im Strafrecht darf der Vertrauensschutz jedenfalls im Grundsatz nicht der materiellen Gerechtigkeit geopfert werden.1836 Hierbei sind hohe Anforderungen an den verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz und die Verlässlichkeit der Rechtsordnung zu stellen. Dann kommt es aber nicht mehr auf die Vorschrift des § 17 Satz 1 über den Verbotsirrtum an, der nur einen einzelfallabhängigen Vertrauensschutz gewährt und deshalb teilweise zu Recht als die „nur zweitbeste“ Problemlösung angesehen wird.1837 Angesichts der hohen Anforderungen, welche die Rechtsprechung an die Unvermeidbarkeit der Verbotsunkenntnis stellt,1838 sowie angesichts der Tatsache, dass bereits derjenige, der das Unrechtmäßige seines Verhaltens nach „Laienart“ kennt,1839 weil er weiß, dass sein Verhalten „gemeinschaftswertwidrig“ und deshalb rechtlich verboten ist,1840 schließt nicht jede strafbarkeitsverschärfende Fehlvorstellung über das Verbotensein in der konkreten Tatsituation die Schuld und damit die Strafbarkeit aus. Daher setzt vorrangig das allgemeine verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot einer rückwirkenden Rechtsprechung Grenzen. ff) Strafrechtliche Grenzen rückwirkender Rechtsprechungsänderungen und 445 gerichtlicher Präzisierung von Normen. Während der Gesetzgeber Gesetzesänderungen frei vornehmen kann, ohne an seine bisherigen Entscheidungen gebunden zu sein, und deshalb dem uneingeschränkten Rückwirkungsverbot unterliegt, ist der Strafrichter mit der nachträglichen Aburteilung von Normverstößen befasst. Das Gesetzlichkeitsprinzip verlangt dabei von ihm, nur einen solchen Maßstab an das Verhalten des Beschuldigten anzulegen, den dieser schon zur Tatzeit gezielt ermitteln und seinen Tatentschluss daran ausrichten konnte (Rdn. 58). Im Strafrecht haben Richter die Aufgabe, die Normerwartung zu stabilisieren, die bereits zur Tatzeit bestand – dies allerdings nur in dem Umfang, in dem sie zum Urteilszeitpunkt noch besteht (Rdn. 369). Wenn sich dabei herausstellt, dass eine weitergehende Normerwartung zweckmäßig wäre, ist es grundsätzlich nicht Aufgabe der Gerichte, sondern die des Gesetzgebers, eine Änderung des

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1835 So BGHZ (GS) 85 64, 66; 87 150, 155; vgl. auch BSGE 51 31 ff; BAGE 45 277, 288 ff; dazu auch Rogall KK-OWiG § 3 Rdn. 49. 1836 Näher dazu Schlüchter Mittlerfunktion S. 115 ff m.w.N. 1837 Hassemer/Kargl NK Rdn. 58. 1838 Überblicke z.B. bei Neumann NK § 17 Rdn. 62 ff; Sch/Schröder/Sternberg-Lieben/Schuster § 17 Rdn. 14. 1839 BGHSt 10 35, 14. 1840 Jescheck/Weigend AT § 41 I 3a; Rogall SK § 17 Rdn. 5.

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Rechts herbeizuführen. Namentlich dann, wenn sich eine bestehende Rechtsprechung als mit geltendem Recht oder anderer Rechtsprechung inkonsistent erweist, muss aber die Möglichkeit einer Korrektur bestehen. Zudem ist auch die Präzisierung von Normen Aufgabe der Gerichte. Selbst dann, wenn schon zur Tatzeit erkennbar war, dass das Gericht Korrekturbedarf oder Präzisierungsbedarf feststellen könnte, war doch jedenfalls die in der neuen Rechtsprechung angenommene Regel meist nicht konkret vorhersehbar. Das Gesetzlichkeitsprinzip aber schützt vor der Anwendung von ex post bzw. ad hoc zum Nachteil des Adressaten aufgestellten oder geänderten Regeln. Eine Verurteilung darf daher nicht auf eine Fassung der Verhaltensregeln und Sanktionsnormen gestützt werden, die zur Tatzeit noch nicht in ihrem Bedeutungskern lag (Rdn. 291).1841 Gelangt das Gericht gleichwohl zur Überzeugung, einen eigentlich von den Vorschriften erfassten Fall ihnen bislang fälschlich noch nicht unterstellt zu haben (so dass auch der Gesetzgeber die Anordnung, ihn einzubeziehen, mit demselben Wortlaut wie dem bestehenden treffen könnte, vgl. Rdn. 201), so kann es eine entsprechende Rechtsprechungsänderung obiter dictum ankündigen1842 und so auf das künftige Verständnis der Vorschrift einwirken, darf aber noch nicht auf dieser Grundlage verurteilen. Es spricht viel dafür, schon bzgl. Art. 103 Abs. 2 GG den Verfassungswandel (Rdn. 441 ff) mit der Rechtsprechung zum Präzisierungsgebot (Rdn. 195) als so weit fortgeschritten anzusehen, dass ein Verstoß gegen die gerade formulierten Kriterien die Verfassungswidrigkeit der Entscheidung bedeuten würde.1843 Jedenfalls aber verstieße eine solche Entscheidung gegen die strafrechtliche Bedeutung des Gesetzlichkeitsprinzips (d.h. § 1). Dann wäre die Feststellung der Vorhersehbarkeit der konkreten neuen Rechtsprechung im Fall allein Sache der Fachgerichte und vom Bundesverfassungsgericht nicht vollständig überprüfbar. Es hat aber auch dann zu prüfen, ob die Fachgerichte überhaupt diesen Maßstab angelegt haben (vgl. auch hierzu Rdn. 291). Verletzt wurde er z.B. vom ersten Strafsenat des BGH in der ersten Zytostatika-Entscheidung zum Abrechnungsbetrug (BGHSt 57 312), in der das Gericht seine Neu-Interpretation des AMG sogar der Bestimmung der Bedeutung der Abrechnungserklärung zugrunde legte, obwohl weder der Erklärende noch der Empfänger sie kennen konnte. Ganz zu Recht ist dem in einem späteren entsprechenden Fall der fünfte Strafsenat des BGH entgegengetreten und hat dabei zugleich ausgeführt, wie sich zumindest in einer solchen Konstellation eine unzulässige Rückwirkung trotz Rechtsprechungsänderung schon bloß durch richtige Interpretation der Abrechnungserklärung (nach dem Empfängerhorizont bei der Tat) und damit richtige Anwendung des § 263 vermeiden lässt.1844 446

f) Bewältigung „vor-rechtsstaatlicher“ Vergangenheit und Rückwirkungsverbot: Spannungsverhältnis zwischen Rechtsstaatlichkeit und materieller Gerechtigkeit. Eine der zentralen Fragen des Rückwirkungsverbots ist, ob bzw. wie weit es einschränkbar ist. Trotz der absoluten Geltung des Rückwirkungsverbots hat die Rechtsprechung mehrfach Ausnahmen von diesem Grundsatz für zulässig angesehen. So wurden bereits kurz nach Inkrafttreten des Grundgesetzes besatzungsrechtliche Tatbestände rückwirkend angewandt.1845 Sodann hat das Rückwirkungsverbot eine erhebliche Auf-

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1841 Leite GA 2014 220, 231 ff. 1842 Zu den verschiedenen Möglichkeiten, eine Rechtsprechungsänderung anzuerkennen, die von der Änderungsankündigung mit Selbstbindung über die Ankündigung bloßer Zweifel bis zur Formfrage der Verwendung eines Leitsatzes oder eines bloßen obiter dictum in den Gründen reichen, Kohlmann S. 289 ff; H.L. Schreiber JZ 1973 713, 717 f. 1843 Kuhlen in Kudlich/Montiel/Schuhr S. 429, 438 f. 1844 BGH NStZ 2015 591; dazu Waßmer NZWiSt 2015 467 und Schuhr ZWH 2015 145. 1845 OGHSt 2 231, 232; OLG Hamm JMBlNW 1950 41 f.

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weichung im Zuge der sog. Mauerschützenprozesse gefunden: Bei der strafrechtlichen Aufarbeitung von Systemunrecht1846 geht es um den klassischen rechtsstaatlichen Insichkonflikt zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit.1847 So wurde im Zusammenhang mit der Verfolgung nationalsozialistischer Gewalttaten die Frage gestellt, ob Art. 103 Abs. 2 GG der Verwirklichung der Gerechtigkeit diene oder sich eher als Hindernis bei der Verwirklichung im Interesse der Rechtssicherheit darstelle.1848 Außerdem hat der Gesetzgeber mit Art. 315 Abs. 4 EGStGB eine Sonderregelung für Straftaten geschaffen, die bereits vor der Wiedervereinigung nach bundesdeutschem Recht strafbar waren; die Vereinbarkeit dieser Regelung mit Art. 103 Abs. 2 GG ist umstritten (näher dazu Rdn. 454 ff). aa) Strafverfolgung der „Mauerschützen“. Im Zusammenhang mit den Mauer- 447 schützenprozessen stellte sich die Frage, ob die Grenzsoldaten der ehemaligen DDR und die politisch Verantwortlichen trotz § 27 GrenzG, der den Schutzwaffeneinsatz gegen Flüchtlinge unter im Einzelnen genannten Voraussetzungen rechtfertigte,1849 und des staatlich verordneten Grenzregimes verurteilt werden konnten, obwohl nach der Rechtsordnung der ehemaligen DDR auch der Schusswaffengebrauch gegenüber Flüchtlingen rechtmäßig war. Die Rechtsprechung und Teile der Literatur bejahten die Strafbarkeit wegen offensichtlicher Menschenrechtswidrigkeit des Rechtfertigungsgrundes 1850 unter Heranziehung der „Radbruch’schen Formel“,1851 deren Stärke in der Anerkennung eines Kernbereichs des Unverfügbaren liegt,1852 obwohl für die Täter zur Zeit der Tat eine solche Gesetzesauslegung nicht gegolten hat.1853 BGHSt 41 101, 111 leitet das Vorliegen einer extremen Ausnahme, die im Sinne der in Radbruchs Konzept enthaltenen „Unerträglichkeitsformel“ zur Unverbindlichkeit eines Rechtfertigungsgrundes führen soll, aus einer Gesamtwertung des Grenzregimes her, und zwar unter Rückgriff auf Grundsätze des internationalen Menschenrechtsschutzes, was möglich sei, da sich die DDR zur Respektierung des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte verpflichtet und

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1846 Vgl. dazu etwa Bär Jura 1999 281 ff; Werle NJW 2001 3001. 1847 Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 74. 1848 Näher dazu Grünwald ZStW 76 (1964) 1, 12 f; H.L. Schreiber ZStW 80 (1968) 348 ff. 1849 Näher dazu Buchner S. 129; Rosenau S. 36 ff; Schlink NJ 1994 433, 434; vgl. auch Renzikowski ZStW 106 (1994) 93 ff. 1850 BGHSt 39 1, 10 ff, 14; 39 168, 183; 40 241, 244, 250; 41 101, 104 ff, 111 f; Alexy Mauerschützen S. 8 ff; Hassemer/Kargl NK Rdn. 48 m.w.N.; Herrmann NStZ 1993 118; kritisch dazu statt vieler Dannecker Jura 1994 585 ff; Gropp NJ 1996 393 ff; Arthur Kaufmann NJW 1995 81 ff; Jakobs GA 1994 1 ff; Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 96 m.w.N.; ders. VVDStRL 51 (1992) 91, 102 ff; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 131. 1851 Vgl. Radbruch Süddt. JZ 1946 105, 107. Diese Formel lautet: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ,unrichtiges‘ Recht der Gerechtigkeit zu weichen hat.“ Vgl. dazu BVerfGE 95 96, 134 f; BGHSt 39 1, 16 ff; 168, 181 ff; 40 241, 250; 41 101, 111 f; Dreier JZ 1997 421, 423 ff; Frommel FS Arthur Kaufmann 87 ff; Arthur Kaufmann NJW 1995 81 ff; Kreicker S. 28 ff m.w.N.; Laskowski JA 1994 151, 153 f; Lecheler, passim; Neumann NK § 17 Rdn. 101; Saliger S. 36 ff; kritisch dazu Dannecker/Stoffers JZ 1996 490; ablehnend Pawlik GA 1994 478 ff; eingehend auch Dreier JZ 1997 421, der darlegt, dass sich eine Strafbarkeit nicht mit Hilfe der Radbruchschen Formel begründen lässt. 1852 So v. Mangoldt/Klein/Starck/Nolte Art. 103 Abs. 2 Rdn. 132; ähnlich Alexy Mauerschützen S. 4. 1853 Eingehend dazu Arnold NJ 1997 115 ff; Dannecker Jura 1994 585, 592 f; Günther StV 1993 18, 23 f; Jakobs GA 1994 1, 7 ff, 12 ff; v. Münch/Kunig/Kunig Art. 103 Rdn. 34; v. Mangoldt/Klein/Starck/Nolte Art. 103 Abs. 2 Rdn. 126 ff; Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 95; Polakiewicz EuGRZ 1992 177, 187 f; Zielinski FS Grünwald 811 ff; aA Alexy Mauerschützen S. 30 ff.

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schon vorher stets verlautbart habe, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 zu beachten sei. Klarstellend hebt das Gericht hervor, dass die „Radbruch’sche Formel“ im Wege der menschenrechtsfreundlichen Auslegung konkretisiert werden könne, weil im geschriebenen Recht der DDR Möglichkeiten zu einer solchen Auslegung angelegt gewesen seien. Das Vertrauen in den Fortbestand einer bestimmten Staats- und Auslegungspraxis oder eines menschenrechtswidrigen Rechtfertigungsgrundes ist nach Auffassung der Rechtsprechung nicht schutzwürdig im Sinne des Rückwirkungsverbots (BGHSt 39 1, 14 ff; 168, 181; 40 241, 250; 41 101, 111 f).1854 Soweit eine menschenrechtskonforme Auslegung des Gesetzes nicht möglich ist, soll es von vornherein unwirksam und „überhaupt nicht Recht geworden“ sein (BGHSt 41 101, 112). Mit dieser Konstruktion wurde das Rückwirkungsverbot formal gewahrt, die Strafbarkeit aber mittelbar auf ungeschriebene Rechtsgrundsätze gestützt, die in der DDR von den Strafverfolgungsorganen jedenfalls in der Praxis nicht angewendet wurden. BVerfGE 95 96, 133 hat die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bestätigt, indem 448 es das Rückwirkungsverbot für die Fälle des Systemunrechts deutlich relativiert hat: Dieses Verbot finde „seine rechtsstaatliche Rechtfertigung in der besonderen Vertrauensgrundlage, welche die Strafgesetze tragen, wenn sie von einem an die Grundrechte gebundenen demokratischen Gesetzgeber erlassen werden“. Wo aber für schwerstes kriminelles Unrecht menschenrechtswidrige Rechtfertigungsgründe geschaffen werden, untersage das Gebot materieller Gerechtigkeit, das auch die Achtung der völkerrechtlich anerkannten Menschrechte umfasse, die Anwendung eines solchen Rechtfertigungsgrundes. Der strikte Schutz von Vertrauen durch Art. 103 Abs. 2 GG müsse dann zurücktreten. Andernfalls würde die Strafrechtspflege der Bundesrepublik in Widerspruch zu ihren rechtsstaatlichen Prämissen geraten.1855 Damit hat das Bundesverfassungsgericht im Ergebnis die im internationalen Recht zugelassene Einschränkung des Rückwirkungsverbots (Rdn. 11) in Art. 103 Abs. 2 GG hineininterpretiert. Es hat aber zugleich deutlich gemacht, dass es zu einer solchen Relativierung nur im Falle „dieser ganz besonderen Situation“ der strafrechtlichen Beurteilung „staatsverstärkter Kriminalität“ kommen darf. Für den „Normalfall bietet das unter den Bedingungen der Demokratie, der Gewaltenteilung und der Verpflichtung auf die Grundrechte zustande gekommene und damit den Forderungen materieller Gerechtigkeit prinzipiell genügende Strafrecht die rechtsstaatliche Anknüpfung für den von Art. 103 Abs. 2 GG gewährten […] Vertrauensschutz“.1856 449 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts für mit Art. 7 Abs. 1 EMRK (Rdn. 7) vereinbar erklärt und damit im vollen Umfange bestätigt.1857 Diese Entscheidung stimmt mit dem Standpunkt des Völkerrechts überein, das keine strikte Positivität für das Strafrecht fordert und die Lösung des Konflikts zwischen Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit seit dem International Military Tribunal-Statut von Nürnberg

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1854 Vgl. auch BVerfGE 95 96, 133 mit zustimmender Anm. Starck JZ 1997 148 ff; ferner Ambos JA 1997 988 ff; Classen GA 1998 215 ff; Kenntner NJW 1997 2298 ff; Krajewski JZ 1997 1054 ff; Sendler NJW 1997 3146 ff; K. Weber GA 1993 205 ff; Werle ZStW 109 (1997) 808, 826; kritisch dazu Dannecker Jura 1994 585, 588 ff; ders./Stoffers JZ 1996 490, 491 ff; Dreier JZ 1997 432 ff; Joerden GA 1997 210 ff. 1855 Zur Entscheidung BVerfGE 95 96 ff vgl. Ambos StV 1997 39 ff; Arnold JuS 1997 400 ff; Starck JZ 1997 147 ff; bestätigt von BVerfG EuGRZ 1997 413, 416 sowie von BVerfG NJW 1998 2585, 2587; NJW 2000 1480; vgl. dazu Classen GA 1998 215 ff; Dreier JZ 1997 421, 422; Ebert FS Müller-Dietz 171 ff; Rau NJW 2001 3008, 3012 f; Luther FS Bemmann 202, 222 ff; Wassermann AK-GG Art. 103 Rdn. 51a; Werle NJW 2001 3001, 3002 f. 1856 BVerfG NJW 1997 929, 930. 1857 EGMR (GK) Streletz, Kessler und Krenz/D, 22.3.2001, ECHR 2001-II, EuGRZ 2001 210 ff = NJW 2001 3035 m. Anm. Werle S. 3001, Rau S, 3008 und Roellecke S. 3024.

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in Fällen materiell schwersten Unrechts zugunsten der Einzelfallgerechtigkeit entscheidet;1858 eine solche Einschränkung entspricht auch der Europäischen Menschenrechtskonvention. Allerdings kann Art. 103 Abs. 2 GG nicht durch die Nürnberg-Klausel des Art. 7 Abs. 2 EMRK einschränkt werden (Rdn. 11), da die Menschenrechtskonvention nur im Rang eines einfachen Gesetzes gilt (Rdn. 6). Der EGMR stellt auf die einschlägigen Bestimmungen des DDR-Rechts ab und versucht nachzuweisen, dass bereits hiernach keine Rechtfertigungsgründe zum Tragen kamen.1859 Dies läuft jedoch im Ergebnis auf eine problematische, der damaligen Rechts- und Staatspraxis widersprechende Auslegung hinaus.1860 Diese Auffassung ist umso problematischer, als Art. 7 Abs. 1 EMRK ein subjektives Verständnis des Rückwirkungsverbots zugrunde liegt, so dass es darauf ankommt, ob der Täter die Strafbarkeit voraussehen konnte (Rdn. 8). Diese Voraussetzung konnte nur bei den Mitgliedern der politischen Entscheidungsorgane, nicht aber bei den bloßen Ausführungstätern (Grenzsoldaten) bejaht werden.1861 In der Literatur werden die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs und des Bun- 450 desverfassungsgerichts vielfach heftig kritisiert. Insbesondere wird auf die Widersprüchlichkeit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hingewiesen: Die Aussage, der nach der DDR-Staatspraxis bestehende Rechtfertigungsgrund als extremes staatliches Unrecht sei unbeachtlich und der strikte Vertrauensschutz des Art. 103 Abs. 2 GG müsse hinter das Gebot materieller Gerechtigkeit zurücktreten und damit das absolute Rückwirkungsverbot eine Einschränkung erfahren, sei mit den eigenen Prämissen des Gerichts nicht vereinbar, nach denen ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG vorliegen soll, wenn „die Bewertung des Unrechtsgehalts einer Tat nachträglich zum Nachteil des Täters geändert wird“ (so BVerfGE 95 96, 131). Der Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht verkennen in der Tat den Sinn des Art. 103 Abs. 2 GG (oben Rdn. 370 f), dessen Rückwirkungsverbot eine Bestrafung nur zulässt, wenn sie im Tatzeitpunkt für den Bürger vorhersehbar und berechenbar war.1862 Hierbei besteht die verfassungsrechtliche Notwendigkeit, ausschließlich auf das nach DDR-Verständnis geltende Recht, das heißt das nach bundesrepublikanischem Verständnis „pervertierte“ Recht der DDR, wie es der Bundesgerichtshof nennt,1863 abzustellen, wonach die DDR-Grenzsoldaten straflos waren.1864 Deshalb schützt das Rückwirkungsverbot den Bürger auch davor, dass die zum Tatzeitpunkt nach geltender Staats- und Auslegungspraxis verbürgte Straffreiheit nachträglich zu strafbarem Unrecht umgewertet wird.1865 Die Unbeachtlichkeit von Erlaubnissätzen darf im Strafrecht nicht aus naturrechtli- 451 chen Prinzipien abgeleitet werden.1866 Denn Art. 103 Abs. 2 GG schreibt für das Strafrecht

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1858 Werle NJW 2001 3001, 3002; zustimmend Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 74 f. 1859 EGMR Streletz, Kessler und Krenz/ D, §§ 53 ff; zustimmend A. Peters/Altwicker EMRK § 23 Rdn. 10; vgl. ferner Cornils in Menzel/Pierlings/Hoffmann Völkerrechtsprechung S. 537 ff; Demko HRRS 2004 19, 22 ff; Werle NJW 2001 3001, 3004 f. 1860 Kritisch Ambos Internationales Strafrecht § 10 Rdn. 130 m.w.N.; Arnold/Karstens/Kreicker NJ 2001 561, 564 f; Rau NJW 2001 3008 ff; Roellecke NJW 2001 3024 ff. 1861 Ambos KritV 2003 31, 41; ders. Internationales Strafrecht § 10 Rdn. 130. 1862 Näher dazu Dannecker Jura 1994 584, 592 f; ders./Stoffers JZ 1996 490, 492. 1863 BGH NJW 1995 2728, 2732. 1864 So zuerst Jakobs in Isensee Vergangenheitsbewältigung (1992) S. 37, 53; ders. GA 1994 1, 16; zustimmend Dannecker Jura 1994 585, 593; Dannecker/Stoffers JZ 1996 490, 493 f; ähnlich Grünwald StV 1991 31, 33; Isensee in ders. Vergangenheitsbewältigung (1992) S. 91, 104 f; zur Notwendigkeit, auf die Anwendungspraxis in der DDR-Rechtsordnung abzustellen, vgl. auch Alexy Tötungen S. 8; Dreier JZ 1997 421, 426 f; Arthur Kaufmann NJW 1995 81, 82; Günther StV 1993 19 ff; Rosenau S. 176 ff; Pawlik GA 1994 472, 474; aA BGHSt 39 1, 23 ff; 41 101, 110 ff; Erb ZStW 108 (1996) 266, 276 ff; Schroeder JZ 1992 990, 991. 1865 So zutreffend Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 96. 1866 Vgl. dazu St. Zimmermann JuS 1996 865, 869 m.w.N.

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zwingend einen positivistischen Ansatz vor. Die Geltung strikter Positivität im Strafrecht manifestiert sich auch darin, dass Art. 7 Abs. 1 EMRK, der das Rückwirkungsverbot international regelt (Rdn. 10), von der Bundesregierung insoweit nicht ratifiziert worden ist, als in Art. 7 Abs. 2 EMRK eine Ausnahme vom Rückwirkungsverbot vorgesehen ist.1867 Diese Ausnahme hat zur Folge, dass „die Verurteilung oder Bestrafung einer Person nicht ausgeschlossen werden (darf), die sich einer Handlung oder Unterlassung schuldig gemacht hat, welche im Zeitpunkt ihrer Begehung nach den allgemeinen von den zivilisierten Völkern anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar war“ (Art. 7 Abs. 2 EMRK; dazu Rdn. 11). Damit gilt aber das Erfordernis strikter Positivität ohne jede Einschränkung. Unter Zugrundelegung dieses Ansatzes führt die faktische Nichtahndung von Rechtsgutsverletzungen, die auf Veranlassung oder unter Duldung des SED-Regimes verübt worden sind, dazu, dass den Handlungen der Charakter von „Straftaten“ im Sinne des zur Tatzeit geltenden Rechts der DDR fehlte.1868 Hierbei muss auf die DDR-immanenten Maßstäbe abgestellt werden, wie sie zum Tatzeitpunkt vertreten wurden, um die in der DDR gewährten Straffreistellungen zu entkräften.1869 Eine normative Korrektur dieser „faktisch gelebten Verfassung“ der DDR würde eine Bagatellisierung der innerstaatlichen Wirklichkeit der DDR darstellen.1870 Daher durfte der Rechtfertigungsgrund des § 27 GrenzG nur in Fällen außer Betracht bleiben, in denen das Verhalten des Täters bereits durch diese Norm nicht gedeckt war.1871 Dies war insbesondere bei Exzesstaten der Fall, die auf Schieß- oder Geheimbefehlen beruhten, die auch im Kontext des DDR-Systems mit dem Grenzgesetz oder mit der allgemein praktizierten „Befehlslage“ unvereinbar waren.1872 Auch wenn die rechtspolitischen Erwägungen des Bundesgerichtshofs berechtigt 452 waren, hätte die Durchbrechung des Rückwirkungsverbots einer Einschränkung des Art. 103 Abs. 2 GG im Wege der Verfassungsänderung nach Art. 79 GG bedurft.1873 In Bezug auf die strafrechtliche Verfolgung der NS-Verbrechen hat bereits Hart gefordert: „Wenn überhaupt dieses Prinzip (nullum crimen, nulla poena sine lege) angetastet werden soll, um das, was man für ein größeres Übel als die Opferung des Prinzips hält, abzuwenden, dann ist es entscheidend, dass die in Frage stehenden Probleme klar identifiziert werden. Ein Fall rückwirkender Strafe sollte nicht wie eine gewöhnliche Bestrafung für eine zur Tatzeit unrechtmäßige Handlung aussehen.“1874 Die kontroverse Diskussion über die rechtsstaatlichen Grenzen des Rückwirkungsverbots im Zusammenhang mit der strafrechtlichen Aufarbeitung der Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze sollte dem Gesetzgeber Anlass geben, eine eingehende Debatte über die Zulässigkeit und Grenzen eines Eingriffs in die als Grundrecht gewährleistete Vorhersehbarkeit und Bestimmtheit der Strafbarkeit für den Bürger, die zum Kernbereich des Rechtsstaatsprinzips gehört, zu führen und einen Ausgleich zwischen formeller und materieller Rechtssicherheit zu suchen. Als eng begrenzte Ausnahme vom Rückwirkungsverbot könnte in Anlehnung an den Begriff des „international crime“ eine Einschränkung des gegenwärtig abso-

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1867 Näher dazu Grünwald Blätter für deutsche und internationale Politik 1999 1489, 1495. 1868 Vgl. nur Laskowski JA 1994 151, 163; St. Zimmermann JuS 1996 865, 868 f. 1869 Näher dazu Dannecker Jura 1994 584, 585 f. 1870 So Jakobs GA 1994 1, 7, 9. 1871 Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 96; Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 57; vgl. auch Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 131. 1872 Lackner/Kühl/Kühl § 2 Rdn. 16a; aA Jakobs GA 1994 1, 9 f; Isensee in ders. Vergangenheitsbewältigung(1992) S. 91, 105. 1873 Dannecker Jura 1994 584, 594 f; Dannecker/Stoffers JZ 1996 490, 494; Frister AT 4. Kap. Rdn. 34. 1874 Hart S. 291 f.

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lut geltenden Rückwirkungsverbotes vorgenommen werden, um für zukünftige Fälle Rechtssicherheit zu schaffen und Aufweichungstendenzen entgegenzuwirken, wie sie sich in der höchstrichterlichen Rechtsprechung finden. bb) Strafverfolgung wegen Rechtsbeugung und Spionagetätigkeit. In den Fällen 453 der Rechtsbeugung durch DDR-Richter und Staatsanwälte hat die Rechtsprechung in der 1993 getroffenen Leitentscheidung (BGHSt 40 30, 32) dargelegt, dass ein ehemaliger DDR-Richter nur wegen solcher Handlungen bestraft werden kann, die sowohl den seinerzeit geltenden Rechtsbeugungstatbestand des § 224 DDR-StGB erfüllt haben, als auch dem des Strafgesetzbuchs (§ 339, damals § 336) unterfielen.1875 Das Vorliegen dieser Voraussetzungen hielt der Bundesgerichtshof für grundsätzlich möglich,1876 leitete aber aus dem Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG her, dass eine realistische Bestimmung des in der DDR geltenden Rechts geboten und zu beachten sei.1877 Eine Rechtsbeugung komme daher, wenn man von Einzelexzessen absehe, nur in Fällen in Betracht, in denen die Rechtswidrigkeit der Entscheidung auf einem offensichtlichen Verstoß gegen die Grenzen der materiellen Gerechtigkeit beruhte und insbesondere gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte verstieß, so dass sich die Entscheidung als Willkürakt darstellt.1878 Hierfür kommt es darauf an, ob eine durch Willkür gekennzeichnete schwere Menschenrechtsverletzung vorlag.1879 Hierbei ist – ebenso wie bei den Schüssen an der innerdeutschen Grenze – auf das in der DDR geltende Recht abzustellen (Rdn. 450). Hingegen ist die Strafverfolgung ehemaliger Mitarbeiter der Geheimdienste der DDR 454 kein Problem des Art. 103 Abs. 2 GG. Denn die gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtete Spionage1880 war schon vor dem Beitritt der DDR aufgrund der §§ 3 ff nach bundesdeutschem Recht strafbar,1881 so dass es nicht um die rückwirkende Schaffung eines neuen Straftatbestandes ging.1882 Für bereits vor dem Beitritt der ehemaligen DDR strafbare Taten regelt Art. 315 Abs. 4 EGStGB, dass sich die Strafbarkeit allein nach bundesdeutschem Strafrecht bestimmt (§ 2 Rdn. 184 f). Hiernach ist es irrelevant, ob das Verhalten auch nach dem Recht der DDR strafbar war. Außerdem wird eine Anwendung des § 2 ausgeschlossen, so dass sich das DDR-Strafgesetzbuch nicht als strafmildernd auswirken kann.

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1875 BGHSt 40 30, 32. 1876 BGHSt 40 30, 34 ff. 1877 BGHSt 40 30, 40 f. 1878 BGHSt 40 30, 41; 40 169, 179; 40 272, 277; vgl. dazu Anm. Spendel JR 1995 214; 41 157, 164; 41 247, 253 ff; 41 317, 327 mit Anm. Maiwald JZ 1996 866; BGH NStZ 1996 386; NStZ 1999 562; NStZ 2000 91; NStZ-RR 2000 302; jeweils m.w.N.; vgl. dazu Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 74; Lackner/Kühl/Kühl § 2 Rdn. 19 m.w.N.; Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 97; Umbach/Clemens/Zierlein Art. 103 Rdn. 166. 1879 BVerfG NJW 1998 2587, 2589; BGHSt 41 247, 253 ff; 41 317, 321; 43 183, 190 mit Anm. Müller NStZ 1998 195; Lackner/Kühl/Kühl § 2 Rdn. 19 m.w.N.; zusammenfassend zur Rechtsprechung Amelung GA 1996 51 ff; Wassermann FS Kaiser 1405 ff. 1880 Zur Vereinbarkeit der Spionagestrafbarkeit mit Art. 3 GG vgl. BGH NJW 1991 931 f; KG Berlin NJW 1991 2502 f; Lippold NJW 1992 20 ff; Simma/Volk NJW 1991 871, 873; Wilke NJW 1991 2465; aA Widmaier NJW 1990 3169, 3171 f; zur völkerrechtliche Zulässigkeit der Spionage in Friedenszeiten vgl. BGH NJW 1991 929; NJW 1991 2500; Lippold NJW 1992 19 f; Simma/Volk NJW 1991 871, 873. 1881 Vgl. BGH NJW 1991 929; NJW 1991 2498; KG NJW 1991 2501; vgl. dazu Lüderssen StV 1991 482, 483 f. 1882 BVerfGE 92 277, 323 f; BayObLG NStZ 1992 281, 282; Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 285; Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 74; Jarass/Pieroth/Pieroth Art. 103 Rdn. 97; Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 131; Widmaier NJW 1991 2460, 2462 ff; Umbach/Clemens/Zierlein Art. 103 Rdn. 165; aA Rittstieg NJW 1994 912 f.

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In der Literatur wird die Vereinbarkeit dieser Regelung mit Art. 103 Abs. 2 GG teilweise in Frage gestellt.1883 Hierfür finden sich zwei Begründungsansätze: Classen1884 beruft sich auf die Rechtsnachfolgetheorie Samsons, nach der Beitritt und Inkrafttreten der bundesdeutschen Rechtsordnung durch eine logische Sekunde voneinander zu trennen sei, in der auf dem Gebiet der DDR deren Recht weiter gegolten habe. Eine logische Sekunde später sei durch den Einigungsvertrag die zunächst eingetretene Straflosigkeit rückwirkend beseitigt worden. Dagegen spricht jedoch, dass die Rechtsordnung der DDR nach dem Einigungsvertrag untergegangen und die Bundesrepublik auf das Beitrittsgebiet ausgedehnt worden. Daher kann diese Auffassung nicht überzeugen.1885 Gewichtiger ist der zweite Einwand, man dürfe nicht vom Standpunkt der in ihrer 456 Identität noch fortbestehenden Bundesrepublik aus beurteilen, was sich als Rückwirkung darstelle. Verfassungsrechtliches Leitmaß könnten lediglich die Interessen der alten Bundesrepublik sein; ihnen gleichberechtigt seien die Belange der neuen Bürger, zumal wenn es darum gehe, dass in ihre durch das Grundgesetz neu gewonnene Freiheit eingegriffen werde.1886 Gesetzlich bestimmt im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG sei die Strafbarkeit nur dann, wenn sie auf den eigenen Gesetzen des betreffenden Staates beruhe, hier also auf den Gesetzen der ehemaligen DDR. Wenn man jedoch darauf abstellt, dass das Rückwirkungsverbot eine nachträgliche Umbewertung zu Lasten der Bürger verbietet, um Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit für den Bürger sicherzustellen, so sind die Anforderungen erfüllt, da gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichteten Spionagehandlungen von DDR-Bürgern schon vor dem 3.10.1990 strafbar waren. Die bloße Ausdehnung des Staatsgebietes unter Beibehaltung der schon zuvor geltenden strafrechtlichen Bewertungen beinhaltet keine Umbewertung, sondern ein Festhalten an der schon immer bestehenden strafrechtlichen Bewertung.1887 Der Umstand, dass erst der Beitritt den faktischen Zugriff der Strafverfolgungsbehörden ermöglicht hat, ist kein unter Art. 103 Abs. 2 GG fallender Sachverhalt.1888

Anhang zu § 1 Wahlfeststellung Erster Abschnitt. Das Strafgesetz Wahlfeststellung Dannecker/Schuhr Anh zu § 1 https://doi.org/10.1515/9783110300413-003

Schrifttum Vor 1935. Arnold Die Fragenstellung an die Geschworenen, GS 1 (1855) 189; Hahn Die gesamten Materialien zur Strafprozeßordnung, 1. Abt. 2. Aufl. (1885); Mayer, H. Anmerkung zu RG JW 1934, 294, JW 1934 294; Nüse Das Problem der Zulässigkeit von Alternativschuldfeststellungen im Strafprozeß (1933); Rumpf Der Richter und die Verbrechensbekämpfung im neuen Strafrecht, DRiZ 1913 Sp. 768; ders. Der Strafrichter, Bd. II Heft 2 (1913); Tippelskirch, v. Über alternative Fragen und tatsächliche Feststellungen im Strafverfahren, GA 1867 449; Zeiler Verurteilung auf Grund wahldeutiger Tatsachenfeststellung, ZStW 40 (1919) 168, 42 (1921) 665; ders. Noch einmal die Verurteilung auf Grund wahldeutiger Tatsachenfeststellung, ZStW 43 (1922) 596.

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1883 C. Arndt NJW 1991 2466, 2467; Classen JZ 1991 717; Widmaier NJW 1991 2460; vgl. auch Ignor/Müller StV 1991 573, 575 f. 1884 Classen JZ 1991 717, 718 f. 1885 Vgl. nur Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 285 f m.w.N. 1886 So Ignor/Müller StV 1991 573, 576. 1887 Dannecker Das intertemporale Strafrecht S. 287. 1888 Maunz/Dürig/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rdn. 131 m.w.N.; zustimmend Umbach/Clemens/Zierlein Art. 103 Rdn. 165.

Dannecker/Schuhr https://doi.org/10.1515/9783110300413-003

284

Wahlfeststellung | Anh zu § 1

1935 bis 1945. Bruns Die „Bestrafung nach dem mildesten Gesetz“ bei wahldeutiger Tatsachenfeststellung (§ 2b StGB), DStR 1936 277; Dohna, Graf zu Das alternative Strafurteil, ZStW 55 (1936) 576; Oetker Alternative Schuldfeststellungen, GS 106 (1935) 401. Nach 1946. Alwart Darf ein Angeklagter aus Mangel an Beweisen verurteilt werden? GA 1992 545; Bauer Erneute Neubestimmung des prozessualen Tatbegriffs als Konsequenz der Postpendenz-Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, wistra 1990 218; ders. Anmerkung zum Anfragebeschluss in der Sache 2 StR 495/12, wistra 2014 475; Baumann Verurteilung aufgrund wahldeutiger Tatsachengrundlage, JZ 1983 116; Baur Die ungleichartige Wahlfeststellung nach der Entscheidung des Großen Strafsenats, JA 2018 568; Beulke/Fahl Prozessualer Tatbegriff und Wahlfeststellung, wistra 1998 262; Breucker Zulässigkeit der Wahlfeststellung (1964); Brodowski Unzulässigkeit ungleichartiger Wahlfeststellung, hier: Rücknahme einer Vorlage an den Großen Senat für Strafsachen, StV 2017 818; Ceffinato Das Institut der Wahlfeststellung und seine verfassungsmäßige Zulässigkeit, Jura 2014 655; Dallinger Aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, MDR 1951 403, 1953 18, 1957 395, 1958 738, 1967 547, 1968 372, 1972 922; Dencker § 323 a StGB – Tatbestand oder Schuldform? JZ 1984 453; Deubner Die Grenzen der Wahlfeststellung, JuS 1962 21; ders. Zum Verhältnis von Abzahlungsbetrug und Unterschlagung, NJW 1962 94; ders. Wahldeutige Verurteilung hinsichtlich schweren Raubes oder Hehlerei, NJW 1967 738; ders. Notwehrlage bei Streit unter Ehegatten, NJW 1969 1184; ders. Strafbarkeit wegen Verführung bei nicht nachgewiesener Vergewaltigung einer Minderjährigen, NJW 1969 147; Dingeldey Abgrenzung zwischen Wahlfeststellung und dem Grundsatz „in dubio pro reo“, NStZ 1983 166; Dreher Rechtsprechung Strafrecht – Bundesgerichtshof, MDR 1957 177; ders. Im Irrgarten der Wahlfeststellung, MDR 1970 369; ders. Wahlfeststellung und prozessualer Tatbegriff (1999); Duttge/Sotelsek „Freifahrtschein“ für Unterschlagungstäter? NJW 2002 3756; Ebner/Papathanasiou Anmerkung zu BGH, Beschl. v. 16.8.2016 – 5 StR 182/16, ZWH 2017 14; Endruweit Die Wahlfeststellung und die Problematik der Überzeugungsbildung, der Identitätsbestimmung der Urteilssyllogistik sowie der sozialen und personalen Gleichwertigkeit von Straftaten (1973); Eschenbach Vom unklaren strafrechtlichen Sachverhalt zur Unsicherheit in der Lösung, Jura 1994 302; Eser Die Tötungsdelikte in der Rechtsprechung zwischen BVerfGE 45, 187 und BGH-GSSt 1/81 – 1. Teil, Jura 1981 383; Fahl Aus der Praxis – Der gestohlene Jaguar, NStZ 1981 903; Fleck Zum Problem einer Verurteilung aufgrund mehrdeutiger Tatsachenfeststellung (§ 100 Abs. 1 und § 100a Abs. 2 StGB), GA 1966 334; Freund Äußerlich verkehrsgerechtes Verhalten als Straftat? JuS 2000 754; ders. Nicht „entweder – oder“, sondern „weder – noch“! Festschrift Wolter (2013) 35; Freund/Putz Materiellrechtliche Strafbarkeit und formelle Subsidiarität der Unterschlagung (§ 246 StGB) wörtlich genommen, NStZ 2003 242; Schlusswort – Zum Streit um die gesetzesalternative (sogenannte „echte“) Wahlfeststellung, JZ 2015 716; dies. Verfassungswidrigkeit des wahldeutigen Schuldspruchs, JZ 2015 164; Frister Anmerkung zum Anfragebeschluss in der Sache 2 StR 495/12, StV 2014 584; Fuchs Die Wahlfeststellung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht (1962); ders. Die Wahlfeststellung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht, GA 1964 65; ders. Wahlfeststellung und Tatidentität, NJW 1966 1110; ders. Zur Wahlfeststellung, DRiZ 1967 16; ders. Zweifel über Täter- oder Gehilfeneigenschaft des Angeklagten, NJW 1967 739; ders. Anmerkung zu BGH NJW 70, 1052, NJW 1970 1052; Geppert Zum Verhältnis von Täterschaft/Teilnahme an der Vortat und sich anschließender Hehlerei (§ 259 StGB), Jura 1994 100; Greff Die strafverfahrensrechtliche Bewältigung wahldeutiger Verurteilungen bei mehreren prozessualen Taten (2002); Gribbohm Nationalsozialismus und Strafrechtspraxis, NJW 1988 2842; Günther Verurteilungen im Strafprozeß trotz subsumtionsrelevanter Tatsachenzweifel (1976); ders. Wahlfeststellung zwischen Betrug und Unterschlagung? JZ 1976 665; ders. Zur Wahlfeststellung zwischen BtMG § 11 Abs. 1 Nr. 4 und versuchter Strafvereitelung, JR 1982 81; ders. Anmerkung zu BGHSt 30, 77, JR 1982 81; Haas Anmerkungen zur Verfassungsmäßigkeit der ungleichartigen Wahlfeststellung anlässlich des Vorlagebeschlusses des 2. Senats vom März letzten Jahres (2 StR 495/12), HRRS 2016 190; Hardtung Gegen die Vorprüfung beim Versuch, Jura 1996 293; Hardwig Studien zum Vollrauschtatbestand, Festschrift Eb. Schmidt (1961) 459; Hecker Strafrecht AT: Stufenverhältnis und ungleichartige Wahlfeststellung, JuS 2018 1009; Heinitz Die Grenzen der zulässigen Wahlfeststellung im Strafprozeß, JZ 1952 100; ders. Zum Verhältnis der Wahlfeststellung zum Satz in dubio pro reo, JR 1957 126; Heiß Verurteilung nach § 323a StGB trotz Zweifel über das Vorliegen eines Vollrausches? NStZ 1983 67; Henkel Strafverfahrensrecht. Ein Lehrbuch (1953); Herlan Aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, MDR 1954 528; Herzberg Der Vorsatz als „Schuldform“ als „aliud“ zur Fahrlässigkeit und als „Wissen und Wollen“? Festgabe BGH 50 (2000) 51; Hippel, v. Zum Problem der Wahlfeststellung, NJW 1963 1533; Hobbes Leviathan (1651/1668); Holtz Aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, MDR 1977 281, 1979 279, 1979 634, 1980 628, 1981 266, 1984 625, 1984 89, 1986 793, 1989 109,

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Anh zu § 1 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

1992 631; Hruschka Zum Problem der „Wahlfeststellung“, MDR 1967 265; ders. Die Dogmatik der Dauerstraftaten und das Problem der Tatbeendigung, GA 1968 193; ders. Zur Logik und Dogmatik von Verurteilungen aufgrund mehrdeutiger Beweisergebnisse im Strafprozeß, JZ 1970 637; ders. „Wahlfeststellung“ zwischen Diebstahl und sachlicher Begünstigung? NJW 1971 1392; ders. Wahlweise Verurteilung bei der Alternative schwerer Raub oder Unterschlagung, NJW 1973 1804; ders. Anmerkung zu BayObLGSt 1977, 35, JR 1978 26; ders. Zur Frage der rechtsethischen und psychologischen Gleichwertigkeit von Meineid und falscher Verdächtigung, JR 1978 26; ders. Alternativfeststellung zwischen Anstiftung und sog. psychischer Beihilfe, JR 1983 177; Jahn Anmerkung zu BGH, Beschl. v. 8.5.2017 – GSSt 1/17, NJW 2017 2846; Jakobs Probleme der Wahlfeststellung, GA 1971 257; Joerden Dyadische Fallsysteme im Strafrecht (1986); ders. Postpendenz- und Präpendenzfeststellungen im Strafverfahren, JZ 1988 847; Kaufmann/Neumann Der vorgetäuschte Selbstmord, JuS 1981 670; Köchel/Wilhelm Zu den Möglichkeiten echter Wahlfeststellung zwischen Strafvereitelung und falscher Verdächtigung, ZJS 2014 269; Koffka Anmerkung zu BayObLG JR 1965, 428, JR 1965 430; Kohlhaas Die praktische Strafrechtsarbeit, JuS 1966 280; König Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr durch „verkehrsgerechtes Verhalten“, JA 2000 777; Kopp Rechtsprechung Strafrecht – Verkehrsstrafrecht, JA 2000 365; Körner Verurteilung wegen Geldwäsche bei möglicher Beteiligung an der Vortat, wistra 1995 311; Kotsoglou Über die Wahlfeststellung als Zombie-Norm, ZStW 127 (2015) 334; Krahl Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs zum Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht (1986); Kratzsch Prozessuale Voraussetzungen der Wahlfeststellung, JA 1983 338; Krell Praxiskommentar zu BGH, Beschl. v. 7.2.2018 – 2 StR 545/17, NStZ 2018 466; Kröpil Prozessualer Tatbegriff und Wahlfeststellung, NJW 1988 1188; ders. Die Entwicklung der echten Wahlfeststellung in der Rechtsprechung und ihr bevorstehendes Ende, JR 2015 116; Kruse Wahlfeststellung in Gutachten, Strafurteil und Anklageschrift, Jura 2008 173; Kudlich Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr trotz äußerlich ordnungsgemäßen Verhaltens, StV 2000 23; ders. Aus der Praxis: Die in der Hauptverhandlung festgestellte Wahlfeststellung, JuS 2005 236; ders. Anmerkung zu BGH, Beschl. v. 5.3.2013 – 1 StR 613/12, ZWH 2013 271; ders. Also doch: Es bleibt bei der Wahlfeststellung, JA 2017 870; ders. Diebstahl oder Erpressung? „Jedenfalls böse“ genügt nicht …, JA 2018 549; Kühl Die Beendigung des vorsätzlichen Begehungsdelikts (1974); Küper Die Richteridee der Strafprozeßordnung und ihre geschichtlichen Grundlagen (1967) (zit. Küper Richteridee); ders. Probleme der „Postpendenzfeststellung“ im Strafverfahren, Festschrift Lange (1976) 65; ders. Wahlfeststellung und Anwendung des § 158 StGB bei einander widersprechenden Zeugenaussagen, NJW 1976 1828; ders. Probleme der Hehlerei bei ungewisser Vortatbeteiligung (1989) (zit. Küper Probleme); Lindner Die Zukunft der Wahlfeststellung, ZIS 2017 311; Lochmüller Die Wahlfeststellung im Strafprozeß (1954); Löhr „In dubio pro reo“ und Wahlfeststellung, JuS 1976 715; Mitsch Wahlfeststellung und Jugendstrafrecht, JR 2017 8; Montenbruck Wahlfeststellung und Werttypus in Strafrecht und Strafprozeßrecht (1976); ders. Wahlfeststellung und kein Ende, GA 1988 531; Neuhaus Der strafprozessuale Tatbegriff und seine Identität (2. Teil), MDR 1989 213; Norousi Grundfälle zur Wahlfeststellung, Präpendenz und Postpendenz, JuS 2008 17 (1. Teil), 113 (2. Teil); Nüse Die Zulässigkeit von wahlweisen Feststellungen, GA 1953 33; Otto „In dubio pro reo“ und Wahlfeststellung, Festschrift Peters (1974) 373; ders. Anmerkung zu BGH, Urt. v. 5.9.1989 – 1 StR 393/89, JR 1990, 471, JR 1990 205; Pauli Die Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen zwischen 1933 und 1945 und ihre Fortentwicklung in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (1992); Peters Mehrere Schüsse bei einer Tötung, GA 1958 97; Pohlreich Die Vereinbarkeit der echten Wahlfeststellung mit dem Grundgesetz, ZStW 128 (2016) 676; Prittwitz/Scholderer Ist der ungeschützte Sexualverkehr eines Aids-Infizierten eine gefährliche Körperverletzung? NStZ 1990 385; Ranft Grundprobleme des Vollrauschtatbestandes (§ 323a StGB) (1. Teil), JA 1983 193; ders. Strafprozessrecht, 5. Aufl. (2005); Richter, C. Zur Anwendung des Grundsatzes „in dubio pro reo“ und der Konstruktion der Wahlfeststellung, Jura 1994 130; Rieß Anklage beim LG zum Zweck der Verbindung, NStZ 1992 548; ders. Darf eine an sich bei dem Amtsgericht zu erhebende Anklage mit dem Ziel einer Verbindung mit einer beim Landgericht schon anhängigen Strafsache dort erhoben werden? NStZ 1992 548; Röhmel Die Wahlfeststellung, JA 1975 371; Rudolphi Wahlfeststellung wegen versuchter und vollendeter gefährlicher Körperverletzung, JZ 1990 197; Sax Zur Wahlfeststellung bei Wahldeutigkeit mehrerer Taten, JZ 1965 745; Schaffstein Die neuen Voraussetzungen der Wahlfeststellung im Strafverfahren, NJW 1952 725; Schewe Anmerkung zu BGH, Beschl. v. 18.8.1983 – 4 StR 142/82, Blutalkohol 20 (1983) 526; Schlüchter Zur Teilanfechtung bei ungleichartiger Wahlfeststellung, JR 1989 48; Schmitt Falschaussage, NJW 1957 1886; Schmoller Alternative Tatsachenaufklärung im Strafrecht (1986); ders. Zur Verabredung eines Verbrechens, JR 1993 247; Schneidewin Vollrausch und Wahlfeststellung, JZ 1957 324; Schönke Anmerkung zu OLG Braunschweig JZ 1951, 235, JZ 1951 235; Schorn Die Problematik wahlweiser Feststellungen im Strafprozeß, DRiZ

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Wahlfeststellung | Anh zu § 1

1964 45; Schröder, H. Anmerkung zu BGH, JR 1964, 225, JR 1964 227; ders. Anmerkung zu BGHSt 23, 203, JZ 1970 422; ders. Anmerkung zu BGHSt 23, 360, JZ 1971 141; ders. Wahlfeststellung und Anklageprinzip, NJW 1985 780; Schröder, Th. Aus der Praxis: Die in der Hauptverhandlung festgestellte Wahlfeststellung – Die Sicht der Verteidigung, JuS 2005 707; Schuhr Betrug vs. Computerbetrug, ZWH 2012 48; ders. Wahlfeststellung und strafrechtliches Gesetzlichkeitsprinzip, NStZ 2014 437; Schulz Wahlfeststellung und Tatbestandsreduktion, JuS 1974 635; ders. Wahlweise Feststellung einer nicht verwirklichten Straftat? NJW 1983 265; Schwarz Rauschtat in Wahlschuldfeststellung, NJW 1957 401; Siever Das Verhältnis der wahldeutigen Feststellung zu dem Grundsatz in „in dubio pro reo“ (1950); Spendel Zur Verurteilung wegen vorsätzlichen Vollrauschs im Rückfall, JR 1985 293; Spree Anwendung des Grundsatzes „in dubio pro reo“ bei der Anwendung von § 158 StGB, JR 1976 470; Stein Strafprozessualer Tatbegriff und Alternativität von Vorwürfen, JR 1980 444; Stuckenberg Zur Verfassungsmäßigkeit der echten Wahlfeststellung, ZIS 2014 461; ders. Erwiderung – Zum Streit um die echte Wahlfeststellung, JZ 2015 714; ders. Anmerkung zu BGH, Beschl. v. 8.5.2017 – GSSt 1/17, StV 2017 815; Tag Nichtanzeige geplanter Straftaten, unterlassene Hilfeleistung oder Freispruch? JR 1995 133; Tiedemann/Tiedemann Zur strafrechtlichen Bedeutung des sogenannten kontrollierten Versuches bei der klinischen Arzneimittelprüfung, Festschrift Schmitt (1992) 139; Tröndle Zur Begründung der „Wahlfeststellung“, JR 1974 133; ders. Vollrauschtatbestand und Zweifelsgrundsatz, Festschrift Jescheck, Bd. 1 (1985) 665; Wachsmuth/Waterkamp Non-Liquet-Situationen und ihre materiellrechtliche Lösung, JA 2005 509; Wagner Entscheidungsbesprechung – Anfragebeschluss zur Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung: Verfassungswidrigkeit der echten Wahlfeststellung, ZJS 2014 436; Welp Vorangegangenes Tun als Grundlage einer Handlungsäquivalenz (1967); Willms Zum Begriff der „Wahlfeststellung“, JZ 1962 628; Winkler Vollendung und Beendigung des vorsätzlichen Verbrechens (1965); Wolter Alternative und eindeutige Verurteilung auf mehrdeutiger Tatsachengrundlage im Strafrecht (1972) (zit. Wolter Alternative); ders. Verurteilung aus nichttatbestandsmäßiger Nachtat, GA 1974 161; ders. Contra „in dubio pro reo“, MDR 1981 441; ders. Grundfälle zu „in dubio pro reo“ und Wahlfeststellung, JuS 1983 769; ders. Wahlfeststellung und in dubio pro reo (1987) (zit. Wolter Wahlfeststellung); ders. Kann wegen Hehlerei verurteilt werden, wer wegen mittäterschaftlicher Beteiligung an der Vortat angeklagt worden war, wenn nur der Erhalt eines Beuteanteils festgestellt werden kann? NStZ 1988 456; ders. „In dubio pro reo“ oder Wahlfeststellung zwischen Totschlag einerseits und tateinheitlich begangenem versuchten Totschlag mit Körperverletzung mit Todesfolge andererseits, JR 1990 471; ders. Strafbemessung bei alternativen Gesetzsverletzungen und Entscheidungsnormen – Ein notwendiger Gesetzesvorschlag, GA 2013 271; ders. Verjährung, Strafantrag, Wahlfeststellung, Konkurrenzen: strikte Prozessrechtsinstitute in materiellem Gewand, GA 2016 316; Zeiler Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage, ZStW 64 (1952) 156; Zopfs Der Grundsatz „in dubio pro reo“ (1999). Erster Abschnitt. Das Strafgesetz Wahlfeststellung Dannecker/Schuhr Anh zu § 1

Frühere gesetzliche Regelungen Das Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs vom 28.6.19351 hatte als § 2b folgende Vorschrift in das Strafgesetzbuch eingestellt (näher dazu Rdn. 36): „Steht fest, daß jemand gegen eines von mehreren Strafgesetzen verstoßen hat, ist aber eine Tatfeststellung nur wahlweise möglich, so ist der Täter aus dem mildesten Gesetz zu bestrafen.“

Diese materiell-rechtliche Regelung wurde auf dem Gebiet des Verfahrensrechts durch § 267b StPO ergänzt, der durch das Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 28.6.19352 eingeführt worden war. Diese Vorschrift lautete: „Trifft das Gericht eine Wahlfeststellung (§ 2b des Strafgesetzbuchs), so ist der Angeklagte in der Formel nur der Verletzung des anzuwendenden Strafgesetzes schuldig zu sprechen.

_____ 1 2

287

RGBl. I S. 893. RGBl. I S. 844.

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Anh zu § 1 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

Die Urteilsgründe müssen angeben, welche Gesetze als verletzt in Betracht kommen. Die Tatsachen, die den Verstoß ergeben, sind festzustellen; es ist darzutun, weshalb eine eindeutige Feststellung nicht möglich ist. Sieht das Gericht entgegen einem in der Hauptverhandlung gestellten Antrage von einer Wahlfeststellung ab, so müssen die Gründe dafür dargelegt werden.“

Die Vorschrift des § 2b StGB 1935 wurde durch Art. I KRG Nr. 11 vom 30.1.19463 aufgehoben (näher dazu Rdn. 40). Seit dieser Zeit bestehen für die Wahlfeststellung keine gesetzlichen Regelungen mehr. Wie bei einer Verurteilung auf zwei- oder mehrdeutiger Tatsachengrundlage zu verfahren ist, hat daher die Rechtsprechung und Rechtslehre zu klären.

I.

II.

III.

Übersicht Problemstellung 1. „In dubio pro reo“ und Wahlfeststellung | 1 a) Fallkonstellationen im Überblick | 3 b) Wahlfeststellung und Prozessgegenstand | 7 2. Zulässigkeit der Wahlfeststellung | 8 a) Rechtsstaatliche Anforderungen | 9 b) Legitimation der Wahlfeststellung aus präventiven Erwägungen und materieller Gerechtigkeit? | 10 c) Gefahr erzwungener „Feststellungen“ | 11 d) Den Bestimmtheitsanforderungen entsprechende gesetzliche Straftatbestände als Ursache für Wahlfeststellungssituationen | 12 e) Rechtsstaatliches und strafrechtliches Basisproblem | 13 aa) Möglichkeit der Wahlfeststellung | 14 bb) Zulässige und erforderliche Wahlfeststellung | 18 Alternativkonstellationen und Begriff der Wahlfeststellung | 20 1. Reine Tatsachen- oder Sachverhaltsalternativität | 21 2. Tatbestandsalternativität | 23 3. Postpendenz und Präpendenz | 25 4. Rechtsalternativität | 28 5. Unklarheiten über den Tathergang oder den Taterfolg | 29 Entwicklung der Wahlfeststellung | 30 1. Rechtsprechung des Reichsgerichts | 31

_____ 3

2.

IV.

V. VI.

Gesetzgeberische Regelung der Wahlfeststellung durch das Gesetz vom 28.6.1935 | 36 3. Aufhebung des § 2b StGB 1935 durch das Kontrollratsgesetz Nr. 11 | 40 4. Forderung nach einer gesetzgeberischen Lösung | 42 Wahlfeststellung in prozessualerPerspektive 1. Verfahrensrechtliche Voraussetzungen | 43 a) Unmöglichkeit einer eindeutigen Verurteilung trotz umfassender Sachaufklärung | 44 b) Gewissheit der Verwirklichung eines von mehreren Strafgesetzen durch den Beschuldigten | 45 c) Exklusive Alternativität der in Betracht kommenden Sachverhalte | 46 d) Nachweis der alternativen Sachverhalte | 48 2. Rechtsfolgen | 51 3. Verfahren | 53 a) Gerichtszuständigkeit | 54 b) Identität von Anklage und Urteilsgegenstand aa) Vorliegen einer Tat im prozessualen Sinn | 55 bb) Vorliegen mehrerer Taten im prozessualen Sinn | 56 Reichweite der Wahlfeststellung gegenüber dem Zweifelssatz | 58 Eindeutige Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage (gleichartige Wahlfeststellung) | 61 1. Anforderungen der Rechtsprechung und Literatur an die alternativ erfüllten Strafgesetze

KontrRBl S. 55.

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Wahlfeststellung | Anh zu § 1

a)

2.

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Herrschende Meinung in Rechtsprechung und Literatur | 64 b) Weitere Lösungsansätze | 66 Fallgruppen der gleichartigen Wahlfeststellung a) Reine Tatsachen- oder Sachverhaltsalternativität | 70 b) Begriffslogisches Stufenverhältnis | 72 aa) Qualifikation und Privilegierung; Regelbeispiele | 73 bb) Verselbständigte Straftatbestände | 77 cc) Vollendung und Versuch durch dasselbe Verhalten | 79 dd) Vorsatz und Fahrlässigkeit | 81 ee) Täterschaft und Teilnahme | 83 ff) Verabredung zum Verbrechen und Ausführung des Verbrechens | 86 gg) Begehungs- und unechtes Unterlassungsdelikt | 87 hh) Versuch und Vollendung bei mehreren Handlungen | 88 ii) Real- und Idealkonkurrenz | 89 c) Normativ-ethisches Stufenverhältnis | 91 aa) Täterschaft und Anstiftung oder Beihilfe | 92 bb) Verschiedene Täterschaftsformen | 93 cc) Verbrechen und Verabredung zu einem Verbrechen | 94 dd) Beteiligung an der Begehungstat und unterlassene Hilfeleistung | 95 ee) Vollrausch und Rauschtat | 96 ff) Verzichtbarkeit gleichwertiger Ausgangstatbestände und der „Identität des Unrechtskerns“ | 97 d) Verschiedene Modalitäten oder Qualifikationen eines Straftatbestandes | 100 e) Regelbeispiele | 102 f) Wahlfeststellung und Verjährung | 103

Postpendenz und Präpendenz | 104 a) Begriff der Postpendenz | 105 b) Begriff der Präpendenz | 108 c) Problemstellung und Abgrenzung von alternativ-eindeutigem Geschehen | 109 d) Auffassung der Rechtsprechung | 110 e) Auffassungen in der Literatur | 118 aa) Generelle Post- und Präpendenz | 119 bb) Post- und Präpendenz bei nur konkurrenzrelevanten Zweifeln | 120 cc) Post- und Präpendenz bei konkurrenzregulierenden Tatbestandseinschränkungen | 122 4. Verhältnis von gleichartiger und ungleichartiger Wahlfeststellung | 127 VII. Wahldeutige Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage (ungleichartige Wahlfeststellung) | 131 1. Voraussetzungen für eine Verurteilung im Wege einer ungleichartigen Wahlfeststellung | 134 a) Erfordernis rechtsethischer und psychologischer Vergleichbarkeit | 135 aa) Rechtsethische Vergleichbarkeit | 136 bb) Psychologische Vergleichbarkeit | 145 cc) Übersicht über die höchstrichterliche Rechtsprechung | 146 dd) Bedenken gegen das Kriterium der rechtsethischen und psychologischen Vergleichbarkeit | 148 b) Identität des Unrechtskerns | 150 aa) Identität oder Gleichwertigkeit der Rechtsgutsverletzung | 151 bb) Handlungsunwert und Motivation des Täters | 153 cc) Beispiele für die Identität des Unrechtskerns | 155 2. Prüfung der ungleichartigen Wahlfeststellung | 157 3. Schuldspruch und Fassung der Urteilsformel | 158 3.

Dannecker/Schuhr

Anh zu § 1 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

4.

Bestimmung der zu verhängenden Strafe | 160 5. Amnestie | 163 VIII. Rechtskraft und Rechtsbehelfe

Materielle Rechtskraft | 164 Ordentliche Rechtsmittel | 165 Wiederaufnahme des Verfahrens | 166 Auslieferung | 167

1. 2. 3. IX.

I. Problemstellung 1. „In dubio pro reo“ und Wahlfeststellung. Der Grundsatz „in dubio pro reo“ bedeutet, dass das Gericht eine Verurteilung nur auf solche Umstände stützen darf, von deren Vorliegen (als Umständen der Tat) es überzeugt ist. Dieser rechtsstaatliche Fundamentalgrundsatz4 hat seinen prozessrechtlichen Ausdruck namentlich in §§ 261, 267 StPO gefunden, bestimmt aber auch bereits einen Aspekt der Bedeutung der materiell-rechtlichen Tatbestände. Mit Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 ist dieser Grundsatz in der Weise verbunden, dass diese Normen eine Bestrafung an die Bedingung knüpfen, dass die Strafbarkeit der Tat vor ihrer Begehung durch Gesetz bestimmt war. Dazu gehört, dass die Strafbarkeit gerade der tatsächlich begangenen Tat gesetzlich bestimmt war. Soweit tatsächliche Zweifel verbleiben, die Zweifel an der Strafbarkeit bedeuten, „kann“ nicht bestraft werden – mit dieser Wortwahl untersagen Verfassung und Gesetz nicht nur eine Bestrafung, sondern stellen sich zugleich in die lange begrifflich-philosophische Tradition, nach der ein solcher Akt keine Bestrafung, sondern ein „feindlicher Akt“ wäre.5 Das Tatgeschehen lässt sich jedoch nie bis in letzte Einzelheiten aufklären. Mit der Bestimmung der Strafbarkeit bestimmt das Gesetz auch, auf welche Umstände und bis zu welchen Einzelaspekten es auf sie ankommt oder eben nicht ankommt. Zweifel sind nur insoweit relevant, wie sie Aspekte betreffen, die für die Strafbarkeit des Verhaltens relevant sind. Wenn nun eine (prozessuale) Tat mindestens einen von mehreren Straftatbe1a ständen mit Sicherheit vollständig verwirklicht hat – der Täter sich also sicher wegen mindestens einer der betreffenden Straftaten strafbar gemacht hat (alternative Gewissheit) –, aber nach Ausschöpfung aller Beweismöglichkeiten für keines der Delikte hinreichend sicher feststeht, dass die Tat unter genau dieses Delikt vollständig verwirklichenden Umständen begangen wurde (Exklusivität der Feststellungen), wirft dies die Frage auf, ob auch bei solchermaßen „exklusiv alternativen“ Feststellungen der Zweifelssatz „in dubio pro reo“ Anwendung zu finden hat. Hinsichtlich jedes einzelnen Delikts bestehen Zweifel, und grundsätzlich steht einer mehrfachen, auch gegenläufigen Anwendung des Zweifelssatzes hinsichtlich unterschiedlicher Delikte bzw. Deliktsmerkmale nichts im Wege – eine nach dem Gesetz zur Tatzeit strafbare Tat ist vollständig nachzuweisen. Die Zweifel begründen jedoch gerade keine Zweifel daran, dass der Täter sich mit seinem (angeklagten) Verhalten nach mindestens einem der Straftatbestände und damit zumindest in der unter diesen Staftaten schwächsten Weise strafbar gemacht hat, sofern eine solche Rede von der „schwächsten Weise“ über Tatbestandsgrenzen hinweg überhaupt zulässig ist. Die Rechtsprechung und große Teile der Literatur verstehen Strafbarkeit so, dass der Begriff dies zulässt, und haben für solche Fälle das Rechtsinstitut der Wahlfeststellung entwickelt (näher dazu Rdn. 30 ff).6 Dieses Rechtsinstitut begründet die Möglichkeit einer Verurteilung auf der Grundlage einer mehr1

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4 Roxin/Schünemann § 45 Rdn. 56; Ott KK § 261 StPO Rdn. 63; Miebach MK-StPO § 261 StPO Rdn. 342. 5 Vgl. Hobbes Leviathan (1651/1668) Kap. 28 § 11 („Ninthly …“/ „Nono …“). 6 Nunmehr namentlich BGHSt (GS) 62 164, BVerfG (2. Kammer 2. Senat) NJW 2019 2837. Vgl. zuvor nur RGSt 68 21, 23; BGHSt (GS) 9 390, 393; 11 26, 28. Zur Dokumentation und Analyse der älteren Rechtsprechung Wolter Wahlfeststellung S. 153 ff.

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Wahlfeststellung | Anh zu § 1

deutigen Tatsachenfeststellung (d.h. auf wahldeutiger Tatsachengrundlage) und zieht zugleich deren Grenzen. Ein Teil der Lehre geht demgegenüber von einem jeweils unmittelbar an Einzeldelikte gebundenen Konzept der Strafbarkeit aus und bestreitet die Zulässigkeit einer Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage (Rdn. 15). Der Begriff der Wahlfeststellung wird nicht einheitlich verwendet (näher dazu 2 Rdn. 20 ff). Die Wahlfeststellung, die stets auf wahldeutiger Tatsachengrundlage beruhen muss, kann je nach den anwendbaren Strafgesetzen entweder als gleichartige (unechte) Wahlfeststellung (Rdn. 61) zu einer eindeutigen Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage führen (Rdn. 4, 61), wenn in allen Sachverhaltsalternativen derselbe Straftatbestand verwirklicht worden ist, oder aber als ungleichartige (echte) Wahlfeststellung (Rdn. 131) eine alternative Verurteilung wegen unterschiedlicher Straftatbestände, die in den verschiedenen Sachverhaltsalternativen begangen worden sind, nach sich ziehen (Rdn. 5), sofern die in Betracht kommenden Straftatbestände „rechtsethisch und psychologisch miteinander vergleichbar“ sind (Rdn. 135 ff) bzw. einen identischen Unrechtskern aufweisen (Rdn. 150 ff). Wenn die tatbestandliche Alternativität nicht von einer beiderseitigen Sachverhaltsungewissheit herrührt, sondern darauf beruht, dass die rechtliche Bewertung eines in tatsächlicher Hinsicht feststehenden Verhaltens von der Klärung eines zeitlich früher oder später liegenden Verhaltens abhängt, handelt es sich um Fälle der Post- oder Präpendenz (Rdn. 6, 25 ff, 110). Hingegen liegt keine Wahlfeststellung vor, wenn der Sachverhalt eindeutig feststeht und sich lediglich die Rechtsfrage stellt, welcher Tatbestand erfüllt ist (Rechtsalternativität; näher dazu Rdn. 28) oder Unklarheiten über den Tathergang oder den Taterfolg nicht beseitigt werden können, so dass nicht sicher ist, ob sich der Beschuldigte strafbar gemacht hat bzw. ob erschwerende Umstände vorliegen (Rdn. 29). a) Fallkonstellationen im Überblick. Eine Verurteilung auf „wahldeutiger“ Tat- 3 sachengrundlage setzt zunächst voraus, dass (mindestens) zwei alternative Sachverhalte in Frage stehen. Eine eindeutige Feststellung darf nicht möglich sein, und es darf kein begriffslogisches (Rdn. 72 ff) oder „normativ-ethisches“ Stufenverhältnisses (Rdn. 91 ff) bestehen. Letztere Ungewissheiten betreffen nämlich das Maß der Strafbarkeit und fallen deshalb notwendig in den Anwendungsbereich des Grundsatzes „in dubio pro reo“ und schließen eine Wahlfeststellung aus.7 Deshalb scheidet eine Wahlfeststellung beispielsweise aus, wenn lediglich nicht aufgeklärt werden kann, ob der Täter eines Diebstahls eine Waffe bei sich geführt hat. In einem solchen Fall stehen die in Betracht kommenden Verhaltensweisen in ihrer rechtlichen Beurteilung nicht in einem Aliud-Verhältnis, sondern in einem „Mehr-Weniger-Verhältnis“. In diesen Fällen ist nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ zu verfahren und der Täter nur nach dem milderen Gesetz zu bestrafen. Es fehlt an der exklusiven Alternativität der Sachverhalte (Rdn. 1, 58); diese schließen sich nicht gegenseitig aus.8 Wenn hingegen feststeht, dass der Täter eine Sache gestohlen hat, jedoch offen ist, 4 bei welcher von zwei Gelegenheiten er die Sache weggenommen hat, ist eine eindeutige Verurteilung gemäß § 242 auf wahldeutiger Tatsachengrundlage vorzunehmen (Rdn. 61).9 Wenn der Täter nur an einem der in Betracht kommenden Tage eine Waffe bei sich geführt hat, handelt es sich um zwei exklusiv alternative Sachverhalte, unabhängig davon, dass die anzuwenden Tatbestände in einem Stufenverhältnis zueinander stehen.

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7 BGHSt 11 100, 102; 22 154, 156; 38 83, 86 = JR 1993 247 m. Anm. Schmoller. 8 Vgl. für die h.M. Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 85. 9 Vgl. für die h.M. Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 90, 95. Einen konzisen Überblick über weitere Beispielsfälle gibt z.B. Lindner ZIS 2017 311, 312; weitere Grundfälle behandelt Norouzi JuS 2008 17 ff, 113 ff.

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Anh zu § 1 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

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Hat der Täter durch die exklusiv alternativen Sachverhalte zwei unterschiedliche Straftatbestände verwirklicht, z.B. die Sache entweder weggenommen oder bei einer anderen Gelegenheit durch Betrug erlangt, so kommt eine wahldeutige Verurteilung auf „wahldeutiger Tatsachengrundlage“ in Betracht. Dabei ist nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ die Strafe aus dem Strafrahmen des milderen Gesetzes zu entnehmen (Rdn. 160). In diesem Zusammenhang besteht die Notwendigkeit, auch im Schuldspruch (mittels „oder“) auszudrücken, inwieweit Unsicherheiten bestehen. Damit so kein gänzlich unbestimmter Vorwurf entsteht, begrenzt die Rechtsprechung die Wahlfeststellung auf „rechtsethisch und psychologisch“ vergleichbare Straftatbestände (Rdn. 135 ff); größere Teile der Lehre ziehen demgegenüber das Erfordernis eines gemeinsamen Unrechtskerns vor (Rdn. 150 ff). Einen Sonderfall stellen die Fälle der Postpendenz und der Präpendenz dar, bei 6 denen nur eine einseitige Sachverhaltsungewissheit besteht, weshalb eine Verurteilung aus einem feststehenden Teil der Tat in Betracht kommt (Rdn. 25 ff; 110 ff). Hier hat eine eindeutige Verurteilung zu erfolgen, wenn die materiellen Voraussetzungen eines Delikts ungeachtet der mehrdeutigen Tatsachengrundlage als erfüllt gelten können (BGHSt 35 86, 87).10 7

b) Wahlfeststellung und Prozessgegenstand. Das Strafgericht darf seine Untersuchung nur auf Verfehlungen erstrecken, die angeklagt sind. Die Anklageschrift begrenzt den zu untersuchenden Sachverhalt. Wenn sicher ist, dass der Täter einen von mehreren Sachverhalten verwirklicht hat, aber keiner der in Betracht kommenden Handlungsabläufe zur Überzeugung des Gerichts feststeht, stellt sich in prozessualer Hinsicht die Frage, ob eine Wahlfeststellung voraussetzt, dass sich die alternativen Handlungsvorgänge unter einen einheitlichen Prozessgegenstand im Sinne des durch § 264 StPO gezogenen Rahmens einordnen lassen, oder ob es ausreicht, dass zwischen den Tatvorwürfen ein naher örtlicher und zeitlicher Zusammenhang besteht (näher dazu Rdn. 56). Diesbezüglich geht die h.M. heute zu Recht davon aus, dass durch das Vorliegen mehrerer Prozessgegenstände eine Wahlfeststellung nicht ausgeschlossen wird. Allerdings muss die Anklage jeden Prozessgegenstand umfassen (Rdn. 57).

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2. Zulässigkeit der Wahlfeststellung. Da in den Fällen der Wahlfeststellung sicher ist, dass sich der Täter durch die eine oder die andere Handlung strafbar gemacht hat, wäre es nicht nur „unbefriedigend“, sondern unter Aspekten des Legalitätsprinzips und der Umsetzung der gesetzlichen Strafdrohung problematisch, ihn freizusprechen. Allerdings begegnet auch eine Verurteilung, der keine eindeutigen tatsächlichen Feststellungen zugrunde liegen, rechtsstaatlichen Bedenken. Bei den Einwendungen werden unter Berufung auf das Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 Abs. 2 GG) Bedenken erhoben, und letztlich hat auch das Entstehen des Problems mit diesem Prinzip zu tun: Das Gesetzlichkeitsprinzip gebietet eine Ausdifferenzierung der strafbewehrten Verbotsnormen – der Angeklagte muss eine gesetzlich bestimmte Tat begangen haben –, und es verlangt, die Verwirklichung sämtlicher gesetzlicher Tatbestandsmerkmale nachzuweisen (Rdn. 1). Letzterem sind durch die Begrenztheit menschlicher Erkenntnisfähigkeit Grenzen gesetzt,11 und je umfassender die erstere Anforderung erfüllt wird, desto schwieriger wird es, die Letztere zu erfüllen.

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10 M. Anm. Joerden JZ 1988 847 ff und Wolter NStZ 1988 456 ff; BGH NJW 1990 471; NStZ 1995 500; wistra 1995 311 m. Anm. Körner; OLG Hamburg MDR 1994 712. 11 Günther S. 166, 184 m.w.N.; Wolter Alternative S. 21 ff.

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Wahlfeststellung | Anh zu § 1

a) Rechtsstaatliche Anforderungen. Das Problem der (Zulässigkeit der) Wahlfest- 9 stellung wird vielfach in einem Spannungsfeld zwischen Art. 103 Abs. 2 GG und dem Grundsatz „in dubio pro reo“ einerseits und der materiellen Einzelfallgerechtigkeit bzw. in den Strafzwecken liegenden Bedürfnissen andererseits verortet und zwischen diesen ein Ausgleich gesucht.12 In der Tat bestehen rechtsstaatliche Anforderungen, die bei einer strafrechtlichen Verurteilung einzuhalten sind: Wegen der Geltung des Grundsatzes „nullum crimen sine lege“ (Art. 103 Abs. 2 GG) muss sich die Verurteilung auf ein bestimmtes, mit Strafe bedrohtes Verhalten beziehen. Das Verfahrensrecht verlangt dazu, dass das Gericht die aufgrund seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung (§ 261 StPO) für erwiesen erachteten Tatsachen angibt, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden (§ 267 StPO); eine Verurteilung darf nur auf solche Tatsachen gestützt werden.13 Bei Zweifeln am Erfülltsein einzelner Tatbestandsmerkmale muss der Angeklagte nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ freigesprochen werden. Dieser Grundsatz ergibt sich unmittelbar aus Art. 6 Abs. 2 EMRK und wird zudem als Annex zu dem in Art. 103 Abs. 2 GG verankerten Gesetzlichkeitsprinzip verstanden.14 Sowohl der materiell-rechtliche Grundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege“ (Art. 103 Abs. 2 GG, Art. 49 Abs. 1 und 2 GRCh, Art. 7 EMRK) als auch der prozessbezogene Grundsatz „in dubio pro reo“ (Art. 6 Abs. 2 EMRK) sind besondere Ausformungen des Rechtsstaatsprinzips; beide betreffen die Rechtssicherheit. Diese Anforderungen bestehen aber vorbehaltlos, wie nicht zuletzt Art. 7 Abs. 1 EMRK zeigt. Topoi wie Einzelfallgerechtigkeit und kriminalpolitische Bedürfnisse sind strukturell ungeeignet, diese Verfassungsgrundsätze einzuschränken. Im Gegenteil sind diese rechtsstaatlichen Grundsätze gerade erdacht und anerkannt worden, um die Bürger vor einer Strafbegründung aus solch vagen Konzepten zu schützen, die letztlich auf das alte crimen extraordinarium bzw. eine poena extraordinaria hinausliefen. Dass eine Bestrafung überhaupt als materiell gerecht angesehen werden darf ist gerade dadurch bedingt, dass der Gesetzgeber die Strafbarkeit im Voraus gesetzlich geregelt hat. Auch Kriminalpolitik und Strafzwecke dürfen durch Gesetzgebung verfolgt werden, aber eben nicht durch die Rechtsprechung praeter legem. Die Frage nach der Zulässigkeit der Wahlfeststellung ist daher keine Abwägungsfrage, sondern eine Frage nach Inhalt und Reichweite der Grundsätze „nullum crimen, nulla poena sine lege“ und „in dubio pro reo“. Weil diese Grundsätze sich auf die gesetzlichen Tatbestände – d.h. die gesetzlichen Strafdrohungen (Sanktionsnormen) und die in ihnen vorausgesetzten Verhaltensregeln (Verhaltensnormen) – beziehen, stellt sich letztlich die Frage nach der Bedeutung der Deliktstatbestände. Eine über die gesetzlichen Straftatbestände hinausgehende „Zulassung“ der Wahlfeststellung würde die Kompetenzen der Rechtsprechung überschreiten und die genannten rechtsstaatlichen Grundsätze, denen Verfassungsrang zukommt, verletzen, und zwar unabhängig davon, ob die Wahlfeststellung materiell-rechtlich oder prozessual eingeordnet wird.15 Diese einfachrechtliche Einordnung ist für das Verfassungsrecht irrelevant. Wenn die gesetzlichen Regelungen aber so zu verstehen sind, dass sie eine Wahlfeststellung bereits aus sich heraus zulassen, die

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12 Jescheck/Weigend § 16 II 2; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 67; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 26; eingehend dazu ders. Alternative S. 38 ff, 46. Zu den Implikationen der echten Wahlfeststellung für den rechtsstaatlichen Schuldgrundsatz und die Unschuldsvermutung s. Haas HRRS 2016 190, 194 f. 13 Näher dazu Wolter JuS 1983 363 ff. 14 Näher dazu Zopfs S. 328 ff m.w.N. 15 Vgl. Frister StV 2014 584; im Ergebnis ebenso Freund/Rostalski JZ 2015 164, 169. Zur Unerheblichkeit dieser Einordnung für die Frage der Verletzung von Art. 103 Abs. 2 GG auch BGH (3. Strafsenat, Antwortbeschluss) NStZ-RR 2015 39.

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Strafbarkeit also auch eines nur wahldeutig feststehenden Verhaltens bestimmen, dann verstößt eine entsprechende Verurteilung auch nicht gegen die genannten rechtsstaatlichen Grundsätze, d.h. nicht gegen die Verfassung.16 Das einfache Recht könnte kein verfassungsrechtliches Verbot beseitigen. Die hier einschlägigen Grundsätze beziehen sich aber ihrerseits auf die Bestimmungen des einfachen Gesetzesrechts und präzisieren mit Verfassungsrang Anforderungen an die Anwendung seiner Maßstäbe. Wenn die Wahlfeststellung diesen konform erfolgt, so ist auch das höherrangige Recht nicht verletzt. Eine Folge dieser Abhängigkeit ist, dass die Fragestellung bei all ihren verfahrensrechtlichen Aspekten als im Kern materiell-rechtlicher Natur angesehen werden muss. 10

b) Legitimation der Wahlfeststellung aus präventiven Erwägungen und Gesichtspunkten materieller Gerechtigkeit? Der Anlass, darüber nachzudenken, ob die Wahlfeststellung mit den gerade angeführten Grundsätze verträglich ist und diese eine solche eventuell sogar gebieten, liegt sicherlich darin, dass ein Freispruch als unangemessen empfunden wird, wenn feststeht, dass der Angeklagte eine von zwei oder mehr in Betracht kommenden Straftaten begangen hat. Dieses Empfinden wird weiter gestützt durch general- und spezialpräventive Erwägungen und den Gedanken der materiellen Gerechtigkeit:17 So wird die Gefahr gesehen, dass bei einem Übermaß an Freisprüchen trotz erwiesener Strafbarkeit das Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtspflege leiden könnte (positive Generalprävention), der Rechtsfrieden gestört und der freigesprochene Gesetzesbrecher dazu verleitet werden könnte, „weitere Straftaten zu begehen“ (Spezialprävention). Außerdem „widerstrebt es dem Gerechtigkeitsempfinden, einen zweifellos Schuldigen“ freizusprechen. 18 Mehr als einen Anlass für weitere Überlegungen bieten diese Befunde indes nicht; das rechtsstaatliche Basisproblem ist als solches im verfassungsrechtlichen Rahmen zu behandeln (Rdn. 13 ff).

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c) Gefahr erzwungener „Feststellungen“. Weiterhin wurde auf die Gefahr erzwungener „Feststellungen“ hingewiesen, die darin gesehen wird, dass manche Richter zwecks Vermeidung als ungerecht empfundener Freisprüche versucht sein könnten, verbleibende Zweifel zu verschweigen und zu unrichtigen „eindeutigen Feststellungen“ zu gelangen.19 Jedoch darf dies nicht dazu führen, dass als sachgerecht erkannte Lösungen zugunsten sachwidriger aufgegeben werden.20

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d) Den Bestimmtheitsanforderungen entsprechende gesetzliche Straftatbestände als Ursache für Wahlfeststellungssituationen. Der Anlass für eine Wahlfeststellung hängt maßgeblich von der Ausgestaltung der Straftatbestände durch den Gesetzgeber ab: Je pauschal-genereller, umgreifender, also je weniger bestimmt sie gefasst sind, desto weniger wirken sich Zweifel bzgl. Einzelheiten des tatsächlichen Geschehens auf die rechtliche Subsumtion aus. Gerade ein rechtsstaatlich durchgebildetes Tatbestandssystem, das dem Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG Rechnung trägt (§ 1 Rdn. 86), produziert deshalb Wahlfeststellungssituationen.21

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16 Vgl. Schuhr NStZ 2014 437, 439. 17 Günther S. 130 ff, 164 ff; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 19. 18 Beulke/Fahl Jura 1998 262, 265; Jescheck/Weigend § 16 I 1; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 64 ff; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 1122; abw. Frister NK Nach § 2 Rdn. 76 ff. 19 Näher dazu Tröndle LK10 § 1 Rdn. 63. 20 Vgl. nur Günther S. 182 f m.w.N. 21 Hruschka MDR 1967 265, 267; Otto FS Peters S. 373, 388; Schulz JuS 1974 635, 639; Wolter Alternative S. 48, 281.

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Wahlfeststellung | Anh zu § 1

e) Rechtsstaatliches und strafrechtliches Basisproblem. Der verfassungsrechtli- 13 che Rahmen führt zunächst zur Frage danach, ob Verurteilungen auf mehrdeutiger Tatsachengrundlage überhaupt ohne Verstoß gegen seine Vorgaben denkbar (in diesem Sinne „möglich“) sind (dazu Rdn. 14–17). Ist das der Fall, ist zweitens zu klären, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang solche Verurteilungen zulässig und erforderlich sind (dazu Rdn. 18 f. – zur Zusammenfassung des Gesamtarguments s. Rdn. 69).22 Dabei sind die rechtsstaatlichen Garantien (Rdn. 9), die Normbefehle und die Strafdrohungen des Strafgesetzes so zu verstehen, dass sich aus ihnen insgesamt widerspruchsfreie Anforderungen ergeben, denn Konsistenz ist eine Anforderung an jedes rationale System und damit insbesondere auch an eine Rechtsordnung. aa) Möglichkeit der Wahlfeststellung. Einen geeigneten Ausgangspunkt zur Be- 14 antwortung des ersten Teils der Fragestellung liefert eine logische Analyse. Für die Ebene der Verhaltensregeln liefert sie ein eindeutiges Ergebnis:23 Wenn ein bestimmtes Verhalten (z.B. zu stehlen) gesetzlich verboten ist und ebenso ein anderes Verhalten (z.B. zu betrügen), dann ist es auch gesetzlich verboten, das eine oder das andere Verhalten an den Tag zu legen (im Beispiel: zu stehlen oder zu betrügen). Wenn feststeht, dass der Täter eine der verbotenen Taten begangen hat, dann steht damit fest, dass er ein gesetzliches Verbot verletzt hat, und zwar auch dann, wenn nicht feststeht, welches der Verbote er verletzt hat. Dabei wird dem Gesetz nichts hinzugefügt; es muss nicht mehr aussprechen als beide einzelnen Verbote. Das zeigt sich darin, dass die Verbote nicht nichtkombinierbar sein können: Der Satz „Es ist verboten zu stehlen, und es ist verboten zu betrügen, aber es ist nicht verboten, zu stehlen oder zu betrügen.“, wäre nämlich selbstwidersprüchlich und sinnlos. Auf Ebene der Verhaltensregeln, d.h. bzgl. der Pflichtverletzung, ist eine „Wahlfeststellung“ daher ohne jegliche Einschränkung zulässig, und zwar aus zwingenden logischen Gründen – nicht einmal der Gesetzgeber könnte hier – für die Verhaltensnormen – etwas anderes anordnen.24 Das Problem der Zulässigkeit von Wahlfeststellungen stellt sich erst auf der Ebene der 14a Sanktionsnormen, und zwar als Problem der Bedeutung – d.h. Auslegung – der Deliktstatbestände im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben: Wenn die Strafdrohung für die Verletzung einer bestimmten Pflicht so zu verstehen ist, dass jede Verletzung dieser Pflicht zu bestrafen ist, dann überträgt sich die dargestellte logische Beziehung der Pflichtverletzungen auf die Ebene der Sanktionsnormen: Daraus, dass jede Verletzung der ersten Pflicht (im Beispiel: jeder Diebstahl) und jede Verletzung der zweiten Pflicht (im Beispiel: jeder Betrug) bestraft werden sollen, würde logisch zwingend folgen, dass auch jede Verletzung einer der beiden Pflichten (im Beispiel: jedes Verhalten, dass einen Diebstahl oder einen Betrug darstellt) bestraft werden soll, und das hängt wieder nicht davon ab, ob feststeht, welche der beiden Pflichten verletzt wurde.25 Bei diesem Ergebnis belässt es eine vor allem in der früheren Literatur26 vertretene Auffassung. Freilich kann für eine generelle

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22 Die Ausgangsfrage bejahend und auf letztere Frage fokussierend Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 67; Tröndle LK10 § 1 Rdn. 63; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 19; ders. Alternative S. 46. Vgl. auch Günther S. 166, 184. 23 Ausführlicher zum Folgenden Schuhr NStZ 2014 437 ff. 24 Wer hier ein verkapptes Täterstrafrecht sieht (vgl. Freund/Rostalski JZ 2015 716, 717), zeigt damit, dass die Verhaltensnormen letztlich doch nicht als solche, sondern als Zuschreibungen an den Täter angesehen und dabei von dessen feststellbarem Verhalten abgelöst werden; das entspricht aber nicht ihrer Bedeutung. 25 Vgl. auch Stuckenberg ZIS 2014 461, 470. Entgegen Wagner ZJS 2014 436, 441 f betrifft dies die Sanktionsnormen selbst, nicht nur die subjektiv-rechtliche Gewährleistung von Art. 103 Abs. 2 GG. 26 Zeiler ZStW 64 (1952) 156 ff; 72 (1960) 4 ff; vgl. auch E. v. Hippel NJW 1963 1533 ff; Nüse S. 63.

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Zulassung der Wahlfeststellung nicht ein vermeintlich unbedingter Vorrang kriminalpolitischer Bedürfnisse ins Feld geführt werden (Rdn. 1, 9, 13). Wenn man aber erstens Strafbarkeit als ein für alle Delikte einheitliches Konzept auffasst und die unterschiedlichen Delikte als Teile unterschiedlicher Begründungswege für das jeweils selbe Ergebnis ansieht, und zweitens den „nullum crimen“-Grundsatz so versteht, dass er sich auf dieses allgemeine Konzept der Strafbarkeit bezieht, dann liegt in einer Verurteilung auf wahldeutiger Grundlage keine Verletzung dieses Grundsatzes, solange der Täter sicher gegen irgendein Strafgesetz verstoßen hat. Auch die Anforderungen des Grundsatzes „in dubio pro reo“ sind dann gewahrt, wenn der Täter nur unter Zugrundelegung der ihm günstigsten Annahmen (d.h. i.d.R. insbesondere aus dem mildesten betroffenen Gesetz) bestraft wird. Unter diesen Voraussetzungen wäre eine Wahlfeststellung sogar unbeschränkt möglich. Tatsächlich bestehen allerdings gute Gründe dafür, den „nullum crimen“-Grundsatz enger zu verstehen, was zu Einschränkungen der Zulässigkeit der Wahlfeststellung, nicht aber zu ihrem völligen Ausschluss führt – vgl. Rdn. 18 f. Eine in der Literatur vertretene Gegenauffassung,27 der sich der 2. Strafsenat ange15 schlossen28 und die Frage deshalb den anderen Strafsenaten29 und schließlich dem Großen Strafsenat30 vorgelegt hat, kommt dagegen zu einer generellen Ablehnung der (echten) Wahlfeststellung. Die Unvereinbarkeit mit Art. 103 Abs. 2 GG wird damit begründet, dass bei einer alternativen Verurteilung in Wahrheit aus einem allgemeinen „Rumpftatbestand“31 bestraft werde, den das Gesetz nicht kenne,32 weshalb eine unzulässige Analogie vorliege.33 Es komme dabei zu einer unzulässigen „Entgrenzung“ und „Verschleifung“ zweier gesetzlicher Straftatbestände,34 wodurch die vom Gesetzgeber durch Bildung verschiedener Straftatbestände getroffene Ausdifferenzierung und Unterscheidung strafwürdigen Unrechts überspielt werde.35 Die alternative Verurteilung bedeute zweckfreien Schuldausgleich im Sinne der absoluten Straftheorien, ggf. kombiniert mit der Verfolgung eines bloß undifferenzierten Abschreckungszwecks ohne Bezug auf konkrete Norminhalte.36 Letztlich führe die Wahlfeststellung in die Nähe eines unzulässigen Verdachtsurteils.37 Deshalb wird die Zulässigkeit der Wahlfeststellung über die Grenzen eines einzelnen Deliktstatbestands hinweg verneint. Dieser Auffassung liegt eine grundsätzlich andere Vorstellung von Straftatbeständen 15a zugrunde, als die soeben (Rdn. 14) dargestellte: Dort wurde davon ausgegangen, dass das Strafgesetz Strafdrohungen in Form von Sanktionsnormen enthält, die ihrerseits eine gesetzlich geregelte Pflichtverletzung und Schuld (und ggf. weitere Bedingungen) voraussetzen. Pflichtverletzung meint dabei einen Verstoß gegen eine strafbewehrte Verhaltens-

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27 Z.B. Alwart GA 1992 545, 562; Endruweit S. 293 ff, 338, 343; Köhler S. 96; Krahl S. 45 ff; Schmidhäuser S. 113; siehe auch Gaede AnwK § 1 Rdn. 51. 28 BGH (2. Strafsenat) Anfragebeschluss: NStZ 2014 392, 394 ff; erster Vorlagebeschluss: NJW 2016, 432 (nur LS) = StV 2016 212 ; Rücknahmebeschluss: StV 2017 818 m. krit. proz. Anm. Brodowski; erneuter Vorlagebeschluss: 2.11.2016 – 2 StR 495/12 (BeckRS 2016 113380). 29 Mit durchweg ablehnenden Antworten: 1. Strafsenat NStZ-RR 2014 308; 3. Strafsenat NStZ-RR 2015 39; 4. Strafsenat NStZ-RR 2015 40; 5. Strafsenat NStZ-RR 2014 307. 30 BGHSt (GS) 62 164, diese Ansicht ablehnend und an der Wahlfeststellung festhaltend. Das BVerfG (2. Kammer 2. Senat) hat die betreffende Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, BVerfG NJW 2019 2837. 31 Vgl. Günther S. 262 ff. 32 H. Mayer S. 417; vgl. auch Köhler S. 96; zustimmend Kröpil JR 2015 116, 121. 33 Endruweit S. 293 ff; Köhler S. 96. 34 BGH (2. Strafsenat, Anfragebeschluss) NStZ 2014 392, 394 m.w.N. 35 So Frister NK Nach § 2 Rdn. 95 ff. 36 Frister NK Nach § 2 Rdn. 89 ff. 37 Schmidhäuser S. 113; zust. Frister NK Nach § 2 Rdn. 89.

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regel durch ein Verhalten, zu dem für den Täter in der konkreten Situation tatsächlich die Alternative bestand, sich zielgerichtet rechtskonform zu verhalten. Schuld ist im Sinne des Nicht-Eingreifens von Entschuldigungsgründen, nach denen die Pflichtverletzung ausnahmsweise nicht persönlich vorgeworfen würde, zu verstehen. Zentrale Kategorien sind dabei die Handlung, die Pflicht(verletzung) und die (Voraussetzungen der) Sanktionsnorm. Für die hier (Rdn. 15) wiedergegebene Vorstellung insbesondere des 2. Strafsenats sind ganz andere Kategorien zentral: Zunächst geht sie von einem materiellen Konzept des Unrechts aus. Nicht der Verstoß gegen eine bestimmte Verhaltensregel, sondern die Verwirklichung gesetzlich bestimmten Unrechts konstituiert für sie die Tat. Die wesentliche Funktion des Gesetzes besteht dann nicht darin anzugeben, unter welchen Bedingungen eine Strafdrohung besteht (Sanktionsnorm), insbesondere auf welche Pflichtverletzungen sie sich bezieht, und damit auch, wie der Bürger sich verhalten soll (Verhaltensregel), sondern Unrecht zu vertypen. Der Gesetzgeber bilde, indem er manche Fälle im selben, andere in anderen Tatbeständen erfasse, abgegrenzte Unrechtstypen – z.B. Diebstahlsunrecht, Betrugsunrecht etc.38 Statt der Verletzung einer strafbewehrten Pflicht wird dann die Verwirklichung strafgesetzlich vertypten Unrechts als zentrale Voraussetzung der Bestrafung angesehen. Schuld müsse sich immer auf gesetzlich bestimmtes Unrecht beziehen – es gebe also keine allgemeine Wertungsstufe der Schuld bzw. des Schuldvorwurfs, sondern nur die je typ-konkrete Schuld des verwirklichten Diebstahlsunrechts, Betrugsunrechts u.s.w. Vertreter dieser Auffassung schließen daraus, jede Bestrafung müsse durch einen per Tatnachweis begründeten konkreten Schuldvorwurf legitimiert werden, sonst seien das Schuldprinzip und die Unschuldsvermutung sowie die Grundsätze „nullum crimen, nulla poena sine lege“ und „in dubio pro reo“ verletzt.39 Die Konsistenz (Widerspruchsfreiheit – zur Tragfähigkeit sogleich Rdn. 17) dieser 16 Auffassung ist nicht zu beanstanden. Wenn die Aufgabe des Gesetzgebers gerade darin gesehen wird, die Grenzen eines Unrechtstyps zu bestimmen, dann ist es ein Verstoß gegen die Gewaltenteilung, wenn Rechtsanwender Tatbestände kombinieren, denn dabei entsteht dann ein anderer, im Gesetz nicht vorgesehener Tatbestand. Die Aussage des Gesetzes besteht dann jeweils darin, welche Fälle zu demselben Typ gehören. Deshalb besteht dann für aussagenlogische Oder-Verknüpfungen (nach Art von Rdn. 14) kein Raum, denn solche setzen ein gemeinsames Prädikat (in Rdn. 14: „verboten“ bzw. „strafbar“) voraus, während nach dieser Vorstellung das Gesetz von Tatbestand zu Tatbestand ganz unabhängige Aussagen trifft. Wenn Tatbestände als unrechtsdefinierend angesehen werden, dann bewirkt ihre (unzulässige) Kombination ein entsprechend geringer spezifiziertes, weiter gefasstes Unrecht. Wenn zudem die Vorstellung zugrunde gelegt wird, eigentlich sei Unrecht dem Gesetzgeber materiell vorgegeben und werde von ihm nur beschrieben, dann mag man sogar die Vorstellung haben, die kombinierten Tatbestände beschrieben nur mehr den gemeinsamen Unrechtskern beider Ausgangstatbestände (obwohl eine solche Folgerung wohl eher auf einer Verwechslung von Schnittmengen und Vereinigungsmengen beruht). Jedenfalls entfällt – unter der Annahme dieser Auffassung, dass Bestrafung einen an jeweils einen bestimmten Tatbestand gebundenen typ-konkreten Schuldvorwurf voraussetzt – jegliche Legitimation für eine (ungleichartige) Wahlfeststellung. Gleichwohl überzeugt diese Auffassung nicht. Zunächst ist die Annahme, Bestra- 17 fung erfordere einen typ-konkreten Schuldvorwurf keine Folge der sonstigen Annahmen, sondern eine von ihnen unabhängige Prämisse, die zur Ablehnung der Wahlfeststellung

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38 Haas HRRS 2016 190, 193. 39 Prägnant Haas HRRS 2016 190, 193 ff; Frister NK Nach § 2 Rdn. 86 ff, jeweils m.w.N.; vgl. auch Kotsoglou ZStW 127 (2017) 334, 353 ff.

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äquivalent ist, also eine petitio principii.40 Dasselbe gilt für die Annahme, nur an einer Aburteilung der Verletzung einer einzelnen Verhaltensnorm habe die Rechtsgemeinschaft ein Interesse, und daher keines, solange unklar sei, welche von zweien verletzt sei41 (und schon gar nicht dürfen Schuldspruch und Strafe kurzerhand identifiziert werden).42 Die zu beantwortende Rechtsfrage besteht gerade darin, ob die Verwirklichung eines bestimmten Tatbestandes nachzuweisen ist oder nicht, und eben das wird letztlich nur behauptet. 17a Doch auch die strafrechtlich fundamentaleren Annahmen überzeugen so nicht. Fast alle Deliktstatbestände des Kernstrafrechts beschreiben Verhalten und beziehen darauf eine Strafdrohung. Im Blankettstrafrecht ist das noch deutlicher – dort formuliert das Fachgesetz unmittelbar Verhaltenspflichten, und in den an anderem Ort stehenden Deliktstatbeständen wird darauf verwiesen. Einige Tatbestände – etwa diejenigen der Untreue und der Steuerhinterziehung – enthalten eine Strafdrohung, die sich auf die Verletzung von Pflichten eines angegebenen Typs aus einem größeren Rechtsgebiet oder mehreren Rechtsgebieten bezieht. Alle beziehen sich also auf die eine oder andere Weise auf Verhaltensregeln, und das verlangen auch Art. 103 Abs. 2 GG und § 1: eine zur Tatzeit bestehende Bestimmung des Verhaltens durch den Gesetzgeber, mit dem der Bürger sich strafbar machen würde. Dem Bürger, der sich fragt, was er tun soll, muss das Gesetz sagen, was er bei Strafe nicht tun darf. Von Unrecht sprechen die Deliktstatbestände nur indirekt, indem sie bestimmtes Verhalten als pflichtwidrig und rechtswidrig kennzeichnen, aber nicht von einem davon abstrakten, vorgelagerten Unrecht – ebenso wenig Art. 103 Abs. 2 GG und § 1, auch nicht die Grundsätze „nullum crimen, nulla poena sine lege“ und „in dubio pro reo“. Es würde auch nicht in ihr rechtsstaatliches Schutzprogramm, namentlich nicht in das Gesetzlichkeitsprinzip passen, wenn sie das in der von dieser Ansicht angenommenen Weise täten. Ein den gesetzlichen Verhaltensbeschreibungen vorgelagertes Unrecht könnte nämlich letztlich nur vom Interpreten der Vorschrift konstruiert werden, und zwar als etwas, das die Vorschrift so nicht beschreibt und ihr auch nicht vorgegeben ist (denn durch die Formulierung soll der Gesetzgeber das Unrecht ja erst vertypen). Wenn man statt unmittelbar zu prüfen, ob das Verhalten des Täters die strafbewehrte Verhaltensregel verletzt, aus der Verhaltensbeschreibung einen Unrechtstypus entwickelt und prüft, ob das Verhalten des Täters solches Unrecht verwirklicht hat, dann ist das – wenn auch unbeabsichtigt – eine Methode, alle Straftatbestände im Wege der Analogie zu erweitern, nämlich auf weitere Handlungen, die Unrecht gleichen Typs verwirklichen. Diese Auffassung führt also keineswegs zu einer geeigneten Umsetzung von Gesetzlichkeitsprinzip und Bestimmtheitsanforderungen. Eine gegenüber der gesetzlichen Verhaltensbeschreibung derart verselbständigte 17b Rolle (zu einer anderen, berechtigten, sogleich Rdn. 19) von Unrechtstypen passt auch nicht in ein Tatstrafrecht.43 Sie führt vielmehr zu einem Typenstrafrecht (nicht notwendig zu einem Tätertypenstrafrecht, wohl aber zu einem Unrechtstypenstrafrecht) und expliziert damit keineswegs die Anforderungen des verfassungsrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips, Schuldprinzips oder der Unschuldsvermutung, sondern verkennt sie: Im rechtsstaatlichen Strafrecht geht es nicht darum, Erfolge als Unrecht zu vertypen und Schuldige zu benennen, sondern es geht darum, den Rahmen zulässigen Verhaltens durch Gesetz zu bestimmen, und zwar im Voraus, und Personen nur für die Verletzung von Pflichten zu bestrafen, deren Einhaltung sie zur Tatzeit tatsächlich zielgerichtet hätten sicherstellen

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40 Vgl. auch Stuckenberg StV 2017 815, 817. 41 So – zudem unter Vermengung der Oder-Verknüpfung einzelner Rechtsregeln mit der Allmenge aller rechtlicher Regeln – Freund/Rostalski JZ 2015 164, 165. 42 Eingehend dazu Stuckenberg JZ 2015 714. 43 Zu Besonderheiten des weniger tatstrafrechtlichen Jugendstrafrechts Mitsch JR 2017 8.

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können.44 In einem dem Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 Abs. 2 GG) verpflichteten Strafrecht knüpft der zur Bestrafung legitimierende Schuldvorwurf daran an, dass der Täter eine gesetzliche Verhaltensnorm missachtet und dadurch Schuld auf sich geladen hat. Schuld ist in diesem Zusammenhang stets Rechtsschuld. Vertypt wird das Verhalten durch die allgemeine gesetzliche Norm, und wenn diese im konkreten Fall zurechenbar verletzt wird, dann ist diese Pflichtverletzung rechtswidrig (Unrecht). Dieses Abhängigkeitsverhältnis darf nicht umgekehrt werden. In diesem Sinne sind auch die Straftheorien zu verstehen: Wie Rudolphi zutreffend hervorhebt, erfordert eine spezialpräventiv zu bekämpfende Gefährlichkeit des Täters stets, dass er sich gerade durch die schuldhafte Verletzung einer gesetzlich strafbewehrten Verhaltensnorm als gefährlich erwiesen hat. Auch generalpräventiv lässt sich eine Strafe nur dann legitimieren, wenn der Täter gerade durch die Missachtung einer gesetzlich strafbewehrten Verhaltensnorm ein „böses Beispiel“ gegeben hat.45 Richtigerweise ist daher daran festzuhalten, dass – wie in Rdn. 14 vorausgesetzt – 17c Deliktstatbestände als Sanktionsnormen aufzufassen sind, die an die Verletzung einer Pflicht – nämlich die zurechenbare Verletzung einer durch diesen Tatbestand strafbewehrten Verhaltensregel – durch den zu Verurteilenden anknüpfen. Verfassungsrechtlich prinzipiell möglich ist eine Wahlfeststellung daher. bb) Zulässige und erforderliche Wahlfeststellung. Die Sanktionsnormen müssen 18 indes keineswegs als Strafdrohung für jeden Pflichtverstoß verstanden werden (was die in Rdn. 14 dargelegten Konsequenzen hätte). Oft enthalten sie zusätzlich zum pflichtwidrigen Verhalten sogar explizit weitere Bedingungen, wie z.B. einen Erfolgseintritt oder objektive Bedingungen der Strafbarkeit. Sie können aber auch unausgesprochen von weiteren Voraussetzungen ausgehen. Die in Rdn. 17 eingangs dargestellte Annahme meint, dass jede strafrechtliche Sanktionsnorm unausgesprochen die weitere Bedingung enthält, dass ein Verstoß gegen gerade die von ihr in Bezug genommene Verhaltensregel im Strafverfahren vollständig nachgewiesen wurde. Diese Bedingung geht deutlich über die – außer Frage stehende – Nachweisbedingung hinaus, die sich aus den Grundsätzen „nullum crimen, nulla poena sine lege“ und „in dubio pro reo“ ergibt, die nämlich nur den Nachweis verlangen, dass die Tat, derentwegen verurteilt wird, nachgewiesen wird, und dass diese Tat überhaupt und in dem Maße strafbar war, wie schuldig gesprochen und bestraft wird, was sich aber eben nicht auf einen einzelnen Deliktstatbestand beziehen muss, sondern mit einer Wahlfeststellung grundsätzlich vereinbar ist (Rdn. 14).46 Die eine (echte) Wahlfeststellung grundsätzlich ausschließende Nachweisbedingung hingegen müsste verlangen, dass die Sanktionsnorm nur dann Anwendung findet, wenn eben dieses Delikt vollständig nachgewiesen wurde und damit deutlich strenger sein. Obwohl die Annahme einer solchen deliktsspezifischen Nachweisbedingung bislang nicht tragfähig begründet wurde (Rdn. 17), wäre sie grundsätzlich möglich, d.h. der Gesetzgeber könnte sie unter Umständen anordnen. Im Ausland ist ein derartiges, Wahlfeststellung ausschließendes Verständnis der strafrechtlichen Sanktionsnormen sehr verbreitet.47 Auch der deutsche Gesetzgeber hat sich mit der Frage befasst, ob er eine ausdrückliche Regelung in diesem oder einem anderen Sinne treffen sollte, sich aber reflektiert gegen eine Festlegung entschieden (Rdn. 42). Für die deutschen Straftatbestände ist daher nicht davon auszugehen, dass sie von vornherein mit einer die Wahlfeststellung ausschließenden Nachweis-

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44 Vgl. dazu die Kommentierung zu § 1 Rdn. 58. 45 Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 19; vgl. auch Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 67. 46 Vgl. auch BGH (4. Strafsenat, Antwortbeschluss) NStZ-RR 2015 40; Frister NK Nach § 2 Rdn. 77; Stuckenberg StV 2017 815, 816; Bauer wistra 2014 475, 477. 47 Günther S. 214 ff; Tiedemann FS R. Schmitt, S. 139, 148 m.N.

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bedingung „gemeint“ sind; vielmehr sollen Rechtsprechung und Lehre im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben ein sachlich begründetes Verständnis entwickeln. Obwohl eine deliktsspezifische Nachweisbedingung theoretisch möglich ist, würde sie 18a allerdings eine Reihe verfassungsrechtlicher und praktisch schwieriger Fragen aufwerfen: Zunächst setzt sie voraus, dass klar ist, was „derselbe“ Tatbestand ist (innerhalb dessen Wahlfeststellungen zulässig bleiben sollen) und was als „ein anderer“ Tatbestand anzusehen ist (so dass die Unterscheidung der Delikte eine Wahlfeststellung ausschlösse). Doch dies ist keineswegs klar, und der Gesetzgeber hat die Grenzziehungen auch nicht bewusst im Hinblick auf wahldeutige Feststellungen vorgenommen. Folgende Beispiele mögen das verdeutlichen: Sollten „passive“ Bestechlichkeit und „aktive“ Bestechung im geschäftlichen Verkehr einer Wahlfeststellung zugänglich sein, weil sie gleichermaßen in § 299 geregelt sind, im Amt aber nicht, weil sie dort in §§ 331 und 332 bzw. §§ 333 und 334 auseinandergezogen wurden? Oder bildet jeder Absatz ein eigenes Delikt? Was ist dann aber mit Vorschriften wie § 142 Abs. 2 StGB, der eindeutig andere Pflichtverletzungen erfasst als Abs. 1, aber ausdrücklich eine Bestrafung „nach Absatz 1“ anordnet? Wie wirkt sich die Anwendung von § 270 auf § 267 aus – entsteht dabei ein neues Delikt? Und wenn nein, weshalb ist dann § 263a ein anderes als § 263, wo er doch auch eine Analogie ausspricht und wie § 270 gerade die Täuschung eines Menschen durch die Manipulation einer EDV ersetzt? Sollen im Blankettstrafrecht die im selben Absatz aufgezählten Tatvarianten zum selben Delikt gehören, in § 96 AMG also gleichermaßen die Abgabe von Arzneimitteln, deren Herstellung, die Durchführung einer klinischen Prüfung, die Gewinnung eines Lebensmittels, die Einfuhr von Gewebe und sehr vieles mehr? Oder soll jede Tatbestandsvariante selbständig zählen? Was bedeutet das dann aber für Auffangvarianten48 – bleiben Täter straflos, wenn sie jedenfalls den Auffangtatbestand verwirklicht haben, eventuell aber auch einen spezielleren, was sich weder nachweisen noch ausschließen lässt, aber ein eigenes Delikt bildet? Die Annahme, dass die Gliederung der Tatbestände im Gesetz auch nur annähernd geeignete Anhaltspunkte böte, bestätigt sich nicht – insbesondere nicht außerhalb des engsten Kreises des Gewaltstrafrechts. Kurz: Das von den Gegnern der echten Wahlfeststellung vorausgesetzte Kriterium für die Unterscheidung tatbestandlich relevanter (eine Verurteilung hindernder) und irrelevanter (einer Verurteilung nicht entgegenstehender) Wahldeutigkeit der Tatsachen gibt es im geltenden Recht so nicht. Der Gesetzgeber müsste es erst durch gesonderte Auflistungen schaffen.49 Nur wenn es ein solches Kriterium gäbe, hätte eine deliktsspezifische Nachweisbedingung aber eine bestimmte Bedeutung (und zwar ganz gleich, ob man sie als verfassungsrechtlich vorgeschrieben ansieht oder nicht); sonst wäre die Grenzziehung vielfach schlicht willkürlich. Weitere Gründe sprechen gegen eine die (echte) Wahlfeststellung ausschlie18b ßende Bedingung: In einem ausdifferenzierten, zumindest teilweise systematisch aufgebauten Strafrecht kann der Gesetzgeber die Tatbestände nicht nur nach in der Bevölkerung allgemein verwendeten Kriterien gliedern, sondern muss weitere Unterscheidungen treffen. Wie diese anzusetzen sind, ergibt sich oft nicht aus einer „Natur der Sache“, sondern auch ein rational vorgehender Gesetzgeber hat erhebliche Entscheidungsspielräume (man denke etwa an die Abgrenzung von Trickdiebstahl und Sachbetrug). Solche von den Tatbeteiligten, den Zeugen und ggf. auch in Urkunden nicht reflektierten, vom Gesetzgeber schlicht gesetzten Unterscheidungen erhöhen aber die Gefahr, dass sich nur wahldeutige Feststellungen treffen lassen.50 Die Wahlfeststellung generell

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48 Dazu, wie Auffangtatbestände das praktische Bedürfnis nach Wahlfeststellung reduzieren, Lindner ZIS 2017 311, 315, 320 ff. 49 Vgl. dazu anhand des verletzten Rechtsguts Jakobs GA 1971 257, 270 f. 50 Schuhr NStZ 2014 437, 440.

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auszuschließen, hätte deshalb den starken Anreiz für den Gesetzgeber zur Folge, undifferenziertere Tatbestände zu erlassen bzw. die richterliche Messlatte dafür, welche Zweifel sich ausräumen lassen, niedriger zu hängen. Die Wahlfeststellung ist daher nach rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht nur nicht ausgeschlossen (Rdn. 14, 17), sondern es liefe der praktischen Effektivität dieser Grundsätze sogar zuwider, die Wahlfeststellung zu untersagen.51 Die besseren Gründe sprechen daher dafür, eine deliktsspezifische Nachweisbedingung weiterhin abzulehnen und mit Rechtsprechung52 und herrschender Lehre53 eine Wahlfeststellung für grundsätzlich zulässig zu erachten. Und das hat seinen Grund nicht in einer Ausnahmeregelung, sondern darin, dass in die Deliktstatbestände keine deliktsspezifische Nachweisbedingung hineininterpretiert werden sollte – formuliert wird eine solche im Gesetz und erst recht in der Verfassung ohnehin nicht. Die Wahlfeststellung ist im geltenden Strafrecht enger zu fassen als theoretisch und 19 verfassungsrechtlich noch zulässig (Rdn. 14, 18). Das hat vor allem zwei Gründe: Erstens soll der Schuldspruch und damit auch seine Wiedergabe im Strafregister eine verständliche Bedeutung haben und eine Aussage über die Tat und die in der Strafe zum Ausdruck kommende Bewertung des begangenen Unrechts enthalten (und schon der mit der Anklage erhobene Vorwurf muss so bestimmt sein, dass eine Verteidigung darauf bezogen werden kann). Das hat richtigerweise nichts damit zu tun, dass sonst die Bekräftigung der Norm im Strafverfahren scheitern würde,54 denn die Normen, ihre Bedeutung und der Bezug der möglichen Tatvarianten zu diesen Normen sind ja in einem Verfahren und Urteil mit Wahlfeststellung genauso zu behandeln wie ohne Wahlfeststellung. Sonst ließen sich deren Voraussetzungen gar nicht nachweisen; Verdachtsurteile sind und bleiben unzulässig. Aber je heterogener die in Alternativität stehenden Delikte sind, über die der Schuldspruch nur eine Gesamtaussage trifft, desto weniger relevant wird seine Aussage über die Tat.55 In diesem Maße büßt sie die ihr in weiteren Entscheidungen und andernorts zugedachte Funktion ein, z.B. bei einer zukünftigen Feststellung der Vorstrafen. Zweitens bedarf es einer gewissen Zuordnung zu Deliktstypen – die man auch 19a Unrechtstypen nennen kann –, damit im Rahmen der Strafzumessung die nötigen Einordnungen und Vergleiche vorgenommen werden können. Zwar beziehen sich die gesetzlichen Grundsätze der Strafzumessung (§ 46) nicht ausdrücklich auf ein Konzept des „Unrechts“ oder gar einen „Unrechtstypus“ der Tat. Aber je unterschiedlicher die gemeinsam behandelten Pflichten sind, desto weniger lässt sich ein Maß der Pflichtwidrigkeit angeben; Beweggründe, Gesinnung und Art der Ausführung müssen einigermaßen konkret eingeordnet werden können, um eine Maßstabsfunktion zu haben usw. Ein alternativer Schuldspruch ist – auch wegen seiner Funktionen für weitere Ent- 19b scheidungen, insbesondere den Rechtsfolgenausspruch – daher nur insoweit sinnvoll, wie die in Alternativität stehenden Delikte sich auf ähnliche Pflichten beziehen und typischerweise aus ähnlichen Beweggründen, in ähnlicher Gesinnung und in ver-

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51 Dazu, dass Aspekte der Rechtssicherheit keineswegs nur gegen, sondern gerade auch für die Wahlfeststellung sprechen, vgl. bereits Tröndle LK10 § 1 Rdn. 63. Dazu, dass Rechtssicherheit und materielle Einzelfallgerechtigkeit letztlich zusammenwirkende, sich gegenseitig ergänzende Komponenten des Rechtsstaatsprinzips sind, auch Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 67; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 1126; Wolter JuS 1983 363. 52 Namentlich BGHSt (GS) 62 164 (dazu auch BVerfG 2. Kammer 2. Senat NJW 2019 2837); zustimmend hierzu (mit differenzierterer Begründung) Stuckenberg StV 2017 815. Dazu auch Kudlich JA 2017 870; Baur JA 2018 568, 571 ff. 53 Statt vieler Schmitz MK Anh. zu § 1 Rdn. 23; Chr. Jäger SK § 1 Rdn. 52; SSW/Satzger § 1 Rdn. 93 f; Stuckenberg StV 2017 815, 817. 54 Zu einer solchen Sorge Freund/Rostalski JZ 2015 164; dagegen zu Recht Stuckenberg StV 2017 815, 817. 55 Vgl. Schmitz MK Anh. zu § 1 Rdn. 20.

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gleichbarer Ausführungsweise begangen werden. Eine solche Bedingung der Vergleichbarkeit muss daher – aus Gründen der sich aus dem Gesetz ergebenden Zwecke des Schuldspruchs – als in den Sanktionsnormen enthalten angesehen werden (näher hierzu Rdn. 134 ff). Diese Bedingung ist – entgegen der Auffassung insbesondere des Großen Strafsenats56 19c und einer Kammer des BVerfG57 – materiell-rechtlicher Natur,58 und dasselbe gilt für die Begründung der (Zulässigkeit der) Wahlfeststellung als solche. Sie präzisiert die Bedeutung des meist nur für den einfachsten Fall eines eindeutigen Deliktsbezugs gedachten und explizierten Grundsatzes „nullum crimen sine lege“ für komplexere Fallgestaltungen. Wird dieser Grundsatz in einer Darstellung zunächst übertrieben simplizistisch wiedergegeben, so ist diese Darstellung für Fälle wahldeutiger Feststellungen zu modifizieren, denn nicht die Wahlfeststellung, sondern die Sanktionsnormen, von denen mindestens eine erfüllt wurde, begründen die Strafbarkeit.59 Weil sie den Rahmen des Strafbaren betreffen, haben diese materiell-rechtlichen Regeln auch verfahrensrechtliche Auswirkungen.60 Mit ihnen wird nämlich präzisiert, welche Zweifel relevant sind und welche nicht, und das präzisiert wiederum die Bedeutung des Grundsatzes „in dubio pro reo“. Auch diese Präzisierung stellt sich nur dann als Einschränkung dar, wenn der Grundsatz zunächst in zu stark vereinfachender Weise entwickelt wurde und deshalb für komplexere Gestaltungen wiederum korrekturbedürftig ist. Nichts anderes bedeutet die „Zulässigkeit“ der Wahlfeststellung. II. Alternativkonstellationen und Begriff der Wahlfeststellung 20

Zunächst soll dargelegt werden, welche Konstellationen (kategorial) in den Anwendungsbereich der Wahlfeststellung einzubeziehen sind. Da der Begriff der Wahlfeststellung ungenau geblieben ist und unterschiedlich verwendet wird,61 ist es erforderlich, auf die zugrunde liegenden Wertungsprobleme zurückzugreifen,62 um eine Abgrenzung zu anderen Fallgruppen vorzunehmen (Rdn. 58 ff) und so der Wahlfeststellung klarere Konturen zu verleihen. Bei der Wahlfeststellung geht es um Fälle, in denen eine mehrdeutige Tatsachengrundlage besteht. Wenn in den verschiedenen Sachverhaltsalternativen derselbe Straftatbestand verwirklicht worden ist, liegt eine reine Tatsachen- oder Sachverhaltsalternativität vor (Rdn. 21 f). Wenn hingegen unterschiedliche Straftatbestände verletzt sind, ist Tatbestandsalternativität gegeben (Rdn. 23 f). Hiervon sind die Fälle der Post- und Präpendenz zu unterscheiden, bei denen es sich nach h.M. nicht um Fälle der Wahlfeststellung handelt, auf die jedoch deren Grundsätze anzuwenden sind (Rdn. 25 ff; 104 ff, 110 ff, 118 ff). Hiervon zu unterscheiden sind Fälle der Rechtsalternativität (Rdn. 28) und der Unklarheit über den Tathergang oder den Taterfolg (Rdn. 29),

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56 BGHSt (GS) 62 164 Rdn. 14 m. hierzu zu Recht krit. Anm. Jahn NJW 2017 2846; der Große Senat entspricht in seiner Auffassung Wolter GA 2016 316, 321 f; ders. GA 2013 271, 273 und SK Anh. zu § 55 Rdn. 11 sowie bereits Nüse GA 1953 33, 38; BGH (1. Strafsenat, Antwortbeschluss) NStZ-RR 2014 308 und (5. Strafsenat, Antwortbeschluss) NStZ-RR 2014 307. 57 BVerfG (2. Kammer 2. Senat) NJW 2019 2837 Rdn. 29. 58 Vgl. auch BGH (2. Strafsenat, Anfragebeschluss) NStZ 2014 392, 394 f m.w.N.; Pohlreich ZStW 2016 676, 689; Haas HRRS 2016 190, 191; Freund FS Wolter 35, 51 ff; aA mit engerem Verständnis des materiellen Rechts Stuckenberg ZIS 2014 461, 467 ff, 471. 59 Vgl. Schuhr NStZ 2014 437 ff; Stuckenberg ZIS 2014 461, 470; Schmitz MK Anh. zu § 1 Rdn. 16. 60 Zu beiderlei Aspekten z.B. Jescheck/Weigend § 16 I 2; Schmidhäuser AT, 5/44; Sch/Schröder/Eser/ Hecker § 1 Rdn. 68; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 20; ders. Alternative S. 38 ff. Zu den verfahrensrechtlichen Fragen vgl. insbes. Beulke/Fahl Jura 1998 262 ff; Fahl JuS 1999 903, 904 ff; Greff (2002) passim. 61 Vgl. dazu nur Endruweit S. 22 ff, 103; Hruschka MDR 1967 265; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 59; Willms JZ 1962 628; Wolter Alternative S. 15 m.w.N. 62 So auch Frister NK Nach § 2 Rdn. 8.

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die nicht der Wahlfeststellung unterfallen und die zu einer eindeutigen Verurteilung auf eindeutiger Tatsachengrundlage führen. 1. Reine Tatsachen- oder Sachverhaltsalternativität. Ein Fall der reinen Tatsa- 21 chen- oder Sachverhaltsalternativität liegt vor, wenn ein bestimmter Straftatbestand entweder durch den einen oder den anderen Sachverhalt verwirklicht worden ist. Hier steht das anzuwendende Strafgesetz fest; ungeklärt bleibt lediglich, durch welche von mehreren Handlungen der Täter das Gesetz verletzt hat. Dabei ist die Möglichkeit der Tatsachenalternativität auch dann gegeben, wenn mehr als zwei Alternativen bestehen.63 In den Fällen der reinen Tatsachen- oder Sachverhaltsalternativität ist eindeutig auf wahldeutiger Tatsachengrundlage zu verurteilen (Rdn. 61). Die Fälle reiner Tatsachenalternativität werden überwiegend als Sonderfall der 22 Wahlfeststellung angesehen,64 weil der Schuldspruch durch die Sachverhaltsalternativität nicht berührt wird (Rdn. 51). Die Rechtsalternativität (Rdn. 131 ff) ist in diesen Fällen erst eine mögliche Folge der Tatsachenalternativität. Gleichwohl ist es zutreffend, auch bei einer Tatsachenalternativität einen Fall der Wahlfeststellung anzunehmen, um zum Ausdruck zu bringen, dass die prozessualen Zulässigkeitsvoraussetzungen der Wahlfeststellung hinsichtlich der Tatalternativen (Rdn. 43 ff) nicht vernachlässigt werden dürfen. Hingegen sind Fälle, in denen zweifelhaft bleibt, wer von mehreren Verdächtigen Täter war, aus dem Bereich der Wahlfeststellung auszuscheiden, weil nicht feststeht, dass der Täter den einen oder den anderen Tathandlung vorgenommen hat (Rdn. 46). In diesen Fällen greift der Grundsatz „in dubio pro reo“ ein. 2. Tatbestandsalternativität. Sodann geht es bei der Wahlfeststellung um das Prob- 23 lem der Verurteilung sowohl auf alternativer Tatsachen- als auch auf alternativer Rechtsgrundlage, weil entweder der eine Straftatbestand durch einen bestimmten Sachverhalt verwirklicht worden ist oder ein anderer Straftatbestand durch einen anderen Sachverhalt. Es muss also zweifelhaft sein, welche von zwei oder mehr in Betracht kommenden Handlungen tatsächlich vorgelegen hat und – daraus resultierend – welcher Tatbestand erfüllt ist, so z.B., wenn zur Überzeugung des Gerichts feststeht, dass der Täter eine Sache in strafbarer Weise erlangt hat, jedoch offen ist, ob er sie gestohlen oder vom Dieb hehlerisch erworben hat.65 In diesen Fällen liegt sowohl Tatsachen- als auch – infolge davon – Gesetzesalternativität vor. Hier wird – anders als bei der reinen Sachverhaltsalternativität – auch der Schuldspruch berührt (Rdn. 51), denn dem Täter wird durch die wahlweise Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage ein Vorwurf gemacht, den er möglicherweise nicht verdient (Rdn. 132). Damit stellen sich bei der Tatbestandsalternativität zusätzliche Probleme, die bei der eindeutigen Verurteilung auf alternativer Tatsachengrundlage nicht auftreten. Deshalb wird auch von ungleichartiger (auch echter) Wahlfeststellung (Rdn. 131) bzw. von „Wahlfeststellung im Rechtssinne“66 gesprochen. Um den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG Rechnung zu tragen, ist eine un- 24 gleichartige Wahlfeststellung nur unter engen Voraussetzungen zulässig: Nach ständiger Rechtsprechung und einer in der Lehre allerdings zunehmend Zweifeln ausgesetzten Ansicht ist die Wahlfeststellung nur zulässig, wenn die zur Wahl stehenden Verhaltensweisen rechtsethisch und psychologisch vergleichbar sind (Rdn. 135 ff). Da der Formel von der „rechtsethischen und rechtspsychologischen Vergleichbarkeit“ jegliche

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Vgl. nur BGHSt 15 63, 65; 16 184, 187. Frister NK Nach § 2 Rdn. 16 ff; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 36; jeweils m.w.N. RGSt 68 257, 262; BGHSt 1 302, 304. So Eb. Schmidt StPO § 244 Rdn. 18 a.E.

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Konturen fehlen, wird in der Literatur überwiegend und zu Recht die „Identität des Unrechtskerns“ gefordert (Rdn. 150 ff). Teilweise wird sogar eine partielle Identität der verwirklichten Tatbestände verlangt, die nur angenommen wird, wenn der Tatbestand des leichteren Delikts auch im Fall der Verwirklichung des schwereren Unrechts erfüllt und damit mit dem schweren Fall nachgewiesen ist. Eine ungleichartige Wahlfeststellung wäre hiernach gänzlich unzulässig (Rdn. 13 f).67 3. Postpendenz und Präpendenz. Bei den Postpendenzfällen handelt es sich um Konstellationen, in denen eine „einseitige Sachverhaltsungewissheit“68 in dem Sinne besteht, dass von zwei Sachverhalten der zeitlich frühere nur möglicherweise, der zeitlich spätere aber sicher gegeben ist. Besondere Rechtsfragen entstehen daraus, wenn die strafrechtliche Bewertung des zweiten Sachverhalts, der feststeht, davon abhängt, ob auch die erste, ungewisse, Sachverhaltsalternative vorliegt (so z.B. in Fällen, in denen unsicher ist, ob der Beschuldigte Mittäter eines Diebstahls oder Hehler einer Sache ist, die er in Kenntnis der Vortat an sich gebracht hat; näher dazu Rdn. 113). 26 Weiterhin ist die umgekehrte Fallkonstellation der Präpendenz denkbar, dass das Vortatverhalten erwiesen ist, die Strafbarkeit wegen dieser Vortat jedoch deshalb fraglich bleibt, weil der Angeklagte möglicherweise anschließend ein weiteres strafbares Verhalten vorgenommen hat, durch das die Strafbarkeit wegen der Vortat verdrängt würde. Eine solche Konstellation liegt z.B. vor, wenn feststeht, dass der Angeklagte sich zur Begehung eines Verbrechens verabredet hat, jedoch ungewiss ist, ob es auch noch zu der gemeinschaftlichen Tatausführung gekommen ist, welche die Verbrechensverabredung verdrängt.69 Die Fälle der Post- und Präpendenzfeststellung werden von der h.L. aus dem Bereich 27 der Wahlfeststellung ausgegliedert (Rdn. 118 ff).70 Gleichwohl werden trotz eindeutiger Verurteilung oft die Grundsätze der Wahlfeststellung auf diese Fallgruppe angewendet (Rdn. 104, 110 ff). 25

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4. Rechtsalternativität. Bei Rechtsfragen, ob ein eindeutig festgestellter Sachverhalt den einen oder den anderen Tatbestand erfüllt, kann keine Wahlfeststellung angenommen werden. Vielmehr sind Zweifel im Falle der Rechtsalternativität im Wege der Auslegung zu beseitigen (iura novit curia).71 So hat das Reichsgericht dargelegt, dass die Frage, ob eine sexuelle Handlung von einiger Erheblichkeit oder nur eine Beleidigung vorliegt, rechtlich entschieden werden muss.72 Hingegen kommt eine Wahlfeststellung zwischen Raub und räuberischer Erpressung in Betracht, wenn nicht feststeht, ob ein Sachverhalt vorliegt, der rechtlich als „Wegnahme“ zu bewerten ist, oder ob ein anderer Tathergang gegeben ist, wonach der Täter den Gewahrsam dadurch erlangt hat, dass er eine Vermögensverfügung des Angegriffenen erzwungen hat. Ist der Tathergang hingegen eindeutig festgestellt und lediglich zweifelhaft, ob er rechtlich als Wegnahme oder als Erzwingung einer Vermögensdisposition zu beurteilen ist, so darf keine Wahlfeststellung vorgenommen werden. Entscheidend für das Vorliegen einer Wahlfeststellung ist somit, dass Tatsachenalternativität gegeben ist (Rdn. 3). Fehlt es hieran, so handelt es sich um einen Fall der Rechtsalternativität.

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67 So Frister NK Nach § 2 Rdn. 76 ff. 68 So Küper FS Lange, S. 65, 68, 72 f. 69 Bauer wistra 1990 218, 220 ff; Joerden JZ 1988 847, 852. 70 Hruschka JZ 1970 637, 641; ders. NJW 1971 1392, 1393; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 55; ders. Alternative S. 126 f; ders. GA 1974 161 ff. 71 BGHSt 14 68, 73; Günther S. 20; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 63; Tröndle LK10 § 1 Rdn. 65. 72 RGSt 71 104.

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5. Unklarheiten über den Tathergang oder den Taterfolg. Weiterhin führt nicht 29 jede Unklarheit über den Tathergang oder den Taterfolg zur Frage nach der Zulässigkeit einer wahlweisen Verurteilung: Gibt ein Täter in Tötungsabsicht unmittelbar nacheinander mehrere Schüsse ab und trifft nur einer tödlich, so ist für eine Wahlfeststellung kein Raum, da ein einheitliches und eindeutiges Tatgeschehen und damit eine Handlung lediglich mehrere strafrechtlich gleichwertige (Erfolgs-)Möglichkeiten eröffnet hat.73 Werden hingegen mehrere Schüsse abgegeben und ist nicht zu ermitteln, welcher der Schüsse das Opfer getroffen hat, so ist, wenn nur einer der Schüsse in Tötungsabsicht abgegeben worden ist, nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ nur wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung zu bestrafen (näher dazu Rdn. 128).74 III. Entwicklung der Wahlfeststellung Das Problem der Wahlfeststellung75 stellte sich erst, als im Jahre 1848 die Schwur- 30 gerichte eingeführt worden waren. Dies erklärt sich daraus, dass im materiellen Strafrecht zunächst die Tatbestandsabgrenzungen in der Praxis keine so große Rolle spielten und das Strafverfahren von anderen Grundsätzen als heute beherrscht war;76 insbesondere bestand keine Pflicht des Gerichts zur Erforschung der materiellen Wahrheit. Erst als viele Staaten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Geschworenengericht aus Frankreich übernommen hatten,77 mussten die Richter nicht mehr alleine urteilen. Vielmehr wurde der Schuldspruch von den Geschworenen gefällt, deren Wahrspruch der Richter durch eine mit Ja oder Nein zu beantwortende Frage anzufordern hatte. Nunmehr musste bezüglich des Befragungsmodus geklärt werden, ob die an die Geschworenen gerichteten Fragen auch alternativ gefasst werden durften.78 In der Praxis war die Zulassung der Wahlfeststellung sehr beschränkt. Dies spiegelt sich in der Rechtsprechung des Preußischen Obertribunals79 wider, das die alternativ gefasste Frage an die Geschworenen – unter Zustimmung weiter Teile der Lehre – nur dann zuließ, wenn die Sachverhaltsalternativen unter ein und denselben Straftatbestand subsumiert werden konnten, wenn also ein Fall der gleichartigen Wahrfeststellung vorlag.80 1. Rechtsprechung des Reichsgerichts. Da der Gesetzgeber in der Reichsstrafpro- 31 zessordnung bewusst auf eine gesetzliche Regelung der Wahlfeststellung verzichtet hatte, um der Rechtsprechung und der Rechtsentwicklung auf diesem Gebiet nicht vorzugreifen,81 musste sich das Reichsgericht bereits in seinen ersten Entscheidungen mit der Wahlfeststellung auseinandersetzen. Es orientierte sich dabei an der Judikatur des Preußischen Obertribunals (Rdn. 30) und ließ die Wahlfeststellung im Wesentlichen nur bei „unmaßgeblichen Alternativen“ zu, so z.B. bei der Bestrafung wegen Hehlerei

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73 Deubner JuS 1962 21. 74 Frister NK Nach § 2 Rdn. 46 f; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 93; Wolter Alternative S. 221 ff; aA Peters GA 1958 97 ff (für eindeutige Verurteilung wegen vollendeter Tötung). 75 Eingehend zur Entstehungsgeschichte Breucker S. 18 ff; Lochmüller S. 4 ff. 76 Vgl. dazu nur Küper Richteridee, S. 34 ff. 77 Allgemein zur damaligen Problematik der Geschworenengerichte Arnold GS 1855 1. Bd., 189 ff, und zur alternativen Fragestellung, S. 216 ff. 78 Näher dazu Fuchs S. 74 ff; ders. DRiZ 1967 16, 17; Heinitz JZ 1952 100; Jescheck/Weigend § 16 III 1; Nüse S. 8 ff, 20 ff; Wolter Alternative S. 20 ff; vgl. auch Endruweit S. 31 ff; Günther S. 24 ff; Montenbruck S. 17 ff; Schorn DRiZ 1964 45 f. 79 GA 1867 505. 80 Siehe dazu v. Tippelskirch GA 15 (1867) 449, 454 ff. 81 Motive zu §§ 250 und 267 Entw. RStPO 1877 und Hahn Materialien zur StPO 1 223.

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nach § 259 a.F., wenn der Täter entweder gewusst hat oder hätte wissen müssen, dass die Sachen durch eine strafbare Handlung erlangt worden sind;82 zwischen den einzelnen Anstiftungsmitteln;83 beim Tatbestand der Schändung (§ 176 Abs. 1 Nr. 2 a.F., jetzt: § 177)84 hinsichtlich der Frage, ob die zur Unzucht missbrauchte Frau willenlos oder geisteskrank war;85 bei Verurteilung wegen Anstiftung (§ 48 Abs. 1 a.F.), wenn die Bestimmung zur Straftat entweder durch Missbrauch des Ansehens oder der Gewalt oder durch andere (im Gesetz nicht genannte, vom Richter aber bezeichnete) Mittel begangen worden ist;86 ferner, wenn offen blieb, ob die Tat, auf die sich die Anstiftung bezog, von einem Täter allein oder von mehreren gemeinschaftlich verübt worden ist.87 Weiterhin wurde eine Wahlfeststellung bei Verurteilung des Angeklagten entweder als Alleintäter oder als Mittäter88 sowie zwischen Täterschaft einerseits und Anstiftung oder Beihilfe andererseits89 angenommen. Hingegen wurde eine Wahlfeststellung zwischen Anstiftung und Beihilfe als unzulässig angesehen.90 Weiterhin wurde bei bestimmten gleichwertigen Begehungsarten ein und des32 selben Straftatbestandes eine Wahlfeststellung zugelassen, 91 jedoch keineswegs durchgängig: Für zulässig gehalten wurde die Wahlfeststellung beim schweren Diebstahl aus einem Gebäude zwischen Einsteigen und Anwendung falscher Schlüssel, § 243 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 a.F.,92 sowie zwischen Einbruch und Anwendung falscher Schlüssel, § 243 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 a.F.;93 beim besonders schweren Raub (§ 251 a.F.) zwischen Raub mit Marterung und Raub mit der Folge einer schweren Körperverletzung; bei der Begünstigung (§ 257 a.F.) zwischen Unterschlagung, Hehlerei und Untreue als Vortat94 sowie zwischen der Absicht der Strafvereitelung und der Absicht der Vorteilssicherung;95 ferner, wenn der Täter die Sache entweder an sich gebracht oder zu ihrem Absatz bei anderen mitgewirkt,96 wenn er sie entweder verheimlicht oder sonst an sich gebracht97 sowie wenn er sie entweder angekauft oder zum Pfand genommen hat;98 bei der Urkundenfälschung zwischen dem Gebrauch einer vom Täter verfälschten Urkunde und dem Gebrauch einer von einem anderen gefälschten Urkunde, die der Täter in Kenntnis der Verfälschung zur Täuschung benutzt hat (§§ 267, 270 a.F.);99 bei der Vollstreckungsvereitelung (§ 288 a.F.) zwischen Veräußern und Beiseiteschaffen; 100 im Rahmen der Brandstiftung nach § 308 a.F. zwischen Inbrandsetzen eines Vorrats von landwirt-

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82 RG Rspr. 1 777, 778. 83 RGSt 9 22, 25 f. 84 Vormals § 179 StGB a.F. (sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Personen), aufgehoben durch das Fünfzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung vom 4.11.2016 (BGBl. I S. 2460) mit Wirkung vom 10.11.2016. 85 RG Rspr. 4 86, 88. 86 RG Rspr. 3 93, 94 f; 9 22, 25 f; 59 239, 240. 87 RGSt 37 215, 217 f. 88 RGSt 12 347, 352 f. 89 RGSt 53 231, 233; aA RGSt 12 347, 352. 90 RGSt 12 347, 352. 91 RGSt 22 213, 216; 23 47. 92 RGSt 55 44 ff. 93 RGSt 55 228, 229 f; aA noch RGSt 23 47, 48. 94 RGSt 58 290, 291. 95 RGSt 58 290, 292. 96 RG Rspr. 3 813, 815. 97 RGSt 56 61 ff. 98 RGSt 51 179, 184. 99 RGSt 35 299, 300. 100 RGSt 6 100, 103.

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schaftlichen Erzeugnissen und dem von Baumaterialien;101 bei der schweren Amtsunterschlagung (§ 351 a.F.) zwischen den verschiedenen Erschwerungsgründen.102 Hingegen wurde eine Wahlfeststellung abgelehnt zwischen einfacher und räuberi- 33 scher Erpressung (§§ 253 und 255);103 bei Aufruhr (§ 115 a.F.) zwischen Handlungen nach § 113 und § 114 a.F.;104 bei Forstwiderstand (§ 117 a.F.) zwischen Widerstandleisten und tätlichem Angriff;105 bei Amtsanmaßung (§ 132 a.F.) zwischen unbefugtem Befassen mit der Ausübung eines öffentlichen Amtes und der Vornahme von Handlungen, welche nur kraft eines öffentlichen Amtes vorgenommen werden dürfen;106 für den Fall verschiedener Taten bei Meineid (§ 153 a.F.) zwischen zwei einander widersprechenden Eiden, die an verschiedenen Tagen vor verschiedenen Gerichten geschworen wurden;107 zwischen schwerem Diebstahl im Rückfall und Hehlerei (§ 243 Abs. 1 Nr. 1, §§ 244, 259 a.F.);108 beim schweren Raub zwischen dem Erschwerungsgrund des Raubes mit Waffen und dem des Raubes zur Nachtzeit in einem bewohnten Gebäude (§ 250 Abs. 1 Nrn. 1 und 4 a.F.);109 zwischen einfacher und räuberischer Erpressung (§§ 253, 255 a.F.).110 Die Literatur folgte der restriktiven Auffassung des Reichsgerichts zunächst fast 34 einhellig, bis sich im Jahre 1913 Rumpf für eine Zulassung der Wahlfeststellung auch bei verschiedenen Tatbeständen aussprach.111 Unter dem Einfluss von dessen groß angelegter Untersuchung sprach sich der Deutsche Richtertag dafür aus, die Wahlfeststellung nur noch durch das Erfordernis der prozessualen Tatidentität zu begrenzen.112 In der Folgezeit wurden solche Forderungen zunehmend gestellt. So postulierte der spätere Reichsgerichtsrat Zeiler mehrfach und mit größtem Eifer die unbegrenzte Zulassung der Wahlfeststellung.113 Gegen Ende der Weimarer Republik wurde die restriktive Haltung des Reichsgerichts von Nüse als Ausdruck einer „liberalen Staatsauffassung, als rationalistische Weltanschauung sowie als eine Rechtsanschauung, die am Positiven haftet und zum Formalismus neigt“, scharf kritisiert.114 Gleichwohl hielt das Reichsgericht zunächst an seiner bisherigen Rechtsprechung 35 fest. Erst mit der Entscheidung der Vereinigten Strafsenate vom 2.5.1934 (RGSt 68 257 ff), die auf Vorlage des ersten Strafsenats, dem inzwischen Zeiler angehörte, erging und entgegen einem versehentlich115 vorab veröffentlichten Urteilsentwurf116 die Wahlfeststellung für die Alternative Diebstahl und Hehlerei als eng begrenzte Ausnahme zuließ, nahm das Reichsgericht eine moderate Änderung seiner Rechtsprechung vor. Die Zulässigkeit der Wahlfeststellung zwischen diebischer und hehlerischer Erlangung entsprach dem stets hervorgehobenen kriminalpolitischen Bedürfnis und der Erfahrung, dass die Instanzgerichte bei Mehrdeutigkeit nicht freisprachen, sondern auf alle Fälle zu

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101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116

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RGSt 35 285, 287. RGSt 43 281, 282. RGSt 11 103, 104. RGSt 54 323. RGSt 28 98, 99. RGSt 32 85, 86. RGSt 26 155, 156 ff. RGSt 53 231, 232 f. RGSt 56 35 f. RGSt 11 103, 104. Rumpf S. 197 ff; ders. DRiZ 1913 Sp. 768, 790 ff. Deutscher Richtertag DRiZ 1913 Sp. 812. Zeiler ZStW 40 (1919) 168 ff; 42 (1921) 665 ff; 43 (1922) 596 ff. Nüse (1933) S. 31. S. dazu RGSt 69 369, 371. JW 1934 294 m. Anm. H. Mayer; näher dazu Pauli S. 51.

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einer eindeutigen Feststellung zu gelangen suchten.117 In allen weiteren Konstellationen sollte eine Wahlfeststellung zwischen verschiedenen Straftatbeständen nach wie vor ausgeschlossen bleiben. 2. Gesetzgeberische Regelung der Wahlfeststellung durch das Gesetz vom 28.6.1935. Der Gesetzgeber von 1935 ging einen erheblichen Schritt weiter, indem er durch das Gesetz vom 28.6.1935118 die Vorschrift des § 2b StGB 1935 in das Strafgesetzbuch einfügte und damit die Wahlfeststellung allgemein zuließ. Diese materiell-rechtliche Regelung, die am 1.9.1935 in Kraft trat,119 wurde auf dem Gebiet des Verfahrensrechts durch § 267b StPO 1935 ergänzt, der durch das Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 28.6.1935120 eingeführt wurde (siehe oben vor Rdn. 1). Damit hatte der nationalsozialistische Gesetzgeber die unbegrenzte Wahlfest37 stellung gesetzlich eingeführt. Die neuen Regelungen, die im Einklang mit den Bestrebungen des NS-Gesetzgebers standen, die Bindung des Richters an das Gesetz zu lockern (§ 1 Entstehungsgeschichte vor Rdn. 1),121 führten dazu, dass das Reichsgericht in der Folgezeit die Wahlfeststellung in sehr weitem Umfang anerkannte. Es ließ die Wahlfeststellung stets zu, wenn sicher war, dass jemand gegen eines von mehreren Strafgesetzen verstoßen hatte und eine Tatfeststellung nur wahlweise möglich war. So hat das Reichsgericht eine Wahlfeststellung sogar zwischen versuchter Abtrei38 bung und Betrug anerkannt.122 Obwohl die Tat im ersteren Fall bereits vor Einführung des § 2b StGB 1935 begangen worden war, wendete das Reichsgericht diese Vorschrift an und begründete dies damit, dass dieser Regelung nach geläuterter Rechtsauffassung nur deklaratorische Bedeutung zukomme.123 Weiterhin wurde Wahlfeststellung bejaht zwischen Beischlaf zwischen Verwandten auf- und absteigender Linie und Unzucht mit einem Pflegekind (§ 173 Abs. 1, § 174 Abs. 1 a.F.) und Beischlaf zwischen Verschwägerten auf- und absteigender Linie (§ 173 Abs. 2 a.F.),124 Vollrausch und Rauschtat,125 Meineid durch Bejahung und Verneinung des Beischlafs,126 Teilnahme am Mord und unterlassener Anzeige des Mordplans,127 zwischen versuchter Abtreibung nach § 218 Abs. 3 (i.d.F. der DVO vom 18.3.1943),128 die der Täter an einer Schwangeren vornimmt, und der Beihilfe zu einer versuchten Abtreibung, die eine Frau nach § 218 Abs. 1 und 2 (in der genannten Fassung) an sich selbst begeht.129 Die Bestrebungen eines Teils der Literatur,130 die Anwendung des § 2b StGB 1935 auf die Grundsätze der Plenarentscheidung RGSt 68 257 (Rdn. 35) zu beschränken, wurden von der Rechtsprechung nicht übernommen.131 Unter der Geltung des § 2b StGB 1935 wurde die Möglichkeit der Wahlfeststellung 39 (im Sinne dieser Vorschrift) allerdings in einer Reihe von Fällen ausgeschlossen, und 36

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117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130 131

Vgl. die Nachweise bei Zeiler ZStW 40 (1919) 168 ff. RGBl. I S. 893. Zur Rechtsprechung während der Geltung des § 2b StGB 1935 Schaffstein NJW 1952 725 ff. RGBl. I S. 844. Vgl. Gribbohm NJW 1988 2842, 2843. RGSt 69 369, 371; 71 43, 44. Näher dazu Pauli S. 57 f. RGSt 71 138, 139. RGSt 70 42, 43 f; 85, 87; 326, 327. RGSt 72 339, 342 f. RGSt 73 52, 59 f. RGBl. I S. 169. RGSt 77 350, 354. Graf zu Dohna ZStW 55 (1936) 579 ff. Vgl. dazu den Überblick über die Rechtsprechung bei Schorn DRiZ 1964 45, 47 m.w.N.

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zwar wegen Anwendbarkeit des Grundsatzes „in dubio pro reo“ zwischen Täterschaft und Beihilfe, wenn bei Begehung einer Tat durch zwei Beteiligte offen blieb, wer von ihnen Täter und wer Gehilfe war. Bei einer solchen Fallgestaltung wurde (wie überhaupt bei einem Zweifel, ob die schwerere Beteiligungsform der Mittäterschaft oder die leichtere der Beihilfe vorlag) für beide „nach einem allgemeinen strafrechtlichen Grundsatze die leichtere Form angenommen“, d.h. wegen Beihilfe bestraft;132 ebenso zwischen Beischlaf zwischen Verwandten auf- und absteigender Linie (§ 173 Abs. 1 a.F.) und Beischlaf zwischen Verschwägerten auf- und absteigender Linie (§ 173 Abs. 2 a.F.) für den Fall, dass das Mädchen, mit dem der Täter Geschlechtsverkehr hatte, nach den Feststellungen eine Tochter seiner Ehefrau und möglicherweise zugleich sein eigenes Kind war.133 3. Aufhebung des § 2b StGB 1935 durch das Kontrollratsgesetz Nr. 11. Nach dem 40 Zweiten Weltkrieg wurden § 2b StGB 1935 und § 267b StPO 1935 durch Art. I des Kontrollratsgesetzes Nr. 11 vom 30.1.1946134 als typisch nationalsozialistisches Recht aufgehoben. Gleichwohl kehrte die Rechtsprechung nicht zu der restriktiven Linie zurück, welche die Rechtsprechung während der Weimarer Zeit verfolgt hatte (Rdn. 31 ff), sondern berief sich auf die Entscheidung der Vereinigten Strafsenate aus dem Jahre 1934 135 (Rdn. 35) und sprach sich für eine beschränkte Zulassung der Wahlfeststellung aus.136 Auch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hielt sich zunächst noch in diesem Rahmen,137 entsprach aber in einer umstrittenen Entscheidung „den praktischen Bedürfnissen“ und bejahte eine Wahlfeststellung zwischen Meineid und fahrlässigem Falscheid.138 Außerdem wurde die Beschränkung der Wahlfeststellung auf die Alternative Diebstahl und Hehlerei aufgegeben139 und eine Formel Kohlrauschs140 übernommen, nach der eine Wahlfeststellung immer zulässig sein sollte, wenn die in Frage stehenden Tatbestände „rechtsethisch und psychologisch vergleichbar“ sind (näher dazu Rdn. 135 ff). In der Tendenz nahm die Rechtsprechung unter Berufung auf kriminalpolitische und praktische Erwägungen in den folgenden Jahren eine Richtung, die deutlich über die Grundsätze der Plenarentscheidung im Jahre 1934141 hinausging,142 wenngleich sie im Ergebnis nicht auf eine Wiedereinführung des § 2b StGB 1935 hinauslief.143 Die Grenzen der Wahlfeststellung, die sich aus dem Erfordernis der rechtsethischen 41 und psychologischen Vergleichbarkeit ergaben, verloren in der Folgezeit zunehmend an Bedeutung, weil die Rechtsprechung über die neueren Rechtsfiguren des begriffslogischen und normativ-ethischen Stufenverhältnisses (Rdn. 72 ff, 91 ff), des – inzwischen aufgegebenen – Auffangtatbestandes (Rdn. 65) und der Prä- und Postpendenz (Rdn. 110 ff) die Verurteilungsmöglichkeiten im Vergleich zu der diesbezüglich deutlich restriktiveren Rechtsprechung des Reichsgerichts vor 1935 (Rdn. 31 ff) ausweitete. So hat der Bundesgerichtshof wiederholt eine Verurteilung, die der Tatrichter auf der Grundlage einer

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132 RGSt 71 364, 365. 133 RGSt 71 138, 139. 134 KR-Amtsblatt S. 45. 135 RGSt 68 257 ff. 136 OLG Celle HESt. 1 3; OLG Freiburg DRiZ 1947 65; OGHSt. 2 89; LG Tübingen NJW 1947/48 389. 137 BGHSt 4 128; BGH GA 1954 242; BGHSt 5 280. 138 BGHSt 4 340. 139 BGHSt 11 26. 140 Kohlrausch Strafgesetzbuch36 § 2b II 2–4. 141 RGSt 68 257 ff. 142 So zutreffend Tröndle LK10 § 1 Rdn. 77. 143 So aber Schorn DRiZ 1964 45, 48; ebenso Günther S. 108 m. Fn. 13; Eb. Schmidt Lehrkommentar, § 244 StPO Rdn. 17.

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von ihm angenommenen gleichartigen Wahlfeststellung ausgesprochen hatte, auf dem Weg über die Annahme vor allem eines Stufenverhältnisses in eine Verurteilung auf eindeutiger Tatsachengrundlage umgestellt.144 Da der Tatrichter in solchen Fällen bei der Strafzumessung ohnehin von der dem Angeklagten günstigsten rechtlichen Möglichkeit ausgehen musste, hat sich eine derartige Umstellung in der Regel nicht praktisch ausgewirkt. 42

4. Forderung nach einer gesetzgeberischen Lösung. Im Schrifttum wurde angesichts der Entwicklung der Rechtsprechung, welche die Wahlfeststellung zunehmend ausweitete, von einer stark vertretenen Meinung eine gesetzgeberische Lösung gefordert.145 Gleichwohl hat der Gesetzgeber im Rahmen des 3. StRÄndG die Klärung der Frage nach der Zulässigkeit und den Grenzen der Wahlfeststellung ausdrücklich der Rechtsprechung und dem Schrifttum überlassen146 und auch spätere Gelegenheiten nicht genutzt, um insbesondere die im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG problematische Tatbestandsalternativität (ungleichartige Wahlfeststellung) zu regeln.147 Aus den in Rdn. 19 dargestellten Gründen wurde im Schrifttum zu Recht verlangt, dass die Rechtsprechung generell Zurückhaltung bei der Anwendung der Wahlfeststellung üben solle.148 IV. Wahlfeststellung in prozessualer Perspektive

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1. Verfahrensrechtliche Voraussetzungen. Die Wahlfeststellung setzt in verfahrensrechtlicher Hinsicht voraus, dass eine umfassende Sachaufklärung erfolgt (Rdn. 44 f), die Gewissheit der Verwirklichung eines von mehreren Strafgesetzen durch den Beschuldigten (Rdn. 45) sowie exklusive Alternativität der in Betracht kommenden Sachverhalte gegeben ist (Rdn. 46 f).

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a) Unmöglichkeit einer eindeutigen Verurteilung trotz umfassender Sachaufklärung. Um eine Verurteilung auf eindeutiger Tatsachengrundlage vornehmen zu können, müssen zunächst sämtliche Aufklärungsmöglichkeiten ausgeschöpft sein (§ 244 Abs. 2 StPO).149 Erst wenn dies erfolgt und gleichwohl die Feststellung einer eindeutigen Tatsachengrundlage nicht möglich ist, darf eine Verurteilung auf alternativer Tatsachengrundlage in Betracht gezogen werden.150

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b) Gewissheit der Verwirklichung eines von mehreren Strafgesetzen durch den Beschuldigten. Eine Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage setzt sodann voraus, dass sich der Angeklagte nach allen verbleibenden Sachverhaltsalternativen – unter Ausschluss jeder weiteren Möglichkeit151 – strafbar gemacht hat. Auch bei Fahrläs-

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144 BGHSt 23 203, 204 = JuS 1976 15 m. Anm. Löhr; 31 136, 137. 145 Fuchs NJW 1966 1110, 1111; ders. DRiZ 1968 17; Nüse GA 1953 33; ders. JR 1958 66; Zeidler ZStW 64 (1952) 156; vgl. auch Endruweit S. 325; Günther S. 28 f, 166; Wolter Alternative S. 23, 279; Röhmel JA 1975 371. 146 Amtl. Begr. zum Entwurf des 3. StrÄndG vom 4. August 1953; BTDrucks. I/3713 S. 19. 147 Näher dazu Günther S. 29. 148 Zur Kritik an der Rechtsprechung vgl. bereits Tröndle LK10 § 1 Rdn. 95 ff, m. kritischen Bemerkungen insbesondere zur herkömmlichen Formel von der rechtsethischen und psychologischen Vergleichbarkeit. 149 Vertiefend zur in der Hauptverhandlung festgestellten Wahlfeststellung Kudlich JuS 2005 236, Th. Schröder JuS 2005 707. 150 RGSt 70 326, 327; 71 341, 343; 364, 365; BGHSt 12 386, 388; 21 152; BGH NJW 1974 805; Eschenbach Jura 1994 302; Sander LR § 261 StPO Rdn. 159; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 61. 151 BGHSt 12 386, 389; 15 63, 65; 42 65, 67; BGH NJW 1996 2042, 2043; s. auch BGH NJW 1983 405 = JA 1983 338 ff m. Anm. Kratzsch.

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sigkeitstaten müssen alle denkbaren Alternativen zur Strafbarkeit führen.152 Das Gericht muss deshalb sämtliche Sachverhaltsalternativen feststellen. Dabei gelten für die Überzeugungsbildung des Gerichts dieselben Regeln wie bei eindeutigen Fällen.153 Es darf kein Zweifel daran bestehen, dass sich das Geschehen innerhalb der Sachverhaltsalternativen nicht auf ganz andere Weise zugetragen hat.154 Deshalb scheidet eine Wahlfeststellung zwischen fahrlässiger Tötung und vollendetem Mord aus, wenn ungewiss bleibt, ob der Schuss, den der Täter vorsätzlich oder fahrlässig ausgelöst hat, das Opfer überhaupt getroffen hat. Alle in Betracht gezogenen Taten müssen nach Ort, Zeit und Sachumständen ebenso umfassend festgestellt werden, wie dies bei einer eindeutigen Verurteilung notwendig ist.155 Sodann muss für jede der Sachverhaltsalternativen geprüft werden, ob alle materiellen und prozessualen Voraussetzungen für eine Bestrafung vorliegen.156 Es muss ausgeschlossen sein, dass eine der Handlungsvarianten straflos ist oder ein Verfahrenshindernis der Bestrafung entgegensteht,157 etwa das Fehlen eines Strafantrags.158 c) Exklusive Alternativität der in Betracht kommenden Sachverhalte. Ferner 46 muss das Gericht davon überzeugt sein, dass bei Nichtvorliegen des einen Sachverhalts notwendigerweise der andere Sachverhalt erfüllt ist – und umgekehrt. Der Zweifel am Vorliegen des einen Sachverhalts darf allein auf der Möglichkeit des anderen Sachverhalts beruhen – und umgekehrt.159 Die in Betracht gezogenen Sachverhaltsalternativen müssen somit im Verhältnis „exklusiver Alternativität“ zueinander stehen. Dies bedeutet nicht, dass eine Wahlfeststellung ausscheidet, wenn zusätzlich die Möglichkeit besteht, dass beide Sachverhalte vorliegen, z.B. beide Zeugenaussagen des Täters falsch sein können. Exklusivität bedeutet nur, dass Straflosigkeit als mögliche Alternative ausscheidet.160 Dieses Erfordernis ist nicht gegeben, wenn bei mehreren Verdächtigen die Möglichkeit besteht, dass einer unbeteiligt war, und ungewiss bleibt, welcher dies ist; in einem solchen Fall sind alle Beteiligten freizusprechen.161 Ein Verdächtiger darf nicht verurteilt werden, wenn er nur möglicherweise an einer der alternativ in Betracht gezogenen Taten beteiligt war162 oder wenn nachträglich eines der beiden alternativ in Betracht kommenden Strafgesetze aufgehoben worden ist (§ 2 Abs. 3).163 Die Umschreibung, es müsse ein Verhältnis exklusiver Alternativität vorliegen, ist 47 auf Fälle zu beschränken, in denen die beiden Sachverhaltsalternativen in einem Aliud-Verhältnis zueinander stehen. Wenn sie im Verhältnis des „Mehr oder Weniger“ zueinander stehen (Rdn. 3), ist unter Anwendung des Grundsatzes „in dubio pro reo“ auf eindeutiger Tatsachengrundlage eine eindeutige Verurteilung nach dem leichteren Gesetz vorzunehmen (Rdn. 58). Bei Sachverhaltsalternativen, welche die Post- oder Präpendenzfeststellung betreffen (Rdn. 104 ff), würde das Erfordernis exklusiver Alternati-

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152 BVerfG GA 1969 246. 153 BGH NJW 1954 932; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 79; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 61. 154 BGH NJW 1957 1643. 155 BGH MDR 1980 948; BGH NJW 1954 932; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 61. 156 BGH NStZ 1981 33. 157 OLG Braunschweig NJW 1951 38. 158 OLG München DJ 1936 1499. 159 BGHSt 12 386, 389; BGH NStZ 1981 33; NJW 1983 405; GA 1984 373 f; OLG Stuttgart NJW 1996 2879; Rudolphi Anh. zu § 55 Rdn. 9; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 80. 160 BGH bei Holtz MDR 1981 267. 161 OLG Oldenburg NdsRpfl. 1950 44; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 79; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 63. 162 Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 63. 163 Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 79; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 63.

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vität zu unzutreffenden Ergebnissen führen,164 weil in diesen Fällen ein bestimmter Sachverhalt eindeutig festgestellt ist und nur bezüglich eines weiteren Sachverhalts ein „non liquet“ besteht (Rdn. 50, 105 ff). Deshalb handelt es sich in diesen Fällen nicht um solche der Wahlfeststellung; vielmehr sind nur die Grundsätze der Wahlfeststellung entsprechend anzuwenden (Rdn. 110 ff). d) Nachweis der alternativen Sachverhalte. Die alternative Sachverhaltsfeststellung ist mit besonderen Gefahren für die „Sicherheit der Urteilsfindung“ verbunden.165 Diesbezüglich haben die Vereinigten Strafsenate des Reichsgerichts dahingehende Bedenken geäußert, dass immer dann, wenn die Feststellung eines bestimmten Sachverhalts nicht möglich ist, sich das Schwergewicht der richterlichen Tätigkeit von der Bejahung des strafbaren Verhaltens auf die Verneinung aller nicht strafbaren Sachverhaltsalternativen verlagere. Bei einem solch negativen Vorgehen sei die Gefahr einer aus dem Übersehen von Sachverhaltsalternativen resultierenden Täuschung weitaus größer als bei dem bejahenden Fürwahrhalten eines Geschehens (RGSt 68 257, 260 f). Gleichwohl hat das Reichsgericht eine Verurteilung auf alternativer Tatsachengrundlage nicht generell abgelehnt, wenngleich dies in der Konsequenz seiner Argumentation gelegen hätte.166 Dieser Argumentation des Reichsgerichts wird von der Literatur entgegen gehalten, 49 im Strafprozess könne eine „fotografische Rekonstruktion des Geschehens“ nicht verlangt werden.167 Dies ist jedoch auch nicht erforderlich, da Einzelheiten des Geschehens, die für den Tatbestand irrelevant sind, ohnehin nicht festgestellt zu werden brauchen. Die Frage nach einer Verurteilung auf alternativer Tatsachengrundlage stellt sich erst, wenn die Feststellung alternativer Geschehensabläufe zur Sachverhaltskonkretisierung notwendig ist, um eine Verurteilung zu rechtfertigen.168 Die spezifischen Beweisprobleme, die Gefahren für die „Sicherheit der Urteilsfindung“ bilden, müssen daher Feststellungen betreffen, die zur Sachverhaltskonkretisierung tatsächlich erforderlich sind. 50 Solche Gefahren bestehen bei den Post- oder Präpendenzfeststellungen nicht, weil in diesen Fällen der eine Sachverhalt eindeutig festgestellt ist und nur bezüglich eines weiteren Sachverhalts ein „non liquet“ vorliegt. Hingegen ergeben sich Gefahren daraus, dass auch die Feststellung eines eindeutigen Sachverhalts die Verneinung anderer möglicher Sachverhaltsgestaltungen voraussetzt. Diese Verneinung erfolgt häufig in der Weise, dass das Gericht aus Indizien für die festzustellenden Sachverhaltsgestaltungen darauf schließt, dass andere denkbare Sachverhaltsgestaltungen nicht gegeben sind. Dieses Vorgehen ist jedoch unzulässig. Vielmehr bedarf es des Vorliegens von Indizien, die gegen die auszuschließende Sachverhaltsgestaltung sprechen. Aus der Überzeugung, dass eine oder mehrere Sachverhaltsgestaltungen gegeben sind, darf also nicht der Schluss gezogen werden, dass andere denkbare Möglichkeiten deshalb nicht vorliegen. Es bedarf vielmehr eines Negativbeweises.169

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2. Rechtsfolgen. Das Vorliegen einer Sachverhaltsalternativität ist für den Schuldspruch ohne Bedeutung, wenn die Voraussetzungen einer eindeutigen Verurtei-

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164 Hruschka JZ 1970 637; zust. Frister NK Nach § 2 Rdn. 11. 165 Näher zu den beweistheoretischen Problemen Günther S. 50 ff; Hruschka NJW 1971 1392; Wolter Wahlfeststellung S. 96 f. 166 So schon Jakobs GA 1971 257, 259; zust. Frister NK Nach § 2 Rdn. 10. 167 Günther S. 108 m.w.N. 168 Frister NK Nach § 2 Rdn. 14. 169 Frister NK Nach § 2 Rdn. 16 ff.

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lung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage (Rdn. 61 ff, 70 ff) vorliegen. In diesen Fällen ist lediglich in den Urteilsgründen darzulegen, dass und aus welchen Gründen eine eindeutige Tatsachenfeststellung nicht möglich war.170 Wenn hingegen ein begriffslogisches oder ein normativ-ethisches Stufenverhältnis zwischen den in Betracht kommenden Straftatbeständen besteht, ist in Anwendung des Grundsatzes „in dubio pro reo“ eine Reduzierung auf das mildere Gesetz vorzunehmen und sodann eindeutig auf wahldeutiger Tatsachengrundlage zu verurteilen (Rdn. 64). In den Post- und Präpendenzfällen ist eindeutig auf der Grundlage des feststehenden Sachverhalts zu verurteilen. Im Falle der Postpendenz ist dies die feststehende Nachtat, im Falle der Präpendenz die feststehende Vortat. Wenn Post- bzw. Präpendenz und ungleichartige Wahlfeststellung zusammentreffen, tritt die ungleichartige Wahlfeststellung zurück (Rdn. 127). Liegt hingegen zugleich Gesetzesalternativität (Rdn. 131 ff) vor, so ist eine alternative Fassung des Schuldspruchs erforderlich (Rdn. 158). Bei der Strafzumessung ist sowohl im Falle der gleichartigen Wahlfeststellung als 52 auch der ungleichartigen Wahlfeststellung (Rdn. 160 ff) für jede der Sachverhaltsalternativen hypothetisch eine Strafe unter Berücksichtigung aller spezialgesetzlicher und allgemeiner Strafzumessungsgründe erforderlich. Die so ermittelten Strafen sind miteinander zu vergleichen und die mildeste zu verhängen.171 Es kommt also darauf an, welche Vorschrift für den konkreten Fall die mildeste Bestrafung zur Folge hat.172 Dies gilt nicht nur für die Hauptstrafen, sondern auch für die Nebenstrafen und Nebenfolgen sowie für die Maßregeln der Besserung und Sicherung.173 Diese Rechtsfolgen dürfen nur verhängt werden, wenn ihre Anordnung in allen Sachverhaltsalternativen angezeigt ist. Im Hinblick darauf, dass es sich bei der Heranziehung des milderen Gesetzes ohnehin um eine Fiktion handelt, dürfen auch Milderungsmöglichkeiten, die an sich nur der strengere Tatbestand vorsieht, berücksichtigt werden.174 3. Verfahren. Eine Wahlfeststellung setzt in prozessualer Hinsicht voraus, dass für 53 die in Betracht kommenden Sachverhalte die Zuständigkeit und die Strafgewalt des erkennenden Gerichts sowie die Prozessvoraussetzungen gegeben175 sind (zur materiellen Rechtskraft und zu den Rechtsmitteln Rdn. 163 f). a) Gerichtszuständigkeit. Die Zuständigkeit des Gerichts ist für jede der Sach- 54 verhaltsalternativen hypothetisch zu prüfen. Ergeben sich aufgrund der unterschiedlichen Rechtfolgenerwartungen oder einer unterschiedlich zu beurteilenden besonderen Bedeutung des Falles (§ 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG) unterschiedliche Zuständigkeiten, so ist entsprechend dem Rechtsgedanken des § 2 Abs. 1 StPO die Anklage bei dem Gericht mit der höheren Zuständigkeit zu erheben,176 da auch im Falle einer alternativen Konkretisierung der Anklage beide Alternativen in vollem Umfang Gegenstand der Urteilsfindung werden.177 Stellt sich die Zuständigkeit eines Gerichts höherer Ordnung erst nach Erhe-

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170 OLG Hamburg NJW 1955 920; zust. Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 78. 171 RGSt 68 257, 263; 71 43; BGHSt 25 182, 186; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 107; Frister NK Nach § 2 Rdn. 73. 172 BGH bei Dallinger MDR 1957 397. 173 RGSt 68 257, 262; Fischer § 1 Rdn. 47; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 107; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 84. 174 BGHSt 13 70; Wolter Alternative S. 40; zust. Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 107. 175 Zur Ablehnung einer Wahlfeststellung, weil eine möglicherweise erforderliche Ermächtigung des BMJ zur Verfolgung nicht vorlag, BGHSt 57 14 Rdn. 30; BGH StV 2012 339 Rdn. 31. 176 Frister NK Nach § 2 Rdn. 74. 177 Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 89.

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bung der Anklage heraus, so ist vor Eröffnung der Hauptverhandlung nach § 225a StPO und nach Beginn der Hauptverhandlung nach § 270 StPO an dieses Gericht zu verweisen. b) Identität von Anklage und Urteilsgegenstand 55

aa) Vorliegen einer Tat im prozessualen Sinn. Wenn die Sachverhaltsalternativen in einem engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang stehen, also Bestandteile ein und desselben historischen Vorgangs sind, liegt Tatidentität i.S. der §§ 155, 264 StPO vor.178 In diesen Fällen ist unstreitig eine Wahlfeststellung zulässig, sofern die übrigen Voraussetzungen vorliegen. Allerdings ist zu beachten, dass auch dann, wenn es sich bei den alternativen Tathergängen um ein und dieselbe Tat im prozessualen Sinne handelt, die Anklageschrift bzw. der Eröffnungsbeschluss alternativ konkretisiert sein muss. Ist dies nicht der Fall, so ist der Angeklagte sowohl bei der echten als auch bei der unechten Wahlfeststellung in (entsprechender) Anwendung des § 265 StPO auf die Möglichkeit einer Verurteilung auf alternativer Tatsachengrundlage hinzuweisen.179

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bb) Vorliegen mehrerer Taten im prozessualen Sinn. In prozessualer Hinsicht ist umstritten, ob Voraussetzung einer Wahlfeststellung tatsächlich Tatidentität i.S.d. §§ 155, 264 StPO ist. Nach der vor allem in der älteren Literatur, aber auch lange von der höchstrichterlichen Rechtsprechung vertretenen Auffassung sollte die Wahlfeststellung auf Fälle beschränkt sein, in denen die Sachverhaltsalternativen eine einheitliche Tat i.S.v. § 264 Abs. 1 StPO darstellten.180 Dies sollte daraus folgen, dass die möglichen Tathergänge jeweils nach Ort, Zeit und Umständen so genau „festgestellt“ sein müssen, wie dies im Falle einer eindeutigen Tatsachenfeststellung erforderlich wäre (Rdn. 45).181 Gegen diese restriktive Auffassung spricht allerdings, dass dadurch eine alternative Verurteilung in den meisten Fällen ausgeschlossen wäre.182 Bereits die Wahlfeststellung zwischen Diebstahl und Hehlerei zeigt, dass ein enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang nicht erforderlich ist, um eine hinreichende Konkretisierung von Prozessgegenstand und Anwendungsbereich der Rechtsfigur zu erreichen. Allerdings nimmt die Rechtsprechung traditionell in solchen Fällen nur eine prozessuale Tat an, „wenn der in der Anklage nach Objekt, Ort und Zeit der Handlung konkretisierte Diebstahl Grundlage der Verurteilung wegen Hehlerei bleibt“.183 Die Rechtsprechung184 hat inzwischen das Erfordernis einer einheitlichen Tat i.S.v. § 264 StPO zu Recht aufgegeben und auch der in

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178 Dazu RGSt 56 324, 325; BGHSt 23 141, 144; Otto FS Peters S. 373, 386; O.H. Schmitt NJW 1957 1886, 1887; aA Sax JZ 1965 745, 747 ff. 179 BGH bei Holtz MDR 1990 890; Frister NK Nach § 2 Rdn. 75; Röhmel JA 1975 371, 378; Tröndle JR 1974 133, 135; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 31; ders. Alternative S. 60; vgl. auch Montenbruck GA 1988 531. 180 RGSt 51 179, 182; 56 324, 325; 71 339, 340; BGH GA 1967 184; JZ 1970 327; NStZ 1986 557 f; OLG Celle MDR 1987 76 m. Anm. Kröpil NJW 1988 188; BayObLGSt 1965 773 ff; Koffka JR 1965 430; H. Mayer JW 1934 294, 300; Oetker GS 106 (1935) 401 417; Sax JZ 1965 745 ff; O.H. Schmitt NJW 1957 1886, 1887; ebenso Fischer § 1 Rdn. 33; näher dazu Endruweit S. 60 ff, 147 ff; Otto FS Peters S. 373, 386; vgl. auch Kohlhaas JuS 1966 282, 315. 181 Vgl. BGH NJW 1954 932; H. Mayer JW 1934 294, 300; Koffka JR 1965 430; Oetker GS 106 (1935) 401, 417; O.H. Schmitt NJW 1957 1886, 1887. 182 Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 32; ders. Alternative S. 34 m.w.N. 183 BGHSt 35 172, 174 m.w.N.; kritisch dazu Frister NK Nach § 2 Rdn. 97; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 94; Schröder NJW 1985 780, 781; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 32; einschränkend nunmehr auch BGH StV 2000 348 f. 184 BGHSt 32 146, 148 ff; ebenso Lackner/Kühl/Kühl § 1 Rdn. 18; Ranft Strafprozeßrecht3, Rdn. 313 ff; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 95; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 32.

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der Literatur vertretenen Auffassung eine Absage erteilt, nach der die Wahlfeststellung ihre Alternativen stets zu einer prozessualen Tat verbinde.185 Weil die Wahlfeststellung richtigerweise als materiell-rechtliche Konsequenz der Sanktionsnormen anzusehen ist, die zwar prozessuale Folgen hat, aber nicht prozessual konstituiert wird (Rdn. 9, 19), besteht für eine solche verfahrensrechtliche Einschränkung in der Tat kein Anlass.186 Die Einhaltung der Grenzen der §§ 155, 264 StPO ist nicht erforderlich.187 Allerdings ist bei zeitlich weit auseinander liegenden Sachverhalten die Identität der 57 Tat im prozessualen Sinne zweifelhaft.188 Hier kommt es entscheidend darauf an, dass dem Angeklagten das Recht auf ein justizförmiges Verfahren nicht verweigert und das Akkusationsprinzip nicht ausgehöhlt wird.189 Allein der Anklagesatz (§ 200 Abs. 2 S. 1 StPO) erfüllt die Aufgabe, den Prozessgegenstand zu bestimmen (Umgrenzungsfunktion) und dem Angeklagten die zu seiner Verteidigung notwendigen Informationen zu geben (Informationsfunktion). Deshalb muss, wenn der alternativ in Betracht kommende Sachverhalt nicht von dem geschichtlichen Gesamtvorgang umfasst ist, auch die zweite Tat im prozessualen Sinne von der Anklageschrift und dem Eröffnungsbeschluss umfasst sein;190 beide sind alternativ zu fassen.191 Ergibt sich erst in der Hauptverhandlung die Notwendigkeit einer Wahlfeststellung, ohne dass die Anklage und der Eröffnungsbeschluss alternativ gefasst sind, so ist eine Nachtragsanklage geboten192 bzw., wenn der Angeklagte die nach § 266 Abs. 1 StPO erforderliche Zustimmung versagt, die Hauptverhandlung auszusetzen, eine weitere selbständige Anklage zu erheben und sodann das neue Verfahren mit dem schon anhängigen zu verbinden.193 Für die Zulassung der neuen Anklage ist dabei im Hinblick auf die angestrebte Verbindung der Verfahren die hinreichende Wahrscheinlichkeit einer alternativen Verurteilung als ausreichend anzusehen.194 Wenn sich das Verfahren bereits in der Berufungsinstanz befindet (Rdn. 165), ist die weitere Anklage vor dem in erster Instanz zuständigen Gericht zu erheben und dann gegen das freisprechende Urteil Berufung einzulegen, so dass beide Berufungsverfahren zu einem Verfahren verbunden werden können (BGHSt 38 172, 176).195 Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass das Landgericht, bei dem das Berufungsverfahren anhängig ist, auch für die noch nicht angeklagte Tat erstinstanzlich zu-

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185 So Schlüchter JR 1989 50 ff; ähnlich Bauer wistra 1990 221; kritisch dazu Gollwitzer LR25 § 264 StPO Rdn. 9; Ranft Strafprozeßrecht3 Rdn. 318; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 96; Stein JR 1980 444, 446 ff; Neuhaus MDR 1989 213; Greff S. 73 ff; Dreyer S. 96 ff. 186 BayObLG JZ 1965 774; Fuchs NJW 1966 1110, 1111; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 32;; ders. Alternative S. 34. 187 BGHSt 35 86, 87; 38 172, 173 m. Anm. Rieß NStZ 1992 548; Frister NK Nach § 2 Rdn. 99; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 32. 188 BGHSt 35 60, 63; 36 262, 269 = JR 1990 205 f m. Anm. Otto; BGH MDR 1980 948, 949; OLG Celle NJW 1979 228; OLG Düsseldorf JR 1980 470; OLG Karlsruhe NJW 1980 1859; OLG Zweibrücken NJW 1980 2144; Ranft Strafprozeßrecht3 Rdn. 313; Stein JR 1980 444 ff. 189 Tröndle JR 1974 133, 135. Vertiefend auch zu Formulierungsfragen Kruse Jura 2008 173. 190 BGHSt 32 146 m. Anm. Schröder NJW 1985 780; BGHSt 35 86, 87; BGH NJW 1989 1867 f; OLG Celle MDR 1987 75; näher dazu Frister NK Nach § 2 Rdn. 99 ff; Fuchs NJW 1966 1110, 1111; Kröpil NJW 1989 1188; Neuhaus MDR 1989 213 f; Wolter Alternative S. 35 ff; ders. Wahlfeststellung S. 131 ff; jeweils m.w.N. 191 BGH NJW 1957 1887; Otto FS Peters S. 373, 389; Nüse GA 1953 33, 39; zur Anklageschrift Kohlhaas JuS 1966 282, 315. 192 OLG Hamm GA 1974 84 f; aA BayObLG NJW 1965 2211; kritisch dazu Fuchs NJW 1966 1110, 1111; Günther S. 22; Jakobs GA 1971 257, 266; Sax JZ 1965 745; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 33; ders. Alternative S. 34. 193 BGHSt 32 146, 150; Frister NK Nach § 2 Rdn. 101; Jakobs GA 1971 257, 266; Montenbruck S. 321 ff; Wolter Alternative S. 36; ders. SK Anh. zu § 55 Rdn. 34. 194 Beulke/Fahl Jura 1998 262, 266 f; Greff S. 102 ff; aA Dreyer S. 123. 195 M. Anm. Rieß NStZ 1992 548: Frister NK Nach § 2 Rdn. 102.

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ständig ist.196 Die vom BGH empfohlene Erhebung einer Anklage vor dem Amtsgericht mit dem Ziel einer späteren Verbindung der Berufungsverfahren197 muss daran scheitern, dass es an der erforderlichen hinreichenden Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung durch das Amtsgericht fehlt.198 Aus diesem Grund wird eine nachträgliche Einbeziehung einer nicht angeklagten Tat in der Praxis häufig nicht in Betracht kommen.199 Wenn eine Verbindung der Verfahren nicht mehr möglich ist, ist eine alternative Verurteilung ausgeschlossen.200 Insbesondere kann das gesamte Verfahren auch nicht nach § 260 StPO eingestellt werden, um auf diese Weise eine neue, beide Taten umfassende Anklage zu ermöglichen,201 da das Verfahrenshindernis der fehlenden Anklage nur für die nicht angeklagte Sachverhaltsalternative besteht.202 V. Reichweite der Wahlfeststellung gegenüber dem Zweifelssatz Wenn nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ eine eindeutige Tatsachengrundlage geschaffen werden kann, ist von einem eindeutig gegebenen Sachverhalt auszugehen. Damit scheidet eine Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage und deshalb eine Wahlfeststellung aus. Es hat eine eindeutige Verurteilung auf eindeutiger Tatsachengrundlage zu erfolgen. Wenn also offen bleibt, ob der Täter durch dieselbe Handlung unterschiedliche Straftatbestände verwirklicht hat, zwischen denen ein begriffslogisches Stufenverhältnis besteht – z.B. im Verhältnis von Privilegierungs-, Regelund Qualifikationstatbeständen (Rdn. 73 ff), von Versuch und Vollendung (Rdn. 88) und von Tateinheit und Tatmehrheit (Rdn. 89 f) –, so ist eine eindeutige Verurteilung auf eindeutiger Tatsachengrundlage unter Anwendung des Grundsatzes „in dubio pro reo“ vorzunehmen203 und der Täter eindeutig aus dem milderen Gesetz zu verurteilen.204 Eine solche Verurteilung ist z.B. zulässig bei Diebstahl und unbefugtem Kraft59 fahrzeuggebrauch205 sowie bei Erpressung und Nötigung. Sie ist selbst dann möglich, wenn sich die Tatbestände unter verschiedenen Gesetzestiteln finden, so – seit der Erweiterung der §§ 239a und b auf Nötigungen der Geisel – zwischen § 239a einerseits und § 249, § 252 oder § 255 andererseits, sofern die Geisel nur zu einer Duldung der Wegnahme oder zu einer Vermögensverfügung genötigt wird,206 oder zwischen § 177 bzw. § 178 und § 239b, wenn die Bemächtigung nur der Vergewaltigung dient. Weitere Fälle eines begriffslogischen Stufenverhältnisses liegen vor: bei versuchter Vergewaltigung und versuchter sexueller Nötigung,207 bei sexueller Nötigung und Vergewalti-

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196 BGHSt 38 172, 176 m. Anm. Rieß NStZ 1992 548 ff. 197 BGHSt 38 172, 176. 198 Frister NK Nach § 2 Rdn. 101. 199 Eingehend dazu Greff S. 99 ff; Dreyer S. 13 ff; jeweils m.w.N. 200 Frister NK Nach § 2 Rdn. 101; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 97; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 34; ders. Alternative S. 36; ders. Wahlfeststellung S. 136; aA Montenbruck GA 1988 541, der eine gesonderte Ergänzungsklage zulassen will. Eingehend zu den prozessualen Fragen der Wahlfeststellung Beulke/Fahl Jura 1998 262 ff. 201 So aber OLG Celle NJW 1988 1225, 1226 m. zust. Anm. Kröpil NJW 1988 1188, 1189 f. 202 Frister NK Nach § 2 Rdn. 102; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 97. 203 BGHSt 11 100 ff; 15 63, 65 f; 22 154, 156 f; 31 136, 137 ff; Otto FS Peters S. 373, 375 ff; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 83; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 39 ff; ders. Wahlfeststellung S. 44 f. 204 BGH NJW 1983 405; BGH GA 1984 373; OLG Hamm NJW 1981 22, 69; OLG Hamm VRS 77 136; zust. Fischer § 1 Rdn. 34; Sander LR § 261 Rdn. 128. 205 Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 83; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 43. 206 BGH NStZ 2003 604; 2002 31; 2000 106; StV 2002 363. 207 BGHSt 11 100, 102; zust. Frister NK Nach § 2 Rdn. 31; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 43.

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gung und sexuellem Missbrauch gemäß § 182,208 bei Tötung und Körperverletzung, da in jeder Tötung eine Körperverletzung enthalten ist (BGH NJW 1991 990), allgemein auch dann, wenn bei feststehendem Grundtatbestand ein in Betracht kommender Qualifikationstatbestand nicht nachgewiesen werden kann (BGHSt 31 136, 137). Bei den sog. normativ-ethischen Stufenverhältnissen besteht an sich echte Alter- 60 nativität der Straftatbestände. Da jedoch das Unrecht des einen Tatbestands vollständig in dem anderen enthalten ist (näher dazu Rdn. 91 ff), ist auch in diesen Fällen eine eindeutige Verurteilung auf eindeutiger Tatsachengrundlage zulässig. 209 Ein normativethisches Stufenverhältnis wird insbesondere zwischen den verschiedenen Beteiligungsformen (näher dazu Rdn. 83, 92) sowie bei Verbrechen und Verabredung zu einem Verbrechen (näher dazu Rdn. 94) sowie zwischen Beteiligung am Begehungsdelikt und unterlassener Hilfeleistung (Rdn. 95) und zwischen Vollrausch und Rauschtat (Rdn. 96) angenommen. Wenn Sachverhaltsalternativität gegeben ist, kommt in diesen Fällen eine eindeutige Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage (dazu sogleich Rdn. 61 ff) in Betracht. VI. Eindeutige Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage (gleichartige Wahlfeststellung) Bei der gleichartigen (auch unechten) Wahlfeststellung hat der Täter nur ein 61 Strafgesetz verletzt, so dass der Schuldspruch durch die Tatsachenalternativität nicht berührt wird.210 Der Täter wird durch den Schuldspruch nicht mit einem Makel belastet, den er nicht verdient hat. Daher stellt sich hier die Frage nach den materiell-rechtlichen Voraussetzungen einer Wahlfeststellung nicht.211 Offen bleibt aber in den Fällen der gleichartigen Wahlfeststellung, durch welche von zwei oder mehreren Handlungen dies geschehen ist. Da sicher ist, dass der Täter den Tatbestand durch die eine oder die andere Handlung verwirklicht hat, steht die Unklarheit über die zutreffende Sachverhaltsalternative der Verurteilung nicht entgegen. Der Grundsatz „in dubio pro reo“ ist nicht verletzt (zur Strafzumessung bei der gleichartigen Wahlfeststellung s. Rdn. 52). Die Problematik der Sachverhalts- oder Tatsachenalternativität ist daher im Tatbegriff angelegt (Rdn. 55 ff). Teilweise wird in den Fällen der gleichartigen Wahlfeststellung auch von unechter 62 Wahlfeststellung gesprochen, weil der frühere § 2b StGB 1935 ausdrücklich Gesetzesalternativität vorausgesetzt hat (Rdn. 36 f). Wenn die Fälle der reinen Tatsachenalternativität gleichwohl als Unterfall der Wahlfeststellung erfasst werden, wird dadurch zum Ausdruck gebracht, dass eine Verurteilung auf wahldeutiger Grundlage nur zulässig ist, wenn die rechtsstaatlichen Anforderungen an die Sachverhaltsfeststellung bei der Wahlfeststellung eingehalten sind (Rdn. 43 ff). Ein typischer Fall der gleichartigen Wahlfeststellung liegt bei einander wider- 63 sprechenden Aussagen eines Zeugen in zwei Gerichtsinstanzen vor, wenn feststeht, dass eine der Aussagen falsch ist, ohne dass geklärt werden kann, welche Aussage unzutreffend ist (Rdn. 70).212 Eine weitere Fallkonstellation betrifft den Täter, der das Opfer mit

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208 BGHSt 22 154, 156 m. Anm. Deubner NJW 1969 147; Frister NK Nach § 2 Rdn. 31; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 43; ders. Alternative S. 135; nunmehr für ein normatives Stufenverhältnis ders. Wahlfeststellung S. 67 f. 209 Vgl. nur Fischer § 1 Rdn. 36 f m.w.N. 210 Frister NK Nach § 2 Rdn. 9 ff; Fischer § 1 Rdn. 39; vgl. auch Sander LR § 261 StPO Rdn. 137 ff. 211 BGHSt 2 351; BGH bei Dallinger MDR 1951 464; BGH VRS 1962 274; OLG Hamm NJW 1981 2269; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 36; ders. Alternative S. 24 ff. 212 BGHSt 2 351, 352; 13 70; BGH NStZ 1981 361.

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HIV infiziert hat, aber nicht geklärt werden kann, bei welchem der Sexualkontakte dies geschehen ist (näher dazu Rdn. 70).213 Hierunter fallen auch Konstellationen, in denen ein begriffslogisches (Rdn. 72 ff) oder ein normativ-ethisches Stufenverhältnis (Rdn. 91 ff) besteht. Weiterhin sind Fälle, in denen eine generelle Kausalität toxischer Substanzen für kollektiv aufgetretene Schäden festgestellt wird und eine Individualisierung der Opfer nicht möglich ist, mittels dieser Kategorie zu lösen (sog. Opferwahlfeststellung).214 Schließlich sind die Fälle der Post- und Präpendenz nach den Grundsätzen der gleichartigen Wahlfeststellung zu lösen (Rdn. 104 ff, 110 ff). 1. Anforderungen der Rechtsprechung und Literatur an die alternativ erfüllten Strafgesetze 64

a) Herrschende Meinung in Rechtsprechung und Literatur. Eine eindeutige Verurteilung auf alternativer Tatsachengrundlage ist zulässig, wenn derselbe Straftatbestand erfüllt ist, sowie nach weithin anerkannter Auffassung auch dann, wenn die durch alternative Sachverhalte erfüllten Strafgesetze (Rdn. 2) in einem „Mehr-Weniger“Verhältnis (und nicht in einem Aliud-Verhältnis) zueinander stehen. Letzteres soll nicht nur vorliegen, wenn die Tatbestandmerkmale des einen Strafgesetzes vollständig in dem anderen Strafgesetz enthalten sind („begriffslogisches Stufenverhältnis“, Rdn. 72 ff), wie dies bei Qualifikationen und Privilegierungen (Rdn. 73 ff) sowie bei Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikten (Rdn. 81 f) der Fall ist, sondern auch dann, wenn das Unrecht des einen Tatbestandes vollständig in dem Unrecht des anderen enthalten ist („normativ-ethisches Stufenverhältnis“, Rdn. 91 ff), z.B. bei den verschiedenen Täterschaftsformen eines Delikts (Rdn. 93) oder bei Vollrausch und Rauschtat (Rdn. 96). In diesen Fällen soll in Anwendung des Grundsatzes „in dubio pro reo“ eine Reduzierung auf das mildere Gesetz vorgenommen und sodann eindeutig auf wahldeutiger Tatsachengrundlage verurteilt werden (Rdn. 2, 51, 61 ff).215 Schließlich wird überwiegend eine Verurteilung in den Fällen der Post- und Präpendenzfeststellung zugelassen (Rdn. 110 ff, 118).216 Die Rechtsprechung hat früher auf die Konstruktion von „Auffangtatbeständen“ 65 zurückgegriffen, um beim Vollrauschtatbestand in Fällen, in denen zweifelhaft blieb, ob der Täter bei Begehung der Rauschtat schuldunfähig war (Rdn. 96),217 sowie bei Fällen, in denen nicht geklärt werden konnte, ob Vorsatz oder nur Fahrlässigkeit (Rdn. 82),218 Beihilfe oder Täterschaft (Rdn. 83 f)219 vorlag, zu einer eindeutigen Verurteilung wegen des Auffangtatbestandes zu kommen. Die Rechtsprechung erfasst diese Fallgruppen inzwischen als wertungsmäßige Stufenverhältnisse (Rdn. 92 ff),220 so dass die in der Literatur gegen die Auffangtatbestände zu Recht ins Feld geführte Kritik221 keine Bedeu-

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213 BGHSt 36 262, 264, 269. 214 Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 349; Tiedemann/Tiedemann FS R. Schmitt, S. 139, 146 ff; zust. Lackner/Kühl/Kühl Vor § 13 Rdn. 11 und Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 60. 215 Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 93 m.w.N. 216 BGHSt 35 86; BGH NStZ 1989 266 und 574; BGH NStZ 1995 500; OLG Hamburg MDR 1994 712; Fischer § 1 Rdn. 45; Hruschka JZ 1970 637; ders. JR 1983 177; ders. NJW 1971 1392; Joerden S. 120 ff; ders. JZ 1988 847; Schmoller S. 233; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 55 f. 217 BGHSt (GS) 9 390, 397 f; abl. Dreher MDR 1957 179; Heinitz JR 1957 126; Schneidewin JZ 1957 324; Schwarz NJW 1957 401; Tröndle JR 1974 133. 218 BGHSt 17 210, 212 f. 219 BayObLG 1967 361, 363 m. abl. Anm. Fuchs NJW 1967 739. 220 BGHSt 23 203, 204; 31 136, 137; 32 48, 57. 221 Vgl. insbes. Günther S. 138 ff; Tröndle JR 1974 133, 134; Wolter Alternative S. 86 ff; jeweils m.w.N.

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tung mehr hat. Den Vorschlag, auf Wahlfeststellungen zu verzichten, wenn auch eine Geldwäsche in Betracht kommt, und diese als vorrangigen Auffangtatbestand anzusehen, hat der Große Strafsenat zu Recht verworfen (vgl. auch Rdn. 109).222 b) Weitere Lösungsansätze. Während Dreher völlig losgelöst von der Artverschiedenheit der in Frage stehenden Delikte stets eine Verurteilung aus dem milderen Delikt forderte und damit in der Sache die unbegrenzte Wahlfeststellung (Rdn. 40 ff) wieder einführen wollte,223 soll nach Günther ein „Mehr-Weniger“-Verhältnis der jeweiligen Erfolgsunwerte erforderlich, aber auch ausreichend sein, selbst wenn die Handlungsunwerte artverschieden sind.224 Diese „Lehre von der graduellen Unwertverschiedenheit“ hat zur Folge, dass z.B. bei einer Alternativität zwischen Betrug und Untreue eindeutig wegen Unterschlagung zu verurteilen ist,225 unabhängig davon, ob man in der Unterschlagung den Grundtatbestand der Vermögensdelikte sieht oder diesem Tatbestand einen eigenen Unrechtsgehalt beimisst. Hiergegen spricht jedoch zum einen, dass letztlich nicht überzeugend begründet werden kann, weshalb es allein auf den Erfolgsunwert ankommen soll. Zum anderen darf eine Verurteilung nur dann erfolgen, wenn das leichtere Delikt auch im Fall der Verwirklichung des schwereren Unrechts erfüllt ist (Rdn. 72) oder zumindest Identität des Unrechtskerns (Rdn. 150 ff) besteht. Damit ist sicher gestellt, dass kein Verstoß gegen den Grundsatz „in dubio pro reo“ vorliegt.226 Schmoller will die Möglichkeiten der gleichartigen Wahlfeststellung dadurch ausweiten, dass er einzelne Tatbestandsmerkmale wie das des Rausches in bloße Abgrenzungsmerkmale umdeutet, deren Vorliegen für eine Verurteilung nicht nachgewiesen sein müssten.227 Diese Umdeutung ist mit Art. 103 Abs. 2 GG nur dann vereinbar, wenn es sich auch nach dem Gesetzeswortlaut um bloße Abgrenzungsmerkmale handelt, die keine strafbarkeitseinschränkende Funktion haben können, wie dies z.B. bei der Formulierung „ohne Mörder zu sein“ in § 212 der Fall ist. Hingegen steht einer Umdeutung von echten Tatbestandsmerkmalen in Abgrenzungsmerkmale das verfassungsrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip entgegen.228 Frister fordert zusätzlich, dass der Tatbestand des leichteren Delikts auch im Fall der Verwirklichung des schweren Unrechts erfüllt und damit mit dem schweren Fall nachgewiesen ist.229 Er verlangt also eine partielle Identität der verwirklichten Tatbestände, damit der Angeklagte aus dem leichteren Delikt verurteilt werden kann. Dies hat zur Folge, dass nur die gleichartige Wahlfeststellung zulässig ist.230 Hiergegen sprechen die oben Rdn. 8 ff dargestellten Überlegungen. Auch bei einer nachträglichen Milderung der Rechtslage ist aus Art. 103 Abs. 2 GG nicht herzuleiten, dass Unrechtsidentität vorliegen muss; vielmehr wird Kontinuität des Unrechtskerns als ausreichend angesehen (näher dazu § 2 Rdn. 63 ff; s. auch Rdn. 99). Für eine grundsätzliche Zulässigkeit der Wahlfeststellung, allerdings in begrenztem Umfang, wie von der herrschenden Meinung anerkannt, spricht die eingangs dargestellte zweischrittige Überlegung: Erstens zeigt die logische Analyse ihre Möglichkeit bei voller Wahrung von Art. 103 Abs. 2 GG und dem Grundsatz „in dubio pro reo“ (Rdn. 14, 17 ff), insbe-

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222 223 224 225 226 227 228 229 230

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BGHSt (GS) 62 164 Rdn. 30 ff. Dreher MDR 1970 369, 371. Günther S. 218 ff. Günther JZ 1975 665, 668 f. Frister NK Nach § 2 Rdn. 27. Schmoller S. 157 ff. So zutreffend Frister NK Nach § 2 Rdn. 28. Frister NK Nach § 2 Rdn. 22 ff. Frister NK Nach § 2 Rdn. 22.

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sondere ohne dass ein unzulässiges Verdachtsurteil gefällt und ohne dass dem Täter ein Unrecht vorgeworfen würde, das er nicht verwirklicht hat.231 Zweitens begründen inhaltliche Überlegungen ihren Nutzen und ihre konkrete Gestalt: Ein rechtsstaatlich durchgebildetes Tatbestandssystem, das den Anforderungen des Bestimmtheitsgrundsatzes in besonders hohem Maße Rechnung trägt, ruft Wahlfeststellungssituationen tendenziell verstärkt hervor (Rdn. 18), die zu letztlich unverständlichen Freisprüchen führen würden. Der An-wendung der Wahlfeststellung sind indes so enge Grenzen zu stecken, dass die Funktionen des Schuldspruchs gewahrt bleiben (Rdn. 19). 2. Fallgruppen der gleichartigen Wahlfeststellung 70

a) Reine Tatsachen- oder Sachverhaltsalternativität. Eine Verurteilung auf alternativer Tatsachengrundlage ist nach allgemeiner Meinung zulässig, wenn derselbe Straftatbestand erfüllt ist (sog. Tat- oder reine Tatsachenalternativität).232 Auch hier schlagen sich die in Rdn. 18 dargestellten Probleme des Konzepts „selber Tatbestand“ nieder, lassen sich aber in der in Rdn. 101 dargestellten Weise lösen. Die reine Tatsachenalternativität ist für den Schuldspruch ohne Belang; hierauf ist lediglich in den Urteilsgründen einzugehen (Rdn. 51). Ein Anwendungsfall der Sachverhaltsalternativität liegt z.B. vor, wenn der Beschuldigte zwei widersprüchliche Aussagen gemacht hat, von denen eine mit Sicherheit vorsätzlich falsch ist. Der Täter ist in einem solchen Fall wegen uneidlicher Falschaussage auf mehrdeutiger Tatsachengrundlage zu verurteilen.233 Gleiches gilt für die Verurteilung wegen Meineids, wenn nicht festgestellt werden kann, welche von zwei einander widersprechenden eidlichen Aussagen falsch ist, die zu verschiedenen Zeitpunkten in verschiedenen Verfahren gemacht worden sind.234 Ein Fall der Tatsachenalternativität liegt auch vor, wenn nicht feststeht, welcher von zwei Sexualkontakten mit derselben Person zur HIV-Infektion des Opfers geführt hat (BGHSt 36 262, 269).235 Während der Bundesgerichtshof in diesem Fall nur wegen einer vollendeten Tat bestraft hat,236 wird in der Literatur überwiegend eine vollendete gefährliche Körperverletzung nach § 224 in Tatmehrheit mit einer versuchten gefährlichen Körperverletzung angenommen, um den Unrechts- und Schuldgehalt der Taten auszuschöpfen.237 Eine eindeutige Verurteilung wegen Körperverletzung mit Todesfolge und versuchtem Totschlag auf wahldeutiger Tatsachenbasis ist geboten, wenn ungeklärt bleibt, ob der Täter bei der ersten (dann: §§ 212, 227, wobei § 227 hinter § 212 zurücktritt) oder zweiten Verletzungshandlung (dann: §§ 212, 22, 23; § 227, 53) mit Tötungsvorsatz gehandelt hat (BGH JR 1990 470 m. Anm. Wolter). Reduziert man bei der ersten Handlung den Schuldvorwurf auf einen versuchten Totschlag und eine vollendete Körperverletzung mit Todesfolge, so stehen diese in Tateinheit zueinander. Daher ist „in dubio pro reo“ von

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231 Vgl. auch Ceffinato Jura 2014 655 ff. 232 OLG Karlsruhe NJW 1980 1859; OLG Hamm VRS 61 (1981) 368 f; Jescheck/Weigend § 16 III 2c; Lackner/Kühl/Kühl § 1 Rdn. 17; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 60, 81; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 36. 233 BGHSt 2 351, 352; BGH NJW 1957 1886, 1887 m. Anm. O.H. Schmitt; Wolter Alternative S. 24 ff; zweifelnd BGH bei Dallinger MDR 1967 549. 234 BGHSt 2 351, 352 f. 235 Vgl. dazu die Anm. von Otto JR 1990 205 ff und Rudolphi JZ 1990 197, 199 ff. 236 BGHSt 36 262, 268; vgl. auch BGH NStZ 1994 339 sowie Frister NK Nach § 2 Rdn. 50; Otto JR 1990 205, 206; Fischer § 1 Rdn. 39. 237 Rudolphi JZ 1990 195, 197; Wolter JR 1990 471, 472 f; vgl. auch Prittwitz/Scholderer NStZ 1990 385, 387; aA Otto JR 1990 205, 206.

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Tateinheit auszugehen (Rdn. 89) und eindeutig wegen §§ 212, 22, 23; §§ 227; 52 auf wahldeutiger Tatsachengrundlage zu verurteilen.238 Nach der Rechtsprechung liegt weiterhin reine Tatsachenalternativität mit der Fol- 71 ge der Verurteilung wegen vollendeten Mordes vor, wenn der Täter im Rahmen eines einheitlichen Gesamtgeschehens zweimal mit dem Vorsatz zu töten gezielt auf das Opfer geschossen hat und wenn sicher ist, dass entweder der erste oder der zweite Schuss getroffen und den Tod herbeigeführt hat;239 im Rahmen des § 211 ferner, wenn offen bleibt, aus welchen von mehreren in Betracht kommenden niedrigen Beweggründen der Täter getötet hat;240 bei verbleibender Ungewissheit darüber, ob der Täter eine bestimmte Sache durch eine Handlung am Monatsanfang oder durch eine andere Handlung zwei Wochen später unterschlagen hat.241 b) Begriffslogisches Stufenverhältnis. Ein begriffslogisches Stufenverhältnis setzt 72 grundsätzlich voraus, dass die durch zwei oder mehr Sachverhaltsalternativen verwirklichten Tatbestände bzgl. der erfassten Fälle in einem „Mehr-Weniger“-Verhältnis stehen: Der eine Tatbestand muss in dem anderen vollständig enthalten sein, wie dies sowohl im Verhältnis von Grundtatbestand zur Qualifikation242 oder Privilegierung der Fall ist (Rdn. 73 ff) als auch bei durch Regelbeispiele konkretisierten besonders schweren Fällen (Rdn. 75)243 sowie im Verhältnis der lex generalis zur lex specialis im engeren Sinn, so z.B. bei verselbständigten Straftatbeständen (Rdn. 76 f). Streng genommen müsste also Spezialität bestehen. Ganz so eng ist der Ausdruck des begriffslogischen Stufenverhältnisses indes nicht gemeint. Vielmehr genügt es, dass die Tatbestände ineinander enthaltene Fallgruppen erfassen (die Tatbestände also letztlich nur interferieren) und der zur Entscheidung stehende Fall sicher entweder der einen oder der anderen Fallgruppe angehört. (So kann z.B. zwischen Meineid und uneidlicher Falschaussage für Zeugen und Sachverständige ein Stufenverhältnis angenommen werden, obwohl § 154 auch den Dolmetscher erfasst, § 153 hingegen nicht, also keine Spezialität vorliegt.) Dieses weitere Verständnis ist trotz der insoweit unklaren Bezeichnung richtig, denn es muss sichergestellt werden, dass ein zur Strafbegründung bereits verwendetes Verhalten nicht noch einmal zu einer „alternativen“ Verurteilung verwendet wird.244 Im Falle des Vorliegens eines begriffslogischen Stufenverhältnisses zwischen den alternativ erfüllten Tatbeständen ist den Anforderungen des Grundsatzes „in dubio pro reo“ dadurch Rechnung zu tragen, dass auf wahldeutiger Tatsachengrundlage nur aus dem milderen Gesetz verurteilt wird (Rdn. 51). aa) Qualifikation und Privilegierung; Regelbeispiele. Wenn es sich zwischen den 73 alternativ erfüllten Tatbeständen um einen Grundtatbestand und eine Qualifikation bzw. Privilegierung handelt, liegt eine partielle Identität der verwirklichten Straftatbestände vor, so dass unstreitig eine gleichartige Wahlfeststellung zulässig ist. In einem solchen Fall sind die Anforderungen sowohl des Grundsatzes „in dubio pro reo“, der bei Stufen-

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238 So auch BGHSt 35 305, 308 unter Hinweis auf die nicht entgegenstehende Entscheidung BGH NJW 1957 1643; ebenso Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 10 Rdn. 18. 239 Vgl. Fischer § 1 Rdn. 39. 240 Vgl. die Nachw. bei Eser NStZ 1981 383, 386. 241 OLG Braunschweig JZ 1951 235 m. Anm. Schönke. 242 BGHSt 23 203, 205; zust. Frister NK Nach § 2 Rdn. 31. 243 OLG Düsseldorf NJW 1976 579, 580; ebenso Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 43; ders. Alternative S. 140. 244 Vgl. BGH NStZ-RR 2008 88.

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verhältnissen eingreift,245 als auch des Gesetzlichkeitsprinzips uneingeschränkt erfüllt, sofern der Täter nur aus dem leichteren Delikt bestraft wird.246 Der Grundsatz „in dubio pro reo“ gebietet hier keinen Freispruch, sondern verbietet nur eine Anwendung des Qualifikationstatbestandes, weil dessen Voraussetzungen nicht zweifelsfrei erwiesen sind.247 Beispielhaft können folgende Tatbestände genannt werden, die bei exklusiver 74 Alternativität der Sachverhalte nach der Rechtsprechung zu einer eindeutigen Verurteilung auf wahldeutiger Sachverhaltsgrundlage führen: Meineid und uneidliche Falschaussage (BGHSt [GS] 8 301, 309, 311, 312 f, 315),248 da der Angeklagte in der Meineidsalternative auch den Tatbestand der uneidlichen Falschaussage verwirklicht hat;249 Mord und Totschlag (BGHSt 31 136, 138); Diebstahl und Bandendiebstahl (BGHSt 31 136, 138); einfacher und schwerer Raub (BGHSt 31 136, 138).250 Nach Auffassung der Rechtsprechung gilt das auch für (versuchte schwere) räuberische Erpressung und (versuchten schweren) Raub.251 Im Fall der Alternativität von Grundtatbestand und Qualifikation ist aus dem 75 Grundtatbestand zu verurteilen; dies gilt auch dann, wenn bei feststehendem Grundtatbestand ein in Betracht kommender Qualifikationstatbestand nicht nachgewiesen ist (BGHSt 31 136, 137). Entsprechend ist bei durch Regelbeispiele konkretisierten besonders schweren Fällen vorzugehen.252 Im Fall der Alternativität von Grundtatbestand und Privilegierung ist aus dem Privilegierungstatbestand zu verurteilen (BGHSt 23 203, 204).253 Wenn es sich bei dem vorrangigen Tatbestand um eine Privilegierung handelt, ist zu 75 berücksichtigen, dass die Privilegierung einer Verurteilung aus dem Grundtatbestand oder der Qualifikation bereits dann entgegensteht, wenn Zweifel bezüglich des Vorliegens der privilegierenden Umstände vorliegen. Unter diesen Voraussetzungen greift der Grundsatz „in dubio pro reo“ ein.254 Der Privilegierungstatbestand ist also bereits anzuwenden, wenn die Voraussetzungen des Grundtatbestands nachgewiesen sind und das Vorliegen der privilegierenden Merkmale nicht ausgeschlossen werden kann.255 77

bb) Verselbständigte Straftatbestände. Weiterhin kann ein begriffslogisches Stufenverhältnis auch dann vorliegen, wenn es sich um verselbständigte Straftatbestände handelt, so beim Raub im Verhältnis zum Diebstahl bzw. zur Nötigung (BGHSt 25 182, 184 f),256 auch wenn der Unrechtsgehalt des Raubes nicht durch Addition

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245 Vgl. nur BGHSt 32 48, 56 f; 22 154, 156; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 28 Rdn. 13; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 42; w.N. bei Otto FS Peters S. 373, 375, 376; kritisch aber Günther S. 132 ff, 250 ff. 246 Hruschka JZ 1970 637, 642; ders. JR 1983 177, 180; Löhr JuS 1976 715, 716. 247 Frister NK Nach § 2 Rdn. 34; Schmoller S. 158. 248 Vgl. auch BGHSt 13 70, 71; 22 154, 156; 31 136, 138; BayObLG NJW 1965 2211, 2214; BayObLG NJW 1967 361, 362. 249 BGH NJW 1957 1886, 1887 m. Anm. O.H. Schmitt; BayObLG JZ 1965 774 f; 1976 33; OLG Düsseldorf NJW 1976 580; Frister NK Nach § 2 Rdn. 31; Kaufmann/Neumann JuS 1981 675 f; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 41; s. auch ders. Alternative S. 38; ders. Wahlfeststellung S. 47 f; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 83; Zopfs S. 315. 250 Zust. Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 89; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 43. 251 BGH NStZ 2014 640; NStZ-RR 2018 140. 252 OLG Düsseldorf NJW 1976 579, 580. 253 Vgl. dazu auch Löhr JuS 1976 715. 254 Frister NK Nach § 2 Rdn. 24. 255 Frister NK Nach § 2 Rdn. 24; aA Günther S. 129 ff. 256 Vgl. auch Jochen Schulz JuS 1974 635, 636 m. Fn. 2; Stuckenberg KMR-StPO § 261 Rdn. 126; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 43; ders. Alternative S. 76; ders. GA 1974 161, 162.

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des Unrechtsgehalts des Diebstahls und der Nötigung erfasst werden kann.257 Die qualitative Änderung, der durch den verselbständigten Straftatbestand Ausdruck verliehen wird, bleibt bei der Anwendung des Grundsatzes „in dubio pro reo“ außer Betracht, weil im spezielleren Tatbestand bei wertender Betrachtung auch das Unrecht des Grundtatbestands enthalten ist und der verselbständigte Tatbestand durch einfaches Weglassen einzelner Begriffe auf den Grundtatbestand reduziert werden kann. Auch im Fall der Wahlfeststellung zwischen Diebstahl und Unterschlagung ist daher eine eindeutige Verurteilung wegen Unterschlagung vorzunehmen.258 Ein begriffslogisches Verhältnis besteht nicht zwischen Totschlag und Schwan- 78 gerschaftsabbruch, wenn nicht nachweisbar ist, ob das Kind schon im Mutterleib oder erst durch nachgeburtliche Einwirkung den Tod fand.259 Auch zwischen (schwerer räuberischer) Erpressung und Diebstahl besteht kein Stufenverhältnis.260 cc) Vollendung und Versuch durch dasselbe Verhalten. In jedem vollendeten De- 79 likt ist sein Versuch enthalten. Die Nichtvollendung ist keine Voraussetzung des § 22. Das Versuchsdelikt liegt auch vor, wenn der Erfolg eingetreten ist.261 Daher ist der Angeklagte bei wahldeutiger Feststellung von Vollendung und Versuch eindeutig aus dem Versuchstatbestand zu verurteilen, 262 und zwar unabhängig davon, ob man die Vollendung eines Delikts als Spezialfall des Versuchs263 oder mit der h.M. als Fall der Subsidiarität264 qualifiziert. So bejahte die Rechtsprechung eine eindeutige Verurteilung wegen versuchten 80 Mordes, wenn der Täter beim ersten Schuss (in die Luft) weder mit Körperverletzungsnoch mit Tötungswillen handelte und ungewiss ist, ob der eine von den beiden weiteren Schüssen, den er dann mit Tötungsvorsatz abgegeben hat, den Tod des Opfers verursacht hat265 (näher dazu Rdn. 128). Weiterhin anerkennt die Rechtsprechung eine eindeutige Verurteilung wegen §§ 227; 211 (212), 22, 23; 52 im Falle eines vollendeten Mordes (Totschlags) einerseits und vollendeter Körperverletzung mit (wenigstens fahrlässig bewirkter) Todesfolge in Tateinheit mit versuchtem Mord (Totschlag) andererseits, wenn ungeklärt bleibt, ob der Tod die Folge der vom Körperverletzungsvorsatz oder der vom Tötungsvorsatz getragenen Einwirkung des Täters auf das Opfer war (BGHSt 35 305, 306). Eine eindeutige Verurteilung wegen §§ 227; 212, 22, 23; 52 wurde ferner angenommen bei Totschlag einerseits und Körperverletzung mit Todesfolge in Tateinheit mit versuchtem Totschlag andererseits, wenn im Rahmen eines einheitlichen Gesamtgeschehens die verbleibende tatsächliche Ungewissheit allein die Vorsatzfrage in Bezug auf die für den Tod ursächliche Handlung betrifft und wenn die Bejahung dieser Frage die nachfolgende Handlung, die – für sich allein – als tateinheitlich begangener Totschlagsversuch zu werten ist, einer eigenständigen rechtlichen Beurteilung entziehen

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257 Vgl. nur Otto FS Peters S. 373, 377 f. 258 Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 104; J. Schulz JuS 1974 635; Wolter Alternative S. 75 ff, 119 f; ders. SK Anh. zu § 55 Rdn. 43. 259 Frister NK Nach § 2 Rdn. 31; Wolter Alternative S. 65; aA Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 86. 260 BGH NJW 2018 1557, 1558; zustimmend Kudlich JA 2018 549; Hecker JuS 2018 1009. Zu Problemen der Folgefragen siehe Krell NStZ 2018 466, 467. 261 Herzberg FS BGH 50 Bd. IV, S. 51, 63 f. 262 RGSt 41 352, 353; BGHSt 22 154, 156; 23 203, 205; 32 48, 57; 35 305, 306; Frister NK Nach § 2 Rdn. 32; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 43. 263 Puppe NK § 52 Rdn. 10; vgl. auch Hardtung Jura 1996 293 ff. 264 RGSt 10 406; 33 401; 44 208; 59 26, 28; Fischer Vor § 52 Rdn. 19; Lackner/Kühl/Kühl Vor § 52 Rdn. 26; Rissing-van Saan LK12 Vor §§ 52 f Rdn. 132; Sch/Schröder/Sternberg-Lieben/Bosch Vorbem. §§ 52 ff Rdn. 110. 265 BGH NJW 1957 1643.

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würde.266 Sodann hat der Bundesgerichtshof (BGHSt 10 291, 294) zwischen vollendeter Abtreibung und versuchtem Totschlag einerseits und vollendeter Abtreibung in Tateinheit mit vollendetem Totschlag andererseits „wahldeutige Verurteilung“ bejaht, womit allerdings eine eindeutige Verurteilung auf wahldeutiger Sachverhaltsgrundlage gemeint sein dürfte.267 Schließlich wird eine gleichartige Wahlfeststellung zwischen vollendeter und versuchter gefährlicher Körperverletzung zugelassen, wenn ungeklärt bleibt, durch welche von zwei verschiedenen Handlungen der Täter den Körperverletzungserfolg bewirkt hat (näher dazu Rdn. 70).268 dd) Vorsatz und Fahrlässigkeit. Nach h.M. besteht zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit nur ein normatives Stufenverhältnis,269 das ebenso die Wahlfeststellung ausschließt und eine unechte Gesetzesalternativität begründet (Rdn. 91) mit der Folge, dass allein wegen der fahrlässigen Tat zu verurteilen ist. Die Rechtsprechung (BGHSt 4 340, 344) hatte in Fällen der exklusiven Sachverhaltsalternativität zunächst angenommen, dass Vorsatz und Fahrlässigkeit nicht im Verhältnis des Mehr oder Weniger zueinander stünden, sondern etwas grundsätzlich voneinander Verschiedenes seien; gleichwohl verwendete sie die Argumentationsfigur, der Angeklagte habe „mindestens fahrlässig gehandelt“. Es lasse sich „keinesfalls sagen, dass ein wegen fahrlässigen Falscheids Verurteilter sich ungerechtfertigt bemakelt fühlen könnte, wenn er in Wahrheit einen Meineid geleistet hat“ (BGHSt 4 340, 343). Folgerichtig sprach der Bundesgerichtshof sodann allgemein aus, wenn der Gesetzgeber nicht nur die vorsätzliche Verletzung eines bestimmten Rechtsguts unter Strafe stelle, sondern in einer weiteren Strafvorschrift auch dessen bloß fahrlässige Verletzung erfasse, so gebe er damit zugleich zu erkennen, dass auch Fälle bestraft werden sollten, in denen Vorsatz nicht nachzuweisen sei, aber zumindest Fahrlässigkeit vorliege (BGHSt 17 210, 212). Inzwischen nimmt aber auch der Bundesgerichtshof ein – allerdings normativ-ethisches – Stufenverhältnis an (BGHSt 32 48, 57),270 was auch Voraussetzung dafür ist, dass er ohne Selbstwiederspruch in derselben Tat einen versuchten Mord und eine Körperverletzung mit Todesfolge sehen kann (Rdn. 128). Vorzugswürdig ist indes die Auffassung, dass Vorsatz und Fahrlässigkeit insofern in 82 einem begriffslogischen Stufenverhältnis zueinander stehen, als der Tatbestand eines Vorsatzdelikts sämtliche Merkmale des Fahrlässigkeitsdelikts enthält: Das Fahrlässigkeitsdelikt setzt die Erkennbarkeit (Vorhersehbarkeit) der tatbestandsmäßigen Situation voraus; das Vorsatzdelikt erfordert die Kenntnis dieser Situation, die wiederum die Erkennbarkeit zur Voraussetzung hat.271 Wenn aber der Vorsatz begrifflich dadurch gekennzeichnet ist, dass die Merkmale der Fahrlässigkeit um ein weiteres Merkmal ergänzt 81

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266 BGH NStZ 1989 573 = JR 1990 470 m. Anm. Wolter im Anschluss an die Rechtsprechung des BGH zu vergleichbaren Fällen, in denen zweifelhaft ist, welche von zwei Handlungen zum Tode geführt hat, von denen eine mit Verletzungsvorsatz, die andere mit Tötungsvorsatz vorgenommen wurde: BGH bei Holtz MDR 1977 282; BGHSt 35 305; aA BGH bei Holtz MDR 1979 279 – Verurteilung nur wegen Körperverletzung und versuchten Totschlags. 267 Vgl. Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 86, die jedoch ein Stufenverhältnis zwischen § 218 und § 212 annehmen. 268 BGHSt 36 262, 268 m. Anm. Rudolphi JZ 1990 195 und Otto JR 1990 203. 269 Vgl. nur BGHSt 32 48, 57; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 85; Wolter Alternative S. 68; jeweils m.w.N. 270 Vgl. auch BGH bei Holtz, MDR 1982 103. 271 Otto FS Peters S. 373, 378 m.w.N.; vgl. auch BGH StV 2000 22 ff m. Anm. Kudlich; Freund JuS 2000 754; König JA 2000 777; Kopp JA 2000 365; näher dazu auch Puppe Strafrecht Allgemeiner Teil im Spiegel der Rechtsprechung, 3. Aufl.(2016) § 9 Rdn. 1 ff.

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werden, ist der Vorsatz in der Fahrlässigkeit enthalten.272 Auch ist die Unvorsätzlichkeit der Tat keine tatbestandliche Voraussetzung des Fahrlässigkeitsdelikts, da das Unrecht des fahrlässigen Delikts nicht dadurch mitkonstituiert wird, dass der Täter das unerlaubte Risiko, das er eingegangen ist, nicht erkannt hat.273 Wenn hiergegen geltend gemacht wird, die Fahrlässigkeit beruhe auf einem Werturteil, der Vorsatz hingegen sei ein psychisches Faktum,274 so berührt dies das Vorliegen eines begrifflich-logischen Verhältnisses nicht. Zudem beruht diese Differenzierung auf einem Wechsel der in die jeweilige Bewertung einbezogenen Gegenstände: Bei der Fahrlässigkeit ist der gesamte Unrechtstatbestand Gegenstand der Wertung, während beim Vorsatz nur ein einziges Element des Tatbestands in den Blick genommen wird.275 Außerdem wird das Vorliegen eines begriffslogischen Stufenverhältnisses nicht dadurch ausgeschlossen, dass das Unrecht des Fahrlässigkeitsdelikts von der Sorgfaltspflichtverletzung her erfasst und das Unrecht des Vorsatzdelikts üblicherweise unter dem Aspekt der Rechtfertigung geprüft wird. Die Grenze des erlaubten Risikos begrenzt auch das Vorsatzdelikt.276 Hiervon zu trennen ist die Frage, ob ein psychischer Unterschied zwischen der vermeidbaren und der bewussten Vermeidepflichtverletzung besteht. Dies ist zu bejahen, denn Fahrlässigkeitstäter würden bei gegebener Kenntnis der Verletzungserfolge typischerweise nicht handeln, sondern sich rechtstreu verhalten. Vorsatztäter können wiederum höchst achtsam vorgehen.277 Gerade im unterschiedlichen Grad der Intensität der Rechtsverletzung durch den Täter liegt aber das Stufenverhältnis begründet (zur Irrelevanz der „Identität des Unrechtskerns“ bei der gleichartigen Wahlfeststellung s. Rdn. 97 ff). Und die psychologische Andersartigkeit begründet keinen Artunterschied innerhalb des Unrechts. Daher kann in Fällen, in denen nicht geklärt werden kann, ob der Täter bei exklusiver Sachverhaltsalternativität vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt hat, nach dem Prinzip der gleichartigen Wahlfeststellung aus dem Fahrlässigkeitsdelikt bestraft werden.278 Fehlt es hingegen an einer Sachverhaltalternativität, so erfolgt eine eindeutige Verurteilung auf eindeutiger Tatsachengrundlage nach dem Fahrlässigkeitsdelikt (Rdn. 58); eine Wahlfeststellung erübrigt sich dann. ee) Täterschaft und Teilnahme. Weiterhin können bestimmte Täterschafts- und 83 Teilnahmeformen in einem begriffslogischen Stufenverhältnis zueinander stehen.279 Dies ist zwischen Täterschaft und Teilnahme der Fall, wenn die Beihilfe tatsächlich in beiden Sachverhaltsalternativen verwirklicht worden ist; so z.B. bei der Sachverhaltsalternative Mittäterschaft und Beihilfe280 sowie bei der Sachverhaltsalternative Anstiftung und Beihilfe,281 weil die Mittäterschaft und die Beihilfe die Mitverursachung der Tat eines anderen voraussetzen und Mittäterschaft nur noch zusätzliche Erfordernisse gegenüber der Beihilfe enthalten.282 Zu weiteren Konstellationen siehe Rdn. 92.

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272 Näher dazu Jakobs GA 1971 257, 260 Fn. 15. 273 Frister NK Nach § 2 Rdn. 33; Herzberg FS BGH 50 Bd. IV, S. 51, 62. 274 So z.B. Fuchs GA 1964 65, 69 ff. 275 Otto FS Peters S. 373, 378 f. 276 Jakobs GA 1971 257, 260. 277 Jakobs GA 1971 257, 260 f. 278 Im Ergebnis ebenso BGHSt 17 210, 212 f zu vorsätzlicher und fahrlässiger Körperverletzung. 279 Eingehend dazu Frister NK Nach § 2 Rdn. 42 ff; Wolter Alternative S. 154 ff, 241 ff m.w.N; ausdrücklich offen gelassen im Hinblick auf Kritik in BGH NStZ 2009 258. 280 BGHSt 23 203, 207 m. Anm. Fuchs NJW 1970 1053; Wolter Wahlfeststellung S. 61. 281 BGHSt 31 136, 138 f m. Anm. Baumann JZ 1983, 116; Dingeldey NStZ 1983 166; BGHSt 32 48, 57; vgl. auch Hruschka JR 1983 177; Wolter JuS 1983 769. 282 Sch/Schröder/Cramer/Heine § 27 Rdn. 3 ff m.w.N.

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Demgegenüber geht die h.M. in Rechtsprechung und Literatur283 davon aus, dass zwischen Täterschaft und Teilnahme ein wesensmäßiger Unterschied besteht, der in der psychologischen Andersartigkeit zum Ausdruck komme. Diese Annahme beruht darauf, dass bei Mittäterschaft und Beihilfe das Fehlen der Tatherrschaft oder des Täterwillens bzw. bei Anstiftung und Beihilfe das Mitbestimmen zur Tat schon in den Tatbestand der Beihilfe als Tatbestandsmerkmal hineininterpretiert wird. § 27 setzt dies aber nicht voraus, sondern lässt das in der Mitverursachung oder Förderung der Rechtsgutsverletzung liegende Unrecht ausreichen.284 Im Falle der Alternativität zwischen Anstiftung und Mittäterschaft darf der Ange85 klagte nur dann eindeutig wegen Anstiftung verurteilt werden, wenn das Bestimmen des anderen feststeht und lediglich offen ist, ob darüber hinaus noch eine Mitwirkung bei der Tatausführung vorlag. Ist hingegen offen, ob der Angeklagte den Tatentschluss verursacht oder an der Tatausführung mitgewirkt hat, so darf nur eine Verurteilung wegen des in beiden Alternativen erfüllten Beihilfetatbestands erfolgen.285 Entsprechend hat der Bundesgerichtshof unter entsprechender Anwendung des Grundsatzes „in dubio pro reo“, den er unmittelbar nur auf Fälle der Spezialität anwendet, dem nicht weiter aufklärbaren Vorgang die dem Täter günstigere Deutung gegeben und eindeutig wegen „Beihilfe als der minderschweren Teilnahmeform“ auf mehrdeutiger Tatsachengrundlage verurteilt.286 Aber auch wenn kein begriffslogisches Stufenverhältnis besteht, sondern ein normativ-ethisches Stufenverhältnis gegeben ist, kann eine Verurteilung in Betracht kommen (näher dazu Rdn. 92).

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ff) Verabredung zum Verbrechen und Ausführung des Verbrechens. Weiterhin besteht ein begriffslogisches Stufenverhältnis zwischen der Verabredung und der Ausführung eines Verbrechens, wenn der Verabredungstatbestand in beiden Sachverhaltsalternativen erfüllt ist, weil lediglich unklar ist, ob der Angeklagte nur ein Verbrechen verabredet hat oder zusätzlich auch an der Ausführung beteiligt war. Wenn hingegen ungeklärt ist, ob der Angeklagte mit einem anderen ein Verbrechen verabredet oder dieses als Alleintäter ausgeführt hat, kommt nur ein normativ-ethisches Stufenverhältnis in Betracht (Rdn. 94).287

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gg) Begehungs- und unechtes Unterlassungsdelikt. Bei Alternativität zwischen einem Begehungs- und einem unechten Unterlassungsdelikt ist eine Verurteilung jedenfalls dann möglich, wenn der Täter in der Begehungsalternative nach Vornahme seiner Handlung noch die Möglichkeit hatte, den Erfolg abzuwenden. Denn ein solches pflichtwidriges Unterlassen, das dem aktiven Tun nachfolgt, gehört zum deliktischen Verhalten.288 Der deliktisch Handelnde begibt sich nämlich, wenn sein Verhalten nicht unmittelbar zum Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges geführt hat, in eine Situation, in der er Garant für das Rechtsgut aufgrund seines vorangegangenen gefährdenden Tuns wird, sofern er den Erfolg noch abwenden kann.289 Er hat in der Begehungsalternative zugleich ein Unterlassungsdelikt begangen, das subsidiär hinter der Begehung zurück-

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283 BGHSt 23 203, 206; 31 136, 138; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 87 m.w.N.; vgl. auch BayObLGSt 66 137 m. Anm. Fuchs NJW 1967 740. 284 Frister NK Nach § 2 Rdn. 44. 285 Frister NK Nach § 2 Rdn. 45. 286 BGHSt 43 41, 53; BGH NStZ-RR 1997 297; vgl. auch Schröder JZ 1970 421. 287 BGHSt 38 83; aA Frister NK Nach § 2 Rdn. 47. 288 Hruschka GA 1968 196 ff; Kühl S. 168; vgl. auch Winkler S. 40. 289 Vgl. nur Welp S. 337 ff.

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tritt.290 Aber auch wenn diese Voraussetzungen nicht vorliegen, ist eine gleichartige Wahlfeststellung möglich, da derselbe Straftatbestand verwirklicht ist und sich Tun und Unterlassen nicht ausschließen.291 hh) Versuch und Vollendung bei mehreren Handlungen. Ein begriffslogisches 88 Verhältnis besteht weiterhin zwischen Versuch und Vollendung.292 Wenn sich nicht aufklären lässt, welche von zwei rechtlich selbständigen vorsätzlichen Körperverletzungshandlungen den Erfolg herbeigeführt hat, liegt bei beiden Sachverhaltsalternativen ein vollendetes Delikt in Tatmehrheit mit einem versuchten Delikt vor. Entweder hat die erste Handlung zur Vollendung geführt und die zweite ist im Versuchsstadium stecken geblieben, oder umgekehrt. Deshalb ist wegen vollendeter Körperverletzung in Tatmehrheit mit versuchter Körperverletzung zu verurteilen.293 Demgegenüber hat der Bundesgerichtshof nur wegen der vollendeten Tat bestraft (Rdn. 70 f und 80).294 Dadurch wird das vom Täter verwirklichte Unrecht jedoch nicht voll erfasst. ii) Real- und Idealkonkurrenz. Wenn mehrere Straftatbestände durch mehrere 89 Handlungen verwirklicht worden sind, liegt Tatmehrheit nach § 53 vor. Werden die Tatbestände durch eine einheitliche Handlung erfüllt, greift die für den Täter günstigere Regelung des § 52 ein, die zu einer milderen Bestrafung führt. Deshalb ist im Fall der Alternativität einer tateinheitlichen und einer tatmehrheitlichen Verwirklichung von Straftatbeständen wegen tateinheitlicher Verwirklichung zu verurteilen, und zwar bereits dann, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass die günstigeren Voraussetzungen vorliegen (Rdn. 70).295 (Ein Stufenverhältnis besteht dabei insofern, als, wenn man die Regelung des § 52 hinwegdenkt, dessen Fälle nicht etwa zu einer Summierung der Strafen führen, sondern § 53 unterfallen würden; in diesem Sinne umfasst § 53 auch die Fälle des § 52, obwohl § 53 wegen dessen Spezialität für die Fälle des § 52 nie zum Zuge kommt, so dass die beiden Regelungen auf den ersten Blick als exklusiv erscheinen.) Wenn bei zwei natürlichen Handlungen unklar bleibt, ob die vorsätzliche oder die 90 fahrlässige den tatbestandsmäßigen Erfolg (z.B. den Tod) herbeigeführt hat, sind die Überlegungen zum begriffslogischen Stufenverhältnis zu kombinieren: Sofern es sich um zwei rechtlich unselbständige Akte eines einheitlichen Geschehens handelt, liegt entweder eine vorsätzliche Tötung oder aber eine fahrlässige Tötung in Tateinheit mit versuchtem Totschlag, ggf. auch, sofern der „unmittelbare Zusammenhang“ mit der Todesfolge gegeben ist, eine Körperverletzung mit Todesfolge statt der nur fahrlässigen Tötung, vor. Im ersteren Fall sind in der vorsätzlichen Tötung zugleich eine fahrlässige Tötung und ein Totschlagsversuch sowie eine Körperverletzung mit Todesfolge enthalten. Daher ist der Täter nach §§ 212, 22, 23; 222; 52296 bzw. nach §§ 212, 22, 23; 227; 52297 zu

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290 Frister NK Nach § 2 Rdn. 49. 291 BGH NJW 1964 731, 732; BGHSt 39 164; Frister NK Nach § 2 Rdn. 49; hingegen bejahen ein normatives Stufenverhältnis: Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 86; Schröder JR 1964 227; Wolter Alternative S. 274. 292 RGSt 41 352, 353; BGHSt 23 203, 205; 35 305, 306; 36 262, 268; OLG Düsseldorf NJW 1976 579; Frister NK Nach § 2 Rdn. 42; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 83. 293 Frister NK Nach § 2 Rdn. 38; Rudolphi JZ 1990 195, 199; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 36; ders. JR 1990 471, 473. 294 BGHSt 36 262, 268 m. abl. Anm. Rudolphi JZ 1990 195; Prittwitz/Scholderer NStZ 1990 385; Otto JR 1990 205; vgl. auch BGH NStZ 1994 339. 295 BGH bei Dallinger MDR 1972 923; BGH bei Holtz MDR 1980 628; BGH StV 1988 202; BGH bei Dallinger MDR 1992 632; Frister NK Nach § 2 Rdn. 35. 296 BGH bei Holtz MDR 1977 282; BGH JR 1990 470 m. zust. Anm. Wolter; Frister NK Nach § 2 Rdn. 34. 297 BGHSt 35 305, 306 f; Frister NK Nach § 2 Rdn. 34.

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bestrafen. Handelt es sich demgegenüber um zwei rechtlich selbständige Akte, so ist unklar, ob der Versuchs- und der Fahrlässigkeitstatbestand durch dieselbe oder durch zwei verschiedene Handlungen erfüllt worden sind. Es liegen also ein versuchter Totschlag und eine fahrlässige Tötung vor, die in Tateinheit oder in Tatmehrheit zueinander stehen. Der Täter ist also entweder nach §§ 212, 22, 23; 222; 52 oder nach §§ 212, 22, 23; 222; 53 strafbar.298 Da § 52 zu einer milderen Rechtsfolge als § 53 führt (Rdn. 89), ist der Täter gemäß §§ 212, 22, 23; 222; 52 wegen tateinheitlicher Begehung zu verurteilen.299 91

c) Normativ-ethisches Stufenverhältnis. Sodann bejahen die Rechtsprechung300 und die h.L.301 unechte Gesetzesalternativität, wenn zwar kein begriffslogisches Stufenverhältnis besteht, wohl aber wertungsmäßig ein sog. normativ-ethisches Stufenverhältnis gegeben ist, weil das Unrecht des einen Tatbestandes vollständig in dem Unrecht des anderen enthalten ist. Auch in diesen Fällen soll in Anwendung des Grundsatzes „in dubio pro reo“ eindeutig aus dem milderen Gesetz auf wahldeutiger Sachverhaltsgrundlage verurteilt werden (Rdn. 61 ff). Diesbezüglich stellt sich die Frage, ob gleichwertige Ausgangstatbestände vorliegen müssen oder zusätzlich „Identität des Unrechtskerns“ gegeben sein muss (Rdn. 97 ff).

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aa) Täterschaft und Anstiftung oder Beihilfe. Die h.M. in Rechtsprechung und Literatur302 geht zwar von einem wesensmäßigen Unterschied zwischen Täterschaft und Teilnahme aus (Rdn. 84); gleichwohl wird in diesen Fällen eine eindeutige Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage zugelassen.303 Wenn bei den Täterschafts- und Teilnahmeformen nicht schon ein begriffslogisches Stufenverhältnis vorliegt (Rdn. 83 ff), weil nicht sämtliche Tatbestandsmerkmale einer Alternative in der anderen enthalten sind (Rdn. 85), so z.B. zwischen Alleintäterschaft und Anstiftung, ist eine gleichartige Wahlfeststellung zu bejahen, weil es beim Verhältnis von Täterschaft und Teilnahme um die Frage geht, ob und in welchem Grad oder mit welcher Intensität dem Beteiligten der von ihm (mit-)verursachte tatbestandsmäßige Unrechtserfolg objektiv und individuell zugerechnet und damit vorgeworfen werden kann.304 Da allen Fällen gemeinsam ist, dass die Mindestvoraussetzungen für die objektive und individuelle Zurechnung des Unrechtserfolges gegeben sind,305 auch wenn sich der Teilnehmer dem Täter unterordnet und die von ihm zu verantwortende Gefährdung eine unselbständige ist, die in der Realisierung vom Entschluss des Täters abhängt,306 ist nicht die Art des Unrechts betroffen. Vielmehr geht es um die Art der Gefährdung des Rechtsguts, die beim Teilnehmer geringer ausfällt als beim Täter. Sie kann wertmäßig in einem Stufenverhältnis erfasst werden, auch wenn das Unrecht des Teilnehmers keine Durchgangsstufe des Unrechts des Täters sein muss. Daher kann auch in diesen Fällen der Grundsatz „in dubio pro reo“

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298 Zur Rechtsprechung des BGH, der in diesen Fällen annimmt, dass der Täter nur nach §§ 212, 22, 23 bestraft werden darf, und unberücksichtigt lässt, dass in beiden Alternativen § 222 verwirklicht worden ist, Rdn. 128. 299 Frister NK Nach § 2 Rdn. 35; Wolter MDR 1981 441, 443. 300 BGHSt 23 203, 206; 31 136, 137; 32 48, 56 f 46 85, 87; aA noch BGHSt 23 203, 206; zweifelnd BGHSt 38 83, 85. 301 Grundlegend dazu Siever S. 45 ff; s. auch Fischer § 1 Rdn. 40; Lackner/Kühl/Kühl § 1 Rdn. 10 ff; Otto FS Peters S. 373, 377 f; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 84 ff m.w.N.; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 44 ff. 302 BGHSt 23 203, 206; 31 136, 138; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 87m.w.N. 303 BGHSt 43 41, 53; BGH NStZ-RR 1997 297; ausdrücklich offen gelassen im Hinblick auf Kritik in BGH NStZ 2009 258. 304 Otto FS Peters S. 373, 378 ff; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 44. 305 So Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 44. 306 Näher dazu Otto FS Peters S. 373, 381 f.

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unmittelbar und nicht nur, wie die Rechtsprechung307 annimmt, analog angewendet werden.308 Weiterhin bejaht die Rechtsprechung ein normativ-ethisches Stufenverhältnis zwischen Täterschaft und Beihilfe,309 auch wenn die Ungewissheit nur darin besteht, ob der Angeklagte mit Täter- oder Gehilfenwillen gehandelt hat,310 sowie zwischen Anstiftung und Beihilfe (Rdn. 83).311 bb) Verschiedene Täterschaftsformen. Die Rechtsprechung bejaht generell ein 93 normativ-ethisches Stufenverhältnis zwischen Alleintäterschaft und Mittäterschaft312 sowie zwischen mittelbarer Täterschaft und Allein- oder Mittäterschaft.313 cc) Verbrechen und Verabredung zu einem Verbrechen, Nichtanzeige geplan- 94 ter Straftaten. Die Rechtsprechung lässt auch zwischen einem Verbrechen und der Verabredung zu diesem Verbrechen eine Wahlfeststellung zu (BGHSt 38 83; s. dazu auch Rdn. 86), wobei allerdings hervorgehoben wird, dass ungeachtet dessen, ob es sich um ein normativ-ethisches Stufenverhältnis handelt, nach dem Zweifelssatz die Tatalternative, welche die minder schwere ist, der Verurteilung zugrunde zu legen sei. Konsequenterweise sei wegen Verbrechensverabredung zu bestrafen.314 Die Rechtsprechung bejaht weiterhin ein normatives Stufenverhältnis zwischen der Beteiligung an einer Katalogtat und der sie betreffenden Nichtanzeige geplanter Straftaten nach § 138;315 ein begriffslogisches Stufenverhältnis liegt in diesen Fällen nicht vor, weil den Tatbeteiligten keine Anzeigepflicht trifft.316 dd) Beteiligung an der Begehungstat und unterlassene Hilfeleistung. Auch im 95 Fall der Alternativität von einer Beteiligung am Begehungsdelikt und unterlassener Hilfeleistung kann aus § 323c verurteilt werden, da in diesen Fällen ein normativ-ethisches Stufenverhältnis vorliegt, das eine Verurteilung wegen § 323c rechtfertigt (BGHSt 39 164, 166).317 ee) Vollrausch und Rauschtat. Die Rechtsprechung sieht zwischen dem Vollrausch 96 (§ 323 a) und der Rauschtat ein normativ-ethisches Stufenverhältnis und nimmt Strafbarkeit nach § 323a an, wenn nicht geklärt werden kann, ob der Berauschte die Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit oder in nur vermindert schuldfähigem Zustand verwirklicht hat (BGHSt 32 48, 56 f). Gegen die Annahme eines normativ-ethischen Stufenverhältnisses spricht jedoch, dass sich das tatbestandliche Unrecht des § 323a in dem Herbeiführen des abstrakt gefährlichen Rausches erschöpft und deshalb im Vergleich zum Unrecht der jeweiligen Rauschtat ein Aliud und nicht nur ein Weniger darstellt.318 Das in der Berau-

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307 BGHSt 43 41, 53. 308 Otto FS Peters S. 373, 382; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 45 f. 309 Vgl. BGHSt 15 63, 65; 32 48, 57; aA – Wahlfeststellung – BGH bei Dallinger MDR 1953 21. 310 BGHSt 23 203, 207; zust. Löhr JuS 1976 715; Schröder JZ 1970 422. 311 BGHSt 31 136, 138 f = NStZ 1983 165 m. krit. Anm. Dingeldey; BGHSt 32 48, 57. 312 BGHSt 11 18 f; 23 203, 208. 313 BGH bei Dallinger MDR 1951 405; BGHSt 23 203, 208; BGH NJW 1991 1306, 1315. 314 Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 87; Schmoller JR 1993 247; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 50; abl. Frister NK Nach § 2 Rdn. 47. 315 Allgemein BGHSt 55 148 Rdn. 11; speziell zur Beihilfe zum Mord bereits BGH NStZ 2004 499. 316 Zum Streitstand Wolter SK8 § 138 Rdn. 35 m.w.N. 317 Ebenso Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 46; aA Tag JR 1995 133; zum Verhältnis von Begehungs- und unechtem Unterlassungsdelikt s. Rdn. 86. 318 Frister NK Nach § 2 Rdn. 51; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 100; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 53; ders. Alternative S. 7.

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schung liegende Unrecht des § 323a wird nicht speziell durch die Gefährdung des durch die Rauschtat verletzten Rechtsguts, sondern durch eine Gefährdung aller geschützten Rechtsgüter konstituiert.319 Damit ist es jedenfalls ausgeschlossen, den Täter über die Entscheidung BGHSt 32 48 hinaus in Anwendung des „in-dubio“-Satzes auch dann nach § 323a zu bestrafen, wenn ungeklärt bleibt, ob der Angeklagte die fragliche Tat im Rausch begangen hat.320 Denn dann sind die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 323a nicht in beiden Alternativen erfüllt. Deshalb darf in einem solchen Fall nicht nach § 323a verurteilt werden.321 ff) Verzichtbarkeit gleichwertiger Ausgangstatbestände und der „Identität des Unrechtskerns“. In der Literatur wird für die gleichartige Wahlfeststellung bei „MehrWeniger“-Verhältnissen (Rdn. 64, 72 ff, 91 ff) teilweise zusätzlich gefordert, dass die Ausgangstatbestände gleichwertig sein müssen; ansonsten werde der „in dubio pro reo“Satz in sein Gegenteil verkehrt.322 Fehle es an der Gleichwertigkeit, so handele es sich um Fälle der ungleichartigen Wahlfeststellung, mit der Folge, dass eine „Identität des Unrechtskerns“ vorliegen müsse.323 Die Funktion des „in-dubio“-Satzes ist nur, eine Tatsachengrundlage für den ein98 deutigen Urteilsspruch zu schaffen. Diese Grundlage ist aber unabhängig davon gegeben, ob es sich um gleichwertige oder ungleichwertige Ausgangstatbestände handelt. Hierbei geht es um eine materiell-rechtliche Frage und nicht um eine prozessuale. In materieller Hinsicht ist jedoch gerade keine Unrechtsidentität erforderlich, da das Unrecht, wegen dessen Verwirklichung der Täter bestraft wird, ohnehin schon von beiden Straftatbeständen umfasst wird. Dies ergibt sich aus dem Erfordernis des normativethischen Stufenverhältnisses. Daher kommt es bei der gleichartigen Wahlfeststellung auf die Gleichwertigkeit der Straftatbestände nicht an.324 Hierin liegt auch kein Widerspruch zu den hohen Anforderungen an die Unrechts99 kontinuität, die bei Gesetzesänderungen nach Begehung der Tat vorliegen muss, damit weiterhin bestraft werden kann, denn diese Anforderungen ergeben sich nicht aus Art. 103 Abs. 2 GG, sondern erst aus dem verfassungsrechtlich garantierten Schuldgrundsatz in Verbindung mit Art. 103 Abs. 2 GG (§ 2 Rdn. 63ff). Im vorliegenden Zusammenhang stellen sich jedoch im Hinblick auf die Schuld keine Probleme, da die Tatbestände zum Zeitpunkt der Tatbegehung in Kraft sind und damit schuldhaftes Verhalten – anders als im Falle einer nachträglichen Gesetzesänderung – möglich ist. 97

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d) Verschiedene Modalitäten oder Qualifikationen eines Straftatbestandes. Wenn sich die festgestellte Sachverhaltsalternativität auf verschiedene Modalitäten oder Qualifikationen ein und desselben Straftatbestandes bezieht, liegt zwar eine exklusive

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319 Vgl. nur Otto BT § 81 Rdn. 1 f m.w.N. 320 Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 53; vgl. auch Ranft JA 1983 193 ff, 198, 239 ff. 321 BGHSt 32 48, 57 = JZ 1984 453 m. Anm. Dencker; BGH StGB Vor § 1 Wahlfeststellung, Vergleichbarkeit, fehlende; OLG Stuttgart JR 1985 291, 292 m. Anm. Spendel JR 1985 293; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 100 m.w.N.; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 53; aA Dreher MDR 1970 369, 371; Heiß NStZ 1983 67; Tröndle FS Jescheck, S. 665, 688 f; Schewe Blutalkohol 20 (1983) 369 ff und 526, 529 ff. 322 So Deubner JuS 1962 21, 22 Rdn. 25; Jakobs GA 1971 257, 261; Küper NJW 1976 1828, 1829; Tröndle JR 1974 133, 134. 323 Deubner JuS 1962 21, 23 f; ders. NJW 1967 738; ders. NJW 1969 147; Tröndle JR 1974 133, 135; vgl. auch Jakobs GA 1971 257, 261 f, 265, 270. 324 Hardwig GA 1964 147; Hruschka JR 1978 26; Otto FS Peters S. 373, 383; Schulz JuS 1974 635, 637; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 40; ders. Alternative S. 39; aA ders. Wahlfeststellung S. 50; Küper FS Lange S. 31 ff, 87.

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Sachverhaltsalternativität vor, die sich aber innerhalb eines einheitlichen Straftatbestandes bewegt; so wenn sich nicht aufklären lässt, welches Mordmerkmal325 oder welche Tathandlung der Hehlerei326 oder welche Modalität des § 244 Abs. Nr. 1327 vorliegt. Da die verschiedenen Tatbestandsverwirklichungen einander in der Regel gleichwertig sind, kann in diesen Fällen eine eindeutige Verurteilung auf wahldeutiger Grundlage erfolgen. Ermöglicht eine der Alternativen eine mildere Bestrafung, so ist von dieser Alternative auszugehen.328 Um jedoch zu vermeiden, dass die eindeutige Verurteilung auf wahldeutiger Tatsa- 101 chengrundlage von der Zufälligkeit abhängt, ob der Gesetzgeber für verschiedene Begehungsweisen nur eine oder mehrere Bestimmungen gebildet hat (Rdn. 12, 18),329 kommt es darauf an, ob die verschiedenen Begehungsweisen oder Qualifikationen in ihrem Unrechts- und Schuldgehalt übereinstimmen.330 Es reicht nicht aus, dass sie in derselben Strafnorm genannt sind. Dabei ist es auch denkbar, dass Vergleichbarkeit gegeben ist, wenn die Modalitäten oder Qualifikationen in unterschiedlichen Regelungen normiert sind. Fehlt es an einem vergleichbaren Unrechts- und Schuldgehalt, so sind die Voraussetzungen einer ungleichartigen Wahlfeststellung zu prüfen (Rdn. 131 ff) und, falls diese nicht vorliegen, ist eine eindeutige Verurteilung wegen des Grundtatbestands im Wege gleichartiger Wahlfeststellung vorzunehmen.331 e) Regelbeispiele. Entsprechendes gilt für die Alternativität von Regelbeispielen. 102 Auch hier kommt eine Mehrdeutigkeit der Tatsachengrundlage im Schuldspruch nicht zum Ausdruck. Gleichwohl handelt es sich um einen Fall der Wahlfeststellung,332 weil die Möglichkeit, von einem erhöhten Strafrahmen auszugehen, auf wahldeutiger Grundlage beruht.333 Daher müssen die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen der Wahlfeststellung vorliegen (Rdn. 43 ff).334 Ansonsten darf nicht wegen eines besonders schweren Falles verurteilt werden.335 f) Wahlfeststellung und Verjährung. Spezielle Fragen der Verjährung stellen sich, 103 wenn der Täter im Fall exklusiver Sachverhaltsalternativität zum Zeitpunkt der ersten Sachverhaltsalternative neben den alternativ in Betracht kommenden Tatbeständen noch ein weiteres und schwereres Delikt mit gleicher Schutzrichtung begangen hat. Hinsichtlich dieser Tat ist der Grundsatz „in dubio pro reo“ anwendbar: Das Entfallen dieses weiteren schwereren Delikts soll zur Folge haben, dass eine mögliche Verjährung des leichteren Delikts die Wahlfeststellung nicht hindert, sofern nur beide Delikte die gleiche Schutzrichtung haben (BGHSt 46 85, 87). Wenn z.B. nicht mehr geklärt werden kann, ob der Täter eine Schutzbefohlene vor oder nach ihrem 14. Geburtstag sexuell missbraucht hat, darf nicht wegen des schwereren § 176, der vor diesem Datum verwirklicht wäre, verurteilt werden. Wenn nun die frühere Tat nach § 174, nicht aber auch die

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325 BGHSt 22 12, 13 f; BGH NStZ-RR 1999 106; NStZ 2012 441. 326 RGSt 51 179, 180; 56 49, 51. 327 Weitere Beispiele bei Günther S. 273 ff; Wolter Alternative S. 266 ff. 328 Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 59. 329 Günther S. 273 ff. 330 Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 60. 331 Näher dazu Wolter Alternative S. 138 ff; ders. Wahlfeststellung S. 32; vgl. auch ders. SK Anh. zu § 55 Rdn. 60; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 82. 332 Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 82. 333 Lackner/Kühl/Kühl § 46 Rdn. 20; Fischer § 46 Rdn. 95. 334 Wolter Alternative S. 139 f; ebenso Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 10 Rdn. 23 f. 335 Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 82.

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Tat nach § 176 verjährt wäre, soll nach einer Literaturansicht gleichwohl eine wahlweise Verurteilung nach § 174 möglich sein. Durch die Anwendbarkeit des Grundsatzes „in dubio pro reo“ soll nur die höhere Strafdrohung, nicht aber auch die Verfolgbarkeit der früheren Tat entfallen.336 Dies ist jedoch abzulehnen, weil nicht sicher ist, dass der Täter die frühere Tat begangen hat, und die Strafbarkeit über die Wahlfeststellung nicht erweitert werden darf. 104

3. Postpendenz und Präpendenz. Eine weitere Fallgruppe, in der eine eindeutige Verurteilung vorzunehmen ist, bilden die Fälle der Postpendenz und der Präpendenz. Hierbei handelt es sich nicht um Fälle der gleichartigen Wahlfeststellung (näher dazu Rdn. 117 f); gleichwohl sind prinzipiell die Grundsätze der Wahlfeststellung anzuwenden (Rdn. 110 ff, 118 ff).337 Wenn jedoch auch die materiellen Voraussetzungen einer eindeutigen Verurteilung vorliegen, hat diese Vorrang (BGHSt 35 86, 87; Rdn. 6).

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a) Begriff der Postpendenz. Unter der Bezeichnung Postpendenz werden Fälle erfasst, in denen die in Betracht kommenden Sachverhaltsalternativen (ähnlich wie in den Fällen des Stufenverhältnisses) einen eindeutig festgestellten gemeinsamen Tatsachenteil enthalten. Bei Postpendenz erfüllt dieser Sachverhaltsteil, für sich betrachtet, einen Straftatbestand im Anschluss an eine zweifelbehaftete Vortat. Typischerweise ist das Anschlussdelikt indes ausgeschlossen, wenn der Angeklagte als Täter an der Vortat beteiligt war. Mit anderen Worten: Es handelt sich hierbei um Fälle, bei denen der Sachverhalt einer Nachtat (insbesondere Unterschlagung, Begünstigung, Strafvereitelung, Hehlerei, Geldwäsche) eindeutig feststeht und der tatsächliche Zweifel sich allein darauf beschränkt, ob der Täter bereits an der Vortat beteiligt war, wovon allerdings die rechtliche Bewertung der festgestellten Nachtat abhängt.338 D.h. die strafrechtliche Bewertung eines erwiesenen „Nachtatgeschehens“ (Anschlusshandlung) ist von der – nach dem Beweisergebnis nicht möglichen – Klärung eines ungewissen „Vortatsachverhalts“ abhängig. Der logische Ausdruck Postpendenz bezeichnet eigentlich nur die einseitige Ungewissheit, also den Fall, dass ein Geschehen sicher feststeht und die erwünschten Schlüsse trägt, ein anderes nicht. Wenn das spätere Delikt unabhängig vom zweifelhaften früheren erfüllt ist, stellt sich aber kein strafrechtliches Problem – dann ist unproblematisch wegen des späteren Delikts zu verurteilen, und für das frühere kommt der Zweifelssatz zur Anwendung. Strafrechtlich interessant sind gerade die Fälle, in denen die dargestellte tatbestandliche Abhängigkeit besteht. Der logische Ausdruck weist dabei die Richtung für die richtige Behandlung: Wenn das Ausschlussmerkmal des späteren Delikts so zu verstehen ist, dass schon seine mögliche Erfüllung es verwirklicht (es also ein normales negatives Tatbestandsmerkmal ist, auf das der Zweifelssatz Anwendung findet), dann tragen die sicheren Feststellungen keinen Schluss (auf die Strafbarkeit nach diesem Delikt), es liegt keine (logische) Postpendenz vor, und es darf keine eindeutige Verurteilung (unter Umständen aber eine Wahlfeststellung) erfolgen. Wenn hingegen der Ausschlussgrund so gemeint ist, dass er nur bei nachgewiesener Erfüllung greift, also bloß eine kumulative Verurteilung wegen der Vor- und der Anschlusstat ausschließen soll, sind die Feststellungen für den Schluss (die Verurteilung wegen der Anschlusstat) hinreichend, es besteht eine (logische) Postpendenz, und es hat eine eindeutige Verurteilung zu erfolgen (die dann ohne Wahlfeststellung auch das zweifelhafte Geschehen prozessual verbraucht). Ob das Merkmal in der ersteren oder in der letzteren Weise zu

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Kindhäuser LPK Vor §§ 52–55 Rdn. 44. BGH NStZ 2011 510. Näher dazu Küper FS Lange, S. 65, 69 ff; Wolter Wahlfeststellung S. 38 ff; ders. GA 1974 161 ff.

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verstehen ist, ist eine Frage der Auslegung, nicht der Logik, d.h. nicht der Postpendenz. Rechtlich ist der Sprachgebrauch nicht einheitlich (näher Rdn. 110 ff). Meist wird von Postpendenz gerade dann gesprochen, wenn die Umstände der Anschlusstat feststehen, ihre Strafbarkeit von einem zweifelhaften Vorgeschehen abhängt, diese Abhängigkeit aber in der letztgenannten Weise aufzufassen ist, also auch logisch Postpendenz besteht, so dass eindeutig und nicht alternativ zu verurteilen ist. In anderen Fällen ist eher nur von einer Wahlfeststellung die Rede, bisweilen aber auch von einer Postpendenzsituation. Typische Fälle der Postpendenz, die Gegenstand der Rechtsprechung waren,339 106 sind solche, in denen sicher ist, dass der Angeklagte einem Betrüger geholfen hat, die Betrugsware abzusetzen, jedoch nicht geklärt werden kann, inwieweit er als Mittäter am Betrug beteiligt war;340 in denen der Angeklagte einem Dieb sicher beim Weitertransport der Ware geholfen hat, seine Beteiligung am Diebstahl jedoch nicht geklärt werden kann;341 in denen eine als Unterschlagung zu bewertende Handlung feststeht, jedoch nicht festgestellt werden kann, ob der Angeklagte die Sache bereits zuvor durch einen Betrug erlangt hat.342 Solche Fälle liegen auch vor, wenn der Täter eine Sache in Kenntnis der strafbaren Herkunft eines Beuteteils aus einer räuberischen Erpressung, einem Betrug oder einem Diebstahl erlangt hat, jedoch ungewiss ist, ob er schon an der Vortat beteiligt war,343 oder wenn der Angeklagte Diebesgut zum Zweck des späteren Verkaufs an einen anderen Ort geschafft hat, jedoch ungewiss ist, ob er bereits an der Vortat als Mittäter beteiligt war und deshalb nach § 257 Abs. 3 nicht auch noch wegen Begünstigung nach § 257 Abs. 1 strafbar sein kann.344 In diesen Fällen schlägt die Ungewissheit hinsichtlich der Tatbeteiligung an der Vor- 107 tat auf den in tatsächlicher Hinsicht feststehenden zweiten Sachverhalt durch. Inwieweit es sich hierbei um Fälle handelt, in denen die Grundsätze der Wahlfeststellung eingreifen, ist umstritten (Rdn. 110 ff, 118 ff). b) Begriff der Präpendenz. Präpendenz liegt vor, wenn der Vortatsachverhalt fest- 108 steht, der Nachtatsachverhalt dagegen unabhängig vom Vortatverhalten ungewiss bleibt. Einen typischen Fall der Präpendenz stellen die Verbrechensverabredung zum Mord und der Mord dar. c) Problemstellung und Abgrenzung von alternativ-eindeutigem Geschehen. 109 Den Hintergrund der Überlegungen zu Post- und Präpendenz bilden jeweils die Fragen, wie die tatbestandliche Abhängigkeit zu verstehen ist, welche rechtlichen Folgerungen der sicher festgestellte Sachverhalt daher trägt, ob eine eindeutige Verurteilung oder eine alternative Verurteilung möglich ist und inwieweit die Grundsätze der Wahlfeststellung bei der einen wie der anderen Anwendung finden. Postpendenz und Präpendenz sind dabei nach den gleichen Grundsätzen zu behandeln.345 Im Gegensatz zu „klassischen“ Wahlfeststellungssituationen besteht nur eine einseitige Sachverhaltsungewissheit, die eine doppelte Rechtsnorm-Ungewissheit zur Folge hat.346 Abzugrenzen sind die

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339 340 341 342 343 105. 344 345 346

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Eingehend dazu Wolter GA 1974 161 ff. BGH NJW 1974 804; OLG Hamm JMBlNW 1967 138; vgl. auch BGH NJW 1989 1867. BGHSt 23 360. OLG Hamm NJW 19741957; OLG Saarbrücken NJW 1976 65. BGHSt 35 86, 89 m. Anm. Wolter NStZ 1988 456; vgl. auch Joerden JZ 1988 847; Geppert Jura 1994 BGH JZ 1971 141 m. Anm. Schröder. Bauer wistra 1990 218, 220 ff; Joerden S. 122 ff; Schmoller JR 1993 247. So zutreffend Küper FS Lange, S. 65, 73.

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hier betrachteten Fälle von solchen, in denen der nicht eindeutig festgestellte Sachverhaltsteil nicht insgesamt zweifelbehaftet ist, sondern seinerseits einer Wahlfeststellung zugänglich ist. So liegt der Fall z.B., wenn das Vorgeschehen sicher in einem (gewerbsmäßig begangenen) Diebstahl oder einer gewerbsmäßigen Hehlerei bestand, das unzweifelhafte Nachgeschehen in einer Geldwäsche. Dann ist nicht im Wege der Postpendenz wegen der Geldwäsche zu verurteilen, sondern im Wege der Wahlfeststellung wegen des Vorgeschehens, und eine Strafbarkeit wegen Geldwäsche scheidet aus (§ 261 Abs. 9 S. 2), weil die Beteiligung an einer Katalogtat sicher feststeht; vgl. hierzu auch Rdn. 65.347 110

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d) Auffassung der Rechtsprechung. Die Rechtsprechung und ein Teil der Literatur kommen – der logischen Begrifflichkeit entsprechend (Rdn. 105) – zu einer eindeutigen Verurteilung des Täters wegen der sicher feststehenden Nachtat. Bei der Präpendenz wird der Täter entsprechend aus der sicher feststehenden Vortat verurteilt. Die Rechtsprechung hat Postpendenz angenommen: Im Verhältnis von Mittäterschaft bei einer schweren räuberischen Erpressung und Hehlerei, wenn feststeht, dass der Angeklagte seinen Beuteanteil – in Kenntnis der Vortat – erst von dem Täter der schweren räuberischen Erpressung erhalten hat, jedoch zweifelhaft bleibt, ob der Angeklagte an der Erpressung als Mittäter beteiligt war.348 Dieser Fall hätte mit dem rechtlichen Instrumentarium der früheren Rechtsprechung (Wahlfeststellung, Stufenverhältnis und Auffangtatbestand) nicht bestraft werden können. Insbesondere hätte es wegen der bei der Hehlereivortat eingesetzten Mittel (der schweren räuberischen Erpressung) an der rechtsethischen und psychologischen Vergleichbarkeit gefehlt, die für eine ungleichartige Wahlfeststellung gefordert wird (Rdn. 135 ff). Diese Entscheidung ist aus diesem Grund mit den Grundsätzen von BGHSt 21 152 f, der eine ungleichartige Wahlfeststellung zwischen schwerem Raub und Hehlerei verneint hat, nicht vereinbar. Aus welchem Grund die nach den Umständen nahe liegende Möglichkeit einer Beihilfe zur schweren räuberischen Erpressung ausschied ist dem Urteil nicht zu entnehmen.349 Postpendenz liegt ferner im Verhältnis von Mittäterschaft bei einem Diebstahl und Hehlerei vor, wenn feststeht, dass der Angeklagte die Diebstahlsbeute in Kenntnis der Vortat an sich gebracht hat, um sie mit Gewinn weiter zu verwerten,350 sowie im Verhältnis zwischen Einbruchsdiebstahl und Hehlerei.351 Bei der Alternative Raub und Hehlerei hat der Bundesgerichtshof eine Wahlfeststellung zwischen Diebstahl und Hehlerei angenommen, da der Diebstahl als die der Hehlerei rechtsethisch vergleichbare Tat im Raub enthalten sei.352 Postpendenz wird auch bejaht bei mittäterschaftlich begangenem Betrug und Hehlerei, wenn sicher ist, dass der Angeklagte einen Teil der durch den Betrug erlang-

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347 BGHSt 61 245 Rdn. 8 ff m. Anm. Ebner/Papathanasiou ZWH 2017 14. 348 So BGHSt 35 86, 88 ff im Anschluss an Hruschka JZ 1970 637, 640 f und NJW 1971 1392 f und Küper FS Lange, S. 65 ff; vgl. auch Bauer wistra 1990 218; Geppert Jura 1994 105; Joerden JZ 1988 847 ff; Wolter NStZ 1988 456 ff sowie ders. SK Anh. zu § 55 Rdn. 55, 56; C. Richter Jura 1994 130, 132 ff; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 91. 349 Kritisch auch Wolter NStZ 1988 446. 350 BGH NStZ 1989 574; vgl. auch BGH NStZ 1995 500 = wistra 1995 311 m. Anm. Körner; BGH wistra 1998 25; BGH NJW 1990 2477. Entsprechend zur Absatzhilfe BGH NStZ-RR 2018 49. 351 OLG Hamm JMBlNRW 1967 138; Schröder JZ 1971 141, 142; s. auch OGHSt 2 90. 352 Vgl. BGHSt 25 182, 184 = NJW 1973 1804 m. Anm. Hruschka; kritisch dazu Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 81.

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ten Beute in Kenntnis der Vortat von den Tätern des Betrugs erhalten hat.353 Hierbei geht der Bundesgerichtshof davon aus, dass der Mittäter der Vortat nicht zugleich Hehler sein kann, so dass eigentlich nur Strafbarkeit wegen mittäterschaftlich begangenen Betruges oder wegen Hehlerei in Betracht käme. Schließlich kommt Postpendenz im Verhältnis von Diebstahl in besonders schwe- 115 rem Fall und Begünstigung,354 von Diebstahl und Unterschlagung,355 von Betrug und Unterschlagung356 sowie von Raub bzw. Erpressung und Unterschlagung in Betracht.357 Die Rechtsprechung hat dagegen im Verhältnis von Alleintäterschaft beim Dieb- 116 stahl und Hehlerei, wenn sich nicht nachweisen lässt, dass das Hehlgut von einem anderen übernommen wurde, in der Form des Sichverschaffens Postpendenz abgelehnt.358 Die Rechtsprechung verneint in den Postpendenzfällen zwar das Vorliegen einer 117 „echten“ Wahlfeststellung, weil wegen eines in tatsächlicher Hinsicht feststehenden Verhaltens bestraft werden kann.359 Gleichwohl musste die Rechtsprechung die Postpendenz in die Kategorie der Wahlfeststellung einordnen, weil der Bundesgerichtshof bei der Hehlerei vom Unvereinbarkeitsprinzip ausgeht, nach dem der Mittäter der Vortat nicht auch Hehler sein kann (Rdn. 114). Bei nicht aufklärbarer Vortatbeteiligung kann der Angeklagte sich daher nur entweder wegen der Vortat oder wegen Hehlerei strafbar gemacht haben. Der Bundesgerichtshof nimmt also eine Art Wahlfeststellung im Wege der Postpendenz vor – er würdigt ein wahldeutiges Geschehen aus zwei Delikten, von denen eines sicher vorliegt, entnimmt Schuldspruch und Strafrahmen dann aber nur einem Tatbestand, was vordergründig zu einer eindeutigen Verurteilung führt. Indem er dies ohne weitere Einschränkungen macht, werden die Anforderungen an eine ungleichartige Wahlfeststellung, die im Hinblick auf die rechtsethische und psychologische Vergleichbarkeit (Rdn. 135 ff) gestellt werden, in diesem Bereich überspielt und letztlich eine kaschierte Wahlfeststellung in zu großem Umfang angewendet. So ist die rechtsethische Vergleichbarkeit zwischen Einbruchsdiebstahl einerseits und Hehlerei, Begünstigung oder Strafvereitelung anderseits fragwürdig (BGHSt 30 77, 78).360 Gleiches gilt für Betrug und Unterschlagung;361 bei Raub und Unterschlagung ist sie sogar zu verneinen.362 Letztlich wird eine Wahlfeststellung in Fällen zugelassen, die mit der eindeutigen Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage (Rdn. 61 ff) nicht erfasst werden

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353 BGH NJW 1974 804; NStZ 1989 266; BGHSt 35 86, 89 = NStZ 1988 455 m. krit. Anm. Wolter; ders. Wahlfeststellung S. 42; ders. SK Anh. zu § 55 Rdn. 56; vgl. auch Schmoller S. 234; aA bei „tatbestandlicher Postpendenz“ Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 91; differenzierend Küper FS Lange, S. 65, 73 ff. 354 BGHSt 23 360, 361 m. zust. Anm. Schröder JZ 1971 141; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 62. 355 OLG Köln 1974 121 f. 356 OLG Hamm NJW 1974 1957, 1958; OLG Saarbrücken NJW 1976 65, 68; dazu Günther JZ 1976 665 ff; Deubner NJW 1962 94, 95; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 90; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 55. 357 BGHSt 25 182, 184; BGH bei Holtz MDR 1986 793; dazu Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 55. 358 BGH NJW 1990 2476, 2477 unter Hinweis auf Küper FS Lange, S. 65, 91 Fn. 102; ders. Probleme, S. 57 f; Joerden JZ 1988 847, 851. Entspr. BGH NStZ-RR 2016 274, 275; 2018 47, 48. 359 BGHSt 35 86, 88 f; BGH NJW 1989 1868; NStZ 1989 574; NStZ 1995 500 = wistra 1995 312 m. Anm. Körner; StV 1998 25; vgl. auch BGH NJW 2003 2759 zur möglicherweise verjährten Vortat; OLG Hamburg MDR 1994 712; OLG Schleswig SchlHA 1984 81; Jescheck/Weigend § 16 II 2; Küper FS Lange, S. 65, 72 ff; Wolter Alternative S. 126 f; ders. GA 1974 161 ff; vgl. auch Hruschka JZ 1970 641; ders. NJW 1971 1393 f; aA Gribbohm LK11 § 1 Rdn. 122, der fordert, dass eine wahldeutige Verurteilung wegen der Vortat und der Nachtat ausgeschlossen ist. 360 Näher dazu Günther JR 1982 81; Deubner JuS 1962 21, 22; Hruschka NJW 1971 1392; Wolter GA 1974 168. 361 Deubner NJW 1962 94, 95; Günther JZ 1976 668; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 56; ders. GA 1974 167. 362 BGHSt 25 182, 184; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 55.

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können, wohl aber durch die Postpendenz, weil diese keine besondere rechtliche Beziehung zwischen den verschiedenen Straftatbeständen erfordert. 118

e) Auffassungen in der Literatur. In der Literatur werden demgegenüber die Fälle der Postpendenz nicht als Unterfall der Wahlfeststellung gesehen,363 und es wird eine eindeutige Verurteilung auf der Grundlage des feststehenden Sachverhaltsteils gefordert. Dabei werden unterschiedliche Anforderungen gestellt.

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aa) Generelle Post- und Präpendenz. Vereinzelt wird in der Literatur eine Verurteilung sehr weitgehend zugelassen. Wenn die Strafbarkeit einer Folgetat nur aus Gründen der Konsumtion entfalle, sei es aus tatbestands-, sei es aus konkurrenzrelevanten Gründen, so fehle eine Grundlage für den Ausschluss der Strafbarkeit der Nachtat im Wege der Konkurrenz. Daher könne in all diesen Fällen eine Verurteilung wegen der Nachtat nach §§ 246, 257, 258, 259, 261 erfolgen.364

bb) Post- und Präpendenz bei nur konkurrenzrelevanten Zweifeln. Überwiegend wird jedoch im Grundsatz zutreffend zwischen tatbestands- und konkurrenzrelevanten Zweifeln differenziert und nur im Falle der (schief so bezeichneten)365 „konkurrenzrelevanten Postpendenz“ eine eindeutige Verurteilung zugelassen:366 Wenn das Anschlussdelikt nur eine mitbestrafte Nachtat darstellt, die durch die Vortatbeteiligung konsumiert wird, ist der Nachweis der Strafbarkeit nach dem Anschlussdelikt trotz möglicher Vortatbeteiligung geführt. Der Beweismangel bezüglich der Vortat wirkt sich dann nur im Konkurrenzbereich aus, so z.B. bei der Begünstigung und der Geldwäsche (s. dazu auch Rdn. 125). In diesen Fällen der sog. konkurrenzrelevanten Postpendenz ist eine eindeutige Verurteilung wegen des Folgedelikts, dessen Unrechts- und Schuldgehalt bei festgestellter Vortat durch deren Bestrafung mit abgegolten würde, möglich, ohne dass dies gegen den Grundsatz „in dubio pro reo“ verstieße.367 Unter diesen Voraussetzungen fehlt es an der Exklusivität der Tatbestände. Denn eine aus Konkurrenzgründen straflose Nachtat ist regelmäßig dann uneingeschränkt strafbar, wenn der Täter wegen der Haupttat mangels Beweises nicht verurteilt werden kann. Deshalb ist in diesen Fällen nicht wahldeutig, sondern eindeutig auf Grund des in tatsächlicher Hinsicht feststehenden späteren Verhaltens zu verurteilen.368 Wenn der Haupttatsachverhalt hingegen Einfluss auf den Tatbestand des Folgede121 likts hat, weil im Fall der täterschaftlichen Beteiligung an der Vortat keine tatbestandliche Hehlereihandlung mehr vorliegt, handelt es sich um einen Fall der „tatbestandsrelevanten Postpendenz“. In diesen Fällen erfordert der Grundsatz „in dubio pro reo“, dass das Nichtvorliegen einer Vortatbeteiligung, da es sich um ein Tatbestandsmerk-

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363 Vgl. nur Frister NK Nach § 2 Rdn. 26; Hruschka JZ 1970 641 ff; ders. NJW 1971 1392 ff; C. Richter Jura 1994 130. S. auch Fischer § 1 Rdn. 45. 364 So insbes. Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 55; kritisch dazu Günther JZ 1976 665, 666; Küper FS Lange S. 65, 68 ff. 365 Nicht die Postpendenz ist konkurrenzrelevant, nämlich nicht das spätere, sicher feststehende Geschehen, sondern gerade das mit Zweifeln behaftete frühere Geschehen. Entsprechend geht es bei den Präpendenzfällen bzgl. der Konkurrenzrelevanz um das spätere Geschehen. 366 So schon OLG Hamm NJW 1974 1957 f; Blei JA 1971 648 f; Eschenbach Jura 1994 302, 306; Günther JZ 1976 665 f; Küper FS Lange, S. 65, 73 ff; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 91; Schröder JZ 1971 141 f; vgl. auch Hruschka JZ 1970 637, 640; Wolter Alternative S. 176. 367 So OLG Hamm NJW 1974 1957 f; Blei JA 1971 648 f; Eschenbach Jura 1994 302, 306; Günther JZ 1976 665 f; Küper FS Lange, S. 65, 73 ff; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 91; Schröder JZ 1971 141 f. 368 Vgl. nur BGHSt 39 164, 166 f; Küper FS Lange, S. 65, 75 m.w.N.

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mal handelt, nachgewiesen sein muss, damit eine eindeutige Verurteilung erfolgen kann. Deshalb darf ein Angeklagter, bei dem nicht festgestellt werden kann, ob er an der Tat beteiligt war, nicht wegen Strafvereitelung bestraft werden.369 Ist der Nachweis der fehlenden Beteiligung an der Vortat nicht möglich, so kommt in den Fällen der Tatbestandsrelevanz nur eine wahldeutige Verurteilung auf wahldeutiger Sachverhaltsgrundlage in Betracht, sofern die weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen, insbesondere eine rechtsethischen und psychologische Vergleichbarkeit (so die Rechtsprechung; Rdn. 135 ff) bzw. „Identität des Unrechtskerns“ (so die überwiegende Meinung in der Literatur; Rdn. 150 ff), vorliegen.370 cc) Post- und Präpendenz bei konkurrenzregulierenden Tatbestandsein- 122 schränkungen. Allerdings ist bei den Fällen der tatbestandsrelevanten Postpendenz zu beachten, dass es Tatbestandseinschränkungen gibt, die ihrerseits nur „konkurrenzregulierend“ sind und keinen unrechts- und schuldtypisierenden Charakter haben.371 Diese Einschränkungen sind von den Merkmalen abzugrenzen, welche die gesetzlichen Mindestvoraussetzungen des tatbestandsmäßigen Verhaltens, den Deliktstpyus selbst, betreffen. Hierbei handelt es sich um eine Frage, die sich nach der Ausgestaltung der gesetzlichen Tatbestände bestimmt und die im Wege der Auslegung unter Beachtung der Grenzen des Art. 103 Abs. 2 GG zu entscheiden ist. Eine solche Differenzierung erfordert im Einzelfall eine sorgfältige Sondierung der Gründe, die auf der Nachtatseite zum Ausschluss des Tatbestands führen können. Wenn man davon ausgeht, dass die Beteiligung an der Vortat eine spätere Hehlerei 123 ausschließt, ist dies anhand des gesetzlichen Tatbestands zu überprüfen. So setzt der Tatbestand des § 259 ein „einvernehmliches Zusammenwirken mit dem Vortäter“ voraus. Der Täter kann zwar nicht mit sich selbst als Hehler einverständlich zusammenwirken,372 wohl aber kann der Mittäter einvernehmlich mit dem anderen Mittäter kollusiv zusammenwirken und damit das Tatbestandsmerkmal erfüllen.373 Weiterhin setzt der Tatbestand voraus, dass der Hehler die Sache hehlerisch erwirbt. Wenn ein Mittäter der Vortat bereits Verfügungsgewalt erlangt hat, ist ihm dies nicht mehr möglich. Ein „Mitwirken zum Absatz“ wird dadurch jedoch nicht ausgeschlossen. Außerdem ist es denkbar, dass der Mittäter noch keine Verfügungsgewalt erlangt hat und auch insoweit ein hehlerischer Erwerb noch im Einzelfall in Frage kommen kann.374 Und auch die Tatsache, dass „ein anderer“ die Vortat begangen haben muss, kann beim Mittäter nach dem Gesetzeswortlaut bejaht werden. Lediglich der Alleintäter des Primärdelikts scheidet nach dem Gesetzeswortlaut zwingend als Hehler aus. Damit schließt aber die Tatbestandsstruktur des § 259 nicht schlechthin aus, dass der Mittäter der Vortat eine Hehlerei begehen kann. Weiterhin muss es möglich sein, dass das materielle Hehlereiunrecht, das in der Perpetuierung der rechtswidrigen Vermögenslage gesehen wird, vom Mittäter einer Vortat verwirklicht werden kann. Eine solche Perpetuierung kann auch der Mittäter der Vortat vornehmen. Daher kann die tatbestandsausschließende Wirkung auf ein ungeschriebenes konkurrenzregulierendes Element des Hehlereitatbestandes zurückgeführt werden

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369 BGH wistra 1989 19; insoweit übereinstimmend BGHSt 43 356, 359 f. 370 Vgl. nur Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 91; i. Erg. ebenso Frister NK Nach § 2 Rdn. 52. 371 Grundlegend dazu Küper FS Lange, S. 65, 79 ff. 372 BGHSt 7 134, 137; 33 50, 52; Sch/Schröder/Stree/Hecker § 259 Rdn. 50 m.w.N.; vgl. auch BGH NJW 1990 2476, 2477 zum „Sich-Verschaffen“. 373 Küper FS Lange S. 65, 82. 374 Näher dazu Küper FS Lange S. 65, 82 f.

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und muss nicht, wie dies die h.M. tut, als tabestandsrelevantes Element interpretiert werden.375 Folgt man der hier aufgezeigten Einordnung, so wird die an sich deliktstypische 124 Perpetuierungshandlung des Mittäters, weil sie ohnehin hinter der von ihm zu verantwortenden primären Rechtsgutsverletzung als „straflose Nachtat“ zurücktreten müsste, zwar schon auf der Tatbestandsebene ausgeschieden, jedoch nur aus Konkurrenzgründen. Damit ist aber eine Situation gegeben, in der der Nachweis der fehlenden Beteiligung nicht geführt werden muss, weil es sich nicht um ein tatbestandsrelevantes Merkmal handelt. Somit ist eine Verurteilung wegen Hehlerei möglich, auch wenn der Angeklagte möglicherweise Mittäter der Vortat war, sofern die Hehlerei tatsächlich nachgewiesen ist. Außerdem muss sicher sein, dass der Angeklagte bei seinen Absatzbemühungen im Rahmen der Nachtat nicht ausschließlich im eigenen Interesse gehandelt hat und auch nicht Alleintäter der Vortat war.376 Bei der Geldwäsche ist nach § 261 Abs. 9 Nr. 2 nicht strafbar, wer wegen Beteiligung 125 an der Vortat strafbar ist. Der Bundesgerichtshof sieht hierin einen persönlichen Strafausschließungsgrund (BGH NJW 2000 3725), während die Literatur davon ausgeht, dass der Regelung des § 261 Abs. 9 Nr. 2 der Gedanke der mitbestraften Nachtat zu Grunde liegt.377 Da die Geldwäsche nicht voraussetzt, dass der Vortäter ein anderer gewesen ist und auch der Vortäter die Geldwäsche begehen kann, muss die fehlende Beteiligung an der Vortat nicht nachgewiesen werden. Es liegt nur eine Postpendenzsituation aus Konkurrenzgründen vor, die deshalb zu einer Verurteilung wegen Geldwäsche führt. Einer Differenzierung zwischen tatbestandsrelevanten und konkurrenzregulieren126 den Elementen mögen zwar Einfachheitserwägungen entgegenstehen,378 gleichwohl ist sie ohne Verstoß gegen den Grundsatz „nullum crimen sine lege“ und den Grundsatz „in dubio pro reo“ möglich und zudem geboten, um sachgerechte Ergebnisse zu erzielen.379 Auf der Grundlage dieser Differenzierung ist dem Bundesgerichtshof (BGH NStZ 1990 388 f) darin beizutreten, dass eine Postpendenzfeststellung im Verhältnis zwischen Hehlerei in der Form des Sichverschaffens und vermögensschädigender Vortat ausscheidet, wenn der Angeklagte die Vortat möglicherweise als Alleintäter begangen hat.380 Deshalb ist in diesem Fall eine echte Wahlfeststellung erforderlich, die nach der Rechtsprechung rechtsethische und psychologische Vergleichbarkeit (Rdn. 135 ff) bzw. nach der Literatur Identität des Unrechtskerns (Rdn. 150 ff) voraussetzt. 127

4. Verhältnis von gleichartiger und ungleichartiger Wahlfeststellung. Wenn eine eindeutige Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage im Falle einer reinen Tatsachenalternativität, eines begriffslogischen oder normativ-ethischen Stufenverhältnisses oder einer Tatmodalität erfolgen kann, hat diese Möglichkeit Vorrang vor einer ungleichartigen Wahlfeststellung.381 Dies gilt gleichermaßen, wenn eine eindeutige Verurteilung auf der Grundlage eines feststehenden Sachverhaltsteils in den Fällen der Post- und Präpendenz vorgenommen werden kann: Die Post- bzw. Präpendenz hat Vorrang vor der ungleichartigen Wahlfeststellung.

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375 Küper Vortatbeteiligung, S. 48. 376 Näher dazu Küper FS Lange S. 65, 84 f. 377 Sch/Schröder/Stree/Hecker § 261 Rdn. 7. 378 So Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 91. 379 Küper FS Lange S. 65, 96; Zopfs S. 318 ff. 380 Ebenso Tröndle LK10 § 1 Rdn. 67. 381 Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 93; aA Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 35, 47 für den Vorrang der wahldeutigen Verurteilung zwischen Anstiftung und Beihilfe; ders. Wahlfeststellung S. 90 ff.

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Wenn der Täter zunächst fahrlässig, dann vorsätzlich jeweils einen Schuss auf das 128 Opfer abgegeben hat und offen bleibt, welcher Schuss das Opfer getroffen hat, liegt bei jeder der beiden Fallgestaltungen ein versuchter Totschlag (Rdn. 80) sowie eine fahrlässige Tötung vor (Rdn. 89).382 Gleichwohl hat der Bundesgerichthof zunächst lediglich wegen versuchten Totschlags verurteilt383 und die fahrlässige Tötung, die in einem Stufenverhältnis zu der möglichen vorsätzlichen Tötung steht (Rdn. 81), vernachlässigt (Rdn. 82).384 Zu vergleichen sind jedoch die fahrlässige Tötung und der versuchte Totschlag auf der einen Seite mit dem vollendeten Totschlag auf der anderen Seite.385 Da die fahrlässige Tötung und der versuchte Totschlag milder sind, ist hiernach zu verurteilen.386 Entsprechend nimmt der Bundesgerichtshof nunmehr eine eindeutige Verurteilung wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit Körperverletzung mit (wenigstens fahrlässig bewirkter) Todesfolge auf Grundlage einer wahldeutigen Tatsachenbasis an, wenn der Täter bei dem ersten Akt mit Mordvorsatz und im zweiten Akt mit Körperverletzungsvorsatz oder umgekehrt beim ersten Akt Körperverletzungsvorsatz und beim zweiten Akt mit Mordvorsatz gehandelt hat und ungeklärt bleibt, ob der Tod die Folge der von Körperverletzungsvorsatz oder der vom Mordvorsatz getragenen Einwirkung des Täters auf das Opfer war (BGHSt 35 305 f).387 Allerdings hat der Bundesgerichtshof in einer anderen Entscheidung388 im Hinblick auf die Entscheidung BGHSt 35 305 f. offen gelassen, ob der eingetretene Todeserfolg dem Angeklagten „auf andere Weise“ (als nach § 212) zuzurechnen ist.389 Diese Fälle werfen die Frage auf, ob und in welcher Form dem Täter der tatsäch- 129 lich eingetretene Todeserfolg, den er mit Sicherheit schuldhaft – entweder vorsätzlich oder fahrlässig – herbeigeführt hat, strafrechtlich zugerechnet werden darf. Für die Lösung kommt es nach Auffassung des Bundesgerichtshofs nicht darauf an, ob es bei den verschiedenen Teilen des Gesamtgeschehens sachrechtlich um eine Handlungseinheit oder -mehrheit geht.390 Indem der Bundesgerichtshof die Handlungsteile nicht getrennt wertet, sondern den Schuldspruch auf eine Kombination der rechtlichen Qualifikationen beider Handlungsstücke stützt, reduziert er das Gesamtgeschehen auf einen Mindestschuldvorwurf. Diesem Vorgehen liegt die Erwägung zugrunde, dass eine Verurteilung wegen versuchten Mordes oder versuchten Totschlags den Unrechts- und Schuldgehalt einer Tat nicht ausschöpft, wenn der Täter den Todeserfolg entweder durch eine Körperverletzung mit Todesfolge oder aber vorsätzlich herbeigeführt hat und andere Möglichkeiten sicher ausgeschlossen sind. Entsprechend hat der Bundesgerichtshof bei Alternativität von Diebstahl einerseits und Beihilfe zum Diebstahl und Hehlerei andererseits eindeutig nur wegen Beihilfe zum Diebstahl bestraft (BGH StV 1992 7). Weiterhin hat der Bundesgerichtshof eine Wahlfeststellung zwischen vollendeter 130 gefährlicher und versuchter gefährlicher Körperverletzung bejaht, weil ungeklärt blieb, durch welche von zwei verschiedenen Handlungen der Täter den Körperverlet-

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382 Eingehend dazu Wolter Alternative S. 221 ff. 383 BGH NJW 1957 1643 = GA 1958 97 m. abl. Anm. Peters. 384 Wolter MDR 1981 441. 385 So zutreffend BGHSt 35 305; 36 262; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 93. 386 Frister NK Nach § 2 Rdn. 46 f; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 93; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 54; ders. Alternative S. 221 ff; aA Peters GA 1958 97 ff, der sich für eine Verurteilung wegen vollendeten Totschlags ausspricht. 387 Vgl. auch BGH StV 1992 7. 388 BGH NStZ 1984 214, 215. 389 Holtz MDR 1979 279. 390 Vgl. BGHSt 35 305, 308.

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zungserfolg bewirkt hat.391 Er gelangte hier zu einer eindeutigen Verurteilung wegen vollendeter gefährlicher Körperverletzung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage, weil sicher war, dass eine der beiden Handlungen zur Vollendung geführt hatte. Dieses Ergebnis bewegt sich auf der Linie der Entscheidungen, in denen der Todeserfolg dem Täter in Form eines Mindestschuldvorwurfs angelastet wurde (BGHSt 35 305, 306 f; BGH NStZ 1989 573, 574). VII. Wahldeutige Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage (ungleichartige Wahlfeststellung) Bei der ungleichartigen (auch echten) Wahlfeststellung steht fest, dass durch die in Betracht kommenden Sachverhaltsmöglichkeiten jeweils ein anderes, selbständiges Delikt begangen worden ist, wobei die möglichen Taten in keinem Stufenverhältnis (Rdn. 72 ff, 91 ff) zueinander stehen dürfen. Auch darf kein Fall der Post- oder Präpendenz vorliegen. Dies ist z.B. dann der Fall, wenn der Täter entweder die Gegenstände selbst entwendet und damit einen Diebstahl begangen oder sie sich von einem Dritten bösgläubig verschafft und damit eine Hehlerei begangen hat. Die Problematik der ungleichartigen Wahlfeststellung liegt darin begründet, dass 132 die wahlweise Verurteilung wegen eines der in Betracht kommenden Delikte auch den Vorwurf impliziert, möglicherweise Täter einer nicht begangenen Straftat zu sein. Eine rigorose Anwendung des Grundsatzes „in dubio pro reo“ hätte zur Folge, dass der Täter stets freigesprochen werden müsste, obwohl sicher ist, dass er eine der Straftaten begangen hat. Um den Täter gleichwohl nicht durch die Verurteilung mit einem Makel zu belasten, den er nicht verdient hat, wird eine Verurteilung auf mehrdeutiger Tatsachengrundlage nur in engen Grenzen zugelassen. Damit tritt das Maßstabs- und Begrenzungsproblem in den Mittelpunkt. Die ungleichartige Wahlfeststellung ist dabei auch bei mehr als zwei Sachver133 haltsalternativen zulässig.392 Die Rechtsprechung hat dies bejaht zwischen Diebstahl, Hehlerei und Beihilfe zum Diebstahl mit anschließender Hehlerei (BGHSt 15 63, 65), zwischen Diebstahl, Hehlerei und Unterschlagung (BGHSt 16 184, 186 f; BGH NStZ-RR 2018, 47 nach BGHSt [GS] 62 164, dazu BVerfG [Kammer] NJW 2019 2837)393 nicht hingegen zwischen Beihilfe zum Diebstahl mit anschließender Hehlerei und Hehlerei.394 131

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1. Voraussetzungen für eine Verurteilung im Wege einer ungleichartigen Wahlfeststellung. Umstritten ist, mit Hilfe welcher Kriterien die Gleichwertigkeit der festgestellten Straftaten zu ermitteln ist. Hier stehen sich im Wesentlichen zwei Meinungen gegenüber: Nach Auffassung der Rechtsprechung, die in der Literatur teilweise gebilligt wird, ist eine rechtsethische und psychologische Vergleichbarkeit erforderlich (Rdn. 135 ff). Demgegenüber stellt eine in der Literatur im Vordringen befindliche Ansicht auf das Kriterium der Identität des Unrechtskerns ab (Rdn. 150ff). Allerdings gibt es auch kritische Stimmen, welche die Zulässigkeit der Wahlfeststellung generell in Zweifel ziehen (näher dazu Rdn. 15 ff).395

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391 392 21 ff. 393 394 395

BGHSt 36 262, 268 = JZ 1990 195 m. Anm. Rudolphi und Otto JR 1990 203. BGHSt 16 184, 187; Fischer § 1 Rdn. 42; Wolter Alternative S. 120 m.w.N.; vgl. auch Deubner JuS 1962 Vgl. dazu Deubner JuS 1962 21. BGH GA 1984 373. Endruweit S. 105 ff; Frister NK Nach § 2 Rdn. 86 ff, 100; Mayer AT § 78.

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a) Erfordernis rechtsethischer und psychologischer Vergleichbarkeit. Die h.M. 135 verlangt eine rechtsethische und psychologische Vergleichbarkeit der Tatvorwürfe (BGHSt [GS] 9 390, 393 f, weiterhin BGHSt [GS] 62 164, Rdn. 21 f, 34).396 aa) Rechtsethische Vergleichbarkeit. Rechtsethische Vergleichbarkeit erfordert nicht nur, dass die Schuldvorwürfe annähernd gleich schwer sind, sondern darüber hinaus, dass die alternativ festgestellten Straftaten nach dem allgemeinen Rechtsempfinden die gleiche oder ähnliche sittliche Missbilligung verdienen.397 Bei der Prüfung dieser Vergleichbarkeit ist grundsätzlich an die gesetzlichen Straftatbestände anzuknüpfen. Insoweit handelt es sich um einen abstrakten Vergleich, bei dem nicht auf die tatsächlichen Besonderheiten des zu entscheidenden Einzelfalls abzustellen ist.398 Mindestvoraussetzung der Vergleichbarkeit ist die Verletzung ähnlicher Rechtsgüter.399 Eine solche Ähnlichkeit wird bei Eigentum und Vermögen, so bei Betrug und Hehlerei400 und den Eigentumsdelikten und Hehlerei,401 sowie bei den Rechtspflegedelikten, so zwischen Meineid und falscher Verdächtigung,402 bejaht.403 In diesen Bereichen ist die Rechtsprechung äußerst großzügig und lässt eine ungleichartige Wahlfeststellung zu (Rdn. 146). Werden neben vergleichbaren Rechtsgütern auch nicht-vergleichbare Rechtsgüter mit verletzt, so z.B. bei der Alternative von schwerem Raub und Hehlerei404 oder bei Diebstahl und gewerbsmäßiger Hehlerei,405 so soll nach Auffassung der Rechtsprechung gleichwohl Vergleichbarkeit gegeben sein. 406 In diesen Fällen ist jedoch die nichtwahlfeststellungsfähige Komponente zunächst gemäß dem Grundsatz „in dubio pro reo“ zu entfernen, so dass sich statt Raub und Hehlerei nur Diebstahl und Hehlerei,407 statt Raub und Unterschlagung nur Diebstahl und Unterschlagung408 gegenüberstehen und miteinander verglichen werden müssen.409 Generell gilt, dass immer dann, wenn eine rechtsethische Vergleichbarkeit nicht zwischen den in Betracht kommenden „Volltatbeständen“ vorliegt, sondern nur im Hinblick auf einen Ausschnitt aus dem ersten Tatbestand im Verhältnis zum ganzen zweiten Tatbestand, dies für eine Verurteilung auf wahldeutiger Grundlage ausreicht. In einem solchen Fall hat sich die rechtliche Würdigung auf das rechtsethisch und psycholo-

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396 OGHSt 2 93; BGHSt 1 127, 128; 302, 304; 11, 26; 100, 101; 15 63, 66; 16 184, 187; 21 152, 153; 22 12; 154; 23 203, 204; 360, 361; 25 182, 183 f; 30 77, 78; BGH NJW 1974 122; OLG Hamm GA 1974 85; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 10 Rdn. 41 ff; Eschenbach Jura 1994 302, 306, 307 f; einschränkend OLG Hamm NJW 1974 1957, 1958; OLG Saarbrücken NJW 1976 65, 67; OLG Karlsruhe NJW 1976 902 ff; BayObLG JR 1978 26; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 99. 397 So BGHSt (GS) 9 390, 394; 20 100, 101; BGH StV 1985 92. 398 So wohl BGHSt 11 26, 28; 20 100, 101; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 100; aA Wolter Alternative S. 107 ff; 119, 143; OLG Karlsruhe NJW 1976 902 ff; OLG Saarbrücken NJW 1976 65 ff m. krit. Anm. Günther JZ 1976 665. 399 BGHSt 30 77, 78; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 100. 400 BGH NJW 1974 804 f. 401 BGHSt 1 302, 304; 16 184, 186 f; OLG Düsseldorf NStZ-RR 1999 304, 305. 402 BayObLG MDR 1977 860. 403 Frister NK Nach § 2 Rdn. 64 f, 66. 404 BGHSt 21 152, 153. 405 Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 101. 406 BGHSt 13 64, 65; 16 184 zu § 243 a.F. und § 259; BGH 11 26 zu § 242 und 260 a.F.; BGH NStZ 2000 423 f m.w.N. zu § 243 und § 260 a.F.; aA Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 101. 407 BGH bei Holtz MDR 1986 793. 408 BGHSt 25 182, 184 f. 409 Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 101; Sch/Schröder/Stree § 259 Rdn. 58.

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gisch Vergleichbare der alternativen Verhaltensweisen zu beschränken.410 Dass eine Wahlfeststellung zulässig ist, ergibt sich in diesen Fällen erst auf dem Weg über eine Tatbestandsreduktion,411 die den vergleichbaren „Unrechtskern“ herausschält (Rdn. 152).412 Wenn z.B. Raub und Hehlerei als alternative Straftaten in Betracht kommen, ist zunächst der Raub in Diebstahl und Nötigung zu unterteilen und Letztere mangels Vergleichbarkeit mit der Hehlerei auszuscheiden. Zu verurteilen ist dann wahlweise wegen Diebstahls oder Hehlerei.413 Methodisch ähnlich ist zu verfahren, wenn von den zwei zu vergleichenden Straftat140 beständen der eine in Tateinheit mit weiteren Delikten erfüllt wäre. So ist es möglich, dass bei der Alternativität von Diebstahl und Hehlerei z.B. der Diebstahl mit einem Verwahrungsbruch, einer Untreue, einer Verletzung des Postgeheimnisses oder einer Urkundenunterdrückung tateinheitlich zusammentrifft (BGHSt 15 266 ff). In einem solchen Fall besteht kein Anlass, die Zulässigkeit einer Verurteilung auf wahldeutiger Grundlage deshalb abzulehnen, weil es bei rechtlicher Gesamtbeurteilung der beiden in Betracht kommenden Geschehensabläufe an der Vergleichbarkeit fehlt, obwohl sie für einen bestimmten Teilbereich zweifelsfrei gegeben ist. Sonst wäre der Angeklagte gegenüber einem Täter begünstigt, bei dem die Verwirklichung zusätzlicher Tatbestände aus Rechtsgründen ausscheidet. Es reicht aus, wenn die in Tateinheit hinzutretenden Delikte bei der Beurteilung ausgeklammert werden und auf diese Weise eine Reduzierung auf einen Unrechtskern vorgenommen wird. Der Zwang zu einer solchen beschränkten strafrechtlichen Würdigung des Sachverhalts ist der Rechtsordnung auch sonst nicht fremd, wie die Rechtsinstitute der Amnestie, der Auslieferung und des Strafantrags zeigen.414 Die Tatsache, dass es sich bei dem einen Tatbestand um ein Verbrechen und bei 141 dem anderen um ein bloßes Vergehen handelt, soll nach Auffassung der Rechtsprechung der Vergleichbarkeit nicht entgegenstehen.415 Dies ist jedoch nicht unbedenklich, weil im Hinblick auf die Terminologie des StGB kategoriell andere Strafrahmen (§ 12) auch eine grundsätzlich erheblich abweichende rechtsethische Bewertung indiziert. 142 Auch soll der rechtsethischen Vergleichbarkeit nicht entgegenstehen, dass die eine Straftat als Hehlerei durch die Gewerbs- oder Gewohnheitsmäßigkeit einem qualifizierten Tatbestand unterfällt, sofern für die andere Straftat eine solche Begehungsweise gleichermaßen festgestellt wird und diese zumindest im Rahmen der Strafzumessung strafschärfend zu berücksichtigen ist.416 Aus dem Kriterium der Vergleichbarkeit wird also nicht hergeleitet, dass dann, wenn die Grundtatbestände gleichwertig sind, hinzutretende straferschwerende Umstände auch bei beiden als möglicherweise verwirklicht (wahldeutig) festzustellenden Straftatbeständen im Gesetz als straferhöhende Tatbestandsmerkmale normiert sein müssen. Vielmehr soll es genügen, wenn das Merkmal, das bei dem einen Straftatbestand kraft Gesetzes das Unrecht erhöht, in dem anderen Straftatbestand strafschärfend zu berücksichtigen ist.417 Insoweit sollen eine abstrakte und konkrete Betrachtungsweise ineinandergreifen.

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410 Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 101; Schulz JuS 1974 635, 635; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 64 f; ders. Alternative S. 75 ff, 119 f. 411 Tröndle LK10 § 1 Rdn. 83; Wachsmuth/Waterkamp Jura 2005 509, 512. 412 Schulz NJW 1983 265; OLG Saarbrücken NJW 1976 65, 67; OLG Hamm NJW 1982 192, 193. 413 Vgl. BGH StV 1985 92 f. 414 BGHSt 15 266, 267. 415 BGH NJW 1974 805; s. auch BGHSt 11 26, 28; aA Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 101. 416 BGHSt 11 26, 29 m. Anm. Nüse JR 1958 64 und Krumme LM § 242 Nr. 22; BGH NJW 1954 931, 932; BGH JR 1959 305;. 417 BGHSt 11 26, 28; BGH NJW 1974 804, 805; BayObLG NJW 1958 560 f.

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Diese Kombination verschiedener Betrachtungsweisen, die über den Vergleich 143 abstrakter Straftatbestände hinausgeht, ist unter Gesichtspunkten der Bestimmtheit und Gesetzlichkeit sowie der Verfahrensfairness, die auch einen insoweit bestimmten Vorwurf voraussetzt, dass eine Verteidigung ihm gegenüber möglich ist (dessen Kehrseite dann der hinreichend bestimmte Schuldspruch ist, der seine Funktionen zu erfüllen vermag, vgl. Rdn. 19) nicht unbedenklich.418 Sie darf insbesondere nicht dazu führen, dass eine Wahlfeststellung auch zwischen grundverschiedenen Straftatbeständen bejaht wird (Rdn. 19). Der Große Strafsenat hat dies – dem Antrag des Generalbundesanwalts entgegen – bestätigt,419 und auch das BVerfG stellt darauf ab.420 Es reicht nicht aus, dass nach dem Erscheinungsbild der Einzeltat, wie es sich aus deren konkreter Gestaltung ergibt, die verschiedenen Straftatbestände durch ein einander ähnliches Verhalten erfüllt werden. Die rechtliche Bewertung durch das Strafgesetz bleibt davon unberührt. Deshalb kann die Entscheidung des OLG Karlsruhe421 nicht überzeugen, in der das Gericht für eine eng zu begrenzende Fallgruppe, die dem Grenzbereich von Trickdiebstahl und verwandten Gestaltungen einerseits und Betrug andererseits zuzuordnen ist, eine wahldeutige Verurteilung wegen Diebstahls oder Betrugs für zulässig gehalten hat. Entscheidend ist vielmehr, dass in diesen Fällen die Abgrenzung eine strafrechtsdogmatische ist, die sich in den Grenzen des Wortlauts beider Straftatbestände bewegt. Unter diesen Voraussetzungen kann ein die Wahlfeststellung anschließender Unterschied im tatbestandstypischen Unrechtsgehalt der abstrakten Straftatbestände verneint werden (Rdn. 154). Rechtsethische Vergleichbarkeit wird weiterhin bejaht zwischen verschiedenen 144 Begehungsformen desselben Delikts, so zwischen Täterschaft und Anstiftung.422 bb) Psychologische Vergleichbarkeit. Zusätzlich zur rechtsethischen muss psy- 145 chologische Vergleichbarkeit vorliegen, die eine in etwa gleichgeartete psychische Beziehung des Täters zu den alternativ festgestellten Verhaltensweisen erfordert.423 Allerdings kommt diesem Merkmal keine eigenständige Bedeutung zu. Allenfalls wird noch einmal hervorgehoben, dass es bei der Vergleichbarkeit auch auf subjektive Unrechtsund Schuldelemente ankommt.424 cc) Übersicht über die höchstrichterliche Rechtsprechung. Die Rechtsprechung 146 hat Wahlfeststellung für zulässig gehalten zwischen uneidlicher Falschaussage und Meineid425 – dieser Fall würde heute nach den Regeln über das Stufenverhältnis gelöst werden (Rdn. 73 ff); zwischen Meineid und unbewusst fahrlässigem Falscheid426 – auch insoweit ist heute ein Stufenverhältnis anzunehmen (Rdn. 81 f); zwischen Meineid und falscher Versicherung an Eides Statt;427 zwischen uneidlicher Falschaussage und falscher Verdächtigung;428 zwischen Meineid und falscher Verdächtigung;429 zwischen (einfacher)

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418 Vgl. auch Schuhr NStZ 2014 437, 440. 419 BGHSt (GS) 62 164 Rdn. 34. 420 BVerfG (2. Kammer 2. Senat) NJW 2019 2837 Rdn. 38. 421 OLG Karlsruhe NJW 1976 902, 903; aA Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 103. 422 BGHSt 22 12, 13 f; vgl. auch BGH StV 1987 387. 423 BGHSt (GS) 9 390, 394; BGH StV 1985 92; OLG Saarbrücken NJW 1967 67 f; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 102. 424 So Schaffstein NJW 1952 726; Jochen Schulz JuS 1974 635, 638. 425 BGH NJW 1957 1886 m. Anm. O.H. Schmitt; BGHSt 13 70, 72; BayObLG NJW 1965 2211, 2214. 426 BGHSt 4 340, 341. 427 OLG Hamm GA 1974 84. 428 Vgl. auch BGH Urteil vom 20.1.1978 – 2 StR 479/77; BGHSt 32 146, 149; 38 172, 176; OLG Braunschweig NJW 1959 1144 f. 429 BayObLG MDR 1977 860 = JR 1978 26 ff m. Anm. Hruschka.

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Hehlerei und schwerem Diebstahl nach § 243 Abs. 1 Nr. 2 a.F.430 und § 243;431 vor Einführung des § 243 Abs. 1 Nr. 3 zwischen (schwerem) Diebstahl (im Rückfall) und gewerbsmäßiger Hehlerei, wenn auch – bei eindeutiger Feststellung – der Diebstahl gewerbsmäßig begangen worden wäre;432 zwischen schwerem Rückfalldiebstahl (§ 244 a.F.) in mehreren Einzelfällen und fortgesetzter gewerbsmäßiger Hehlerei;433 zwischen Diebstahl im Rückfall (§ 243 a.F.) und Rückfallhehlerei (§ 260 a.F.);434 zwischen Diebstahl und Hehlerei,435 auch wenn die Hehlerei mit einer vorausgegangenen Beihilfe zum Diebstahl verbunden ist436 oder wenn der Angeklagte für den Fall des Diebstahls weiterer Gesetzesverletzungen in Tateinheit damit schuldig wäre, denen auf der Seite der Hehlerei nichts Vergleichbares gegenübersteht; 437 zwischen Bandendiebstahl und Bandenhehlerei; 438 zwischen Diebstahl und Hehlerei in der Form des Sichverschaffens;439 zwischen (schwerem) Diebstahl, Hehlerei (in der Form des Ansichbringens) und Unterschlagung;440 zwischen schwerem Diebstahl und Unterschlagung;441 zwischen Diebstahl in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung einerseits sowie Unterschlagung und gefährlicher Körperverletzung andererseits; 442 zwischen Diebstahl und schwerer Amtsunterschlagung (§ 351 a.F.), wenn der Täter in jedem Fall unter Verletzung der ihn als Beamten treffenden Pflichten sich ihm anvertraute Gelder zugeeignet und zur Verdeckung der Tat Bücher falsch geführt hat;443 zwischen Diebstahl und Pfandkehr;444 zwischen (schwerem) Diebstahl und sachlicher Begünstigung des Diebes (§§ 242, 243, 257 a.F.); 445 zwischen Diebstahl, Unterschlagung und Begünstigung;446 zwischen Unterschlagung und Betrug; 447 zwischen einem Betrug, der auf die Erlangung von Eigenbesitz an einer Sache gerichtet ist, und einer Unterschlagung der auf straflose Weise erlangten Sache;448 zwischen Unterschlagung und Untreue;449 zwischen Hehlerei und Unterschlagung;450 zwischen Betrug und gewerbsmäßiger Hehlerei;451 zwischen Raub und räuberischer Erpressung;452 zwischen Betrug und Untreue;453 zwischen Betrug und Computer-

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430 OGHSt 2 89, 90, 93; BGHSt 1 302, 304; 22 154, 156; BGH NJW 1952 114; BGH bei Dallinger MDR 1968 373; 1970 13. 431 OLG Celle NJW 1988 1225, 1226. 432 BGHSt 11 26, 28 f; vgl. auch BGH NJW 1954 931, 932. 433 BGH bei Dallinger MDR 1967 549. 434 BGHSt 12 386, 387, 388. 435 BGHSt (GS) 62 164. 436 BGHSt 15 63, 65 f. 437 BGHSt 15 266. 438 BGH wistra 2000 258. 439 BGH NStZ 1990 388 f. 440 BGHSt 16 184, 186. 441 BGHSt 16 184, 187; 25 182, 184; vgl. OLG Hamm NJW 1974 1957, das zur Annahme eines Stufenverhältnisses neigt. 442 BGHSt 25 182, 186. 443 BayObLG NJW 1958 560 f. 444 OLG Düsseldorf NJW 1989 115, 116. 445 BGHSt 23 360 f m. zust. Anm. Schröder JZ 1971 141; kritisch Hruschka NJW 1971 1392; Wolter GA 1974 161, 167 f; BGH NJW 1989 1490. 446 BGH Urt. v. 10.11.1981 – 5 StR 544/81. 447 OLG Hamm NJW 1974 1957, 1958. 448 OLG Saarbrücken NJW 1976 65, 67 f; kritisch dazu Günther JZ 1976 665 ff. 449 OLG Braunschweig MDR 1951 180, 181; offen gelassen in BGH GA 1970 24, 25 m. Anm. H. Schönke JZ 1951 235. 450 BGHSt 16 184, 187; 25 182. 451 BGH NJW 1974 804, 805. 452 BGH Beschl. v. 9.10.1975 – 4 StR 504/75; BGHSt 5 280, 281; 22 154, 156. 453 BGH GA 1970 24; OLG Hamburg JR 1956 28 m. Anm. Nüse.

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betrug;454 zwischen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr und fahrlässigem Gestatten des Fahrens ohne Fahrerlaubnis;455 zwischen Steuerhinterziehung und Steuerhehlerei;456 zwischen Allein- und Mittäterschaft oder Allein- und mittelbarer Täterschaft.457 Wahlfeststellung wurde verneint zwischen versuchtem Landesverrat und vollen- 147 deter landesverräterischer Fälschung („Scheinverrat“; § 100 Abs. 1, § 100a a.F.);458 zwischen einem Vergehen nach § 138 und der strafbaren Beteiligung an der Tat, deren Anzeige unterlassen worden ist;459 zwischen vorsätzlicher Tötung und Beihilfe zur Körperverletzung;460 zwischen Mord und versuchter beabsichtigter schwerer Körperverletzung;461 zwischen versuchter Abtreibung und Betrug;462 zwischen Totschlag und Körperverletzung mit Todesfolge in Tateinheit mit versuchtem Totschlag, wenn im Rahmen eines einheitlichen Gesamtgeschehens die verbleibende tatsächliche Ungewissheit allein die Vorsatzfrage in Bezug auf die für den Tod ursächliche Handlung betrifft und wenn die Bejahung dieser Frage die nachfolgende Handlung, die – für sich allein – als tateinheitlich begangener Totschlagsversuch zu werten ist, einer eigenständigen rechtlichen Beurteilung entziehen würde;463 zwischen Diebstahlsversuch und Vortäuschen einer Straftat nach § 145d;464 zwischen Beihilfe zum Diebstahl mit anschließender Hehlerei und Hehlerei;465 zwischen Diebstahl und Erpressung oder räuberischer Erpressung;466 zwischen Diebstahl und Betrug;467 zwischen Diebstahl und Beihilfe zum Betrug;468 zwischen schwerem Raub und Hehlerei; 469 zwischen schwerem Raub und Unterschlagung;470 zwischen unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln (§ 11 Abs. 1 Nr. 4 BtMG a.F.) und versuchter Strafvereitelung;471 zwischen Beihilfe zum Raub und Strafvereitelung;472 zwischen Betrug (gegenüber den Kunden eines Heizöllieferanten) und Steuerhinterziehung oder Steuerhehlerei;473 zwischen Betrug und Urkundenfälschung;474 zwischen fahrlässigem Vollrausch und schwerem Diebstahl nach § 243 Abs. 1 Nr. 4 a.F.,475 Bedrohung476 und Beleidigung;477 allgemein zwischen vorsätzlichem oder fahrlässigem Voll-

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454 BGH NJW 2008 1394, 1395; NStZ 2014 42 m. Anm. Kudlich ZWH 2013 271; kritisch dazu (einheitliches Delikt und eindeutige Verurteilung) Schuhr ZWH 2012 48, 53. 455 Schulz NJW 1983 265; OLG Hamm NJW 1982 192, 193. 456 BGH Beschluss vom 28.2.1980 – 4 StR 40/80; BGHSt 4 128, 130; BGH NJW 1974 804, 805; OLG Dresden NStZ-RR 1999 370. 457 BGHSt 42 65, 67. 458 BGHSt 20 100, 101 ff. 459 BGH bei Holtz MDR 1979 635 f; BGHR Vor § 1 Wahlfeststellung – Vergleichbarkeit, fehlende 1. 460 BGH GA 1967 182. 461 BGHR Vor § 1 Wahlfeststellung – Vergleichbarkeit 2. 462 BGH bei Dallinger MDR 1958 739. 463 BGH NJW 1990 130 = JR 1990 471 m. Anm. Wolter. 464 OLG Köln NJW 1982 347. 465 BGH bei Holtz MDR 1984 626. 466 BGH DRiZ 1972 30, 31; NJW 2018 1557, 1558. Kritisch dazu Krell NStZ 2018 466, 467. 467 OLG Karlsruhe Die Justiz 1973 57; offen gelassen BGH NJW 1974 804, 805; aA OLG Karlsruhe NJW 1976 902, 903 f für das Verhältnis Trickdiebstahl/Betrug. 468 BGH NStZ 1985 123; BGH MDR 1989 655. 469 BGHSt 21 152, 153, 154. 470 BGHSt 25 182, 184. 471 BGHSt 30 77, 78. 472 BGH bei Holtz MDR 1989 111. 473 BGH bei Holtz MDR 1984 89. 474 OLG Düsseldorf NJW 1974 1833, 1834. 475 BGHSt 1 275, 276, 278. 476 BGHSt 1 327, 329. 477 BGHSt (GS) 9 390, 391.

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rausch und der die Bedingung der Strafbarkeit bildenden, mit Strafe bedrohten Handlung;478 zwischen Bestechlichkeit (§ 332 a.F.) und Betrug.479 Vergleichbarkeit wird weiterhin verneint zwischen Beteiligung an der Vortat und Strafvereitelung;480 Totschlag und Körperverletzung mit Todesfolge;481 Diebstahl und Erpressung482 oder Diebstahl und Betrug; 483 sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen und sexuellem Missbrauch von Kindern;484 schwerem Bandendiebstahl und gewerbsmäßiger Bandenhehlerei.485 dd) Bedenken gegen das Kriterium der rechtsethischen und psychologischen Vergleichbarkeit. Es ist äußerst fraglich, ob die Rechtsprechung mit dem Kriterium der rechtsethischen und psychologischen Vergleichbarkeit erreichen kann, dass der Täter durch eine wahldeutige Verurteilung nicht mit einem Makel belastet wird, den er möglicherweise nicht verdient.486 Denn der Konkretisierungswert der Forderung, dass die jeweils erfassten Straftaten im allgemeinen Rechtsempfinden die gleiche oder eine ähnliche Missbilligung verdienen und eine in etwa gleichgeartete psychische Beziehung des Täters zu seiner Tat voraussetzen, beinhaltet nicht mehr, als dass die Taten nach allgemeinem Rechtsempfinden in ihrem gesamten objektiven und subjektiven Unrechtsgehalt vergleichbar, d.h. einander ähnlich sein müssen.487 Hinzu kommt, dass die Rechtsprechung nicht durchgängig klare und nachvollziehbare Entscheidungen ermöglicht und teilweise widersprüchlich ist, so wenn Wahlfeststellung zwischen Betrug und Untreue zugelassen,488 hingegen zwischen Untreue und Hehlerei abgelehnt wird489 oder wenn bei §§ 243 und 259,490 nicht aber bei §§ 249 und 259491 Wahlfeststellungsfähigkeit angenommen wird.492 Die Rechtsprechung orientiert sich an der „Art der sittlichen Bewertung“ der al149 ternativ festgestellten Taten nach dem „allgemeinen Rechtsempfinden“.493 In einer rechtsstaatlichen Strafrechtsordnung kommt es aber entsprechend der Garantie des Art. 103 Abs. 2 GG und des Schuldgrundsatzes darauf an, ob die Taten nach rechtlichen Maßstäben einen vergleichbaren Unrechts- und Schuldgehalt aufweisen. Daher ist es nicht zulässig, den besonderen Handlungsunwert unberücksichtigt zu lassen und die Gleichartigkeit des Betrugs- und Untreueunrechts allein mit der Vermögensschädigung zu begründen.494 Trotz dieser Kritik ist die Rechtsprechung vom Kriterium der rechtethischen und psychologischen Vergleichbarkeit nicht abgewichen.

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478 479 480 481 482 483 484 485 486 487 488 489 490 491 492 493 494

BGHSt (GS) 9 390, 392, 394 f; BGHR Vor § 1 Wahlfeststellung – Vergleichbarkeit, fehlende 2. BGHSt 15 88, 100. BGHSt 30 77, 78 = JR 1982 81 m. Anm. Günther. BGH NJW 1990 130 f. BGH DRiZ 1972 30, 31. BGH NStZ 1985 123. BGHSt 46 85, 87. BGH NStZ 2000 473 f. Kritisch insbesondere Günther S. 114 ff. So zutreffend Frister NK Nach § 2 Rdn. 57. BGH GA 1970 24. BGHSt 15 266, 267. BGHSt 1 302, 304; 15 63, 66. BGHSt 21 152. Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 68. BGHSt (GS) 9 390, 394; 11 28; BGH StV 1985 92. So aber BGH GA 1970 24; kritisch dazu Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 70.

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b) Identität des Unrechtskerns. Nach einer verbreiteten Meinung ist eine Identität 150 des Unrechtskerns der in Betracht kommenden Delikte erforderlich, damit den Anforderungen des Gesetzlichkeitsprinzips des Art. 103 Abs. 2 GG Rechnung getragen ist.495 Allerdings wird dieses Kriterium in ganz unterschiedlicher Weise verstanden. aa) Identität oder Gleichwertigkeit der Rechtsgutsverletzung. In der ursprüngli- 151 chen, ihrer Grundtendenz nach eher auf eine Ausweitung der Wahlfeststellung gerichteten Version dieser Lehre wurde als ausreichend angesehen, dass die in den Straftatbeständen vorausgesetzten Rechtsgutsverletzungen identisch oder gleichwertig waren.496 Hiernach sollen Wahlfeststellungen zulässig sein zwischen Diebstahl und Hehlerei;497 Raub und räuberischem Diebstahl;498 Betrug und Diebstahl;499 Falschaussage und falscher Anschuldigung;500 Raub und Hehlerei.501 Hierbei bleibt zum einen unberücksichtigt, dass das Unrecht auch durch die Tat- 152 handlung maßgeblich geprägt wird, und zum anderen, dass Straftatbestände neben dem primär geschützten Rechtsgut zusätzliche, den Unrechtsgehalt eines Delikts maßgeblich mitprägende Rechtsgutsverletzungen erfassen können. Dies ist der Fall, wenn die Wahlfeststellung zwischen Raub und Hehlerei anerkannt wird, obwohl das Nötigungselement in der Hehlerei nicht enthalten ist. Auch wenn das Raubunrecht mehr ist als die Summe von Nötigungs- und Diebstahlsunrecht, ist von dem Nötigungselement abzusehen und auf die übereinstimmende Eigentumsverletzung abzustellen (Rdn. 139). Damit kann aber lediglich eine Wahlfeststellung zwischen Diebstahl und Hehlerei gerechtfertigt werden.502 Entsprechend ist einer Wahlfeststellung mit Hehlerei nur der im Wohnungseinbruchsdiebstahl enthaltene einfache Diebstahl zugänglich.503 Allerdings soll der Unrechtsgehalt im Wege der Abstraktion nicht so weit reduziert werden dürfen, dass dabei der Unrechtsgehalt seine Konturen verliert. Dies soll vorliegen, wenn man bei Raub und Hehlerei beim Raub, um eine Wahlfeststellung von Unterschlagung und Hehlerei zu ermöglichen, nicht nur das Nötigungselement eliminierte, sondern auch den Gewahrsamsbruch, um durch die Reduzierung auf das Zueignungselement eine Vergleichbarkeit mit dem Unterschlagungsunrecht zu erreichen. Angesichts der durch das 6. StrRG eingefügten Subsidiaritätsklausel der Unterschlagung, nach der eine Bestrafung nach § 246 nicht eintritt, wenn die Tat in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist,504 ist bei den das Eigentum oder Vermögen schützenden Strafvorschriften eine Reduzierung auf die Zueignung auch ohne Gewahrsamsbruch möglich, die durch § 246

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495 Deubner NJW 1962 94, 95; ders. NJW 1967 738; Dreher MDR 1970 371; Hardwig FS Eb. Schmidt, S. 459, 484 Fn. 28; Hruschka MDR 1967 265, 267 f; ders. JR 1978 27 f; Jakobs GA 1971 257, 270; Jescheck/Weigend § 16 III 3; Lackner/Kühl/Kühl § 1 Rdn. 19; Löhr JuS 1976 715, 720; Montenbruck GA 1988 531, 538; Otto AT § 24 Rdn. 9; ders. FS Peters, S. 391; Tröndle JR 1974 133, 135; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 71 ff; vgl. auch BayObLG MDR 1977 860; kritisch Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 75, 106; Wolter Alternative S. 101 ff. 496 So Deubner JuS 1962 21, 23; ders. NJW 1962 94, 95 f; ders. NJW 1967 738; Hardwig FS Eb. Schmidt, S. 484 Fn. 28; ders. GA 1964 140, 147; Hruschka MDR 1967 265, 267 f; ders. JR 1978 26, 27 f; Löhr JuS 1976 715, 720; Otto FS Peters S. 373, 390 f; Sax JZ 1965 745, 748; vgl. auch Jakobs GA 1971 257, 268 ff. 497 Sax JZ 1965 745, 748. 498 Henkel S. 354. 499 Hardwig FS Eb. Schmidt, S. 459, 484 Fn. 28. 500 BGHSt 32 146, 149; BayObLG MDR 1977 860 = JR 1978 26 m. Anm. Hruschka. 501 Deubner JuS 1962 21, 24. 502 Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 73. 503 BGH NStZ 2008 646. 504 Näher dazu BGHSt 47 243 m. krit. Anm. Duttge/Sotelsek NJW 2002 3756; Freund/Putz NStZ 2003 245 ff.

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unter Strafandrohung gestellt ist. Daher ist eine Wahlfeststellung zwischen Unterschlagung und Hehlerei zulässig. 153

bb) Handlungsunwert und Motivation des Täters. Eine in der Grundtendenz eher auf eine Einschränkung der Wahlfeststellung ausgerichtete Interpretation der Identität des Unrechtskerns will den Handlungsunwert, die Art und Weise der Erfolgsherbeiführung sowie die Motivation des Täters in den Vergleich mit einbeziehen und eine wahldeutige Verurteilung nur zulassen, wenn sich die fraglichen Straftatbestände in ihrem tatbestandstypischen Unrechtsgehalt nach Art und Umfang wesentlich gleichen.505 Diese Voraussetzungen sind erfüllt zwischen Diebstahl, Unterschlagung und Hehlerei, zwischen Raub und räuberischer Erpressung, zwischen dem Missbrauchs- und dem Treubruchstatbestand der Untreue506 sowie zwischen Betrug und Erpressung, da neben der Vermögensschädigung und der Bereicherungsabsicht ein Angriff auf die Verfügungsfreiheit, sei es durch Täuschung, sei es durch Nötigung, erforderlich ist.507 Teilweise wird hierbei nicht auf die rechtliche Ähnlichkeit der abstrakten Straftatbe154 stände, sondern auf die Ähnlichkeit der jeweiligen tatbestandlichen Handlungen im konkreten Fall abgestellt.508 Dadurch wird ermöglicht, dass auch bei der Alternativität zweier in ihrem tatbestandstypischen Unrechtsgehalt nicht hinreichend ähnlicher Tatbestände eine Verurteilung erfolgen kann. Praktische Bedeutung erlangt dies vor allem für die Alternative von Diebstahl und Betrug: Wahlfeststellung soll ausnahmsweise zulässig sein, wenn die konkreten Tathandlungen im Grenzbereich zwischen Diebstahl und Betrug liegen, wenn z.B. unklar ist, ob infolge einer Täuschung der Gewahrsam des Opfers an der vom Täter erlangten Sache lediglich gelockert (Trickdiebstahl) oder vollständig aufgehoben (Sachbetrug) wurde.509 Damit den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG entsprochen wird, kommt es jedoch auf den tatbestandstypischen Unrechtsgehalt an, der abstrakt anhand der Straftatbestände zu bestimmen ist (Rdn. 143). Nur wenn der Unrechtsgehalt der Straftatbestände vergleichbar ist, wird keine Bemakelung des Täters durch den Urteilstenor vorgenommen. Gleichwohl ist es zutreffend, im Grenzbereich zwischen Diebstahl und Betrug oder zwischen Raub und räuberischer Erpressung Vergleichbarkeit anzunehmen, soweit die Abgrenzung eine nur strafrechtsdogmatische ist, die sich in den Grenzen des Gesetzeswortlauts bewegt. Wenn beide Sachverhalte ohne Verstoß gegen das Analogieverbot unter den einen und den anderen Straftatbestand subsumiert werden können, liegt kein so erheblicher Unterschied im tatbestandstypischen Unrechtsgehalt der abstrakten Straftatbestände vor, dass eine Wahlfeststellung zu verneinen wäre. 155

cc) Beispiele für die Identität des Unrechtskerns. Unter Zugrundelegung der aufgezeigten Grundsätze zur Identität des Unrechtskerns, nach denen es sowohl auf die Identität oder Gleichwertigkeit der Rechtsgutsverletzung als auch auf den Handlungswert, die Art und Weise der Erfolgsherbeiführung und die Motivation des Täters an-

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505 Jescheck/Weigend § 16 III 1; Küper NJW 1977 1332; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 74 ff; ders. Alternative S. 101, 106 ff; ders. Wahlfeststellung S. 108 ff; ähnlich auch Fleck GA 1966 334, 335 f. 506 Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 75. 507 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 10 Rdn. 46; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 76. 508 Wolter Alternative S. 107 ff; ders. Wahlfeststellung S. 117 ff; kritisch dazu Günther S. 206 f; ders. JZ 1976 665, 667 f. 509 OLG Karlsruhe NJW 1976 902; offen gelassen in BGH StV 1985 92; abl. OLG Karlsruhe Die Justiz 1973 57; BGH NStZ 1985 123.

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kommt (Rdn. 153), ist zwischen Diebstahl und Hehlerei eine Wahlfeststellung möglich, die auch gegeben ist, wenn Raub und Hehlerei vorliegen, weil dann der Raub auf den Diebstahl zu reduzieren ist (Rdn. 138).510 Der Bundesgerichtshof nimmt auch beim Zusammentreffen von Raub und Unterschlagung eine Reduzierung des Raubes auf den Diebstahl vor und bejaht eine wahldeutige Verurteilung wegen Diebstahls und Unterschlagung. Angesichts der Subsidiaritätsklausel des § 246 ist in einem solchen Fall eine eindeutige Verurteilung aus § 246 geboten; es handelt sich hierbei um einen Fall der Postpendenzfeststellung (Rdn. 115).511 Wenn Unterschlagung und gewerbsmäßige oder Bandenhehlerei zusammentreffen, ist allein wegen Unterschlagung und Hehlerei zu verurteilen.512 Wenn es sich bei den alternativ festgestellten Straftaten teilweise um wahlfeststel- 156 lungsfähige, teilweise um nicht wahlfeststellungsfähige Straftaten handelt, sind die nicht wahlfeststellungsfähigen Straftaten auszuscheiden, und es ist lediglich wegen der wahlfeststellungfähigen Straftatbestände zu verurteilen. So ist, wenn einer Hehlerei alternativ ein Diebstahl in Tateinheit mit Urkundenunterdrückung gegenübersteht, nur wegen Diebstahls und Hehlerei zu bestrafen.513 Die Anwendung dieses Grundsatzes kann sogar dazu führen, dass eine Alternative nicht wahlfeststellungsfähiger Delikte zu einer eindeutigen Verurteilung auf wahldeutiger, ggf. sogar auf eindeutiger Tatsachengrundlage führt,514 so z.B., wenn nicht geklärt werden kann, ob der Täter eine Nötigungshandlung begangen hat, um einen Raub oder eine Vergewaltigung durchzuführen; in diesem Fall ist eindeutig wegen versuchter Nötigung zu bestrafen.515 2. Prüfung der ungleichartigen Wahlfeststellung. Zunächst ist jede der festge- 157 stellten Sachverhaltsalternativen getrennt zu prüfen. Sodann ist festzustellen, dass der Täter bei jeder der in Betracht kommenden Sachverhaltsalternativen einen Deliktstatbestand erfüllt hat und der Grundsatz „in dubio pro reo“ mangels Vorliegens eines Stufenverhältnisses (Rdn. 64) nicht eingreift. Weiterhin müssen die Delikte „rechtsethisch und psychologisch“ vergleichbar (Rdn. 150 ff) bzw. in ihrem „Unrechtskern identisch“ sein (Rdn. 135 ff). Liegen diese Voraussetzungen vor, so ist der Täter wahlweise wegen eines der in Betracht kommenden Delikte zu bestrafen. Der Strafrahmen ist dem mildesten Gesetz zu entnehmen (zur Strafzumessung s. Rdn. 160). Wenn allerdings eine gleichartige Wahlfeststellung in Betracht kommt, hat diese Vorrang vor der ungleichartigen (Rdn. 127). 3. Schuldspruch und Fassung der Urteilsformel. Die Fassung der Urteilsformel ist 158 bei der echten Wahlfeststellung umstritten. Denn im Gesetz ist nicht besonders geregelt, wie die Urteilsformel bei einer Verurteilung auf wahldeutiger Grundlage zu lauten hat (vgl. § 260 Abs. 1 S. 1 und 2 StPO). Die h.M. fordert eine dem sachlichen Ergebnis der Wahl-

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510 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 10 Rdn. 47; Eschenbach Jura 1994 302, 306, 308; Küper NJW 1976 1829; Maurach/Zipf AT/1 10/33; Otto FS Peters S. 373, 391; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 103; Jochen Schulz JuS 1974 635 ff; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 73, 81; ders. Alternative S. 74 ff, 119 f; ders. Wahlfeststellung S. 51 ff; aA Deubner JuS 1962 21, 22; Tröndle JR 1974 133, 134. 511 Jescheck/Weigend § 16 II 2; Küper Probleme, S. 80 ff; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 104; vgl. Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 56, 73, 81. 512 BGH bei Dallinger MDR 1970 13; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 81. 513 BGHSt 15 266; Wolter Alternative S. 79; ders. SK Anh. zu § 55 Rdn. 81; siehe auch BGH GA 1970 24. 514 Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 81. 515 Küper FS Lange, S. 65, 74 ff; Wolter Alternative S. 122 ff; ders. GA 1974 165; vgl. auch Günther S. 286 ff.

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feststellung entsprechende alternative Fassung des Schuldspruchs.516 Das mildeste Gesetz ist (nur) für den Strafausspruch maßgebend, nicht für den Schuldspruch.517 Nach der Gegenauffassung ist bei wahldeutiger Verurteilung nur das mildeste Gesetz in den Urteilsspruch aufzunehmen,518 um den Verdacht einer schwereren Straftat von dem Verletzten fern zu halten. Hiergegen spricht zum einen, dass die zweite Straftat ohnehin in den Urteilsgründen genannt werden muss, und zum anderen, dass jedenfalls im Kernbereich der Wahlfeststellung – die Eigentums- und Vermögensdelikte (§§ 242, 257, 259, 261, 263, 266) – die Strafdrohungen der einzelnen Delikte nicht erheblich voneinander abweichen, so dass selbst bei einer konkreten Betrachtungsweise der mildere Tatbestand oft schwer zu ermitteln ist. Dadurch entsteht die Gefahr, dass die eindeutige Tenorierung vom Zufall abhängen kann.519 Deshalb wird dem Prinzip der materiellen Wahrheit und der Gerechtigkeit, vor allem aber auch den Informationsfunktionen des Schuldspruchs (vgl. Rdn. 19) eher entsprochen, wenn das wahldeutige Zustandekommen der Verurteilung durch eine alternative Fassung des Schuldspruchs zum Ausdruck kommt. Liegt eine wahldeutige Anklage auf wahldeutiger Tatsachengrundlage wegen meh159 rerer prozessual selbständiger Taten vor und wird der Täter dem entsprechend verurteilt, so erfolgt kein Teilfreispruch. Wird dagegen nach wahldeutiger Anklage gleichwohl eindeutig auf wahldeutiger Tatsachengrundlage verurteilt, so muss der Angeklagte zur Klarstellung vom Vorwurf der anderen Tat freigesprochen werden.520 So ist der Angeklagte z.B. bei wahldeutiger Anklage wegen falscher Verdächtigung einerseits sowie uneidlicher Falschaussage in Tateinheit mit Strafvereitelung andererseits vom Vorwurf der uneidlicher Falschaussage in Tateinheit mit Strafvereitelung freizusprechen, wenn er eindeutig wegen falscher Verdächtigung verurteilt wird.521 160

4. Bestimmung der zu verhängenden Strafe. Bei zulässiger Wahlfeststellung muss die Strafe dem Gesetz entnommen werden, das die mildeste Strafe zulässt. Die Frage, welches Gesetz das mildeste ist, ist nicht durch einen abstrakten Vergleich der Strafrahmen zu entscheiden; vielmehr ist zu prüfen, auf welche Strafe zu erkennen wäre, wenn die eine oder die andere strafbare Handlung eindeutig feststünde.522 Bei einer Verurteilung auf wahldeutiger Grundlage ist die Strafe somit dem nach der konkreten Lage des Falles mildesten Gesetz zu entnehmen.523 Hierbei ist nach denselben Grundsätzen wie bei § 2 (§ 2 Rdn. 105 ff) vorzugehen. Im Hinblick darauf, dass die Heranziehung des mildesten Gesetzes fiktiv ist, dürfen auch Milderungsmöglichkeiten des eigentlich strengeren Gesetzes berücksichtigt werden.524 Bei zwei sich widersprechenden Aussagen ist

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516 BGHSt 8 34, 37; 15 266; 25 182, 186; BGH NJW 1952 114; OLG Hamm SJZ 50 55, 57; OLG Celle JZ 1951 465; Fischer § 1 Rdn. 46; Frister NK Nach § 2 Rdn. 82 f; Sander LR § 261 StPO Rdn. 167 f; MeyerGoßner/Schmitt StPO § 261 Rdn. 27; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 106; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 82; ders. Alternative S. 137 m.w.N. 517 BGH NJW 1952 114; BGH bei Herlan MDR 1954 531; zust. Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 106; BayObLG NJW 1965 2211, 2214. 518 BGHSt 4 340, 343; BGH NJW 1959 1140; OLG Hamburg NJW 1950 57; Deubner NJW 1967 738; Günther S. 222 f; Jescheck/Weigend § 16 III 2d. 519 Wolter Alternative S. 104. 520 BGHSt 38 172, 173. 521 BGHSt 38 172, 173. Zu Konstellationen der Wahlfeststellung in solchen Fällen Köchel/Wilhelm ZJS 2014 269. 522 RGSt 68 257, 262; 69 369, 374; 70 281; 72 339, 343; BGHSt 13 70, 72; 25 182, 186. 523 BGH bei Holtz MDR 1957 397. 524 BGHSt 13 70, 72; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 114; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 84; ders. Alternative S. 40; ders. Wahlfeststellung S. 139 f m.w.N.

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z.B. mit Rücksicht auf § 158 (Berichtigung einer falschen Angabe) zugunsten des Täters davon auszugehen, dass die zweite Aussage die erste berichtigt hat.525 Nebenstrafen und Nebenfolgen dürfen nur verhängt werden, wenn sie nach jeder 161 der in Betracht kommenden Alternativen zulässig sind;526 Art und Umfang bestimmen sich nach dem milderen Gesetz.527 Bei der Strafzumessung ist zu berücksichtigen, dass der Täter im Falle eines Eigen- 162 tumsdelikts für die gesamte Beute, im Falle der Hehlerei nur für einen Teil derselben verantwortlich ist. Deshalb ist zu seinen Gunsten von dem geringeren Schadensumfang auszugehen (BGHSt 15 266).528 5. Amnestie. Im Falle einer Amnestie liegt Straflosigkeit bereits dann vor, wenn von 163 ihr nur eine der wahldeutig festgestellten Straften erfasst wird.529 Dies ergibt sich unmittelbar aus dem Grundsatz „in dubio pro reo“. VIII. Rechtskraft und Rechtsbehelfe 1. Materielle Rechtskraft. Die Rechtskraft erstreckt sich auf sämtliche wahldeutig 164 abgeurteilte Straftaten. Bei alternativer Tatsachengrundlage ist aufgrund des Verbrauchs der Strafklage zu beachten, dass die angeklagte und rechtskräftig beurteilte Tat unter keinem (rechtlichen) Gesichtspunkt, auch nicht unter dem der Alternativität, einer erneuten strafrechtlichen Untersuchung unterzogen werden darf (BGHSt 32 146, 150 f). Gleiches gilt, wenn die alternative Tatsachengrundlage mit einem rechtlichen Stufenverhältnis kombiniert ist. 2. Ordentliche Rechtsmittel. Wird der Angeklagte auf wahldeutiger Tatsachen- 165 grundlage verurteilt, so kann Berufung oder Revision eingelegt werden. Diese Rechtsmittel können wegen Untrennbarkeit nicht auf einen Teil des wahldeutigen Schuldspruchs beschränkt werden (OLG Karlsruhe JR 1989 82 f).530 Dem steht der sachlogische Zusammenhang entgegen, der sich daraus ergibt, dass sich die tatsächlichen Vorgänge gegenseitig ausschließen müssen (Rdn. 3). Der eine Teil eines solchen Schuldspruchs kann nicht losgelöst von dem anderen überprüft werden (zur nachträglichen Verbindung zweier Strafverfahren in der Berufungsinstanz, wenn sich die Notwendigkeit einer Wahlfeststellung nachträglich herausgestellt hat, s. Rdn. 57). 3. Wiederaufnahme des Verfahrens. Eine Wiederaufnahme des Verfahrens kann 166 sowohl zu Gunsten als auch zu Ungunsten des wahldeutig Verurteilten betrieben werden. Wenn allerdings der Verurteilte die schwerere der alternativ festgestellten Straftaten glaubhaft gesteht, ist eine Wiederaufnahme zu Ungunsten des Verurteilten mit Rücksicht auf § 362 Nr. 4 StPO abzulehnen.531

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525 BayObLG JZ 1976 167 m. zust. Anm. Stree JR 1976 472; Küper NJW 1976 1829 f; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 84. 526 RGSt 68 257, 263; Wolter Alternative S. 275 m.w.N. 527 Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 107; Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 84. 528 Ebenso Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 107. 529 RGSt 71 269, 270; Bruns DStR 1936 287; zust. Wolter SK Anh. zu § 55 Rdn. 102. 530 Frister NK Nach § 2 Rdn. 103; dem BGH im Ergebnis zust. Schlüchter JR 1989 49 ff, die allerdings das Vorliegen einer prozessualen Tat infolge der Wahlfeststellung annimmt. 531 Tröndle LK10 § 1 Rdn. 123.

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§ 2 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

IX. Auslieferung 167

Wenn sich eine Auslieferung nur auf eine der möglichen Tatalternativen bezieht, steht einer wahldeutigen Verurteilung der Grundsatz der Spezialität (§ 74 IRG) entgegen.532

§2 Zeitliche Geltung Erster Abschnitt. Das Strafgesetz Zeitliche Geltung Dannecker/Schuhr § 2 https://doi.org/10.1515/9783110300413-004

(1) Die Strafe und ihre Nebenfolgen bestimmen sich nach dem Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt. (2) Wird die Strafdrohung während der Begehung der Tat geändert, so ist das Gesetz anzuwenden, das bei Beendigung der Tat gilt. (3) Wird das Gesetz, das bei Beendigung der Tat gilt, vor der Entscheidung geändert, so ist das mildeste Gesetz anzuwenden. (4) 1Ein Gesetz, das nur für eine bestimmte Zeit gelten soll, ist auf Taten, die während seiner Geltung begangen sind, auch dann anzuwenden, wenn es außer Kraft getreten ist. 2Dies gilt nicht, soweit ein Gesetz etwas anderes bestimmt. (5) Für Einziehung und Unbrauchbarmachung gelten die Absätze 1 bis 4 entsprechend. (6) Über Maßregeln der Besserung und Sicherung ist, wenn gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, nach dem Gesetz zu entscheiden, das zur Zeit der Entscheidung gilt. Schrifttum A. Arndt Zum Problem der strafrechtlichen Verjährung, JZ 1965 145; Arnold Strafrechtliche Auseinandersetzung mit Systemvergangenheit am Beispiel der DDR (2000); Baumann Der Aufstand des schlechten Gewissens (1965); ders. Ein neues ad-hoc Gesetz zu § 125 StGB, StV 1988 37; Bachmann Vorsatz und Rechtsirrtum im Allgemeinen Strafrecht und im Steuerstrafrecht, 1993; Beckemper/Schmitz/Wegner/Wulf Zehn Anmerkungen zur Neuregelung der strafbefreienden Selbstanzeige durch das „Schwarzgeldbekämpfungsgesetz“, wistra 2011 281; Benda Verjährung und Rechtsstaat (1965); Bemmann Zur Frage der nachträglichen Verlängerung der Strafverfolgungsverjährung, JuS 1965 333; Bergmann Zeitliche Geltung und Anwendbarkeit von Steuerstrafvorschriften, NJW 1986 233; Best Das Rückwirkungsverbot nach Art. 103 Abs. 2 GG und die Maßregeln der Besserung und Sicherung (§ 2 Abs. 6 StGB) ZStW 114 (2002) 88; Beulke Gedanken zur Diskussion über die Strafbarkeit des Verteidigers wegen Geldwäsche, Festschrift Rudolphi (2004) 391; Bilsdorfer Die Entwicklung des Steuerstraf- und Steuerordnungwidrigkeitenrechts, NJW 2003 2281; Bittmann Strafrechtliche Folgen des MoMiG, NStZ 2009 113; Blaue Die Zeitweiligkeit des Rechts – Das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot und die lex mitior-Regel (Art. 103 Abs. 2 GG, §§ 3, 4 OWiG bzw. §§ 1, 2 StGB), ZJS 2014 371; Böse Strafen und Sanktionen im Europäischen Gemeinschaftsrecht (1996); Bohlander Konventionsfreundliche Auslegung von Art. 103 Abs. 2 GG nach Scoppola v Italy (No. 2): Verfassungsrang für das Lex-mitior-Prinzip? StraFo 2011 169; de Boor/Pfeiffer/Schünemann Parteispendenproblematik (1986); Bülte Blankette und normative Tatbestandsmerkmale: Zur Bedeutung von Verweisungen in Strafgesetzen, JuS 2015 768; Bülte/Müller Ahndungslücken im WpHG durch das Erste Finanzmarktnovellierungsgesetz und ihre Folgen, NZG 2017 205; Braum Europäische Strafgesetzlichkeit (2003); Bruns Die Bestrafung aus dem mildesten Gesetz, DStR 1936 277; Calvelli-Adorno Die Verlängerung der Verjährungsfrist, NJW 1965 273; Coing Zur Rückwirkung von Strafgesetzen, BB 1954 137; Damnjanovic Nullum crimen sine lege praevia: Das Rückwirkungsverbot des Art. 7 EMRK vor dem EGMR im Fall Maktouf und Damjano-

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BGH NStZ 1999 363.

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vic gegen Bosnien und Herzegowina, ZIS 2014 636; Dannecker Das intertemporale Strafrecht (1993); ders. Die Neuregelung der Sanktionierung von Verstößen gegen das EG-Kartellrecht, Festschrift Immenga (2004) 61; ders. Der zeitliche Geltungsbereich von Strafgesetzen und der Vorrang des Gemeinschaftsrecht, Festschrift F.-C. Schroeder (2006) 761; ders. Das strafrechtliche Milderungsgebot im Mehrebenensystem des Völker-, Europa- und des nationalen Rechts, Festschrift Kindhäuser (2019) 67; Dannecker/Freitag Zur neueren europäischen und deutschen Strafgesetzgebung im Recht der Außenwirtschaft und der Finanzsanktionen, ZStW 116 (2004) 797; Dederer Krieg gegen den Terror, JZ 2004 421; Diefenbach Die verfassungsrechtliche Problematik des § 2 Abs. 4 StGB, (1966); Dietz Die Problematik der Rückwirkung von Strafgesetzen bei den Maßregeln der Besserung und Sicherung in der Strafrechtsreform (1977); Dingeldey Strafrechtliche Konsequenzen einer etwaigen Nichtigkeitserklärung des Parteienfinanzierungsgesetzes durch das BVerfG, NStZ 1985 337; Drost Begründet die Aufhebung von Bewirtschaftungs- und Preisbestimmungen Straflosigkeit der vorausgegangenen Wirtschaftsdelikte? MDR 1949 454; Dünnebier Der Begriff der Aburteilung in § 2 II StGB (a.F.), JZ 1963 726; Ebner Insolvenzstrafrechtliche Konsequenzen der Einführung der §§ 241a, 242 Abs. 4 HGB zum 29.5.2009, wistra 2010 92; Engelhardt Verschleierte Parteispenden und Steuerstrafrecht, DRiZ 1986 88; C. Fischer Die Verfassungsmäßigkeit rückwirkender Normen, JuS 2001 861; Flämig Steuerrecht als Dauerrecht (1985); Franzheim Parteispenden – Steuerhinterziehung – Straffreiheit, NStZ 1982 137; Fromm Der strafrechtliche Schutz der Finanzinteressen der EG (2004); Fromm/Gierthmühlen, Zeitliche Geltung des neuen Überschuldungsbegriffs in Insolvenzstrafverfahren, NZI 2009 665; Gaede Rückwirkende Sicherungsverwahrung – Art. 7 Abs. 1 Satz 2 EMRK als andere gesetzliche Bestimmung im Sinne des § 2 Abs. 6 StGB, HRRS 2010 329; ders. Zeitgesetze im Wirtschaftsstrafrecht und rückwirkend geschlossene Ahndungslücken, wistra 2011 365; ders. Gebotene Sorgfalt bei der europäisierten Strafgesetzgebung – unvermeidliche Ahndungslücke im WpHG? wistra 2017 41; Gleß Zum Begriff des mildesten Gesetzes (§ 2 Abs. 3 StGB), GA 2000 224; Gollwitzer Menschenrechte im Strafverfahren (2005); Grötsch Zeitlicher Anwendungsbereich der neuen Selbstanzeigeregelung, NZWiSt 2015 409; Grabenwarter Wirkungen eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – am Beispiel des Falls M. gegen Deutschland, JZ 2010 857; Gröblinghoff Die Verpflichtung des deutschen Strafgesetzgebers zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (1996); Grötsch Zeitlicher Anwendungsbereich der Selbstanzeigeregelung, NZWiSt 2015 409; Groß Rückwirkungsverbot und richterliche Tatbestandsauslegung, Diss. Freiburg 1969; ders. Über das Rückwirkungsverbot in der strafrechtlichen Rechtsprechung, GA 1971 13; Grünwald Zur verfassungsrechtlichen Problematik der rückwirkenden Änderung der Verjährungsvorschriften, MDR 1965 521; ders. Die Entwicklung der Rechtsprechung zum Gesetzlichkeitsprinzip, Festschrift Arthur Kaufmann (1993) 433; Grunsky Grenzen der Rückwirkung bei einer Änderung der Rechtsprechung (1970); Hardwig Berücksichtigung der Änderung eines Strafgesetzes in der Revisionsinstanz bei Vorliegen eines rechtskräftigen Schuldspruchs, JZ 1961 364; Hassemer Zeitgesetze und Gelegenheitsgesetze in strafrechtstheoretischer und kriminalpolitischer Perspektive, Lüderssen et alt. (Hrsg.) Modernes Strafrecht und ultima-ratio-Prinzip (1990) 201; ders. Staatsverstärkte Kriminalität als Gegenstand der Rechtsprechung. Grundlagen der „Mauerschützen“-Entscheidungen des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts, Festgabe BGH 50, Bd. IV (2000) 439; ders. Strafrecht in einem europäischen Verfassungsvertrag, ZStW 115 (2004) 304; ders. Rechtssystem und Kodifikation, Kaufmann/Hassemer/Neumann (Hrsg.) Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 7. Aufl. (2004) 251; Heuer Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC: Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte (2014); Hinghaus/Höll/Hüls/Ransiek Inhabilität nach § 6 Abs. 2 Nr. 3 GmbHG und Rückwirkungsverbot, wistra 2010 291; Höchst Unrechtskontinuität zwischen ost- und bundesdeutschen Strafnormen? JR 1992 360; Husemann Die Verbesserung des strafrechtlichen Schutzes des bargeldlosen Zahlungsverkehrs durch das 35. Strafrechtsänderungsgesetz, NJW 2004 104; Ipsen Verfassungsgrundsätze der Parteienfinanzierung und ihre Bedeutung für das Steuerrecht und Strafrecht, in: de Boor/Pfeiffer/Schünemann (Hrsg.) Parteispendenproblematik (1986) 5; Jahn/Brodowski Die zeitliche Geltung von Strafvorschriften und das Meistbegünstigungsprinzip, Festschrift Neumann (2017) 883; Jantsch Das strafrechtliche Verjährungsproblem, DRiZ 1968 196; Jarass Charta der Grundrechte der EU, 2. Aufl. (2013); Jung Rückwirkungsverbot und Maßregeln, Festschrift Wassermann (1985) 875; Armin Kaufmann Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, 1954; Kinzig Schrankenlose Sicherheit? – Das Bundesverfassungsgericht vor der Entscheidung über die Geltung des Rückwirkungsverbots im Maßregelrecht, StV 2000 330; Klug Die Verpflichtung des Rechtsstaats zur Verjährungsverlängerung, JZ 1965 149; Knauth Die Rückwirkung verfahrensrechtlicher Normen zum Zwecke der Verfolgbarkeit im Strafrecht – dargestellt an Hand der Entscheidung BGHSt 46, 310 ff, StV 2003 418; Kretschmer Das strafprozessuale Verbot der reformatio in peius und die Maßregeln

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§ 2 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

der Besserung und Sicherung (1999); Kunert Zur Rückwirkung des milderen Steuerstrafgesetzes, NStZ 1982 276; Küper Revisionsgerichtliche Sachprüfung ohne Sachrüge? Festschrift Pfeiffer (1988) 425; Laaths Das Zeitgesetz gemäß § 2 Abs. 4 StGB unter Berücksichtigung des Blankettgesetzes, Diss. Regensburg 1991; Laubenthal Die Renaissance der Sicherungsverwahrung, ZStW 116 (2004) 703; Laufhütte Strafrechtliche Probleme nach der Wiedervereinigung und ihre Bewältigung durch die Strafsenate des Bundesgerichtshofs, Festgabe BGH 50, Bd. IV (2000) 409; Leplow Ausschluss vom Geschäftsführeramt nach MoMiG und Rückwirkungsverbot, PStR 2009 250; Lüdemann Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, JuS 2004 27; Lüderssen Politische Grenzen des Rechts – rechtliche Grenzen der Politik, in: ders. Kriminalpolitik auf verschlungenen Wegen (1981) 143; ders. Europäisierung des Strafrechts und gubernative Gesetzgebung, GA 2003 71; ders. Das moderne Strafrecht, StV 2004 97; Mampel Strafrechtliche Sanktionen (2001); ders. Totalitäres Herrschaftssystem (2001); Mattil Zeit und materielles Strafrecht, GA 1965 129; Mazurek Zum Rückwirkungsgebot gem. § 2 Abs. 3 StGB, JZ 1976 233; Meier Strafrechtliche Sanktionen (2001); Mezger Die zeitliche Herrschaft der Strafgesetze, ZStW 42 (1921) 348; Möllers/Herz Generalamnestie von Kursmanipulationen im Kapitalmarktrecht? JZ 2017 445; Mohrbotter Garantiefunktion und zeitliche Herrschaft der Strafgesetze am Beispiel des § 250 StGB, ZStW 88 (1976) 923; Moll Europäisches Strafrecht durch nationale Blankett-Strafgesetzgebung? (1998); Mosbacher Straffreie illegale Ausländerbeschäftigung (und andere Überraschungen zum neuen Jahr), wistra 2005 54; ders. Keine Straffreiheit für Altfälle unerlaubter Beschäftigung von Unionsbürgern, NStZ 2015, 255; ders./Claus Auffangrechtserwerb in Altfällen?, wistra 2008 1; Mushoff Sicherungsverwahrung und Rückwirkungsverbot – Gesetzesdefinitorische oder wirkungsorientierte Betrachtung?, KritV 2004 137; Naucke Rechtspolitische Vorentscheidung bei der Diskussion einer Verlängerung von Verjährungsfristen für NS-Verbrechen, ZRP 1969 8; ders. Rückwirkende Senkung der Promillegrenze und Rückwirkungsverbot, NJW 1969 2321; Niehaus Blankettnormen und Bestimmtheitsgebot vor dem Hintergrund zunehmender europäischer Rechtssetzung, wistra 2004 206; Nowak CCPR Commentary, 2. Aufl. (2005); Ostendorf Negative Folgen der Fortsetzungstat?, DRiZ 1983 426; Paul Über die Strafbarkeit alter Preisdelikte, NJW 1949 417; Pawlowski Zur Rückwirkung von Gesetzen, NJW 1965 287; Peglau Das Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung, JR 2013 249; Pfohl Artenschutz-Strafrecht, wistra 1999 161; Pieroth Der rückwirkende Wegfall des Strafantragserfordernisses, JuS 1977 394; Radtke Konventionswidrigkeit des Vollzugs erstmaliger Sicherungsverwahrung nach Ablauf der frühreren Höchstfrist? – Innerstaatliche Wirkungen und Folgen des Urteils des EGMR vom 17.12.2009, NStZ 2010 537; Rittau § 2 und die Kriegsverbrecherprozesse, NJW 1960 1557, 2184; Rogall Bewältigung von Systemkriminalität, Festgabe BGH 50, Bd. IV (2000) 383; Rolletschke/Roth Die Selbstanzeige (2015); Rosenau Tendenzen und Gründe der Reform des Sexualstrafrechts, StV 1999 388; Rothenfußer/Jäger Generalamnestie im Kapitalmarktrecht durch das Erste Finanzmarktnovellierungsgesetz, NJW 2016 2689; Rossi Blankettstrafnormen als besondere Herausforderung an die Gesetzgebung – Amnestie als Folge des zu frühen Inkraftretens des 1. FiMaNoG, ZIP 2016 2437; Rüping Blankettnormen als Zeitgesetze, NStZ 1984 450; Samson Möglichkeiten einer legislatorischen Bewältigung der Parteispendenproblematik, wistra 1983 235; ders. Die strafrechtliche Behandlung von DDRAlttaten nach der Einigung Deutschlands, NJW 1991 335; Samson/Gustafsson Zur Straflosigkeit von Verletzungen des Serbien-Embargos, wistra 1996 201; Satzger Die zeitliche Geltung des Strafgesetzes – ein Überblick über das „intertemporale Strafrecht“, Jura 2006 746; ders. Sicherungsverwahrung – Europarechtliche Vorgaben und Grundgesetz, StV 2013 243; ders. Der europarechtlich bedingte Bedeutungszuwachs der Meistbegünstigungsklausel (§ 2 Abs. 3 StGB), Festschrift Kühl (2014) 407; H. Schäfer Amnestie für verdeckte Parteispenden durch Änderung des Steuerrechts? wistra 1983 167; Scheuerle Das Wesen des Wesens, AcP 163 (1964), 429; Schewe Die Geschichte der Sicherungsverwahrung (1999); Schick Zeitgesetze, JurBl. 1969 639; Schmitthoff Systemdenken und Fallrecht in der Entwicklung des englischen Privatrechts, JZ 1967 1; Schmitz Die Neufassung des § 19 Abs. 2 InsO durch das FMStG und seine Bedeutung für strafrechtliche „Altfälle“, wistra 2009 369; Schockel Die Entwicklung des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots bis zur französischen Revolution (1968); Schönberger Zur justitiellen Handhabung der Voraussetzungen der Unterbringung gem. §§ 63, 66 StGB (2002); Schreiber Zur Zulässigkeit der rückwirkenden Verlängerung von Verjährungsfristen früher begangener Delikte, ZStW 80 (1968) 348; ders. Parteispenden und Strafrecht, Gedächtnisschrift Armin Kaufmann (1989) 819; ders. Rückwirkungsverbot bei einer Änderung der Rechtsprechung im Strafrecht, JZ 1973 713; C. Schröder Zur Fortgeltung und Anwendbarkeit des Tatzeitrechts trotz Rechtsänderung, ZStW 112 (2000) 44; ders. Neue Verteidigungsstrategien im europäisierten Wirtschaftsstrafrecht, zugleich eine Kritik an BVerfG, Beschluss vom 18. September 2008 – 2 BvR 1817/08, Festschrift Mehle (2009) 597; F.-C. Schroeder Der zeitliche Geltungsbereich der Strafgesetze,

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Festschrift Bockelmann (1979) 785; Schünemann Kritische Bemerkungen zur These von der strafrechtlichen Rückwirkung des Parteienfinanzierungsgesetzes, in de Boor/Pfeiffer/Schünemann (Hrsg.) Parteispendenproblematik (1986), 119; ders. Ein Gespenst geht um in Europa – Brüsseler Strafrechtspflege intra muros – GA 2002 501; Schützendübel Die Bezugnahme auf EU-Verordnungen in Blankettstrafgesetzen, 2012; Schwarze EU-Kommentar, 3. Aufl. (2012); Seiler Die zeitliche Geltung von Strafgesetzen, Festschrift Platzgummer (1995) 39; Seeger Über die rückwirkende Kraft neuer Strafgesetze (1862); Silva Blankettstrafgesetze und die Rückwirkung der lex mitior, in Schünemann (Hrsg.) Bausteine des europäische Wirtschaftsstrafrechts (1995) 135; Sommer Das „mildeste Gesetz“ im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB (1979); Stenglein Gelegenheitsgesetze, DJZ 1900 107; Stern/Tettinger Europäische EU-Grundrechtecharta (2006); Sturm Meistbegünstigste Meistbegünstigung, NStZ 2017 553; Szesny Doch keine Strafbarkeitslücke im Marktmissbrauchsrecht? – Anmerkung zum BGH-Beschluss vom 10.1.2017 – 5 StR 532/16, BB 2017 515; Tamietti Le Principe de Légalité aux Termes de l’Article 7 de la Convention Européenne des Droits de l’Homme, eucrim 2015 116; Tiedemann Zeitliche Grenzen des Strafrechts, Festschrift K. Peters (1974) 193; ders. Der Wechsel von Strafnormen und die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, JZ 1975 692; ders. Das Parteienfinanzierungsgesetz als strafrechtliche lex mitior, NJW 1986 2475; ders. Die Parteispendenentscheidung des BGH, NJW 1987 1247; ders. Zur Gesetzgebungstechnik im Wirtschaftsstrafrecht, Festschrift Schroeder (2006) 641; ders. Wirtschaftsstrafrecht, 5. Auflage (2017); Tiedemann/Dannecker Die gesetzliche Milderung im Steuerstrafrecht dargestellt am Beispiel der Abzugsfähigkeit von Parteispenden (1985); Traeger Die zeitliche Herrschaft des Strafgesetzes, in: Vergleichende Darstellung des Deutschen und Ausländischen Strafrechts. AT, Bd. VI (1908) 317; Tröndle Rückwirkungsverbot bei Rechtsprechungswandel? Festschrift Dreher (1977) 117; Tuengerthal/Geißer Zur seltsamen Vernachlässigung der Rechtsfolgen des § 2 Abs. 3 StGB im Rahmen der Entwicklung der Arbeitnehmerfreizügigkeit im EU-Recht, NZWiSt 2014 412; Tuengerthal/ Rothenhöfer Die Strafbarkeit von Altfällen illegaler Beschäftigung von Rumänen und Bulgaren im Lichte des Europarechts, wistra 2014 417; Ullenbruch Verschärfung der Sicherungsverwahrung auch rückwirkend – populär, aber verfassungswidrig? NStZ 1998 326; Ulsamer/Müller Steuerstrafrechtliche Konsequenzen der Entscheidung des BVerfG v. 22.6.1995 zum Vermögensteuergesetz, wistra 1998 1; Weber Die Entwicklung des Kapitalmarktrechts im Jahre 2003, NJW 2004 28; Weigend/Zielinska Zeitgesetze im polnischen Strafrecht, in Lüderssen/Nestler-Tremel/Weigend (Hrsg.) Modernes Strafrecht und ultima-ratio-Prinzip (1990) 179; Woynar Das Risiko von Gefährlichkeitsprognosen (2000); Wulf Strafbarkeit der Vermögensteuerhinterziehung und § 370 AO als Blankettgesetz, wistra 2001 41; Zieschang/Hilgendorf/Laubenthal Strafrecht und Kriminalpolitik in Europa (2003). Siehe außerdem das Schrifttum zu § 1.

Entstehungsgeschichte Vorgeschichte des lex-mitior-Prinzips bis zur Aufklärung. Angesichts der wenigen bekannten Quellen besteht Einigkeit, dass bis zur Zeit der Aufklärung kein allgemeines Gebot rückwirkender Anwendung des milderen Rechts bestand. Eine Milderung konnte nur als kaiserlicher Gnadenakt zum Tragen kommen.1 Allerdings finden sich bereits in der mittelalterlichen Jurisprudenz in Italien erste Ansätze zur Rückwirkung milderer Strafbestimmungen.2 Entwicklung des Milderungsgebots unter dem Einfluss der Aufklärung. Die Anerkennung des Milderungsgebots wurde in der Zeit der Aufklärung als Folge der Proportionalität von Verbrechen und Strafe und der Vermeidung richterlicher Willkür als selbstverständlich vorausgesetzt, zumal die Gesetze der Durchführung einer vernunftgeleiteten Reform des Strafrechts durch Abschaffung übertrieben harter Strafen dienten.3 Hieraus ergab sich die Notwendigkeit, Gesetze, die nach Begehung der Tat als zu streng oder nicht mehr erforderlich angesehen und deshalb geändert oder aufgehoben wurden, nicht mehr anzuwenden. Bereits diese Fundierung macht deutlich, dass es sich beim

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Von Bar S. 64; Bekker S. 198; Traeger VDA VI, S. 342; Vosberg S. 17; aA Seeger S. 47; Sommer S. 10. Dannecker S. 41 ff. Näher dazu Dannecker S. 88 ff.

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§ 2 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

Milderungsgebot nicht um eine Rechtswohltat aus Billigkeitsgründen handelt, sondern um eine rechtsstaatliche Begrenzung des Strafrechts.4 Entsprechend enthielt bereits der Code pénal von 1791 das Milderungsgebot. Art. 6 Publikationsdekret vom 23.7.1810 lautete: „Si la nature de la peine prononcée par le nouveau Code pénal était moins forte que celle prononcée par le Code actuel, les cours et tribunaux appliqueront les peines du nouveau Code.“

Der Einfluss der Aufklärung spiegelt sich auch in den §§ 18 bis 20 der Einleitung zum Allgemeinen Preußischen Landrecht wider, wonach der Richter gesetzliche Milderungen sogar bereits Verurteilten zugutekommen lassen musste. § 18: „Die Minderung der in einer älteren Verordnung festgesetzten Strafe kommt auch demjenigen Uebertreter zu Statten, an welchem diese Strafe, zur Zeit der Publikation des neuern Gesetzes noch nicht vollzogen war.“ § 19: „Insofern aber aus einer verbotenen Handlung Privatrechte entspringen, muss auf die Gesetze, welche zur Zeit der Handlung gültig waren, Rücksicht genommen werden.“ § 20: „Ist es zweifelhaft, ob das Verbot vor oder nach der Publikation des neuen Gesetzes vorgefallen sei, so muß bei Bestimmung der Strafe das mildere Gesetz zum Grunde der Entscheidung genommen werden.“

Bei rechtskräftig Verurteilten konnte die Anwendung der milderen und verhältnismäßigen Strafen nur als Gnadensache eingestuft werden. Kodifizierung des lex mitior-Grundsatzes in den Partikulargesetzen und im Reichsstrafgesetzbuch. Die sodann folgenden Strafrechtskodifikationen der Partikularstaaten enthielten durchgängig gesetzliche Regelungen des Milderungsgebots, das als derartig einhellig anerkannt bezeichnet wurde, dass es als ausreichend angesehen wurde, es nur kurz anzugeben. Zu divergierenden Lösungen kam es nur insofern, als teilweise die Anwendung des neuen Strafgesetzes, teilweise die Anwendung des zur Tatzeit geltenden Rechts als Grundsatz normiert wurde, ohne dass sich die beiden Regelungsmodelle im Ergebnis nennenswert unterschieden.5 Dabei wurde das Milderungsgebot als Gebot der Gerechtigkeit gesehen. Lediglich soweit die Milderung auf bereits rechtkräftige, aber noch nicht vollstreckte Urteile ausgedehnt wurde, ordnete man die Rechtskraftdurchbrechung weiterhin als bloßen Gnadenakt ein. Im Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten wurde in Art. IV des Einführungsgesetzes die rückwirkende Anwendung des milderen Gesetzes als Ausnahme vorgesehen. Bereits rechtskräftig abgeurteilte Fälle, in denen die Strafe noch nicht vollstreckt war, wurden hiervon ausgeschlossen, um eine Überlastung der Gerichte zu vermeiden. Entsprechend ordnete das am 1.1.1871 in Kraft getretene Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund in § 2 die Anwendung des jeweils milderen Gesetzes an. Am 15.5.1871 wurde das für den Norddeutschen Bund geschaffene Gesetzbuch als Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich verkündet. § 2 StGB 1871 enthielt in seinem Absatz 1 die Regelung des heutigen § 1 (siehe dazu Entstehungsgeschichte Vor § 1 Rdn. 1). § 2 Abs. 2 StGB 1871 entsprach dem jetzigen § 2 Abs. 3 mit folgendem Wortlaut: „Bei Verschiedenheit der Gesetze von der Zeit der begangenen Handlung bis zu deren Aburteilung ist das mildeste Gesetz anzuwenden.“

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Näher dazu Dannecker S. 445 ff. Traeger VDA, Bd. VI, S. 321; Seeger S. 74.

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Zeitliche Geltung | § 2

In der Folgezeit schränkte das Reichsgericht den Anwendungsbereich des § 2 Abs. 2 StGB in ständiger Rechtsprechung dadurch ein, dass es den Begriff des „Gesetzes“ als „Strafgesetz“ interpretierte 6 und blankettausfüllende Gesetze vom Milderungsgebot ausnahm, weil nur bei einer Änderung der Strafgesetze von einer anderen Anschauung über die Strafwürdigkeit die Rede sein könne.7 Außerdem wurde § 2 Abs. 2 StGB nicht auf kurzfristige Strafverbote, sog temporäre Strafgesetze, angewendet, deren Aufhebung oder Ablauf nicht auf einer Missbilligung der früheren Strafgesetzgebung beruhte, damit solche Verbote nicht gegen Ende ihrer Geltungszeit jegliche Wirkung verlieren sollten.8 In der damaligen Literatur wurde allerdings zum einen die Abgrenzung der Rechtsprechung zwischen „außerstrafrechtlichen“ und „strafrechtlichen“ Bestandteilen zunehmend als außerordentlich formalistisch kritisiert und zum anderen die Sonderbehandlung für Zeitgesetze in Frage gestellt.9 Das Milderungsgebot im Nationalsozialismus. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde zunächst durch Art. 3 Nr. 1 des Gesetzes gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24.11.193310 die Vorschrift des § 2a StGB, ein Vorläufer des heute geltenden § 2 Abs. 6 (Rdn. 167 ff), eingefügt: „Über Maßregeln der Sicherung und Besserung ist nach dem Gesetz zu entscheiden, das zur Zeit der Entscheidung gilt.“

Diese Ausnahme vom Rückwirkungsverbot für Maßregeln der Sicherung und Besserung fand sich schon in Entwürfen der Weimarer Zeit11 und passte zu den präventiven Theorien und kriminalpolitischen Zielen der „modernen Schule“, so dass es sich bei dieser gesetzlichen Regelung nicht um eine nationalsozialistische Erfindung handelt.12 Sodann hat der nationalsozialistische Gesetzgeber mit Gesetz vom 28.6.193513 das Gesetzlichkeitsprinzip beseitigt und die zwingende Regelung über die Milderung des Gesetzes in eine Ermessensvorschrift (Absatz 2) geändert. Außerdem wurde eine Regelung über die Strafbarkeit bei Zeitgesetzen (Absatz 3) eingeführt, die der Sache nach bereits vor 1933 vorbereitet war,14 weil schon das Reichsgericht temporäre Strafgesetze, deren Aufhebung oder Ablauf nicht auf einer Missbilligung der früheren Strafgesetzgebung beruhte, aus dem Anwendungsbereich des Milderungsgebots ausgenommen hat (näher dazu Rdn. 146), obwohl § 2 RStGB keine entsprechende ausdrückliche Einschränkung enthielt.15

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6 So bereits RGSt 4 5; eingehend dazu Käckell Die Bedeutung des Strafgesetzbegriffes in der Lehre von der strafrechtlichen Rückwirkung (1915) S. 162 ff. 7 RGSt 31 226, 227. 8 RGSt 50 398, 405 f; näher dazu Dannecker S. 166. 9 Vgl. nur Mezger ZStW 42 (1921) 348, 372. 10 RGBl. I S. 995. 11 Nachweise bei H.L. Schreiber Gesetz und Richter (1976) S. 205. 12 Hassemer/Kargl NK Rdn. 2. 13 RGBl. I S. 839. 14 Niederschrift über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, Bd. III, AT S. 291 f; Diefenbach S. 31 f; Rüping NStZ 1984 450; E 62, Begr. BTDrucks. IV/650 S. 107; vgl. auch RGSt 13 249, 252; 21, 294, 295 f; 32 110, 112; 50 398, 401; 56 412, 415. 15 Näher dazu Dannecker S. 166.

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§ 2 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

§ 2a StGB 1935 lautete: „(1) Die Strafbarkeit einer Tat und die Strafe bestimmen sich nach dem Recht, das zur Zeit der Tat gilt. (2) Gilt zur Zeit der Entscheidung ein milderes Gesetz als zur Zeit der Tat, so kann das mildere Gesetz angewandt werden; ist die Tat zur Zeit der Entscheidung nicht mehr mit Strafe bedroht, so kann die Bestrafung unterbleiben. (3) Ein Gesetz, das nur für eine bestimmte Zeit erlassen ist, ist auf die während seiner Geltung begangenen Straftaten auch dann anzuwenden, wenn es außer Kraft getreten ist.“

§ 2a Abs. 4 StGB 1935 übernahm wortgleich § 2a StGB 1933, der die Geltung von Vorschriften über Maßregeln der Sicherung und Besserung betraf (jetzt § 2 Abs. 6). Wiedereinführung des Milderungsgebots nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches wurden die §§ 2 und 2b StGB 1935 durch Art. I KRG Nr. 11 vom 30.1.1946 (AB1KR S. 55) ausdrücklich aufgehoben, nicht dagegen § 2a StGB 1935. Das 3. StRÄndG (1953) hob dann auch letztere Vorschrift auf und fügte § 2 Abs. 2 und 3 mit folgendem Wortlaut ein: „(2) Die Strafe bestimmt sich nach dem Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt. Bei Verschiedenheit der Gesetze von der Zeit der begangenen Handlung bis zu deren Aburteilung ist das mildeste Gesetz anzuwenden. (3) Ein Gesetz, das nur für eine bestimmte Zeit erlassen ist, ist auf die während seiner Geltung begangenen Straftaten auch dann anzuwenden, wenn es außer Kraft getreten ist.“

§ 2 Abs. 4 StGB 1953 entsprach wörtlich § 2a StGB 1933 und § 2a Abs. 4 StGB 1935. Neuregelung durch das 2. StrRG vom 4.7.1969. Das 2. StRG vom 4.7.196916 änderte die Absätze 4 und 6 des § 2 StGB und folgte dabei dem „Entwurf eines Strafgesetzbuches mit Begründung 1962“ (E 62), so dass die Begründung zum E 62 (S. 106 ff) nach wie vor aufschlussreich ist. § 2 Abs. 4 StGB 1969 lautete: „Ein Gesetz, das nur bis zu einem bestimmten Zeitpunkt gelten soll, ist auf Taten, die während seiner Geltung begangen sind, auch dann anzuwenden, wenn es wegen Ablaufs dieser Zeit außer Kraft getreten ist.“

§ 2 Abs. 6 S. 2 StGB 1969 schrieb für die Anordnung und Dauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung die entsprechende Geltung der Absätze 1 bis 3 vor. Allerdings sind § 2 Abs. 4 und 6 S. 2 StGB 1969 nie in Kraft getreten (näher dazu Rdn. 139 f).17 Aktuelle Fassung des § 2 StGB. Das EGStGB vom 2.3.197418 gab § 2 Abs. 4 die heutige Fassung. In den Abs. 1 bis 3 sowie 5 und 6 folgt das Gesetz der Regelung des § 2 i.d.F. des 2. StrRG vom 4.7.1969 (Rdn. 151 f). § 2 Abs. 5 wurde aufgrund des Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13.4.2017,19 in Kraft getreten am 1.7.2017, das zum Wegfall des Verfalls geführt hat, neu gefasst und auf die Einziehung und Unbrauchbarmachung beschränkt.

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16 BGBl. I S. 717. 17 Art. 7 2. StrRG i.d.F. vom 4.7.1969 und in der Fassung des Gesetzes vom 30.7.1973 (BGBl. I S. 909) sowie Art. 18 Abs. 2 Nr. 1 und Art. 326 Abs. 1 EGStGB. 18 BGBl. I S. 469. 19 BGBl. I S. 872.

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Zeitliche Geltung | § 2

Recht des Einigungsvertrages. § 2 gilt nach dem Einigungsvertrag auch für Straftaten, die noch in der ehemaligen DDR begangen worden sind, modifiziert durch Art. 315 Abs. 1 bis 3 EGStGB (Rdn. 180 ff). Allerdings finden diese Absätze nach Art. 315 Abs. 4 EGStGB keine Anwendung für Taten, für die das deutsche Strafgesetzbuch aufgrund der allgemeinen Vorschriften über das Strafanwendungsrecht bereits vor dem 3.10.1990 anwendbar war (Rdn. 182).

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II.

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Übersicht Ausgestaltung des intertemporalen Strafrechts in § 2 | 1 1. Prinzipien des intertemporalen Strafrechts und ihre Regelung in § 2 | 3 a) Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbots | 4 b) Meistbegünstigungsprinzip | 6 c) Durchbrechung des Meistbegünstigungsprinzips für Zeitgesetze | 7 d) Sonderregelung für Einziehung und Unbrauchbarmachung | 8 e) Sonderregelung für Maßregeln der Besserung und Sicherung | 9 2. Zeitlicher Geltungsbereich von Strafgesetzen | 10 a) Allgemeine Regeln über das Inkrafttreten und die Derogation von Strafgesetzen | 11 aa) Inkrafttreten von Gesetzen | 12 bb) Derogation von Gesetzen | 13 b) Dogmatische und systematische Konzeption des § 2 | 14 c) Unterscheidung zwischen „zeitlichem Geltungsbereich“ und „zeitlichem Anwendungsbereich“ | 17 d) § 2 als Rechtsanwendungsregel | 19 e) Grundsätzliche Geltung des Urteilszeitrechts | 20 f) Praktische Bedeutung der unterschiedlichen Konzeptionen des § 2 | 22 3. Begriff und Inhalt des „Gesetzes“ | 23 Regelungsgehalt des § 2 Abs. 1: Limitierende Funktion der aufgehobenen Rechtsnormen 1. Normierung des Rückwirkungsverbots in § 2 Abs. 1 | 26 2. Anwendungsbereich des § 2 Abs. 1

Materielles Strafrecht | 27 aa) Besonderer Teil | 28 bb) Allgemeiner Teil | 29 cc) Rechtsfolgen | 30 dd) Außerstrafrechtliche Bezugsnormen | 31 b) Strafverfahrensrecht | 32 3. „Geltung“ des Gesetzes | 39 4. Geltung zur „Zeit der Tat“ | 43 5. Änderung der Strafbarkeit während der Begehung der Tat | 47 Regelungsgehalt des § 2 Abs. 2: Änderungen der Strafdrohung zwischen Beginn und Beendigung der Tat | 48 1. Festschreibung der Rechtsprechung des Reichsgerichts durch das 2. StrRG | 49 2. Änderungen der Strafart oder Strafhöhe | 52 3. Beendigung der Handlung als maßgeblicher Zeitpunkt | 54 a) Beendigung der Handlung bei Zustands- und Dauerdelikten | 55 b) Einschränkungen des § 2 Abs. 2 durch das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG | 58 Regelungsgehalt des § 2 Abs. 3: Anwendung des mildesten Gesetzes bei Gesetzesänderungen zwischen Beendigung der Tat und Entscheidung | 61 1. Milderungsgebot als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips und als Ausprägung verhältnismäßiger Gerechtigkeit | 62 2. Milderungsgebot bei milderen Zwischengesetzen | 66 a) Anforderungen der Willkürfreiheit und Vertrauensschutz | 68 b) Vorgaben des verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbots | 69 3. Milderungsgebot und intertemporale Ahndungslücken | 70 a) Anforderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung an eine Ahndungslücke | 71 a)

III.

IV.

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§ 2 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

4.

aa) Anforderungen des Bundesgerichtshofs an eine Ahndungslücke | 72 bb) Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts zum Vorliegen einer Ahndungslücke | 74 cc) Stellungnahme zu den Entscheidung der höchstrichterlichen Rechtsprechung | 77 b) Schließung einer Ahndungslücke durch den Gesetzgeber und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen | 80 aa) Straftaten vor Entstehung einer Ahndungslücke | 82 bb) Straftaten während der Ahndungslücke | 85 Bestimmung des mildesten „Gesetzes“ | 86 a) Anforderungen an die Unrechtskontinuität | 89 aa) Gleichartigkeit der Schutzzwecke | 93 bb) Identität des Schutzzwecks und gleiche Angriffsweise | 98 cc) „Strikte Kontinuität“ | 100 dd) Verfassungsrechtliche Anforderungen an den Vergleich: Rückwirkungsverbot und Schuldgrundsatz | 101 b) Anwendbarkeit des Milderungsgebots auf Blankettvorschriften | 103 aa) Anerkennung außerstrafrechtlicher Regelungseffekte, Ungehorsamstatbestände | 105 bb) „Günstigere Gestaltung der gesamten Rechtslage“ unter Ausschluss der „Ersetzung einer Regelung durch eine andere“ | 108 cc) Grundsätzliche Erheblichkeit aller Gesetzesänderungen unter Ausschluss rein technischer Regelungen | 109 c) Anwendbarkeit des Milderungsgebots auf rechtsnormative Tatbestandsmerkmale | 113

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d)

V.

Änderung strafrechtlicher Bezugstatbestände | 114 aa) Höchstrichterliche Rechtsprechung | 115 bb) Schutzzweck der verletzten Norm | 116 cc) Fortbestehen eines Regelungseffektes | 118 dd) „Lose und gefestigte Akzessorietät“ | 119 ee) Anforderungen des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts und Berücksichtigung gesetzlicher Bewertungsänderung | 121 ff) Außer Kraft getretene Zeitgesetze | 124 e) Verweisung auf konstitutive Akte der Verwaltung und Gerichte | 125 f) Europäische Verordnungen, Richtlinien und Rahmenbeschlüsse, Vorrang des Unionsrechts | 129 5. Gesetzesänderung zwischen Beendigung der Tat und Entscheidung | 131 6. Bestimmung der „mildesten“ Rechtsfolge | 133 a) Vergleich des Sachverhalts im Wege einer konkreten Betrachtungsweise | 134 aa) Verhältnis von Haupt- zu Nebenstrafen und Nebenfolgen | 137 bb) Verhältnis der Hauptstrafen zueinander | 138 cc) Verhältnis bundesdeutscher Sanktionen zu denen der DDR | 141 b) Grundsatz strikter Alternativität | 142 Regelungsinhalt des § 2 Abs. 4: Sonderregelungen für Zeitgesetze | 145 1. Entwicklung der höchstrichterlichen Rechtsprechung | 146 2. Neufassung des § 2 Abs. 4 | 151 a) Materielle Rechtfertigung der Sonderregelung für Zeitgesetze | 153 b) Zeitgesetze im engeren und im weiteren Sinne | 155 c) Notwendigkeit einer restriktiven Auslegung des Begriffs des Zeitgesetzes im weiteren Sinne | 158

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Zeitliche Geltung | § 2

Berücksichtigung gesetzgeberischer Bewertungsänderungen | 159 3. Übergangsregelungen (§ 2 Abs. 4 S. 2) | 161 4. Verdrängung der Regelung für Zeitgesetze des § 2 Abs. 4 durch Art. 49 Abs. 3 GRCh? | 162 VI. Regelungsinhalt des § 2 Abs. 5: Einziehung und Unbrauchbarmachung | 164 VII. Regelungsinhalt des § 2 Abs. 6: Maßregeln der Besserung und Sicherung | 167 1. Verfassungsrechtliche Bedenken | 168 2. Zulässigkeit nachträglicher Verschärfungen nach h.M. | 170 a) Sicherungsverwahrung | 171 b) Inhabilitätsregelungen des § 6 Abs. 2 Nr. 3 GmbHG | 177 3. Durchbrechung des § 2 Abs. 6 durch Sonderregelungen | 178 VIII. Modifikationen durch den Einigungsvertrag | 179 1. Rechtliche Regelungen des Einigungsvertrages | 180 2. Unanwendbarkeit des § 2 auf vor dem Beitritt der DDR nach bundesdeutschem Strafrecht strafbare Taten (Art. 315 Abs. 4 EGStGB) | 184 3. Unanwendbarkeit des § 2 StGB bei fortgeltendem DDR-Strafrecht | 186 4. Modifizierungen der Grundsätze des § 2 durch Art. 315 Abs. 1 bis 3 EGStGB | 187 5. Differenzierung bei Alttaten | 190 a) Allein nach bundesrepublikanischem Recht strafbare Alttaten | 191 b) Nach DDR- und bundesrepublikanischem Recht strafbare Alttaten | 192 c) Allein nach DDR-Recht strafbare Alttaten | 193 6. Regelungsgehalt des Art. 315 Abs. 1 EGStGB: Modifizierung der Grundsätze des § 2 für DDR-Altfälle a) Anwendbarkeit von § 2 | 194 b) Absehen von Strafe | 202

7.

d)

IX.

X.

Regelungsgehalt des Art. 315 Abs. 2 EGStGB: Einschränkungen bei der Verhängung von Geldstrafen | 203 8. Regelungsgehalt des Art. 315 Abs. 3 EGStGB: Aussetzung des Strafrests und dessen Widerruf | 204 9. Regelungsgehalt des Art. 315c EGStGB: Anpassung von Strafdrohungen | 205 10. Sonderregelungen für die Verjährung | 206 11. Sonderregelungen für den Strafantrag | 209 12. Zusammentreffen mehrerer Taten | 210 Garantie des Milderungsgebots in Art. 49 Abs. 1 Satz 3 GRCh 1. Anerkennung des Milderungsgebots als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts | 211 2. Verortung des Milderungsgebots in Art. 49 Abs. 1 GRCh | 212 3. Eröffnung des Anwendungsbereichs der Grundrechtecharta | 215 4. Erstreckung des Milderungsgebots auf Richtlinien, Verordnungen und Rahmenbeschlüsse | 216 5. Erstreckung des Milderungsgebots auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts | 220 6. Keine Erstreckung des Milderungsgebots auf den Grundsatz lex posterior derogat legi priori | 221 7. Einschränkungen des Milderungsgebots nach § 52 Abs. 1 GRCh | 225 Garantie des Milderungsgebots in internationalen Regelungen | 227 1. Das Milderungsgebot des Art. 15 Abs. 1 Satz 3 IPbpR | 228 2. Milderungsgebot des Art. 24 Abs. 2 ICH-Statut | 230 3. Verortung des Milderungsgebots im Grundsatz nullum crimen sine lege (Art. 7 EMRK) | 231

I. Ausgestaltung des intertemporalen Strafrechts in § 2 § 2 trägt dem Umstand Rechnung, dass auch Strafgesetze zunehmend vom Gesetz- 1 geber geändert oder neue Strafgesetze eingeführt werden. Dabei ist der praktische Anwendungsbereich des intertemporalen Strafrechts erheblich größer, als ein erster Blick 361

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§ 2 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

auf die strafrechtlichen Gesetzesänderungen erwarten lässt. Denn neben den zahlreichen Änderungen des Strafgesetzbuchs selbst, die auf eine Entkriminalisierung, aber auch auf eine Ausweitung und Verschärfung des Strafrechts gerichtet sein können, ist eine generelle Tendenz zur Ausweitung des Strafrechts festzustellen, die darauf beruht, dass das Strafrecht auf außerstrafrechtliche Regelungen Bezug nimmt und deren Wandel mit vollzieht. Auf sämtliche sachlichrechtliche Gesetzesänderungen ist § 2 anwendbar (näher Rdn. 27 ff). Neben den Rechtsänderungen innerhalb einer kontinuierlichen Ordnung bestimmt sich auch die Ablösung einer Rechtsordnung durch eine neue, sie ersetzende, wie dies mit dem Beitritt der DDR der Fall war, nach den Regelungen des § 2. Diese Vorschrift enthält in den Absätzen 1 bis 4 Regelungen, ob und wonach der Täter (noch) bestraft werden kann, und in den Absätzen 5 und 6, welche Nebenfolgen möglich sind (zu den Modifikationen des § 2 durch den Einigungsvertrag Rdn. 179 ff). § 2 findet keine Anwendung, wenn es nach der Begehung der Tat zu keiner Geset2 zesänderung gekommen ist. Lediglich dann, wenn zwischen der Begehung einer Straftat und der Verurteilung ein Strafgesetz geändert worden ist, stellt sich die Frage, welche der beiden Fassungen – das Gesetz zur Tatzeit oder zur Entscheidungszeit – der Entscheidung zu Grunde zu legen ist (Rdn. 61 ff). Wenn das Strafgesetz zwischenzeitlich mehrfach geändert worden ist, ist zu klären, ob und wie das Zwischengesetz zu berücksichtigen ist, obwohl es weder bei der Tatbegehung noch zurzeit der Entscheidung in Kraft war (Rdn. 66 ff). All diese Fragen sind in § 2 geregelt. 3

1. Prinzipien des intertemporalen Strafrechts und ihre Regelung in § 2. Im Rahmen des § 2 kommen vier Prinzipien zum Tragen: das Rückwirkungsverbot (Abs. 1 und 2; Rdn. 58), das Meistbegünstigungsprinzip (Abs. 3; Rdn. 61 ff), die Einschränkung des Meistbegünstigungsprinzips für Zeitgesetze (Abs. 4; Rdn. 145 ff) und die Einschränkung des Rückwirkungsverbots für Maßregeln der Besserung und Sicherung im Interesse einer zeitgerechten Prävention (Abs. 6; Rdn. 167 ff).20 Es ist daher nicht zutreffend, § 2 als bloße Konkretisierung des Rückwirkungsverbots zu charakterisieren,21 zumal das Rückwirkungsverbot ohnehin in § 1 geregelt ist (§ 1 Rdn. 360 ff) und durch § 2 erheblich modifiziert, für bestimmte Fälle sogar ganz aufgehoben wird (§ 1 Rdn. 367 ff).22 § 2 regelt vielmehr, welches Recht bei einer Änderung des Gesetzes zwischen der Begehung der Straftat und der Entscheidung anzuwenden ist. Hierfür enthält die Vorschrift des § 2 verschiedene Einzelbestimmungen, die in ihrer Gesamtheit das „intertemporale Strafrecht“23 konstituieren.24 Damit bildet § 2 neben § 1 die zweite wichtige Säule für die Anwendung des Strafrechts im Hinblick auf Gesetzesänderungen nach Begehung einer Straftat.

4

a) Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbots. § 2 Abs. 1 erklärt für den Fall einer Gesetzesänderung zwischen Tatzeit und Entscheidungszeit das Tatzeitrecht für anwendbar und enthält damit eine einfachrechtliche Bestätigung des verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbots, die neben § 1 tritt (vgl. dazu § 1 Rdn. 367). Das zur Entscheidungszeit geltende Gesetz darf die Strafe und die Nebenfolgen für die frühere Tat nicht rückwirkend bestimmen.

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20 21 22 23 24

Hassemer/Kargl NK Rdn. 6. So aber Lackner/Kühl/Kühl Rdn. 1; ähnlich Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 1. Hassemer/Kargl NK Rdn. 3; Jäger SK Rdn. 2. Eingehend dazu Dannecker S. 226 ff. Zustimmend Jäger SK Rdn. 2.

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Zeitliche Geltung | § 2

Der Inhalt des § 2 reicht aber weiter als § 1 und Art. 103 Abs. 2 GG, denn in § 2 Abs. 2 5 wird für Änderungen der Strafdrohung der Begriff „zur Zeit der Tat“ auf den Zeitpunkt bei „Beendigung der Tat“ festgelegt, der bei zeitlich gestreckter Tatbestandsverwirklichung zu Grunde zu legen ist; insoweit handelt es sich bei § 2 Abs. 2 um eine verfassungsrechtlich nicht unproblematische Ergänzung zu § 2 Abs. 1 (näher dazu Rdn. 58). b) Meistbegünstigungsprinzip. § 2 Abs. 3 ordnet für den Fall, dass das zur Zeit der 6 Tat geltende Gesetz vor der Entscheidung geändert worden ist, die Anwendung des mildesten Gesetzes an. Da sich das Rückwirkungsverbot für nachträgliche Strafschärfungen schon aus § 1 und § 2 Abs. 1 und 5 i.V.m. Art. 103 Abs. 2 GG ergibt, liegt die Bedeutung des § 2 Abs. 3 darin, für nachträgliche Milderungen der Gesetzeslage ein Gebot der Rückwirkung für das mildeste, dem Tatzeitrecht nachfolgende Änderungsgesetz aufzustellen. Dieses Gebot ist auch in Art. 15 Abs. 1 S. 3 IPBPR (Rdn. 228) als Menschenrecht garantiert und wird vom EGMR aus dem Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 7 EMRK) hergeleitet.25 Schließlich wird das Milderungsgebot in Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh (i.V.m. Art. 6 Abs. 1 EUV) nun auch unionsrechtlich auf europäischer Ebene (Rdn. 211 ff) gewährleistet. Zugunsten des Täters ist danach vom Prinzip der Meistbegünstigung 26 auszugehen. Zugleich wird zum Ausdruck gebracht, dass das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG und des § 1 einer rückwirkenden Anwendung des Strafgesetzes nur dann entgegensteht, wenn dies für den Betroffenen ungünstiger wäre als das Entscheidungszeitrecht (Rückwirkungsverbot in malam partem; s. § 1 Rdn. 369). c) Durchbrechung des Meistbegünstigungsprinzips für Zeitgesetze. Eine Ein- 7 schränkung des als Menschenrecht garantierten Milderungsgebots (Rdn. 6) ergibt sich daraus, dass Deutschland Art. 15 Abs. 19, 3 IPBPR nur mit dem Vorbehalt akzeptiert hat, dass in bestimmten Ausnahmefällen das bisher geltende Recht auf Taten, die vor der Gesetzesänderung begangen worden sind, anwendbar bleiben kann (Art. 1 Nr. 4 des Ratifizierungsgesetzes vom 15.11.1973, BGBl. II, S. 1533). Dadurch sollte die Ausnahmevorschrift des § 2 Abs. 4 gerechtfertigt werden. Das Milderungsgebot kommt dem Täter bei den in § 2 Abs. 4 geregelten Zeitgesetzen nicht zugute. Hier gilt das Meistbegünstigungsprinzip nicht. Vielmehr soll für Zeitgesetze, weil deren Außerkrafttreten vorhersehbar ist, die faktische Geltungskraft der Norm sichergestellt werden, so dass dem Täter die Erwartung einer späteren Folgenlosigkeit des Rechtsbruchs genommen wird. In diesen Fällen muss es aus Gründen, die mit der Natur des Zeitgesetzes und den vom Gesetzgeber in dieser Hinsicht verfolgten Regelungszwecken zusammenhängen, bei der Anwendung des Tatzeitrechts bleiben (Rdn. 145 ff). d) Sonderregelung für Einziehung und Unbrauchbarmachung. Für die gegen 8 das Eigentum gerichteten Sanktionen der Einziehung (§ 73 ff StGB) und der Unbrauchbarmachung, die nach der Gliederung des Strafgesetzbuchs weder den Strafen und Nebenfolgen noch den Maßregeln der Besserung und Sicherung zuzuordnen sind, sondern mit den Maßregeln zur Gruppe der „Maßnahmen“ (§ 11 Nr. 8) gehören, gelten die vorgenannten Grundsätze gemäß § 2 Abs. 5 entsprechend (Rdn. 167 ff). e) Sonderregelung für Maßregeln der Besserung und Sicherung. § 2 Abs. 6 sieht 9 für Maßregeln der Besserung und Sicherung vor, dass nach dem Gesetz zu entscheiden

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25 26

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EGMR Urt. v. 17.9.2009 – 10249/03 (Scoppola v. Italien Nr. 2), NJOZ 2010, 2726 = HRRS 2011 Nr. 600. F.-C. Schroeder FS Bockelmann 785, 790.

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§ 2 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

ist, das zur Zeit der Entscheidung gilt, und schließt damit das Eingreifen des Rückwirkungsverbots grundsätzlich aus (Rdn. 164 ff), gestattet aber abweichende gesetzliche Regelungen (Rdn. 170 ff). Damit wird dem Gesetzgeber im Bereich der Prävention ermöglicht, flexibel vorzugehen und neuere Vorstellungen durchzusetzen, um eine zeitgerechte Prävention zu erreichen.27 10

2. Zeitlicher Geltungsbereich von Strafgesetzen. Die Regelungen des § 2 sind im Zusammenhang mit dem Grundsatz „lex posterior derogat legi priori“, mit dem Grundsatz „nullum crimen sine lege“, speziell in seiner Ausprägung des Rückwirkungsverbots, sowie dem „lex mitior“-Grundsatz zu sehen.28

11

a) Allgemeine Regeln über das Inkrafttreten und die Derogation von Strafgesetzen. Strafrechtliche Gesetzesänderungen richten sich grundsätzlich nach den allgemeinen Regeln über das Inkrafttreten und die Derogation von Gesetzen.29

12

aa) Inkrafttreten von Gesetzen. Für ihre Geltung müssen alle Gesetze von dem zuständigen Organ in einem ordnungsgemäßen Verfahren erlassen, ausgefertigt und in der vorgeschriebenen Form verkündet worden sein (Art. 82 GG). Außerdem müssen sie in Kraft getreten und geblieben sein und dürfen nicht in Widerspruch zu einer geltenden ranghöheren Rechtsquelle stehen.30

13

bb) Derogation von Gesetzen. Die Derogation von Gesetzen, das „Außergeltungtreten“, kann durch Zeitablauf, durch förmliche Aufhebung oder nachträgliche Kollision mit einer Norm gleichen oder höheren Ranges erfolgen. Dabei stellt das Außerkrafttreten durch Zeitablauf eine Ausnahmeerscheinung dar, die voraussetzt, dass die Geltungsdauer gesetzlich befristet war (sog. Zeitgesetz im engeren Sinne; Rdn. 155).31 In der Regel setzt die Derogation von Gesetzen einen späteren Rechtssetzungsakt voraus, durch den die bisher bestehende Vorschrift aufgehoben wird. Hierfür besteht zum einen die Möglichkeit, dass der Gesetzgeber eine Norm durch einen späteren Rechtsakt ausdrücklich aufhebt, und zum anderen, dass er die Rechtslage durch einen ranggleichen oder ranghöheren Rechtssatz neu bestimmt. Da die Geltung eines Gesetzes auf dem Willen des Gesetzgebers beruht und durch Verabschiedung der „lex posterior“ der gesetzgeberische Wille, der für die Geltung des vorausgehenden Rechts konstitutiv war, aufgegeben wird, kommt das alte Gesetz grundsätzlich ganz in Wegfall. Nur die neue Regelung hat dann noch alleinige und umfassende Geltung.

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b) Dogmatische und systematische Konzeption des § 2. Die h.M. in Rechtsprechung und Literatur sieht die Anwendung des zur Zeit der Tat geltenden Gesetzes als Grundprinzip des intertemporalen Rechts.32 § 2 Abs. 1 stellt hiernach ein Spezialgesetz

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27 Hassemer/Kargl NK Rdn. 6. 28 Eingehend dazu Dannecker S. 191 ff. 29 Dannecker S. 191 ff m.w.N. 30 Zur Rechtsgeltung im Verfassungsstaat vgl. Hofmann Legitimität und Rechtsgeltung. Verfassungstheoretische Bemerkungen zu einem Problem der Staatslehre und der Rechtsphilosophie (1977) S. 53 ff m.w.N.; zu den verschiedenen Geltungsbegriffen vgl. R. Schreiber Die Geltung von Rechtsnormen (1966) S. 58 ff. 31 Näher dazu Dannecker S. 442 f. 32 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 34; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 2; Gribbohm LK11 Rdn. 3; Gropp AT § 3 Rdn. 66 f; Jescheck/Weigend § 15 IV 5; Lackner/Kühl/Kühl Rdn. 1; Maurach/Zipf § 12 Rdn. 2; Mohrbotter ZStW 88 (1976) 923, 929 f; Otto AT § 2 Rdn. 8; Roxin AT I § 5 Rdn. 52; Rüping BK Art. 103 Abs. 2

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Zeitliche Geltung | § 2

dar, das für das Strafrecht anordnet, dass das frühere Recht für Neufälle seine Geltung behält. So gesehen liegt im Tatzeitprinzip des § 2 Abs. 1 eine Durchbrechung des allgemeinen lex posterior-Prinzips,33 indem es für begangene Taten die weitere Anwendbarkeit des ansonsten außer Kraft getretenen Tatzeitrechts anordnet.34 Hierfür spreche, dass das Rückwirkungsverbot, dem im Strafrecht eine Sonderrolle zukommt,35 den Richter zwinge, sich am Tatzeitrecht zu orientieren.36 Das Strafgesetz diene dem Bürger als Grundlage, sein Verhalten eigenverantwortlich so einzurichten, dass er eine Strafbarkeit vermeidet.37 Der Normbefehl könne einen Täter nur motivieren, wenn er bereits zur Tatzeit in Geltung gestanden habe.38 § 2 Abs. 1 wird damit von der h.M. die Funktion einer Rechtsgeltungsregel zuge- 15 sprochen,39 die ergänzend neben den lex posterior-Grundsatz tritt.40 Um eine nachträgliche Milderung des Gesetzes berücksichtigen zu können, wird die Durchbrechung des lex posterior-Prinzips ihrerseits wieder durch den Grundsatz der lex mitior, der als Rückwirkung der gesetzlichen Milderung gedeutet wird, durchbrochen. Die Bindung an das Tatzeitrecht zwinge nicht dazu, zwischenzeitliche Rechtsänderungen als unerheblich anzusehen. Vielmehr verlange § 2 Abs. 3 die Prüfung, ob der Gesetzgeber die vom Tatzeitrecht ausgesprochene Pönalisierung der konkreten Tathandlung aufrechterhalten hat. Die Anwendbarkeit des Tatzeitrechts stehe gemäß § 2 Abs. 3 also unter dem Vorbehalt einer bis zum Urteilszeitpunkt reichenden Strafbewehrung der konkret bewirkten Tathandlung.41 Diese rückwirkende Anordnung des milderen Gesetzes wird durch § 2 Abs. 4 wiederum ausgeschlossen, wenn das zur Tatzeit geltende Gesetz ein Zeitgesetz war, weil unter diesen Voraussetzungen die Milderung dem Täter nicht zugutekommen soll (zur hiervon grundlegend abweichenden Systematik der Gegenauffassung s.u. Rdn. 20 ff). Wenn § 2 Abs. 1 als spezielle strafrechtliche Rechtsgeltungsregel verstanden wird, 16 die den Grundsatz „lex posterior derogat legi priori“ durchbrechen und die Fortgeltung strafrechtlicher Normen anordnen soll,42 kann dies aus staatsrechtlichen Gründen nicht überzeugen: In einer Demokratie ist der Wille des Volkssouveräns unverzichtbare Grundlage für die Geltung eines Gesetzes. Dieser gesetzgeberische Wille entfällt durch ein späteres Gesetz. Wenn durch § 2 Abs. 1 StGB, bei dem es sich um ein allgemeines, ebenfalls auf den Willen des Volkssouveräns zurückzuführendes43 Gesetz handelt, der Grundsatz „lex posterior“ für das Strafrecht generell außer Kraft gesetzt werden soll, scheitert dies daran, dass staatsrechtliche Grundlagen dem Gesetzgeber vorgegeben sind und er diese nicht für Teilbereiche des Rechts außer Kraft setzen kann. Der Gesetzgeber kann lediglich im Einzelfall anordnen, dass ein bestimmtes Gesetz, obwohl es aufgeho-

_____ Rdn. 56; Schmitz MK Rdn. 2 ff; C. Schröder ZStW 112 (2000) 44, 45 ff; Fischer Rdn. 2; Welzel Strafrecht § 6 I 1; SSW/Satzger Rdn. 10; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 68. 33 SSW/Satzger Rdn. 10. 34 Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 2. 35 BVerfGE 2 237, 265; 30 367, 385. 36 C. Schröder ZStW 112 (2000) 44, 47. 37 BVerfGE 95 96, 131. 38 Jescheck/Weigend § 15 IV 2. 39 So ausdrücklich Schmitz MK Rdn. 5; Jäger SK Rdn. 1b; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 1; SSW/Satzger Rdn. 9. Mohrbotter ZStW 88 (1976) 923, 927; ausführlich zum Ganzen Dannecker, S. 226 ff m.w.N. 40 C. Schröder ZStW 112 (2000) 44, 49 ff. 41 C. Schröder ZStW 112 (2000) 44, 57. 42 Vgl. nur Grötsch NZWiSt 2015 409, 411; Hassemer/Kargl NK Rdn. 4; Jäger SK Rdn. 3; Satzger Jura 2006 746, 748; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 2; Schmitz MK Rdn. 5. 43 So die Kritik bei Schmitz MK Rdn. 6; Jäger SK Rdn. 3.

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§ 2 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

ben worden ist, weitergelten soll und so in Bezug auf Einzelregelungen die Fortgeltung der bisherigen Regelung anordnen. Ein allgemeines Gesetz, das den Grundsatz „lex posterior derogat legi priori“ für ein ganzes Rechtsgebiet wie das Strafrecht außer Kraft setzen soll, wäre hingegen mit einer demokratischen Rechtsordnung nicht vereinbar. Hinzu kommt, dass die Einordnung von § 2 Abs. 1 StGB als Rechtsgeltungsregel auf andere Rechtsgebiete ausstrahlen müsste: Wenn man bei blankettausfüllenden Gesetzen (Rdn. 103 ff) § 2 Abs. 1 StGB als Rechtsgeltungsregel versteht, müssten auch die durch die Strafnormen in Bezug genommenen außerstrafrechtlichen Regelungen dem „lex posterior derogat legi priori“-Grundsatz entzogen sein und konsequenterweise (nur) im Strafrecht fortgelten. Hier müsste man zu einer gespaltenen, auf das Strafrecht beschränkten Rechtsgeltung kommen, die von dem außerstrafrechtlichen Bereich abweicht. Auch dies ist mit den staatsrechtlichen Grundlagen der Gesetzeslehre nicht vereinbar. Hinzu kommt, dass das Strafrecht nicht nur durch Blankettverweisungen außerstrafrechtliche Normen in Bezug nimmt, sondern dass darüber hinaus auch sonstige außerstrafrechtliche Regelungen die Strafrechtslage bestimmen können (Rdn. 114 ff); hier würde sich das entsprechende Problem stellen. Schließlich spricht gegen die Einordnung von § 2 Abs. 1 StGB als Rechtsgeltungsregel, dass diese Vorschrift das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG bestätigt (Rdn. 4). Bei Art. 103 Abs. 2 GG handelt es sich aber nach ganz h.M. um ein Grundrecht des Bürgers, das der staatlichen Machtausübung Grenzen setzt (§ 1 Rdn. 53),44 und nicht um eine Rechtsgeltungsregel. Außerdem wird in § 2 Abs. 1 klargestellt, dass sich die Strafe und ihre Nebenfolgen nach dem Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt, bestimmen, wenn es zwischen Tat und Verurteilung aufgehoben oder geändert worden ist. Die gesetzliche Regelung setzt damit voraus, dass Rechtsänderungen bereits eingetreten sind und knüpft hieran Rechtsfolgen, will aber nach dem Gesetzeswortlaut nicht selbst die Rechtsgeltung regeln. Die allgemeinen Regeln über das Inkrafttreten und die Derogation von Gesetzen gelten somit auch für Strafgesetze und werden durch § 2 Abs. 1 nicht ersetzt. Hierbei handelt es sich vielmehr um eine Vorschrift, die allein den zeitlichen Anwendungsbereich des Gesetzes im Strafrecht und nicht die Geltung der Gesetze regelt.45 17

c) Unterscheidung zwischen „zeitlichem Geltungsbereich“ und „zeitlichem Anwendungsbereich“. Beim „zeitlichen Geltungsbereich“ einer Norm geht es um die Frage, ab wann und wie lange eine Norm gilt. Hiervon ist ihr „zeitlicher Anwendungsbereich“ zu unterscheiden, bei dem es um die Frage geht, für welche Sachverhalte das Gesetz gilt, also in welchem Zeitraum sich die von dem Tatbestand erfassten Sachverhalte und Vorgänge ereignet haben müssen. Wenn ein Gesetz Rechtsfolgen an vergangene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen knüpft, die sich noch während der Geltung des früheren Gesetzes ereignet haben, liegt ein Fall der Rückwirkung vor. Wenn der Anwendungsbeginn eines Gesetzes auf einen Zeitpunkt nach Inkrafttreten der neuen Regelung verlegt wird, ist das Gesetz mit seinem Inkrafttreten zwar gültig, aber noch nicht anwendbar. Die Regelung des zeitlichen Anwendungsbereichs betrifft somit nicht die Geltung der Norm, sondern deren materiellen Inhalt.46 Die Normen betreffend die Geltung sind den Regelungen, die den materiellen Inhalt regeln, vorgelagert. Unter Zugrundelegung dieser Auffassung ist daher zunächst nach den allgemeinen Regeln über das Inkrafttreten und die Derogation von Gesetzen zu bestimmen, welches Gesetz gilt

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44 45 46

Vgl. nur Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 II Rdn. 15 f. Dannecker S. 230; ders. FS Schroeder 761, 762 ff; zustimmend Bülte/Müller NZG 2017 205, 211. Aschke Übergangsregelungen als verfassungsrechtliches Problem (1987) S. 18 f.

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(Rdn. 11 ff) und anschließend über den zeitlichen Anwendungsbereich unter Zugrundelegung des § 2 zu entscheiden. Für die hier getroffene Unterscheidung zwischen „Geltung“ und „Anwendung“ spre- 18 chen neben den staatsrechtlichen Überlegungen (Rdn. 16) im Übrigen auch die Stimmigkeit und die größere Klarheit.47 Zwar kann auch ein „Anzuwenden sein“ als „Gelten für“ verstanden werden. Dieser weite Geltungsbegriff, der Formulierungen wie „anzuwenden“, „sich bestimmen nach“, „zu entscheiden sein nach“ umfasst und der sich auch in der Überschrift des § 2 StGB findet, sollte daher zugunsten des die Rechtslage klarer umschreibenden engen Geltungsbegriffs von der Anwendung der Norm unterschieden werden. d) § 2 als Rechtsanwendungsregel. Die Anwendung des Rechts ist im Strafrecht 19 den Strafverfolgungsorganen vorbehalten. Zwar richten sich Strafnormen mit den in ihnen enthaltenen Verboten an den Einzelnen, und für diesen muss die Strafbarkeit zum Zeitpunkt der Begehung der strafbaren Handlung vorhersehbar sein (§ 1 Rdn. 54). Die Aburteilung, das heißt, die Anordnung der Bestrafung, kann jedoch nur von den staatlichen Organen vorgenommen werden, und diese können sich nur auf das jeweils in Kraft befindliche Gesetz stützen, das einen Eingriff in die Rechte des Einzelnen vorsieht (Vorbehalt des Gesetzes).48 In Kraft ist aber zum Zeitpunkt der Verurteilung nur noch die später erlassene Vorschrift; die frühere Regelung hat entsprechend dem Grundsatz „lex posterior derogat legi priori“49 (Rdn. 13) ihre Geltung verloren.50 Dennoch bleibt die frühere Regelung auf die zur Zeit ihrer Geltung begangenen Taten anwendbar. Diesbezüglich kann von einer „Nachwirkung des alten Rechts“ gesprochen werden,51 die insbesondere im Rahmen einer rückwirkenden Strafschärfung als Grenze der Rechtsanwendung Bedeutung erlangt. Hingegen kann eine Norm wie § 2 StGB als einfachrechtliche Regelung nicht zur (Fort-)Geltung im engeren Sinne (Rdn. 16) eines Gesetzes für den Bereich des Strafrechts führen.52 e) Grundsätzliche Geltung des Urteilszeitrechts. Eine im Vordringen befindliche 20 Auffassung geht deshalb von der grundsätzlichen Geltung des Urteilszeitrechts aus.53 Hiernach stellt das zur Entscheidungszeit geltende Gesetz das grundsätzlich anzuwendende Gesetz dar.54 Hierin kommt zum Ausdruck, dass das Rückwirkungsverbot jedenfalls formell eine Ausnahme von dem allgemeinen Prinzip bildet, dass der Richter das jeweils neueste Recht anzuwenden hat. Unter Zugrundelegung dieser Sichtweise bezieht sich § 2 Abs. 1 nur auf die an den Richter gerichtete Sanktionsnorm und nicht auf die an den Bürger gerichtete Verhaltensnorm.55 Die Anwendung der allein in Geltung befindlichen lex posterior ist dann kein Fall der Rückwirkung zugunsten des Täters, sondern

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47 So Schroeder FS Bockelmann 785, 787. 48 C. Schröder ZStW 112 (2000) 44, 48 f. 49 Dazu Jescheck/Weigend § 15 IV 2a. 50 Dannecker S. 194, 226 ff; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 2; Tiedemann FS Peters 193, 203 ff; Tiedemann/Dannecker S. 13; vgl. auch Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 33. 51 So Schroeder FS Bockelmann 785, 788; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 316 m.w.N. 52 So aber Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 2; zustimmend C. Schröder ZStW 112 (2000) 44, 50. Zu der Streitfrage, ob grundsätzlich das neuere Recht oder das Tatzeitrecht anwendbar ist, vgl. den Überblick bei C. Schröder ZStW 112 (2000) 44, 46 ff m.w.N. 53 Dannecker S. 228, 243 ff; Jakobs AT 4/52; Tiedemann FS Peters 193; vgl. auch Sommer S. 62. 54 Grundlegend dazu Dannecker S. 226 ff; Tiedemann FS Peters 193, 197; Tiedemann/Dannecker S. 13 ff; Sommer S. 60 ff, 62 ff; Nachweise zum Streitstand auch bei Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 2. 55 Dannecker S. 230.

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Folge des Grundsatzes, dass die lex posterior die lex prior außer Kraft gesetzt hat. Aus den verfassungsrechtlichen Vorgaben folgt, dass bereits im Zeitpunkt der Tat das sanktionsfähige Verhalten und der Sanktionsrahmen gesetzlich festgelegt sein müssen. Dem Tatzeitrecht kommt dabei eine limitierende Funktion zu, und zwar als Folge des Gesetzlichkeitsprinzips.56 Der Gesetzgeber musste zum Zeitpunkt der Tatbegehung die Freiheit des Bürgers durch ein allgemeines Gesetz begrenzt haben (§ 1 Rdn. 56 ff). Hierin kann eine komplementäre Funktion des Tatzeitrechts gesehen werden.57 Sie bedeutet jedoch keine Durchbrechung des lex posterior-Prinzips. Wenn es sich bei der lex posterior allerdings um ein Zeitgesetz handelt, das „nur für eine bestimmte Zeit gelten“ sollte, ordnet § 2 Abs. 4 an, dass dieses Gesetz anwendbar bleibt, um zu verhindern, dass die Bürger im Hinblick auf das baldige Außerkrafttreten der Norm Straftaten begehen. Wenn gegen die hier vertretene Auffassung geltend gemacht wird, ein außer Kraft 21 gesetztes Strafgesetz könne als „Nichtrecht“ nicht mehr angewendet werden, bleibt unberücksichtigt, dass aufgehobene Rechtsnormen sich durchaus als limitierende Faktoren für jüngere Gesetze erweisen können, wenn dies erforderlich ist, um Grundrechtseingriffe in die Rechte der Bürger zu vermeiden. In solchen Fällen wird die Neuregelung durch das vorausgehende Gesetz inhaltlich begrenzt. Hierfür bedarf es nicht der Fortgeltung früherer Gesetze; es reicht eine Einschränkung des zeitlichen Anwendungsbereichs des jüngeren Gesetzes aus, um die Rechtsfolgen weiterhin nach dem inzwischen aufgehobenen Gesetz bestimmen zu können. 22

f) Praktische Bedeutung der unterschiedlichen Konzeptionen des § 2. In der praktischen Handhabung wirken sich die unterschiedlichen Konzeptionen des § 2 in der Regel nicht aus; sie können aber durchaus im Einzelfall bedeutsam werden, so z.B., wenn sich Fragen des Vorrangs des Unionsrechts stellen (Rdn. 129; vgl. auch § 1 Rdn. 342 ff).58

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3. Begriff und Inhalt des „Gesetzes“. Das „Gesetz“, von dem in § 2 die Rede ist, ist das Strafgesetz, nicht die Rechtsordnung schlechthin.59 Der enge Regelungszusammenhang der §§ 1 und 2 (Rdn. 26) lässt an sich vermuten, dass der Begriff „Gesetz“ in § 2 ebenso zu verstehen ist wie in § 1 (näher dazu § 1 Rdn. 118 ff). Die Verschiedenheit der Zwecke – in § 1 geht es ebenso wie in § 2 Abs. 1 ausschließlich um den Schutz des Beschuldigten (§ 1 Rdn. 52 ff), in § 2 Abs. 2 und 3 um Gerechtigkeitsaspekte (Rdn. 62 ff) und in Absatz 6 um den Schutz der Allgemeinheit (Rdn. 168, 170) – hat aber zur Folge, dass der Gesetzesbegriff in den beiden Vorschriften sowohl im Hinblick auf die äußere Form als auch im Hinblick auf den sachlichen Inhalt nicht völlig übereinstimmt. Der äußeren Form nach ist „Gesetz“ in § 1 allein das geschriebene Recht (§ 1 Rdn. 109), während „das mildeste Gesetz“ im Sinne des § 2 Abs. 3 auch in der Form von Gewohnheitsrecht, das sich erst nach der Tat durchgesetzt hat, denkbar ist. Inhaltlich gilt § 1 nur für Vorschriften, von denen das „Ob und Wie“ der Strafbarkeit abhängt,60 also für alle Vorschriften, welche die „Strafbarkeit“ begründen oder verschärfen, einschließlich blankettausfüllender nationaler und unionsrechtlicher61 Regelungen, während § 2 darüber hinaus in Ab-

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56 57 58 59 60 61

Dannecker S. 228; aA Jakobs AT 4/52, der von einer komplementären Sichtweise ausgeht. So C. Schröder ZStW 112 (2000) 44, 51 ff; zustimmend Rogall KK-OWiG § 4 Rdn. 3. Eingehend dazu Dannecker FS Schroeder 761, 765 ff. Zustimmend Jäger SK Rdn. 4. Zustimmend Jäger SK Rdn. 5. Dazu Gleß GA 2000 224.

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satz 3 die Anwendung von Strafrecht, das die Folgen einer Tat nachträglich mildert, und in den Absätzen 5 und 6 die Verhängung von „Maßnahmen“ (§ 11 Nr. 8) nach einer Gesetzesänderung regelt. Zu den § 2 unterfallenden Gesetzen gehören neben geschriebenen Rechtfertigungs- 24 und Entschuldigungsgründen auch ungeschriebene Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe, da sie das Tatzeitrecht mitbestimmen,62 sowie Strafaufhebungsgründe wie die strafbefreiende Selbstanzeige nach § 371 AO63 und Strafmilderungsgründe.64 Auf der Rechtsfolgenseite sind sämtliche Vorschriften, die an eine Straftat anknüpfen, einbezogen. Weiterhin sind Rechtsvorschriften, die an eine zu verhängende Strafe anknüpfen (z.B. Verwertungsverbote nach dem BZRG)65 oder sie ausnahmsweise ausschließen66 (zB eine Amnestie),67 sowie die Anrechenbarkeit von Untersuchungshaft nach § 5168 zu berücksichtigen. Zu der umstrittenen Frage, inwieweit auch das Verfahrensrecht einbezogen ist, siehe § 1 Rdn. 411 ff.69 Nicht zu den von § 2 erfassten Gesetzen zählen Regelungen, die nicht an die Vor- 25 aussetzungen der Strafbarkeit oder ihre Rechtsfolgen anknüpfen, sondern (erst) an eine bereits verhängte Strafe, so gesetzlich vorgesehene Berufsverbote wie die Inhabilitätsregelungen des § 6 Abs. 2 Nr. 3 GmbHG, die dem Gefahrenabwehrrecht zuzuordnen sind,70 sowie Tätigkeitsverbote wie § 72a SGB VIII, sofern diese nicht ihrerseits als blankettausfüllende Verbote strafbewehrt sind und deshalb strafrechtlichen Prinzipien unterliegen.71 II. Regelungsgehalt des § 2 Abs. 1: Limitierende Funktion der aufgehobenen Rechtsnormen 1. Normierung des Rückwirkungsverbots in § 2 Abs. 1. § 2 Abs. 1 sieht vor, dass 26 sich die Strafe und ihre Nebenfolgen nach dem Gesetz bestimmen, das zur Zeit der Tat gilt. Diese Regelung gilt für Strafen (§§ 38 bis 44) und Nebenfolgen (§§ 45 bis 45 b), sinngemäß für die Maßnahmen (§ 11 Nr. 8), der Einziehung und der Unbrauchbarmachung (§ 2 Abs. 5; Rdn. 164 f) sowie ausnahmsweise – wenn und soweit es nicht an anderer Stelle gesetzlich bestimmt ist (Rdn. 170) – auch für Maßregeln der Besserung und Sicherung (§ 2 Abs. 6; Rdn. 177 ff). § 2 Abs. 1 greift das in Art. 103 Abs. 2 GG garantierte Rückwirkungsverbot („nulla poena sine lege praevia“) auf und ergänzt damit § 1 (vgl. dazu § 1 Rdn. 367). Gesetzesänderungen nach Begehung der Tat können sich nicht mehr zu Lasten des Täters auswirken. Dies gilt unabhängig davon, ob man der hier vertretenen Auffassung folgt, wonach § 2 Abs. 1 die aufgehobenen Rechtsnormen als limitierende Faktoren zur Anwendung bringt (Rdn. 20), oder ob man mit der h.M. in § 2 Abs. 1 eine Rechtsgeltungsregel (Rdn. 15) sieht.

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62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 251.

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Jäger Rdn. 2a; Hassemer/Kargl NK Rdn. 12; SSW/Satzger Rdn. 5 m.w.N.; Schmitz MK Rdn. 14. BGH wistra 2011 428 Rdn. 51 f. BGH wistra 2015 99 Rdn. 5 f; BGH NStZ-RR 2011 320, 321 zu § 31BtMG aF. Vgl. BGHSt 24 378, 382; BayObLGSt 1972 75. Vgl. Hassemer/Kargl NK Rdn. 12 m.w.N. Vgl. BGHSt 3 134, 136; RGSt 69 124, 126. BGHSt 38 88, 89. Einschränkend SSW/Satzger Rdn. 7. Dazu dazu Hinghaus/Höll/Hüls/Ransiek wistra 2010 291; siehe auch unten Rdn. 177. Näher dazu Schmitz MK Rdn. 15 m.w.N.; aA Bittmann NStZ 2009 113, 119; Leplow PStR 2009 250,

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2. Anwendungsbereich des § 2 Abs. 1. a) Materielles Strafrecht. Mit dem „Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt“, ist das gesamte sachliche Strafrecht gemeint, das die Zulässigkeit und die Art und Weise der Bestrafung bestimmt.72

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aa) Besonderer Teil. Zum sachlichen Strafrecht gehören zunächst die Straftatbestände des Besonderen Teils mit ihren Strafrahmen. Dies ist unstreitig, auch wenn in § 2 Abs. 1 nur von der „Strafe und ihre(n) Nebenfolgen“ die Rede ist.

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bb) Allgemeiner Teil. Sodann sind die Vorschriften des Allgemeinen Teils zu nennen,73 von denen die Strafbarkeit abhängt, so z.B. die Vorschriften über den Versuch, §§ 22 bis 24,74 über Täterschaft und Teilnahme, §§ 25 bis 31,75 über Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe, die im Strafgesetzbuch (§§ 32 bis 35)76 oder im Bürgerlichen Gesetzbuch77 geregelt sein können oder die als ungeschriebene Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe zu berücksichtigen sind. Alle diese Regelungen bestimmen das Tatzeitrecht mit.78 Erfasst sind weiterhin das Verwertungsverbot nach dem Bundeszentralregistergesetz bzgl. der Heranziehung von Vorverurteilungen als Strafzumessungstatsachen79 und das Strafanwendungsrecht,80 insbesondere die §§ 3 bis 7, da durch beide Regelungen jedenfalls auch das Ausmaß der Geltung des sachlichen Rechts bestimmt wird,81 weiterhin – wegen ihres Doppelcharakters als Strafaufhebungsgrund und Verfahrenshindernis – die Amnestie82 sowie gesetzliche Strafmilderungsgründe.83

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cc) Rechtsfolgen. Außerdem gilt § 2 Abs. 1 für die Regelungen des Allgemeines Teils, welche die Rechtsfolgen der Tat betreffen (siehe dazu § 1 Rdn. 400 ff), z.B. über die Anrechnung der Untersuchungshaft nach § 5184 und die Bildung einer Gesamtstrafe aus Freiheitsstrafe und Geldstrafe.85 Als „Strafe und ihre Nebenfolgen“ gelten alle „staatlichen Maßnahmen, die eine missbilligende hoheitliche Reaktion auf ein schuldhaftes Verhalten enthalten“.86 § 2 Abs. 3 ist entsprechend anzuwenden, wenn die Vor-

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72 BGHSt 20 22, 25; 20 177, 181; 38 88, 89; OLG Düsseldorf NJW 1991 710, 711; OLG Hamm MDR 1974 592, 593; BayObLG JZ 1976 249, 250; KG JR 1950 404 f; vgl. dazu Mohrbotter JZ 1977 53 ff; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 18; Jäger SK Rdn. 4; Hassemer/Kargl NK Rdn. 12; Schmitz MK Rdn. 14; SSW/Satzger Rdn. 4. 73 Näher dazu Dannecker S. 274 ff. 74 BGH Beschl. v. 21.4.1977 – 2 StR 101/77; SSW/Satzger Rdn. 5. 75 BGHSt 22 375, 376, 381 f; BGH NStZ 1981 299; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 3; SSW/Satzger Rdn. 5. 76 Engels GA 1982 105, 115 ff; Erb ZStW 108 (1996) 266, 271 ff; Engisch FS Mezger 131; Kratzsch Grenzen der Strafbarkeit (1968) S. 30 ff; ders. GA 1971 65 ff; ders. JuS 1975 435, 437; Maurach/Zipf § 12 Rdn. 7; Rengier ZStW 101 (1989) 874, 885 f; Runte Die Veränderung von Rechtfertigungsgründen durch Rechtsprechung und Lehre (1991), S. 285; Tiedemann Tatbestandsfunktionen, S. 201; Württemberger FS Rittler 133. 77 Näher dazu Dannecker S. 278 f. 78 Hassemer/Kargl NK Rdn. 12; Schmitz MK Rdn. 14; vgl. aber auch Erb ZStW 108 (1996) 266, 271 ff. 79 Vgl. nur BGHSt 24 378, 382. 80 BGHSt 20 22, 25; 24 378, 382; 27 5, 8; 45 64, 71; Fischer Rdn. 6; SSW/Satzger Rdn. 5. 81 BVerfG wistra 2003 255, 257; BGHSt 20 22, 25; 27 5, 8; 38 89; OLG Düsseldorf NJW 1979 59, 61; Hassemer/Kargl NK Rdn. 12; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 18; Fischer Rdn. 6; vgl. auch Krey Zum innerdeutschen Strafanwendungsrecht de lege lata und de lege ferenda (1969) S. 83 ff; ders. JR 1980 45; Oehler FS Bockelmann 771 ff. 82 BGHSt 3 134, 136, Ndst. Rspr. bei Dreher JZ 1971 32, Anm. zu BayObLG JZ 1971 31; aA Schmidhäuser AT 13/15. 83 BGH wistra 2015 99, 100 für die Kronzeugenregelung nach § 46 b a.F.; NStZ RR 2011 320, 321 für § 31 BtMG i.V.m. § 49 Abs. 2; dazu auch Schmitz MK Rdn. 14. 84 BGH NStZ 1992 80. 85 BGH Urt. v. 26.2.1975 – 3 StR 389/74; Urt. v. 25.3.1977 – 2 StR 375/76. 86 BGHSt 28 333, 336; BGH NJW 1991 1241; BVerfG NJW 2004 739; Jäger SK Rdn. 5; Schmitz MK Rdn. 14.

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schriften über den Widerruf der Straf- oder Maßregelaussetzung geändert werden.87 Eine Verschärfung der Strafdrohung muss nach § 2 Abs. 3 außer Betracht bleiben; entsprechend bleibt es auch hinsichtlich der Verjährung bei der Anknüpfung an die mildere Strafdrohung.88 Dies gilt gleichermaßen, wenn sich Änderungen der Strafandrohung auf ein etwaiges Strafantragserfordernis auswirken (BGHSt 50 138, 141). dd) Außerstrafrechtliche Bezugsnormen. Schließlich gehören zum gesamten 31 sachlichen Rechtszustand die Ausfüllungsnormen von Strafblanketten (Rdn. 103 ff)89 sowie sämtliche sonstigen außerstrafrechtlichen Bezugsnormen (Rdn. 114 ff). Wenn eine außerstrafrechtliche Norm geändert wird und zu einer Verschärfung der Rechtslage führt, die zur Zeit der Tat nicht gegolten hat, ist stets auf das zur Zeit der Tat geltende mildere Recht abzustellen. Die nachträgliche Verschärfung der gesetzlichen Lage darf sich nicht zu Lasten des Täters auswirken. b) Strafverfahrensrecht. Strafprozessuale Normen, welche die Verfolgbarkeit re- 32 geln, unterliegen nach h.M. in Rechtsprechung und Literatur nicht dem Rückwirkungsverbot des § 1 (§ 1 Rdn. 104 ff), da es schon nach dem Wortlaut auf die gesetzliche Bestimmtheit der Strafbarkeit, nicht aber der Verfolgbarkeit ankomme.90 Daher sollen sie auch nicht zu den Gesetzen im Sinne des § 2 gehören.91 Dies soll insbesondere für rein formelle Ordnungsvorschriften des Prozessrechts gelten, die sich nicht gestaltend auf die Rechtsposition des Beschuldigten auswirken,92 darüber hinaus aber auch für die Prozessvoraussetzungen.93 Verfahrensvorschriften ergreifen hiernach grundsätzlich nach ihrem Inkrafttreten – 33 vorbehaltlich besonderer Übergangsregelungen (vgl. Art. 308, 309 EGStGB) – ipso jure auch solche Verfahren, die bereits eingeleitet sind.94 Der Bundesgerichtshof hat bezüglich des Verfahrensrechts folgenden Grundsatz aufgestellt:95 „Neues Verfahrensrecht gilt, soweit nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt ist, auch für bereits anhängige Verfahren. Es erfasst sie in der Lage, in der sie sich beim Inkrafttreten der neuen Vorschriften befinden; anhängige Verfahren sind nach diesen weiterzuführen. Dieser Grundsatz gilt nicht nur für Rechtsvorschriften, die das Verfahren des Gerichts regeln, sondern auch für Bestimmungen, welche die Stellung von Verfahrensbeteiligten im Prozess, ihre Befugnisse und Pflichten betreffen, sowie für Vorschriften über die Vornahme und Wirkungen von Prozesshandlungen hängt nicht vom Ort der gesetzlichen Regelung ab, sondern allein von deren Charakter.“ Die Rechtsprechung geht deshalb davon aus, dass eine nachträgliche Verkürzung der Verjährungsfrist – vorbehaltlich besonderer Regelungen (vgl. Art. 309 EGStGB) – nicht dem Rückwirkungsverbot unterliegt und deshalb zu Lasten des Täters zu berücksichtigen ist. Sie soll in jedem Fall zurückwirken, sei

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87 OLG Hamm StV 1987 69; OLG Düsseldorf MDR 1989 281; OLG Hamm NStZ-RR 1996 357; OLG Dresden StV 2008 313 f. 88 BGHR StGB § 78 Abs. 3 Fristablauf 2 m.w.N.; BGH GA 1954 22; GA 1954 335. 89 Vgl. nur BGHSt 20 177, 180 ff; Dannecker S. 492 f; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 314 m.w.N. 90 Vgl. nur BGHSt 46 310, 317; ebenso Jäger SK § 1 Rdn. 21 ff; eingehend dazu § 1 Rdn. 411 ff. 91 BGHSt 26 288, 289; 46 310, 317 f; Roxin AT I § 5 Rdn. 57; Köhler AT S. 97; vgl. auch Bülte NZWiSt 2015 396, 399 im Hinblick auf die Rechtsprechung des EuGH; aA Jakobs AT 4/9, 4/57; kritisch auch Wohlers FS Kargl 587, 589 ff mit differenzierendem Lösungsvorschlag. 92 So schon BGHSt 26 288, 289; vgl. auch BVerfGE 24 33, 55; 25 269; BGHSt 26 288, 231; OLG Zweibrücken NJW 1999 1124; Baumann Summum ius, summa iniuria S. 122. 93 Jäger SK § 1 Rdn. 21 ff; differenzierend Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 6; eingehend dazu § 1 Rdn. 424 ff. 94 BVerfGE 1 4; 11 146; 24 55; 39 238; RGSt 75 306, 311; BGHSt 21 367, 369. 95 BGHSt 22 321, 325 unter Berufung auf BVerfGE 1 4, 6; 11 139, 146.

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es nach prozessrechtlichen oder sachlichrechtlichen Grundsätzen.96 Abweichend vom früheren Recht97 kann die mit einer Verkürzung der Verjährungsfrist verbundene Milderung des sachlichen Rechts eine nach altem Recht wirksame Unterbrechung der Verjährung allerdings nicht mehr gegenstandslos machen (§ 78c Abs. 5). Gleiches soll für eine rückwirkende Änderung des Strafantragserfordernisses gelten.98 Wenn jedoch die Verlängerung der Verjährungsfrist auf einer nachträglichen Verschärfung der bei der Berechnung zugrunde zu legenden Höchststrafen beruht, muss diese Verschärfung nach § 2 Abs. 3 außer Betracht bleiben (BGHSt 50 138, 140; Rdn. 30, 86). Entsprechend richtet sich die Verjährung bei einer Milderung der Strafdrohung durch ein Zwischengesetz nach dem mildesten Gesetz (BGHSt 39 353, 357). Demgegenüber nimmt ein Teil der Literatur an, grundsätzlich unterliege das gesam34 te Verfahrensrecht Art. 103 Abs. 2 GG und damit auch § 2 Abs. 1.99 Das Zugriffsrecht des Staates auf den Straftäter dürfe nach Begehung der Tat nicht ausgedehnt werden.100 Hiervon sollen nur Vorschriften ausgenommen sein, die ausschließlich den formalen Verfahrensablauf und die Einrichtung der Gerichte durchbrechen.101 Eine zunehmend an Boden gewinnende Meinung in der Literatur102 will zumindest Verfahrensvoraussetzungen dem Rückwirkungsverbot unterwerfen, soweit ihnen Strafwürdigkeits- oder Strafbedürftigkeitserwägungen zugrunde liegen,103 bzw. wenn der Gesetzgeber eine Neubewertung der Tat durch die Gesetzesänderung vorgenommen hat.104 Denn die einfach-rechtliche Unterscheidung zwischen Strafrecht und Strafprozessrecht, zwischen Strafbarkeit und Verfolgbarkeit ist für die Bestimmung des Anwendungsbereichs des Art. 103 Abs. 2 GG nicht verbindlich. Auszugehen ist vielmehr von der staatstheoretisch-verfassungsrechtlichen Wurzel des Rückwirkungverbots und dessen Ratio, die im Verbot der nachträglichen Umbewertung einer Tat zu Lasten des Täters zu sehen ist (§ 1 Rdn. 361). 35 Geht man bei der Verjährung davon aus, dass sie auch materiell-rechtlichen Charakter hat, weil sie nach der Schwere der Delikte, den vom Gesetzgeber angedrohten Strafrahmen abhängig ist, unterliegt sie Art. 103 Abs. 2 GG (§ 1 Rdn. 427 ff) und damit auch § 2 Abs. 1.105 Gleiches muss für die rückwirkende Beseitigung des Strafantragserfordernisses gelten, weil hierdurch ein staatliches Bestrafungsrecht erst nachträglich geschaffen wird (§ 1 Rdn. 426).106 Dies muss jedenfalls gelten, wenn die Strafantragsfrist abgelaufen ist. Weiterhin muss Art. 103 Abs. 2 GG Anwendung finden, wenn durch das

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96 BGHSt 21 367, 369 f; vgl. auch BGHSt 22 375, 381; ebenso BVerfG NStZ 2000 251; BGHSt 50 138, 140; OLG Düsseldorf StV 2008 313 f; eingehend dazu § 1 Rdn. 424 ff. 97 Dazu BGHSt 22 375, 381 f. 98 BGHSt 46 310, 317 ff mit krit. Anm. Knauth StV 2003 418 ff; RGSt 77 327, 328; aA noch RGSt 46 269, 270 ff; s. auch § 1 Rdn. 426. 99 So Jakobs AT 4/57; Schreiber ZStW 80 (1968) 348, 365; Krahl Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs zum Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht (Art. 103 Abs. 2 GG) (1986) S. 74; Roxin/Arzt/Tiedemann S. 112; siehe ergänzend § 1 Rdn. 272. 100 Schreiber ZStW 80 (1968) 348, 365; Jakobs AT 4/57. 101 Schreiber ZStW 80 (1968) 348, 366; Jakobs AT 4/57; auch Roxin/Arzt/Tiedemann S. 112. 102 Dannecker S. 321 ff; Jakobs AT 4/9, 4/57; Jescheck/Weigend § 15 IV 4; Lüderssen JZ 1979 450 f; Jäger SK § 1 Rdn. 21 ff; Schreiber Gesetz und Richter, S. 220; ders. ZStW 80 (1968) 348 ff; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 6; Schünemann Nulla poena sine lege (1978) S. 25 f; ders. NStZ 1981 143 f. 103 Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 6; Schmitz MK § 1 Rdn. 19, 41 f. 104 So Dannecker S. 332 ff unter Berufung auf BVerfGE 25 286. 105 Dannecker S. 323 ff; Schmitz MK § 1 Rdn. 19; aA BGHSt 50 138, 140 Fischer Rdn. 7a; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 6. 106 Roxin AT I § 5 Rdn. 58 f; Jescheck/Weigend § 15 IV 4; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 6; aA BGHSt 46 310, 320 f; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 845.

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neue Gesetz das Strafbedürfnis höher als zuvor eingestuft wird, so wenn die Geringfügigkeit der Verfehlung nicht mehr anerkannt und das Strafantragserfordernis aus diesem Grund aufgehoben wird oder wenn besondere persönliche Beziehungen zum Opfer Grundlage des Strafantragserfordernisses sind. In diesen Fällen bedeutet die Aufhebung des Strafantragserfordernisses eine Veränderung in der Bewertung der Delikte. Hingegen bleibt die Tatbewertung unberührt, wenn allein Geheimhaltungsinteressen der Opfer für nicht mehr schützenswert gehalten werden oder das Strafantragsrecht, das bestimmten Fachbehörden wegen ihres besseren Überblicks über die Notwendigkeit der Strafverfolgung zugewiesen ist, aufgehoben wird. In diesen Fällen wirkt sich eine nachträgliche Änderung des Strafantragserfordernisses nur mittelbar auf den Straftäter aus: Die Bewertung der Tat selbst bleibt dadurch unberührt. Bei den Vorschriften über die Einstellung des Verfahrens aus Opportunitäts- 36 gründen ist zwischen der Einstellung nach § 153a und nach § 153 StPO zu unterscheiden (§ 1 Rdn. 419 ff): Die Einstellung des Verfahrens bedeutet einen Verzicht auf Strafe, wird aber im Rahmen eines kriminalpolitischen Gesamtkonzepts abgestufter strafrechtlicher Interventionen zur strafrechtlichen Sanktion, wenn bei § 153a StPO Auflagen verhängt werden, die der Genugtuung für das begangene Unrecht dienen. Hingegen handelt es sich bei den Weisungen um Maßregeln der Besserung und Sicherung, auf die der nullapoena-Satz nicht anwendbar ist (Rdn. 169). Demgegenüber beinhaltet § 153 StPO keine gesetzgeberische Entscheidung, dass Bagatellverstöße nicht strafbar sind. Diese Regelung trägt vielmehr dem Problem der begrenzten Ressourcen bei der Strafverfolgung Rechnung. Da dadurch keine Entscheidung über die fehlende Strafbedürftigkeit von Bagatelldelikten getroffen wird, kann sich eine nachträgliche Einschränkung der Einstellungsmöglichkeiten nicht als verschärfende Rückgängigmachung einer Tatbewertung auswirken.107 Von den in §§ 153, 153a StPO geregelten Fällen ist das Absehen von der Verfol- 37 gung wegen Steuerhinterziehung nach § 398a AO abzugrenzen.108 Nach den Gesetzgebungsmaterialien soll § 398a AO zwar als verfahrensrechtliche Norm § 153a StPO nachempfunden sein,109 doch wäre eine Gleichsetzung besonders im Hinblick auf das Rückwirkungsverbot verfehlt. Maßgeblich für die Einstellung des Verfahrens sind bei § 398a AO, anders als bei § 153a StPO, nicht Opportunitätserwägungen, vielmehr muss bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 398a AO zwingend von der Strafe abgesehen werden.110 Somit handelt es sich bei § 398a AO zwar zunächst um eine verfahrensrechtliche Norm, die aber durch den engen Zusammenhang mit der Selbstanzeigeregelung des § 371 AO zugleich materiell-rechtlichen Charakter aufweist, so dass teilweise die Auffassung vertreten wird, Art. 103 Abs. 2 GG müsse auf § 398a AO Anwendung finden.111 Soweit außerstrafrechtliche Beweisvermutungen und Beweislastregeln durch 38 Strafgesetze ohne Verstoß gegen die Unschuldsvermutung in Bezug genommen werden können, unterliegen diese Art. 103 Abs. 2 GG (§ 1 Rdn. 416). Dies gilt gleichermaßen für eine Änderung der Promille-Grenze bei § 316 StGB.112 Hingegen dienen Beweisverbote

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107 Dannecker S. 338 ff. 108 Zur Problematik der Nichtanwendung beeinträchtigender Vorschriften (Art. 325 Abs 1 AEUV) im Hinblick auf § 398a AO Bülte NZWiSt 2015 396, 399; Weidemann wistra 2016 49, 51. 109 BTDrucks. 17/5067 (neu) S. 20. 110 Beckemper/Schmitz/Wegner/Wulf wistra 2011 281, 285; Kohler MK § 389a (Anhang zu § 371) Rdn. 3 m.w.N.; Schmitz MK Rdn. 47; Schmitz MK § 1 Rdn. 20. 111 So Jäger SK Rdn. 38; Schmitz MK Rdn. 47; Schmitz MK § 1 Rdn. 20; so auch Grötsch NZWiSt 2015 409, 414 f; Rolletschke/Roth Die Selbstanzeige Rdn. 542; aA Bülte NZWiSt 2015 396, 399. 112 Dazu auch Leite GA 2014 220 ff.

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dem Schutz außerprozessualer Interessen und Rechte des Beschuldigten, die von § 103 Abs. 2 GG nicht erfasst werden (§ 1 Rdn. 416 f).113 3. „Geltung“ des Gesetzes. Ob ein Gesetz zur Zeit der Tat schon in Kraft getreten ist und damit „gilt“, bestimmt sich bei Bundesgesetzen und Rechtsverordnungen, die im Bundesgesetzblatt verkündet werden, nach Art. 82 GG. Tritt ein Gesetz oder eine Verordnung mit dem Tage der Verkündung in Kraft, so kommt es auf den Tag der Ausgabe im Gesetzblatt an. Umstritten ist allerdings, ob der Beginn dieses Tages,114 der genaue Verkündungs40 zeitpunkt115 oder aber das Ende des Tages der Verkündung116 maßgebend ist. Für die erste dieser Lösungsmöglichkeiten – den Beginn des Tages – spricht die Wendung „mit dem Tage …“. Bei der zweiten Lösung, die auf den genauen Verkündungszeitpunkt abstellt, steht der Gedanke im Vordergrund, dass ein Gesetz nicht vor der Verkündung Geltung erlangen kann.117 Diesem Gedanken wird auch in Art. 82 Abs. 2 S. 2 GG insofern Rechnung getragen, als die dort bezeichnete Frist erst nach Ablauf des Tages beginnt, an dem das Bundesgesetzblatt ausgegeben worden ist. Die h.M.118 stellt zu Recht auf das Ende des Tages der Verkündung ab. Hierfür spricht zunächst, dass Fristen, die an ein bestimmtes Ereignis gebunden sind, mit Ablauf des Tages beginnen, an dem das Ereignis eintritt, und aus Gründen des Vertrauensschutzes Straftatbestände erst dann Geltung beanspruchen können, wenn die Bürger zumindest theoretisch die Möglichkeit hatten, sich über ihr Inkrafttreten zu informieren.119 Darüber hinaus wird den strafrechtlichen Besonderheiten Rechnung getragen, die sich aus dem Grundsatz „in dubio pro reo“ ergeben. Schließlich vereinfacht diese Lösung die Rechtsanwendung, weil dem Umstand Rechnung getragen wird, dass sich der genaue Zeitpunkt, zu dem eine bestimmte Nummer des Bundesgesetzblatts ausgegeben worden ist, häufig nicht feststellen lassen wird und in einem solchen Fall ohnehin wegen des Grundsatzes „in dubio pro reo“ angenommen werden müsste, die Tat sei vor der Verkündung des Gesetzes verübt worden. Daher ist die dritte Lösung vorzugswürdig, und es ist für den Geltungsbeginn auf das Ende des Tages der Verkündung abzustellen. Ein Gesetz tritt außer Kraft mit dem Eintritt eines festgesetzten oder sich aus den 41 Umständen ergebenden Endtermins, durch Aufhebung (Rdn. 13) oder – ausnahmsweise – durch derogierendes Gewohnheitsrecht (desuetudo; § 1 Rdn. 176). Für die Landesgesetzgebung ist von entsprechenden Grundsätzen auszugehen. 42 39

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4. Geltung „zur Zeit der Tat“. Die Geltung eines Gesetzes „zur Zeit der Tat“ (§ 2 Abs. 1) ist gleichbedeutend mit Geltung „während der Begehung der Tat“ (vgl. § 2 Abs. 2). Was das StGB unter der „Zeit der Tat“ versteht, ist in § 8 beschrieben. Eine Tat (§ 11 Abs. Nr. 5) ist zu der Zeit begangen, zu welcher der Täter oder Teilnehmer gehandelt hat oder im Falle des Unterlassens hätte handeln müssen (§ 8 S. 1). Wann der tatbestandsmäßige Erfolg eintritt ist – anders als für den Beginn der Verjährung (§ 78a S. 2) –

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113 Dannecker S. 353 ff. 114 So für das Zivilrecht RGZ 91 339. 115 So RGSt 57 49, 50 ff. 116 Vgl. zur Gesamtproblematik Brenner in v. Mangoldt/Klein Art. 82 Rdn. 40 ff. 117 Siehe dazu RGSt 57 59 ff. 118 Jäger SK Rdn. 8; vHH/von Heintschel-Heinegg Rdn. 2; Schmitz MK Rdn. 16; zustimmend Hassemer/Kargl NK Rdn. 13b. 119 vHH/von Heintschel-Heinegg Rdn. 2; Schmitz MK Rdn. 16; zustimmend Hassemer/Kargl NK Rdn. 13b.

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nicht maßgebend (§ 8 S. 2).120 Dies folgt daraus, dass die Strafrechtsnormen als an den Bürger gerichtete „Bestimmungsnormen“ ihre verhaltensregulierende Kraft spätestens bis zum Zeitpunkt des strafbaren Handelns entfalten müssen (§ 1 Rdn. 60).121 Die Tatbegehung beginnt mit dem mit Strafe bedrohten Versuch; ein Handeln oder 44 Unterlassen im straflosen Vorbereitungsstadium genügt nicht.122 Ist der Versuch nicht strafbar, so ist auf den Beginn des tatbestandsmäßigen Verhaltens abzustellen. Die Tatbegehung endet mit dem Abschluss der (letzten) Handlung des Täters bzw. – im Fall des Unterlassens – mit dem Ablauf der letzten Erfolgsabwendungsmöglichkeit.123 Bei Dauerdelikten, die durch die kontinuierliche Verwirklichung eines Tatbestands gekennzeichnet sind, endet die Tatzeit mit der letztmaligen tatbestandsmäßigen Handlung oder Unterlassung.124 Bei Täterschaft und Teilnahme kommt es auf die Handlung jedes Einzelnen an, so 45 dass für einen Gehilfen, der seinen Beitrag im Vorbereitungsstadium leistet, das zu diesem Zeitpunkt geltende Recht maßgebend ist.125 Eine „Zurechnung“ erfolgt nicht. So gilt für einen Gehilfen, der seinen Beitrag im Vorbereitungsstadium der Haupttat leistet, das Recht dieses Zeitpunkts, auch wenn der Täter aus einem später in Kraft getretenen Qualifikationstatbestand abgeurteilt wird.126 Wenn der Teilnehmer seinen Beitrag vor Inkrafttreten der Qualifikation geleistet hat, konnte ihn der verhaltenssteuernde Normappell zum Zeitpunkt der Begehung der Tat noch nicht erreichen.127 Besonders problematisch ist die Bestimmung der Tatzeit bei der mittelbaren Tä- 46 terschaft (§ 25 Abs. 1 Alt. 2) und der Mittäterschaft (§ 25 Abs. 2). Die h.M. rechnet dem mittelbaren Täter die Ausführung der Tat durch den Tatmittler als eigenen Handlungszeitpunkt zu, und den Mittätern werden die Handlungszeitpunkte der jeweiligen anderen zugerechnet.128 Teilweise wird nur den Mittätern der Beitrag der anderen zugerechnet und damit die Tatzeit über die Dauer aller Handlungen erstreckt; für die mittelbare Täterschaft soll allein die Handlung des ausführenden Tatmittlers entscheidend sein.129 Nach der Gegenposition soll es bei der Mittäterschaft auf die Handlung des Einzelnen ankommen und bei der mittelbaren Täterschaft wegen der Beeinflussung des Tatmittlers auch auf dessen Ausführungshandlung ankommen.130 Teilweise wird allein auf die Handlung des jeweiligen Mittäters oder des mittelbaren Täters abgestellt und die Handlungen anderer Ausführender (Mittäter/Tatmittler) bleiben unberücksichtigt.131 Da § 8 Ausdruck einer „(strengen) Tätigkeitstheorie“ ist,132 kommt es nicht auf die tatsächliche Ausführungshandlung des Beteiligten selbst an. Nach dem in § 25 Abs. 1 Alt. 2 und § 25

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120 Vgl. RGSt 57 193, 196; Frister 5. Kap. Rdn. 4; Jäger SK Rdn. 6; Hassemer/Kargl NK Rdn. 13; SSW/Satzger Rdn. 11. 121 Hassemer/Kargl NK Rdn. 13; ähnlich auch Jäger SK Rdn. 6. 122 Jäger SK Rdn. 6. 123 Jäger SK Rdn. 6; Schmitz MK Rdn. 11. 124 Schmitz MK Rdn. 11. 125 Vgl. BGH NStZ 2000 197, 198; Jäger SK Rdn. 7; Hassemer/Kargl NK Rdn. 13; SSW/Satzger Rdn. 11; Schmitz MK Rdn. 11 f; Jakobs AT 4/53. 126 BGH wistra 2005 147, 148; BGH NStZ 2000 197, 198; Fischer § 8 Rdn. 5; Jäger SK Rdn. 2c; Kindhäuser LPK-StGB § 8 Rdn. 7; Schmitz MK Rdn. 12; Jakobs AT 4/53. 127 Jäger SK Rdn. 7. 128 Ambos MK § 8 Rdn. 10; Hartmann HK-GS § 8 Rdn. 3; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 8 Rdn. 3 mwN; Jäger SK § 8 Rdn. 2c; SSW/Satzger § 8 Rdn. 6; Werle/Jeßberger LK § 8 Rdn. 8 ff; Zöller AnwK § 8 Rdn. 3. 129 So Lackner/Kühl/Heger § 8 Rdn. 2 m.w.N. 130 So Fischer § 8 Rdn. 3. 131 So Böse NK § 8 Rdn. 3; Hoyer SK § 8 Rdn. 5; Schmitz Rdn. 13. 132 Ambos MK § 8 Rdn. 1, 5.

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Abs. 2 verankerten Zurechnungsprinzip ist jedoch der Mittäter ebenso wie der mittelbare Täter für den Vollzugszeitpunkt verantwortlich, so dass sich seine Herrschaft von seiner eigenen Beteiligungshandlung bis zur eigentlichen Ausführung durch einen anderen erstreckt. Daher erreicht den Mittäter bzw. den mittelbaren Täter der Normappell bis zur eigentlichen Tatbegehung durch andere, weil diese die Begehung durch einen anderen für sich ausnutzen.133 47

5. Änderungen der Strafbarkeit während der Begehung der Tat. Gesetzesänderungen, welche die Strafbarkeit betreffen und zu einer Verschärfung führen, unterfallen § 2 Abs. 1134 und nicht § 2 Abs. 2, der nach h.M. nur Änderungen der Strafart und Strafhöhe (Rdn. 52 f) betrifft. Wenn ein bestimmtes Verhalten erst während seines Vollzuges durch Gesetzesänderung strafbar wird, darf der Täter nur bestraft werden, wenn sein Verhalten nach der Gesetzesänderung noch sämtliche Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt.135 Tätigkeiten, die zu einem Zeitpunkt vorgenommen worden sind, als sie noch nicht strafbar waren, müssen auch nach der Gesetzesänderung straffrei bleiben und dürfen nicht über Rechtsfiguren wie die natürliche oder rechtliche Handlungseinheit in die Strafbarkeit einbezogen werden,136 so etwa bei der bei der Vorteilsannahme bei Drittbegünstigung nach § 331 n.F., wenn die Grundvereinbarung zum Zeitpunkt ihres Abschlusses noch straflos und erst bei Annahme der Vorteile strafbar war.137 Hierin läge ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG. Eine Änderung strafbegründender Merkmale kann nur die Teilakte erfassen, bei deren Begehung das neue Gesetz bereits in Kraft war.138 Änderungen der Strafhöhe während der Begehung der Tat bestimmen sich nach § 2 Abs. 2 (Rdn. 52 f). III. Regelungsgehalt des § 2 Abs. 2: Änderungen der Strafdrohung zwischen Beginn und Beendigung der Tat

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Änderungen der Strafdrohung zwischen Beginn und Beendigung der Tat können vor allem bei zeitlich gestreckten Tatbestandsverwirklichungen, insbesondere bei Dauerund Zustandsdelikten, bei denen die Einzelakte oder die Begründung eines rechtswidrigen Zustandes in den zeitlichen Geltungsbereich verschiedener Gesetze fallen können (Rdn. 41 ff),139 relevant werden. Diese Straftaten sind einheitlich zu beurteilen, auch hinsichtlich des Rechtsanwendungsrechts.140 Deshalb dürfen Strafschärfungen, die sich auf vor der Gesetzesänderung begangene Handlungen beziehen, nicht zur Anwendung kommen, denn § 2 Abs. 2 beinhaltet keine Ausnahme vom allgemeinen Rückwirkungsverbot.141 Aus diesem Grund hat die Sonderregelung des § 2 Abs. 2 kaum eigenständige Bedeutung.142

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133 Jäger SK Rdn. 7. 134 Hassemer/Kargl NK Rdn. 15; Jäger SK Rdn. 4; Fischer Rdn. 3; aA Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 13; Jakobs AT 4/58 ff. 135 OLG Karlsruhe wistra 2001 434; Dannecker S. 396; Dannecker/Freitag ZStW 116 (2004) 143. 136 BGH StV 1984 202; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 13; aA BGHSt 29 124, 129 für ehrengerichtliche Sanktionen. 137 OLG Stuttgart NJW 2003 228. 138 RGSt 62 3 m. Nachw. der früheren Rechtsprechung. 139 BGHSt 40 138 ff. 140 BGHSt 21 204; Hassemer/Kargl NK Rdn. 14; Sch/Schröder/Sternberg-Lieben/Bosch Vor §§ 52 ff Rdn. 81; Fischer Rdn. 3; aA Ostendorf DRiZ 1983 426 ff. 141 OLG Karlsruhe wistra 2001 434; Dannecker S. 393; Jäger SK Rdn. 9; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 13; Hassemer/Kargl NK Rdn. 15; Jakobs AT 4/59; näher dazu unten Rdn. 58. 142 Vgl. nur Hassemer/Kargl NK Rdn. 15; Jakobs AT 4/58; zustimmend vHH/von Heintschel-Heinegg Rdn. 4; weitergehend Schmitz MK Rdn. 17, der jeglichen eigenständigen Regelungsgehalt des § 2 Abs. 2 verneint.

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1. Festschreibung der Rechtsprechung des Reichsgerichts durch das 2. StrRG. 49 § 2 Abs. 2 ordnet für den Fall, dass die Strafart oder Strafhöhe geändert wird, an, dass das Gesetz anzuwenden ist, das bei Beendigung der Tat gilt, und zwar unabhängig davon, ob sich dies strafmildernd oder strafschärfend für den Täter auswirkt (s. dazu Entstehungsgeschichte vor Rdn. 1). Die § 2 Abs. 1 präzisierende Vorschrift des § 2 Abs. 2 gab es weder in § 2 StGB 1871, 50 noch in § 2a StGB 1935 oder in § 2 StGB 1953. Sie entspricht jedoch inhaltlich der ständigen Rechtsprechung des Reichsgerichts. Als gesetzliche Regelung findet sie sich erstmals im 2. StrRG (1969) und wortgleich zuvor in § 2 Abs. 2 E 62. Dazu heißt es dort in der Begründung: „Absatz 2 betrifft den Fall, dass sich die Strafdrohung während der Begehung der Tat ändert. Eine solche Vorschrift kennt das geltende Recht nicht. Diese Frage kann insbesondere bei Dauerstraftaten und fortgesetzten Handlungen von Bedeutung sein. Der Entwurf stellt klar, dass die bei Beendigung der Tat geltende Strafdrohung maßgebend ist. Er folgt hier der ständigen Rechtsprechung des Reichsgerichts.143 Aus der Einheitlichkeit der Dauerstraftat und der fortgesetzten Handlung folgt die Notwendigkeit einer einheitlichen Beurteilung. Die Fassung stellt klar, dass die Änderung eines Gesetzes hinsichtlich der Strafdrohung, nicht hinsichtlich der Strafbarkeit in Frage steht.144 Wird durch ein späteres Gesetz erst die Strafbarkeit eines Handelns begründet, so können frühere Teilakte nicht in die Bewertung als fortgesetzte Tat einbezogen werden (E 62, Begr. BTDrucks. IV/650 S. 106).“145

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2. Änderungen der Strafart oder Strafhöhe. § 2 Abs. 2 betrifft nach h.M. lediglich 52 die Änderungen in Strafart und Strafhöhe,146 nicht hingegen die Voraussetzungen der Strafbarkeit.147 Das Rückwirkungsverbot bleibt insoweit unangetastet.148 Das gilt auch dann, wenn ein verbotenes Verhalten vom Gesetz bis zu einem bestimmten Zeitpunkt als Ordnungswidrigkeit eingestuft war und erst danach als Straftat qualifiziert wurde.149 Die Änderung der Voraussetzungen der Strafbarkeit bestimmt sich nach § 2 Abs. 1 (Rdn. 14, 26). Dies bedeutet, dass die Einführung eines neuen Straftatbestandes während der Tatzeit nicht nach § 2 Abs. 2 zu beurteilen ist. Es handelt sich vielmehr um einen Fall der rückwirkenden Gesetzesanwendung, der § 2 Abs. 1 unterfällt.150 Grundsätzlich ist nach § 2 Abs. 2 die bei Beendigung der Tat geltende Strafdrohung 53 maßgeblich (BGHSt 34 272, 276). Wenn die Strafdrohung während der Tatbegehung verschärft wird, dürfen die früheren Handlungsteile, die unter dem günstigeren Rechtszustand verwirklicht worden sind, bei der Strafzumessung nur nach dem milderen Recht beurteilt werden; ansonsten würde das neue Gesetz rückwirkend angewendet.151 Dies gilt unabhängig davon, ob der Grundtatbestand verschärft oder eine Qualifikation oder ein Regelbeispiel eingeführt wird.152 Nach Auffassung der höchstrichterlichen Rechtspre-

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143 Vgl. RGSt 43 355, 357 f; 44 273, 277 ff; 50 346, 348; 51 171, 173 f; 56 54, 56 f; 57 193, 196; 62 1, 5 f; 68 338, 339; 71 92, 94; vgl. ferner BGH bei Dallinger MDR 1967 12. 144 Zum Begriff „Strafbarkeit“ in § 1 dort Rdn. 21 ff. 145 Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 13; Jäger SK Rdn. 9 ff. 146 OLG Karlsruhe wistra 2001 434; Jäger SK Rdn. 12; Fischer Rdn. 3; Hassemer/Kargl NK Rdn. 15. 147 So aber Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 13; Jakobs AT 4/58 ff. 148 Jäger SK Rdn. 12; Schmitz MK Rdn. 17; Dannecker/Freitag ZStW 116 (2004) 797. 149 BGH wistra 1987 136; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 12; Jäger SK Rdn. 12; Hassemer/Kargl NK Rdn. 15; Maurach/Zipf § 12 Rdn. 11. 150 OLG Karlsruhe wistra 2001 434; Dannecker S. 396; Dannecker/Freitag ZStW 116 (2004) 143 (zu den unionsrechtlichen Embargo-Verordnungen). 151 BVerfG NStZ 1996 192, 193; s. auch BGH NStZ 1994 123; 1995 92, 93; BGH StV 1984 202 (zur fortgesetzten Handlung); BayObLG NJW 1996 1422; Lackner/Kühl/Kühl Rdn 2. 152 OLG Karlsruhe wistra 2001 434; Dannecker S. 396; Hassemer/Kargl NK Rdn. 15.

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chung soll die nachträgliche Verschärfung der Strafdrohung während der Tatbegehung bei ehrengerichtlichen Sanktionen nicht unzulässig sein, weil insoweit auf den Grundsatz der „einheitlichen Betrachtungsweise aller in demselben ehrengerichtlichen Verfahren festgestellten Pflichtverletzungen“ abzustellen sei.153 Führt die Rechtsänderung dagegen zu einer Milderung der Strafdrohung, so gilt für die Tat das mildere Gesetz.154 Diese Auffassung der Rechtsprechung kann jedoch nicht überzeugen, da auch diese Sanktionen Art. 103 Abs. 2 GG unterfallen (§ 1 Rdn. 66).155 54

3. Beendigung der Handlung als maßgeblicher Zeitpunkt. Der Zeitpunkt der „Beendigung der Tat“ in § 2 Abs. 2 muss im Anschluss an den Begriff der Tatbegehung (Rdn. 43) definiert werden, d.h. als Ende des Handelns oder Unterlassens. Die Anwendung des strengeren Rechts kann nur daraus legitimiert werden, dass die Handlung zeitlich in den Geltungsbereich der neuen verschärften Sanktionen hineinreicht.156 Auf den Zeitpunkt des Eintritts eines Erfolges kommt es hierbei nicht an. Entscheidend kann nur die Beendigung des tatbestandsmäßigen Verhaltens sein. Dies ist beim aktiven Tun frühestens mit dem Aufgeben des Weiterhandelns gegeben. Umstritten ist, ob auch ein dem aktiven Tun nachfolgendes Unterlassen als zum deliktischen Verhalten gehörend angesehen werden kann. Bejaht man dies,157 so erlischt die Garantenstellung erst, wenn die Rechtsgutsverletzung ihren Abschluss gefunden hat, das heißt, wenn keine Intensivierung der Verletzung mehr stattfindet.158 Beim Unterlassen kommt es darauf an, wie lange der Garant zur Abwendung des Erfolgs in der Lage ist. Wird dies unmöglich, so liegt Beendigung vor. In den Fällen des strafbaren Versuchs ist es unerheblich, ob der Versuch als solcher beendet oder unbeendet ist159 oder in welchem Zeitpunkt der unbeendete Versuch in einen beendeten umschlägt. Maßgebend ist allein das tatsächliche Ende des den Versuch bildenden Handelns oder Unterlassens.

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a) Beendigung der Handlung bei Zustands- und Dauerdelikten. Wenn der tatbestandsmäßige Erfolg bereits vor der Gesetzesänderung eingetreten ist, muss auf die Beendigung des einheitlichen Geschehens abgestellt werden.160 Hierbei ist zwischen Zustandsdelikten und Dauerdelikten zu unterscheiden: Bei Zustandsdelikten, wie den Eigentums- und Vermögensdelikten, den Körperver56 letzungsdelikten und der Personenstandsfälschung, führt der Täter einen rechtswidrigen Zustand herbei, mit dem die Tat abgeschlossen ist. Die Aufrechterhaltung des durch die Tat geschaffenen Zustandes hat keine selbständige strafrechtliche Bedeutung mehr. Das vollendete Delikt zieht lediglich fortwirkendende faktische Folgen nach sich.161 Daher

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153 BGHSt 29 124, 129; krit. dazu Jäger SK Rdn. 12; Schmitz MK § 1 Rdn. 21. 154 Jakobs AT 4/60; Schmitz MK Rdn. 20. 155 Vgl. nur Hassemer/Kargl NK Rdn. 15; Schmitz MK § 1 Rdn. 21 m.w.N. 156 So schon RGSt 43 355; 56 54; 68 338. 157 So Mezger JW 1938 495; vgl. auch Hruschka GA 1968 193, 196 ff; Kühl Die Beendigung des vorsätzlichen Begehungsdelikts (1976) S. 168 ff; Welp Vorangegangenes Tun als Grundlage einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung (1968) S. 337 ff; Granderath Die Rechtspflicht zur Erfolgsabwendung von einem vorangegangenen gefährdenden Verhalten bei den unechten Unterlassungsdelikten (1961) S. 174 f. 158 BGHSt 36 258. 159 Vgl. BGHSt 36 105, 116 f. 160 BGHSt 29 124, 128; OLG Brandenburg NStZ 2008 531, 531 f. 161 Geerds Zur Lehre von der Konkurrenz im Strafrecht (1961) S. 266; Hruschka GA 1968 193; Lippold Die Konkurrenz bei Dauerdelikten als Prüfstein der Lehre von den Konkurrenzen (1985) S. 4; Werle Die Konkurrenz bei Dauerdelikten, Fortsetzungstat und zeitlich gestreckter Gesetzesverletzung (1981) S. 31.

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sind Gesetzesänderungen, die nach Eintritt des rechtswidrigen Zustands eintreten, nicht zu berücksichtigen. Wenn durch das Untätigbleiben die Gefahr oder der Schaden vergrößert wird, kommt eine Fortsetzung durch unechtes Unterlassen in Betracht.162 § 2 Abs. 2 betrifft daher nur Dauerdelikte und in Fortsetzungszusammenhang stehende Delikte – soweit dieser Fall nach den vom BGH dazu aufgestellten Grundsätzen163 noch möglich ist. Dauerdelikte, wie die Freiheitsberaubung, die fortdauernde Nötigung oder die 57 Trunkenheitsfahrt, enden erst mit der Aufhebung des rechtswidrigen Zustandes. Die Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Zustandes bedeutet eine Intensivierung des Eingriffs. Daher gehören sowohl Handlungen, die den Zustand schaffen, aufrechterhalten und schließlich abbrechen, als auch Unterlassungen, die ihn nicht ausräumen, zum tatbestandsmäßigen Verhalten,164 soweit der Täter noch Einfluss auf das Geschehen hat.165 Solange der vom Täter geschaffene rechtswidrige Zustand in die Geltungszeit des neuen Gesetzes hineinreicht, ist dieses neue Gesetz bei Dauerdelikten anzuwenden. Dies gilt für Verschärfungen sowohl der Strafbarkeit als auch der Strafhöhe, aber auch dann, wenn der weitaus überwiegende Teil der Dauerstraftat unter der Geltung der milderen Strafdrohung verübt worden ist. Der Tatrichter ist bei einer solchen Fallgestaltung gehalten, dieser Besonderheit bei der Strafzumessung Rechnung zu tragen; insoweit gilt also bezüglich des vor der Gesetzesänderung liegenden Verhaltens auch das Rückwirkungsverbot.166 Verlängert sich während der Begehung eines Dauerdelikts die Verjährungsfrist, so gilt die bei Beendigung maßgebliche längere Frist auch für zurückliegende Teilakte (BGH BGHR § 129a Verjährung 1). b) Einschränkungen des § 2 Abs. 2 durch das Rückwirkungsverbot des Art. 103 58 Abs. 2 GG. Einschränkungen des § 2 Abs. 2 durch Art. 103 Abs. 2 GG ergeben sich weiterhin bei Straftatbeständen, die aus mehreren Teilakten bestehen oder bei denen das Gesetz Einzelakte zu einem Verhaltenstypus zusammenfasst und die deshalb eine tatbestandliche Einheit darstellen: Strafschärfungen, die während einer unteilbaren Tat in Kraft treten, müssen unberücksichtigt bleiben167 und der Täter muss nach dem milderen Gesetz bestraft werden, so z.B. bei der Verschärfung des Strafrahmens für Raub, die in Kraft tritt, nachdem der Täter das Opfer niedergeschlagen, die Beute aber noch nicht weggenommen hat. Die Anwendung des § 2 Abs. 2 in einem solchen Fall hätte eine partielle Rückwirkung zu Lasten des Täters zur Folge.168 Gleiches gilt für tatbestandliche Handlungseinheiten, bei denen sich die einheitliche Betrachtung verschiedener Teilakte aus dem innertatbestandlichen Zusammenhang ergibt. Hier wird die Einheitlichkeit durch die Tatbestandsstruktur vorgezeichnet, so bei zweiaktigen Delikten wie dem Erpressungs- und Raubtatbestand, aber auch bei unvollkommen zweiaktigen Delikten wie der Urkundenfälschung. Auch hier ist ausschließlich das mildere Gesetz anzuwenden. Schließlich gibt es Delikte, bei denen das Gesetz Einzelakte zu einem Verhaltensty-

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162 BGHSt 36 258. 163 Vgl. BGH 3.5.1994 – GSSt 2 u. 3/93, BGHSt 40 138 = NJW 1994 1663. 164 Frister 5. Kap. Rdn. 5; Geppert Jura 1982 369; Geerds Zur Lehre von der Konkurrenz im Strafrecht (1961) S. 266; Werle Die Konkurrenz bei Dauerdelikten, Fortsetzungstat und zeitlich gestreckter Gesetzesverletzung (1981) S. 32. 165 Jakobs AT 6/82. 166 BGH wistra 1999 465; BayObLG wistra 1996 78 f; Dannecker S. 396 f; Hassemer/Kargl NK Rdn. 15; Jäger SK Rdn. 12; Schmitz MK Rdn. 21; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 13 m.w.N.; Fischer Rdn. 3; Jakobs AT 4/61. 167 BGH NStZ 1994 465; OLG Karlsruhe NStZ 2001 654; OLG Stuttgart wistra 2003 31. 168 Jakobs AT 4/61.

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pus zusammenfasst, so z.B. das Unterhalten friedensgefährdender Beziehungen, die Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht oder die Förderung der Prostitution. Auch bei solchen Bewertungseinheiten dürfen Strafschärfungen nicht berücksichtigt werden, wenn sie erst nach Vollendung, aber vor Beendigung der Handlung in Kraft getreten sind.169 Lediglich dann, wenn keine unteilbare Tat vorliegt, sondern – wie bei den Dauerde59 likten – eine Vielzahl von im Prinzip unterscheidbaren Tatbestandsverwirklichungen gegeben ist, die als eine Tat abgeurteilt werden, kann der Täter aus dem neuen Straftatbestand verurteilt werden, soweit dies sein Verhalten ab Inkrafttreten des Gesetzes betrifft. Wenn eine Qualifizierung nach partieller Verwirklichung des Grunddelikts, 60 aber vor Verwirklichung des qualifizierenden Merkmals in Kraft tritt, darf die Verschärfung gleichwohl nicht zur Anwendung kommen. Wenn nämlich der Gesetzgeber zur Vermeidung unangemessen weiter Strafrahmen für denselben Deliktstypus unterschiedliche Wertstufen bildet, indem er den Regelstrafrahmen bei Hinzutreten bestimmter Merkmale durch einen verschärften oder gemilderten Strafrahmen ergänzt, werden dadurch in sich abgeschlossene Tatbestände gebildet. Dies steht einer Berücksichtigung der Verschärfung nach Begehung des Grunddelikts, aber vor Beendigung der Tat entgegen.170 Deshalb dürfte eine Qualifizierung der Körperverletzung als „Körperverletzung mit Verlassen in hilfloser Lage“ nach der Verletzung, aber vor dem Verlassen nicht mehr zur Anwendung kommen, weil das Verlassen sonst rückwirkend an den Grundtatbestand angebunden würde.171 IV. Regelungsgehalt des § 2 Abs. 3: Anwendung des mildesten Gesetzes bei Gesetzesänderungen zwischen Beendigung der Tat und Entscheidung 61

§ 2 Abs. 3 bestimmt, dass das Rückwirkungsverbot nicht gilt, wenn es sich zum Nachteil des Betroffenen auswirken würde, und ordnet das Prinzip der Meistbegünstigung172 an. Bei Änderungen der Rechtslage zwischen Tatbeendigung und Entscheidung soll die dem Betroffenen günstigste Rechtslage gelten. Dadurch soll verhindert werden, dass der Täter noch aus einem Tatbestand verurteilt wird, den der Gesetzgeber selbst nicht mehr für angemessen erachtet.173 Allerdings kann der Gesetzgeber im Einzelfall etwas anderes bestimmen, wenn er die frühere Gesetzeslage für die Altfälle weiterhin als angemessen ansieht.174

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1. Milderungsgebot als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips und als Ausprägung verhältnismäßiger Gerechtigkeit. § 2 Abs. 3 entspricht mit der Regel, dass bei Änderung des Strafgesetzes zwischen Beendigung der Tat und Entscheidung das mildeste Gesetz anzuwenden ist, inhaltlich der Regelung des § 2 Abs. 2 StGB 1871 (siehe dazu Entstehungsgeschichte vor Rdn. 1) und damit zugleich rechtsstaatlicher Tradition.175 Der lex mitior-Grundsatz ist „fester Bestandteil eines auf rechtsstaatlichen Grundsätzen aufbauenden und unseren staats- und straftheoretischen Auffassungen entsprechenden

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169 Dannecker S. 396. 170 Dannecker S. 397. 171 Jakobs AT 4/61 Fn. 93. 172 F.-C. Schroeder FS Bockelmann 785, 790; siehe auch Blaue ZJS 2014 371 ff. 173 RGSt 21 294; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 14 m.w.N.; Jäger SK Rdn. 8b; Maurach/Zipf § 12 Rdn. 12. 174 BGHSt 42 113, 119 f. 175 So schon Dreher JZ 1953 424; zur Bedeutung des Merkmals „bei Beendigung der Tat“ s. Rdn. 13.

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Strafrechts“.176 Es handelt sich daher – entgegen der h.M.177 – um einen Grundsatz mit Verfassungsrang.178 Das Milderungsgebot trägt dem Gebot verhältnismäßiger Gerechtigkeit Rech- 63 nung. Denn es beruht auf dem Grundgedanken, dass in einem der Gegenwart angehörenden Urteil nicht die durch den Wandel der Rechtsanschauung überwundene Strenge der Vergangenheit zum Ausdruck gelangen soll. Jeder Wandel der Auffassung über Recht und Unrecht oder über die Schwere einer Tat und damit über die Strafwürdigkeit soll dem Täter auch für frühere Taten zugutekommen.179 Auch wenn der Gesetzgeber die Strafdrohung aus general- oder spezialpräventiven Gründen für zu hoch erachtet und sie deshalb herabsetzt, enthält das neue Recht die richtigere, geläuterte kriminalpolitische Konzeption und trägt den Anforderungen der Strafbedürftigkeit und der Angemessenheit der Strafdrohung als Ausprägungen des rechtsstaatlichen Willkürverbots und der Verhältnismäßigkeit Rechnung.180 In diesen Fällen entspricht die Berücksichtigung nachträglicher Strafrechtsmilderungen ebenso rechtsstaatlichen Grundsätzen wie das Verbot der Rückwirkung von Strafschärfungen. Deshalb darf der Richter ein Gesetz nicht mehr anwenden, zu dessen Existenzberechtigung bzw. Strenge sich der Gesetzgeber im Entscheidungszeitpunkt nicht mehr bekennt.181 Er soll nicht in die Lage gebracht werden, nach einer Norm zu verurteilen, die im Widerspruch zu der einer Gesetzesänderung zugrunde liegenden gewandelten Rechtsüberzeugung des Gesetzgebers steht,182 sondern das „neuere, jetzt als das vernünftigere, bessere, humaner erachtete Strafrecht“ anwenden.183 Auf diese Weise wird die Kohärenz der Rechtsordnung gewahrt. Teilweise wurde das Milderungsgebot auch auf Billigkeitserwägungen gestützt.184 64 Die Besonderheit von Billigkeitsentscheidungen liegt im Erfordernis einer persönlichen Wertung, die es ermöglicht, in Fällen, „deren besondere, eigenartige Merkmale sich derart vom Durchschnitt abheben, dass sie der rechtlichen Gleichbehandlung durch die abstrakte Norm widerstreben und wegen ihrer relevanten Ungleichheit eine ihrer Eigenheit entsprechende Beurteilung und Lösung fordern, […] dem besonderen Einzelfall sein Recht zu gewähren“.185 Billigkeitsentscheidungen berichtigen die Allgemeinheit des Gesetzes186 und passen eine Regel infolge neuer Erkenntnisse, Erfahrungen, Gerechtigkeitsvorstellungen oder Sozialverhältnisse den veränderten Umständen an. Es wird eine neue Regel gesetzt, die zukünftig auf alle Fälle, auf welche derselbe „Billigkeitsgesichtspunkt“ zutrifft, anzuwenden ist.187 Beim Milderungsgebot wird jedoch nicht für den Einzelfall ein neues, eigenes Gesetz gesucht, das sich schließlich gleichfalls zu einem allgemeinen Gesetz erheben lässt, sondern der Einzelfall unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen

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176 Sommer S. 59. 177 BVerfG NJW 81 132, 136 f; OLG Stuttgart NStZ-RR 1999 379, 380; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 14; Fischer Rdn. 4 mwN.; Jäger SK Rdn. 2. 178 Dannecker S. 407 ff; F.-C. Schroeder FS Bockelmann 785, 789; ders. NStZ 1997 216; Gaede AnwK Rdn. 3 f; Matt/Renzikowski/Renzikowski Rdn. 6; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 320 m.w.N.; vgl. auch Schünemann/Suárez/ Sanchez S. 135, 136 f. 179 F.-C. Schroeder FS Bockelmann 785, 789; vgl. auch Mohrbotter ZStW 88 (1976) 923 ff, 935. 180 F.-C. Schroeder FS Bockelmann 785, 789; vgl. auch Frister 5. Kap. Rdn. 2. 181 Dannecker S. 410 ff; F.-C. Schroeder FS Bockelmann 785, 789; Tiedemann FS Peters 193, 195; vgl. auch Maurach/Zipf § 12 Rdn. 12; Jäger SK Rdn. 28. 182 Dannecker S. 407 ff; Sommer S. 34 ff. 183 So schon RGSt 21 294. 184 So v. Liszt/Schmidt S. 116. 185 Henkel Einführung in die Rechtsphilosophie. Grundlagen des Rechts, 2. Aufl. (1977) S. 421. 186 Engisch Auf der Suche nach der Gerechtigkeit. Hauptthemen der Rechtsphilosophie (1971) S. 179 ff. 187 Weinberger FS Marcic Bd. 1 (1974) S. 409, 424.

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Normen entschieden. Damit handelt es sich aber um eine Gerechtigkeits- und nicht um eine Billigkeitsentscheidung.188 Demnach kann festgehalten werden, dass das Milderungsgebot dem Erfordernis, 65 dass zum Urteilszeitpunkt eine gesetzliche Eingriffsermächtigung vorliegen muss, die in Kraft und damit gültig ist, also dem Gesetzlichkeitsprinzip Rechnung trägt,189 und darüber hinaus den Anforderungen der verhältnismäßigen Gerechtigkeit entspricht. Nachdem bereits der Europäische Gerichtshof das Milderungsgebot als allgemeinen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrecht angesehen hatte,190 ist das Milderungsgebot nunmehr durch Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh, auf die Art. 6 Abs. 1 EUV ausdrücklich Bezug nimmt, auch auf Unionsebene bei der Durchsetzung des EU-Rechts gewährleistet.191 Es genießt seit Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon Primärrechtsrang (Rdn. 213 ff). In Anbetracht des unionsrechtlich explizit garantierten Verfassungsrangs des Milderungsgebots (Rdn. 84) bleibt abzuwarten, ob auch das Bundesverfassungsgericht in Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung, dass dem lex mitior-Grundsatz nur der Rang eines einfachen Bundesgesetzes zukomme,192 den Verfassungsrang des Milderungsgebots anerkennen wird.193 Im Ergebnis sieht auch der EGMR194 in seiner neueren Rechtsprechung das Milderungsgebot im Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit verankert, von dem Art. 7 EMRK ein wesentlicher Teil sei. Die Verpflichtung, unter mehreren Strafvorschriften die dem Beschuldigten günstigste anzuwenden, sei eine Klarstellung der Regeln über die zeitliche Folge von Strafgesetzen, die einem wesentlichen Element des Art. 7 EMRK entspricht: der Vorhersehbarkeit von Strafen (näher dazu Rdn. 235). 66

2. Milderungsgebot bei milderen Zwischengesetzen. Wenn das Gesetz, das bei Beendigung der Tat gilt, vor der Entscheidung geändert wird, ist gemäß § 2 Abs. 3 das mildeste Gesetz anzuwenden.195 Der relevante Zeitraum erstreckt sich somit von der Beendigung der Tat bis zur letztinstanzlichen Entscheidung. Die Meistbegünstigung ist auch noch in der Revisionsinstanz zu beachten.196 Voraussetzung für die Berücksichtigung des Meistbegünstigungsprinzips soll allerdings nach der Rechtsprechung, die eine Anwendung von Amts wegen ablehnt, die Erhebung der allgemeinen Rechtsrüge sein.197 Diese restriktive Anwendung des Meistbegünstigungsprinzips ist jedoch mit dem Grundgedanken dieses Prinzips, der Willkürfreiheit und des allgemeinen Vertrauensschutzes (Rdn. 69), nicht vereinbar, denn der Betroffene hat nur bedingten Einfluss auf den Zeitpunkt seiner Verurteilung.198 Milderungen nach rechtskräftiger Entscheidung können nur noch im Gnadenweg berücksichtigt werden,199 wenn nicht eine Wiederaufnahme erfolgt, in der § 2 Abs. 3 ebenfalls anwendbar ist (Rdn. 131).

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188 Vgl. auch Radbruch Rechtsphilosophie, 5. Aufl. (1956) S. 123. 189 Vogel in Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht EU S. 91, 95; dies verkennt Gross EuZW 2005 371, 373. 190 Bereits zuvor EuGH EuZW 2005 369, 371, der den Meistbegünstigungsgrundsatz als allgemeinen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts ansah. 191 SSW/Satzger Rdn. 18; Gaede wistra 2011 365 ff. 192 BVerfGE 81 132, 135; BVerfG NJW 1990 1103, 1103; NJW 1993 321, 322; NJW 2008 3769, 3770. 193 Dazu auch Bohlander StraFo 2011 169, 171; Dannecker FS Kindhäuser S. 67 ff; Gaede wistra 2011 365, 369 f; Jahn/Brodowski FS Neumann 883, 887 f; Satzger FS Kühl 407, 415 f; SSW/Satzger Rdn. 17. 194 EGMR Urt. v. 17.9.2009 – 10249/03 (Scoppola v. Italien Nr. 2) = HRRS 2011 Nr. 600. 195 BGHSt 39 353, 370; NStE Nr. 6 zu § 2; BGH NStZ 1992 535 mit Anm. Achenbach; OLG Bremen NStZ 2010 174, 174 f; Mitsch NStZ 2006 33 f; vgl. dazu auch Grünwald FS Kaufmann 433 ff. 196 BGHSt 20 77; BGH NStZ 1999 556. 197 BGH 26 94 mit abl. Anm. Küper NJW 1975 1329 f; dem BGH zust. Fischer Rdn. 12. 198 Schmitz MK Rdn. 70; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 17; SSW/Satzger Rdn. 20. 199 SSW/Satzger Rdn. 20.

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Die Gesetzesänderung kann sich auf das gesamte sachliche Recht, von dem das 67 „Ob“ und „Wie“ der Strafbarkeit abhängen, beziehen (Rdn. 86). Bei der Änderung kann es sich auch um ein Gesetz handeln, das zwischenzeitlich in Geltung war, zum Urteilszeitpunkt jedoch wieder außer Kraft gesetzt ist. Unter Umständen kann sich die Rechtslage im Zeitraum zwischen Tatbegehung und „Entscheidung“ auch mehrfach und dergestalt ändern, dass sich ein „Zwischengesetz“ als das für den Täter günstigste darstellt. Die Anwendung eines solchen milderen Zwischengesetzes kann nicht mit den oben dargestellten Gerechtigkeitsüberlegungen (Rdn. 63) begründet werden, weil nur das letzte Änderungsgesetz die Gerechtigkeitsvorstellungen des aktuellen Gesetzgebers wiedergibt.200 Die Berücksichtigung des mildesten Zwischengesetzes wird daher von der h.M. zu Recht als Problem der Willkürfreiheit und des allgemeinen Vertrauensschutzes, die Bestandteile des Rechtsstaatsprinzips sind, teilweise auch als Problem des verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbots gesehen.201 Der EGMR hat im Verfahren Scoppola v. Italy No. 2 unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Grundrechtecharta der Union und die Rechtsprechung des EuGH entgegen seiner bisherigen Rechtsprechung202 entschieden, dass Art. 7 EMRK den Meistbegünstigungsgrundsatz umfasse.203 a) Anforderungen der Willkürfreiheit und des Vertrauensschutzes. Unter dem 68 Gesichtspunkt der „verbessernden Rechtserkenntnis“ muss das mildere Zwischengesetz dem Täter nicht zugutekommen, weil der Gesetzgeber von der milderen Beurteilung wieder abgerückt ist und sich nunmehr zu dem strengeren Entscheidungszeitrecht bekennt. Vielmehr sind die Grundsätze der Täuschungsfreiheit und des Vertrauensschutzes heranzuziehen, um zu rechtfertigen, dass die Begünstigung des Betroffenen nicht vom Zeitpunkt seiner Verurteilung abhängen darf, auf den er keinen Einfluss hat.204 Dies hat zur Folge, dass nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts im Falle einer kurzzeitigen Ahndungslücke, die durch ein Versäumnis des Gesetzgebers entstanden ist, das mildeste Gesetz für den Täter ausnahmsweise nicht zur Anwendung kommen muss.205 b) Vorgaben des verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbots. Weiterhin be- 69 ruht das Milderungsgebot bei milderen Zwischengesetzen auf dem verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 2 GG), das im Falle einer Nichtberücksichtigung eines milderen Zwischengesetzes verletzt wäre.206 Wenn man mit der in der Literatur vertretenen Auffassung aus Art. 103 Abs. 2 GG das Erfordernis voller Unrechtskontinuität herleitet (Rdn. 100), kommt es darauf an, dass das inzwischen aufgehobene Gesetz bis zur gerichtlichen Entscheidung ohne Unterbrechung fortgegolten hat. Das Bundesverfassungsgericht hat demgegenüber ausgeführt, Art. 103 Abs. 2 GG solle nur verhindern, dass jemand aufgrund eines Gesetzes bestraft wird, das zur Zeit der Tat noch nicht in Kraft gewesen war, dem Täter also noch nicht bekannt sein konnte. Deshalb verletze die Verhängung von Strafe oder Geldbuße das Rückwirkungsverbot nicht schon deshalb, weil die Tat in der Zeit zwischen ihrer Begehung und der Entscheidung vorübergehend

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200 Dannecker S. 407 ff; Sommer S. 34 ff. 201 Hassemer/Kargl NK Rdn. 22. 202 EGMR Entsch. v. 6.3.1978 – 7900/77 (X. v. Germany) = DR 70, 72. 203 EGMR HRRS 2011 Nr. 600 Rdn. 103 ff, 107. 204 Hassemer/Kargl NK Rdn. 23; Schmitz MK Rdn. 23; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 27; im Erg. ebenso Jakobs AT 4/68. 205 So BVerfGE 81 132 ff; näher dazu Rdn. 80 ff. 206 Grünwald FS Kaufmann II, S. 433 ff; Jäger SK Rdn. 14 ff; Hassemer/Kargl NK Rdn. 23.

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nicht mit Strafe oder Geldbuße bedroht war.207 Dieser Auffassung ist zuzustimmen: Die Sanktionsandrohung bestand in diesen Fällen bereits vor der Tat, so dass die Androhung von Strafe ihre abschreckende Wirkung entfalten konnte. Das Rückwirkungsverbot muss als unabdingbares Menschenrecht nur gewährleisten, dass sich der Bürger bei der Entscheidung über ein bestimmtes Verhalten an der Rechtsordnung orientieren und auf die gesetzgeberische Entscheidung verlassen kann. Hierin liegt der Bezug zur Menschenwürde, die es verbietet, den Bürger verantwortlich zu erklären, wenn er nicht vor Begehung der Tat die Grenzen seiner Freiheit nach dem Gesetz vorhersehen konnte. Wenn der Gesetzgeber seine Aufgabe erfüllt und die Abgrenzung zwischen erlaubtem und verbotenem Verhalten gezogen hat, ist dem nullum crimen-Satz als Bestandteil der unveräußerlichen Menschenrechte Rechnung getragen. Außerdem war die Strafbarkeit für den Bürger vorhersehbar; das Strafgesetz hat als zur Tatzeit gültiges Gesetz seine Funktion als Bestimmungsnorm erfüllt und eine autonome Entscheidung des Bürgers ermöglicht. Schließlich wird durch den strafrechtlichen Gesetzesvorbehalt sichergestellt, dass der Richter an das jetzt geltende Gesetz gebunden ist und zum Zeitpunkt des Eingriffs eine gültige Ermächtigung vorliegt. Auch diese Anforderungen sind erfüllt. Daher steht das Rückwirkungsverbot der Bestrafung im Falle einer zwischenzeitlich entstandenen Ahndungslücke (dazu sogleich Rdn. 70 ff) nicht generell entgegen, sondern nur dann, wenn die Straftat während der Ahndungslücke begangen worden ist. Allerdings wird die Nichtberücksichtigung einer nach Tatbegehung eingetretenen zwischenzeitlichen Gesetzesaufhebung unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes problematisch, wenn die Straflosigkeit über eine längere Zeitspanne besteht208 und nicht nur wenige Wochen andauert (Rdn. 81).209 70

3. Milderungsgebot und intertemporale Ahndungslücken. Im Kontext gesetzlicher Neuregelungen treten immer wieder Fehler des Gesetzgebers auf, die zu einer Ahndungslücke führen.210 Diesbezüglich stellt sich die Frage, ob der Gesetzgeber nachträglich die Ahndungslücke schließen kann und welche verfassungsrechtlichen Grenzen hierbei bestehen (Rdn. 80 f). Zuvor muss jedoch festgestellt werden, dass eine Ahndungslücke vorliegt. Diese Frage ist dem Eingreifen des Milderungsgebots vorgelagert.

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a) Anforderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung an eine Ahndungslücke. Als aktuelles Beispiel für die Anforderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung an das Vorliegen einer Ahndungslücke kann die Strafbarkeit der Marktmanipulation durch das Erste Finanzmarktnovellierungsgesetz genannt werden, bei der es nach Auffassung der Literatur zu einer eintägigen temporalen „Ahndungslücke“ gekommen ist,211 weil der deutsche Gesetzgeber die bisherigen Strafnormen der Marktmanipulation durch eine sonstige Täuschungshandlung bereits zum 2. Juli 2016 aufgehoben und außer Kraft gesetzt hat.212 Zwar hat der Gesetzgeber die neuen Strafvorschriften be-

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207 So BVerfGE 81 132, 138. 208 Vgl. BVerfGE 81 132, 137. 209 Dannecker S. 433. 210 Dazu bereits BGH NStZ 1992 535, 536 (Kälbermastentscheidung). 211 Das Vorliegen einer Ahndungslücke bejahend Bergmann/Vogt wistra 2016 347, 351; Bülte/Müller NZG 2017 205, 210 f; Gaede wistra 2017 41, 46; Jäger SK Rdn. 19; Jahn/Brodowski FS Neumann 883, 893 ff; Lorenz/Zierden HRRS 2016 443, 448; Möllers/Herz JZ 2017 445, 446 ff; Rothenfußer/Jäger NJW 2016 2689, 2691 ff; Rothenfußer AG 2017 149 ff; Rossi ZIP 2016 2437, 2443; Szesny BB 2017 515, 518; zur höchstrichterlichen Rechtsprechung s. Rdn. 72 ff. 212 Art. 17 Abs. 1 FiMaNoG lautet: „Artikel 1 Nummer 1 bis 3, 5, 8 bis 18, 21, 22, 28 bis 38, 40, Artikel 3 Nummer 8, 12, 13 Buchstabe b und Nummer 14, die Artikel 5, 7 und 9 Nummer 2 und Artikel 16 treten am 2. Juli 2016 in Kraft.“

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reits zum 2. Juli 2016, also gleichsam „nahtlos“ in Kraft gesetzt. Diese verwiesen auf die Vorschriften der MAR (Market Abuse Regulation) als blankettausfüllende Verhaltensnormen, die jedoch erst ab dem 3. Juli 2016 in Geltung traten, also erst einen Tag bzw. 24 Stunden später als die Außerkraftsetzung der alten, die Strafbarkeit begründenden Normenkette. Hierbei handelte es sich offenbar um ein kurioses Versehen, zu dem es im Rahmen des komplexen Gesetzgebungsprozesses gekommen war.213 aa) Anforderungen des Bundesgerichtshofs an eine Ahndungslücke. Der 5. Straf- 72 senat des Bundesgerichtshofs214 verneinte in Bezug auf das FiMaNoG mit Beschluss vom 10.1.2017 das Vorliegen einer Ahndungslücke,215 obwohl die in Bezug genommenen unionsrechtlichen Regelungen, die die zu sanktionierenden Verbote statuierten, erst seit dem 3.7.2016 in den Mitgliedstaaten der EU als unmittelbar geltendes Recht anwendbar seien. Die Verweisungen in den Strafgesetzen auf die unionssrechtlichen Vorschriften am 2.7.2016 seien gleichwohl nicht „ins Leere“ gegangen. Vielmehr führten die Bezugnahmen in den Strafnormen dazu, dass die EU-rechtlichen Regelungen bereits vor ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit durch den Bundesgesetzgeber im Inland für (mit)anwendbar erklärt worden seien. Es sei der Wille des deutschen Normgebers ersichtlich, unionsrechtliche Vorschriften ungeachtet ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit im nationalen Recht in eine Blankettnorm aufzunehmen. Es sei daher nicht zweifelhaft, dass der Gesetzgeber eine lückenlose Ahndung von Marktmanipulationen und Insiderhandel erreichen wollte. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs ist erkennbar von dem Willen getragen, 73 eine Ahndungslücke für den 2.7.2016 zu verneinen. Dies konnte das Gericht nur dadurch erreichen, dass es zu dem Ergebnis kam, der nationale Gesetzgeber habe in der Strafnorm nicht auf die außerstrafrechtliche, am 2.7.2016 noch nicht anwendbare Verbotsnorm verwiesen, sondern lediglich mit der Strafnorm den Verordnungswortlaut in Bezug genommen, so dass sich das Verbot aus dem Strafgesetz selbst und nicht aus der in Bezug genommenen EU-Verordnung ergibt. Die Verordnung, deren Wortlaut in Bezug genommen worden sei, ist aber erst am 3.7.2016 in Kraft getreten.216 bb) Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts zum Vorliegen einer Ahn- 74 dungslücke. Das Bundesverfassungsgericht 217 verneint in seinem Nichtannahmebeschluss, ebenso wie der Bundesgerichtshof, eine Ahndungslücke mit der Begründung, das nationale Strafrecht nehme nicht zwingend die außerstrafrechtliche Verbotsnorm in Bezug, die in Geltung sein müsse, sondern könne auch lediglich den Wortlaut der Verbotsnorm in Bezug nehmen und so – losgelöst von der Rechtsgeltung der in Bezug genommenen Regelung – zur Bestrafung ermächtigen. Dies sei eine Frage der Auslegung, die im vorliegenden Zusammenhang zur Verneinung einer Ahndungslücke führe. Zur Begründung hebt das Bundesverfassungsgericht zunächst zutreffend hervor, dass sich das erstinstanzlich zuständige Landgericht auf den zum Zeitpunkt der Verkündung des Urteils noch gültigen Tatbestand des vorsätzlichen Insiderhandels (§ 38 Abs. 1 Nr. 1,

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213 Erstmals Rothenfußer in Börsen-Zeitung vom 7.7.2016, S. 13; eingehend Rothenfußer/Jäger NJW 2016 2689, 2690; siehe auch Jäger SK Rdn. 19 ff; Gaede wistra 2017 41 ff, jeweils m.w.N. 214 BGH EWiR 2017 165 m. Anm. Janssen/Wessing; NJW 2017 966 m. Anm. Rossi; NStZ 2017 234 m. Anm. Pananis; NZG 2017 236 m. Anm. Brand/Hotz; NZWiSt 2017 146 m. Anm. Bergmann/Vogt; WuB 2017 309 m. Anm. Moellers/Herz. 215 Ebenso Klöhn/Bittner ZIP 2016 1801 ff; Hippeli jurisPR-HaGesR 2017 Anm. 5. 216 Kritisch dazu Bülte NZG 2017 205 ff. 217 BVerfG Beschl. v. 3.5.2018 –2 BvR 463/17.

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Abs. 2 Nr. 1, § 14 Abs. 1 Nr. 1 WpHG in der bis zum 1. Juli 2016 geltenden Fassung) stützen konnte. Die erstinstanzliche Entscheidung sei damit jedenfalls vor Eintritt der geltend gemachten Ahndungslücke ergangen. Sodann wird klargestellt, dass ein Verstoß gegen § 2 Abs. 1, 2 und 5 StGB, der in der Anwendung der zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung statt der zum Tatzeitpunkt geltenden Gesetzesfassung liegt, ohne verfassungsrechtliche Relevanz sei, weil das BVerfG das Milderungsgebot als einfachrechtlichen Rechtsgrundsatz einordnet (kritisch dazu Rdn. 62 ff, insbes. 65). Die im Tatzeitpunkt und im Zeitpunkt der Urteilsverkündung geltenden Gesetzesfassungen wiesen im Übrigen keine wesentlichen Unterschiede auf. Die zwischenzeitliche Straflosigkeit und damit das Meistbegünstigungsprinzip werden vom BVerfG, entsprechend seiner bisherigen Rechtsprechung (Rdn. 95), als verfassungsrechtlich grundsätzlich irrelevant angesehen. 75 Anschließend erklärt das BVerfG die Annahme des BGH für verfassungsrechtlich unbedenklich, dass es zu keiner Ahndungslücke gekommen sei, weil in § 38 Abs. 3 Nr. 1 WpHG die ab dem 2. Juli 2016 geltende – wenn auch erst ab dem 3. Juli 2016 anwendbare – Fassung in Bezug genommen worden sei. Denn Verweisungen in Blankettgesetzen seien regelmäßig ein bloßer Verzicht, den Text der in Bezug genommenen Vorschriften in vollem Wortlaut in die Verweisungsnorm aufzunehmen;218 der in Bezug genommene Normtext werde in die Verweisungsnorm inkorporiert, so dass letztere autonom und unabhängig von der Bezugsnorm die Rechtsfolge bestimmt. Es komme nicht darauf an, ob die Bezugsnorm ihrerseits eine Rechtsfolge ausspricht und bereits „gilt“ oder noch nicht „gilt“.219 Voraussetzung einer wirksamen Inbezugnahme sei lediglich, dass die in Bezug genommenen Vorschriften dem Normadressaten durch eine frühere ordnungsgemäße Veröffentlichung zugänglich sind; die Strafbarkeit seines Verhaltens sei für den Normunterworfenen dann in gleicher Weise vorhersehbar, als wäre der Normtext in die Blankettnorm aufgenommen worden. Abschließend verneint das BVerfG den Verfassungsrang des Meistbegünsti76 gungsprinzips und stellt diesbezüglich fest:220 „Der Ausschluss des Prinzips der Meistbegünstigung in § 2 Absatz 3 StGB und § 4 Absatz 3 OWiG stellt keinen Verstoß gegen Artikel 103 Absatz 2 des Grundgesetzes dar, da das Prinzip der Meistbegünstigung verfassungsrechtlich nicht geboten sei und daher durch einfachgesetzliche Regelung abbedungen werden kann (so BVerfG, Beschluss vom 18. September 2008 – 2 BvR 1817/08). Ebenso steht Artikel 49 Absatz 1 Satz 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GR-Charta) der Regelung nicht entgegen, da dieser nach Maßgabe des Artikels 52 Absatz 1 GR-Charta eingeschränkt werden kann. Für die hier vorgenommene Einschränkung von Artikel 49 Absatz 1 Satz 2 GR-Charta ist nicht ersichtlich, dass der unionsrechtliche Grundrechtsschutz strengere Anforderungen aufstellen würde als der grundgesetzliche Grundrechtsschutz für eine Einschränkung der einfachgesetzlichen Regelungen in § 2 Absatz 3 StGB und § 4 Absatz 3 OWiG.“ Zu Art. 49 Abs. 2 Satz 2 GRCh nimmt das BVerfG nicht Stellung. 77

cc) Stellungnahme zu den Entscheidung der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Das BVerfG erklärt die Auffassung des BGH bezüglich des Vorliegens einer Ahndungslücke für verfassungsrechtlich vertretbar und verneint eine Ahndungslücke mit schlüssiger Argumentation, die gleichwohl konstruiert und auf den ersten Blick wenig

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218 Vgl. dazu BVerfGE 47 285, 312; 143 38, 55. 219 Unter Berufung auf BVerfGE 8 274, 302 f; 11 203, 218; BVerfG Beschl. v. 19.12.1991 – 2 BvR 836/85, Rdn. 39 und 42 f. 220 BVerfG Beschl. v. 3.5.2018 – 2 BvR 463/17; Beschl. v. 13.6.2018 – 2 BvR 375/17.

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Zeitliche Geltung | § 2

überzeugend erscheint, weil der nationale Strafgesetzgeber explizit auf das Verbot in der EU-Verordnung und nicht auf deren Wortlaut verweist.221 Dabei wird zutreffend zwischen einem Verhalten, das vor Entstehung der Ahndungslücke stattgefunden hat, und dem Verhalten danach unterschieden. Das erstinstanzlich zuständige Landgericht, so das BVerfG, habe die Verurteilung auf den damals noch gültigen Tatbestand des vorsätzlichen Insiderhandels (§ 38 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1, § 14 Abs. 1 Nr. 1 WpHG in der bis zum 1. Juli 2016 geltenden Fassung) stützen können. Dieser Straftatbestand wurde danach durch die Neuregelung des Strafrechts außer Kraft gesetzt. Diese Feststellung ist zutreffend, da sich Gesetzesänderungen, seien sie außerstrafrechtlicher oder strafrechtlicher Natur, nach den allgemeinen Regeln über das In-Kraft-Treten und die Derogation von Gesetzen bestimmen (Rdn. 11). Für ihre Geltung müssen Gesetze von dem zuständigen Gesetzgebungsorgan in einem ordnungsgemäßen Verfahren erlassen, ausgefertigt und in der vorgeschriebenen Form verkündet worden sein. Außerdem müssen sie in Kraft getreten und geblieben sein und dürfen nicht in Widerspruch zu einer geltenden ranghöheren Rechtsquelle stehen (Rdn. 12). Das „Außergeltungtreten“, die Derogation des Gesetzes, ist hier durch die Neuregelung erfolgt. Da die Geltung eines Gesetzes auf dem Willen des Gesetzgebers beruht und durch Verabschiedung der „lex posterior“ der gesetzgeberische Wille, der für die Geltung des alten Rechts konstitutiv war, aufgegeben wird, ist das frühere Gesetz ganz weggefallen. Nur die neue Regelung beansprucht alleinige und umfassende Geltung. Das BVerfG greift bei der Bestimmung der Ahndungslücke zu Recht nicht auf § 2 StGB zurück, da diese Regelung – entgegen der h.M. im Strafrecht – nicht die Geltung, sondern nur den zeitlichen Anwendungsbereich betrifft (Rdn. 16). Sodann wirft das Bundesverfassungsgericht die Frage nach dem Inhalt der straf- 78 rechtlichen Neuregelung auf, ob sie auf die (erst ab dem 3.6.2016 geltende) unionsrechtliche Verbotsnorm verweist – dann muss sie in Geltung sein – oder nur den Wortlaut der EU-Verordnung in Bezug nimmt. Dies wird vom Bundesverfassungsgericht zutreffend als Problem der Auslegung behandelt und, da es um Strafrecht geht, an den Vorgaben des Bestimmtheitsgebots (Art. 103 Abs. 2 GG) gemessen. § 2 StGB, der den zeitlichen Anwendungsbereich regelt, nicht aber die staatsrechtlichen Geltungsregeln modifiziert,222 bleibt bei den Überlegungen des Bundesverfassungsgerichts zu Recht außer Betracht. Das Bundesverfassungsgericht vertritt nun die Auffassung, dass der Gesetzgeber mit 79 der Neugestaltung der Strafvorschrift des 52 WpHG zum Ausdruck gebracht habe, dass die neu eingeführte strafrechtliche Regelung losgelöst von der Anwendbarkeit der EUVerordnung als eigenständige nationale Regelung bereits ab dem 2.7.2016 anzuwenden sei, weil der Straftatbestand an diesem Tag in Geltung getreten sei. Durch den Straftatbestand sei das im Unionsrecht genannte Verbot nicht in Bezug genommen worden, sondern lediglich der Wortlaut, und der Gesetzgeber habe die nationale Norm mit Inkrafttreten des Gesetzes für anwendbar erklären wollen. Diese Möglichkeit steht dem Gesetzgeber grundsätzlich offen. Man kann nun berechtigte Zweifel an dieser Auslegung des Strafgesetzes haben.223 Der vom Bundesverfassungsgericht gewählte Weg war jedenfalls richtig und wurde konsequent verfolgt: Zunächst wurde das Inkrafttreten der Strafnorm des § 52 WpHG geprüft und der Zeitpunkt der Rechtsgeltung ab 2.7.2016 bestimmt. Sodann wurde als Inhalt der Regelung die Inbezugnahme des Wortlauts der unionsrechtlichen Verbotsnorm im Wege der Auslegung ermittelt und diese Auslegung als für den

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Eingehend dazu Jäger SK Rdn. 21; s. auch Gaede wistra 2017 41, 42. Dannecker S. 230. Siehe dazu Gaede wistra 2017 41, 42.

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§ 2 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

Bürger vorhersehbar (Art. 103 Abs. 2 GG) bewertet. Die Regelung des Milderungsgebots kam somit nicht zum Tragen, zumal das Bundesverfassungsgericht das Milderungsgebot als Rechtsinstitut einfachen Rechts einordnet und deshalb nicht zur Prüfung des § 2 Abs. 3 StGB befugt war. b) Schließung einer Ahndungslücke durch den Gesetzgeber und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen. Wenn eine Ahndungslücke entstanden ist, stellt sich die Frage, ob eine nachträgliche gesetzgeberische Korrektur durch Außerkraftsetzung des Milderungsgebots mittels eines Gesetzes möglich ist.224 Teilweise wird eine Korrekturmöglichkeit mit Hinweis auf Vertrauensschutzgesichtspunkte225 und Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh226 verneint, mit der Folge, dass das Milderungsgebot Anwendung findet. Andere Autoren halten dagegen eine gesetzgeberische Korrektur ohne Verstoß gegen Verfassungs- und Unionsrecht für möglich.227 Das Bundesverfassungsgericht musste sich im Jahr 2008 hinsichtlich § 8 Abs. 3 81 FPersG mit der Vereinbarkeit einer nachträglichen gesetzgeberischen Korrektur einer mehrmonatigen Ahndungslücke durch Ausschaltung des Meistbegünstigungsprinzips befassen.228 Es hielt eine solche Korrektur für zulässig und verwies auf den einfachgesetzlichen Rang des Meistbegünstigungsprinzips, so dass ein Verfassungsverstoß nicht möglich sei. Auch ein Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz wurde verneint. Dieser Auffassung kann weder in der Begründung noch im Ergebnis zugestimmt werden: Die Entscheidung verkennt die verfassungsrechtliche Verankerung des lex mitior-Prinzips (Rdn. 62), und auch der Gleichheitssatz (Rdn. 71) findet keine hinreichende Berücksichtigung.229 Besteht die Straflosigkeit über mehrere Wochen, hier sogar über mehrere Monate, wäre eine eingehende Auseinandersetzung mit dem Willkürverbot erforderlich gewesen. Das Bundesverfassungsgericht lässt als sachliche Erwägung zur Rechtfertigung des Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG die in den Gesetzgebungsmaterialien angeführte Vermeidung ungerechtfertigter Straflosigkeit230 genügen.231 Das bloße Ziel der Reparatur gesetzgeberischer Pannen als sachlicher Grund zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung kann aber nicht überzeugen.232

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aa) Straftaten vor Entstehung einer Ahndungslücke. Richtigerweise ist zwischen Straftaten, die vor Bestehen der Ahndungslücke begangen wurden, und solchen im Zeitraum der Ahndungslücke zu differenzieren: Bezüglich der Altfälle vor Eintreten der Ahndungslücke muss der Gesetzgeber von der Möglichkeit Gebrauch machen, eine Ahndungslücke nachträglich durch Gesetz zu schließen, um eine gesetzliche Eingriffsermächtigung (Rdn. 80), die eine Verurteilung wegen der zwischenzeitlich straflos oder

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224 Zum Meinungsstand Cornelius Verweisungsbedingte Akzessorietät bei Straftatbeständen S. 427 ff. 225 Rossi ZIP 2016 2437, 2445 f; Schützendübel S. 168 ff; Sturm NStZ 2017 553, 559 f. 226 Gaede wistra 2017 41, 49; Jäger SK Rdn. 24; Köpferl Jura 2011 234, 240; Rothenfußer/Jäger NJW 2016 2689, 2694 f; Sturm NStZ 2017 553, 561. 227 Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 14, 27; Bülte/Müller NZG 2017 205, 214; Möllers/Herz JZ 2017 445, 449 f. 228 BVerfG NJW 2008 3769, 3770 im Hinblick auf § 4 Abs. 3 OWiG; davor OLG Düsseldorf NJW 2008 930, 931; vgl. weitere Fälle gesetzgeberischer Derogation des Meistbegünstigungsprinzips: Art. 316 d EGStGB bzgl. § 31 BtMG, dazu BGH NStZ 2010 523, 524; NStZ 2012 44, 45; § 39 Abs. 2 BNatSchG a.F. (BGBl. 1998 I 823, 831), bestätigt durch OLG Stuttgart NStZ-RR 1998 379, 380. 229 So auch Sturm NStZ 2017 553, 556. 230 BTDrucks. 16/5238 S. 8. 231 BVerfG NJW 2008 3769, 3770. 232 Rogall KK OWiG § 4 Rdn. 20; C. Schröder FS Mehle 597, 604; dazu auch Sturm NStZ 2017 553, 556.

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milder zu bestrafenden Tat, zu schaffen. Hierbei können sich verfassungsrechtliche Schranken aus Gründen des Vertrauensschutzes und der Willkürfreiheit ergeben (Rdn. 68). Werden diese Grenzen eingehalten, so bestand im Hinblick auf die vor Eintreten der Ahndungslücke begangenen Straftaten eine zu diesem Zeitpunkt noch wirksame Strafandrohung, die dem Bürger ermöglicht hat, sein Verhalten entsprechend auszurichten. Wenn zwischenzeitlich eine Ahndungslücke aufgetreten ist, muss der Gesetzgeber diese Lücke so zeitnah schließen, dass kein Vertrauen im Hinblick auf die zwischenzeitliche Straflosigkeit entstehen konnte und es auch nicht zu unter dem Gleichheitssatz fragwürdigen Verurteilungen kommen konnte. Dann ist eine Bestrafung auf der Grundlage des neuen, der Lückenschließung dienenden Gesetzes möglich. Hierfür reicht eine das frühere Gesetz aufhebende lex posterior aus, nach der die vor der Ahndungslücke begangene Straftat auch strafbar ist, wenn der Wille des Gesetzgebers erkennbar und vorhersehbar ist, dass die Ahndbarkeit von Verstößen durch unmittelbare Ablösung der alten Vorschriften hinreichend erkennbar zum Ausdruck gebracht hat. Jedoch darf der Bürger grundsätzlich darauf vertrauen, dass Änderungen der Rechtslage wegen neuer Rechtserkenntnis vom Gesetzgeber auch gewollt sind.233 Nur bei Ahndungslücken, denen ein legistischer Fehler infolge eines offensicht- 83 lichen Versehens des Gesetzgebers zugrunde liegt, darf der Bürger nicht darauf vertrauen, dass dieser Fehler nicht korrigiert wird.234 Dem steht auch Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh nicht entgegen.235 Daher bleiben Rechtsverstöße, die vor einer Ahndungslücke begangen werden, nur dann strafbar, wenn es sich um eine kurzfristige Ahndungslücke handelt, die der Gesetzgeber so zeitnah geschlossen hat, dass keine Bedenken unter dem Gesichtspunkt des Willkürverbots bestehen (vgl. Rdn. 69 aE). Seit Inkrafttreten der Grundrechtecharta ist das Milderungsgebot auf eine neue 84 Grundlage gestellt und mit Verfassungsrang garantiert, so dass einer nachträglichen Korrektur einer Ahndungslücke nunmehr die Unionsverfassung entgegenstehen kann.236 Eine Einschränkung des unionsrechtlichen Milderungsgebots ist nach Art. 52 Abs. 1 GRCh möglich (Rdn. 225 f), und zwar unter Achtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und des Wesensgehalts des eingeschränkten Rechts. Eine Einschränkung des Milderungsgebots in Fällen einer Ahndungslücke bei der Umsetzung von Unionsrecht könnte damit begründet werden, dass gleichheitswidrige Begünstigungen einzelner Bürger zu vermeiden sind, die nicht auf einer besseren Rechtserkenntnis des Gesetzgebers beruhen. Außerdem sollen Taten nicht ohne überzeugenden Grund ungeahndet bleiben, an deren Unrechtscharakter keine Zweifel bestehen, während vor der Gesetzgebungspanne abgeurteilte und nach ihrer Beseitigung begangene identische Taten uneingeschränkt bestraft werden. Bei einer solchen Argumentation bliebe jedoch unberücksichtigt, dass der Gesetzgeber bei der Strafgesetzgebung von vornherein unter einer besonderen Sorgfaltspflicht steht und dem Bestimmtheitsgebot Rechnung tragen muss. Ihm darf nicht gestattet werden, seine eigene Fehlleistung auf Kosten der Einschränkung eines europäischen Grundrechts ohne jede begrenzende Rechtfertigungslast zu korrigieren.237 Der Bürger darf gerade darauf vertrauen, dass gesetzliche Änderungen der Rechtslage vom Gesetzgeber auch tatsächlich gewollt sind. Der nicht sorgfältig arbeitende Gesetzgeber muss sich grundsätzlich an seiner Entscheidung festhalten lassen, wenn er keine Gründe

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233 Dazu Dannecker Handbuch des Strafrechts, Bd. 2, im Erscheinen, § 15 Rdn. 108. 234 So auch Bülte/Müller NZG 2017 205, 212 bzgl. des Vertrauensschutzes im Hinblick auf die Außerkraftsetzung des § 2 Abs. 3. 235 Zu Art. 49 Abs. 1 S. 2 GRCh Rdn. 212; näher auch Bülte/Müller NZG 2017 205, 212 ff. 236 Dazu Cornelius Verweisungsbedingte Akzessorietät bei Straftatbeständen (2016) S. 429 ff. 237 Gaede wistra 2011 365, 373.

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benennen kann, die über die allgemeinen Gründe für die Schaffung des Tatbestandes hinausgehen. Deshalb verstoßen Korrekturen unfreiwillig entstandener Ahndungslücken grundsätzlich gegen Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh und dürfen nicht mehr vorgenommen werden.238 Lediglich in Fällen offensichtlicher legistischer Fehler darf der Bürger nicht darauf vertrauen, dass der gesetzgeberische Fehler beibehalten und nicht korrigiert werden wird. 85

bb) Straftaten während der Ahndungslücke. Für den Zeitraum der Ahndungslücke fehlt es an einer gesetzlichen Verbotsnorm. Daher steht das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot einer nachträglichen Bestrafung entgegen, auch wenn es sich um einen offensichtlichen Fehler des Gesetzgebers gehandelt hat. Für den Zeitraum der Ahndungslücke darf der Bürger darauf vertrauen, dass Änderungen der Rechtslage wegen neuer Rechtserkenntnis vom Gesetzgeber auch gewollt sind.

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4. Bestimmung des mildesten „Gesetzes“. Eine Milderung kann sich aus Änderungen einer strafrechtlichen Regelung des Besonderen oder des Allgemeinen Teils ergeben, und zwar unabhängig davon, ob sich die Regelung auf die Strafbarkeitsvoraussetzungen oder die Rechtsfolge bezieht. Von der ganz h.M. wird § 2 Abs. 3 zu Recht so interpretiert, dass dann das Zwischengesetz dasjenige ist, das für den Täter das mildeste ist.239 Die völlige Aufhebung der Strafbarkeit bedeutet stets eine „Milderung“240 Gleiches gilt, wenn ein Strafaufhebungs- oder Strafausschließungsgrund eingeführt oder die Strafdrohung beschränkt wird241 oder wenn eine Straftat nachträglich in eine Ordnungswidrigkeit umgewandelt wird, auch wenn die zu verhängende Geldbuße höher als die nach dem früheren Gesetz mögliche Geldstrafe ist.242 Denn für den Vergleich der Rechtslage kann es nicht darauf ankommen, welche Auswirkungen der Täter als härter empfindet. Entscheidend ist der mit der Rechtsfolge verbundene Vorwurf, der dem Täter gegenüber erhoben wird. Der Vorwurf der Begehung einer Straftat ist aber stets schwerer als der einer Ordnungswidrigkeit. Auch die Herabsetzung der Verjährungsfrist muss zugunsten des Täters berücksichtigt werden.243 Die Verjährung richtet sich nach dem günstigeren Recht der Tatzeit, wenn unter Zugrundelegung des zur Tatzeit geltenden sachlichen Rechts die Strafverfolgung auch nach den zur Zeit der Aburteilung geltenden Verjährungsregeln verjährt ist.244 Dadurch kann erreicht werden, dass es nicht auf den zufälligen Aburteilungszeitpunkts ankommt, ob der Täter in den Genuss einer für ihn

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238 Gaede AnwK § 2 Rdn. 4; ders. wistra 2011 365, 367 ff; Grünwald FS Arthur Kaufmann Die Entwicklung der Rechtsprechung zum Gesetzlichkeitsprinzip 433, 435 ff; Schmitz MK § 2 Rdn. 18; Chr. Schröder FS Mehle 601 ff; Schützendübel Die Bezugnahme auf EU-Verordnungen in Blankettgesetzen (2012) S. 124; Staechelin BB 2000 1663 f; Ulsamer/Müller wistra 1998 1, 5 f; Jäger SK § 2 Rdn. 17. 239 Vgl. nur BGH NStZ 1992 535; Grünwald FS Arthur Kaufmann 433, 434 f; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 14, 27 m.w.N.; Hassemer/Kargl NK Rdn. 22 f m.w.N.; Jäger SK Rdn. 6; SSW/Satzger Rdn. 15; Schmitz MK Rdn. 23; Jakobs AT 4/68; Jescheck/Weigend § 15 IV 5. 240 Vgl. nur BGHSt 20 116, 119; 48 383; Jescheck/Weigend § 15 IV 5; Tiedemann FS Peters 193; ders. Wirtschaftsstrafrecht AT Rdn. 320; Roxin AT I § 5 Rdn. 62. 241 BGHSt 20 116, 119; OLG Köln NStZ 1991 498; BayObLG NJW 1976 527, 528; F.-C. Schroeder FS Bockelmann 785, 790 f; C. Schröder ZStW 112 (2000) 44, 56; Hassemer/Kargl NK Rdn. 25; Sch/Schröder/ Eser/Hecker Rdn. 19; Schmitz MK Rdn. 29; jeweils m.w.N. 242 BGHSt 12 148, 152; OLG Saarbrücken NJW 1974 1009; Dannecker S. 528; Hassemer/Kargl NK Rdn. 25; Jäger SK Rdn. 40; Schmitz MK Rdn. 29; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 320; aA OLG Köln NJW 1953 1156; Sommer S. 114 ff. 243 BGH NStZ 1999 556; Hassemer/Kargl NK Rdn. 43 m.w.N. 244 BGHSt 50 138, 140 ff mit Anm. Mitsch NStZ 2006, 32.

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günstigeren Gesetzeslage kommt.245 Das mildeste Zwischengesetz kommt auch zur Anwendung, wenn ein Gesetz infolge der Umwandlung eines Qualifikationstatbestandes in ein Regelbeispiel für einen besonders schweren Fall bei gleichem Strafrahmen den Eintritt der Verjährung zur Folge hat.246 Wenn ein Qualifikationstatbestand entfällt, ist der Täter nur aus dem Grundtatbestand zu verurteilen; hierbei ist zu bestimmen, ob der neue oder der alte Grundtatbestand der mildere ist.247 Auch bei der Frage der Verwertbarkeit von Vorstrafen handelt es sich um materielles Recht, so dass bei einer Gesetzesänderung zwischen Tat und Verurteilung das mildere Gesetz Vorrang hat.248 Wenn der persönliche Anwendungsbereich der für einen Straftatbestand entschei- 87 denden Aufenthaltsgenehmigungspflicht, zum Beispiel durch den Beitritt eines Staates zur Europäischen Union, beschränkt wird, soll diese ausländerrechtliche Rechtsänderung grundsätzlich nicht zur Beseitigung der Strafbarkeit führen.249 Dies, so der EuGH, folge bereits aus dem Grundgedanken des Milderungsgebots und der Überlegung, dass eine Aburteilung zu einem früheren Zeitpunkt nie zu einem Freispruch geführt hätte und – wegen der ex nunc-Wirkung der ausländerrechtlichen Rechtsänderung – auch nicht zu einem Freispruch hätte führen sollen, zumal eine gegenteilige Entscheidung darauf hinausliefe, diese Art von Arbeitskräftehandel ab dem Zeitpunkt zu fördern, zu dem ein Staat in den Prozess zum Beitritt zur Union eingetreten ist, weil die Händler Gewissheit hätten, später straffrei auszugehen.250 Wenn der Gesetzgeber die Tatbestandsvoraussetzungen modifiziert, so dass das Verhalten auch noch nach neuem Recht strafbar ist, muss zunächst geprüft werden, ob die Gesetzesänderung eine Fortsetzung der ursprünglichen Strafbarkeit darstellt oder wegen fehlender Unrechtskontinuität eine ersatzlose Streichung und Einführung eines neuen Straftatbestandes bedeutet. Umgekehrt ist die alte Rechtslage die eindeutig mildere, die deshalb der Verurtei- 88 lung zugrunde zu legen ist, wenn zuvor einschlägige Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe nach der Tat eingeschränkt werden. Gleiches gilt, wenn Strafaufhebungsgründe wie die strafbefreiende Selbstanzeige251 oder Strafmilderungsgründe wie § 46b252 an erhöhte Anforderungen anknüpfen und der Täter vor Änderung des Gesetzes die Voraussetzungen des Strafaufhebungs- oder Strafmilderungsgrundes Gebrauch erfüllt hat. a) Anforderungen an die Unrechtskontinuität. Wenn der Gesetzgeber nicht nur 89 Deliktstatbestände aufhebt, Deliktsfolgen mindert oder neue Strafbarkeitsausschließungsgründe schafft, sondern einzelne Tatbestandsmerkmale verändert oder Qualifikationen einführt oder neu gestaltet, reicht es nicht aus, die neue Rechtslage mit der alten zu vergleichen. Vielmehr setzt ein Vergleich verschiedener Gesetze, durch den das mildeste von ihnen ermittelt werden soll, voraus, dass das Wesen des in dem früheren Gesetz beschriebenen Delikts in seinem Kern von der Gesetzesänderung unberührt geblie-

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245 Schmitz NK Rdn. 23; vgl. auch Hassemer/Kargl NK Rdn. 23. 246 BGH NJW 2010 2365, 2366. 247 BGH wistra 2015 148, Rdn. 30 ff m.w.N. 248 BGH NStZ-RR 2008 342. 249 EuGH Urt. v. 6.10.2016 – C 218/15 (Paoletti u.a.); BGH wistra 2012 28; 2014, 23; NStZ 2005 408; zust. Mosbacher NStZ 2015 255 ff; SSW/Satzger Rdn. 22; aA Thuengerthal/Geißer NZWiSt 2014 412; Thuengerthal/Rothenhöfer wistra 2014 417; Thuengerthal/Rothenhöfer/ Hennecke NZWiSt 2014 445. 250 EuGH Urt. v. 6.10.2016 – C 218/15 (Paoletti u.a.), Rdn. 36 ff; ähnlich SSW/Satzger Rdn. 22. 251 BGH wistra 2011 428 Rdn. 51 f. 252 BGH wistra 2015 99 Rdn. 6.

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ben ist.253 Gibt der Gesetzgeber durch die völlige Umgestaltung einer Strafvorschrift zu erkennen, dass er nicht mehr das bisher verpönte, sondern ein ganz anders geartetes Verhalten als Unrecht betrachtet, so können die Straftatbestände des alten und des neuen Gesetzes nicht mehr zueinander in Beziehung gesetzt werden; anderenfalls würde Nichtvergleichbares miteinander verglichen. Bei einer Umgestaltung des Tatbestands ist deshalb zunächst zu prüfen, ob der Unrechtskern des Delikts erhalten geblieben ist oder ob ein neuer Unrechtstyp geschaffen wurde;254 im letzteren Falle ist die bisherige Strafvorschrift ersatzlos weggefallen; der Anwendung der neuen Strafvorschrift stehen dann das Rückwirkungsverbot und das Gebot der Gesetzesbestimmtheit entgegen.255 Das gilt auch dann, wenn die neue Strafvorschrift milder ist als die bisherige. Bei dem Erfordernis der Unrechtskontinuität zwischen altem und neuem Recht geht 90 es in der Sache darum, ob der Gesetzgeber mit dem neuen Gesetz zum Ausdruck bringt, dass nach seiner nunmehr geltenden Entscheidung die bisherige Regelung unzutreffend war und aus Gerechtigkeitsgründen bereits in der Vergangenheit nicht hätte angewendet werden sollen. Diese Entscheidung entzieht einer Bestrafung des damaligen Normverstoßes rückwirkend die gesetzliche Grundlage, mit der Folge, dass der Täter so zu behandeln ist, als hätte es das damalige Strafgesetz nicht gegeben. Hiervon zu trennen ist die Entscheidung des Gesetzgebers, die Altregelung habe den 91 Anforderungen der verhältnismäßigen Gerechtigkeit zwar im Wesentlichen entsprochen, gleichwohl sei eine gerechtere, das strafwürdige Verhalten besser erfassende Regelung möglich. Durch eine entsprechende Gesetzesänderung soll also für die damalige Straftat nicht die gesetzliche Grundlage des Strafens entzogen werden. Diese Abgrenzung erfolgt durch das Kriterium der Unrechtskontinuität. Der Bundesgerichtshof nimmt die Abgrenzung zwischen Gesetzen, die der Gesetzge92 ber für von Anfang an ungerecht erklären will, und solchen, die er nur im Interesse der Rechtsverbesserung durch neue Regelungen ersetzen, die Altfälle aber weiterhin bestrafen will, anhand des Rückwirkungsverbots und des Gebots der Gesetzesbestimmtheit (Art. 103 Abs. 2 GG) vor, die nur bei einer völligen Umgestaltung einer Strafvorschrift einem Vergleich des alten mit dem neuen Recht entgegenstehen, weil dann ein gemeinsamer Unrechtskern fehle. 93

aa) Gleichartigkeit der Schutzzwecke. Die Rechtsprechung stellt insgesamt keine hohen Anforderungen an das Vorliegen eines gemeinsamen Unrechtskerns. Da dem Täter die Milderung ohnehin schon zugutekommt, besteht die Tendenz, nur ausnahmsweise Straflosigkeit infolge fehlender Unrechtskontinuität anzunehmen. So hat es der Bundesgerichtshof erstmals in einer nicht veröffentlichten Entscheidung zu § 99, in der eine politische Straftat in Frage stand, als ausreichend angesehen, dass nur bei einer auf Andersartigkeit der Schutzzwecke beruhenden Wesensverschiedenheit von Tatbeständen eine Vergleichbarkeit ausscheide,256 das Bundesverfassungsgericht bestätigte, dass diese Auffassung nicht auf „sachfremden Gründen“ beruhte.257 Grundvoraussetzung des Vergleichs zwischen dem Rechtszustand nach altem und neuem Recht soll

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253 BGHSt 26 167, 172 f; Matt/Renzikowski/Basak Rdn. 2; Jäger SK Rdn. 32; SSW/Satzger Rdn. 19; Rogall KK OWiG § 4 OWiG Rdn. 26; Jakobs AT 4/73. 254 BGHSt 26 167, 172; 37, 320, 322 (zur Vergleichbarkeit von § 223a und §§ 115, 44 Abs. 1 DDR-StGB); Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 22. 255 BGHSt 26 167, 172; vgl. OLG Koblenz NStZ 1983 82. 256 BGH 6 StR 2/68, zitiert nach Blei I S. 52 f und Tiedemann FS Peters 193, 206. 257 BVerfGE 28 189 ff.

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sein, dass die betroffenen Normen „dasselbe Rechtsgut“ oder wenigstens übereinstimmende Komponenten des jeweiligen Rechtsgutes schützen (BGHSt 39 54, 68). Der Große Senat des Bundesgerichtshofs hat einen hinreichenden Zusammenhang angenommen bei Straßenraub258 und Raub zur Nachtzeit in einem bewohnten Gebäude259 im Verhältnis zum Raub mit Waffen gemäß § 250 Abs. 1 Nr. 2 StGB 1975 (BGHSt 26 167, 173).260 Er begründete dies damit, dass keine völlige Umgestaltung des Straftatbestandes vorliege, weil das Grunddelikt des Raubes als Unrechtskern fortbestehe. Der Unterschied der Qualifikation zu den Strafzumessungsregeln sei eine „formale Frage der Gesetzestechnik“261 Damit wurde das Erfordernis der Unrechtskontinuität in unzulässiger Weise auf den Grundtatbestand reduziert (näher dazu Rdn. 99). Auf diesen Beschluss nahm der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung zur Zulässigkeit eines Vergleichs des § 115 DDR-StGB (Körperverletzung), ergänzt um die Rückfallvorschrift des § 44 Abs. 1 DDR-StGB, mit § 223, ergänzt um die Qualifikation des § 223a a.F., Bezug und hielt eine Anwendung der gefährlichen Körperverletzung für zulässig, obwohl die DDR eine entsprechende Vorschrift nicht kannte.262 Weiterhin wurde die Kontinuität des Unrechtstyps im Verhältnis von § 239 Abs. 1 Nr. 1 KO a.F. zu § 283 Abs. 1 Nr. 1 in Übereinstimmung mit der h.M.263 bejaht.264 Weitere Beispiele solcher Gesetzesänderungen sind der Computerbetrug im Hinblick auf § 263 StGB, die Rechtsgutsverschiebung vom Schutz der öffentlichen Sittlichkeit vor Kuppelei265 zum Schutz der Prostituierten vor Ausbeutung266 sowie das „Scalping“267 als Kurs- und Marktpreismanipulation268 und die Ersetzung des § 88 Nr. 2 BörsG a.F. durch § 20a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 WpHG269 i.V.m. § 38 Abs. 1 Nr. 4 WpHG270 und infolge der Einführung des Jugendschutzgesetzes vom 1.4.2003 die Ersetzung des § 7 Abs. 4 JuSchG a.F. durch § 12 Abs. 4 JuSchG.271 Die insgesamt extensive Auslegung des Merkmals „gemeinsamer Unrechtskern“ durch die Rechtsprechung spiegelt sich weiterhin in den Entscheidungen zum Verhältnis von Betrug (§ 263) und Scheck- und Kreditkartenmissbrauch (§ 266 b) wider. Der Bundesgerichtshof und die Oberlandesgerichte wendeten § 266b auf die noch nicht abgeurteilten Fälle als milderes Gesetz an, obwohl § 266b eine ganz andere Angriffsmodali-

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258 § 250 Abs. 1 Nr. 3 a.F. 259 § 250 Abs. 1 Nr. 4 a.F. 260 BGHSt 26 167, 173; BGH NJW 1976 248; Vgl. auch BGH JZ 1979 77; NJW 2003 3069; kritisch Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 23; aA für das Verhältnis von Straßenraub, § 250 Abs. 1 Nr. 3 a.F., zum gefährlichen Raub, § 250 Abs. 1 Nr. 3 n.F., noch BGH Beschl. v. 4.2.1975 – 1 StR 688/74. 261 Kritisch dazu Blei JA 1976 23, 25 ff; Jescheck/Weigend § 15 IV 5; Maurach/Zipf § 12 Rdn. 16; Hassemer/Kargl NK Rdn. 29; Mazurek JZ 1976 234, 235; Jäger SK Rdn. 32; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 23; Mohrbotter ZStW 88 (1976) 923, 949 ff; ders. JZ 1977 53; F.-C. Schroeder FS Bockelmann 785, 793 ff; Tiedemann JZ 1975 692, 693 f; ders. FS Peters 193 ff. 262 BGH NJW 1991 1242 f mit Anm. F.-C. Schroeder JR 1991 335 ff. 263 Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 25; Mazurek JZ 1976 234 f. 264 BGH JZ 1979 77. 265 § 180 i.d.F. des Gesetzes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten vom 18.2.1927. 266 § 180a Abs. 1 Nr. 2 i.d.F. der 4. StRG vom 23.11.1973. 267 Vgl. dazu die Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch) vom 28.1.2003, Abl. EG-Nr. L vom 12.4.2003, S. 16, die in nationales Recht umgesetzt worden ist. 268 BGH NJW 2004 302 = NStZ 2004 285 m. Anm. Pananis. 269 BGH NJW 2004 302 ff; dazu Moosmayer wistra 2002 161, 163; Lenenbach ZIP 2003 243; Weber NJW 2004 28, 30. 270 LG München NStZ 2004 291 mit krit. Anm. Eichelberger; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 320; aA LG München wistra 2003 436, 437 ff. 271 BGHSt 48 249, 290.

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tät als § 263 erfasst, weil der Schutzzweck unverändert geblieben sei:272 Der Kartenverwender hält sich bei § 266b – wie bei der Untreue – im Außenverhältnis im Rahmen seines rechtlichen Könnens und überschreitet im Innenverhältnis sein rechtliches Dürfen, während § 263 vor Angriffen eines Außenstehenden durch Täuschung schützt. Diese Entscheidungen der Strafgerichte stimmen mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Vorhersehbarkeit überein, wonach weder eine kontinuierliche Geltung des der Verurteilung zugrunde liegenden Strafgesetze erforderlich ist (näher dazu Rdn. 101), noch hohe Anforderungen an die Vorhersehbarkeit für den Bürger gestellt werden, indem die Erkennbarkeit des Risikos der Strafbarkeit als ausreichend angesehen wird.273 Hierbei handelt es sich jedoch um einen Sonderfall der Milderung, denn der Gesetzgeber hat durch die Gesetzesänderung mit der Neuregelung der Strafbarkeit im Wege einer authentischen Interpretation zugleich zum Ausdruck gebracht, wie der Betrugstatbestand schon immer, das heißt, auch für die Vergangenheit zu verstehen war. Diese in § 266b mitenthaltene Interpretation des Betrugstatbestandes ist der strafrechtlichen Bewertung der Altfälle zugrunde zu legen. Hierin liegt auch kein Verstoß gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz; der Gesetzgeber kann vielmehr für die Klarheit der Gesetzeslage sorgen und die bisherige Rechtsprechung gleichsam ins Unrecht setzen. Hierbei ist er an das Mittel des förmlichen Gesetzes gebunden.274 bb) Identität des Schutzzwecks und gleiche Angriffsweise. In der Literatur ist die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wegen ihrer Unbestimmtheit im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG überwiegend auf Kritik gestoßen:275 Das alleinige Abstellen auf das Kriterium des unveränderten Schutzzwecks reicht nicht aus, da das Wesen der Straftatbestände unter dem Gesichtspunkt der Garantiefunktion auch in der Vertypung von Unrecht durch Beschreibung bestimmter Unrechtshandlungen besteht. Daher sind neben der Identität des Schutzzwecks auch gleiche Angriffsweisen in den zu vergleichenden Straftatbeständen erforderlich.276 Auch das Fortbestehen des Grundtatbestandes kann bei der Änderung eines Qua99 lifikationstatbestandes entgegen der Auffassung des Großen Senats (siehe dazu Rdn. 94) die erforderliche Unrechtskontinuität nicht gewährleisten. Wenn die Qualifikationen einerseits auf das Orts- und Zeitmoment und andererseits auf die Gefährlichkeit des Tatmittels abstellten, unterscheiden sie sich so grundlegend, dass die neuen Merkmale nicht auf die Alttaten anzuwenden sind.277 Der Qualifikationstatbestand des Straßenraubes wurde wegen der gesetzgeberischen Einsicht aufgehoben, dass es sich dabei praktisch um den Normalfall des Raubes handelte. Gerade die bessere gesetzgeberische Einsicht wird von der h.M. als Grund dafür angesehen, dass niemand nach einem aufgehobenen Gesetz weiterhin bestraft werden darf.278 Wenn der Bundesgerichtshof die tatbestandliche Bedeutung von Qualifikationen negiert und die Bezeichnung des Unterschieds zu den Strafzumessungsregeln als eine „formale Frage der Gesetzestechnik“ bezeichnet, verstößt er gegen die fundamentale rechtstheoretische Unterscheidung

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272 BGH NStZ 1987 120; wistra 1987 136; OLG Hamm MDR 1987 514; KG Berlin JR 1987 257. 273 BVerfGE 73 233 ff; kritisch dazu Tiedemann Verfassungsrecht und Strafrecht (1991) S. 44 ff; siehe auch § 1 Rdn. 370 ff. 274 Droste-Lehnen Die authentische Interpretation (1990) S. 359. 275 Hassemer/Kargl NK 29 ff; Jäger SK Rdn. 32; Schmitz MK Rdn. 31; SSW/Satzger Rdn. 23; vgl. auch Dannecker S. 514 ff; Jakobs AT 4/75. 276 Mohrbotter ZStW 88 (1976) 923, 942 ff; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 23; Tiedemann JZ 1975 693; ähnlich Jescheck/Weigend § 15 IV 5. 277 Kritisch zu dieser Entscheidung Dannecker S. 507 f; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 23. 278 Tiedemann JZ 1975 693.

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zwischen Form und Technik des Rechts.279 Dadurch, dass Qualifikationen in einem Tatbestand zusammengefasst werden, vermeidet der Gesetzgeber eine Vervielfachung von Tatbeständen. Um der Bedeutung verschiedener Qualifikationen gerecht zu werden, darf nicht ein einziger Oberbegriff gewählt werden, wie dies bei Regelbeispielen durch Formulierungen wie „ein besonders schwerer Fall“ typisch ist. Qualifikationen beinhalten vielmehr eine abschließende Bestimmung der Strafwürdigkeit durch den Gesetzgeber. cc) „Strikte Kontinuität“. Weitergehend will eine sehr restriktive Ansicht in der Li- 100 teratur eine Bestrafung nach dem neueren Gesetz nur zuzulassen, wenn der neue Tatbestand vollständig in dem alten enthalten ist und nicht an nach dem bisherigen Recht irrelevante Sachverhaltsteile anknüpfe.280 Hiernach ist nur dann von einem Fortbestehen der Strafbarkeit auszugehen, wenn die Strafbarkeit erweitert wird, indem eine der bisherigen Bestrafungsvoraussetzungen durch einen Gattungsbegriff generalisiert oder eine Strafbarkeitsausnahme durch einen Artbegriff spezialisiert wird281 oder eine Beschränkung der Strafbarkeit vorliegt und das vom Täter verwirklichte Unrecht nach der Einschränkung der Strafbarkeit noch von dem neuen Tatbestand erfasst wird.282 Danach wäre z.B. bei Einführung einer Bagatellgrenze beim Betrug von der fortgeltenden Strafbarkeit auszugehen, wenn der Täter die Grenze bereits nach altem Recht überschritten hat.283 In diesem Fall könnte sich der Täter nicht darauf berufen, dass ihm das strafbarkeitsbeschränkende Merkmal bei Begehung der Tat nicht bekannt war.284 Es soll nicht darauf ankommen, was der Täter nach neuem Recht straffrei hätte tun können, sondern allein darauf, was er getan hat.285 Außerdem müsse sich die Schuld des Täters auf den Tatbestand beziehen. Das sei aber bei der Einführung zusätzlicher Tatbestandsmerkmale nicht möglich, da das Tatzeitrecht diese nicht umfasst hat. Bestrafe man den Täter gleichwohl, so würde die Strafbarkeit allein auf die auf den alten Straftatbestand bezogene Schuld gegründet, obwohl diese gerade nach dem neuen Recht zur Begründung der Strafbarkeit nicht mehr ausreiche.286 dd) Verfassungsrechtliche Anforderungen an den Vergleich: Rückwirkungs- 101 verbot und Schuldgrundsatz. Wenn eine Gesetzesänderung stattgefunden hat und keine gesetzliche Übergangsregelung vorliegt, stellt sich die Frage nach den Anforderungen des Verfassungsrechts an den Vergleich der alten mit der neuen Rechtslage: Das neue Gesetz muss sowohl an Art. 103 Abs. 2 GG gemessen werden als auch dem verfassungsrechtlichen verankerten Schuldgrundsatz Rechnung tragen. Aufgrund des Rückwirkungsverbots im Zusammenwirken mit dem verfassungsrechtlich verankerten Schuldgrundsatz gelten jedoch ohnehin höhere Standards, da Straflosigkeit bereits dann vorliegt, wenn Tatumstände, die nicht bereits für die auf das Unrecht bezogene Tat-

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279 Mohrbotter ZStW 88 (1976) 923 ff; Tiedemann JZ 1975 693 f; ders. FS Schroeder 641 ff. 280 So Jakobs AT 4/75; Hassemer/Kargl NK Rdn. 32; Jäger SK Rdn. 32; Satzger Jura 2006 746, 750; Sommer S. 163 ff; F.-C. Schroeder FS Bockelmann 785, 796, 798 ff; Schünemann Nulla poena sine lege (1978) S. 26 f; SSW/Satzger Rdn. 23. 281 Jakobs AT 4/74; Jäger SK Rdn. 32; Hassemer/Kargl NK Rdn. 32; F.-C. Schroeder FS Bockelmann 785, 796, 798. 282 Jakobs AT 4/76; Jäger SK Rdn. 32; Hassemer/Kargl NK Rdn. 32; F.-C. Schroeder FS Bockelmann 785, 796. 283 Jakobs AT 4/76; zustimmend Hassemer/Kargl NK Rdn. 32; Schmitz MK Rdn. 35. 284 Siehe aber F.-C. Schroeder FS Bockelmann 785; C. Schröder ZStW 112 (2000) 44, 70 f. 285 F.-C. Schroeder FS Bockelmann 785, 798. 286 Tiedemann NJW 1977 778.

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schuld relevant waren, zu Tatbestandsmerkmalen erhoben werden. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zu den Anforderungen an die kontinuierliche Geltung eines Strafgesetzes ausgeführt, dass bei der Frage, ob eine rückwirkende Gesetzesanwendung zuungunsten des Täters erfolgt, auf den Zeitpunkt der Handlung abzustellen ist. „Dies entspricht auch dem Zweck des Art. 103 Abs. 2 GG, nämlich zu verhindern, daß jemand auf Grund eines Gesetzes verurteilt wird, das zur Zeit der Tat noch nicht in Kraft war, dem Täter also nicht bekannt sein konnte.“287 Hier wird deutlich, dass Art. 103 Abs. 2 GG zugleich Grundlage des verfassungsrechtlichen Schuldgrundsatzes ist, der auch bei der Anwendung von § 2 Abs. 3 einzuhalten ist. Die Anforderungen, die aufgrund von Art. 103 Abs. 2 GG an die Kontinuität des Unrechts zu stellen sind, müssen daher nicht nur am Rückwirkungsverbot, sondern auch im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Schuldgrundsatz konkretisiert werden.288 Der strafrechtlichen Bewertung ist stets, auch bei der Prüfung der Altfälle, der Sach102 verhalt zugrunde zu legen, wie er sich unter der Geltung des früheren Rechts dargestellt hat (BGHSt 34 372, 384). Zum feststehenden Sachverhalt gehört auch der Tatvorsatz mit dem Inhalt, wie er zur Tatzeit bestand.289 Lediglich bezüglich der zeitlichen Fixierung der Tat schreibt § 2 Abs. 3 vor, von dem Zeitbezug abzusehen.290 Da ein schuldhafter Verstoß auch gegen das neue Gesetz vorliegen muss, darf wegen Vorsatzes oder Fahrlässigkeit nur verurteilt werden, wer unter Zugrundelegung des damaligen Sachverhalts auch in Bezug auf das neue Strafgesetz vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt hat. Die Anforderungen des verfassungsrechtlichen Schuldgrundsatzes führen wegen der Unrechtsbezogenheit der Strafbegründungsschuld291 daher im Ergebnis zum Erfordernis der (subjektiven) Identität zwischen alter und neuer Rechtslage. Unter Unrecht ist hierbei, in Abgrenzung zur Rechtswidrigkeit, nicht der Widerspruch zwischen Norm und Handlung zu verstehen, sondern „der durch die Tat verwirklichte und vom Recht negativ bewertete Unwert selbst“.292 Die Rechtswidrigkeit als Widerspruch zu einer Verhaltensnorm lässt keine materiellen Differenzierungen zu. Hingegen kennt das Unrecht unterschiedliche Grade. Wenn ein Gesetz geändert wird und hiervon nur das Ausmaß des Unrechts betroffen ist, kann es sich um neue Merkmale handeln, die den Grad des Unrechts und der Strafzumessungsschuld bereits nach altem Recht bestimmt haben. Dann ist eine Bestrafung nach dem neuen Gesetz möglich, so z.B. die Bestrafung eines Verhaltens in der ehemaligen DDR nach § 223a a.F., obwohl § 115 DDR-StGB keine entsprechende Qualifikation kannte (Rdn. 95). Denn die Art und Weise der Tatausführung war bereits unter der Geltung des früheren Gesetzes für das Unrecht und die Strafbegründungsschuld relevant. Art. 103 Abs. 2 GG und der Schuldgrundsatz stehen einer Bestrafung nicht entgegen, wenn eine zunächst nicht bestehende Differenzierung nach dem Umfang des Schadens, der Art der Ausführung, der Verwendung bestimmter Mittel usw. eingeführt wird oder wenn der Gesetzgeber bestehende Differenzierungen, z.B. Qualifikationsmerkmale, aufhebt und einen einheitlich hohen Strafrahmen einführt.293 Werden hin-

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287 BVerfGE 81 135. 288 Im Erg. ähnlich Satzger Jura 2006 746, 750; SSW/Satzger Rdn. 2: „wenn durch die inhaltliche Veränderung das auf die konkrete Sachverhaltskonstellation bezogene Ver- oder Gebot, das hinter den Straftatbeständen steht, dieselbe (laienmäßig fassbare) Aussage für den Täter trifft, wenngleich vielleicht in anderen Worten“; ähnlich Schmitz MK Rdn. 31 ff; Matt/Renzikowski/Renzikowski Rdn. 2. 289 BGHSt 26 171. 290 Tiedemann NJW 1987 1247 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts (RGSt 33 187 ff; 34 37). 291 Näher dazu Frisch ZStW 99 (1987) 379, 380 f m.w.N. 292 Sch/Schröder/Eisele Vor §§ 13 ff Rdn. 51. 293 Dannecker S. 515.

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gegen Qualifikationen aufgehoben und durch andere qualifizierende Merkmale ersetzt wie bei der Änderung der Raubqualifikationen (Rdn. 94), so wird die unrechtserhöhende Bewertung der bisherigen Qualifikation gänzlich aufgehoben, wenn nicht ausnahmsweise das neue Qualifikationsmerkmal eine Erweiterung des alten bedeutet (Rdn. 99). Wenn das neu eingeführte Qualifikationsmerkmal nicht in dem alten enthalten war, fehlt es sowohl an der Kontinuität des Unrechts als auch an der erforderlichen Strafbegründungsschuld. Ob sich die Qualifikationsmerkmale hierbei auf das geschützte Rechtsgut oder die Tathandlung beziehen, ist irrelevant. Lediglich in den Fällen lockerer Akzessorietät, wie bei den Straftatbeständen der §§ 145d, 164, welche die Straftat nur lose in ihre Verbotsmaterie einbeziehen, sind geringere Anforderungen an die Unrechtskontinuität und die Strafbegründungsschuld zu stellen (näher dazu Rdn. 114 ff). b) Anwendbarkeit des Milderungsgebots auf Blankettvorschriften. Der Gesetz- 103 geber kann im Strafrecht Rechtsänderungen nicht nur dadurch herbeiführen, dass er die Strafnorm selbst oder die Strafandrohung ändert, sondern auch dadurch, dass er außerstrafrechtliche Normen ändert, auf die in Straftatbeständen verwiesen wird. Hierbei handelt es sich um Blankettstrafgesetze, die auf andere positive Rechtsnormen verweisen und erst im Zusammenlesen mit den blankettausfüllenden Normen, auf die verwiesen wird, zu einem vollständigen Straftatbestand werden. Als Ergänzungen kommen Bundes- und Landesgesetze, Rechtsverordnungen, auch solche der Europäischen Union, Satzungen und Verwaltungsvorschriften in Betracht (näher dazu § 1 Rdn. 116 ff). Werden Ausfüllungsnormen geändert, so lassen sie den Wortlaut der Strafvorschrift, um deren Anwendung es geht, unberührt. Gleichwohl ändert sich das Strafrecht, denn in aller Regel wird in Strafnormen nicht auf die zur Zeit des Normerlasses geltenden außerstrafrechtlichen Regeln verwiesen (statische Verweisungen; § 1 Rdn. 157), sondern auf die jeweils geltenden Normen (dynamische Verweisungen; § 1 Rdn. 158). Eine Änderung blankettausfüllender Normen ist eine Änderung des Blankettstrafgesetzes selbst.294 Dies gilt auch für blankettausfüllende Normen, die dem EU-Recht angehören.295 Sowohl das Erfordernis des Gesetzesvorbehalts (Rdn. 110) als auch der dem Milde- 104 rungsgebot zugrunde liegende Gedanke, die verbessernde Rechtserkenntnis (Rdn. 111) auf noch nicht abgeschlossene Sachverhalte anzuwenden, spricht für eine uneingeschränkte Anwendung des Milderungsgebots auf blankettausfüllende Normen: Wenn das ausfüllende Gesetz aufgehoben worden ist, fehlt es zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung an einer Eingriffsermächtigung, die eine Bestrafung ermöglicht. Eine Verurteilung würde gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstoßen. Außerdem ist aufgrund der Regelung des § 2 Abs. 3 im Strafrecht grundsätzlich davon auszugehen, dass jede neue gesetzgeberische Entscheidung, die zur Aufhebung eines Gesetzes und einer Neuregelung führt, als Rechtsverbesserung gilt, die dem Täter zugutekommen muss, sofern sie sich mildernd auswirkt. Um jedoch „absurde Begünstigungen“ zu vermeiden, die mit einer Einbeziehung aller Ausfüllungsnormen in den Anwendungsbereich des Milderungsge-

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294 Grundlegend BGHSt 20 177, 180 f. (Mineralölsteuer-Entscheidung); BGHSt 47 138, 143 f; ebenso OLG Koblenz NStZ 1989 188, 189; OLG Stuttgart NStZ 1990 88, 89; OLG Düsseldorf NStZ 1991 133; Hassemer/Kargl NK Rdn. 33; StA Stuttgart wistra 1994 271; Dannecker S. 492 f; Mosbacher wistra 2005 54, 56; Satzger Jura 2006 746, 751; Schmitz MK Rdn. 36; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 24 f; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 314; Fischer Rdn. 8. Rechtsvergleichend Silva Sanchez in Schünemann (Hrsg.), Bausteine des europäischen Wirtschaftsstrafrechts, S. 134, 138 ff. AA Binding Die Normen und ihre Übertretung Bd. 1 3. Aufl. (1916) S. 185 f, der sich auf die formale Unterscheidung zwischen „Strafgesetz“ und „Normen“ stützte. 295 So SSW/Satzger Rdn. 24; ders. Europäisierung, S. 639; Gleß GA 2000 224, 231; Rössner HK-GS Rdn. 11.

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bots verbunden sein sollen,296 werden in der Literatur verschiedene Einschränkungskriterien (Rdn. 105 ff) eingeführt, und auch die Rechtsprechung nimmt Begrenzungen des Milderungsgebots bei der Änderung blankettausfüllender Vorschriften vor (Rdn. 112). aa) Anerkennung außerstrafrechtlicher Regelungseffekte, Ungehorsamstatbestände. Um blankettausfüllende Normen dem Anwendungsbereich des § 2 Abs. 3 zu entziehen, vertritt eine neuere Lehre die Auffassung, dass eine Änderung der ausfüllenden Normen einen aufgrund der früheren Rechtslage bereits eingetretenen „Regelungseffekt“ unberührt lasse, wenn das Strafgesetz diesen Regelungseffekt und nicht die Norm selbst sichern wolle, so im Falle der Änderung einer Vorfahrtsregel, des Außerkraftsetzens von Geld, das gefälscht worden ist, und der Fremdheit bei den Eigentumsdelikten.297 Dies soll auch für die Änderung steuerrechtlicher Normen gelten, sofern der bereits entstandene Steueranspruch durch die Gesetzesänderung nicht tangiert werde.298 Weiterhin werden Ungehorsamstatbestände, die nicht dem Schutz eines Rechts106 guts dienen, vom Anwendungsbereich des Milderungsgebots ausgenommen, wenn diese Tatbestände vor ihrer Aufhebung kraft Gesetzes in Zeitgesetze umgewandelt werden.299 Die Einordnung eines Strafgesetzes als Ungehorsamsdelikt soll also nur für die Zulässigkeit gesetzlicher Übergangsregelungen Bedeutung haben, nicht aber zum Ausschluss des Milderungsgebots führen. Gegen die Abgrenzung nach der Sicherung eines Regelungseffektes oder das Vorlie107 gen eines Ungehorsamstatbestands spricht, dass beide materiellen Kriterien, an denen sich die Anwendbarkeit des § 2 Abs. 3 in solchen Konstellationen entscheiden muss, verfehlt und zudem nicht trennscharf sind.300 Wer eine blankettausfüllende Norm sichern will, kann dies faktisch nur über die reale Beachtung dieser Norm, also über den Gesetzesgehorsam, erreichen; die Sicherung des Gehorsams hat dann zwangsläufig die Sicherung des Regelungseffekts zur Folge.301 Stellt man aber nicht auf die faktischen Wirkungen ab, sondern auf die Absicht des Gesetzgebers, lediglich den Regelungseffekt oder den Gehorsam zu sichern, so wird ein solches Kriterium untauglich, weil der Wille des Gesetzgebers nur selten verlässlich festgestellt werden kann. Außerdem spiegeln sich die Ungereimtheiten der Begrifflichkeiten in den Ergebnissen wider: Warum sollen zwischenzeitliche Herabsetzungen der Geschwindigkeitsbegrenzungen im Straßenverkehrsrecht den Straftäter begünstigen, zwischenzeitliche Herabsetzungen der Steuersätze im materiellen Steuerrecht hingegen nicht.302 105

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bb) „Günstigere Gestaltung der gesamten Rechtslage“ unter Ausschluss der „Ersetzung einer Regelung durch eine andere“. Im Hinblick darauf, dass § 2 Abs. 3 nach materiellen Rechtslagen und deren Ergebnis für den Betroffenen und nicht nach der systematischen Einordnung von blankettausfüllenden Normen fragt, muss entschieden werden, ob eine im konkreten Ergebnis günstigere Gestaltung der gesamten Rechtslage zwischen der Begehung der Tat und der Entscheidung vorliegt.303 Deshalb seien nur solche Änderungen blankettausfüllender Normen aus dem Anwendungsbereich des Mil-

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296 So Hassemer/Kargl NK Rdn. 34. 297 Jakobs AT 4/72; Jäger SK Rdn. 29; vgl. auch Samson wistra 1983 237; Laaths S. 109 ff. 298 Jakobs AT 4/72; ebenso Fischer Rdn. 13b; Lackner/Kühl/Kühl Rdn. 4; Jäger SK Rdn. 29; Samson wistra 1983 237. 299 Jakobs AT 4/71. 300 Hassemer/Kargl NK Rdn. 36; Dannecker S. 473. 301 Hassemer/Kargl NK Rdn. 36; Schmitz MK Rdn. 38. 302 Flämig S. 74 ff; Hassemer/Kargl NK Rdn. 36. 303 Hassemer/Kargl NK Rdn. 38.

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derungsgebots auszunehmen, die eine Regelung durch eine andere ersetzen, die Rechtslage aber nicht günstiger gestalten.304 Als Beispiele hierfür werden Geldfälschungen genannt, die strafbar bleiben sollen, wenn neue Münzen eingeführt werden (näher dazu Rdn. 111); ein falscher Offenbarungseid werde nicht dadurch straflos, dass die ZPO an seiner Stelle nur noch eine eidesstattliche Versicherung vorsehe (näher dazu Rdn. 112); neue Vorfahrtsregeln gestalteten die Rechtslage ebenfalls nicht günstiger (näher dazu Rdn. 111). cc) Grundsätzliche Erheblichkeit aller Gesetzesänderungen unter Ausschluss 109 rein technischer Regelungen. Unter einem „Gesetz“ im Sinne des § 2 Abs. 3 ist grundsätzlich jede Rechtsnorm zu verstehen, auf die in einem Strafgesetz Bezug genommen wird (Rdn. 23).305 Denn durch die Verweisung des Strafrechts auf außerstrafrechtliche Normen wird deren Inhalt dem Strafrecht einverleibt und damit zum Bestandteil der verweisenden Strafrechtsnorm.306 Damit verändert jede durch einen Straftatbestand in Bezug genommene neue Rechtsnorm den strafrechtlichen Auslegungstatbestand und damit auch die strafrechtliche Verbotsmaterie. Ob es sich um eine Blankettverweisung (Rdn. 103), ein normatives Tatbestandsmerkmal (Rdn. 113) oder eine mittelbare Inbezugnahme (Rdn. 114 ff) handelt ist irrelevant. Strafbarkeit kann nur bejaht werden, wenn den Anforderungen des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts entsprochen wird (Rdn. 110). Deshalb muss das in Frage stehende Verhalten nach der neuen Gesetzeslage noch strafbar sein. Außerdem muss das neue Gesetz, das die aktuelle Bewertung eines Sachverhalts durch den Gesetzgeber enthält, als die bessere Rechtserkenntnis zur Anwendung kommen (Rdn. 111). Nur wenn keine Bewertungsänderung vorliegt, weil die gesetzliche Änderung rein technische Regelungen betrifft, greift das Milderungsgebot nicht ein. Nur auf diese Weise kann den im Strafrecht besonders hohen Anforderungen an die Rechtssicherheit und an die Vorhersehbarkeit Rechnung getragen werden, die auch für Rechtsgeltungsvorschriften Geltung beanspruchen.307 Außerdem kann durch die umfassende Anerkennung des Milderungsgebots verhindert werden, dass Normen, die wechselnden Bedürfnissen dienen, eine weiter reichende Rechtsgeltung eingeräumt wird als den klassischen, auf Dauer angelegten Straftatbeständen. Damit gilt auch für außerstrafrechtliche Regelungen, dass jede Gesetzesänderung grundsätzlich als „verbessernde Rechtserkenntnis“ zu einer strafrechtlichen Milderung führen muss.308 An das Vorliegen einer wirksamen Ermächtigungsgrundlage dürfen keine über- 110 zogenen Anforderungen gestellt werden. Wenn es im Strafrecht auf eine außerstrafrechtliche Rechtsfolge ankommt und diese von einer Gesetzesänderung unberührt bleibt, kann insoweit von einem außerstrafrechtlichen Regelungseffekt gesprochen werden. Dieser ist geeignet, den Anforderungen des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts Rechnung zu tragen, auch wenn das dem Regelungseffekt zugrunde liegende Gesetz aufgehoben worden ist. Das Vorliegen eines solchen Regelungseffekts begründet jedoch keine Pflicht der Strafverfolgungsorgane zur künftigen Bestrafung. Vielmehr kann der Gesetzgeber hierüber entscheiden, und zwar danach, ob er vom Fortbestehen der Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit ausgeht oder dies verneint bzw. das Unrecht als geringer als früher ansieht. Deshalb kann auch nicht danach differenziert werden, ob die Straftat aus

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304 Hassemer/Kargl NK Rdn. 38. 305 Dannecker S. 474 f; Tiedemann/Dannecker S. 20 f; Tiedemann Artikel „Blankettstrafgesetz“ in HdWiStR S. 4 f. 306 BVerfGE 48 48, 55; BGHSt 31 264, 289. 307 BVerfGE 5 25, 31; 8 302; vgl. auch Tiedemann FS Peters 193, 201 f. 308 Dannecker S. 478 ff.

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tatsächlichen oder aus rechtlichen Gründen nicht mehr vorkommen kann, und für erstere Fälle ein Eingreifen des Milderungsgebots verneint werden. Grundsätzlich bringt der Gesetzgeber durch Neuregelungen zum Ausdruck, dass 111 diesen die bessere Rechtserkenntnis zugrunde liegt. Daher ist bei jeder Bewertungsänderung auf dem Gebiet des Strafrechts das Milderungsgebot grundsätzlich anzuwenden. Letzteres ist nur dann zu verneinen, wenn sich die Neuregelung in rein technischen Änderungen erschöpft. Diese Voraussetzungen liegen vor, wenn die gesetzliche Vorfahrtsregelung von „rechts vor links“ in „links vor rechts“ oder ein bestimmtes Zahlungsmittel durch ein anderes ersetzt wird.309 In diesen Fällen besteht ein Regelungseffekt fort, so dass die Anforderungen des Gesetzesvorbehalts eingehalten sind und trotz Entfallens der gesetzlichen Grundlage eine Bestrafung möglich bleibt. Außerdem fehlt es in diesen Fällen an einer Neubewertung durch den Gesetzgeber, da es um rein technische Regelungen geht. Soweit eine Verweisung auf andere positive Rechtsnormen erforderlich ist, um die 112 an den Bürger gerichtete Bestimmungsnorm zu bilden, bleibt das Erfordernis des Gesetzesvorbehalts unberührt davon, dass ein „Regelungseffekt“ eingetreten ist. Daher ist dem Reichsgericht 310 zuzustimmen, das die handelsrechtlichen Buchführungspflichten als Teil des Strafgesetzes ansah und eine Einschränkung der Pflicht als strafrechtliche Milderung berücksichtigt hat: Unter welchen Voraussetzungen die Pflicht besteht, die Handelsbücher zu führen, kann nur dem Handelsrecht entnommen werden. Auch wenn man die Buchführungspflicht als Regelungseffekt bezeichnet, müssen die handelsrechtlichen Vorschriften, welche die Pflicht bestimmen, als integraler Bestandteil der strafrechtlichen Bestimmungsnorm noch zum Zeitpunkt der Verurteilung vorliegen, damit eine Eingriffsermächtigung gegeben ist. Gleiches gilt für die Steuerhinterziehung und den Subventionsbetrug, soweit es um das Inunkenntnislassen über steuerliche bzw. subventionserhebliche Tatsachen geht. Auch diese Regelungen verweisen auf außerstrafrechtliche Aufklärungspflichten.311 Als weiteres Beispiel kann auf die Zuständigkeit zur eidlichen Vernehmung in § 153f StGB verwiesen werden. Die h.M. sieht in der Zuständigkeit bestimmter Behörden zur Abnahme von Eiden eine Eigenschaft, die bestimmten Behörden kraft Gesetzes verliehen worden ist, also eine institutionelle Tatsache (rechtsnormatives Tatbestandsmerkmal). Entscheidend ist jedoch, dass eine Erklärung in einem Verfahren vor einer Behörde abgegeben worden ist, die berechtigt ist, durch Verwendung der Formel: „Ich versichere an Eides statt“ den Erklärenden bei Strafe des § 156 zur Wahrheit zu verpflichten. Damit erweisen sich die §§ 153 ff als Blankettstraftatbestände, die um die in Bezug genommenen tatsächlichen und rechtlichen Zuständigkeitsvoraussetzungen zu ergänzen sind, damit sich sinnvolle Bestimmungsnormen ergeben. Insoweit greift der Vorbehalt des Gesetzes ein, der zum Zeitpunkt der Verurteilung ein in Geltung befindliches Gesetz erfordert. Hiermit ist die Entscheidung des BGH312 nicht vereinbar, der im Falle eines unrichtigen Offenbarungseides trotz zwischenzeitlicher Ersetzung dieser Eidesform durch eine eidesstattliche Versicherung das Fortbestehen der Strafbarkeit wegen Meineides angenommen hat, weil sich lediglich die Voraussetzungen geändert hätten, unter denen ein Eid zu leisten sei.313 Besonders umstritten war die strafrechtliche Behandlung der sog. Parteispenden. Diesbezüglich

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309 So schon Mezger ZStW 42 (1921) 348, 375. 310 Vgl. Tiedemann NJW 1987 1247 mit Verweis auf RGSt 33 187 ff; 34 37 ff. 311 So Puppe GA 1990 163 für den Subventionsbetrug. 312 BGH bei Holtz MDR 1978 279, 280; zustimmend Gribbohm LK11 Rdn. 30; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 25. 313 Kritisch dazu Tiedemann/Dannecker S. 22.

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verneinten der BGH314 und auch das BVerfG315 eine Milderung im Hinblick auf § 370 AO, weil die Änderung von Steuertarifen und -vergünstigungen nur für die Zukunft gelte.316 Auch das Auslaufen des Vermögensteuergesetzes am 1.7.1999 schließt nach Auffassung des BVerfG die Erhebung von Steuern für vorausgegangene Zeitabschnitte nicht aus und soll deshalb keine strafrechtliche Milderung darstellen,317 obwohl sich die Verfassungswidrigkeit von § 10 Nr. 1 VStG sogar auf die Erklärungspflicht bezog.318 Die Möglichkeit der Nacherhebung von Steuern im Falle verfassungswidriger Steuern, die durch das BVerfG angeordnet werden kann, stellt jedoch keine Geltung im Sinne des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts dar,319 weshalb generell bei verfassungswidrigen Steuernormen eine strafbare Steuerhinterziehung zu verneinen ist.320 c) Anwendbarkeit des Milderungsgebots auf rechtsnormative Tatbestands- 113 merkmale. Bei der Verwendung normativer Tatbestandsmerkmale gestaltet der Gesetzgeber den Straftatbestand selbst in abschließender Weise, bedient sich aber einzelner, in anderen Rechtsteilen beheimateter, ausfüllungsbedürftiger Begriffe und macht sich deren ursprüngliche Auslegung zu Eigen.321 Soweit es sich hierbei um Tatbestandsmerkmale handelt, deren Feststellung die Geltung und Anwendung von Rechtsnormen voraussetzt, werden diese als rechtlich-normative Merkmale bezeichnet.322 Während blankettausfüllende Normen jedoch Art. 103 Abs. 2 GG unterliegen,323 gilt der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt nicht für rechtsnormative Tatbestandsmerkmale wie die Fremdheit einer Sache.324 Dies gilt jedoch nur, soweit die außerstrafrechtlichen Rechtsfolgen, z.B. der Eigentumsübergang, von der nachträglichen Gesetzesänderung unberührt bleiben. Der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt erfordert nicht, dass auch die den Rechtsfolgen zugrunde liegenden Regelungen noch in Kraft sind. Wird jedoch ein bereits eingetretener außerstrafrechtlicher Regelungseffekt wie die Minderjährigkeit usw. durch die Aufhebung eines Gesetzes beseitigt, so wirkt sich dies als strafrechtliche Milderung aus. Daher ist der h.M. zuzustimmen, die § 2 Abs. 3 auf die Herabsetzung der Volljährigkeit anwendet, wenn ein Strafgesetz Minderjährige schützt.325 Auch hier gilt, dass Gesetzes-

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314 BGHSt 34 272, 282 ff mit abl. Anm. Tiedemann NJW 1987 1247; ders. Wirtschaftsstrafrecht AT Rdn. 325 m.w.N. (Entfallen des Strafbedürfnisses). 315 BVerfG NJW 1992 35; Schmitz MK Rdn. 39; aA Flämig S. 104. 316 Zustimmend Bergmann NJW 1986 233 ff; H. Schäfer wistra 1983 167 ff; Samson wistra 1983 235 ff; Engelhardt DRiZ 1986 88 ff; Jäger SK Rdn. 29; kritisch dazu Tiedemann NJW 1987 1247; vgl. auch Dannecker S. 471 f; Hassemer/Kargl NK Rdn. 33. 317 BVerfGE 93 121; BGHSt 47 138 mit Anm. Haas NStZ 2002 484; Brandstein NJW 2000 2326; OLG Frankfurt NJW 2000 2368 mit Anm. Salditt NStZ 2000 538; aA LG München NStZ 2000 93. 318 Hierauf stützt Schmitz MK Rdn. 39 die Anwendbarkeit des Milderungsgebots in diesen Fällen; ablehnend Wulf wistra 2001 41, 45 ff, der vom Vorliegen eines Zeitgesetzes ausgeht. 319 So zutreffend Tiedemann NJW 1987 1247. 320 Salditt FS Tipke, S. 475, 477, 480 m.w.N. 321 Grünhut ZStW 76 (1964) 1, 6; Hegler Festgabe Frank, Bd. 1, S. 251 ff, 275; Schwinge Teleologische Begriffsbildung im Strafrecht (1930) S. 69 ff. 322 Bruns Die Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken (1938) S. 321; Seel Unbestimmte und normative Tatbestandsmerkmale im Strafrecht und der Grundsatz Nullum crimen sine lege (1965) S. 38; Sax Grenzen, S. 157. 323 Vgl. nur BVerfGE 78 205 ff; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 313 ff; näher dazu § 1 Rdn. 394 ff; zur Abgrenzung von Blankettgesetzen und rechtsnormativen Tatbestandsmerkmalen siehe auch Bülte JuS 2015 768 ff; mit Blick auf das Umweltstrafrecht Petzsche NZWiSt 2015 210, 214 f. 324 BVerfGE 78 205, 213; Schmitz MK Rdn. 39; SSW/Satzger Rdn. 25; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 321 ff; dies gilt auch für die Pflichtwidrigkeit i.R.d. § 266 StGB BVerfGE 126 170, 204 f; Rönnau ZStW 119 (2007) 887, 903 ff m.w.N.; Kubiciel NStZ 2005 353, 357 ff. 325 Jäger SK Rdn. 28; Schmitz MK Rdn. 39; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 27.

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änderungen, die auf Gerechtigkeitserwägungen beruhen, stets eine strafrechtlich beachtliche Bewertungsänderung beinhalten, die dem Milderungsgebot unterliegt und deshalb dem Bürger zugutekommen muss. 114

d) Änderung strafrechtlicher Bezugstatbestände. Fälle der mittelbaren Rechtsänderung liegen vor, wenn Strafgesetze geändert werden, die durch andere Straftatbestände, z.B. durch die §§ 257, 258, 259, 164, 145d, 261, in Bezug genommen werden und in Folge der Gesetzesänderung der zu beurteilende Sachverhalt nicht mehr den Tatbestand des anzuwendenden Strafgesetzes erfüllt.

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aa) Höchstrichterliche Rechtsprechung. Die höchstrichterliche Rechtsprechung wendet in diesen Fällen ganz überwiegend das Milderungsgebot an. Der BGH bejahte eine Milderung bei einer Begünstigung nach § 257 a.F. (jetzt: Strafvereitelung nach § 258), als das Verhalten des Begünstigten nachträglich straffrei gestellt wurde. Der Begünstigte nehme wegen der „inneren Abhängigkeit“ der Begünstigung von der Vortat und mit Blick auf die Strafrahmenbegrenzung nach § 257 Abs. 1 S. 2 a.F. teil.326 Das OLG Düsseldorf sah beim Vortäuschen einer Straftat nach § 145d a.F., die sich auf eine Übertretung nach § 9a StVO a.F. bezog und nach Begehung der Tat in eine Ordnungswidrigkeit umgewandelt wurde, eine Milderung, weil zum Zeitpunkt der Entscheidung keine „Straftat“ im Sinne des § 145d mehr vorlag.327 Das BayObLG bezog das Milderungsgebot in einem Verfahren wegen falscher Verdächtigung (§ 164) auf die Strafbarkeit der Handlung, deren ein anderer zu Unrecht verdächtigt worden war, und sprach den Angeklagten frei, weil es am Merkmal des Verdächtigens einer strafbaren Handlung fehle.328

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bb) Schutzzweck der verletzten Norm. In der Literatur wird die höchstrichterliche Rechtsprechung zu den mittelbaren Rechtsänderungen teilweise kritisiert. Der Schwerpunkt der Kritik wird auf den Schutzzweck der verletzten Vorschrift gelegt, der durch Rechtsänderungen der in Bezug genommenen Strafgesetze nicht berührt werde.329 Für das Vortäuschen einer Straftat und die Falsche Verdächtigung (§§ 145d und 164) wird ganz überwiegend eine Milderung verneint, wenn die Strafbarkeit der Tat, die vorgetäuscht wurde oder deren ein anderer falsch verdächtigt wurde, nach Tatbegehung beseitigt worden ist, weil das verletzte Schutzgut von der Gesetzesänderung unberührt bleibe.330 Hingegen wird bei der Strafvereitelung nach § 258 überwiegend die Anwendung von § 2 Abs. 3 bejaht, mit der Begründung, nach dem Schutzzweck des § 258 müsse eine mittelbare Rechtsänderung auch dem Täter einer Strafvereitelung zugutekommen.331 Gleiches müsse für die Begünstigung und die Hehlerei (§§ 257, 259) gelten.332 Teilweise

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326 BGHSt 43 156, 158 mit abl. Anm. Dreher NJW 1960 1163. 327 OLG Düsseldorf NJW 1969 1679. 328 BayObLG JZ 1974 392 f mit abl. Anm. K. Meyer JR 1975 68; Wenner MDR 1975 161; zustimmend Blei JA 1974 139; Mazurek JZ 1976 234, 237. 329 Dreher NJW 1960 1163 f; K. Meyer JR 1975 68, 69 ff; Jäger SK Rdn. 30; Wenner MDR 1975 161 f. 330 Jäger SK Rdn. 30; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 25; Sch/Schröder/Lenckner/Bosch § 164 Rdn. 10; Sch/Schröder/Sternberg-Lieben § 145d Rdn. 25; Schmitz MK Rdn. 45; aA Hassemer/Kargl NK Rdn. 39; Mazurek JZ 1976 234, 237. 331 Hassemer/Kargl NK Rdn. 40; Jäger SK Rdn. 30; Mohrbotter ZStW 88 (1976) 923, 956 f; Sch/Schröder/ Eser/Hecker Rdn. 25; Sch/Schröder/Stree/Hecker § 258 Rdn. 10; Schmitz MK Rdn. 46. 332 Hassemer/Kargl NK Rdn. 40; Jäger SK Rdn. 30; Schmitz MK Rdn. 44; vgl. auch Jakobs AT 4/72 Fn. 104.

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wird auch danach differenziert, ob die Gesetzesänderung das Unrecht der Rechtsgutsverletzung333 bzw. den Unrechtskern334 berührt. Hinter dieser Differenzierung verbirgt sich die schon vom Reichsgericht vorge- 117 nommene Unterscheidung zwischen der „Änderung der Rechtsanschauung“335 und der „Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Voraussetzungen“336 des Strafrechts (siehe auch Rdn. 146). Wenn Gesetzesänderungen aus Gerechtigkeitserwägungen vorgenommen werden, sollten sie stets als Milderungen berücksichtigt werden. Wenn die Rechtsänderungen hingegen gerechtigkeitsneutral sind, sollten sie nicht zu einer Milderung führen.337 Bei dieser Abgrenzung ist jedoch zu beachten, dass jede Gesetzesänderung, die zu einer geringeren Belastung für den Bürger führt, grundsätzlich auch eine Bewertungsänderung beinhaltet.338 Daher ist das Milderungsgebot stets anzuwenden, zumal im Strafrecht erhöhte Anforderungen an die Rechtssicherheit und an die Vorhersehbarkeit von Strafnormen einschließlich der auf außerstrafrechtliche Regelungen verweisenden Normen gelten.339 Deshalb können auch diese Einschränkungskriterien nicht überzeugen, zumal sie der gegenwärtigen Gesetzgebung, die durch Maßnahme- und Änderungsgesetze geprägt ist, nicht gerecht werden. cc) Fortbestehen eines Regelungseffektes. Zu ähnlichen Ergebnissen wie die 118 Rechtsprechung führt die Differenzierung nach dem Kriterium des fortbestehenden Regelungseffektes: Vortäuschen einer Straftat werde, so Jakobs, nicht milder, wenn die Norm, deren Übertretung vorgetäuscht werde, außer Kraft gesetzt wird; Verdächtigung werde nicht durch Aufhebung der Verfolgbarkeit für den Verdächtigungsgegenstand, Strafvereitelung nicht durch Aufhebung der Verfolgbarkeit für die vom Destinatär der Vereitlung begangene Tat milder; denn diese Gesetze knüpften an den Regelungseffekt, nicht aber an die Normen selbst an. dd) „Lose und gefestigte Akzessorietät.“ Hassemer/Kargl differenzieren zwischen 119 Straftaten mit „loser“ und „gefestigter Akzessorietät“. Bei loser Akzessorietät führe nur ein Entfallen der Strafbarkeit der in Bezug genommenen Straftat zur Milderung. Bei Straftaten wie der falschen Verdächtigung und dem Vortäuschen einer Straftat nach §§ 145d und 164 werde die in Bezug genommene „Straftat“ nur lose einbezogen: „im farblosen Dass, nicht im wertenden Wie (oder gar Wie schwer)“. Daher könne man von einer günstigeren Gestaltung der Rechtslage nur sprechen, wenn der Gesetzgeber aus der in Bezug genommenen Straftat zwischenzeitlich etwa eine Ordnungswidrigkeit gemacht habe. Hingegen sei eine bloße Milderung unbeachtlich, da das Unrecht der falschen Verdächtigung oder der Vortäuschung einer Straftat für das Unrecht ohne Belang sei. In den Fällen gefestigter Akzessorietät soll über die Aufhebung der Strafbarkeit 120 der in Bezug genommenen Straftat hinaus auch eine bloße Milderung berücksichtigt werden. Hierbei soll je nach Festigungsgrad differenziert werden, welche Anforderungen

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333 So C. Schröder ZStW 112 (2000) 44, 64 ff. 334 So Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 24 f. 335 RGSt 32 110, 112. 336 RGSt 46 307, 308. 337 Näher dazu Käckell Die Bedeutung des Strafgesetzbegriffes in der Lehre von der strafrechtlichen Rückwirkung (1977) S. 95 f; Mezger ZStW 42 (1921) 348, 356 f, jeweils m.w.N. 338 Näher dazu Dannecker S. 489. 339 BVerfGE 5 25, 31; 8 274, 302; Tiedemann FS Peters 193, 201 f unter Berufung auf Affolter Das intertemporale Recht. Das Recht der zeitlich verschiedenen Rechtsordnungen Bd. I Teil 1 Geschichte des intertemporalen Strafrechts (1902) S. 625 Fn. 2 und Scheerbarth Die Anwendung von Gesetzen auf früher entstandene Sachverhalte (sogenannte Rückwirkung von Gesetzen) (1961) S. 94.

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an die Unrechtskontinuität der Vortat zu stellen sind. So soll bei der Hehlerei (§ 259) das Milderungsgebot erst dann anwendbar sein, wenn die zwischenzeitliche Milderung aus der Vortat eine rechtswidrige Tat gemacht hat, die nicht gegen fremdes Vermögen gerichtet ist, und nicht schon, wenn sich nur die systematische Einordnung dieser Vermögensstraftat verändert hat. Hingegen habe der Gesetzgeber bei § 257 und § 258 die Akzessorietät so weit gefestigt, dass zwischenzeitliche Milderungen der Vortat auf die Begünstigung und die Strafvereitelung durchschlagen müssten. Der Gesetzgeber habe dadurch, dass die Strafe nicht höher sein darf als die für die Vortat angedrohte Strafe,340 klar zum Ausdruck gebracht, dass Strafgrenzen und Milderungen im Bereich der Vortat den „uneigentlichen“ Teilnehmer begünstigen sollen. Diese Abgrenzung trägt den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 103 Abs. 2 GG nicht Rechnung. 121

ee) Anforderungen des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts und Berücksichtigung gesetzlicher Bewertungsänderung. Die in der Literatur vertretenen Einschränkungen des Milderungsgebots bei mittelbaren Rechtsänderungen (Rdn. 116 ff) können nicht überzeugen. Damit eine Gesetzesänderung nicht zur Straflosigkeit führt, müssen zunächst die Anforderungen des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts erfüllt sein. Bezüglich der Delikte, auf welche das Vortäuschen einer Straftat, die falsche Verdächtigung und die Strafvereitelung341 verweisen, sind die Voraussetzungen des Art. 103 Abs. 2 GG erfüllt, da nicht auf in anderen Gesetzen bestimmte Pflichten verwiesen wird. Insoweit kann hier von einem „Regelungseffekt“ gesprochen werden.342 Bei der Begünstigung und der Hehlerei343 gilt dies gleichermaßen, zumal es sich bei den Vortaten nicht um nach deutschem Strafrecht strafbare Handlungen handeln muss, also kein nationales Strafgesetz, vorliegen muss. Sodann darf die Neuregelung keine Bewertungsänderung des Gesetzgebers bein122 halten. Wenn Strafgesetze geändert werden, die für die Strafbarkeit nach anderen Gesetzen relevant sind, legt der Gesetzgeber auch für die in Bezug nehmenden Straftatbestände der §§ 257, 258, 259, 164, 145d die Grenzen der Strafbarkeit neu fest und bestimmt, was strafbar sein soll. Er bewertet zugleich neu, welches Verhalten er missbilligt und in welchem Umfang er strafrechtlichen Schutz gewähren will. Lediglich wenn das Unrecht der Tat durch mittelbare Rechtsänderungen keine andere Bewertung erfahren würde, weil es sich um bloße „technische“ Änderungen (Rdn. 111) handelt, könnte auch noch nach Straflosstellung der Bezugstat eine Bestrafung vorgenommen werden. Dass das Unrecht der Tat durch mittelbare Gesetzesänderungen eine andere Bewertung erfährt, zeigt bereits der Einfluss gesetzlicher Milderungen auf die Strafzumessung. Dies ist bei der Begünstigung und der Strafvereitelung der Fall, bei denen sich dies aus § 257 Abs. 2 und § 259 Abs. 3 unmittelbar ergibt (siehe oben Rdn. 116). Es besteht keine Notwendigkeit, den Täter wegen Strafvereitelung oder Begünstigung zu verurteilen, wenn der Gesetzgeber selbst durch seine Gesetzesänderung zum Ausdruck gebracht hat, dass er die damals für die Bezugstat angedrohte Strafe nicht mehr für erforderlich und berechtigt hält. Der vom Täter herbeigeführte Erfolg steht unter Zugrundelegung der heutigen gesetzlichen Bewertung im Einklang mit der Rechtsordnung. Für die falsche Verdächtigung nach § 164 ist das Milderungsgebot gleichermaßen anzuwenden, denn nach h.M. wird nicht nur die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege, sondern auch die Gefahr für

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§ 257 Abs. 2; § 259 Abs. 3. §§ 145d, 164, 258. Dannecker S. 498; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 324. §§ 257, 259.

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den falsch Verdächtigten, ungerechtfertigten Eingriffen ausgesetzt zu sein, geschützt.344 Je gewichtiger aber die vorgeworfene Straftat ist, umso schwerwiegender ist der dem falsch Verdächtigten drohende Eingriff. Dieser Eingriff ist aber nach dem heutigen Bewertungsmaßstab des Gesetzgebers als weniger schwerwiegend einzustufen als zum Zeitpunkt der Tatbegehung, wenn das Strafgesetz zwischenzeitlich gemildert wurde.345 Dieselben Überlegungen führen bei der Hehlerei zur Anwendung des Milderungsgebots. Denn bei § 259 handelt es sich nach h.M. um ein Vermögensdelikt, das zur „Aufrechterhaltung des durch die Vortat geschaffenen rechtswidrigen Vermögenszustandes durch einverständliches Zusammenwirken mit dem Vortäter“ führt.346 Zwar hat der Gesetzgeber bei § 259 keine Deckelung der Strafe vorgesehen, wie sie § 257 Abs. 2 für die Begünstigung vorschreibt. Gleichwohl kann im Rahmen der Strafzumessung beim Hehler berücksichtigt werden, dass die Vortat mit geringerer Strafe bedroht ist als die Hehlerei, da kein Grund vorliegt, die Festigung einer rechtswidrigen Besitzlage strenger zu ahnden als das Herstellen dieser Position.347 Dem Vortäuschen einer Straftat nach § 145d liegt der Gedanke zugrunde, eine ungerechtfertigte Inanspruchnahme des behördlichen Apparates zu verhindern.348 Die Täuschungshandlung bleibt zwar nach wie vor eine Tat, die den behördlichen Apparat einer ungerechtfertigten Inanspruchnahme ausgesetzt hat. Gleichwohl hat durch die Milderung oder Aufhebung der Bezugstat eine Bewertungsänderung stattgefunden. Dies spiegelt sich darin wider, dass das Ausmaß des Unrechts des § 145d maßgeblich von der Schwere der vorgetäuschten Straftat abhängt. Deshalb wurde die Gesetzesregelung im Falle einer Milderung nicht nur durch eine andere ersetzt,349 sondern auch eine günstigere Gestaltung vorgenommen. Dies muss erst recht gelten, wenn der in Bezug genommene Straftatbestand aufgehoben worden ist. Würde man in solchen Fällen das Milderungsgebot nicht anwenden, so hätte der Ge- 123 setzgeber keine Möglichkeit, die falsche Verdächtigung oder das Vortäuschen einer Straftat bezüglich bestimmter Straftaten, die er für straflos erklären will, aufzuheben.350 Der ihm hierfür allein zur Verfügung stehende Weg ist der, die Bezugstat für straflos zu erklären. Wenn er die zur Tatzeit bestehende Rechtslage für die zutreffende hält und diese aufrecht erhalten will, damit die falsche Verdächtigung oder das Vortäuschen einer Straftat weiterhin unverändert bestraft werden kann, so steht es in seinem Ermessen, eine künftige Anwendung der aufgehobenen Vorschrift auf die Altfälle ausdrücklich anzuordnen. Dadurch würde im Falle einer bloßen Milderung des Bezugsgesetzes eine Milderung im Rahmen der Strafzumessung ausgeschlossen.351 ff) Außer Kraft getretene Zeitgesetze. Wenn es sich bei der Bezugstat um ein 124 Zeitgesetz im Sinne des § 2 Abs. 4 handelt, das zwischenzeitlich außer Kraft getretenen ist, bleibt die Strafvereitelung oder Begünstigung hiervon unberührt.352

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344 BGHSt 5 66; 9 240; 14 240, 244; 18 333; Lackner/Kühl/Kühl § 164 Rdn. 1; Fischer § 164 Rdn. 2; Vormbaum NK § 164 Rdn. 7; jeweils m.w.N. 345 Dannecker S. 499. 346 BGHSt 7 134, 137; Lackner/Kühl/Kühl § 259 Rdn. 1; Fischer § 259 Rdn. 2; Altenhain NK § 259 Rdn. 1, 3; jeweils m.w.N. 347 Sch/Schröder/Stree/Hecker § 259 Rdn. 54. 348 Vgl. BGHSt 6 251, 255; 19 305, 307 f; Sch/Schröder/Stree/Sternberg-Lieben § 145d Rdn. 1 m.w.N. 349 So aber Hassemer/Kargl NK Rdn. 39, die nur bei Aufhebung der Strafbarkeit § 2 Abs. 3 anwenden. 350 Zum Recht des Gesetzgebers, über das Ob und Wie des strafrechtlichen Schutzes zu entscheiden, vgl. Dannecker S. 484 ff. 351 Dannecker S. 499. 352 Dannecker S. 500.

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e) Verweisungen auf konstitutive Akte der Verwaltung und Gerichte. Wenn Strafgesetze auf konstitutive Urteile (Rdn. 127) oder Verwaltungsakte (Rdn. 126) und nicht auf die dem Hoheitsakt zugrunde liegenden Rechtsnormen verweisen, handelt es sich um statische Verweisungen. Werden die den sekundären Rechtssetzungsakten ermächtigenden Normen geändert, so bleiben die Hoheitsakte hiervon unberührt. Damit führt eine Änderung der ermächtigenden Normen bei konstitutiven Urteilen und Verwaltungsakten zu keiner relevanten Rechtsänderung, so dass sich die Frage nach dem Eingreifen des Milderungsgebots nicht stellt.353 Praktische Relevanz erlangt dies vor allem bei verwaltungsaktsakzessorischen 126 Straftatbeständen. Dies gilt gleichermaßen für Allgemeinverfügungen, die sich an einen nach allgemeinen Merkmalen bestimmten oder bestimmbaren Personenkreis richten oder die öffentliche Eigenschaft einer Sache oder die Benutzung einer solchen Sache durch die Allgemeinheit betreffen. Hierbei handelt es sich um Verwaltungsakte. Hierunter fallen insbesondere Verkehrsregelungen durch einen Polizeibeamten, durch eine Verkehrsampel und durch Straßenschilder, die gegenüber jedem einzelnen Verkehrsteilnehmer eine Regelung anordnen. Daher wirkt sich das nachträgliche Entfernen eines Verkehrszeichens auf den bereits entstandenen Verwaltungsakt, der an den Verkehrsteilnehmer in der konkreten Situation ergangen ist, nicht aus. Daher findet das Milderungsgebot keine Anwendung. Gleiches gilt für konstitutive Gerichtsurteile, die durch Straftatbestände in Bezug 127 genommen werden können, so z.B. für statusändernde Zivilrechtsurteile wie Ehescheidungen und Vaterschaftsfeststellungen, die für die Zukunft den Status einer Person gegenüber Jedermann festlegen. Nur wenn der Gesetzgeber für das Strafrecht eine Durchbrechung der Rechtskraft 128 konstitutiver Verwaltungsakte oder Gerichtsurteile ausdrücklich anordnet, liegt eine beachtliche Gesetzesänderung vor, die dem strafrechtlichen Milderungsgebot unterliegt.354 129

f) Europäische Verordnungen, Richtlinien und Rahmenbeschlüsse, Vorrang des Unionsrechts. Auch unionsrechtliche Regelungen, die aufgrund des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts zu einer Milderung der Rechtslage im Strafrecht führen, sind als gesetzliche Milderungen zu berücksichtigen. Dies gilt nicht nur für EU-Verordnungen, die als blankettausfüllende Normen in Bezug genommen werden, sondern gleichermaßen für Richtlinien und Rahmenbeschlüsse, welche sich begünstigend auf das Strafrecht auswirken.355 Nur auf diese Weise kann dem strafrechtlichen Milderungsgebot zu umfassender Geltung verholfen werden. Würde man Einschränkungen des Milderungsgebots in Abhängigkeit vom Unrechtsbezug des Unions- oder Gemeinschaftsrechts vornehmen, so könnte und müsste der Richter mittels Bestimmung des geschützten Rechtsguts über den Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Milderungsgebots entscheiden, wie anhand der Auswirkungen der EG-Richtlinie 91/439/EWG,356 über die in dem Awoyemi-Verfahren entschieden werden musste, gezeigt werden kann: In diesem Verfahren ging es um das Fahren ohne belgische Fahrerlaubnis in Belgien. Der Täter hatte jedoch in Großbritannien einen Führerschein nach EG-Muster erworben und lediglich versäumt, diesen innerhalb eines Jahres gegen eine belgische EG-Fahrerlaubnis um-

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353 BVerfGE 143 38, 56; Dannecker S. 468 ff; Mosbacher wistra 2005 54, 55. 354 Dannecker S. 471. 355 OLG Koblenz NStZ 1989 188; OLG Stuttgart NJW 1990 657; zum unionsrechtlichen Milderungsgebot s. Rdn. 216 ff. 356 ABl. Nr. L 375 vom 29.7.1980, 1.

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zutauschen. Nach der damals geplanten EG-Richtlinie 91/439/EWG sollte eine Umtauschpflicht nicht mehr zwingend, sondern lediglich fakultativ bestehen.357 Wäre der Täter in Deutschland mit dem britischen Führerschein gefahren, so hätte sich die Frage gestellt, ob sich das Unrecht des Fahrens ohne Fahrerlaubnis in der Inkriminierung des Fahrens ohne gültige Fahrerlaubnis, also im bloßen Ungehorsam, erschöpft hätte und deshalb eine mildernde Wirkung abzulehnen wäre, oder ob das Unrecht darin liegt, dass ein nach den nationalen Vorschriften nicht zur Führung eines Kfz geeigneter und deshalb abstrakt gefährlicher Fahrer am Straßenverkehr teilnimmt. Im letzteren Falle würde der Unrechtsgehalt durch den Wegfall der Umtauschpflicht tangiert, und eine Milderung wäre anzuerkennen. Um das Milderungsgebot nicht von solchen Differenzierungen des nationalen Rechts abhängig zu machen, ist bei strafbarkeitsbegrenzenden Richtlinien und Rahmenbeschlüssen das Milderungsgebot wegen der erhöhten Anforderungen an die Rechtssicherheit bei Vorschriften, welche die Rechtsgeltung und den zeitlichen Geltungsbereich betreffen, generell anzuwenden. Auf diese Weise wird außerdem sichergestellt, dass dem vorrangig anwendbaren Unions- oder Gemeinschaftsrecht zur Durchsetzung verholfen wird.358 Der BGH hat schließlich § 2 Abs. 3 nicht auf Einschränkungen des persönlichen 130 Anwendungsbereichs des Aufenthaltsgesetzes angewendet, die sich aus dem Beitritt der Mitgliedstaaten zur Europäischen Union ergeben. Der Beitritt führe nicht zur Straflosigkeit von Ausländern, die vor diesem Zeitpunkt den Tatbestand des unerlaubten Aufenthalts nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG verwirklicht haben, weil die strafrechtlich sanktionierte Norm unverändert geblieben sei.359 Mit derselben Begründung wurde auch die Anwendung des § 2 Abs. 3 auf das Arbeitserlaubnisrecht verneint.360 Diese Auffassung kann jedoch nicht überzeugen. § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG ist wegen des Genehmigungserfordernisses ein Sonderdelikt. Wenn dieses entfällt, verengt sich dadurch auch der Anwendungsbereich der Strafnorm, so dass das Milderungsgebot für Bürger, die dem Verbot nicht mehr unterliegen, eingreift. Dasselbe gilt für § 11 Abs. 1 Nr. 1 SchwarzArbG, dessen Anwendungsbereich sich durch die Bezugnahme auf die jeweils gültige Fassung von § 284 Abs. 1 SGB III, nach der die entsprechenden ausländischen Arbeitnehmer nach EUBeitritt und Ablauf der Übergangszeit keine Genehmigung mehr benötigen,361 verengt. Außerdem steht die Freizügigkeit der Unionsbürger, die im Rahmen des Milderungsgebots einer Bestrafung zu berücksichtigen ist,362 entgegen. 5. Gesetzesänderung zwischen Beendigung der Tat und Entscheidung. Gemäß 131 § 2 Abs. 3 ist das mildeste Gesetz anzuwenden, wenn das Gesetz, das bei Beendigung der Tat gilt, vor der Entscheidung geändert wird. Die Gesetzesänderung muss also zwischen der Beendigung der Tat und der Entscheidung liegen. Im Erkenntnisverfahren ist eine Änderung des sachlichen Rechts stets zu berücksichtigen, unabhängig davon, ob das Strafverfahren Verfahrensvoraussetzungen oder Verfahrenshindernisse, 363 den Tatbe-

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357 Art. 1 Abs. 2 und Art. 8 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie. 358 Näher dazu Dannecker FS Schroeder 761, 770 ff; Gleß GA 2000 224 ff. 359 BGHSt 50 105, 120 f unter Berufung auf Mosbacher wistra 2005 54, 55, zustimmend Fischer Rdn. 6. 360 BGH wistra 2012 28 f; wistra 2014 23 ff; OLG Bamberg wistra 2014 199 f; Mosbacher NStZ 2015 255, 258; aA Tuengerthal/Geißer NZWiSt 2014 412, 414; Tuengerthal/Rothenhöfer wistra 2014 417, 418. 361 Dazu Fromm WiRO 2011 114, 115; Tuengerthal/Geißer NZWiSt 2014 412, 412. 362 Näher dazu Dannecker ZStW 117 (2005) 697, 739 ff; ders. FS Schroeder 781, 770 ff; Gleß GA 2000 224 ff; vgl. auch unten Rdn. 162 f. 363 RGSt 43 122, 125; BGHSt 20 77, 78; 20, 116, 120; 22 375, 376; 24 106, 107 f; OLG Koblenz NStZ 1983 82; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 40 f; Roxin AT I § 5 Rdn. 62; Meyer-Goßner/Schmitt § 354a Rdn. 3 f.

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stand, die Rechtswidrigkeit, die Schuld oder einen Strafausschließungsgrund364 betrifft oder ob nur noch die Strafe als Rechtsfolge der Tat berührt wird, so wenn nach der Tat eine Strafmilderung für minder schwere Fälle365 vorgesehen wird.366 Gleichgültig ist weiter, ob die Entscheidung in erster Instanz, im Berufungsverfahren, im Revisionsrechtszug,367 ohne dass die Sachrüge erhoben sein muss,368 oder nach Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens ergeht. Unerheblich ist schließlich, ob die Entscheidung auf Grund einer Hauptverhandlung oder außerhalb der Hauptverhandlung im Beschlusswege369 ergeht. Der Berücksichtigung einer Gesetzesänderung steht nicht entgegen, dass über den Schuldspruch bereits rechtskräftig entschieden ist.370 Wird ein Strafgesetz, das bei Beendigung der Tat gilt, vor der Entscheidung geändert und hat ein gerichtlich anhängiges Verfahren eine Tat zum Gegenstand, die nach dem bisherigen Recht strafbar war, nach dem neuen Recht aber nicht mehr strafbar ist, so stellt das Gericht das Verfahren außerhalb der Hauptverhandlung durch Beschluss nach § 206b StPO ein; umstritten ist, ob diese Regelung auch im Revisionsverfahren gilt oder von § 354a StPO verdrängt wird.371 132 § 2 Abs. 3 gilt nicht nur für Entscheidungen im Erkenntnis- und Wiederaufnahmeverfahren, sondern auch für solche, die im Vollstreckungsverfahren ergehen, soweit nach Rechtskraft des Urteils für die Anwendung sachlichen Strafrechts noch Raum ist, z.B. bei Entscheidungen nach den §§ 57 und 57a.372 Das ergibt sich nicht schon daraus, dass § 2 Abs. 3 – anders als § 2 Abs. 2 StGB 1871 und 1953 – nicht von „Aburteilung“, sondern allgemeiner von „Entscheidung“ spricht; mit dieser Änderung, die dem E 62 folgt, sollte nur zum Ausdruck gebracht werden, dass die Pflicht zur Anwendung des mildesten Gesetzes gemäß § 354a StPO auch dem Revisionsgericht obliegt.373 Die (wenigstens sinngemäße) Anwendbarkeit des § 2 Abs. 3 im Vollstreckungsrecht ist vielmehr daraus zu entnehmen, dass Gewicht und Bedeutung einer bestimmten Strafe nicht nur durch die Vorschriften des sachlichen Strafrechts, sondern auch durch die Vollstreckung der Strafe beeinflusst werden (§ 1 Rdn. 237). 133

6. Bestimmung der „mildesten“ Rechtsfolge. Wenn ein Gesetz zwischen der Begehung der Tat und der Entscheidung geändert wird, muss bestimmt werden, welche Rechtslage die mildere ist. Dies erfordert einen Vergleich zwischen altem und neuem Recht (Rdn. 134). Dabei besteht Einigkeit, dass der Vergleich nicht abstrakt anhand der Gesetzestexte, sondern konkret in Bezug auf den jeweiligen Sachverhalt (konkrete Betrachtungsweise) vorzunehmen ist (Rdn. 134 ff). Die Feststellung des mildesten Gesetzes wird sodann nach dem Vergleich der Strafrahmen getroffen (Rdn. 137). Umstritten ist

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364 BGHSt 29 37, 40 zu § 371 Abs. 3 AO 1977. 365 Z.B. § 239a Abs. 2 i.d.F. des Gesetzes vom 9.6.1989; BGBl. I S. 1059. 366 BGHR § 2 Abs. 3 Gesetzesänderung 2 und 3. 367 BGHSt 5 207, 208; 6 186, 192; BGHSt 20 77, 78 f; 20 116, 117 f, 120; BGH StV 1998 380, 381; vgl. auch BVerfG NJW 1993 2167; BGHSt 26 94 mit krit. Bespr. Küper FS Pfeiffer 425; ders. NJW 1975 1329; einschränkend noch für das Revisionsverfahren RGSt 61 130, 135. 368 Hassemer/Kargl NK Rdn. 25; Küper NJW 1975 1329; ders. FS Pfeiffer 425; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 17; aA BGHSt 26, 94; Gribbohm LK11 Rdn. 16. 369 Vgl. § 349 Abs. 4, § 354a, § 371 StPO. 370 BGHSt 20 116, 117 f; BGH BGHR § 2 Abs. 3 – Gesetzesänderung 7; OLG Düsseldorf NJW 1991 710; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 17; Jäger SK Rdn. 25; Schmitz MK Rdn. 78; Meyer-Goßner/Schmitt § 354a Rdn. 5. 371 Für die Verdrängung durch § 354a StPO Gericke KK § 354a Rdn. 13 m.w.N; Schneider KK § 206b Rdn. 7. 372 Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 4. 373 E 1962, Begr. BTDrucks. IV/650, S. 106.

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jedoch, ob ein Gesamtvergleich des früher geltenden und des zur Tatzeit geltenden Strafrechts vorzunehmen ist (strenge Gesetzesalternativität;374 Rdn. 137 ff) oder ob bei sämtlichen Schritten der Rechtsfindung – getrennt nach Schuldspruch, Strafdrohung, Strafzumessungsvorschriften des Allgemeinen Teils sowie Nebenfolgen – die jeweils günstigere Regelung anzuwenden ist (Rdn. 142). a) Vergleich des Sachverhalts im Wege einer konkreten Betrachtungsweise. 134 Welches der in Betracht kommenden Gesetze das mildeste ist, richtet sich nicht nach der abstrakten Strafdrohung der Gesetze. Vielmehr ist unter Zugrundelegung einer konkreten Betrachtungsweise der Vergleich in Bezug auf den konkreten Fall vorzunehmen, und zwar nach den Auswirkungen für den Täter bei der konkreten Tat.375 Bei einem abstrakten Vergleich mehrerer Rechtslagen ohne Bezug auf den konkreten Sachverhalt würde der Grundsatz der Meistbegünstigung nicht gewahrt. Nur eine Subsumtion des Falles sowohl unter die alte als auch unter die neue Gesetzeslage in ihrer Gesamtheit ermöglicht eine Berücksichtigung aller relevanten Rechtsnormen. Es ist der gesamte Rechtszustand zu berücksichtigen, wie er einerseits zur Zeit der Tat und andererseits zur Zeit der Entscheidung bestanden hat.376 Die richterliche Prüfung muss spezifisch und umfassend in dem Sinn sein, dass sie sich auf die jeweilige Fassung von Strafdrohungen und Deliktstatbeständen erstreckt377 und sämtliche Änderungen des Allgemeinen Teils378 sowie im Internationalen Strafrecht 379 und im Europäischen Recht 380 berücksichtigt. Auch die Einführung zusätzlicher Sanktionsmöglichkeiten kann die Rechtslage aus der Sicht des Betroffenen verbessern, wenn dadurch dem Tatrichter Möglichkeiten zur Differenzierung eröffnet werden.381 Die völlige Aufhebung der Strafbarkeit bedeutet gleichermaßen eine Milderung.382 Der Vergleich der Rechtslage im konkreten Fall ist für jeden Tatbeteiligten geson- 135 dert zu untersuchen; sie kann beim Haupttäter anders zu beantworten sein als beim Anstifter und Gehilfen.383 Im Falle von Tateinheit (§ 52 Abs. 1) kommt es in erster Linie auf die Vorschrift an, nach der sich gemäß § 52 Abs. 2 die Strafe bestimmt.384 Soweit es auf einen Vergleich der Strafrahmenobergrenzen ankommt, ist auch eine Begrenzung zu beachten, die sich aus dem Verschlechterungsverbot (§ 358 Abs. 2 S. 1 StPO) ergibt.385 Im Falle der Realkonkurrenz ist jede Einzelstrafe als mildeste Strafe zu bilden.386

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374 So die Rechtsprechung und h.L.; vgl. nur BGHSt 20 22, 30; 24 94 97; BGH NJW 1991 1242 f; BGH NJW 2005 2566; BGH StraFo 2008 219; BGH NStZ-RR 2014 53; SSW/Satzger Rdn. 27; Schmitz MK Rdn. 33. 375 Vgl. nur RGSt 71 43; 75 310 mit Anm. Bockelmann DR 1941 2182 f; BGHSt 20 22, 25; 20 74, 75; 26 167, 170; 28 333, 337; 48 279, 290; 48 373, 383; BGH NStZ 1983 416; BGH wistra 1994 142, 145; BGH NStZ 2000 50; BGH wistra 2001 105; BGH NStZ RR 2002 201; Fischer Rdn. 10; Hassemer/Kargl NK Rdn. 24; Lackner/Kühl/Kühl Rdn. 3; Jäger SK Rdn. 33; Schmitz MK Rdn. 28; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 28; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 50; Roxin AT I § 5 Rdn. 65; jeweils m.w.N. 376 BGH Urt. v. 13.3.1975 – 4 StR 23/75; Beschl. v. 6.5.1975 – 5 StR 151/75. 377 C. Schröder ZStW 112 (2000) 44, 56. 378 BGHSt 26 167, 171; Maurach/Zipf § 12 Rdn. 7. 379 BGHSt 20 22, 25; OLG Düsseldorf NJW 1979 59, 61. 380 Gleß GA 2000 224 ff; Vogel GA 2003 314 ff; Lüderssen GA 2003 71; Dannecker in Schünemann/Suárez (Hrsg.) S. 331, 388 ff; S. 388 ff; ders./Freitag ZStW 116 (2004) 797, 800 ff; ders. FS Schroeder 761 ff. 381 BGHSt 28 333, 337 f. 382 BGHSt 20 116, 119; 48 77, 83; BayObLG NJW 1976 527, 528; Jescheck/Weigend § 15 IV 5; Tiedemann FS Peters 193; Roxin AT I § 5 Rdn. 62. 383 RG HRR 1928 Nr. 1526. 384 BGH Beschl. v. 3.10.1978 – 4 StR 509/78. 385 BGH NStZ 1992 94, vgl. auch RGSt 77 219, 221; BGHSt 20 22, 30; 20 177, 181; 24 94, 97; BGH NStZ 1983 80; 1983 268. 386 Jakobs AT 4/77.

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Bezugspunkt der Prüfung, welches von mehreren Gesetzen bei der Anwendung milder ist, ist dieselbe konkrete Tat, die sowohl der Subsumtion unter das alte Recht als auch unverändert der Subsumtion unter das neue zugrunde zu legen ist.387 Der Sachverhalt darf bei der Subsumtion unter das zur Zeit der Aburteilung geltende Strafrecht weder ganz noch teilweise durch ein fiktives Tatgeschehen ersetzt werden.388

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aa) Verhältnis von Haupt- zu Nebenstrafen und Nebenfolgen. Im Grundsatz ist anerkannt, dass die Hauptstrafen vor den Nebenstrafen und diese wiederum vor den Nebenfolgen rangieren. Nach Auffassung der Rechtsprechung dürfen Nebenstrafen und Nebenfolgen erst dann berücksichtigt werden, wenn sich beim Vergleich der Hauptstrafen eine Entscheidung über die Rangordnung nicht treffen lässt. Im Ergebnis soll stets nur ein Gesetz im Ganzen angewendet werden. Dieser Standpunkt einer „strikten Alternativität“ ist jedoch problematisch (näher dazu unten Rdn. 142). Zum Verhältnis von Straftaten zu Ordnungswidrigkeiten siehe oben Rdn. 86.

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bb) Verhältnis der Hauptstrafen zueinander. Die Geldstrafe ist neben der Freiheitsstrafe die zweite Hauptstrafe. Die Geldstrafe ist der Art nach stets milder als die Freiheitsstrafe.389 Dies gilt nach h.M. auch dann, wenn das frühere Recht eine äußerst niedrige Freiheitsstrafe und das neue Gesetz nunmehr eine sehr hohe Geldstrafe vorsieht.390 Die Geldstrafe ist selbst dann als mildere Strafe zu bewerten, wenn die Ersatzfreiheitsstrafe nach § 43 im Einzelfall höher wäre als die nach dem anderen Recht alternativ zu verhängende Freiheitsstrafe.391 Wenn die Freiheitsstrafe mit der Jugendstrafe392 zu vergleichen ist, ist § 18 Abs. 2 JGG in die Prüfung einzubeziehen, dessen erzieherische Zwecksetzung den Freiheitsentzug unter Umständen in die Länge zieht und damit als strenger darstellt.393 Wenn nach einem Gesetz eine kürzere Freiheitsstrafe vorgesehen ist, als das ande139 re Gesetz als Laufzeit der Geldstrafe festlegt, ist die Strafzumessung in eine Bestimmung der Strafdauer und eine Bestimmung der Strafart zu zerlegen und das jeweils mildere Gesetz anzuwenden.394 Die Höhe der Geldstrafe wird also durch die Dauer der Freiheitsstrafe begrenzt.395 Nur so kann ausgeschlossen werden, dass der Verurteilte eine längere Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen muss, als ursprünglich gesetzlich vorgesehen war. Droht das neue Gesetz neben der Geldstrafe Freiheitsstrafe an, so ist dieses Ge140 setz selbst dann härter, wenn das frühere Gesetz eine höhere Geldstrafe zugelassen hätte.396 Die durch das 1. StrRG eingeführte Regelung, wonach aus Freiheitsstrafe und Geldstrafe eine Gesamtfreiheitsstrafe gebildet werden kann,397 ist härter als das alte Recht,

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387 RGSt 33 187, 191. 388 BGHSt 34 272, 284. 389 RGSt 2 205, 206 f; 51 327, 329; 57 121, 122; 57 193, 198; 59 90, 98; 65 230; BGH bei Dallinger MDR 1975 541; BayObLG MDR 1972 884; Roxin AT I § 5 Rdn. 65; Hassemer/Kargl NK Rdn. 44. 390 AA Sommer S. 123 ff, 130, der eine Durchbrechung der strikten Alternativität der Gesetze fordert und die zu verhängenden Tagessätze durch die Höhe der zu vergleichenden Freiheitsstrafe begrenzt. 391 BGH bei Dallinger MDR 1975 541; Dannecker S. 529. 392 § 17 JGG; vgl. zu § 16a JGG (neben Jugendstrafe verhängter Jugendarrest) AG München ZJJ 2014 398. 393 Schmitz MK Rdn. 52; zustimmend Hassemer/Kargel NK Rdn. 44. 394 Jakobs AT 4/79; Hassemer/Kargl NK Rdn. 44; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 31; Dannecker S. 530. 395 Schröder JR 1966 68 ff. 396 RGSt 59 90, 98. 397 § 53 Abs. 2 S.

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wenn von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht wird.398 Die Frage nach dem milderen Gesetz ist nach den Konsequenzen für den konkreten Fall zu beantworten.399 cc) Verhältnis bundesdeutscher Sanktionen zu denen der DDR. Das Verhältnis 141 bundesdeutscher Sanktionen zu denen der DDR hat der Gesetzgeber in Art. 315 EGStGB ausdrücklich geregelt (Rdn. 179 ff): Nach Absatz 1 ist von einer Strafe abzusehen, soweit bislang eine andere Strafe als Freiheitsstrafe, Verurteilung auf Bewährung oder Geldstrafe zu verhängen gewesen wäre. Im Übrigen treten an die Stelle der bisherigen Strafen die Freiheits- und Geldstrafen nach bundesdeutschem Strafrecht. Nach Absatz 2 wird die Regelung des § 36 DDR-StGB für Geldstrafen durch die Vorschriften der §§ 40 bis 43 allerdings nur ersetzt, soweit damit „nach Zahl und Höhe der Tagessätze insgesamt das Höchstmaß der bisher angedrohten Geldstrafe“ nicht überschritten wird. Art. 315 Abs. 3 EGStGB ordnet die Anwendung der Vorschriften über die Aussetzung eines Strafrests und den Widerruf auch für bereits verhängte Freiheitsstrafen und Verurteilungen auf Bewährung an. b) Grundsatz strikter Alternativität. Die Rechtsprechung geht von dem Grund- 142 satz aus, dass stets nur das Gesetz im Ganzen angewandt wird, und lehnt eine Anwendung teilweise des alten, teilweise des neuen Gesetzes auf dieselbe Tat ab.400 Sie nimmt zunächst einen Vergleich der Hauptstrafen miteinander vor und leitet hieraus eine Entscheidung über die Rangordnung her. Wenn diese Prüfung ein milderes Gesetz ergibt, dürfen die in dem „milderen“ Gesetz vorgesehenen Nebenstrafen oder Nebenfolgen auch dann angeordnet werden, wenn das strengere Gesetz diese nicht vorsieht.401 Es soll also stets nur ein Gesetz im Ganzen angewendet und ein „Mischtatbestand“, der das alte und das neue Gesetz kombiniert, vermieden werden.402 Auch in der Literatur wird dieser Standpunkt „strikter Alternativität“ überwiegend vertreten.403 Maßregeln der Besserung und Sicherung scheiden bei diesem Vergleich aus. Diese Auffassung ist jedoch mit dem Prinzip der konkreten Betrachtung 143 (Rdn. 134) und mit dem Grundsatz der Meistbegünstigung (Rdn. 61) unvereinbar:404 So spricht gegen den Grundsatz strikter Alternativität des Gesetzes zunächst, dass minimale Unterschiede auf der Ebene der Hauptstrafen zur Anwendung eines Gesetzes führen können, das auf der Ebene der Nebenstrafen und Nebenfolgen erhebliche Belastungen für den Angeklagten mit sich bringen kann. Deshalb fordert eine im Vordringen begriffene Auffassung in der Literatur, für die Hauptstrafen und Nebenstrafen jeweils getrennt die mildere Sanktion festzustellen.405 Hiernach darf eine Nebenstrafe, die

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398 BayObLG MDR 1972 884. 399 Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 31; Sommer S. 130 ff. 400 BGHSt 20 22, 30; 24 94, 97; 37 320, 322; 38 18, 20; 41 247, 277; 48 77, 97; BGH NStZ-RR 2011 320, 321; OLG Karlsruhe NJW 1970 2072; OLG Koblenz NJW 1973 1759; OLG München wistra 2007 34, 35; ebenso Jäger SK Rdn. 39; Lackner/Kühl/Kühl Rdn. 3; Fischer Rdn. 9; Maurach/Zipf § 12 Rdn. 14. 401 BGHSt 24 94, 97; 37 320, 322; 38 18, 20; 41 247, 277; 48 77, 97; BGH NJW 1995 28, 61; 1997 951; NStZ RR 1998 103, 104; NStZ 2000 136; vgl. auch RGSt 58 238, 239; 59 90, 98; 65 237, 239; 77 219, 221. 402 So schon RGSt 61 76, 77; 74 133; 75 57; 77 221; BGHSt 20 22, 30. 403 Gribbohm LK11 Rdn. 21; Lackner/Kühl/Kühl Rdn. 3; Fischer Rdn. 9; Jäger SK Rdn. 39; Maurach/Zipf § 12 Rdn. 14. 404 Jakobs AT 4/78; Hassemer/Kargl NK Rdn. 45; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 32; Schröder JR 1966 68. 405 Jakobs AT 4/78; Hassemer/Kargl NK Rdn. 45; Schmitz MK Rdn. 50; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 32; Sommer S. 92 ff; Dannecker S. 525 f; Grötsch NZWiSt 2015 409, 412.

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das neue Recht vorsieht, die jedoch dem alten Recht unbekannt war, trotz Milderung der Hauptstrafen im neuen Recht nicht zur Anwendung kommen.406 Hierfür spricht, dass der Gesetzgeber in § 52 Abs. 4 für Nebenstrafen keine Addition, sondern eine Kombination der verschiedenen Sanktionen angeordnet hat. Eine nach neuem Recht allein vorgesehene Hauptstrafe ermächtigt nicht zur Verhängung einer früher angedrohten Nebenstrafe. Hierfür bedarf es einer zum Zeitpunkt der Verurteilung geltenden gesetzlichen Eingriffsermächtigung. Diese fehlt, wenn das neue Gesetz die Verhängung der Nebenstrafe nicht mehr kennt. Wenn sowohl nach neuem als auch nach altem Recht solche Sanktionen vorgesehen sind, begrenzen die aufgehobenen Vorschriften die neuen, soweit sie milder waren. Wenn das neue Gesetz Sanktionen vorsieht, die das alte nicht gekannt hat, verbietet das Rückwirkungsverbot eine Anwendung der Letzteren.407 Bei der Prüfung, welches Recht das mildere ist, muss bei jedem Schritt der Rechts144 findung, getrennt nach Schuldspruch, Strafdrohung, Strafzumessung, nach den Vorschriften des Allgemeinen Teils und über die Nebenfolgen, die für den Betroffenen jeweils günstigere Regelung ermittelt werden.408 Wenn eine Entscheidung über die Rangordnung im Bereich der Hauptstrafen nicht getroffen werden kann, weil sich im konkreten Fall keine Veränderung der Rechtsfolgen ergibt, werden die Nebenstrafen und Nebenfolgen berücksichtigt, um die mildere Strafe zu bestimmen. Ein „Zwischengesetz“, das zur Zeit der Tat noch nicht gegolten hat und bei der Entscheidung nicht mehr gilt, ist in die Prüfung mit einzuziehen.409 V. Regelungsinhalt des § 2 Abs. 4: Sonderregelungen für Zeitgesetze 145

Der Gesetzgeber hat in § 2 Abs. 3 den Grundsatz der Berücksichtigung einer mildernden Gesetzesänderung normiert, diesen jedoch in § 2 Abs. 4 S. 1 für Gesetze, die nur „für eine bestimmte Zeit gelten“, eingeschränkt. Solche Zeitgesetze sind auf Taten, die während deren Geltung begangen sind, auch dann anzuwenden, wenn diese Gesetze außer Kraft getreten sind. Dies gilt gemäß § 2 Abs. 4 S. 2 nicht, soweit ein Gesetz etwas anderes bestimmt (Rdn. 160). Die Sonderregelung des § 2 Abs. 3 verstößt nicht gegen Art. 15 Abs. 1 S. 3 IPBPR, da Deutschland diesbezüglich einen Vorbehalt erklärt hat (Rdn. 7).

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1. Entwicklung der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Obwohl eine Regelung für Zeitgesetze erstmals durch die Novelle vom 28.6.1935410 eingeführt wurde, hat das Reichsgericht Strafgesetze, deren Aufhebung oder Ablauf nicht auf einer Missbilligung der früheren Strafgesetzgebung beruhten, aus dem Anwendungsbereich des Milderungsgebot ausgenommen und dies damit begründet, dass es an einer „Änderung der Rechtsanschauung“ fehle.411 Außerdem würden unter der Anwendung der lex mitior kurzfristige Strafverbote gegen Ende ihrer Geltungskraft jegliche Wirkung verlieren müssten und derjenige, der das Strafverfahren hinauszögere, würde prämiert. Bei einem

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406 Schröder JR 1966 68. 407 Jakobs AT 4/78; Schmitz MK Rdn. 48 f; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 28 f; Dannecker S. 526. 408 Dannecker S. 525 f; Grötsch NZWiSt 2015 409, 412; Hassemer/Kargl NK Rdn. 45; Rogall KK-OWiG § 4 Rdn. 29; Schmitz MK Rdn. 50; Sommer S. 92. 409 E 1962, Begr. BTDrucks. IV/650, S. 107; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 27; Lackner/Kühl/Kühl Rdn. 3; siehe auch Rdn. 66. 410 RGBl. I S. 839; BVerfG NJW 1990 3140; BGH VRS 32 229; BGH bei Dallinger MDR 1970 196; BGH bei Herlan GA 1971 37; BayObLG NJW 1990 2833. 411 RGSt 50 398, 405 f.

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„Ablauf“ eines Gesetzes könne nicht von „Verschiedenheit der Gesetze“ gesprochen werden.412 Nachdem durch das 3. StrRG vom 4.8.1953 die Einschränkung des obligatorischen Milderungsgebots wieder rückgängig gemacht worden ist und für Zeitgesetze angeordnet wurde, dass „bei Verschiedenheit der Gesetze von der Zeit der begangenen Handlung bis zu deren Aburteilung […] das mildeste Gesetz anzuwenden“ ist, hat sich die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte 413 und des Bundesgerichtshofs 414 zunächst an der Rechtsprechung des Reichsgerichts orientiert und zwischen Veränderungen der Rechtsauffassung, die zu einem Dauergesetz führten, und Veränderungen der Lebensverhältnisse, die eine Einstufung als Zeitgesetz zur Folge hatten, orientiert. Als durch das 3. StrRG vom 14.8.1953 die mildernde Berücksichtigung einer gesetzlichen Änderung wieder zwingend angeordnet und eine Durchbrechung dieses Grundsatzes nur noch für Zeitgesetze vorgesehen wurde, erklärte der Bundesgerichthof in der Mineralölsteuer-Entscheidung (BGHSt 20 177 ff) die Unterscheidung zwischen einer Veränderung der Rechtsauffassung und einer Veränderung der Lebensverhältnisse mit Rücksicht auf die Neufassung der intertemporalen Strafrechtsregeln als eine vom Gesetz nicht mehr gedeckte Einschränkung der gesetzlichen Anordnung des Milderungsgebots. Der Gesichtspunkt der geläuterten Rechtsauffassung könne allerdings noch für die Prüfung Bedeutung erlangen, ob die geänderte Vorschrift ein Zeitgesetz war.415 Die besondere Bedeutung dieser Entscheidung liegt darin, dass das Milderungsgebot einschließlich der Zeitgesetzregelung erstmals auf blankettausfüllende Normen – auf steuerrechtliche Normen, die den Straftatbestand der Steuerhinterziehung ausfüllten – für anwendbar erklärt wurde (Rdn. 103). Durch die Ausweitung des Milderungsgebots auf außerstrafrechtliche Normen in der Mineralölsteuer-Entscheidung sah sich der Gesetzgeber daran gehindert, die Regelung für Zeitgesetze auf Zeitgesetze im engeren Sinne (Rdn. 155) zu beschränken, so dass die im 2. StrRG vom 4.7.1969416 enthaltene Änderung des § 2, nach der nur noch Zeitgesetze im engeren Sinne nach ihrem Außerkrafttreten angewendet werden sollten, nicht in Kraft gesetzt wurde. § 2 Abs. 4 sollte folgende Fassung erhalten: „Ein Gesetz, das nur bis zu einem bestimmten Zeitpunkt gelten soll, ist auf Taten, die während seiner Geltung begangen sind, auch dann anzuwenden, wenn es wegen Ablaufs dieser Zeit außer Kraft getreten ist.“ Diese Einschränkung des Begriffs „Zeitgesetz“ wurde in der amtlichen Begründung zu § 2 Abs. 3 E 62, dem § 2 Abs. 4 folgte, wie folgt begründet: „[…] Der Grundsatz der Rückwirkung des mildesten Rechts beruht auf dem Gedanken, daß in dem neuen Gesetz eine geänderte Rechtsauffassung zum Durchbruch gelangt. Dies trifft jedoch nicht immer zu. Oft werden Gebote und Verbote wegen besonderer tatsächlicher Verhältnisse nur für vorübergehende Zeit erlassen oder verschärft und wegen Änderung dieser Verhältnisse wieder gemildert, außer Kraft gesetzt oder nicht erneuert. Solche Zeitgesetze kommen namentlich bei Vorschriften auf den Gebieten des Wirtschaftsrechts, des Abgabenrechts und des Polizeirechts vor. In Fällen dieser Art darf auch die mildere Bestimmung nicht zurückwirken, da sonst solche Vorschriften gegen Ende ihrer Geltungszeit an Wirksamkeit verlören (vgl. Schäfer/von Dohnanyi Die Strafgesetze der Jahre 1931 bis 1935 [1936], S. 190) und Beschuldigte dem Versuch unterliegen könnten, das Verfahren zu verzögern. Das Gesetz vom 28. Juni 1935 (Reichsgesetzbl. I S. 839) hat eine ausdrückliche Bestimmung über

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Ausführlich dazu Mezger ZStW 42 (1921) 348, 362 ff. Näher dazu Dannecker S. 435 f m.w.N. BGHSt 6 30 ff. BGHSt 20 177, 182. BGBl. I S. 717.

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Zeitgesetze als § 2a Abs. 3 in das StGB eingefügt, die seit dem 3. Strafrechtsänderungsgesetz vom 4. August 1953 (Bundesgesetzbl. I S. 735) in § 2 Abs. 3 StGB enthalten ist. Aber schon Jahrzehnte vorher hat das Reichsgericht in ständiger Rechtsprechung bei der Auslegung des § 2 Abs. 2 StGB in der vor dem 28. Juni 1935 geltenden Fassung (jetzt § 2 Abs. 2 Satz 2 StGB) daran festgehalten, daß eine Rückwirkung milderer Gesetze ausgeschlossen ist, wenn die Gesetzesänderung nicht auf einen Wandel der Rechtsüberzeugung, sondern auf die Veränderung besonderer tatsächlicher Verhältnisse zurückzuführen ist (RGSt 13, 249, 251 f). Nach diesem Merkmal hatte die Rechtsprechung des Reichsgerichts auch noch nach Einführung der erwähnten gesetzlichen Regelung entschieden, ob ein Zeitgesetz vorliegt oder nicht (RGSt 74 300, 301 f; auch BGHSt 18 12, 16). Dieser Weg führte indessen nicht in allen Fällen zu einer einheitlichen Rechtsprechung. Denn es läßt sich nicht immer sagen, ob eine Gesetzesänderung auf einem Wandel der Rechtsanschauung oder der tatsächlichen Umstände beruht (vgl. BGHSt 18 12, 16). Der gesetzgeberische Beweggrund für eine Gesetzesänderung ist nicht immer offenkundig. Oft gehen auch Änderungen der Rechtsanschauung und der tatsächlichen Umstände Hand in Hand. Der Entwurf will dieser Rechtsunsicherheit begegnen. Er stellt daher leichter faßbare, förmlichere Voraussetzungen dafür auf, ob ein Zeitgesetz vorliegt […]. Zeitgesetze im Sinne des Entwurfs sind demnach nur Vorschriften, deren Geltungsdauer von vornherein oder durch ein späteres Gesetz kalendermäßig befristet ist und die allein wegen dieses Zeitablaufs außer Kraft getreten sind. Bei Gesetzen, die wegen besonderer tatsächlicher Verhältnisse erlassen worden waren, ohne in ihrer Geltungsdauer befristet zu sein, und dann außer Kraft gesetzt werden, verbleibt es bei dem Grundsatz des § 2 Abs. 3, wenn nicht der Gesetzgeber in dem Aufhebungsgesetz eine Sonderregelung trifft. Sie ist auch bei Zeitgesetzen möglich und z.B. im § 15 des Wirtschaftsstrafgesetzes 1954 (Bundesgesetzbl. I S. 175) getroffen worden. Die Anwendung des Absatzes 4 hängt somit künftig im wesentlichen von äußeren Umständen und nicht mehr von einer richterlichen Wertentscheidung ab […].“

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2. Neufassung des § 2 Abs. 4. Die geltende Neufassung des § 2 Abs. 4 ist am 1.1.1975417 in Kraft getreten. Sie beruht nach der Begründung zu Art. 17 Nr. 1 Buchst. a des Entwurfs zum EGStGB auf folgenden Erwägungen:418 „Bei den Arbeiten zur Anpassung des Nebenstrafrechts an den neuen Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs hat sich gezeigt, daß die Regelung des § 2 Abs. 4 StGB 1973 bei Blanketttatbeständen, die im Nebenstrafrecht sehr häufig vorkommen, zu praktisch nicht vertretbaren Ergebnissen führen würde. […] Der Regelung […] lag […] noch die damalige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu § 2 zugrunde, die inzwischen überholt ist. Der Bundesgerichtshof hatte zunächst im Anschluss an das Reichsgericht den Standpunkt vertreten, daß bei Blanketttatbeständen keine Gesetzesänderung vorliege, wenn nur die blankettausfüllenden Normen geändert würden (vgl. BGHSt 7 394). Auf der Grundlage dieser Rechtsprechung war die Aufhebung oder Änderung der blankettausfüllenden Vorschriften für die Strafbarkeit also ohne Einfluß, so daß die Regelung des Entwurfs 1962 gerade bei den Blankettvorschriften zu keiner unvertretbaren Abschwächung des Strafschutzes geführt hätte. Nachdem jedoch der Bundesgerichtshof inzwischen in Abkehr von der früheren Rechtsprechung den Standpunkt vertritt, daß bereits dann eine Gesetzesänderung vorliege, wenn die blankettausfüllenden Normen geändert würden (vgl. BGHSt 20 177), erscheint die in § 2 Abs. 4 StGB 1973 vorgesehene Regelung nicht mehr vertretbar. Gerade die blankettausfüllenden Normen sind ihrem Inhalt nach vielfach nur für vorübergehende, sich wandelnde Zeitverhältnisse erlassen (so z.B. Besteuerungsvorschriften, Einfuhrbeschränkungen nach dem Außenwirtschaftsgesetz; vgl. OLG Karlsruhe NJW 1968 1581; KG VRS 39 143), ohne daß es möglich ist, von vornherein oder später den genauen Zeitpunkt ihres Außerkrafttretens festzulegen, weil sich einfach nicht überschauen läßt, wie lange die Regelung notwendig sein wird. Der Entwurf zum StGB gibt deshalb dem § 2 Abs. 4 in Satz 1 der Sache nach wieder die Fassung des geltenden Rechts [gemeint ist: vor dem zunächst vorgesehenen Inkrafttreten des 2. StrRG am 1.10.1973. Der Entwurf zum EGStGB trägt das Datum vom 11.5.1973; § 2 Abs. 3 StGB]. Er geht dabei davon aus, daß die Regelung „für eine be-

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Art. 18 Abs. 2 Nr. 1 Buchst a, Art. 326 Abs. 1 EGStGB. Vgl. auch Kunert NStZ 1982 276.

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stimmte Zeit gelten soll“ in dem gleichen Sinne ausgelegt wird, wie dies bislang die Rechtsprechung zu § 2 Abs. 3 StGB 1953 getan hat. Gemeint ist damit also nicht ein kalendermäßig bestimmter Zeitpunkt; maßgeblich ist vielmehr, ob die Regelung für sich ändernde wirtschaftliche oder sonstige zeitbedingte Verhältnisse gedacht ist. Diese Auslegung erscheint schon deswegen gesichert, weil der Entwurf zum EGStGB die bisherige Fassung [§ 2 Abs. 4 StGB 1973] für einen bestimmten Zeitpunkt aufgibt (BTDrucks. 7/550 S. 206).“

Da § 2 Abs. 4 mit der wiedergegebenen Begründung das Gesetzgebungsverfahren 152 ohne Änderungen durchlaufen hat und die darin vorgenommene Auslegung mit dem Wortlaut im Einklang steht, hat der Begriff des Zeitgesetzes seit dem 1.1.1975 dieselbe Bedeutung wie zuvor.419 Daher ist auch die Rechtsprechung zu § 2 Abs. 3 des 3. StrRG (Rdn. 148) weiterhin von Bedeutung und kann für die Auslegung herangezogen werden. a) Materielle Rechtfertigung der Sonderregelung für Zeitgesetze. Die h.M. führt 153 als Begründung für die Sonderregelung des § 2 Abs. 4 für Zeitgesetze die Erkennbarkeit der nur begrenzten Geltungsdauer für den Bürger an. Ohne diese Sonderregelung würden Zeitgesetze gegen Ende ihrer Geltungsdauer nach und nach die erforderliche Achtung verlieren. Je näher der Zeitpunkt käme, zu dem sie außer Kraft treten sollen, umso begründeter wäre die Erwartung, dass ihre Übertretung vor Ablauf ihrer Geltungsdauer und damit endgültig nicht mehr bestraft werden könnte.420 Gegen die h.M. wird in der Literatur421 vereinzelt der Einwand erhoben, es sei nicht 154 einzusehen, was am Zerbröckeln der Autorität einer ohnehin bald abgelebten Norm nachteilig sein solle. Der Vollzug der Strafdrohung beim Zeitgesetz erfolge nicht, weil die Norm sonst zur Zeit ihrer vollen Geltung nicht durchzusetzen wäre, sondern weil das vergangene Verhalten auch zur Urteilszeit noch als Enttäuschung einer gegenwärtigen Erwartung definiert werde. Bei materieller Betrachtungsweise liege ein Zeitgesetz vor, wenn es Neufälle nicht erfasse, aber für Altfälle die zutreffende Regelung bleibe. Der Zeitgesetzcharakter wird also nicht ex ante, sondern ex post bestimmt. Hiergegen spricht jedoch, dass der Gesetzgeber mit der Regelung des § 2 Abs. 4 zum Ausdruck bringt, dass Zeitgesetze nur dann zur Verhinderung von Normverstößen sinnvoll eingesetzt werden können, wenn eine Sanktionierung auch noch nach dem Außerkrafttreten möglich bleibt. Nur unter dieser Voraussetzung ist es legitim, eine Konflikterledigung durch Strafe anzuordnen, obwohl die verletzte Norm nicht mehr Orientierungsmuster für zukünftige soziale Kontakte ist. Wenn aber das Außerkrafttreten des Zeitgesetzes nicht absehbar ist, entfällt die Legitimation für § 2 Abs. 4 und es muss § 2 Abs. 3 angewendet werden. Bei letzterer Regelung handelt es sich aber nicht um eine reine Rechtswohltat, die aus Billigkeitsgründen eingeräumt wurde,422 sondern um eine Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips (Rdn. 62). b) Zeitgesetze im engeren und im weiteren Sinne. § 2 Abs. 4 gilt für Zeitgesetze 155 sowohl im engeren als auch im weiteren Sinne (grundlegend dazu BGHSt 6 30, 36 ff). Zeitgesetz im engeren Sinne ist ein Gesetz, für das bei seiner Verkündung oder später

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419 Kritisch Rüping NStZ 1984 450, 451. 420 BGHSt 6 30, 38; BGH wistra 2011 70, 70; Frister 5. Kap. Rdn. 3; Hassemer/Kargl NK Rdn. 47; Jäger SK Rdn. 46; Schmitz MK Rdn. 55; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 34; SSW/Satzger Rdn. 33; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 316; Satzger Jura 2006 746, 751. 421 Jakobs AT 4/63. 422 So noch K. Meyer JR 1975 69 m.w.N.

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ausdrücklich ein nach dem Kalender festgelegter Zeitpunkt oder ein sonstiges in der Zukunft liegendes Ereignis bestimmt wird, zu dem das Gesetz außer Kraft treten soll.423 Zeitgesetz im weiteren Sinne ist demgegenüber ein Gesetz, bei dem sich die begrenzte zeitliche Geltung erst durch Auslegung des Gesetzes ergibt. Materielles Kriterium hierfür ist, ob das Gesetz nach seinem Inhalt für zeitlich bedingte Sonderverhältnisse, für „außergewöhnliche Verhältnisse“, gelten soll, mit deren Erledigung es selbst gegenstandslos wird.424 Ganz überwiegend werden aber auch alle Regelungen zeitlich wechselnder Verhältnisse als Zeitgesetze angesehen, „die erkennbar von vornherein Übergangscharakter haben“,425 denen also nach ihrem „Zweck und erkennbaren Willen nur vorübergehende Bedeutung zukommt“.426 Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Geltungsdauer kalendermäßig oder auf andere Weise ausdrücklich befristet ist.427 Jedoch muss das Außerkrafttreten des Gesetzes unabhängig von einer neuen Entscheidung des Gesetzgebers erfolgen; ansonsten stellt die gesetzgeberische Entscheidung eine „verbessernde Rechtserkenntnis“ dar, die als Gebot der materiellen Gerechtigkeit zu berücksichtigen ist und zur Anwendung des § 2 Abs. 3 führt.428 Unter den Begriff des Zeitgesetzes im weiteren Sinne fallen daher nur Vorschriften, die von vornherein Übergangscharakter haben,429 weil der Gesetzgeber mit ihnen erkennbar wechselnden Verhältnissen – und dies auch überwiegend nur nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten – gerecht werden will.430 Zumindest wird gefordert, dass die nur vorübergehende Geltung durch genaue Identifikation der situativen Gültigkeit von Anfang an deutlich und die Dauer der Geltung berechenbar gemacht wird.431 Unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten unvertretbar und daher abzulehnen432 ist die Forderung, alle von der Union aufgehobenen und von deutschen Strafvorschriften in Bezug genommenen Normen des Unionsrechts als Zeitgesetze zu behandeln, um Sanktionslücken durch Umsetzungsverzögerungen zu vermeiden,433 zumal dadurch gegen den in Art. 49 Abs. 1 Satz 3 GRC garantierten Grundsatz der lex mitior verstoßen würde.434 Eine weitergehende Ansicht will auch auf diese Einschränkung verzichten und z.B. 156 alle Steuergesetze als Zeitgesetze einordnen,435 weil Steuergesetze „von vornherein nur so lange zu gelten bestimmt seien, bis der wechselnde Finanzbedarf der öffentlichen Hand oder die mit einer Steuer verfolgten wirtschafts- oder sozialpolitischen Ziele eine Gesetzesänderung zweckmäßig erscheinen lassen“.436 Demgegenüber fordert die h.M. seit der Mineralölsteuer-Entscheidung des BGH (Rdn. 148) zu Recht, dass auch für blan-

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423 BGHSt 6 30, 36; BGH MDR 1964 160, 161; OLG Düsseldorf NStZ 1991 133; SSW/Satzger Rdn. 34; Schmitz MK Rdn. 52. 424 BGHSt 18 12, 14; 20 172, 183; BGH NJW 1952 72; OLG Köln NJW 1988 657, 659; Hassemer/Kargl NK Rdn. 48 f; Jäger SK Rdn. 47; SSW/Satzger Rdn. 35; Samson wistra 1983 235, 238; Schmitz MK Rdn. 59; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 35; vgl. auch Laaths S. 58 ff. 425 BGHSt 6 30, 37, 38; BGH NJW 1991 711. 426 BGHSt 6 30, 33. 427 RGSt 74 300, 301 f; BGHSt 6 30, 37; 18 12, 14 f; BGH MDR 1964 160, 161; OLG Düsseldorf NStZ 1991 133. 428 Näher dazu Dannecker S. 448. 429 Schmitz MK Rdn. 54 f; Jakobs AT 4/64 f. 430 Zur Berücksichtigung gesetzgeberischer Bewertungsänderungen auch bei Zeitgesetzen s. unten Rdn 130. 431 So SSW/Satzger Rdn. 35; ähnlich Hassemer/Kargl NK Rdn. 53. 432 SSW/Satzger Rdn. 35. 433 So Harms/Heine FS für Amelung 401 f; kritisch dazu Schützendübel S. 121 f. 434 Gaede wistra 2011 365, 372 f. 435 Samson wistra 1983 236 f; vgl. auch Franzheim NStZ 1982 276; Koch DStZ 1983 245 Fn. 5. 436 Kritisch dazu Flämig S. 88 ff; Kunert NStZ 1982 137, 138; Tiedemann/Dannecker S. 39 ff.

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kettausfüllende Normen die allgemeinen Kriterien eines Zeitgesetzes vorliegen müssen, wenn § 2 Abs. 4 eingreifen soll.437 Typische Zeitgesetze438 sind solche, die als Reaktionen auf Wirtschafts- und Ver- 157 sorgungs- oder politische Krisen erlassen werden, z.B. die Ergänzung von Preisstrafrechtsvorschriften (BGH NJW 1952 72), das Wohnraumbewirtschaftungsgesetz,439 befristete Investitionszulagen, die Einführung eines Sonntagsfahrverbots oder eines Embargos nach dem AWG (BGH StV 1999 26) sowie eine Erstattungsverordnung nach EG-Recht (BGH NStZ 1990 36).440 Weiterhin wurde das Vorliegen eines Zeitgesetzes insbesondere in Bezug auf Antidumping-Zölle,441 die Änderung des Begriffs der Überschuldung in § 19 Abs. 2 InsO,442 der inzwischen seinen Zeitgesetzcharakter verloren hat,443 und Altfälle unerlaubter Beschäftigung von Unionsbürgern444 diskutiert. c) Notwendigkeit einer restriktiven Auslegung des Begriffs des Zeitgesetzes im 158 weiteren Sinne. Angesichts der Tatsache, dass es sich beim Milderungsgebot um eine Ausprägung verhältnismäßiger Gerechtigkeit handelt und dieses Gebot im Rechtsstaatsprinzip fundiert ist (Rdn. 62), bedarf es klarer und transparenter Regeln, um eine Abgrenzung zur allgemeinen Zeitbedingtheit eines jeden Gesetzes vorzunehmen. Da das Bundesverfassungsgericht die Unterscheidung zwischen Dauergesetzen und Maßnahmegesetzen für verfassungsrechtlich irrelevant erklärt hat,445 ist auch für Letztere zu vermuten, dass es sich um dauerhafte Regelungen handelt,446 denn die Gestaltungsaufgabe stellt eine Dauerverpflichtung des Staates dar. Daher bedarf es einer restriktiven Auslegung des Begriffs des Zeitgesetzes.447 Die Anwendung des § 2 Abs. 4 ist nur dann legitim, wenn der Bürger das Außerkrafttreten des Gesetzes auf einen bestimmten Zeitpunkt beziehen und den Zeitpunkt der Aburteilung in diesem Zeitraum erwarten kann.448 Außerdem spricht für eine restriktive Auslegung des Zeitgesetzes, dass im Strafrecht grundsätzlich eine ausdrückliche Bezeichnung des zeitlichen Anwendungsbereichs er-

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437 Hassemer/Kargl NK Rdn. 55; MG/Heitmann § 3 Rdn. 16; Jäger SK Rdn. 49; Lackner/Kühl/Kühl Rdn. 8; Schmitz MK Rdn. 62; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 35; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 314; Fischer Rdn. 13b. 438 Vgl. dazu Tiedemann Artikel „Zeitgesetz“ in HdWiStR S. 1, 4; ders. Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 318. 439 OLG Hamm JMBl. NRW 1965 270. 440 Dannecker Parteispendenproblematik, S. 100; vgl. zum Embargo Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 318 m.w.N. sowie Ahlbrecht wistra 2007 85 ff und Mildeberger/Horrer StraFo 2008 58 ff bzgl. der Änderung des § 34 AWG durch die Neufassung des AWG vom 26.6.2006, BGBl. I S. 1386. 441 Für die VO (EG) Nr. 1470/2001 Zeitgesetzcharakter bejahend BGH wistra 2011 70, 70; Gaede wistra 2011 365, 366; Meyberg PStR 2010 278, 280 f. 442 Durch das Finanzmarktstabilisierungsgesetz (FMStG) vom 17.10.2008, BGBl. I S. 1982, 1988 f; bejahend Fischer Rdn. 13; Fromm/Gierthmühlen NZI 2009 665, 667 f; Jäger SK Rdn. 47; Schmitz wistra 2009 369, 372; aA wohl Adick HRRS 2009 155, 157; Bach StraFo 2009 368, 370, der das Vorliegen eines Zeitgesetzes nicht thematisiert, aber die Anwendung von § 2 Abs. 3 bejaht; Hassemer/Kargl NK Rdn. 52. 443 Dannecker/Knierim/Hagemeier Rdn. 61. 444 Betreffend §§ 404 Abs. 2 Nr. 3, 4 i.V.m. Abs. 3, 284 Abs. 1 S. 1 SGB III; bejahend Mosbacher NStZ 2015 255, 257; Tuengerthal/Geißer NZWiSt 2014 412, 415 ff sowie Tuengerthal/Rothenhöfer wistra 2014 417, 419 und dies./Hennecke NZWiSt 2015 445, 452 f, aber die Anwendung des § 2 Abs. 4 wegen Anwendungsvorrangs des Unionsrechts verneinend; aA Fromm WiRO 2011 114, 115 f. 445 BVerfGE 25 371, 396. 446 Starck Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes (1970) S. 50. 447 BGH MDR 1964 160, 161; Lackner/Kühl/Kühl Rdn. 8; Dannecker S. 446; Kunert NStZ 1982 276, 279; Tiedemann/Dannecker S. 30; Ludwig DAWR 1963 11; vgl. auch Jakobs AT 4/65. In Spanien wird – entsprechend Art. 15 Abs. 1 S. 3 IPBPR – nicht einmal das Zeitgesetz im engeren Sinne als Ausnahme des Grundsatzes der lex mitior anerkannt; vgl. dazu Schünemann/Suárez/Sanchez S. 134, 143 f. 448 Hassemer/Kargl NK Rdn. 52 f.

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forderlich ist.449 Dies gilt insbesondere, wenn die Bestimmungsfunktion des Strafgesetzes betroffen ist. Art. 103 Abs. 2 GG erfordert, dass der Bürger vorhersehen kann, wozu und bis zu welchem Zeitpunkt er zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet ist.450 d) Berücksichtigung gesetzgeberischer Bewertungsänderungen. Wenn der Gesetzgeber ein Zeitgesetz nachträglich aufhebt oder nachträglich eine mildere Regelung einführt, ist es ein Gebot der materiellen Gerechtigkeit, die Regelung des § 2 Abs. 4 für Zeitgesetze nicht anzuwenden. Vielmehr muss dem Täter die neue gesetzgeberische Entscheidung als „verbessernde Rechtserkenntnis“ zugutekommen: Wenn die außergewöhnlichen Verhältnisse nicht mehr in gleicher Weise geregelt werden wie zur Zeit der Einführung des Zeitgesetzes, liegt eine Bewertungsänderung durch den Gesetzgeber vor, mit der zum Ausdruck gebracht wird, dass das Zeitgesetz auch für die Altfälle nicht mehr als die zutreffende Regelung Geltung beanspruchen will. Daher ist mit der h.M. § 2 Abs. 3 auch auf nachträgliche gesetzliche Milderungen eines Zeitgesetzes anzuwenden.451 160 Ein ursprünglich als Zeitgesetz im weiteren Sinne gedachtes Gesetz kann seine Eigenschaft als Zeitgesetz mit zunehmender Dauer verlieren, wenn die besonderen Verhältnisse, die seiner Einführung zugrunde lagen, sehr lange anhalten.452 Dies beruht darauf, dass dadurch der erkennbare Übergangscharakter verloren geht und für den Bürger nicht mehr vorhersehbar ist, dass bis zur Aburteilung das Gesetz ohne erneute Entscheidung des Gesetzgebers außer Kraft getreten sein wird.453 Auch der umgekehrte Fall ist vorstellbar: Ein als Dauerregelung gedachtes Gesetz kann erst durch nachträgliche Befristung zum Zeitgesetz werden.454 159

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3. Übergangsregelungen (§ 2 Abs. 4 S. 2). Zeitgesetze treten nach Ablauf ihrer Geltungsdauer außer Kraft, sofern gesetzlich nichts anderes bestimmt ist. Es ist offensichtlich, dass diese Folge, die sich aus dem Charakter des Zeitgesetzes ergibt, zu Unklarheiten führen kann, soweit es um die Anwendung von Zeitgesetzen im weiteren Sinne (Rdn. 155) geht. Der Gesetzgeber kann solchen Unklarheiten vorbeugen, indem er Übergangsregelungen schafft (Rdn. 166) oder Abweichendes bestimmt.455

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4. Verdrängung der Regelung für Zeitgesetze des § 2 Abs. 4 durch Art. 49 Abs. 3 GRCh? § 2 Abs. 4 StGB erklärt das Milderungsgebot bei Zeitgesetzen für grundsätzlich nicht anwendbar (Rdn. 7) und schließt so das Meistbegünstigungsprinzip bei Zeitgesetzen aus. Art. 49 GRCh enthält demgegenüber keine Begrenzung des Milderungsgebots bei Zeitgesetzen. Damit stellt sich die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh der nationalen Regelung des § 2 Abs. 4 StGB Grenzen setzt. Dies ist nicht abschließend geklärt. Die hier bestehende Kontroverse wurde im Zusammenhang mit der Einschränkung von Grundfreiheiten Angehöriger von Mitgliedstaaten,

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449 Lackner/Kühl/Kühl Rdn. 8; Tiedemann/Dannecker S. 30: Tiedemann FS Peters 193, 201 f; Rüping NStZ 1984 450, 451. 450 Dannecker S. 447. 451 RGSt 50 399, 400 ff; 56 415, 425; 57 209 f; 61 222, 223; 63 68, 70; 64 399, 400; 65 57, 58; Jäger SK Rdn. 50; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 38; vgl. auch BayObLG wistra 1994 355 (zu § 98 GüKG a.F., der nicht wegen zeitbedingt geänderter Verhältnisse, sondern auf Grund der europäischen Rechtsharmonisierung aufgehoben wurde); aA Gribbohm LK11 Rdn. 43. 452 BGHSt 6 30, 39 (im Falle einer vorübergehenden Straßenverkehrsregel, die 13 Jahre galt). 453 Dannecker S. 449. 454 BayObLGSt 1961 149. 455 § 2 Abs. 4 S. 2.

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die neu der EU beigetreten waren (Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit für Bulgaren und Rumänen), und dem späteren Wegfall dieser Einschränkungen geführt.456 Der EuGH nahm hierzu in der Rechtssache Paoletti457 Stellung. Ausgangspunkt des 163 Sachverhalts ist die illegale und strafbare Beschäftigung rumänischer Staatsangehörige in Italien in der Zeit vor dem Beitritt Rumäniens. Nach dem Beitritt Rumäniens zur EU und der damit einhergehenden Arbeitnehmerfreizügigkeit wäre heute kein Straftatbestand mehr verwirklicht. Hier stellt der EuGH auf die tatbestandliche Beendigung der Straftat vor dem Beitritt ab und kommt zu dem Ergebnis, dass die Strafbarkeit des damaligen Geschehens nicht entfalle, weil sich die strafrechtliche Bewertung des Verhaltens nicht geändert habe, sondern nur der vorgelagerte tatsächliche Sachverhalt. Er legt dar, dass eine gegenteilige Entscheidung darauf hinausliefe, diese Art von Handeln ab dem Zeitpunkt zu fördern, zu dem ein Staat in den Prozess zum Beitritt zur Union eingetreten ist, weil die Arbeitskräftehändler dann über die Gewissheit verfügten, später straffrei auszugehen. Das erreichte Ziel stünde also im Widerspruch zu dem vom Unionsgesetzgeber angestrebten Ziel. Damit kommt derselbe materielle Gesichtspunkt wie bei der Einschränkung des lex mitior-Grundsatzes bei Zeitgesetzen zum Tragen. Daher kann davon ausgegangen werden, dass der EuGH bei der Bestimmung der Grenzen des Milderungsgebots zu ähnlichen Ergebnissen kommen wird, wie sie auch im nationalen Recht vertreten werden.458 VI. Regelungsinhalt des § 2 Abs. 5: Einziehung und Unbrauchbarmachung § 2 Abs. 5 entspricht weitgehend der Vorschrift des § 2 Abs. 5 E 62. In der Entwurfs- 164 begründung459 heißt es dazu: „Absatz 5 erklärt die Vorschriften über die zeitliche Geltung der Strafgesetze auch für den Verfall, die Einziehung und die Unbrauchbarmachung für entsprechend anwendbar. Das entspricht nicht nur der Billigkeit, sondern ist auch geboten, um die Rechtsprechung auf eine sichere Grundlage zu stellen. Der Verfall von Gegenständen nähert sich nach seinem rechtlichen Gehalt der Strafe. Auch die Einziehung und die Unbrauchbarmachung haben unter gewissen Voraussetzungen den Charakter einer strafähnlichen Maßnahme. Die bedeutsame Frage der zeitlichen Geltung der Gesetze kann für diese Maßnahme nur einheitlich entschieden werden. Es ist daher sachgerecht, den Verfall, die Einziehung und die Unbrauchbarmachung in der Frage der zeitlichen Geltung ebenso wie Strafen zu behandeln.“

Nach diesen Motiven liegt die Bedeutung der Vorschrift des § 2 Abs. 5 in einem 165 Doppelten: Werden nur die Bestimmungen über die bezeichneten Maßnahmen geändert, ohne dass sich das sachliche Strafrecht im Übrigen ändert, oder handelt es sich im selbständigen Einziehungsverfahren460 oder im subjektiven Strafverfahren461 allein um die Anordnung einer Maßnahme, so ist im Hinblick auf § 2 Abs. 3 auf Grund eines Vergleiches der alten mit den neuen Maßnahmevorschriften zu ermitteln, welche von ihnen milder sind. Ändern sich auch die Straftatbestände und/oder die Strafdrohungen, so sind im Strafverfahren in den gebotenen Gesamtvergleich, welche Rechtslage im konkre-

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456 Ablehnend Mosbacher NStZ 2015, 255; bejahend Tuengerthal/Rothenhöfer wistra 2014, 417. 457 EuGH Urt. v. 6.10.2016 – C 218/15 (Paoletti u.a.); dazu Gazin Europe 12/2016 S. 17; Gundel BayVBl. 2017 649, 653. 458 Dannecker FS Kindhäuser, S. 67, 77. 459 E 1962, Begr. BTDrucks. IV/650 S. 107. 460 §§ 440, 442 StPO. 461 Vgl. BGHSt 21 367, 370.

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ten Fall dem Angeklagten günstiger ist, die Regelungen über die in Rede stehenden Maßnahmen mit einzubeziehen.462 Der Hinweis auf den strafähnlichen Charakter der Maßnahmen in der Begründung des Entwurfs verbietet wenigstens für diesen Fall die Annahme, bei der Ermittlung des milderen Gesetzes sei nunmehr hinsichtlich der Hauptstrafen einerseits und der Maßnahmen andererseits eine getrennte Prüfung am Platze.463 Überholt ist die frühere Rechtsprechung, welche die Einziehung und die Unbrauchbarmachung dem § 2 Abs. 4 StGB 1953464 unterstellte, soweit sie Sicherungscharakter haben.465 Das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch enthält folgende Sonderregelung: 166 Art. 316h EGStGB Übergangsvorschrift zum Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung „Wird über die Anordnung der Einziehung des Tatertrages oder des Wertes des Tatertrages wegen einer Tat, die vor dem 1. Juli 2017 begangen worden ist, nach diesem Zeitpunkt entschieden, sind abweichend von § 2 Absatz 5 des Strafgesetzbuches die §§ 73 bis 73c, 75 Absatz 1 und 3 sowie die §§ 73d, 73e, 76, 76a, 76b und 78 Absatz 1 Satz 2 des Strafgesetzbuches in der Fassung des Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13. April 2017 (BGBl. I S. 872) anzuwenden. Die Vorschriften des Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13. April 2017 (BGBl. I S. 872) sind nicht in Verfahren anzuwenden, in denen bis zum 1. Juli 2017 bereits eine Entscheidung über die Anordnung des Verfalls oder des Verfalls von Wertersatz ergangen ist.“

VII. Regelungsinhalt des § 2 Abs. 6: Maßregeln der Besserung und Sicherung 167

Für die Maßregeln wird – abweichend von § 2 Abs. 1 und 2 – grundsätzlich die Anwendung des Gesetzes vorgeschrieben, das zur Zeit der Entscheidung gilt.466 Die Abweichung gilt – anders als im Falle des § 2 Abs. 3 – nicht nur bei nachträglicher Milderung des Gesetzes, sondern auch, wenn das neue Gesetz die Verhängung einer Maßregel überhaupt erst ermöglicht oder wenn es sie verschärft. § 2 Abs. 6 greift weiterhin ein, wenn es sich bei dem früheren Gesetz um ein Zeitgesetz im Sinne des § 2 Abs. 4 (Rdn. 155 f) handelt.

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1. Verfassungsrechtliche Bedenken. Gegen § 2 Abs. 6 ergeben sich in erster Linie Bedenken aus dem Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG (§ 1 Rdn. 360 ff), über das sich der einfache Gesetzgeber nicht ohne weiteres hinwegsetzen darf. Diese Bedenken beruhen darauf, dass die im Rahmen eines strafgerichtlichen Verfahrens ausgesprochene Maßregelanordnung zum einen wenigstens die Begehung einer rechtswidrigen, abstrakt mit Kriminalstrafe bedrohten Tat voraussetzt und zum anderen vergleichbar intensiv in die Freiheitssphäre des Betroffenen eingreift wie die Verhängung der korrespondierenden Strafe.467 Hinzu kommt, dass diejenigen Maßregeln, die primär nicht auf eine therapeutische Behandlung des Verurteilten gerichtet sind, von „echten“ Strafen nur schwer unterschieden werden können.468 Schließlich bestehen innerhalb des zwei-

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462 BGHR AO § 374 Konkurrenzen 1. 463 AA Tröndle LK11 Rdn. 51; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 32. 464 Jetzt: § 2 Abs. 6. 465 BGHSt 16 49, 56; 19 63, 69; 23 64, 67. 466 Vgl. BGH NStZ 1986 524; BGH NStZ 2008 28, 29; BGH NStZ RR 2008 74, 74. 467 Schmitz MK Rdn. 62; Jakobs AT 4/56. 468 Best ZStW 114 (2002) 88, 114 ff; Jung FS Wassermann, S. 875, 886; Kaspar ZStW 127 (2015) 654 ff; SSW/Satzger Rdn. 39.

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spurigen Sanktionensystems so vielfältige Verflechtungen zwischen Strafen und präventiven Maßregeln, dass aus Sicht des Art 103 Abs. 2 GG die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer solchen Differenzierung zweifelhaft ist.469 Diese Bedenken wiegen umso schwerer, als es weder nach der Überschrift des § 2 („Zeitliche Geltung“) noch nach dem Wortlaut seines Absatzes 6 ausgeschlossen ist, eine Maßregel zu verhängen, die als Reaktion auf die Tat erst nach deren Begehung geschaffen worden ist. Gleichwohl hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit des § 2 Abs. 6 (im Hinblick auf die Sicherungsverwahrung wegen ihres rein präventiven Charakters bejaht (näher dazu Rdn. 171).470 Aus diesen Gründen will eine Meinung in der Literatur Art. 103 Abs. 2 GG auf Maß- 169 regeln der Besserung und Sicherung erstrecken, weil die Strafe neben dem Schuldausgleich im modernen Resozialisierungsstrafrecht ebenso wie die Maßregel vorwiegend präventiven Zwecken diene, weshalb eine unterschiedliche Behandlung von Strafen und Maßregeln der Besserung und Sicherung nicht zu legitimieren sei.471 Dies soll jedenfalls dann gelten, wenn die Maßnahmen der Strafe an Wirkung gleich stehen.472 Teilweise wird auch danach differenziert, ob die Maßregel rein therapeutischen Zwecken dient oder auch eine Übelzufügung darstellt,473 ob die Maßregel auch im Verwaltungsweg verhängt werden kann474 oder ob es sich um Gesetzesverschärfungen handelt, die sich nicht auf einen bei Tatbegehung nachweislich Schuldunfähigen beziehen.475 2. Zulässigkeit nachträglicher Verschärfungen nach h.M. Die h.M. in Rechtspre- 170 chung und Literatur geht gleichwohl von der Verfassungsmäßigkeit des § 2 Abs. 6 aus und verneint ein Eingreifen des Art. 103 Abs. 2 GG bei Maßregeln der Besserung und Sicherung. Dies wird damit begründet, dass die Strafe trotz der inzwischen allgemein anerkannten Resozialisierungsaufgaben nicht nur spezial- und generalpräventive Zwecke verfolgt, sondern auch Vergeltung üben soll. Demgegenüber knüpfen die Maßregeln der Besserung und Sicherung, losgelöst von der Schuld, an der sich lediglich in einer bestimmten Tat realisierenden Gefährlichkeit des Täters an, der am zweckmäßigsten mit den im Zeitpunkt der Entscheidung zur Verfügung stehenden Mitteln entgegengetreten werden kann. Reine Präventivmaßnahmen seien bereits vom Wortlaut des Art. 103 Abs. 2 GG nicht erfasst,476 zumal dem Grundgesetzgeber das zweispurige Sanktionensystem bekannt gewesen sei, auch wenn es erst nach Inkrafttreten des Grundgesetzes eingeführt worden sei.477

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469 Vgl. nur Best ZStW 114 (2002) 88, 89, 114 ff. 470 BVerfG 109 133, 173; zust. Fischer Rdn. 15; Rössner HK-GS Rdn. 16; siehe auch BGHSt 24 103, 106. 471 Best ZStW 114 (2002) 88, 97 ff; Diefenbach S. 60 ff; Dietz S. 95 f; 105 ff; Hassemer/Kargl NK Rdn. 60 f; Jung FS Wassermann 875, 884; Kinzig StV 2000 330, 332 ff; Naucke JuS 1989 862, 865; ders. Sonderheft zu KrtiV 2000 132, 133 f; 135 f; Ullenbruch NStZ 1998 326, 329. 472 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 7 Rdn. 57; Jäger SK Rdn. 52; Stratenwerth/Kuhlen AT § 3 Rdn. 12; Wassermann AK-GG Art. 103 Rdn. 46; aA Dreier-III/Schulze-Fielitz Art. 103 Abs. 2 Rdn. 21. 473 So Schmidhäuser AT 5/20; ähnlich bereits Gallas ZStW 80 (1968) 1, 11 f; vgl. auch Gribbohm LK Rdn. 15, 18. 474 Jakobs AT 4/56 mit Fn. 90; F.-C. Schroeder JR 1971 379, 380. 475 Best ZStW 114 (2002) 88, 97 ff. 476 Appel Verfassung und Strafe (1998) S. 508 f; Dannecker S. 297 ff; Jescheck/Weigend § 15 IV 3; Frister 5. Kap. Rdn. 6; Lackner/Kühl/Kühl § 1 Rdn. 8; Peglau NJW 2000, 179, 180 f; Roxin AT I § 5 Rdn. 55; Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 61, 75; Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 40; differenziert Maunz/Dürig/Remmert 83. EL April 2018 Art. 103 Abs. 2 Rdn. 62 ff. 477 BGHSt 24, 103, 106; Peglau NJW 2000, 179, 180; Roxin AT I § 5 Rdn. 56; aA Gribbohm Vorauf. § 1 Rdn. 18; Rüping BK Art. 103 Abs. 2 GG Fn. 132.

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a) Sicherungsverwahrung. Praktische Relevanz hat die verfassungsrechtliche Problematik durch die rückwirkende Streichung der nach § 67d Abs. 1 a.F. zwingenden Höchstfrist für die erste Unterbringung in der Sicherungsverwahrung durch § 67 Abs. 3 n.F. i.V.m. Art. 1a Abs. 3 EGStGB erlangt.478 Diesbezüglich hat das Bundesverfassungsgericht einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG verneint, dessen Normzweck ein erhöhter Schutz gegenüber spezifisch strafrechtlichen Maßnahmen sei, mit denen der Staat auf schuldhaftes Unrecht antworte. Der Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 2 GG sei auf staatliche Maßnahmen beschränkt, die eine missbilligende hoheitliche Reaktion auf ein rechtswidriges schuldhaftes Verhalten darstellen und wegen dieses Verhaltens ein Übel verhängen, das dem Schuldausgleich dient. Es genüge nicht, dass eine Maßnahme an ein rechtswidriges Verhalten anknüpfe.479 Dieser Entscheidung ist zuzustimmen: Das strafrechtliche Rückwirkungsverbot 172 dient dem Zweck, eine nachträgliche Verschärfung der in der Strafbemessung liegenden Unrechtsbewertung zu verhindern.480 Da die nur an der zukünftigen Gefährlichkeit des Täters orientierte Maßregel der Sicherheitsverwahrung das Unrecht der Tat nicht mitbestimmt, unterfällt sie auch nicht den Garantien des Art. 103 Abs. 2 GG. Daher ist § 2 Abs. 6 eine verfassungskonforme Regelung. Maßregeln der Besserung und Sicherung unterliegen somit auch weiterhin nur dem allgemeinen (außerstrafrechtlichen) Bestimmtheitsgebot und dem allgemeinen Rückwirkungsverbot.481 Die sachlich fragwürdige Regelung des § 2 Abs. 6 darf allerdings nicht über die in § 61 bezeichneten „Maßregeln der Besserung und Sicherung“ hinaus auf ähnliche Sanktionen angewendet werden.482 Mit Urteil vom 17.12.2009483 bejahte der Europäische Gerichtshof für Menschen173 rechte unter „autonomer“, von der Charakterisierung im nationalen Recht unabhängiger Auslegung des Begriffs „Strafe“ einen Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK. Die Sicherungsverwahrung sei insbesondere im Hinblick auf die Schwere des Eingriffs als Strafe i.S.d. Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK einzustufen. In der Folge wurden in Rechtsprechung und Literatur verschiedene Ansätze zur Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR vertreten.484 Während eine Anwendung des Rückwirkungsverbots auch weiterhin abgelehnt wurde,485 hielt man teilweise eine konventionskonforme Auslegung des § 2 Abs. 6 dahingehend, dass Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK bzw. dessen Konkretisierung durch die Rechtsprechung des EGMR eine andere gesetzliche Bestimmung sei, für möglich.486 Nicht überzeugen können die Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs für 174 Menschenrechte hinsichtlich der Annahme eines Verstoßes gegen Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK, da auch andere Unterzeichnerstaaten zwischen Strafe und Maßregel differenzie-

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478 Näher dazu Mushoff KritV 2004 137 f. 479 BVerfGE 109 133, 171; kritisch dazu Mushoff KritV 2004 137, 140 ff. 480 Dannecker S. 301. 481 Lackner/Kühl/Kühl § 1 Rdn. 8; Rüping BK Art. 103 Abs. 2 Rdn. 75; dazu auch Zabel JR 2012 467, 470. 482 Sch/Schröder/Eser/Hecker Rdn. 40. 483 EGMR StV 2010 181, 184 ff; zustimmend Eschelbach NJW 2010 2499, 2499 f; Laue JR 2010 198, 202 f; Müller StV 2010 207, 212; Renzikowski ZIS 2011 531, 534. 484 Zur Reichweite der Bindungswirkung BVerfGE 128 326, 367 ff; Grabenwarter JZ 2010 857, 859 ff; Satzger StV 2013 243, 245; Renzikowski ZIS 2011 531, 541 f. 485 BGH NJW 2010 1539, 1544; OLG Celle NStZ-RR 2010 322; OLG Koblenz Beschl. v. 7.6.2010 – 1 Ws 108/10; OLG Stuttgart Beschl. v. 1.6.2010 – 1. 486 BGH HRRS 2010 Nr. 648 Rdn. 20; OLG Frankfurt aM NStZ 2010 321, 321 f; OLG Hamm Beschl. v. 6.7.2010 – 4 Ws 157/10; OLG Karlsruhe Beschl. v. 15.7.2010 – 2 Ws 458/09; Ahmed StV 2010 574, 574 f; Gaede HRRS 2010 329, 336 ff; Grabenwarter JZ 2010 857, 866 f; aA BGH NJW 2011 240, 242 f; Radtke NStZ 2010 537, 546.

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ren und diese Garantie nur auf Strafen anwenden.487 Durch die autonome Begriffsbestimmung der Strafe stellt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte jedenfalls nicht das zweispurige System auf nationaler Ebene in Frage,488 so dass dem Festhalten am deutschen Strafbegriff durch das Bundesverfassungsgericht beizupflichten und dessen aktueller Entscheidung im Ergebnis zuzustimmen ist.489 Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit seinem zweiten Urteil zur Siche- 175 rungsverwahrung aus dem Jahr 2011490 gegen beide der aufgezeigten Ansätze gestellt und in Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung die Regelungen zur Sicherungsverwahrung für verfassungswidrig erklärt und – unter Festhalten am zweispurigen System von Strafe und Maßregeln der Besserung und Sicherung – Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK und die Wertungen der Rechtsprechung des EGMR im Rahmen der Verhältnismäßigkeit bei der Grundrechtsprüfung berücksichtigt. Mit der Forderung nach einer Ausgestaltung der Sicherungsverwahrung unter deutlichem Abstand zum Strafvollzug („Abstandsgebot“) richtete sich das Bundesverfassungsgericht maßgeblich an den Gesetzgeber,491 der hierauf mit dem am 1.6.2013 in Kraft getretenen „Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung“492 reagierte und eine entsprechende Änderung der Vorschriften zur Sicherungsverwahrung vorgenommen hat. Für die Sicherungsverwahrung sieht der im Jahr 2013 eingeführte Art. 316f EGStGB 176 vor, dass die Neuregelungen nur für Anlasstaten gelten, die nach Inkrafttreten des Neurechts begangen worden sind. Nach Art. 316f Abs. 2 EGStGB gelten die materiellen Anordnungsvoraussetzungen des alten, mit dem Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22.12.2010493 geschaffenen Rechts,494 wenn die letzte Anlasstat vor dem 1.6.2013 begangen wurde. Für den Vollzug der Sicherungsverwahrung ordnet Art. 316f Abs. 3 EGStGB demgegenüber sowohl für Altals auch für Neufälle ohne zeitliche Differenzierung die Geltung des § 66c StGB an. b) Inhabilitätsregelungen des § 6 Abs. 2 Nr. 3 GmbHG. Unter dem Gesichtspunkt 177 des § 2 Abs. 6 erweisen sich die Inhabilitätsregelungen des § 6 Abs. 2 Nr. 3 GmbHG als problematisch.495 Diese erfüllen weder die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte noch vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Kriterien für das Vorliegen einer Strafe, noch sind sie im Katalog der Maßregeln der Besserung und Sicherung des § 61 aufgeführt. Sie stehen lediglich in ihrer Wirkung einem Berufsverbot nach § 61 Nr. 6 gleich.496 Um den Anwendungsbereich des § 2 Abs. 6 nicht zu weit auszudehnen, erscheint es überzeugender, die Inhabilitätsregelungen dem Gefahrenabwehrrecht – der

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487 So bereits Dannecker S. 301; Peglau NJW 2000 179, 181; kritisch auch Hörnle FS Rissing-van Saan 239, 243 ff; Lackner/Kühl/Kühl § 1 Rdn. 8; Landau NStZ 2013 194, 197 f; Windoffer DÖV 2011 590, 594, 598. 488 EGMR StV 2010 181, 185; Satzger StV 2013 243, 247. 489 So auch Eisenberg StV 2011 480, 480 im Hinblick auf das zweispurige Rechtsfolgensystem; aA Drenkhahn/Morgenstern ZStW 2012 132, 197 f; kritsch auch Kaspar ZStW 127 (2015) 654, 663 ff. 490 BVerfGE 128 326, 326 ff; dazu auch Dessecker ZIS 2011 706 ff; Kreuzer/Bartsch StV 2011 472 ff; Sachs JuS 2011 854 ff; Satzger StV 2013 243, 245 f; Volkmann JZ 2011 838 ff. 491 BVerfGE 128 326, 388; kritisch Pollähne StV 2013 249, 256 f; Streng StV 2013 236, 240; ders. JZ 2017 507, 508. 492 BTDrucks. 17/9874 S. 1 ff; BGBl. 2012 I 2425 ff; dazu Peglau JR 2013 249 ff; Pollähne StV 2013 249 ff; Zimmermann HRRS 2013 164 ff; vgl. dazu auch Esser JA 2011 727 ff mit einem Gesamtüberblick und Schäfersküpper/Grote NStZ 2016 197 ff mit einer aktuellen Bestandsaufnahme. 493 BGBl. I S. 2300. 494 BTDrucks. 17/9874 S. 30 f. 495 Erweiterung durch das Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) v. 23.10.2008, BGBl. I 2026. 496 Hinghaus/Höll/Hüls/Ransiek wistra 2010 291, 293.

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Gesetzgeber knüpft zu präventiven Zwecken an eine Verurteilung an und schließt aus der Verurteilung des Täters auf dessen Unzuverlässlichkeit – zuzuordnen, so dass Art. 103 Abs. 2 GG einer rückwirkenden Anwendung der Vorschriften nicht entgegensteht. Hier greift nur das allgemeine Rückwirkungsverbot ein.497 178

3. Durchbrechung des § 2 Abs. 6 durch Sonderregelungen. Die Regel des § 2 Abs. 6 greift nur ein, wenn und soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist. Eine in diesem Sinne „andere Bestimmung“ hat der Gesetzgeber für folgende Fälle des § 61 getroffen: für die Unterbringung in einer Anstalt nach den §§ 63 und 64,498 die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung,499 die Führungsaufsicht500 und das Berufsverbot.501 Berücksichtigt man diese Ausnahmen, so fällt aus dem Katalog des § 61 nur noch die Entziehung der Fahrerlaubnis unter § 2 Abs. 6. Damit war die verfassungsrechtliche Problematik der Regelnorm für die Praxis bis zur Neuregelung der Sicherungsverwahrung entschärft, zumal Maßregeln nach den §§ 63, 64 ersichtlich keinen Strafcharakter haben. VIII. Modifikationen durch den Einigungsvertrag

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Mit dem Wirksamwerden des Beitritts der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik Deutschland am 3.10.1990 wurden das StGB und das EGStGB auf das bisherige Staatsgebiet der DDR erstreckt. Damit stellte sich auch die Frage nach dem Verhältnis beider Rechtsordnungen zueinander. Der Gesetzgeber hat hierfür in Art. 315 bis 315c EGStGB Sonderregelungen getroffen, die § 2 modifizieren. Diese Übergangsregelungen führten zu einer Fülle von Streitfragen,502 die jedoch inzwischen kaum noch praktische Bedeutung haben, denn der weitaus größte Teil der Straftaten ist verjährt. Im Übrigen sind die wesentlichen Rechtsfragen durch Entscheidungen des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts geklärt.503

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1. Rechtliche Regelungen des Einigungsvertrages. Für Straftaten, die vor dem 3.10.1990 in der ehemaligen DDR begangen worden sind, sieht Art. 315 EGStGB,504 der durch das Einigungsvertragsgesetz eingeführt worden ist,505 folgende Regelungen vor: Artikel 315 Geltung des Strafrechts für in der Deutschen Demokratischen Republik begangene Taten (1) Auf vor dem Wirksamwerden des Beitritts in der Deutschen Demokratischen Republik begangene Taten findet § 2 des Strafgesetzbuches mit der Maßgabe Anwendung, daß das Ge-

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497 Hassemer/Kargl NK Rdn. 12 b; Hinghaus/Höll/Hüls/Ransiek wistra 2010 291, 292 ff; Schmitz MK Rdn. 15; aA Bittmann NStZ 2009 113, 119; Leplow PStR 2009 250, 250 f wegen der Parallele zu § 45, der als Nebenfolge eingeordnet wird. Vgl. auch § 1 Rdn. 100. 498 Art. 316 Abs. 1 EGStGB i.d.F. des Art. 4 Nr. 2 des 23. StRÄndG. 499 Art. 93 des 1. StrRG. 500 Art. 303 EGStGB. 501 Art. 305 EGStGB. 502 Näher dazu auch Dannecker S. 450 ff; Samson NJW 1991 335 ff; Lackner/Kühl/Kühl Rdn. 11 ff; Sch/Schröder/Eser/Hecker Vor §§ 3 bis 7 Rdn. 81 ff; F.-C. Schroeder NJW 2000 3017; Wassermann NJW 2000 403 ff. 503 Zusammenfassend dazu Rogall FS BGH 50 S. 383 ff; Hassemer FS BGH 50 S. 439 ff; Laufhütte FS BGH 50 S. 409 ff. 504 Anlage I Kapitel III Sachgebiet C Abschnitt II Nr. 1b. 505 Zur Entwicklung der Rechtsanpassung bis zum Einigungsvertrag vgl. Dannecker S. 236 f.

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richt von Strafe absieht, wenn nach dem zur Zeit der Tat geltenden Recht der Deutschen Demokratischen Republik weder eine Freiheitsstrafe noch eine Verurteilung auf Bewährung noch eine Geldstrafe verwirkt gewesen wäre. Neben der Freiheitsstrafe werden die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung sowie die Führungsaufsicht nach § 68 Abs. 1 des Strafgesetzbuches nicht angeordnet. Wegen einer Tat, die vor dem Wirksamwerden des Beitritts begangen worden ist, tritt Führungsaufsicht nach § 68 f des Strafgesetzbuches nicht ein. (2) Die Vorschriften des Strafgesetzbuches über die Geldstrafe506 gelten auch für die vor dem Wirksamwerden des Beitritts in der Deutschen Demokratischen Republik begangenen Taten, soweit nachfolgend nichts anderes bestimmt ist. Die Geldstrafe darf nach Zahl und Höhe der Tagessätze insgesamt das Höchstmaß der bisher angedrohten Geldstrafe nicht übersteigen. Es dürfen höchstens dreihundertsechzig Tagessätze verhängt werden. (3) Die Vorschriften des Strafgesetzbuches über die Aussetzung eines Strafrestes sowie den Widerruf ausgesetzter Strafen finden auf Verurteilungen auf Bewährung507 sowie auf Freiheitsstrafen Anwendung, die wegen vor dem Wirksamwerden des Beitritts in der Deutschen Demokratischen Republik begangener Taten verhängt worden sind, soweit sich nicht aus den Grundsätzen des § 2 Abs. 3 des Strafgesetzbuches etwas anderes ergibt. (4) Die Absätze 1 bis 3 finden keine Anwendung, soweit für die Tat das Strafrecht der Bundesrepublik schon vor dem Wirksamwerden des Beitritts gegolten hat.

Das Strafgesetzbuch der DDR (StGB-DDR) enthielt folgende Vorschriften, die inhalt- 181 lich dem § 2 zuzuordnen sind: § 81 (1) Eine Straftat wird nach dem Gesetz bestraft, das zur Zeit ihrer Begehung gilt. (2) Gesetze, welche die strafrechtliche Verantwortlichkeit begründen oder verschärfen, gelten nicht für Handlungen, die vor ihrem Inkrafttreten begangen wurden. (3) Gesetze, welche die strafrechtliche Verantwortlichkeit nachträglich auflieben oder mildern, gelten auch für Handlungen, die vor ihrem Inkrafttreten begangen wurden.

Zur Einschränkung dieser Grundsätze bei Verbrechen gegen den Frieden, die 182 Menschlichkeit und Kriegsverbrechen s. § 1 Rdn. 144. Dazu heißt es im StGB-Komm.-DDR § 81 Anm. 3: „Das Verbot der Rückwirkung der Strafgesetze erstreckt sich entsprechend den völkerrechtlichen Grundsätzen nicht auf Nazi- und Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“508 Das 6. StRÄndG-DDR vom 29.6.1990509 ließ § 81 StGB-DDR unverändert. 183 2. Unanwendbarkeit des § 2 auf vor dem Beitritt der DDR nach bundesdeut- 184 schem Strafrecht strafbare Taten (Art. 315 Abs. 4 EGStGB). Nach Art. 315 Abs. 4 EGStGB gilt § 2 für solche Alttaten nicht, für die das Strafrecht der Bundesrepublik schon vor dem Beitritt gegolten hat. Dies ist stets vorab zu prüfen.510 Art. 315 Abs. 4 EGStGB stellt nicht nur klar, dass in diesen Fällen für Alttaten die bundesdeutschen Normen weiter gelten,511 sondern auch, dass eine gegebenenfalls bestehende konkurrierende Strafbarkeit nach DDR-Recht hinter der Strafbarkeit nach bundesdeutschem Recht zurück-

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506 §§ 40 bis 43 Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik. 507 § 33 Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik. 508 Vgl. Art. 91 Verfassung, § 84 StGB sowie § 1 Abs. 6 EGStGB/StPO. 509 GBl. I Nr. 39 S. 526. 510 BGHSt 37 305, 309, 39 1, 6 f; 39 54, 59; 40 174; Hassemer/Kargl NK Rdn. 62; Lemke/Hettinger NStZ 1992 21, 23; Lackner/Kühl/Kühl Rdn. 22; Sch/Schröder/Eser/Hecker Vor §§ 3 bis 7 Rdn. 76; Fischer Vor §§ 3–7 Rdn. 33. 511 Zur Vereinbarkeit des Art. 315 Abs. 4 EGStGB mit Art. 3 GG siehe Gribbohm LK11 Rdn. 60a m.w.N.

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tritt.512 So ist ausschließlich bundesdeutsches Strafrecht maßgebend, wenn der Schusswaffengebrauch an der früheren DDR-Grenze eine Inlandstat war, weil der tatbestandsmäßige Erfolg auf bundesdeutschem Gebiet eingetreten ist.513 Gleiches gilt für die Fälle geheimdienstlicher Tätigkeit hauptamtlicher Mitarbeiter der MFS der ehemaligen DDR.514 Hierher gehören auch die Fälle politischer Verdächtigung nach § 5 Nr. 6 i.V.m. § 241a515 und § 234a516 sowie Alttaten, die als Auslandstaten zu beurteilen sind und sich gegen einen Deutschen i.S.d. § 7 Abs. 1 richteten, sofern das bundesdeutsche Recht bereits vor dem Beitritt anwendbar war. Hingegen ließ sich, wenn es aufgrund einer in der DDR begangenen politischen Verdächtigung (§ 241a) zu einer Freiheitsberaubung gekommen ist, die Anwendbarkeit des § 239 weder auf § 7 Abs. 1 noch § 5 Abs. 6 stützen.517 Das KG518 hielt Art. 315 Abs. 4 EGStGB n.F. insoweit für mit Art. 3 Abs. 1 GG unver185 einbar, als es die Möglichkeit der Strafverfolgung wegen Landesverrats und geheimdienstlicher Agententätigkeit gegen solche Personen bejahte, die ihre Tätigkeit vom Boden der ehemaligen DDR aus entfaltet haben und die im Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Einheit Deutschlands am 3.10.1990 ihre Lebensgrundlage in der ehemaligen DDR hatten (vgl. § 1 Rdn. 454). Dagegen wendet sich Wilke519 zutreffend mit der Begründung, § 315 Abs. 4 EGStGB beziehe sich nur auf solche Straftaten, die als „DDR-Alttaten“ sowohl nach dem Recht der früheren DDR als auch nach dem Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland (z.B. nach § 7 Abs. 1) vor dem 3.10.1990 mit Strafe bedroht waren. Abzulehnen ist auch die im Schrifttum520 vertretene Auffassung, die Verfolgung ehemaliger Angehöriger der H VA wegen Straftaten, die schon vor dem 3.10.1990 nach dem Recht der Bundesrepublik521 mit Strafe bedroht waren, verstoße gegen das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG. Diese Auffassung übergeht den Umstand, dass solche Taten bereits vor der Wiedervereinigung nach den (weiterhin) geltenden Vorschriften strafbar waren, selbst wenn sie damals nicht verfolgt werden konnten, weil die Täter dem Zugriff der (westdeutschen) Strafverfolgungsbehörden entzogen waren.522 186

3. Unanwendbarkeit des § 2 StGB bei fortgeltendem DDR-Strafrecht. § 2 StGB findet in Folge fehlender Gesetzesänderungen keine Anwendung, wenn die Fortgeltung des DDR-Rechts angeordnet ist. Zu nennen ist zunächst § 238 StGB-DDR, der die Beeinträchtigung der richterlichen Unabhängigkeit unter Strafandrohung stellt, sowie § 191a StGB-DDR in seiner Fassung durch den Einigungsvertrag, wonach einer unter Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten verursachte Verunreinigung des Bodens mit schädlichen Stoffen oder Krankheitserregern in bedeutendem Umfang strafbar geblieben ist.523 Weiterhin sind zu nennen: § 149 Abs. 1 StGB-DDR, der das Verbot des sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen beiderlei Geschlechts im Alter von 14 bis 16 Jahren durch Erwachsene unter Ausnutzung ihrer moralischen Unreife durch Geschenke, Versprechen

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512 Dannecker S. 238; Geiger JR 1992 397, 403; Fischer Vor §§ 3–7 Rdn. 33; Lackner/Kühl/Kühl Rdn. 22. 513 Sauter DtZ 1992 169, 170; Fischer Vor §§ 3–7 Rdn. 33; allgemein dazu BGHSt 42 235, 242; 45 100 m. Anm. Dölling JR 2000 379. 514 BGHSt 37 305; 39 260, 265 m. Anm. Träger NStZ 1994 282. 515 BGHSt 40 125, 132; dazu Amelung GA 1996 51, 68; vgl. auch Renzikowski JR 1992 270, 271. 516 BGHSt 40 125, 130 m. krit. Anm. Seebode JZ 1995 417; Reimer NStZ 1995 83. 517 Armbruster JuS 1993 38; aA BGHSt 32 293, 298 f. 518 NJW 1991 2501, 2504 = JR 1991 426 mit Anm. Volk. 519 Wilke NJW 1991 2465. 520 Widmaier NJW 1991 2460; Arndt NJW 1991 2466, 2467. 521 Sei es gemäß § 5 Nr. 4 oder gemäß § 9. 522 Insoweit ebenso Volk JR 1991 431 f. 523 Näher dazu Heine DtZ 1991 423, 424.

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von Vorteilen oder in sonstiger Weise enthält und den durch § 176 StGB bezweckten Schutz von Kindern unter 14 Jahren vor sexuellem Missbrauch auch jenseits dieser Altersgrenze schützt. Die bundesdeutschen Straftatbestände für homosexuelle Handlungen (§ 175 StGB), Verführung (§ 182 StGB) und Entführung mit Willen der Entführten (§ 236 StGB) sind von der Erstreckung des Strafgesetzbuchs auf die Beitrittsgebiete ausgenommen (EV I B III C III Nr. 1). Für den Schwangerschaftsabbruch gelten die §§ 152 ff StGB-DDR und die Mehrzahl der Bestimmungen des Gesetzes zur Unterbrechung der Schwangerschaft vom 9.3.1972 fort, die eine Fristenlösung vorsehen. Der Straftatbestand des Auswanderungsbetrugs (§ 144 StGB) bleibt auf das bisherige Bundesgebiet beschränkt. 4. Modifizierungen der Grundsätze des § 2 durch Art. 315 Abs. 1 bis 3 EGStGB. 187 Nach Art. 315 Abs. 1 EGStGB sind die Grundsätze des § 2 anzuwenden, soweit es um die Voraussetzungen der Strafbarkeit geht. Dabei wird das frühere DDR-Recht im Anwendungsbereich des Art. 315 Abs. 1 bis 3 EGStGB für das Beitrittsgebiet als das vorausgegangene Recht behandelt, das der Einigungsvertrag aufgehoben und durch das Recht der Bundesrepublik ersetzt hat.524 Für die Sanktionierung von Alttaten sah der Einigungsvertrag gewisse Modifizierun- 188 gen der sich aus dem allgemeinen Milderungsprinzip ergebenden Grundsätze vor, und zwar durch Art. 315 Abs. 1 bis 3 EGStGB in vierfacher Hinsicht: Durch Absehen von Strafe in Fällen, in denen nach dem zur Tatzeit geltenden DDR-Recht weder eine Freiheitsstrafe noch eine Verurteilung auf Bewährung noch eine Geldstrafe verwirkt gewesen wäre (Art. 315 Abs. 1 S. 1 EGStGB); durch Ausschluss der Sicherungsverwahrung und Führungsaufsicht (Art. 315 Abs. 1 S. 2 EGStGB); durch Anwendung des Tagessatzsystems auf Geldstrafen mit gewissen Höchstgrenzen (Art. 315 Abs. 2 EGStGB); durch Ermöglichung der Strafrestaussetzung wie auch des Aussetzungswiderrufs bei Verurteilungen auf Bewährung nach § 33 DDR-StGB und bei Freiheitsstrafen unter vorrangiger Berücksichtigung der lex mitior (Art. 315 Abs. 3 EGStGB). Zudem wurden für bestimmte Verfolgungsvoraussetzungen und -hindernisse gewis- 189 se Überleitungsregeln getroffen, so für die Verjährung (Art. 315a EGStGB); diese Regelung wurde durch drei weitere Verjährungsgesetze525 ergänzt (Rdn. 205). Als weitere verfolgungserhebliche Überleitungsregel ist für ein etwaiges Strafantragserfordernis des StGB in Art. 315b StGB vorgesehen, dass es auch für vor den 3.10.1990 in der DDR begangene Straftaten526 gilt, wobei die Antragsfrist frühestens am 31.12.1990 endete. War auch nach DDR-Recht bereits ein Strafantrag erforderlich, so blieb es dabei, wobei ein bereits vor dem DDR-Beitritt gestellter Antrag seine Wirksamkeit behielt bzw. eine bis zu diesem Zeitpunkt bereits abgelaufene Strafantragsfrist nicht mehr auflebt. 5. Differenzierung bei Alttaten. Eine erste Differenzierung ist bei Alttaten im Hin- 190 blick auf ihre mögliche Strafbarkeit vor dem 3.10.1990 nach DDR- und/oder nach bundesrepublikanischem Strafrecht vorzunehmen. Daraus ergeben sich drei Fallgruppen: 1. Alttaten, die zur Tatzeit nur nach bundesrepublikanischem Recht strafbar waren (Rdn. 189); 2. Alttaten, die zur Tatzeit nur nach DDR-Recht strafbar waren (Rdn. 191); 3. Alttaten, die zur Tatzeit sowohl nach DDR- als auch nach bundesrepublikanischem Recht strafbar waren (Rdn. 190).

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So die h.M.; vgl. nur BGHSt 37, 320; 38 1, 18; 38 88, jeweils m.w.N. Vom 26.3.1993 BGBl. I 392; vom 27.9.1993, BGBl. I 1657; vom 22.12.1997, BGBl. I 3223. Art. 315b EGStGB.

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a) Allein nach bundesrepublikanischem Recht strafbare Alttaten. Alttaten, die bereits vor dem 3.10.1990 nur nach bundesrepublikanischem Recht strafbar waren, wurden durch den Beitritt der DDR nicht berührt. Insoweit kommt der allgemeinen Vorbehaltsklausel des Art. 315 Abs. 4 EGStGB lediglich deklaratorische Bedeutung zu. 527 Gleichwohl ist diese ausdrückliche Klarstellung nicht überflüssig.528 Denn sie entzieht der Inlandslösung von Samson529 ebenso den Boden wie der von Luther vertretenen „DDR-Lösung“530 nach der sich die vor der Wiedervereinigung aus der Sicht der Bundesrepublik als Auslandstaten betrachteten DDR-Alttaten aufgrund des Beitritts zu Inlandstaten gewandelt haben. Es ist erklärtes Ziel des Art. 315 Abs. 4 EGStGB, die bereits vor dem DDR-Beitritt nach bundesrepublikanischem Recht begründete Strafbarkeit einer Alttat unberührt zu lassen.531 So hat der BGH hat zu Recht angenommen, dass frühere hauptamtlich tätige MfS-Angehörige weiterhin wegen Landesverrats und Gefährdung der äußeren Sicherheit532 strafrechtlich verfolgt werden können, die sie vor dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland begangen haben.533

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b) Nach DDR- und bundesrepublikanischem Recht strafbare Alttaten. Auch für Alttaten, die sowohl nach DDR- als auch nach bundesrepublikanischem Recht strafbar waren, enthält Art. 315 Abs. 4 EGStGB einen Anwendungsvorrang für das bundesdeutsche Strafrecht.534 Deshalb ist bei DDR-Alttaten stets zunächst eine mögliche Strafbarkeit nach bundesdeutschem Recht vorrangig zu prüfen.

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c) Allein nach DDR-Recht strafbare Alttaten. Soweit Alttaten zur Tatzeit nur nach DDR-Recht strafbar waren, ist zuerst zu prüfen, ob das fragliche DDR-Recht über den Beitrittszeitpunkt hinaus fort gilt. Fehlt es hieran, so ist zu prüfen, ob und inwieweit die nach DDR-Recht strafbare Tat bis zum Beitrittszeitpunkt in gleicher Weise straf- und verfolgbar blieb. Dies kann insbesondere infolge der Strafbarkeitsbeschränkungen durch das 6. DDR-StÄG fraglich sein. Wenn dies zu verneinen ist, ist bei dieser Fallgruppe jeder weiteren Strafverfolgung der Boden entzogen. War dagegen die zur Tatzeit geltende DDR-Strafvorschrift bis zum Beitrittszeitpunkt in Kraft, so ist in einem ersten Schritt davon auszugehen, dass am 3.10.1990 das DDR-StGB außer Kraft getreten. Mit dem bundesdeutschen StGB hat auch § 2 für das Beitragsgebiet Wirksamkeit erlangt, weshalb sich die Strafbarkeit nach dieser Vorschrift bestimmt. Nach § 2 Abs. 3 ist das jeweils mildeste Gesetz anzuwenden. Soweit es bei dem erforderlichen Gesamtvergleich lediglich um die mildeste Sanktion geht, sind die in Art. 315 Abs. 1 bis 3 EGStGB vorgesehenen Sonderregelungen zu berücksichtigen (Rdn. 192). Soweit es dagegen um Grundlage und Umfang der Strafbarkeit geht, greifen die Grundsätze des § 2 ein. Dabei stellen sich vor allem zwei Fragen: Zum einen die auf Tatbestandsebene erforderliche Unrechtskontinuität (Rdn. 193), und zum anderen die Berücksichtigung von etwaigen in der DDR rechtlich

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527 Vgl. BVerfGE 92 277, 313 ff. 528 Vgl. auch BGHSt 39 317, 319. 529 Samson NJW 1999 335; ders. NJ 1991 236; ders. StV 1992 141. 530 Luther NJ 1991 395 ff; ders. DtZ 1991 433 ff. 531 Albrecht Kadelbach NJW 1992 137 f; König JR 1993 207, 208; Lackner/Kühl/Kühl Rdn. 23; Lippold NJW 1992 18, 19; Fischer Vor §§ 3–7 Rdn. 33; ebenso BGHSt 39 1, 7 f; vgl. auch BVerfG NStZ 1995 490. 532 §§ 94 bis 100a. 533 BGH NStZ 1991 231 = JZ 1991 713 mit krit. Anm. Classen; BGH NJW 1991 2498 = NStZ 1991 429; NStZ 1992 81, 82, DtZ 1992 62,63. 534 BVerfGE 92 277, 315; Fischer Rdn. 3 Vor § 3; Geiger JR 1992 397, 403; Lackner/Kühl/Kühl Rdn. 22; Lemke/Hettinger NStZ 1992 21, 24; Renzikowski JR 1992 270, 274; Riedel DtZ 1992 162, 167; aA Scholten ZRP 1992 476; Sch/Schröder/Eser/Hecker Vor §§ 3 bis 7 Rdn. 89.

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oder faktisch gewährten Straffreistellungen, bei denen insbesondere der Schusswaffengebrauch an der innerdeutschen Grenze eine zentrale Rolle gespielt hat (§ 1 Rdn. 447 ff). 6. Regelungsgehalt des Art. 315 Abs. 1 EGStGB: Modifizierung der Grundsätze des § 2 für DDR-Altfälle. a) Anwendbarkeit von § 2. Durch den Verweis in Art. 315 Abs. 1 S. 1 EGStGB auf § 2 194 wird klargestellt, dass die allgemeinen Regeln des intertemporalen Strafrechts Anwendung finden. Bei Alttaten, die sowohl nach DDR- als auch nach bundesrepublikanischem Recht 195 strafbar waren, muss dem im Rahmen des § 2 Abs. 3 vorzunehmen Normenvergleich, der zur Ermittlung des mildesten Gesetzes anzustellen ist, die Feststellung der Unrechtskontinuität vorausgehen. Es ist zu prüfen, ob die zur Tatzeit maßgebliche DDR-Strafnorm mit der entsprechenden Norm des bundesdeutschen Strafrechts im Unrechtskern übereinstimmt.535 Allgemein kommt wegen der grundsätzlichen Unterschiede zwischen den zu vergleichenden Rechtsordnungen536 häufig in Frage, dass eine Vorschrift des DDR-Rechts verschiedenes Unrecht beschreibt, das im Recht der Bundesrepublik keine Entsprechung findet. Insbesondere für die Tatbestände zum Schutz von Individualrechtsgütern wie Leben, körperliche Unversehrtheit, persönliche Freiheit, Ehre und Eigentum und Vermögen ist anerkannt, dass in der Regel Unrechtskontinuität besteht. Von den einzelnen Deliktsgruppen, die hier zu unterscheiden waren (Staatsschutzdelikte, Delikte gegen Gemeinschaftsgüter, Außenwirtschaftsdelikte, Rechtspflegedelikte, Wahlfälschungsdelikte, Eigentumsdelikte, Freiheitsberaubung, Körperverletzungs- und Tötungsdelikte) sind nur noch die Tötungsdelikte von praktischer Bedeutung. Im Hinblick auf das Ruhen der Verjährung sind unter Umständen lang zurückliegende Alttaten noch verfolgbar.537 Bei vorsätzlichen Tötungshandlungen so genannter Mauerschützen zur Verhinde- 196 rung der Republikflucht ist nicht die Unrechtskontinuität, sondern das Erfordernis der Strafbarkeit zur Zeit der Tat umstritten. Die Frage wird allerdings nur relevant, wenn die Tat nach dem Recht der Bundesrepublik, das schon vor dem Beitritt gegolten hat, noch verfolgbar ist. Dies kommt namentlich dann in Frage, wenn der Deliktserfolg erst im Bundesgebiet eingetreten ist oder wenn bei der Tat gegen einen Deutschen der Handlungs- oder Erfolgsort im Ausland liegt. Tötungshandlungen an der Mauer waren zwar i.S.d. § 112 StGB-DDR tatbestandsmäßig, aber im Verständnis des praktizierten DDRRechts gerechtfertigt, wenn sie sich im Rahmen der einschlägigen Dienstvorschriften über den Schusswaffengebrauch hielten538 und darüber hinaus entschuldigt, wenn die Voraussetzungen des § 258 StGB-DDR (Handeln auf Befehl) vorlagen.539 Der Bundesgerichtshof hat die Rechtswidrigkeit der Taten aus „vorgeordneten allgemeinen Rechtsprinzipien“ hergeleitet und das Ergebnis mit völkerrechtlichen Argumenten und dem Hinweis auf die schon dem DDR-Recht immanent die Möglichkeit „menschenrechtsfreundlicher Auslegung“ untermauert. Auf der Schuldebene hat er Entschuldigung sowohl wegen Verbotsirrtums als auch wegen Handels auf Befehl verneint. Die im Schrifttum erhobenen Einwendungen hat er als unbegründet zurückgewiesen. Das Bundesverfassungsgericht

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535 Eingehend dazu Höchst JR 1992 360; Dannecker S. 516; krit. F.-C. Schroeder NStZ 1993 216; Schünemann FS Grünewald, S. 657, 658. 536 Näher dazu Lilie NStZ 1990 153; Roggemann JZ 1990 363; Buchholz NStZ 1990 519. 537 Vgl. BGHSt 41 72 (Fall Mielcke); hierzu EKMR EuGRZ 1997 148. 538 Renzikowski NJ 1992 152, 154; Roggemann DtZ 1993 10, 15; Buchner Die Rechtswidrigkeit der Taten von „Mauerschützen“ im Lichte von Art. 103 II GG unter besonderer Berücksichtigung des Völkerrechts (1996), S. 129. 539 Eingehend dazu Renzikowski ZStW 106 (1994) 93.

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hat die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des BGH,540 in dem Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates der DDR als mittelbare Täter vorsätzlicher Tötungen verurteilt wurden, zurückgewiesen, weil Art. 103 Abs. 2 GG nicht verletzt sei und ein Rechtfertigungsgrund, der die vorsätzliche Tötung unbewaffneter Flüchtlinge decke, unbeachtet bleiben müsse.541 Auch der EGMR hat keinen Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention, insbesondere gegen deren Art. 7, angenommen und somit die deutsche Rechtsprechung zu den Mauerschützen und deren Befehlsgebern bestätigt.542 Für die Praxis ist damit die Behandlung der noch nicht erledigten Fälle abschließend vorgezeichnet. Beim Vergleich der Rechtslagen ist zu beachten, dass das DDR-Recht die fortgesetzte Handlung nicht kannte und deshalb bei Serienstraftaten eine „Hauptstrafe“ auszusprechen war.543 Amnestien der DDR begründen für die Betroffenen Vertrauenstatbestände, die ebenfalls grundsätzlich zu berücksichtigen sind.544 Die gegen einen Heranwachsenden zu verhängende Sanktion ist nach der gegenüber § 2 spezielleren Übergangsvorschrift des Einigungsvertrages545 dem JGG zu entnehmen. Danach wird das JGG auch auf rechtswidrige Taten angewendet, die vor dem Wirksamwerden des Beitritts begangen worden sind.546 Es regelt indes nicht, welcher Straftatbestand anzuwenden ist; ferner hängt die Höchststrafe einer zu verhängenden Jugendstrafe von der nach allgemeinem Strafrecht angedrohten Höchststrafe ab.547 Dem Einigungsvertrag ist nicht zu entnehmen, dass ergänzend stets die Vorschriften des StGB gelten sollen. Anderenfalls hätte es einer dahingehenden ausdrücklichen Regelung bedurft. Es bleibt insoweit bei der allgemeinen Übergangsvorschrift des § 2. Während bei Anwendung nur des § 2 grundsätzlich ein Gesamtvergleich des alten und des neuen Rechts geboten ist und eine kombinierte Anwendung dem Angeklagten günstigerer Regelungen nicht in Betracht kommt,548 kann die Sonderregelung für das JGG davon abweichend dazu führen, dass jenes Gesetz in Verbindung mit dem Angeklagten günstigeren alten Regelungen des StGB-DDR anzuwenden ist.549 Bei der gebotenen konkreten Betrachtung (Rdn. 136) kann der Vergleich der Rechtslage vor und nach dem Inkrafttreten des Einigungsvertrags ergeben, dass sich das neue Recht unter den gegebenen Umständen für den Angeklagten trotz einer geringeren gesetzlichen Mindeststrafe nicht günstiger auswirkt; so etwa dann, wenn der Täter wegen zahlreicher Fälle erschwerten Diebstahls550 zu einer einzigen Freiheitsstrafe als „Hauptstrafe551 verurteilt worden ist, die bei Festsetzung von Einzelstrafen für die Einzel-

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540 BGHSt 40 218 ff. 541 BVerfGE 95 96, 130, 135 mit krit. Bespr. Stark JZ 1997 147; Albrecht NJ 1997 1 ff; Amboss StV 1997 39; Arnold NJ 1997 115 ff; Roggemann NJ 1997 226, 231; Krajewski JZ 1997 1054; Kluth JA 1998 102 ff; Classen GA 1998 215 ff; Alexi Der Beschluss des Bundesverfassungsgericht zu den Tötungen an der innerdeutschen Grenze vom 24. Oktober 1996 (1997); krit. auch Joerden GA 1997 201 ff; zustimmend Werle ZStW 109 (1997) 808, 825; Alwart JZ 2000 227. 542 EGMR NJW 2001 3035 mit teilw. krit. Bespr. Miller KJ 2001 255; Rau NJW 2001 3008; Roellecke NJW 2001 3024; Werle NJW 2001 3001; Dörr JuS 2002 603; Stark JZ 2001 1002. 543 Näher dazu BGHSt 38 18, 22; BGH NStZ 1994 233, 234; NStZ 1996 275 m. Anm. Dölling NStZ 1997 77, 78; NStZ 1998 36. 544 Offen gelassen in BGHSt 39 353, 358 m. krit. Anm. Bohnert JR 1994 258; s. auch BGHSt 41 247, 248; 42 314, 323; jeweils m.w.N. 545 Anlage I Kap. III Sachgebiet C Abschn. III Nr. 3 Buchst. f § 1 Abs. 1. 546 BGH NStZ 1991 235. 547 § 18 Abs. 1 JGG. 548 BGH NJW 1991 3289 – Rdn. 21. 549 BGH NStZ 1991 331, 332; Beschl. v. 19.6.1991 – 3 StR 481/90 (= BGHR StGB § 24 Abs. 1 S. 1 Rücktritt 4). 550 §§ 162, 181 StGB-DDR. 551 § 64 Abs. 1 bis 3 StGB-DDR.

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taten (jeweils mit erhöhtem Mindestmaß) auch als Gesamtstrafe (§ 54) mit Sicherheit zu erwarten wäre.552 Entsprechendes gilt, wenn – bei Verhängung einer „Hauptstrafe“ von einem Jahr wegen Diebstahls und Raubes – die Möglichkeit einer Strafaussetzung zur Bewährung nach § 56 Abs. 1 ausscheidet, weil bei dem gebotenen Gesamtvergleich beider Rechtsordnungen nach neuem Recht auf der Grundlage der §§ 243 Abs. 1, 250 eine höhere Gesamtfreiheitsstrafe gebildet werden müsste.553 Auch kann bei dem gebotenen Gesamtvergleich des früheren und des jetzt geltenden Rechts je nach Lage des Falles angesichts der Schwere der abgeurteilten Tat außer Betracht bleiben, dass Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland unter den Voraussetzungen des § 56 zur Bewährung ausgesetzt werden können, während das StGBDDR bei vorsätzlichen Tötungsdelikten nur Freiheitsstrafe androht, eine Verurteilung auf Bewährung554 dagegen – außer in Fällen des § 62 StGB-DDR – nicht vorsieht.555 Bei der durch § 2 Abs. 3 gebotenen Anwendung des DDR-Rechts ist es dem Richter 201 zwar nicht verwehrt, juristische Auslegungsgesichtspunkte zu berücksichtigen, die früher zu diesen Rechtsvorschriften, insbesondere zur Abgrenzung der Tatbestände, entwickelt worden sind. Das Gericht hat aber nicht die Aufgabe zu ermitteln, welche Strafe von den Gerichten der DDR innerhalb des gesetzlichen Strafrahmens verhängt worden wäre. Es hat sich insbesondere nicht an politischen Anschauungen zu orientieren, die früher Einfluss auf die Strafzumessung gehabt haben. Vielmehr ist das Gesetz unter Beachtung geltenden Verfassungsrechts und der Grundsätze des rechtsstaatlichen Strafens auszulegen. Demgemäß müssen langjährige Zugehörigkeit zu Einheiten der Volkspolizei und des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR sowie dabei erworbene Auszeichnungen nicht strafmildernd berücksichtigt werden.556 b) Absehen von Strafe. Nach Art. 315 Abs. 1 S. 1 EGStGB ist von Strafe abzusehen, 202 wenn nach dem zur Tatzeit geltenden DDR-Recht die Tat weder mit einer Freiheits- oder Geldstrafe noch mit einer „Verurteilung auf Bewährung“ belegt war, sondern mit geringfügigen Straffolgen.557 Weiterhin sind die Unterbringung in einer Sicherungsverwahrung (§ 66) und die Führungsaufsicht (§ 68) ausgeschlossen, sofern das Strafgesetzbuch als das mildere Gesetz anzuwenden ist.558 7. Regelungsgehalt des Art. 315 Abs. 2 EGStGB: Einschränkungen bei der Ver- 203 hängung von Geldstrafen. Die Regelung des Art. 315 Abs. 2 EGStGB bestimmt, dass im Fall der Verhängung von Geldstrafen für DDR-Alttaten Einschränkungen insoweit gelten, als höchstens 360 Tagessätze verhängt werden dürfen und die Geldstrafe nach Zahl und Höhe des Tagessatzes insgesamt das Höchstmaß der bisher in der ehemaligen DDR angedrohten Strafe nicht übersteigen darf. 8. Regelungsgehalt des Art. 315 Abs. 3 EGStGB: Aussetzung des Strafrests und 204 dessen Widerruf. Art. 315 Abs. 3 EGStGB enthält Sonderregelungen zur Anwendung der Vorschriften über die Aussetzung des Strafrestes und dessen Widerruf.559 Hiernach sind

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552 BGH Urt. v. 30.7.1991 – 1 StR 298/91 (= NStE Nr. 5 zu § 2). 553 BGH Urt. v. 24.7.1991 – 3 StR 40/91 (= NStE Nr. 4 zu § 2). 554 § 33 StGB-DDR. 555 BGH NStZ 1991 480 = BGHSt 38, 18 ff. 556 BGH NJW 1991 2496, 2497 = NStZ 1991 480. 557 Eine Gegenüberstellung der Rechtsfolgen nach BRD- und DDR-Recht findet sich bei BGHSt 48 77, 99; eingehend dazu Knauer NJW 2003 3101 ff; Ranft JZ 2003 575. 558 Art. 315 Abs. 1 S. 3 EGStGB. 559 Näher dazu OLG Dresden NStZ-RR 2000 313 f.

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bei Verurteilung auf Bewährung sowie bei Verurteilung zu Freiheitsstrafe wegen einer DDR-Alttat die §§ 56 f, 57 anzuwenden, falls sich aus § 2 Abs. 3 nichts anderes ergibt.560 Dies bedeutet, dass im Fall der Strafrestaussetzung § 45 Abs. 1 StGB-DDR und im Fall des Widerrufs §§ 35, 45 Abs. 5 und 6 StGB-DDR anzuwenden sind, falls sie eine mildere Beurteilung zulassen. Im Hinblick darauf, dass das DDR-Recht keine Aussetzung des Restes einer lebenslangen Freiheitsstrafe kannte, ist § 57a stets als mildere Vorschrift anzuwenden.561 205

9. Regelungsgehalt des Art. 315c EGStGB: Anpassung von Strafdrohungen. § 2 wird weiterhin berührt durch Art. 315c EGStGB i.d.F. des Einigungsvertrags.562 Artikel 315c Anpassung von Strafdrohungen Soweit Straftatbestände der Deutschen Demokratischen Republik fortgelten, treten an die Stelle der bisherigen Strafdrohungen die im Strafgesetzbuch vorgesehenen Strafdrohungen der Freiheitsstrafe und der Geldstrafe. Die übrigen Strafdrohungen entfallen. § 10 Satz 2 des 6. Strafrechtsänderungsgesetzes der Deutschen Demokratischen Republik bleibt jedoch unberührt. Die Geldstrafe darf nach Art und Höhe der Tagessätze (Anmerkung: Gemeint sind ersichtlich „Zahl und Höhe der Tagessätze“) insgesamt das Höchstmaß der bisher angedrohten Geldstrafe nicht übersteigen. Es dürfen höchstens dreihundertsechzig Tagessätze verhängt werden.

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10. Sonderregelungen für die Verjährung. Für die Verjährung von Alttaten563 sieht Art. 315a StGB Sonderregelungen vor. Art. 315a Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung für in der Deutschen Demokratischen Republik erfolgte und abgeurteilte Taten (1) Soweit die Verjährung der Verfolgung oder der Vollstreckung nach dem Recht der Deutschen demokratischen Republik bis zum Wirksamwerden des Beitritts nicht eingetreten war, bleibt es dabei. Dies gilt auch, soweit für die Tat vor dem Wirksamwerden des Beitritts auch das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland gegolten hat. Die Verfolgungsverjährung gilt als am Tag des Wirksamwerdens des Beitritts unterbrochen. § 78c Abs. 3 des Strafgesetzbuches bleibt unberührt. (2) Die Verfolgung von Taten, die in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten gebiet begangen worden sind und die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr bis zu füng Jahren bedroht sind, verjährt frühestens mit Ablauf des 2. Oktober 2000, die Verfolgung der in diesem Gebiet vor Ablauf des 2. Oktober 1990 begangenen und im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bedrohten Taten frühestens mit Ablauf des 31. Dezember 1995. (3) Verbrechen, die den Tatbestand des Mordes (§ 211 des Strafgesetzbuches) erfüllen, für welche die Strafe jedoch nach dem Recht der deutschen demokratischen Republik bestimmt, verjähren nicht.

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560 561 562 563

OLG Celle DtZ 1993 188; OLG Brandenburg NStZ 1994 510. OLG Brandenburg NStZ 1995 547; OLG Dresden StV 2001 414. Anlage I Kapitel III Sachgebiet C Abschnitt II Nr. 1c. Zusammenfassend Otto Jura 1994 611 ff.

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Zeitliche Geltung | § 2

Art. 315c EGStGB ist inzwischen durch drei Verjährungsgesetze ergänzt worden:564 207 Das erste Verjährungsgesetz sieht vor, dass bei Berechnung der Verjährungsfrist für die Verfolgung von Taten, die während der Herrschaft des SED-Unrechtsregimes begangen wurden, aber entsprechend dem ausdrücklichen oder mutmaßlichen Willen der Staats- und Parteiführung aus politischen oder sonst mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtstaatlichen Ordnung unvereinbarenden Gründen nicht geahndet worden sind, die Zeit vom 11.10.1949 bis zum 2.10.1990 außer Ansatz bleibt. In dieser Zeit hat die Verjährung geruht. Außerdem sieht Art. 315a Abs. 1 S. 2 EGStGB vor, dass die in Satz 1 getroffene Verjährungsregelung auch dann gilt, wenn für die Tat vor dem Wirksamwerden des Beitritts auch das Strafrecht der Bundesrepublik gegolten hat. Das Verjährungsgesetz verfolgt den Zweck, die vor seinem Erlass umstrittene Rechtslage klarzustellen.565 Das nachfolgende zweite Verjährungsgesetz ist inzwischen weitgehend bedeu- 208 tungslos geworden. Es hat allgemein bestimmt, dass die Verfolgung von Taten der unteren und mittleren Kriminalität, sofern sie vor einem bestimmten Stichtag begangen wurden und noch nicht verjährt waren, frühestens mit Ablauf der Jahre 1995 und 1997 verjähren. Das dritte Verjährungsgesetz hat diesen Zeitpunkt für Taten mittlerer Kriminalität bis zum 2.10.2000 aufgeschoben. 1. Sonderregelungen für den Strafantrag. Für den Strafantrag enthält Art. 315b 209 EGStGB eine Übergangsregelung für DDR-Alttaten. Art. 315 b Strafantrag bei in der Deutschen demokratischen Republik begangenen Taten Die Vorschriften des Strafgesetzbuches über den Strafantrag gelten auch für die vor dem Wirksamwerden des Beitritts in der Deutschen demokratischen Republik begangene Taten. War nach dem Recht der Deutschen demokratischen Republik zur Verfolgung ein Antrag erforderlich, so bleibt es dabei. Ein vor dem Wirksamwerden des Beitritts gestellter Antrag bleibt wirksam. War am Tag des Wirksamwerdens des Beitritts das Recht, einen Strafantrag zu stellen, nach dem bisherigen Recht der Deutschen demokratischen Republik bereits erloschen, so bleibt es dabei. Ist die Tat nach den Vorschriften der Bundesrepublik Deutschland nur auf Antrag verfolgbar, so endet die Antragsfrist frühestens am 31. Dezember 1990.

12. Zusammentreffen mehrerer Taten. Wenn mehrere Taten zusammentreffen, 210 die wegen § 2 Abs. 3 teilweise nach dem Recht der DDR, teilweise nach dem der Bundesrepublik zu bestrafen sind, so ist für die nach dem DDR-Recht zu beurteilten Taten zunächst eine Hauptstrafe festzusetzen, da das DDR-Strafrecht Einzelstrafen nicht vorsah. Für die nach dem Recht der Bundesrepublik zu beurteilenden Taten sind Einzelstrafen festzusetzen. Aus der Hauptstrafe und den Einzelstrafe ist sodann eine Gesamtstrafe zu bilden.566 Bei der Aburteilung der bereits vor dem 3.10.1990 begangenen Alttaten wirft das intertemporale Strafrecht besondere Probleme auf. Dabei hat sich freilich inzwischen die Problematik mit Ablauf der Verjährungsfristen spätestens zum 3.10.2000 für die Mehrzahl der Fälle entschärft.

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564 565 566

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Zusammenfassend Letzguss NStZ 1994 57 ff; Wolter SK Vor § 78 Rdn. 16 ff. BGHSt 14 48, 55; 40 113, 115; Zur Verfassungsmäßigkeit dieses Gesetzes s. BVerfG NStZ 1998 455. BGH NStZ 1999 82; BGH StV 1999 206.

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§ 2 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

IX. Garantie des Milderungsgebots in Art. 49 Abs. 1 Satz 3 GRCh 211

1. Anerkennung des Milderungsgebots als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts. Der EuGH hat das Milderungsgebot als allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts anerkannt,567 bevor diese Garantie in Art. 49 Abs. 1 Satz 3 GRCh aufgenommen wurde. Sie gewährleiste die mildere Bestrafung für den Fall einer vor dem Eintritt der Rechtskraft erfolgten begünstigenden Änderung der Rechtslage.568

212

2. Verortung des Milderungsgebots in Art. 49 Abs. 1 GRCh. Die Grundrechtecharta, die am 1.12.2009 in Kraft getretenen ist,569 enthält in Art. 49 Abs. 1 die grundlegenden rechtsstaatlichen Anforderungen für die Androhung und Verhängung von Strafen und weist diesen Verfassungsrang zu. Sie garantiert unter dem Titel in Art. 49 Abs. 1 Satz 1 und 2 GRCh den Grundsatz nullum crimen sine lege und schließt hieran unmittelbar in Satz 3 das Gebot der Rückwirkung milderer Strafvorschriften an. In Absatz 2 findet sich eine Einschränkung des Gesetzlichkeitsprinzips und Absatz 3 beinhaltet das allgemeine Verhältnismäßigkeitsprinzip, nach dem das Strafmaß gegenüber der Straftat nicht unverhältnismäßig sein darf. Art. 49 GRCh Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang mit Strafen und Straftaten (1) Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. 2Es darf auch keine schwerere Strafe als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden. 3Wird nach Begehung einer Straftat durch Gesetz eine mildere Strafe eingeführt, so ist diese zu verhängen. (2) Dieser Artikel schließt nicht aus, dass eine Person wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt oder bestraft wird, die zur Zeit ihrer Begehung nach den Abs. 1 Satz 3 nach den allgemeinen, von der Gesamtheit der Nationen anerkannten Grundsätzen strafbar war. (3) Das Strafmaß darf zur Straftat nicht unverhältnismäßig sein.

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Nach Art. 49 Abs. 1 und 2 GRCh bedürfen Strafen einer ausreichenden rechtlichen Grundlage, was in der Überschrift als „Gesetzmäßigkeit“ bezeichnet wird. Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh normiert sodann, in Anlehnung an das Milderungsgebot des Art. 15 Abs. 1 Satz 3 IPbpR, den Lex-mitior-Grundsatz. Daher wird überwiegend für die unionsrechtliche Ebene die Auffassung vertreten, es gelte das Meistbegünstigungsprinzip,570 obwohl dies dem Gesetzeswortlaut jedenfalls nicht unmittelbar zu entnehmen ist. Dadurch soll einem unverhältnismäßigen Strafeinsatz entgegengewirkt werden.571 Außerdem soll aufgrund der Nähe des Milderungsgebots zum Grundsatz „nullum crimen sine lege“ in Art. 49 Abs. 1

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567 EuGH EuZW 2005 369, 371 Rdn. 68 f („Fall Berlusconi“); Dannecker FS Schroeder 761, 765 ff. 568 Nowak Art. 15 IPbpR Rdn. 18 ff; Gollwitzer Art. 15 IPbpR Rdn. 7. 569 ABl. 2012 C 326 S. 391. 570 Jarass Charta der Grundrechte der EU Art. 49 Rdn. 7; Meyer/Eser Charta der Grundrechte der EU Art. 49 Rdn. 34; Safferling Internationales Strafrecht S. 478; Gaede wistra 2011 365, 368, 372 f; ders. wistra 2017 41, 47; Schwarze/Voet von Vormizeele Art. 49 Rdn. 9; aA Schützendübel S. 112. Näher dazu Dannecker FS Kindhäuser, S. 67, 71 ff. 571 Schützendübel S. 112 ff; siehe auch Dannecker S. 407 ff; Chr. Schröder FS Mehle 597, 604 ff.

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Zeitliche Geltung | § 2

Satz 1 GRCh Willkürschutz speziell beim Einsatz staatlicher Strafe garantiert werden.572 Entsprechend der deutschen Tradition soll das Milderungsgebot lediglich Fälle erfassen, in denen über die Sanktionierung noch nicht rechtskräftig entschieden ist.573 Das Freiheitsgrundrecht des Art. 49 GRCh verpflichtet zunächst die Europäische 214 Union, sodann die Mitgliedstaaten gemäß Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh, soweit sie Unionsrecht durchführen. Das ist auch dann der Fall, wenn nationale Straf- bzw. Sanktionsvorschriften zur direkten oder indirekten Durchsetzung von Unionsrecht angewandt werden.574 Aus dem Regelungsstandort des Milderungsgebots zwischen dem Gesetzlichkeitsprinzip und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wird deutlich, dass sowohl der Bindung des Richters an das zum Zeitpunkt der Verurteilung noch als Eingriffsermächtigung dienende Gesetz als auch im Kontext des Verbots unverhältnismäßiger Strafen zu verstehen ist (Rdn. 63). 3. Eröffnung des Anwendungsbereichs der Grundrechtecharta. Voraussetzung 215 für das Eingreifen des Art. 49 Abs. 1 S. 3 GrCh ist die Eröffnung des Anwendungsbereichs der GRCh. Nach Art. 51 Abs. 1 GRCh gelten die unionalen Grundrechte „für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“. Dadurch soll ein lückenloser Grundrechtsschutz gewährleistet werden, der insbesondere auch den im Ausbau begriffenen „Raum der Freiheit der Sicherheit und des Rechts“ umfasst (vgl. Art. 67 Abs. 1 AEUV).575 „Durchführung“ des Unionsrechts bedeutet Umsetzen oder Vollziehen, insbesondere im Bereich der Grundfreiheiten,576 aber auch im Bereich des Sekundärrechts (Verordnungen, Richtlinien). 577 Insbesondere im Wirtschaftsstrafrecht mit seinen zahlreichen Inbezugnahmen europarechtlicher Vorschriften kann der Ausschluss der Einschränkung des Meistbegünstigungsprinzips daher Bedeutung erlangen.578 4. Erstreckung des Milderungsgebots auf Richtlinien, Verordnungen und Rah- 216 menbeschlüsse. Die Geltung des Milderungsgebots hat zur Folge, dass unionsrechtliche Regelungen, die aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts zu einer Milderung der Rechtslage im Strafrecht führen, als gesetzliche Milderungen zu berücksichtigen sind. Dies gilt nicht nur für Verordnungen, die als blankettausfüllende Normen in Bezug genommen werden, sondern gleichermaßen für Richtlinien und Rahmenbeschlüsse, die begünstigend auf das Strafrecht wirken.579 Nur auf diese Weise kann dem unionsrechtlichen Milderungsgebot zu umfassender Geltung verholfen werden. Würde man Einschränkungen des Milderungsgebots in Abhängigkeit vom Unrechtsbezug des Unionsrechts vornehmen, so könnte und müsste der Richter mittels Bestimmung des geschützten Rechtsguts, einer nur in einem Teil der Mitgliedstaaten anerkannten strafrechtlichen Konzeption, über den Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Milderungsgebots entscheiden.

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572 So Matt/Renzikowski/Basak Rdn. 6; Gaede wistra 2011 365, 367 f; ders. wistra 2017 41, 47; Rothenfußer/ Jäger NJW 2016 2689, 2694 f; Matt/Renzikowski/Basak Rdn. 6; siehe auch Hassemer/Kargl NK Rdn. 20 ff. 573 EuGH DÖV 2015 1070, Rdn. 56 f (Delvigne); zustimmend Gundel EuR 2016 176, 185 f; ebenso Gaede wistra 2011 365, 367. 574 EuGH Slg. 2011, I-11035 Rdn. 48 (Garenfeld); EuGH Urt. v. 26.2.2013 – C 617/10 Rdn. 16 ff (Akerberg Fransson); Dannecker JZ 1996, 869. 575 Borowsky NK-GRCh Art. 51 Rdn. 16; Dannecker FS Kindhäuser, S. 67, 72 f. 576 Borowsky NK-GRCh Art. 51 Rdn. 24a ff m.w.N. 577 Heuer Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC S. 200 ff m.w.N. 578 Gaede wistra 2011 365, 369. 579 OLG Koblenz NStZ 1989 188; OLG Stuttgart NJW 1990 657; zum nationalen Milderungsgebot s. Rdn. 129 ff.

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§ 2 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

In der Entscheidung Antoine Kortas580 hat der EuGH die Geltung des Grundsatzes des milderen Gesetzes und die unmittelbare Wirkung von Richtlinien auch ohne deren Umsetzung in nationales Recht bejaht. Der Grundsatz der lex mitior gebiete es, von dem Gesetz auszugehen, welches die Tat am mildesten beurteilt.581 Daraus ergebe sich, dass ein nachträglicher Wegfall des Verbots – mag dieser auch durch ein Ablaufen der Umsetzungsfrist zwischen Tatbegehung und Entscheidung bedingt sein – zur Straflosigkeit führen müsse.582 Entsprechend wurde im Fall Awoyemi für unerheblich erklärt, dass die Umset218 zungsfrist für die Richtlinie noch nicht abgelaufen war.583 Durch die Umsetzungsfrist bei Richtlinien solle den nationalen Gesetzgebern lediglich eine unter Praktikabilitätsgesichtspunkten unabdingbare Frist eingeräumt werden; in materieller Hinsicht sei hingegen die Anwendung des richtlinienwidrigen Gesetzes mit In-Kraft-Treten der Richtlinie nicht mehr erwünscht. Der europäische Gesetzgeber hat bereits eine andere rechtliche Grundanschauung getroffen, und diese muss auch durchgesetzt werden. Solange eine nationale Gesetzesänderung nicht auf der besonderen Zeitgebundenheit des Gesetzes beruhe, sondern auf einem Wandel der Rechtsanschauung, sei eine Einschränkung des Milderungsgebots nicht vertretbar. Vielmehr müsse dem Gebot verhältnismäßiger Gerechtigkeit Rechnung getragen werden. 219 Dieses Ergebnis stimmt im Übrigen mit der h.M. zum nationalen Recht überein, nach der die Sonderregelung für Zeitgesetze (§ 2 Abs. 4 StGB) im Falle einer geänderten Rechtsanschauung des Gesetzgebers nicht anwendbar ist,584 sondern das Milderungsgebot trotz der Regelung des § 2 Ab. 4 StGB eingreift. 217

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5. Erstreckung des Milderungsgebots auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts. Wenn sich das Unionsrecht begrenzend auf eine nationale Strafnorm auswirkt, ohne dass das nationale Gesetz geändert worden ist, stellt sich gleichermaßen die Frage nach dem zeitlichen Anwendungsbereich des Strafrechts, also nach dem Zeitpunkt, ab dem sich eine aus dem Unionsrecht ergebende Milderung aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts strafbegrenzend auswirkt.585 Da das Strafgesetz nicht geändert wird, sondern lediglich für das Unionsrecht Anwendungsvorrang besteht, können die nationalen Regelungen über die Anwendung des milderen Rechts, die eine Gesetzesänderung voraussetzen, nach dem Gesetzeswortlaut keine unmittelbare Anwendung finden. Wenn es sich beim Milderungsgebot jedoch um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts handelt, müssen auch Veränderungen der Rechtslage, die sich infolge des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts ergeben, zugunsten des Täters berücksichtigt werden. Denn die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, die allgemeinen Rechtsgrundsätze bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen und die darin getroffenen Vorgaben einzuhalten. Entsprechend hat der EuGH im Fall Awoyemi (Rdn. 218), in dem eine nationale Strafnorm gegen eine Richtlinie verstoßen hat, deren Umsetzungsfrist noch nicht abgelaufen war, zum strafrechtlichen Milderungsgebot Stellung genommen und ein Eingreifen bejaht, um eine möglichst rasche und effektive Umsetzung des Gemeinschaftsrechts in nationales Recht durchzusetzen.586

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580 EuGH EuZW 1999 476 ff (Antoine Kortas); EuGH, Urt. v. 1.6.1999 – C-319/97. 581 EuGH EuZW 1999 476, 477 (Antoine Kortas); EuGH, Urt. v. 1.6.1999, C-319/97 Rdn. 16. 582 EuGH NJW 1984 2022 (Auer); vgl. aber auch EuGH Urt. v. 22.9.1983 – Rs. 271/82. 583 EuGH EuZW 1999, 52 ff (Awoyemi). 584 Jäger S Rdn. 46; Sch/Sch/Eser/Hecker Rdn. 38; s. Rdn. 159 f. 585 Näher dazu Dannecker FS Kindhäuser, S. 67, 74 f. 586 EuGH EuZW 1999, 52 ff (Awoyemi); vgl. auch EuGH 2000 89 f (Arblade und Leloup); eingehend dazu Gleß GA 2000 224, 230 ff.

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Zeitliche Geltung | § 2

6. Keine Erstreckung des Milderungsgebots auf den Grundsatz lex posterior derogat legi priori. In der Berlusconi-Entscheidung musste sich der EuGH mit der Frage auseinandersetzen, ob das strafrechtliche Milderungsgebot auch dann eingreift, wenn ein Mitgliedstaat eine strafrechtliche Norm, zu deren Statuierung er aufgrund einer Richtlinie verpflichtet ist, aufgehoben hat und nach der neuen nationalen Regelung Straflosigkeit eingetreten ist, weil das EU-rechtlich gebotene Gesetz vom nationalen Parlament außer Kraft gesetzt worden ist. Generalanwältin Kokott587 kam in ihren Schlussanträgen zu dem Ergebnis, dass aufgrund des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts die frühere strafrechtliche Regelung weiterhin anwendbar sei. Ein nachträglich erlassenes gemeinschaftsrechtswidriges Strafgesetz stelle gar kein anwendbares milderes Strafgesetz dar.588 Der EuGH589 kommt zu dem entgegengesetzten Ergebnis: Der Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes gehöre zu den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und sei damit Bestandteil der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts, die der nationale Richter bei der Anwendung des nationalen Rechts zu beachten habe. Eine Richtlinie dürfe aber nicht dazu führen, die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Angeklagten festzulegen oder zu verschärfen.590 In der Literatur591 wird der Lösung der Generalanwältin wie auch des EuGH entgegengehalten, dass jede von ihnen einen Ausgleich zwischen dem Vorrang des Unionsrechts, dem Prinzip der „lex mitior“ und dem Verbot der strafbegründenden bzw. -schärfenden (unmittelbaren) Wirkung einer Richtlinie nur unter völliger Preisgabe eines der Prinzipien erreichen könne. Der EuGH hebele die wohl grundlegendste Maxime der Unionsrechtsordnung aus, um zu verhindern, dass ein Beschuldigter nach dem zum Tatzeitpunkt geltenden (!) Strafgesetz verurteilt wird. Nüchtern betrachtet müsse dies erstaunen, weil der „lex mitior“-Grundsatz, der das nachträgliche Strafgesetz überhaupt erst berücksichtigungsfähig werden lasse, in den meisten nationalen Rechtsordnungen nicht einmal verfassungsrechtlich garantiert werde.592 Der unmittelbaren Anwendbarkeit der Richtlinie vorgelagert ist jedoch die Frage, ob sich der Anwendungsvorrang des Unionsrechts bei einer nationalen Norm auch auf die in dieser Norm liegende derogierende Wirkung erstreckt. Dies hätte zur Folge, dass eine nationale Norm für rein inländische Sachverhalte außer Kraft gesetzt wäre, während dieselbe Regelung für grenzüberschreitende und die Europäische Union betreffende Sachverhalte fortbestünde, also in Geltung wäre. Damit käme der Europäischen Union gleichsam die Kompetenz zur Anordnung der Fortgeltung von Strafnormen für unionsrechtlich relevante Fälle zu. Eine solche Kompetenz auf dem Gebiet des Strafrechts wird von der ganz h.M. jedoch, sieht man von Art. 325 AEUV bezüglich Strafnormen zum Schutz der finanziellen Interessen ab, zutreffend verneint. Sowohl in der Rechtsprechung des EuGH593 und des BGH594 als auch in der einschlägigen Literatur595 besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Mitgliedstaaten keine originäre Kompe-

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587 Schlussanträge vom 14.10.2004. 588 Generalanwältin Kokott Schlussanträge Rdn. 165. 589 EuGH EuZW 2005, 369 ff (Berlusconi). 590 So die ständige Rechtsprechung seit dem Urteil EuGH Slg. 1987 3969 Rdn. 13 (Kolpinhuis Nijmwegen). 591 Satzger JZ 2005 998 ff. 592 Satzger JZ 2005 998, 1000. 593 EuGH Slg. 1981 2595, 2618 (Casati); EuGH Slg. 1989 221 f (Cowan/Trésor public). 594 BGHSt 25 190; vgl. auch BGHSt 27 182; 41 131 f. 595 Böse S. 54 ff; Gröblinghoff S. 141, jeweils m.w.N.

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§ 2 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

tenz zur Schaffung eines supranationalen Strafrechts übertragen haben. Hinzu kommt, dass eine Erstreckung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts auch auf die derogierende Wirkung im Ergebnis über einen bloßen Anwendungsvorrang hinausginge und zum Geltungsvorrang des Unionsrechts führen würde. Eine so weitreichende Wirkung des Unionsrechts hat der EuGH jedoch stets abgelehnt.596 Das Vorrangprinzip ist von vornherein nicht darauf gerichtet, eine im nationalen Recht bestehende oder entstandene Lücke durch hinzugedachtes nationales Recht zu füllen.597 Im Ergebnis ist dem EuGH (Rdn. 222) daher zuzustimmen. 225

7. Einschränkungen des Milderungsgebots nach § 52 Abs. 1 GRCh. Art. 52 Abs. 1 GRCh lässt auch für Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh gesetzlich vorgesehene Einschränkungen zu, „wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten im Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen“. Einschränkungen müssen also den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie den Wesensgehalt des eingeschränkten Rechts achten.598 Bei der Auslegung dieses Schrankenregimes sind das übrige Primärrecht, die EMRK, gemeinsame Verfassungsüberlieferungen sowie die Erläuterungen zur Auslegung der Charta gebührend zu berücksichtigen. Die Charta ist aber in Anlehnung an die EMRK darauf verpflichtet, einen wirksamen Grundrechtsschutz zu gewährleisten.599 Dies bedeutet, dass Unionsgrundrechte nicht beliebig durch einfachgesetzliche Regelungen eingeschränkt werden dürfen. Art. 52 Abs. 1 GRCh wird vom EuGH insgesamt „einschränkungsfreundlich“ ausge226 legt.600 Dadurch entsteht die Gefahr, dass das Grundrecht weitgehend entwertet, weil der freien Würdigung des Gesetzgebers preisgegeben wird. Daher ist es unverzichtbar, an Gemeinwohlgründen und Rechten anderer anzusetzen, die zur Legitimität der zur Tatzeit geltenden Strafnormen zusätzlich vorliegen müssen. Außerdem muss der Schutz vor Willkür hinsichtlich des Aburteilungszeitpunktes gegeben sein.601 Wenn die Verpflichtung der Charta, einen wirksamen Grundrechtsschutz zu gewährleisten, ernst genommen wird, muss sie der Gesetzgebung Grenzen setzen. Dies kommt vor allem bei der Behandlung von Zeitgesetzen, die in Art. 49 Abs. 1 Satz 3 GRCh nicht geregelt ist, als auch bei Ahndungslücken zum Tragen (Rdn. 70 ff). X. Garantie des Milderungsgebots in internationalen Regelungen 227

Das Minderungsgebot ist heute auch international als fundamentaler Grundsatz des Rechtsstaats in vielen Staaten in Geltung.602 Es findet sich insbesondere in Internationalen Regelungswerken, so in Art. 15 Abs. 1 Satz 3 IPbpR, in Art. 24 Abs. 2 ICH-Statut und wird vom EGMR in Art. 7 EMRK verortet.

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1. Das Milderungsgebot des Art. 15 Abs. 1 Satz 3 IPbpR. Der Lex-mitior-Grundsatz wurde in Art. 15 IPbpR explizit neben dem Grundsatz „nullum crimen sine lege“ und dem strafrechtlichen Rückwirkungsverbot aufgenommen, um den „modernen Tendenzen einer Humanisierung des Strafrechts“ zu entsprechen.

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596 Grundlegend EuGH Slg. 1964 1251, 1270 (Costa/ENEL). 597 Satzger JZ 2005 998, 1000. 598 Siehe dazu Borowsky NK-GRCh Art. 52 Rdn. 3, 18 ff m.w.N.; Dannecker FS Kindhäuser, S. 67, 75 f. 599 Von Danwitz in Stern/Tettinger Europäische EU-Grundrechtecharta Art. 52 Rdn. 38 ff; Borowsky NKGRCh Art. 52 Rdn. 13, 24 f; Jarass Art. 52 Rdn. 34; Gaede Fairness als Teilhabe (2007) S. 70 ff, jeweils m.w.N. 600 Siehe dazu Gaede wistra 2011 365, 369, 370 ff m.w.N. 601 Näher dazu Gaede wistra 2011 365, 369; ders. wistra 2017 41, 48. 602 Vogel in: Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht in der Europäischen Union S. 91, 95.

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Zeitliche Geltung | § 2

Art. 15 Abs. 1 und 2 IPbpR (1) Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach inländischem oder nach internationalem Recht nicht strafbar war. Ebenso darf keine schwerere Strafe als die im Zeitpunkt der Begehung der strafbaren Handlung angedrohte Strafe verhängt werden. Wird nach Begehung einer strafbaren Handlung durch Gesetz eine mildere Strafe eingeführt, so ist das mildere Gesetz anzuwenden. (2) Dieser Artikel schließt die Verurteilung oder Bestrafung einer Person wegen einer Handlung oder Unterlassung nicht aus, die im Zeitpunkt ihrer Begehung nach den von der Völkergemeinschaft anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar war.

In Art. 15 Abs. 1 S. 3 IPBPR wird eine Garantie des Milderungsgebots i.S.d. Meist- 229 begünstigungsprinzips gesehen, d.h. dass nicht nur das Gesetz zum Zeitpunkt der Verurteilung zu berücksichtigen ist, wenn es milder als das Tatzeitrecht ist, sondern auch die zwischenzeitlich mildeste Rechtslage dem Täter zugutekommen muss, auch wenn diese zwischenzeitlich wieder verschärft worden ist.603 Deutschland, das in § 2 Abs. 3 StGB das Meistbegünstigungsprinzip kennt (Rdn. 61, 66 ff), hat den Internationalen Pakt mit Gesetz vom 15.11.1973 ratifiziert,604 der gemäß Bekanntmachung vom 14.6.1976605 am 23.3.1976 in Kraft getreten ist: Die Bundesregierung inkorporierte Art. 15 IPbpR mit dem Vorbehalt des Art. 1 Abs. 4 des Ratifizierungsgesetzes, um die Sonderregelung für Zeitgesetze im Sinne des § 2 Abs. 4 StGB zu sichern.606 2. Milderungsgebot des Art. 24 Abs. 2 ICH-Statut. Art. 24 IGH-Statut statuiert ne- 230 ben dem Grundsatz in Absatz 1, dass niemand nach diesem Statut für ein Verhalten strafrechtlich verantwortlich ist, das vor Inkrafttreten des Statuts stattgefunden hat (§ 1 Rdn. 21 f), das Milderungsgebot in Absatz 2. Artikel 24 Rückwirkungsverbot ratione personae (2) Ändert sich das auf einen bestimmten Fall anwendbare Recht vor dem Ergehen des rechtskräftigen Urteils, so ist das für die Person, gegen die sich die Ermittlungen, die Strafverfolgung oder das Urteil richten, mildere Recht anzuwenden.

3. Verortung des Milderungsgebots im Grundsatz nullum crimen sine lege 231 (Art. 7 EMRK). In der Europäischen Menschenrechtskonvention findet sich keine explizite Regelung des Milderungsgebots. Art. 7 EMRK nennt lediglich das Gesetzlichkeitsprinzip und verbietet rückwirkende Strafschärfungen. Allerdings hat die Große Kammer des EGMR607 in der Rechtssache Scoppala/Italien aus dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgebot das Milderungsgebot hergeleitet und als Leitsatz formuliert: „Inzwischen besteht in Europa und darüber hinaus ein Konsens, dass die Anwendung eines späteren milderen Strafgesetzes ein Grundsatz der Strafrechtspflege ist. Dem trägt der Gerichtshof, der früher anders entschieden hatte, Rechnung und bekräftigt, dass Art. 7 EMRK (Keine Strafe ohne Gesetz) nicht nur garantiert, dass strengere Strafvorschriften nicht rückwirkend angewendet werden dürfen, sondern auch, dass mildere Strafgesetze rückwirkend anzuwenden sind.“

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Gollwitzer Art. 15 IPbpR Rdn. 7; Nowak Art. 15 IPbpR Rdn. 18 ff; Dannecker S. 424 ff. BGBl. II S. 1533. BGBl. II S. 1068. Gollwitzer Art. 15 IPbpR Rdn. 7. EGMR Urt. v. 17.9.2009- 10249/03 (Scoppola v. Italien Nr. 2), NJOZ 2010 2726 = HRRS 2011 Nr. 600.

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§ 2 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

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Dabei stützte sich die Große Kammer maßgeblich auf die internationalen Entwicklungen in Bezug auf das Milderungsgebot, die seit der Entscheidung der EKMR (Rdn. 233) in der Rechtssache X/Deutschland608 stattgefunden haben. Er bezog sich insbesondere auf das Inkrafttreten der Amerikanischen Menschenrechtskonvention, die in Art. 9 die rückwirkende Anwendung eines nach der Tat ergangenen milderen Gesetzes garantiert. Zu erwähnen sei weiter „die Europäische Menschenrechtserklärung, die in Art. 49 I im Wortlaut von Art. 7 EMRK abweicht, und das kann nur bewusst geschehen sein (s. mutatis mutandis EGMR, Slg. 2002-VI Nr. 100 = NJW-RR 2004, 289 = FPR 2004, 275 L – Christine Goodwin/Vereinigtes Königreich), und bestimmt: ,Wird nach Begehung einer Straftat durch Gesetz eine mildere Strafe angedroht, so ist diese zu verhängen.‘“ Schließlich habe der EuGH im Fall Berlusconi609 ausgesprochen, dieser Grundsatz sei Teil der gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedstaaten. Auch der französische Kassationshof habe diesen Grundsätzen im Urteil vom 19.9.2007 (06–85899) zugestimmt. Schließlich sei die Anwendung des milderen Gesetzes im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs bestimmt und in der Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien bekräftigt. Aus diesen Gründen sei anzunehmen, dass sich in den letzten 40 Jahren in Europa und allgemein international ein Konsens entwickelt habe, dass es ein Grundsatz des Strafrechts ist, das mildere Strafgesetz anzuwenden, auch wenn es nach der strafbaren Handlung in Kraft getreten ist.610 Der EGMR sieht den lex mitior-Grundsatz als von Art. 7 EMRK umfasst an und wertet ihn als „Bestätigung des Gedankens eines rechtsstaatlichen Strafens“. Mit der Verpflichtung zur Anwendung des günstigsten Gesetzes erhalte man eine Klarstellung der Regel über die zeitliche Folge von Strafgesetzen und damit eine vorhersehbare Strafe. Im Jahr 1978 war die Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR) noch 233 zu dem gegenteiligen Ergebnis gekommen, nämlich dass Art. 7 EMRK – anders als Art. 15 I a.E. des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte – nicht das Recht auf eine in einem Gesetz nach Begehung der Straftat vorgesehene mildere Strafe garantiere.611 Aus diesem Grund wurde eine Beschwerde für offensichtlich unbegründet erklärt, mit der geltend gemacht worden war, einige der Taten seien nach ihrer Begehung entkriminalisiert worden. Dieser Auffassung hat sich der Gerichtshof damals angeschlossen, der gleichfalls entschieden hat, Art. 7 EMRK gebe dem Straftäter nicht das Recht auf Anwendung einer milderen Strafvorschrift.612 Demgegenüber hat die Große Kammer des EGMR613 mit Urteil vom 17.9.2009 in der 234 Rechtssache Scoppola/Italien entschieden, nicht an die genannten früheren Entscheidungen gebunden zu sein: Zwar liege es im Interesse der Rechtssicherheit, der Vorhersehbarkeit und der Gleichheit vor dem Gesetz, dass der EGMR nicht ohne gute Gründe von früheren Entscheidungen abweiche.614 Weil die Konvention zunächst und vor allem ein System zum Schutz der Menschenrechte sei, müsse der Gerichtshof aber die sich verändernden Verhältnisse im beklagten Staat und in den Konventionsstaaten allgemein berücksichtigen. „Von besonderer Bedeutung ist, dass die Konvention so ausgelegt und angewendet wird, dass ihre Rechte praktisch und wirksam sind und nicht theoretisch

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608 EKMR 1978 DR Bd. 13, S. 70 ff. 609 EuGH Urt. v. 3.5.2005 – C – 387/02, C – 391/02, C – 403/02. 610 EGMR NJOZ 2010 2726 Rdn. 105 ff. 611 EKMR 1978 Decisions and Reports [DR] Bd. 13, S. 70 ff – X/Deutschland. 612 EGMR Entsch. v. 5.12.2000 – 35574/97 (Le Petit/Vereinigtes Königreich); EGMR Entsch. v. 6.3.2003 – 41171/98 (Zaprianov/Bulgarien). 613 EGMR NJOZ 2010 2716 ff (Scoppola/Italien); zustimmend Bohlander StraFo 2011 169 ff; Satzger FS Kühl 407, 413 ff; ablehnend Gundel EuR 2016 176, 185 f. 614 Dazu EGMR Slg. 2001-I Nr. 70 (Chapman/Vereinigtes Königreich).

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Zeitliche Geltung | § 2

und scheinbar. Wenn der Gerichtshof keinen dynamischen und evolutiven Ansatz wählen würde, könnte das ein Hindernis sein für Reformen und Verbesserungen (s. EGMR, Slg. 2002-IV Nr. 68 – Stafford/Vereinigtes Königreich; EGMR, Slg. 2002-VI Nr. 74 = NJW-RR 2004, 289 = FPR 2004, 275 L – Christine Goodwin/Vereinigtes Königreich).“615 Zur Fundierung des Milderungsgebots legt die Große Kammer616 dar, dass Art. 7 235 EMRK zwar nicht ausdrücklich die Pflicht der Konventionsstaaten erwähne, dem Beschuldigten die Anwendung einer nach der strafbaren Handlung ergangenen Gesetzesänderung zugutekommen zu lassen. Es entspreche aber dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit, von dem Art. 7 EMRK ein wesentlicher Teil sei, von einem Strafgericht zu erwarten, dass es für jede strafbare Handlung die Strafe verhängt, die der Gesetzgeber für angemessen hält. Zu einer schwereren Strafe nur deswegen zu verurteilen, weil das zur Zeit der Tat vorgesehen war, würde bedeuten, dass man zum Nachteil des Beschuldigten die Regeln über die zeitliche Folge von Strafgesetzen anwendet. Es würde außerdem bedeuten, eine dem Beschuldigten vorteilhafte Gesetzgebung vor der Verurteilung außer Betracht zu lassen und fortzufahren, Strafen zu verhängen, die der Staat und die Gemeinschaft, die er repräsentiert, jetzt für übermäßig hält. Die Verpflichtung, unter mehreren Strafvorschriften die dem Beschuldigten günstigste anzuwenden, sei eine Klarstellung der Regeln über die zeitliche Folge von Strafgesetzen, die einem anderen wesentlichen Element des Art. 7 EMRK entspricht, nämlich der Vorhersehbarkeit von Strafen. Aus diesen Gründen sei es notwendig, von der durch die EKMR im Fall X/Deutschland (1978, DR, Bd. 13 S. 70 ff) begründeten Rechtsprechung abzuweichen und zu bekräftigen, dass Art. 7 EMRK nicht nur den Grundsatz garantiert, dass strengere Strafvorschriften nicht rückwirkend angewendet werden dürfen, sondern stillschweigend auch den Grundsatz der rückwirkenden Anwendung milderen Strafrechts. Dieser Grundsatz ergebe sich aus der Regel, dass die Gerichte das Strafrecht anwenden müssen, dessen Vorschriften für den Beschuldigten am günstigsten sind, wenn es Unterschiede zwischen dem Strafrecht gibt, das zur Tatzeit galt, und späterem, das vor dem rechtskräftigen Urteil in Kraft getreten ist. Es soll also das Meistbegünstigungsprinzip gelten. Nach Ansicht der Richter Pintol de Albuquerque und Vicinic verstößt die Verhängung 236 eines schärferen Tatzeitrechts nach Erlass eines milderen Gesetzes nicht gegen nullum crimen sine lege und die Vorhersehbarkeit strafrechtlichen Strafens, sondern gegen das Gewaltenteilungsprinzip. Die Rechtsprechung dürfe das schärfere Tatzeitrecht nicht mehr anwenden, weil die Legislative ihre Bewertung über das Verhältnis zwischen strafbarem Verhalten und Schwere der anwendbaren Strafe geändert habe. Die Anwendung des schärferen Gesetzes trotz entgegenstehenden Legislativaktes führe zu einer widersprüchlichen und deshalb willkürlichen Bewertung desselben Unrechts.617 Somit kann festgehalten werden: Der EGMR versteht das Milderungsgebot als Aus- 237 prägung der Rechtsstaatlichkeit. Er sieht den Richter an die Entscheidung des Gesetzgebers über die Strafbarkeit und die zu verhängende Strafe gebunden. Der Richter müsse seiner Entscheidung zugrunde legen, was der Gesetzgeber aktuell für angemessen erklärt, sofern dies keine verschärfende Rückwirkung bedeutet. Die Verpflichtung, die dem Beschuldigten günstigste Strafvorschrift anzuwenden, stelle die Regeln über die zeitliche Folge von Strafgesetzen: die Vorhersehbarkeit von Strafen, klar. Der Rechtsanwender sei an die aktuell geltende Gesetzeslage gebunden, wenn er eine den Bürger belastende Entscheidung trifft.

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615 616 617

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EGMR NJOZ 2010 2716 Rdn. 105 f. EGMR NJOZ 2010 2716 Rdn. 107 ff. BeckRS 2013 12859.

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Vor §§ 3 ff | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

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Auf der Grundlage der Entscheidung Scoppola, dass „Art. 7 Abs. 1 nicht nur das Verbot der rückwirkenden Anwendung schärferen Strafrechts beinhalte, sondern implizit auch das Gebot der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes“,618 bekräftigte der EGMR in mehreren nachfolgenden Entscheidungen die Geltung des lex mitiorGrundsatzes. Hiervon gebe es keine allgemeingültige Ausnahme, da Art. 7 Abs. 2 EMRK „lediglich als kontextuelle Klarstellung der Verpflichtungskomponente“ des in Abs. 1 niedergelegten allgemeinen Rückwirkungsverbots anzusehen sei.619 Der EGMR konkretisierte die Anforderungen an die Bestimmung des milderen Strafgesetzes dahingehend, dass ein Vergleich der Höchst- mit der Mindeststrafe in abstracto oder der sich an die Höchst- oder Mindeststrafe annähernden nationalen Strafzumessungspraxis nicht genüge,620 sondern Art. 7 Abs. 2 EMRK, wie bereits in der Entscheidung Maktouf and Damjanovi festgestellt, eine konkrete Prüfung der anwendbaren Strafgesetze im Einzelfall erfordere, um die zu erwartenden Strafen für jeden Angeklagten zu ermitteln und die günstigste Strafe anzuwenden.621

Vorbemerkungen zu den §§ 3 ff (Strafanwendungsrecht) Erster Abschnitt. Das Strafgesetz Vorbemerkungen Werle/Jeßberger Vor §§ 3 ff https://doi.org/10.1515/9783110300413-005

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618 EGMR NJOZ 2010 2716 Rdn. 109. 619 EGMR Entsch. v. 12.12.2002 (Tess v. Lettland); Urt. v. 17.5.2010 Rdn. 186 (Kononov v. Lettland); Urt. v. 18.7.2013 para. 72 (Maktouf und Damjanović); s. auch Damnjanovic ZIS 2014 636; eucrim 2015 116 (Tamietti). 620 EGMR Urt. v. 18.7.2013 (Maktouf und Damjanović), zustimmendes Sondervotum der Richter Pinto de Albuquerque und Vucini S. 44. 621 EGMR Urt. v. 18.7.2013 (Maktouf und Damjanović) para. 65; zust. Sondervotum der Richter Pinto de Albuquerque und Vucini S. 44; vgl. auch Damnjanovic ZIS 2014 634 f.

Werle/Jeßberger https://doi.org/10.1515/9783110300413-005

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Vorbemerkungen | Vor §§ 3 ff

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Anwendung des inländischen Strafrechts und außerstrafrechtlicher Rechtssätze, JZ 1971 633; Nuvolone Die Kollisionsnormen auf dem Gebiet des Strafrechts in Europa, ZStW 66 (1954) 545; Obermüller Der Schutz ausländischer Rechtsgüter im deutschen Strafrecht im Rahmen des Territorialitätsprinzips (1999); Oehler Die Grenzen des aktiven Personalitätsprinzips im internationalen Strafrecht, Festschrift Mezger (1954) 83; ders. Deutsches Strafanwendungsrecht, das Recht der übernationalen Gemeinschaften und die Auslieferung eigener Staatsangehöriger, Erinnerungsgabe Grünhut (1965) 111; ders. Theorie des Strafanwendungsrechts, Festschrift Grützner (1970) 110; ders. Das Territorialitätsprinzip, ZStW 83 (1971) 48; ders. Das deutsche Strafrecht und die Piratensender (1970) (zit.: Piratensender); ders. Die positiven Auswirkungen ausländischer Strafurteile im Inland und im Rahmen der Vollstreckung, Festschrift Heinitz (1972) 727; ders. Zur Rückwirkung des Begriffs des Deutschen im geltenden deutschen internationalen Strafrecht, Festschrift Bockelmann (1979) 771; ders. Strafrechtlicher Schutz ausländischer Rechtsgüter, JR 1980 485; ders. Angriffshandlungen und andere internationale Delikte als Tatbestände eines Besonderen Teils des internationalen Strafrechts, Festschrift Klug (1983) 293; ders. Neuerer Wandel in den Bestimmungen über den strafrechtlichen Geltungsbereich in den völkerrechtlichen Verträgen, Festschrift Carstens (1984) 435; ders. Fragen zum Strafrecht der Europäischen Gemeinschaft, Festschrift Jescheck (1985) 1399; ders. Auslieferungsersuchen, Einlieferung und der Geltungsbereich des Strafrechts, Festschrift Köln (1988) 489; ders. Der europäische Binnenmarkt und sein wirtschaftsstrafrechtlicher Schutz, Festschrift Baumann (1992) 561; O’Keefe Universal Jurisdiction, Clarifying the Basic Concept, Journal of International Criminal Justice 2 (2004) 735; Ostendorf Thesen zur Ahndung von Völkerrechtsverbrechen, ZRP 1996 467; Pabsch Der strafrechtliche Schutz der überstaatlichen Hoheitsgewalt (1965); Pappas Stellvertretende Strafrechtspflege (1997); Pawlik Strafe oder Gefahrenbekämpfung? Festschrift F.-Chr. Schroeder (2006) 357; Pietsch Die Verordnung über den Geltungsbereich des Strafrechts vom 6.5.1940, DJ 1940 565; Polzin Das Gesetz über die innerdeutsche Rechts- und Amtshilfe in Strafsachen in der Praxis, JR 1954 448; Pottmeyer Die Strafbarkeit von Auslandstaten nach dem Kriegswaffenkontroll- und dem Außenwirtschaftsrecht, NStZ 1992 57; Reissfelder Zur strafrechtlichen Verfolgbarkeit von Verkehrsübertretungen Deutscher in Österreich, NJW 1964 637; Reschke Der Schutz ausländischer Rechtsgüter durch das Strafrecht (1962); Rinck Die Indemnität des Abgeordneten im Bundesstaat des Bonner Grundgesetzes, JZ 1961 248; Roegele Deutscher Strafrechtsimperialismus (2014); Roggemann Rechtshilfe in Strafsachen zwischen Bundesrepublik und DDR, NJW 1974 1841; ders. Strafrechtsanwendung und Rechtshilfe zwischen beiden deutschen Staaten (1975); ders. Strafverfolgung von Balkankriegsverbrechen aufgrund des Weltrechtsprinzips – ein Ausweg? NJW 1994 1436; Roßwog Das Problem der Vereinbarkeit des aktiven und passiven Personalitätsgrundsatzes mit dem Völkerrecht (1965); Rudolf Anwendungsbereich und Auslegung von § 5 StGB, NJW 1954 219; Rumpf Inland und Ausland als Rechtsbegriff in ihrer Bedeutung für Deutschland, Der Staat 1970 289; ders. Die deutsche Staatsangehörigkeit nach dem Grund-

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Vor §§ 3 ff | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

vertrag, ZRP 1974 201; ders. Deutschlands Rechtslage seit 1973, Zeitschrift für Politik 1975 111; Samson Die öffentliche Aufforderung zur Fahnenflucht von NATO-Soldaten, JZ 1969 258; Satzger Die Anwendung des deutschen Strafrechts auf grenzüberschreitende Gefährdungsdelikte, NStZ 1998 115; ders. Strafrechtliche Verantwortlichkeit von Zugangsvermittlern, CR 2001 109; Schlüchter Zur teleologischen Reduktion im Rahmen des Territorialitätsprinzips, Festschrift Oehler (1985) 307; A. Schneider Die Verhaltensnorm im Internationalen Strafrecht (2011); M. Schmidt Externe Strafpflichten (2002); dies. Grenzen des Geltungsbereichs von Strafrecht, in Asholt u.a. (Hrsg.) Grundlagen und Grenzen des Strafens (2015) 101; A. Schmitz Das aktive Personalitätsprinzip im Internationalen Strafrecht (2002); R. Schmitz § 7 II Nr. 2 StGB und das Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege, Festschrift Grünwald (1999) 619; Schnorr von Carolsfeld Straftaten in Flugzeugen (1965); ders. Mitbestrafte Nachtat im internationalen Strafrecht, Festschrift Heinitz (1972) 765; Scholz/Lingens Wehrstrafgesetz, 4. Aufl. (2000); Schönberger Positive transnationale Jurisdiktionskonflikte (2015); Schönke Gegenwartsfragen des internationalen Strafrechts, Festschrift Mezger (1954) 105; Scholten Das Erfordernis der Tatortstrafbarkeit in § 7 StGB (1995); Schomburg Die Europäisierung des Verbots doppelter Strafverfolgung, NJW 2000 1833; ders. Konkurrierende nationale und internationale Strafgerichtsbarkeit und der Grundsatz „Ne bis in idem“, Festschrift Eser (2005) 829; ders. Die Europäisierung des Verbots doppelter Strafverfolgung – Ein Zwischenbericht, NJW 2000 1833; Schorn Zweifelsfragen zum räumlichen Geltungsbereich des Strafrechts (§§ 3 bis 7 StGB) JR 1964 205; Schröder Die Teilnahme im internationalen Strafrecht, ZStW 61 (1949) 57; ders. Grundlagen und Grenzen des Personalitätsprinzips im internationalen Strafrecht, JZ 1968 241; ders. Zur Strafbarkeit von Verkehrsdelikten deutscher Staatsangehöriger im Ausland, NJW 1968 283; Schroeder Der „räumliche Geltungsbereich“ der Strafgesetze, GA 1968 353; ders. Urkundenfälschung mit Auslandsberührung, NJW 1990 1406; ders. Schranken für den räumlichen Geltungsbereich des Strafrechts, NJW 1969 130; H. Schultz Das schweizerische Auslieferungsrecht (1953); ders. Neue Entwicklungen im sog. internationalen Strafrecht, Festschrift v. Weber (1963) 305; ders. Neue Probleme des internationalen Strafrechts, SchwJZ 1964 81; ders. Zur Regelung des räumlichen Geltungsbereiches durch den E 1962, GA 1966 193; ders. Internationalstrafrechtliche Gedankenspiele, Festschrift Tröndle (1989) 895; N. Schultz Ist Lotus verblüht? ZaöRV 62 (2002) 703; Schweitzer/Rudolf Friedensvölkerrecht (1970); Schwenk Deutsche Gerichtsbarkeit nach dem Überleitungsvertrag, NJW 1960 273; ders. Die strafprozessualen Bestimmungen des NATO-Truppenstatuts, des Zusatzabkommens und des Unterzeichnungsprotokolls zum Zusatzabkommen, NJW 1963 1423; Seidl-Hohenveldern (Hrsg.) Lexikon des Rechts – Völkerrecht, 2. Aufl. (1992); ders./Stein Völkerrecht, 10. Aufl. (2000); Shaw International Law, 7. Aufl. (2014); Sieber Europäische Einigung und Europäisches Strafrecht, ZStW 103 (1991) 957; Sinn Die Einbeziehung der internationalen Rechtspflege in den Anwendungsbereich der Aussagedelikte, NJW 2008 3526; ders. (Hrsg.) Jurisdiktionskonflikte bei grenzüberschreitender Kriminalität (2012); Specht Die zwischenstaatliche Geltung des Grundsatzes ne bis in idem (1999); Staubach Die Anwendung des ausländischen Strafrechts durch den inländischen Richter (1964); Sternberg-Lieben Internationaler Musikdiebstahl und deutsches Strafanwendungsrecht, NJW 1985 2121; Stötter Die Rechts- und Amtshilfe in Strafsachen im Verhältnis zur sowjetisch besetzten Zone Deutschlands (1960); Strupp/Schlochauer Wörterbuch des Völkerrechts, 2. Aufl. (1. Bd. 1960, 2. Bd. 1961 und 3. Bd. 1962); Swart La place des critères traditionnels de compétence dans la poursuite des crimes internationaux in Cassese/Delmas-Marty (Hrsg.) Crimes internationaux et jurisdictions internationales (2002) 567; H. Thomas Das Recht auf Einmaligkeit der Strafverfolgung (2004); S. Thomas Die Anwendung europäischen materiellen Rechts im Strafverfahren, NJW 1991 2233; Tiedemann Reform des Sanktionswesens auf dem Gebiete des Agrarmarktes der Europäischen Gemeinschaft, Festschrift Pfeiffer (1988) 101; ders. Europäisches Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, NJW 1993 23; ders. Der Allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts, Festschrift Jescheck (1985) 1411; ders. Der Strafschutz der Finanzinteressen der EG, NJW 1990 2226; ders. Gegenwart und Zukunft des Europäischen Strafrechts, ZStW 116 (2004) 945; Thun Strafverfolgung von argentinischen und chilenischen Menschenrechtsverletzungen in Deutschland in Theissen/Nagler (Hrsg.) Der IStGH – fünf Jahre nach Rom (2004) 57; Tomuschat The Duty to Prosecute International Crimes Committed by Individuals, Festschrift Steinberger (2001) 315; ders. National Prosecutions, Truth Commissions and International Criminal Justice in Werle (Hrsg.) Justice in Transition (2006) 157; Valerius Das globale Unrechtsbewusstsein, NStZ 2003 341; Van den Wyngaert/Stessens/van Daele International Criminal Law, 2. Aufl. (2000); Vander Beken/Vermeulen/Lagodny Kriterien für die jeweils beste Strafgewalt in Europa, NStZ 2002 624; Vander Beken/Vermeulen/Steverlynck/Thomaes Finding the Best Place for Prosecution (2002); Verdross/Simma Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. (1984); Vogel Gesetzlichkeitsprinzip, territoriale Geltung und Gerichtsbarkeit in Tiedemann (Hrsg.) Wirtschaftsstrafrecht in der Europäischen Union (2002) 91; Vogler

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Vorbemerkungen | Vor §§ 3 ff

Die Tätigkeit des Europarats auf dem Gebiet des Strafrechts, ZStW 79 (1967) 371; ders. Die Europäischen Übereinkommen über die Auslieferung und die sonstige Rechtshilfe in Strafsachen, ZStW 80 (1968) 480; ders. Geltungsanspruch und Geltungsbereich der Strafgesetze, Festschrift Grützner (1970) 149; ders. Der Fall Kappler in international-strafrechtlicher Sicht, NJW 1977 1866; ders. Die Ahndung im Ausland begangener Verkehrsdelikte, DAR 1982 73; ders. Entwicklungstendenzen im internationalen Strafrecht, Festschrift Maurach (1972) 595; T. Walter Einführung in das internationale Strafrecht, JuS 2006 870, 967; F. Walther „Tat“ und „Täter“ im transnationalen Strafanwendungsrecht des StGB, JuS 2012 2013; S. Walther Terra incognita: Wird staatliche internationale Strafgewalt den Menschen gerecht? Festschrift Eser (2005) 925; v. Weber Das interlokale Strafrecht, DStR 1940 182; ders. Der Schutz fremdländischer staatlicher Interessen im Strafrecht, Festgabe Frank (1930) 269; ders. Das passive Personalitätsprinzip, Deutsche Landesreferate zum III. internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung (1950) 894; ders. Internationales Luftstrafrecht, Festschrift Rittler (1957) 111; ders. Die Auslieferung bei politischen Delikten, Erinnerungsgabe Grünhut (1965) 161; Wegner Über den Geltungsbereich des staatlichen Strafrechts, Festgabe Frank (1930) 98; Weigend Strafrecht durch internationale Vereinbarungen – Verlust an nationaler Strafrechtskultur? ZStW 105 (1993) 774; ders. Das Völkerstrafgesetzbuch, Gedächtnisschrift Vogler (2004) 197; ders. Grund und Grenzen universaler Gerichtsbarkeit, Festschrift Eser (2005) 955; Weißer Das Prinzip der Weltrechtspflege in Theorie und Praxis, GA 2012 416; Wengler Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Vollstreckung von Strafurteilen nach dem Rechtshilfegesetz, JZ 1961 3; Werle/Jeßberger Grundfälle zum Strafanwendungsrecht, JuS 2001 35, 141; dies. Das Völkerstrafgesetzbuch, JZ 2002 725; dies. Völkerstrafrecht, 5. Aufl. (2020); Wiedenbrüg Schutz ausländischer öffentlicher Urkunden nach §§ 271, 273 StGB, NJW 1973 301; dies. Völkerstrafrecht, 4. Aufl. (2016); Wilhelmi Das Weltrechtsprinzip im internationalen Privat- und Strafrecht (2007); Wilkitzki Die völkerrechtlichen Verbrechen und das staatliche Strafrecht, ZStW 99 (1987) 455; ders. Die Regionalisierung des internationalen Strafrechts, ZStW 105 (1993) 821; Wille Die Verfolgung strafbarer Handlungen an Bord von Schiffen und Luftfahrzeugen (1974); Wörner Einseitiges Strafanwendungsrecht und entgrenztes Internet? ZIS 2012 458; Wohlfahrt Zur Rechtswirkung besatzungsgerichtlicher Urteile, JZ 1955 526; Wong Criminal Act, Criminal Jurisdiction and Criminal Justice (2004); Ziegenhain Extraterritoriale Rechtsanwendung und die Bedeutung des Genuine-Link-Erfordernisses (1992); Zieher Das sog. internationale Strafrecht nach der Reform (1977); Zimmermann Strafgewaltkonflikte in der Europäischen Union (2014).

Entstehungsgeschichte Die §§ 3 bis 7 gehen auf das RStGB 1871 zurück (eingehend zur Entstehungsgeschichte Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 46 ff). Den Ausgangspunkt des deutschen Strafanwendungsrechts bildete von 1871 bis 1940 der Gebietsgrundsatz; 1940 erhob der nationalsozialistische Gesetzgeber den aktiven Personalgrundsatz zum Leitprinzip. Seit 1975 ist der Gebietsgrundsatz wieder vorrangiger Anknüpfungspunkt (näher Rdn. 276 f).1 Zum besseren Verständnis der Gesamtentwicklung wird im Folgenden der Wortlaut früherer Fassungen im Zusammenhang wiedergegeben; wie die einzelnen Bestimmungen sich bis zur geltenden Fassung entwickelt haben, wird bei den jeweiligen Vorschriften näher dargelegt. 1. §§ 3 ff RStGB mit Änderungen bis zur VO über Vermögensstrafen und Bußen vom 6.2.1924 (RGBl. I S. 44): § 3. Die Strafgesetze des Deutschen Reichs finden Anwendung auf alle im Gebiete desselben begangenen strafbaren Handlungen, auch wenn der Täter ein Ausländer ist. § 4. Wegen der im Auslande begangenen Verbrechen und Vergehen findet in der Regel keine Verfolgung statt.

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1 Zur Wiedereinführung des Territorialitätsprinzips eingehend Eser FS Jescheck, S. 1362 ff sowie Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 58 ff.

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Vor §§ 3 ff | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

Jedoch kann nach den Strafgesetzen des Deutschen Reichs verfolgt werden: ein Deutscher oder ein Ausländer, welcher im Auslande eine hochverräterische Handlung gegen das Deutsche Reich oder einen Bundesstaat, oder ein Münzverbrechen, oder als Beamter des Deutschen Reichs oder eines Bundesstaats eine Handlung begangen hat, die nach den Gesetzen des Deutschen Reichs als Verbrechen oder Vergehen im Amte anzusehen ist; 2. ein Deutscher, welcher im Auslande eine landesverräterische Handlung gegen das Deutsche Reich oder einen Bundesstaat begangen hat; 3. ein Deutscher, welcher im Auslande eine Handlung begangen hat, die nach den Gesetzen des Deutschen Reichs als Verbrechen oder Vergehen anzusehen und durch die Gesetze des Orts, an welchem sie begangen wurde, mit Strafe bedroht ist. Die Verfolgung ist auch zulässig, wenn der Täter bei Begehung der Handlung noch nicht Deutscher war. In diesem Falle bedarf es jedoch eines Antrags der zuständigen Behörde des Landes, in welchem die strafbare Handlung begangen worden, und das ausländische Strafgesetz ist anzuwenden, soweit dies milder ist. § 5. Im Falle des § 4 Nr. 3 bleibt die Verfolgung ausgeschlossen, wenn 1. von den Gerichten des Auslandes über die Handlung rechtskräftig erkannt und entweder eine Freisprechung erfolgt, oder die ausgesprochene Strafe vollzogen, 2. die Strafverfolgung oder die Strafvollstreckung nach den Gesetzen des Auslandes verjährt oder die Strafe erlassen, oder 3. der nach den Gesetzen des Auslandes zur Verfolgbarkeit der Handlung erforderliche Antrag des Verletzten nicht gestellt worden ist. § 6. Im Auslande begangene Übertretungen sind nur dann zu bestrafen, wenn dies durch besondere Gesetze oder durch Verträge angeordnet ist. § 7. Eine im Auslande vollzogene Strafe ist, wenn wegen derselben Handlung im Gebiete des Deutschen Reichs abermals eine Verurteilung erfolgt, auf die zu erkennende Strafe in Anrechnung zu bringen. § 8. Ausland im Sinne dieses Strafgesetzes ist jedes nicht zum Deutschen Reich gehörige Gebiet. § 9. Ein Deutscher darf einer ausländischen Regierung zur Verfolgung oder Bestrafung nicht überliefert werden.

1.

2. Während § 3 sowie die §§ 5 bis 9 unverändert blieben, erhielt § 4 durch die Gesetze vom 26.5.1933 (RGBl. I S. 295) und 24.4.1934 (RGBl. I S. 341) die folgende Fassung, die insbesondere die Erstreckung des deutschen Strafrechts auf Auslandstaten von Ausländern in den Fällen des § 4 Abs. 2 Nr. 2 RStGB brachte. § 4. Wegen der im Auslande begangenen Verbrechen und Vergehen findet in der Regel keine Verfolgung statt. Jedoch kann nach den Strafgesetzen des Deutschen Reichs verfolgt werden: 1. ein Deutscher oder ein Ausländer, welcher im Auslande eine hochverräterische Handlung gegen das Deutsche Reich oder ein Münzverbrechen oder Münzvergehen oder als Träger eines deutschen Amtes eine Handlung begangen hat, die nach den Gesetzen des Deutschen Reichs als Verbrechen oder Vergehen im Amte anzusehen ist; 2. ein Deutscher oder ein Ausländer, der im Ausland eine landesverräterische Handlung gegen das Deutsche Reich oder einen Angriff gegen den Reichspräsidenten (§ 94 Abs. 1, 2) begangen hat; 3. ein Deutscher, welcher im Auslande … (unverändert). Die Verfolgung ist auch zulässig, wenn … (unverändert). Soll ein Ausländer wegen einer im Ausland begangenen Tat verfolgt werden, so darf die Anklage nur mit Zustimmung des Reichsministers der Justiz erhoben werden.

3. Die nationalsozialistische Verordnung über den Geltungsbereich des Strafrechts (GeltungsbereichsVO) des Ministerrats für die Reichsverteidigung vom 6.5.1940 (RGBl. I Werle/Jeßberger

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Vorbemerkungen | Vor §§ 3 ff

S. 754) brachte sodann einschneidende Veränderungen. Im Zeichen einer „völkischen Treupflicht“ wurde der aktive Personalgrundsatz in § 3 RStGB zur Grundlage des Strafanwendungsrechts; verwirklicht wurde damit ein Modell, das dem Entwurf des RStGB von 1936 entsprach.2 Weitere Änderungen betrafen die §§ 4 und 5 RStGB und erweiterten den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts erheblich. § 8 RStGB wurde aufgehoben, während §§ 6 und 7 sowie das Auslieferungsverbot des § 9 RStGB erhalten blieben. § 3. Das deutsche Strafrecht gilt für die Tat eines deutschen Staatsangehörigen, einerlei, ob er sie im Inland oder im Ausland begeht. Für eine im Ausland begangene Tat, die nach dem Recht des Tatorts nicht mit Strafe bedroht ist, gilt das deutsche Strafrecht nicht, wenn die Tat nach dem gesunden Empfinden des deutschen Volkes wegen der besonderen Verhältnisse am Tatort kein strafwürdiges Unrecht ist. Eine Tat ist an jedem Ort begangen, an dem der Täter gehandelt hat oder im Falle des Unterlassens hätte handeln sollen oder an dem der Erfolg eingetreten ist oder eintreten sollte. § 4. Das deutsche Strafrecht gilt auch für Taten, die ein Ausländer im Inland begeht. Für eine von einem Ausländer im Ausland begangene Straftat gilt das deutsche Strafrecht, wenn sie durch das Recht des Tatorts mit Strafe bedroht oder der Tatort keiner Strafgewalt unterworfen ist und wenn 1. der Täter die deutsche Staatsangehörigkeit nach der Tat erworben hat oder 2. die Straftat gegen das deutsche Volk oder gegen einen deutschen Staatsangehörigen gerichtet ist oder 3. der Täter im Inland betroffen und nicht ausgeliefert wird, obwohl die Auslieferung nach der Art der Straftat zulässig wäre. Unabhängig von dem Recht des Tatorts gilt das deutsche Strafrecht für folgende Straftaten, die ein Ausländer im Ausland begeht: 1. Straftaten, die er als Träger eines deutschen staatlichen Amts, als deutscher Soldat oder als Angehöriger des Reichsarbeitsdienstes oder die er gegen den Träger eines deutschen Amts des Staates oder der Partei, gegen einen deutschen Soldaten oder gegen einen Angehörigen des Reichsarbeitsdienstes während der Ausübung ihres Dienstes oder in Beziehung auf ihren Dienst begeht; 2. hoch- oder landesverräterische Handlungen gegen das Deutsche Reich; 3. Sprengstoffverbrechen; 4. Kinderhandel und Frauenhandel; 5. Verrat eines Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisses eines deutschen Betriebes; 6. Meineid in einem Verfahren, das bei einem deutschen Gericht oder einer anderen zur Abnahme von Eiden zuständigen deutschen Stelle anhängig ist; 7. Münzverbrechen und Münzvergehen; 8. unbefugter Vertrieb von Betäubungsmitteln; 9. Handel mit unzüchtigen Veröffentlichungen. § 5. Das deutsche Strafrecht gilt, unabhängig von dem Recht des Tatorts, für Taten, die auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug begangen werden.

Die Änderungen des materiellen Rechts durch die GeltungsbereichsVO waren mit einer bis heute in § 153c StPO fortwirkenden Lockerung des Verfolgungszwangs bei Auslandstaten sowie bei Inlandstaten verbunden, die Ausländer auf ausländischen Schiffen oder Luftfahrzeugen begehen (§ 153a StPO i.d.F. der GeltungsbereichsVO). 4. Das 1. StRÄndG vom 30.8.1951 (BGBl. I S. 739) passte den Wortlaut des § 4 Abs. 3 Nr. 2 den veränderten Umständen an, das 3. StRÄndG vom 4.8.1953 (BGBl. I S. 717) und

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2 Näher Werle Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich (1989) S. 308 ff.

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Vor §§ 3 ff | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

das 4. StRÄndG vom 11.6.1957 (BGBl. I S. 597) änderten § 3 Abs. 2 sowie § 4 Abs. 3 Nr. 1. Das 2. StrRG vom 4.6.1969 (BGBl. I S. 717) i.d.F. des Art. 18 II Nrn. 2 bis 4 EGStGB (in Kraft ab 1.1.1975) schuf schließlich die Grundlage des geltenden Rechts (Rdn. 276 ff). Auf das 2. StrRG und damit auf die Gestalt des geltenden Rechts wirkten dabei insbesondere Einflüsse des E 1962, des Alternativentwurfs sowie die Arbeiten der Großen Strafrechtskommission ein. Gesetzesmaterialien E 1962 §§ 3 bis 8 mit Begründung; Niederschriften d. Gr. Str. Komm. Bd. 4 S. 12 ff, 30 ff, 412 ff; Schriftl. Bericht d. Sonderausschusses Strafrecht zum 2. StrRG, BTDrucks. V/4095 S. 4; Reg.-Entwürfe zum EGStGB, BTDrucks. VI/3150 S. 6, 7/550 S. 207 ff; Schriftl. Bericht d. Sonderausschusses Strafrecht zum EGStGB, BTDrucks. 7/1261 S. 4; 7/1232, Prot. IV/553, IV/584, IV/591, V/70, VI/2346.

I. II. III.

Übersicht Begriff und Gegenstand des Strafanwendungsrechts | 1 Strafanwendungsrecht als Teil des Internationalen Strafrechts | 13 Grundlagen des Strafanwendungsrechts | 19 1. Allgemeine völkerrechtliche Schranken staatlicher Strafbefugnis | 20 2. Strafgewalterstreckungs- und Strafverfolgungspflichten | 31 3. Konkurrierende Strafgewalten | 45 4. Regelungen in zwischenstaatlichen Abkommen und europäischen Rechtsakten | 52 a) Sklaverei und Menschenhandel | 59 b) Fälschung und Betrug im Zusammenhang mit Zahlungsmitteln | 72 c) Völkermord | 77 d) Kriegsverbrechen | 81 e) Seeräuberei | 94 f) Betäubungsmittelkriminalität | 99 g) Straftaten gegen die Sicherheit der zivilen Luftfahrt | 107 h) Betreiben eines „Piratensenders“ | 120 i) Straftaten gegen Diplomaten und sonstige völkerrechtlich geschützte Personen | 127 j) Terrorismus | 133 k) Geiselnahme | 153 l) Folter | 160 m) Straftaten gegen die Umwelt | 167

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n)

IV.

Straftaten gegen die Sicherheit der zivilen Seeschifffahrt | 180 o) Delikte gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union | 192 p) Grenzüberschreitende organisierte Kriminalität | 201 q) Schleuserkriminalität | 209 r) Korruption | 213 s) Rassismus und Fremdenfeindlichkeit | 220 t) Computerkriminalität | 222 u) Sexuelle Ausbeutung und Missbrauch von Kindern | 226 v) Verschwindenlassen | 229 x) Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt | 231 y) Marktmanipulation | 233 Die völkerrechtlichen Geltungsprinzipien | 235 1. Territorialitätsprinzip | 241 2. Flaggenprinzip | 243 3. Staatsschutzprinzip | 244 4. Passives Personalitätsprinzip | 247 5. Aktives Personalitätsprinzip | 251 6. Universalitätsprinzip | 256 7. Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege | 267 8. Weitere Prinzipien a) Vertragsprinzip | 269 b) Unionsschutzprinzip und europäisches Territorialitätsprinzip | 270 c) Domizilprinzip | 273 d) Kompetenzverteilungsprinzip | 274

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Vorbemerkungen | Vor §§ 3 ff

V.

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Die gesetzliche Regelung des Strafanwendungsrechts 1 Die Verwirklichung der völkerrechtlichen Geltungsprinzipien im geltenden Recht | 276 2. Die Rechtsnatur der Geltungsbereichsnormen | 286 3. Geltungsbereichsnorm und Gesetzlichkeitsprinzip | 287 4. Tatbestandsmäßige Beschränkungen des Anwendungsbereichs des deutschen Strafrechts | 290 a) Problematik | 291 b) Einzelheiten aa) Beschränkung durch den Gesetzeswortlaut | 313 bb) Beschränkung nach dem Sinn und Zweck des gesetzlichen Tatbestands | 315 cc) Besondere Fälle | 318 (1) Aufforderung zu Straftaten und Hausfriedensbruch | 319 (2) Aussagedelikte und Eidesverletzung | 320 (3) Falsche Verdächtigung | 325 (4) Verletzung der Unterhaltspflicht | 326 (5) Kreditbetrug | 327 (6) Urkundsdelikte | 329 (7) Straßenverkehrsdelikte | 330 5. Grundbegriffe des geltenden Strafanwendungsrechts a) Tat | 333 aa) Sachlichrechtliche Bedeutung | 335 bb) Prozessuale Bedeutung | 340 b) Inland – Ausland | 341 c) Deutscher – Ausländer | 343 d) Geltung | 347 e) Deutsches Strafrecht | 348 6. Strafanwendungsrecht und Fremdrechtsanwendung | 349 7. Konkurrenz mit ausländischen Strafrechtsordnungen und ne bis in idem | 359 8. Strafanwendungsrecht und Strafverfahrensrecht | 368 a) Einstellungsmöglichkeiten bei Taten mit Auslandsberührung | 369

b) Rechtshilfe und Auslieferung Exterritoriale – Immunität und Befreiung von der Gerichtsbarkeit 1. Der Begriff „Exterritorialität“ | 378 2. Rechtliche Wirkungen der Exterritorialität | 392 3. Durch Exterritorialität geschützter Personenkreis | 402 a) Völkerrechtliche Vereinbarungen | 403 b) Geschützte Personen aa) Diplomatische Missionen und konsularische Vertretungen | 408 bb) Andere Exterritoriale | 411 cc) Insbesondere ausländische Truppen | 414 VII. Einschränkungen deutscher Gerichtsbarkeit im Hinblick auf Verfahren und Urteile der Besatzungsgerichte | 426 1. Völkerrechtliche Vereinbarungen | 427 2. Regelungen des Überleitungsvertrages | 429 VIII. Interlokales Strafrecht 1. Das interlokale Strafrecht als innerstaatliches Kollisionsrecht | 434 2. Grundsätze des interlokalen Strafrechts | 439 a) Anwendung des Tatortrechts | 440 b) Konkurrenz mehrerer Tatortrechte | 444 c) Tatortrecht bei Tatbeteiligung | 447 aa) Tatortgesichtspunkte | 448 bb) Berücksichtigung der Akzessorietät der Teilnahme | 449 d) Reichweite von Amnestien | 451 IX. Probleme der Strafrechtsgeltung im Zusammenhang mit der Teilung Deutschlands | 452 1. Bis zum Beitritt der DDR zur Bundesrepublik | 453 2. Seit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik | 457 a) Alttaten | 458 b) Neutaten | 462 X. Innere Tatseite | 471 XI. Strafanwendungsrecht außerhalb des Strafgesetzbuches | 476 VI.

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Vor §§ 3 ff | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

I. Begriff und Gegenstand des Strafanwendungsrechts 1 2

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Die §§ 3 bis 7 regeln – wenn auch nicht abschließend (Rdn. 476 ff) – das Rechtsgebiet, das als Strafanwendungsrecht bezeichnet wird.3 Diese auf Mezger4 zurückgehende Bezeichnung hat sich inzwischen gegenüber dem lange Zeit gebräuchlichen Begriff „internationales Strafrecht“ 5 durchgesetzt. Ein Grund dafür ist die Erkenntnis, dass die Bezeichnung der Bestimmungen über den Geltungs- und Anwendungsbereich des staatlichen Strafrechts als „internationales Strafrecht“ in der Sache verfehlt ist.6 Denn weder sind die Geltungsbereichsregeln internationales, also zwischenstaatliches Recht noch sind sie – trotz der sprachlichen Nähe zum internationalen Privatrecht – Kollisionsrecht im eigentlichen Sinne. Hinzu kommt, dass mit der Ende des vergangenen Jahrhunderts einsetzenden „Internationalisierung“ des Strafrechts das Bedürfnis für eine Terminologie entstanden ist, die die vielfältigen Aspekte dieser Entwicklung differenziert erfasst. Internationales Strafrecht wird daher heute in einem weiten Sinne begriffen und umfasst alle Bereiche des Strafrechts, die aufgrund ihrer Rechtsquelle oder des ihnen zugrunde liegenden Vorgangs internationale Bezüge aufweisen (näher Rdn. 13). Der Begriff Strafanwendungsrecht kennzeichnet seinen Gegenstand allerdings nicht vollständig: Die §§ 3 bis 7 legen nämlich nicht nur das anzuwendende Recht fest; sie bestimmen vielmehr zugleich den Umfang der von Deutschland in Anspruch genommenen Strafgewalt und sind zudem maßgeblich für die Reichweite der Gerichtsbarkeit deutscher Strafgerichte.7 Im Einzelnen ist hierzu Folgendes zu bemerken: Die Vorschriften des Strafanwendungsrechts legen zunächst den Bereich fest, in dem Deutschland Strafgewalt beansprucht. Insofern betreffen sie den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts und lassen sich als Geltungsbereichsnormen bezeichnen. Durch die Anordnung, dass das deutsche Strafrecht für bestimmte Straftaten „gilt“, begründet der Strafgesetzgeber seinen Anspruch, bestimmte Lebenssachverhalte, etwa im Ausland begangene Taten eines Inländers, einer (strafrechtlichen) Bewertung zu unterziehen.8 Hierbei kommt den Normen des Strafanwendungsrechts vor allem die Aufgabe zu, den Geltungsbereich des inländischen Strafrechts dort zu umgrenzen, wo die Tat Auslandsberühung aufweist; insofern ist der transnationale Geltungsbereich 9 des deutschen Strafrechts wenn auch nicht einziger, so doch wesentlicher Regelungsgegenstand der §§ 3 bis 7. Indem der Gesetzgeber den Geltungsbereich des Strafrechts festlegt, übt er Strafgewalt in Form der Rechtsetzungsgewalt (jurisdiction to prescribe)10 aus. Hiervon zu unterscheiden ist die Ausübung von Strafgewalt in Form der Vollzugsgewalt (jurisdiction to enforce); diese betrifft die Durchsetzung der Strafgesetze. Die Unterscheidung der

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3 Ambos MK Rdn. 2; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 5 Rdn. 23; Hecker § 2 Rdn. 2; Oehler Rdn. 1; Satzger § 3 Rdn. 1; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 1; Fischer Rdn. 1; Zieher S. 32. 4 Deutsches Strafrecht (1938) S. 34 („Strafrechtsanwendungsrecht“). 5 Binding Handbuch S. 370; Kohler S. 1 („zwischenstaatliches Strafrecht“); Meili FS R. Schröder, S. 5; krit. bereits v. Liszt/Schmidt AT S. 121. 6 Ambos MK Rdn. 1; Hoyer SK Rdn. 1; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 5; Zieher S. 26. 7 Ambos MK Rdn. 2; Jescheck/Weigend § 18 I 1; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 1; Satzger § 3 Rdn. 2 ff; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 6; Fischer Rdn. 1. 8 Eingehend Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 12 ff; vgl. auch Jescheck/Weigend § 18 I 1; Maurach/Zipf § 11 Rdn. 2; Zieher S. 21 ff. 9 Zum Begriff Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 19 ff; vgl. auch Jescheck/Weigend § 19 I („internationaler Geltungsbereich“); vgl. auch Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 7: „territoriales und transnationales Strafanwendungsrecht“. 10 Vgl. BVerfG NJW 2001 1848, 1852, „Strafrechtssetzungsgewalt“.

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Vorbemerkungen | Vor §§ 3 ff

exekutiven und der legislativen Dimension der Ausübung von Strafgewalt ist angezeigt,11 weil das Völkerrecht der staatlichen Strafgewalt jeweils unterschiedliche Grenzen setzt (näher Rdn. 21 f). Erst wenn feststeht, dass eine Tat der Strafgewalt des Staates unterliegt, stellt sich die Frage nach dem anzuwendenden Recht. Auch darauf geben die Vorschriften des Strafanwendungsrechts eine Antwort; sie legen fest, welches Strafrecht anzuwenden ist, sei es das innerstaatliche oder ein ausländisches. (Nur) in diesem Sinne handelt es sich bei den §§ 3 bis 7 um Rechtsanwendungsrecht. Das anwendbare Strafgesetz muss nicht, wird aber regelmäßig ein solches derjenigen staatlichen Rechtsordnung sein, die Geltung beansprucht. Maßgeblich sind die Bestimmungen des Strafanwendungsrechts schließlich für die (prozessuale) Frage, ob eine Tat der deutschen Gerichtsbarkeit unterliegt, ob also deutsche Strafgerichte zur Aburteilung befugt sind.12 Insofern legt das Strafanwendungsrecht auch den Zuständigkeitsbereich der deutschen Strafgerichtsbarkeit fest (Rdn. 10).13 Im geltenden Recht ist die Unterscheidung von Geltungsbereich, Anwendungsbereich und Zuständigkeitsbereich nur von geringer Bedeutung, denn deutsche Strafgerichte wenden ausschließlich deutsches Recht an.14 Geltungsbereich, Anwendungsbereich und Zuständigkeitsbereich sind also von wenigen Ausnahmen abgesehen deckungsgleich. Diese Deckungsgleichheit ist aber nicht selbstverständlich. So war bis zur GeltungsbereichsVO von 1940 in § 4 Abs. 3 Satz 2 RStGB die Anwendung des ausländischen Strafgesetzes vorgesehen, soweit dieses milder war (Entstehungsgeschichte). Zwar findet sich eine solche Regelung im geltenden Recht nicht mehr. De lege lata ist die Berücksichtigung des Strafrahmens der ausländischen Tatortnorm zu Gunsten des Täters aber bei § 7 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 möglich (§ 7 Rdn. 25). Zur Bedeutung von Rechtssätzen des ausländischen Zivil- oder Verwaltungsrechts siehe Rdn. 352. Schließlich lässt sich nur mit der genannten Unterscheidung erklären, dass bei Nichtvorliegen der Voraussetzungen der §§ 3 bis 7 nicht etwa freizusprechen, sondern das Strafverfahren auf Grund eines Verfahrenshindernisses einzustellen ist; die Geltung und Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts ist nämlich Verfahrensvoraussetzung (BGHSt 34 1, 3 f; BGH NJW 1995 1844, 1845).15 Da jeder Staat selbst sein Strafanwendungsrecht setzt, ist Strafanwendungsrecht staatliches Recht und nicht Völkerrecht. Es steht dem Gesetzgeber in dem vor allem durch Völker- und Europarecht vorgegebenen Rahmen (Rdn. 20 ff, insbes. 52 ff) grundsätzlich frei, wie er den Geltungsbereich des inländischen Strafrechts für Auslandstaten begrenzt. Die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts schließt nicht aus, dass dieselbe Tat nach dem Recht eines anderen Staates strafbar ist und auch verfolgt wird. Bei Inlandstaten eines Ausländers wird dies häufig so sein, bei Auslandstaten sogar regelmäßig. In diesen Fällen stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der miteinander konkurrierenden Strafgewalten (näher Rdn. 45 ff).

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11 Näher Restatement (Third), Part IV., Introductory Note; Kreß ZStW 114 (2002) 818, 830 f; Mann S. 111. 12 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 5 Rdn. 23. 13 Zum Gleichlauf zwischen der Anwendbarkeit deutschen Strafrechts und der Zuständigkeit deutscher Strafgerichte Mankowski/Bock JZ 2008 555. 14 Ambos MK Rdn. 2. 15 OLG Düsseldorf wistra 1992 352; OLG Köln StV 1982 471 m. Anm. Bernsmann S. 578; OLG Saarbrücken JR 1975 291 m. Anm. Oehler; Ambos MK Rdn. 4; Hoyer SK Rdn. 3; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 10; Böse NK Rdn. 11; Fischer Rdn. 1.

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II. Strafanwendungsrecht als Teil des Internationalen Strafrechts 13

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Das Strafanwendungsrecht ist Teil des Internationalen Strafrechts. Internationales Strafrecht wird heute ganz überwiegend in einem weiten Sinne verstanden (vgl. auch Rdn. 2). Es bezeichnet alle Bereiche des Strafrechts, die einen rechtlichen oder tatsächlichen Bezug zum Ausland oder zu einer zwischenstaatlichen oder überstaatlichen Gemeinschaft aufweisen.16 Üblicherweise werden unter der Sammelbezeichnung des Internationalen Strafrechts das Strafanwendungsrecht, das Rechtshilferecht, das Völkerstrafrecht sowie das – in sich selbst vielschichtige (Rdn. 17) – Europäische Strafrecht zusammengefasst.17 Das Rechtshilferecht umfasst Regelungen zur grenzüberschreitenden Rechtsdurchsetzung, insbesondere zur Auslieferung von Straftätern, zur Vollstreckungshilfe und zur sog. kleinen Rechtshilfe, d.h. zur gegenseitigen Unterstützung bei der Beweisaufnahme oder bei Untersuchungshandlungen. Anders als das Strafanwendungsrecht sind die Regeln über die Rechtshilfe rein verfahrensrechtlicher Natur. Rechtshilfe ist möglich sowohl zwischen Staaten und internationalen Strafgerichtshöfen (sog. vertikale Kooperation) als auch zwischen Staaten untereinander (sog. horizontale Kooperation). Geregelt ist das Rechtshilferecht im IRG (Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen vom 23.12.1982; BGBl. I S. 2071) sowie in zahlreichen multilateralen und bilateralen Abkommen.18 Das Rechtshilferecht lässt sich mit dem Strafanwendungsrecht unter dem Oberbegriff des Transnationalen Strafrechts zusammenfassen (näher Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 27). Das Völkerstrafrecht19 bildet neben dem transnationalen Strafrecht die zweite Säule des Internationalen Strafrechts. Es umfasst alle Normen, welche die direkte Strafbarkeit nach Völkerrecht begründen, ausschließen oder in anderer Weise regeln. Zentrales Kennzeichen des Völkerstrafrechts ist danach, dass sich seine Normen, obwohl sie Teil der Völkerrechtsordnung sind, ohne Mediatisierung durch den Staat direkt an den Einzelnen richten. Seine Grundlage findet das Völkerstrafrecht im Völkervertragsrecht (IStGH-Statut) und im Völkergewohnheitsrecht. Es bezweckt den Schutz der Interessen der gesamten Völkergemeinschaft, insbesondere des Weltfriedens, der internationalen Sicherheit und des Wohls der Welt (Präambel zum IStGH-Statut). Das materielle Völkerstrafrecht wird durch ein Völkerstrafverfahrensrecht flankiert und von einer internationalen Strafgerichtsbarkeit durchgesetzt; zu nennen ist dabei insbesondere der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag. Teil des Internationalen Strafrechts sind schließlich diejenigen Normen, die sich unter dem Oberbegriff des Europäischen Strafrechts zusammenfassen lassen.20 Dazu gehören zum einen die Ansätze zu einem echten supranationalen Strafrecht, wie sie nunmehr im AEUV vorgesehen sind; Zum anderen gehört zum Europäischen Strafrecht das „europäisierte“, d.h. von europäischen Normen determinierte, staatliche Strafrecht.21 Hier liegt nach wie vor die eigentliche praktische Bedeutung des Europäischen Strafrechts.

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16 Jescheck FS Maurach, S. 579; Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 16 ff; Lagodny ZStW 101 (1989) 987; Oehler Rdn. 1, 7; Satzger § 2 Rdn. 1; Werle/Jeßberger Rdn. 154; eingehend Gardocki ZStW 98 (1986) 703 ff. 17 Jescheck FS Maurach, S. 579; Satzger § 2 Rdn. 1 ff; Werle/Jeßberger Rdn. 154; ähnlich Oehler Rdn. 1 ff; weiter differenzierend Gardocki ZStW 98 (1986) 703 f. 18 Siehe auch Rdn. 378 ff. 19 Eingehend zum Ganzen Werle/Jeßberger Rdn 88 ff; sowie Ambos §§ 5 ff; Cassese passim; Satzger §§ 12 ff. 20 Näher Ambos §§ 9 bis 13; Hecker § 2 Rdn. 98; Jung JuS 2000 417; Satzger §§ 7 bis 11. 21 Eingehend Satzger Europäisierung des Strafrechts (2001) S. 151 ff.

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Die Zusammenfassung der genannten Rechtsgebiete unter dem Oberbegriff des In- 18 ternationalen Strafrechts berücksichtigt die zahlreichen Überschneidungen und Berührungspunkte zwischen den einzelnen Teilbereichen. So werden die Bezüge des Strafanwendungsrechts zum Völkerstrafrecht etwa im Zusammenhang mit dem Universalitätsprinzip (Rdn. 256 ff; § 1 VStGB) deutlich; der Zusammenhang von Strafanwendungsrecht und Europäischem Strafrecht zeigt sich im Unionsschutzprinzip (Rdn. 270 f). Das aktive Personalitätsprinzip hat seine Wurzel in dem Verbot, Deutsche an das Ausland auszuliefern (Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG; Rdn. 383 f); und schließlich wird das Rechtshilferecht in § 7 Abs. 2 Nr. 2 unmittelbar für das Strafanwendungsrecht bedeutsam. III. Grundlagen des Strafanwendungsrechts Die Regelungsmacht des Staates zur Bestimmung des Geltungsbereichs seiner Straf- 19 rechtsordnung ist nicht unbeschränkt. Schranken, die bei der Setzung, Anwendung und Auslegung der Normen des Strafanwendungsrechts zu beachten sind, ergeben sich zum einen aus rechtsstaatlichen Grundsätzen.22 Zum anderen sind die Vorgaben des internationalen Rechts von Bedeutung, da das Strafanwendungsrecht die Geltung des Strafrechts für Straftaten mit Auslandsberührung regelt. Schranken staatlicher Strafgewalt ergeben sich insoweit aus Völkerrecht und Europarecht. Bedeutsam für Umfang und Reichweite der Bindungen staatlicher Strafgewalt sind dabei auch internationale Abkommen sowie europäische Rechtsakte, insbesondere Richtlinien (hierzu Rdn. 52 ff). 1. Allgemeine völkerrechtliche Schranken staatlicher Strafbefugnis. Es ent- 20 spricht heute allgemeiner Meinung, dass das Völkerrecht die staatliche Strafgewalt begrenzt.23 Die frühere Auffassung, wonach jeder Staat den Geltungsbereich des staatlichen Strafrechts ohne Rücksicht auf völkerrechtliche Normen bestimmen könne,24 ist durch die Entwicklung des Völkerrechts inzwischen überholt. Grenzen, die die Staaten bei der Ausübung ihrer Strafgewalt zu beachten haben, er- 21 geben sich dabei in erster Linie aus dem Gebot der Achtung fremder Souveränität, insbesondere fremder Gebietshoheit.25 Hieraus folgt zunächst, dass die im Folgenden dargestellten völkerrechtlichen Einschränkungen dann nicht gelten, wenn der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt (siehe auch § 7 Rdn. 3); in diesem Fall sind Souveränitätsrechte anderer Staaten nicht betroffen. Aber auch in dem (Regel-) Fall, in dem die Tat auf dem Hoheitsgebiet eines anderen Staates begangen wird, steht das Völkerrecht einer Strafverfolgung nicht prinzipiell entgegen. Es wäre verfehlt, dem Grundsatz souveräner Gleichheit aller Staaten die strikte Beschränkung staatlicher Strafgewalt auf Vorgänge, die sich im Inland ereignen, entnehmen zu wollen. Der Souveränitätskonflikt, der aus dem Anspruch resultiert, eigene Strafgewalt über Vorgänge auszuüben, die sich in einem fremden Staatsgebiet ereignen, wird nicht einseitig zu Gunsten des Tatortstaates gelöst. Einigkeit besteht vielmehr darüber, dass Staaten ihre Strafvorschriften grundsätzlich

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22 Eingehend zur strafrechtlichen Legitimation des Strafanwendungsrechts Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 140 sowie Pawlik FS F.-Chr. Schroeder (2006) 357 ff. 23 BGHSt 44 52, 57; Ambos MK Rdn. 9; Jescheck/Weigend § 18 I 2; Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 191 ff; Böse NK Rdn. 12; Oehler Rdn. 111; Satzger § 4 Rdn. 2; siehe auch Blakesley in Bassiouni S. 92. 24 Vgl. v. Beling ZStW 17 (1897) 303, 322; Binding S. 374; v. Rohland Das internationale Strafrecht (1877) S. 41 ff; näher Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 86 ff. 25 Vgl. nur Ambos MK Rdn. 11; Ipsen/Epping § 5 Rdn. 71. Siehe zur Ausübung von Strafgewalt in hoheitsfreiem Gebiet § 7 Rdn. 51 ff.

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auch auf Taten erstrecken dürfen, die außerhalb ihres Staatsgebietes begangen werden.26 Insoweit hat der Ständige Internationale Gerichtshof bereits im Jahre 1927 die bis heute gültige Feststellung getroffen, dass das Territorialitätsprinzip ungeachtet seiner Verbreitung in allen staatlichen Gesetzgebungen keine absolute Geltung beanspruchen könne.27 Dagegen ist es nach allgemeiner Ansicht völkerrechtlich grundsätzlich unzulässig, 22 dass ein Staat auf dem Territorium eines anderen Staates Hoheitsakte vornimmt, es sei denn, der betroffene Staat gestattet dies (Beispiel: Art. VII Abs. 1 Buchst. a NATO-TS, Rdn. 405).28 Mit Blick auf die staatliche Vollzugsgewalt (jurisdiction to enforce) gilt das Territorialitätsprinzip also absolut (siehe auch Rdn. 5). Aus Sicht des Völkerrechts ist strikt zu unterscheiden zwischen den Räumen, in denen ein Staat Hoheitsakte vornehmen darf, und jenen, auf die er seine Normen erstrecken und über die er judizieren darf.29 Wo die völkerrechtlichen Grenzen staatlicher Regelungsmacht im Einzelnen verlau23 fen, ist freilich nach wie vor nicht eindeutig geklärt (eingehend Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 220 ff; krit. zum gesetzgebungskritischen Potential dieser Grenzen daher BGHSt 27 30, 32). Die hierzu vertretenen Auffassungen unterscheiden sich vor allem durch ihren konstruktiven Zugang zur Problematik, weniger im Ergebnis. Es lassen sich zwei Hauptlinien unterscheiden.30 Nach traditioneller Auffassung31 sollen die Staaten von Völkerrechts wegen befugt 24 sein, ihre Strafgewalt auf alle, auch extraterritoriale oder sonstwie Auslandsberührung aufweisende Sachverhalte zu erstrecken, soweit dies nicht durch einen Völkerrechtssatz ausdrücklich verboten ist. Es gilt die Regel: Erlaubt ist, was nicht (ausdrücklich) verboten ist. Die Vertreter dieser Ansicht berufen sich vor allem auf das Urteil des Ständigen Internationalen Gerichtshofes im Lotus-Fall aus dem Jahre 1927.32 Die danach grundsätzlich bestehende weitreichende Regelungsmacht der Staaten wird jedoch von den meisten Vertretern dieser Auffassung in einem zweiten Schritt erheblich eingeschränkt. Das Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates soll nämlich eine umfassende Schranke für die Ausübung extraterritorialer Strafgewalt bilden, die dann durchbrochen sei, wenn kein sinnvoller Anknüpfungspunkt den Sachverhalt mit dem regelnden Staat verbinde.33 Umgekehrt formuliert: Dieser Ansicht zufolge ist die Erstreckung der Strafgewalt dann erlaubt, wenn und soweit ein sinnvoller Anknüpfungspunkt besteht. Dies soll dann der Fall sein, wenn die Ausübung der Strafgewalt durch eines der völkerrechtlich anerkannten Geltungsprinzipien (Rdn. 235 ff) gedeckt ist.34 Ganz in diesem Sinne hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt: Für

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26 Bantekas/Nash S. 75; Dahm/Delbrück/Wolfrum Bd. I/1 § 47 III. 3. b); Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 226; Zieher S. 64 ff. 27 PCIJ Series A Nr. 10 (The Case of the S. S. „Lotus“) S. 20; vgl. hierzu Clark Criminal Law Forum 2011 519, 528 ff; Kunig/Uerpmann Jura 1994 186; Roßwog S. 102 ff. 28 Vgl. Dahm/Delbrück/Wolfrum2 Bd. I/1 § 47 III.4. c); European Committee on Crime Problems S. 18; Ipsen/Epping § 5 Rdn. 69; Jescheck/Weigend § 18 I 4; Ziegenhain S. 2. 29 Vgl. auch Verdross/Simma § 1167. 30 Zusf. Van den Wyngaert Abweichende Auffassung zu IGH, EuGRZ 2003 563, 580, Nrn. 51 ff (Haftbefehlsfall). 31 Vgl. etwa Ipsen/Epping § 5 Rdn. 70; wohl auch Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 12 ff („am Einmischungsverbot ausgerichtetes Vereinbarkeitsprinzip“). 32 StIGH PCJI Ser. A Nr. 10. 33 Dahm/Delbrück/Wolfrum Bd. I/1 § 47 III. 3. a); Ipsen/Epping § 5 Rdn. 71; Mann S. 70; Oehler Rdn. 111; Satzger § 4 Rdn. 2; Verdross/Simma § 1183. 34 Akehurst British Yearbook of International Law 46 (1972/73) 145, 167; Bungenberg AVR 39 (2001) 170, 184; Dahm/Delbrück/Wolfrum Bd. I/1 § 47 III. 3. b); Hecker § 2 Rdn. 11; Jescheck FS Maurach, S. 380; Jescheck/Weigend § 18 II; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 2; Lagodny Gutachten, S. 22; Böse NK Rdn. 12

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das Strafrecht bilde „neben Territorialitäts-, Schutz-, aktivem und passivem Personalitäts- sowie dem Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege das Universalitäts- oder Weltrechtsprinzip einen solchen sinnvollen Anknüpfungspunkt“ (BVerfG NJW 2001 1848).35 Die Vertreter der im Vordringen begriffenen Gegenansicht36 gehen demgegenüber davon aus, dass die Erstreckung der Strafgewalt auf Sachverhalte, die einen Bezug zum Ausland aufweisen, von Völkerrechts wegen nur zulässig sei, wenn sich eine Erlaubnisnorm im Völkerrecht nachweisen lasse. Die Grundlage bildet auch insoweit das völkerrechtliche Einmischungsverbot. Solche Erlaubnisnormen sollen sich aus allen Völkerrechtsquellen ergeben können, insbesondere aus internationalen Abkommen und Völkergewohnheitsrecht. Danach gilt also die Regel: Verboten ist, was nicht (ausdrücklich) erlaubt ist. Erlaubt soll die Ausübung der Strafgewalt namentlich dann sein, wenn die Voraussetzungen eines völkerrechtlich anerkannten Geltungsprinzips (Rdn. 235 ff) gegeben sind.37 Die praktischen Auswirkungen des Streits sind gering.38 Erforderlich ist nach beiden Auffassungen, dass die Norm des staatlichen Strafanwendungsrechts durch ein völkerrechtlich anerkanntes Geltungsprinzip (hierzu im Einzelnen Rdn. 235 ff) gedeckt ist. Unterschiede ergeben sich aber hinsichtlich der Darlegungslast, die nach traditioneller Ansicht (Rdn. 24) den Staat trifft, der eine Verletzung seiner Souveränität behauptet, nach der neueren Auffassung (Rdn. 25) den Staat, der seine Strafgewalt auf Auslandssachverhalte ausdehnt. Die völkerrechtlichen Vorgaben für die Ausübung staatlicher Strafgewalt bilden einen Rahmen, den jeder Staat bei der Ausgestaltung seines Strafanwendungsrechts und bei dessen Anwendung zu beachten hat. Innerhalb dieses Rahmens trifft jeder Staat die Entscheidung über die Grenzen der eigenen Strafgewalt selbst. Ob er bei der Regelung des Geltungsbereichs das Territorialitäts- oder das Personalitätsprinzip in den Vordergrund rückt und in welchem Umfange er die übrigen Prinzipien wirken lässt, ist seine Angelegenheit.39 Mit Blick auf die Bestimmungen des deutschen Strafanwendungsrechts ergibt sich hieraus das Folgende: Jede Geltungsbereichsnorm muss durch ein völkerrechtlich anerkanntes Geltungsprinzip (Rdn. 235) gedeckt sein.40 Trifft dies nicht zu, verletzt die Norm das völkerrechtliche Einmischungsverbot. Das Einmischungsverbot ist eine allgemeine Regel des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 GG.41 Allgemeine Regeln des Völkerrechts sind Bestandteil des Bundesrechts

_____ („Anknüpfungsprinzipien“); O’Keefe Journal of International Criminal-Justice 2 (2004) 735, 738; Vogler FS Maurach, S. 595, 596; vgl. auch Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 16 („Anknüpfungspunkte“); A. Schmitz S. 130. 35 Vgl. auch BayObLG NJW 1998 392, 393. 36 Siehe die Voten der Richter Guillaume, Higgins/Kooijmans/Buergenthal und Ranjeva zu IGH EuGRZ 2003 563 (Haftbefehlsfall) sowie Bianchi in Meesen S. 74; Cameron S. 325 ff; Herdegen Völkerrecht, § 26 Rdn. 3 ff; Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 212; Kreß ZStW 114 (2002) 830 ff; Merkel in Lüderssen S. 237, 242; Orie/Van der Meijs/Smit Internationaal Strafrecht (1991) 27; Roggemann S. 13 f; Shaw International Law (2014) 477; Weiß JZ 2002 696, 700; wohl auch Keller GA 2006 25, 27. 37 Vgl. etwa Bianchi in Meesen S. 75 Fußn. 191; Cameron S. 325; Roggemann S. 14. 38 Kreß ZStW 114 (2002) 818, 830 ff; O’Keefe Journal of International Criminal Justice 2 (2004) 735, 738, Fußn. 12; vgl. auch Ambos MK Rdn. 10. 39 Jescheck/Weigend § 18 I 2. 40 Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 212; Weiter noch Gribbohm LK11 Rdn. 145 ff. 41 Ambos MK Rdn. 16; Kunig JuS 1978 594, 595.

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(Art. 25 Satz 1 GG); sie sind daher von deutschen Gerichten zu beachten und unmittelbar anzuwenden.42 Bei Zweifeln über Anwendbarkeit und Reichweite einer allgemeinen Regel des Völkerrechts ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen (Art. 100 Abs. 2 GG). Nach Art. 25 Satz 2 GG gehen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts den Gesetzen 30 und damit auch dem Strafanwendungsrecht der §§ 3 ff vor. Dieses Rangverhältnis gebietet insbesondere die völkerrechtskonforme Auslegung und Anwendung der Normen niedrigerer Rangstufe (BVerfGE 64 1, 20). Bei Widerspruch mit einem innerstaatlichen förmlichen Gesetz ist die allgemeine Regel des Völkerrechts maßgebend; sie verdrängt insoweit das innerdeutsche Recht (Maunz/Dürig Art. 25 Rdn. 25); dieses ist nicht anzuwenden (Art. 25 GG).43 31

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2. Strafgewalterstreckungs- und Strafverfolgungspflichten. Die Freiheit der Staaten, den Geltungsbereich ihres Strafrechts eigenständig zu bestimmen, wird nicht nur dadurch beschränkt, dass das Völkerrecht die Ausübung von Strafgewalt verbietet, wenn kein völkerrechtlich anerkanntes Geltungsprinzip eingreift (Rdn. 28). Eingeschränkt ist die staatliche Regelungshoheit vielmehr auch dort, wo das Völkerrecht die Erstreckung staatlicher Strafgewalt vorschreibt (eingehend Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 180 ff). Solche „positiven“ Bindungen staatlicher Strafgewalt finden sich vor allem in zwischenstaatlichen Abkommen und Rechtsakten der Europäischen Union (Rdn. 52 ff), aber auch im Völkergewohnheitsrecht. Dabei ist zu unterscheiden zwischen solchen Normen, die zur Begründung eigener Gerichtsbarkeit über bestimmte internationale Straftaten (Rdn. 52) verpflichten (Strafgewalterstreckungspflicht), und solchen, die darüber hinaus eine Pflicht zur Ausübung von Strafgewalt über bestimmte Taten (Verfolgungs- bzw. Strafpflicht) vorsehen. 44 Soweit Strafgewalterstreckungspflichten oder Strafverfolgungspflichten in zwischenstaatlichen Abkommen begründet werden, ist davon auszugehen, dass die Vertragsstaaten die jeweils korrespondierende Befugnis zur Ausübung von Strafgewalt voraussetzen. Von ganz unmittelbarer Bedeutung für das deutsche Strafanwendungsrecht können die vertraglichen Verfolgungspflichten über § 6 Nr. 9 sein (näher § 6 Rdn. 101 ff). In den meisten völkerrechtlichen Verträgen und in vielen Richtlinien und Rahmenbeschlüssen auf dem Gebiet des Strafrechts (vgl. im Einzelnen Rdn. 52 ff) ist vorgesehen, dass die Vertrags- bzw. Mitgliedstaaten unter bestimmten Voraussetzungen ihre Gerichtsbarkeit über einschlägige Straftaten begründen. Vorgesehen sind solche Strafgewalterstreckungspflichten stets für Inlandstaten (vgl. etwa Art. 3 Diplomatenschutzkonvention (Rdn. 130), Art. 5 Geiselnahmekonvention (Rdn. 156); sowie die unter Rdn. 52 ff dargestellten Abkommen). Regelmäßig sind die Vertragsstaaten darüber hinaus gehalten, ihre Strafgewalt in bestimmten Fällen auch auf Auslandstaten zu erstrecken. So findet sich die Verpflichtung, eigene Gerichtsbarkeit zu begründen: wenn die Tat an Bord eines im Inland registrierten Schiffes oder Luftfahrzeuges begangen wird, etwa in Art. 3 Zusatzübereinkommen über die Abschaffung der Sklaverei

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42 Steinberger HdbStR VII1 § 173 Rdn. 47. 43 Zu den Rechtsfolgen eines Verstoßes einer Norm des Bundesrechts gegen eine allgemeine Regel des Völkerrechts Jarass/Pieroth7 Art. 25 GG Rdn. 17; Cremer HdbStR XI § 235 Rdn. 29. 44 Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 183 ff.

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(Rdn. 61); Art. 4 SuchtstÜbk. 1988 (Rdn. 104); Art. 3 Tokioter Abk. (Rdn. 110); Art. 4 Haager Übereinkommen (Rdn. 112); Art. 5 Montrealer Übereinkommen (Rdn. 115); Art. 3 Diplomatenschutzkonvention (Rdn. 130); Art. 6 IntTerrBombÜbk. (Rdn. 141); Art. 7 IntFinTerrÜbk. (Rdn. 145); Art. 19 Richtlinie zur Terrorismusbekämpfung (Rdn. 151); Art. 5 Geiselnahmekonvention (Rdn. 156); Art. 5 Folterkonvention (Rdn. 164); Art. 6 SeeschiffahrtÜbk. (Rdn. 184); Art. 15 Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende Kriminalität (Rdn. 204); wenn die Tat von einem Inländer begangen wird, etwa in Art. 10 Richtlinie zur Bekämpfung des Menschenhandels (Rdn. 65); Art. 17 Richtlinie zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornografie (Rdn. 65); Art. 8 Falschmünzerei-Abkommen (Rdn. 73); Art. 3 Europäisches Sendestellen-Übereinkommen (Rdn. 122); Art. 3 Diplomatenschutzkonvention (Rdn. 130), Art. 6 IntTerrBombÜbk. (Rdn. 141); Art. 7 IntFinTerrÜbk. (Rdn. 145); Art. 19 Richtlinie zur Terrorismusbekämpfung (Rdn. 151); Art. 5 Geiselnahmekonvention (Rdn. 156), Art. 5 Folterkonvention (Rdn. 164); Art. 6 SeeschiffahrtÜbk. (Rdn. 184); Art. 3 Festlandsockel-Protokoll (Rdn. 190); wenn die Tat gegen eine Person begangen wird, die hoheitliche Aufgaben für den Vertragsstaat wahrnimmt, in Art. 3 Diplomatenschutzkonvention (Rdn. 130). wenn der Täter im Inland betroffen und nicht ausgeliefert wird, etwa in Art. 9 Falschmünzerei-Abk. (Rdn. 73); Art. 10 Rahmenbeschluss zur Bekämpfung von Betrug und Fälschung im Zusammenhang mit unbaren Zahlungsmitteln (Rdn. 74); Art. 36 EinhÜbk. 1961 (Rdn. 103), Art. 22 PsychStÜbk. 1971 (Rdn. 103), Art. 4 SuchtstÜbk. 1988 (Rdn. 104), Art. 4 und Art. 7 Haager Übereinkommen (Rdn. 112), Art. 5 und Art. 7 Montrealer Übereinkommen (Rdn. 115), Art. 3 Montrealer Prot. von 1988 (Rdn. 117), Art. 3 Europäisches Sendestellen-Übk. (Rdn. 122), Art. 6 und Art. 7 Diplomatenschutzkonvention (Rdn. 130), Art. 6 und Art. 7 EuTerrÜbk. (Rdn. 136); Art. 6 IntTerrBombÜbk. (Rdn. 141); Art. 7 IntFinTerrÜbk. (Rdn. 145); Art. 19 Richtlinie zur Terrorismusbekämpfung (Rdn. 151); Art. 5 und Art. 8 Geiselnahmekonvention (Rdn. 156), Art. 5 und Art. 8 Folterkonvention (Rdn. 164); Art. 6 SeeschiffahrtÜbk. (Rdn. 184); Art. 3 Festlandsockel-Protokoll (Rdn. 190); Art. 15 VNgrenzüOKÜbk. (Rdn. 204); Art. 5 Rahmenbeschluss betreffend die Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise (Rdn. 211); Art. 7 Rahmenbeschluss zur Bekämpfung der Bestechung (Rdn. 216). Vielfach findet sich über die Pflicht, die Gerichtsbarkeit zu begründen, hinaus die Verpflichtung, den Tatverdächtigen zu verfolgen. Solche Strafverfolgungspflichten ergeben sich u.a. aus Art. 1 Abs. 2 und 3 des Zusatzprotokolls zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende Kriminalität (Rdn. 62); Art. 9 Falschmünzerei-Abk. (Rdn. 73); Art. 10 Rahmenbeschluss zur Bekämpfung von Betrug und Fälschung im Zusammenhang mit unbaren Zahlungsmitteln (Rdn. 74); den Genfer Abkommen (Rdn. 86); Art. 36 EinhÜbk. 1961 (Rdn. 103); Art. 22 PsychStÜbk. 1971 (Rdn. 103); Art. 7 Haager Übereinkommen (Rdn. 112); Art. 7 Montrealer Übereinkommen (Rdn. 115); Art. 2 und 3 Europäisches Sendestellen-Übk. (Rdn. 122); Art. 7 Diplomatenschutzkonvention (Rdn. 130); Art. 7 EuTerrÜbk. (Rdn. 136); Art. 8 IntTerrBombÜbk. (Rdn. 143); Art. 10 IntFinTerrÜbk. (Rdn. 145); Art. 8 Geiselnahmekonvention (Rdn. 158); Art. 7 Folterkonvention (Rdn. 164); Art. 10 SeeschiffahrtÜbk. (Rdn. 186); Art. 16 VNgrenzüOKÜbk. (Rdn. 204); Art. 5 Rahmenbeschluss betreffend die Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise (Rdn. 211). In zahlreichen Abkommen und europäischen Rechtsakten findet sich die Pflicht zur Strafverfolgung ferner dann, wenn der Verdächtige im Hoheitsgebiet ergriffen wird oder sich dort aufhält, und eine Auslieferung an einen verfolgungswilligen Staat nicht erfolgt (aut dedere aut iudicare), siehe etwa Rdn. 156, 164. Aburteilung durch den Aufenthalts459

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staat und Auslieferung stehen dabei teilweise im Verhältnis der Alternativität, teilweise in einem Stufenverhältnis, wobei meist der Auslieferung, vereinzelt der Aburteilung durch den Aufenthaltsstaat der Vorrang eingeräumt wird. Siehe zur Bedeutung vertraglicher Verfolgungspflichten für die Geltung des deutschen Strafrechts auch § 6 Nr. 9 sowie dort Rdn. 101 ff. Soweit internationale Abkommen zur Begründung der Gerichtsbarkeit oder zur 42 Verfolgung verpflichten, ist das Folgende zu beachten (eingehend Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 186 ff): Die vertragliche Verpflichtung kann nicht weiter reichen als der Anwendungsbereich des Vertrages selbst. Grundsätzlich kommt Verträgen im Völkerrecht nur Wirkung inter partes zu. Dieser allgemeine Grundsatz des Völkerrechts ist in Art. 34 WVRK kodifiziert; ein Vertrag begründet grundsätzlich weder Rechte noch Pflichten für Nichtvertragsstaaten (pacta tertiis nec nocent nec prosunt).45 Entsprechendes gilt auch für die Rechtsakte der Europäischen Union, soweit sie Strafgewalterstreckungs- und Verfolgungspflichten vorsehen; auch sie vermögen Pflichten nur für die Mitgliedstaaten zu begründen. Eine Bindung auch von Nichtvertragsstaaten entsteht erst, wenn sich – möglicher43 weise unter Berücksichtigung eines multilateralen Vertrages – nachweisen lässt, dass eine vertragliche Norm Ausdruck von Völkergewohnheitsrecht ist.46 Insoweit können zwischenstaatliche Abkommen durchaus die Basis für eine allgemeinverbindliche Norm des Völkerrechts bilden, sie aber niemals selbst begründen.47 Verfolgungs- und Bestrafungspflichten können sich schließlich im Einzelfall auch 44 aus Völkergewohnheitsrecht ergeben. Dies ist etwa bei Völkerrechtsverbrechen der Fall.48 3. Konkurrierende Strafgewalten. Aufgrund des weiten völkerrechtlichen Rahmens (Rdn. 20 ff) ist es ohne weiteres möglich und praktisch keineswegs selten, dass mehrere Staaten die Strafgewalt über dieselbe Tat beanspruchen. In diesen Fällen gelten für ein und denselben Vorgang gleichzeitig die Strafgesetze verschiedener Rechtsordnungen. Dies ist nach den dargestellten völkerrechtlichen Grundsätzen (Rdn. 20 ff) nicht zu beanstanden, solange jeder der staatlichen Strafansprüche durch ein Geltungsprinzip gedeckt ist. Allerdings verbinden sich mit der Konkurrenz von Strafgewalten Risiken, etwa für eine auf ökonomische Verfahrensführung bedachte Strafjustiz, vor allem aber für das betroffene Individuum, das unter Umständen voneinander abweichenden Normbefehlen ausgesetzt wird und dem selbst bei vollständiger Deckungsgleichheit der Norminhalte die Gefahr mehrfacher Bestrafung droht. 46 Ein Mechanismus, der eine befriedigende Regulierung solcher Konkurrenzfälle gewährleistet, findet sich weder im geltenden Völkerrecht noch in den staatlichen Strafrechtsordnungen. Im europäischen Rechtsraum gilt derzeit faktisch das „Prioritätsprinzip“, das seinen Grund in der (regionalen) Geltung eines transnationalen ne bis in idem hat (näher Rdn. 362 f).49 Die Frage, wie die Konkurrenz verschiedener Strafgewalten 45

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45 Ipsen/Heintschel von Heinegg § 13 Rdn. 23. 46 Ipsen/Heintschel von Heinegg § 17 Rdn. 37. 47 Siehe Art. 38 WVRK; vgl. auch IGH, North Sea Continental Shelf (Dänemark/Niederlande gegen Deutschland), ICJ Rep. 1969 41 f. 48 Näher Ambos AVR 1999 318; Werle/Jeßberger Rdn. 179, Rdn. 252 ff. 49 Näher zu Jurisdiktionskonflikten auf EU-Ebene Thorhauer New Journal of European Criminal Law 2015 78; umfassend Zimmermann 36 ff.

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aufgelöst werden soll, war in jüngerer Zeit Gegenstand einer Reihe von Forschungsvorhaben.50 Die Diskussion steht freilich noch am Anfang.51 Im Schrifttum werden unterschiedliche Vorschläge diskutiert, welche das gemein- 47 same Anliegen verbindet, in Konkurrenzfällen jeweils diejenige Strafgewalt zu bestimmen, die „am besten“ zur Durchsetzung des Strafanspruchs in der Lage ist. Dabei lassen sich zwei Grundmodelle unterscheiden: Aus neuerer Zeit stammen mehrere Vorschläge, die eine flexible und einzelfallorientierte Zuteilung der Strafgewalt favorisieren.52 Das Gegenmodell hierarchisiert die Geltungsprinzipien und will anhand der in ihnen jeweils vertypten Anknüpfungspunkte darüber entscheiden, welcher von mehreren in Betracht kommenden Staaten zur Ausübung von Strafgewalt befugt ist.53 Ob sich dem Völkerrecht eine solche Rangfolge der Geltungsprinzipien entnehmen lässt,54 ist allerdings zweifelhaft. Immerhin wird man davon ausgehen können, dass sich grundsätzlich die Strafgewalt des Tatortstaates durchsetzt;55 es spricht ferner de lege ferenda einiges dafür, dass der Durchsetzung eigener staatlicher Interessen Vorrang gegenüber der Durchsetzung fremder Interessen zukommt.56 Sedes materiae einer Lösung kann nur das Völker- bzw. Europarecht sein. Einige 48 neuere Abkommen (vgl. Rdn. 142, 206) sehen Regelungen vor, wie zu verfahren ist, wenn mehr als ein Staat die Gerichtsbarkeit über dieselbe Tat beansprucht. Überwiegend werden Verfahren der Konsultation und Mediation festgelegt, um die „geeignetste“ Gerichtsbarkeit zu bestimmen (näher Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 185 f). Hinzuweisen ist ferner auf den Rahmenbeschluss vom 12.7.2005 zur Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens zur Bekämpfung der Verschmutzung durch Schiffe (AblEU 2005 L 255, S. 164 ff), den Rahmenbeschluss vom 24.10.2008 zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität (AblEU 2008 L 300, S. 42 ff) sowie die Richtlinie vom 15.3.2017 zur Terrorismusbekämpfung (AblEU 2017 L 88, S. 6 ff), die differenzierte Regelungen enthalten, die sich durchaus als Modell für eine umfassende Lösung eignen. Die noch im Rahmenbeschluss vom 13.6.2002 zur Terrorismusbekämpfung (AblEU 2002 L 164, S. 3 ff) enthaltene abgestufte Zuständigkeitsregelung findet sich in der Richtlinie vom 15.3.2017 zur Terrorismusbekämpfung, die diesen ersetzt, nicht mehr (Rdn. 152).

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50 Siehe u.a. Böse/Meyer/Schneider GA 2014 572; Böse/Meyer/Schneider (Hrsg.) Conflicts of Jurisdictions, Vols. I und II; Sinn (Hrsg.), Jurisdiktionskonflikte bei grenzüberschreitender Kriminalität; zu Jurisdiktionskonflikten bei der Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen Weißer GA 2012 416, 429 ff. 51 Siehe aus dem neueren Schrifttum aber die in Fn. 50 genannten Beiträge sowie Bochmann Strafgewaltkonflikte und ihre Lösung; Eisele ZStW 125 (2013) 1. 52 Siehe etwa Eicker StV 2005 631; Hein S. 211 ff; Lagodny Gutachten; Vander Beken/Vermeulen/Steverlynck/Thomaes S. 48 ff; Vander Beken/Vermeulen/Lagodny NStZ 2002 624 sowie Biehler u.a. S. 12 ff und die Resolution der Vierten Sektion des XVII. Internationalen Strafrechtskongresses der AiDP, abgedruckt in Revue Internationale de Droit Pénal 75 (2004) 801 ff (hierzu auch Biehler ZStW 116 (2004) 50). 53 Die Bedenken gegen eine Rangordnung der Anknüpfungspunkte relativierend sowie allgemein zu Jurisdiktionskonflikten Bochmann S. 151 ff. 54 So Ambos MK Rdn. 63 ff; dagegen etwa Vander Beken/Vermeulen/Lagodny NStZ 2002 624, 625; siehe auch Eisele ZStW 125 (2013) 1, 30 ff, der sich für eine bereichsspezifische Hierarchisierung von Anknüpfungspunkten ausspricht; auch Hecker favorisiert eine generelle Rangfolge der Geltungsprinzipien, allerdings kombiniert mit qualitativen Kriterien, um den Besondernheiten des jeweiligen Einzelfalles gerecht zu werden, siehe ZIS 2011 60, 62. 55 Für eine grundsätzliche Begrenzung extraterrotorialer Strafgewalt auf der Ebene des materiellen Rechts innerhalb der Europäischen Union und eine Stärkung des Territorialitätsprinzips Böse FS Wolter, 1311; ders. ZIS 2011 336; siehe für einen entsprechenden Regelungsentwurf, der auf einer Trennung von materiellem Recht und Strafverfahrensrecht beruht, ders./Meyer/Schneider GA 2014 573. 56 Insoweit überzeugend Ambos MK Rdn. 72.

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Mit dem Rahmenbeschluss des Rates vom 30.11.2009 zur Vermeidung und Beilegung von Kompetenzkonflikten im Strafverfahren (AblEU 2009 L 328 S. 42 ff) wurde erstmals eine umfassende Regelung von Strafgewaltkonflikten innerhalb der Europäischen Union beschlossen,. Durch den Rahmenbeschluss soll die Zusammenarbeit zwischen mehreren Mitgliedstaaten beim Führen von Strafverfahren gefördert und so insbesondere verhindert werden, dass gegen dieselbe Person wegen derselben Tat parallele Strafverfahren in verschiedenen Mitgliedstaaten geführt werden (Art. 1). Vorgesehen ist eine Pflicht zur Kontaktaufnahme, sobald ein Mitgliedstaat Grund zu der Annahme hat, dass in einem anderen Mitgliedstaat wegen derselben Tat ebenfalls ein Verfahren geführt wird (Art. 5). Wird festgestellt, dass parallele Verfahren anhängig sind, sollen die Mitgliedstaaten „zu einem Einvernehmen über eine effiziente Lösung […] gelangen, bei der die nachteiligen Folgen parallel geführter Verfahren vermieden werden“ (Art. 10 Abs. 1). Vorgaben, unter Berücksichtigung welcher Kriterien diese Lösung zu finden ist, enthält der Rahmenbeschluss in seinem Erwägungsgrund 9: Danach können die zuständigen Behörden bei der Herbeiführung des Einvernehmens „beispielsweise den Ort, an dem die Tatbegehung hauptsächlich erfolgt ist, den Ort, an dem der größte Schaden eingetreten ist, den Aufenthaltsort der verdächtigten oder beschuldigten Person und Möglichkeiten für ihre Überstellung oder Auslieferung an andere zuständige Staaten, die Staatsangehörigkeit oder den Wohnsitz der verdächtigten oder beschuldigten Person, maßgebliche Interessen der verdächtigten oder beschuldigten Person, maßgebliche Interessen der Opfer und der Zeugen [sowie] die Zulässigkeit von Beweismitteln oder Verzögerungen, die eintreten können“, berücksichtigen. Daneben gibt es eine Reihe von internationalen Abkommen, die speziell die Frage 50 konkurrierender Strafgewalten betreffen, denen die Bundesrepublik freilich nicht beigetreten ist. Zu nennen ist etwa die European Convention on the Transfer of Proceedings in Criminal Matters des Europarates v. 15.5.1972 (ETS Nr. 73). Siehe ferner den Model Treaty on Transfer of Proceedings in Criminal Matters, den die VN-Generalversammlung am 14.12.1990 angenommen hat (UN-Doc. A/RES/45/118 v. 3.4.1991; ILM 30 [1991] 1435), den Entwurf einer European Convention on Conflicts of Jurisdiction in Criminal Matters v. 29.1.1965 (Empfehlung 420 der Parlamentarischen Versammlung des Europarates) sowie das Grünbuch der Kommission der Europäischen Gemeinschaften über Kompetenzkonflikte und den Grundsatz ne bis in idem in Strafverfahren, v. 23.12.2005 (KOM (2005) 696). 51 In diesem Zusammenhang verdienen auch die vom BVerfG im Zusammenhang mit dem Europäischen Haftbefehl entwickelten Grundsätze Beachtung (BVerfG NJW 2005 2289).57 Danach ist zwischen Straftaten Deutscher mit „maßgeblichem Inlandsbezug“ und solchen mit „maßgeblichem Auslandsbezug“ zu unterscheiden. Bei Ersteren sei das Vertrauen des Verfolgten in die eigene Rechtsordnung besonders geschützt. Dies soll insbesondere dann der Fall sein, wenn die Tat im Inland begangen ist; wie Inlandstaten von Ausländern insoweit zu behandeln sind, bleibt offen (vgl. auch Ranft wistra 2005 361, 364). Ein Strafverfahren sei in erster Linie dort zu führen, wo die Tat begangen worden sei. Jeder Staatsangehörige solle – soweit er sich im Staatsgebiet aufhält – vor den „Unsicherheiten einer Aburteilung unter einem ihm fremden Rechtssystem und in für ihn schwer durchschaubaren fremden Verhältnissen bewahrt werden“ (BVerfG NJW 2005 2289, 2290). Mit Blick auf eine Regelung des Verhältnisses konkurrierender nationaler Strafgewalten zueinander ergibt sich daraus, dass etwa die Übertragung der Straf-

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57 Siehe hierzu Jekewitz GA 2005 625; Lagodny StV 2005 515; Ranft wistra 2005 361; Schünemann StV 2005 681; Vogel JZ 2005 807.

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verfolgung von Inlandstaten eines Inländers an einen anderen verfolgungsbereiten Staat nicht in Betracht kommt. 4. Regelungen in zwischenstaatlichen Abkommen und europäischen Rechtsakten. Regeln über den Geltungsbereich des staatlichen Strafrechts finden sich in zahlreichen zwischenstaatlichen, meist multilateralen Abkommen (eingehend hierzu Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 180 ff) 58 Der Zweck dieser Abkommen besteht in erster Linie darin, eine Grundlage für die internationale Zusammenarbeit bei der Bekämpfung bestimmter Straftaten zu schaffen. Dazu geben die Abkommen den Vertragsstaaten auf, diese internationalen Straftaten59 in ihrem staatlichen Recht mit Strafe zu bedrohen. Sie begründen zudem die Befugnis und vielfach sogar die Verpflichtung (näher Rdn. 31 ff), die staatliche Strafgewalt unter bestimmten Voraussetzungen auf diese Taten zu erstrecken. Im Zuge der fortschreitenden politischen und gesellschaftlichen Integration finden sich auch auf europäischer Ebene neben den geltungsbereichsrelevanten Konventionen des Europarates und den Übereinkommen im Rahmen des Art. 216 AEUV weitere Rechtsakte im Gemeinschafts- und Unionsrecht, insbesondere Richtlinien und nach wie vor Rahmenbeschlüsse, die für die Auslegung oder Anwendung der Geltungsbereichsnormen des deutschen Rechts bedeutsam sind.60 Von Bedeutung sind die völkerrechtlichen Abkommen und die europarechtlichen Rechtsakte aber nicht nur deshalb, weil sie konkrete Umsetzungspflichten begründen. Vielmehr sind sie auch bei der Auslegung des deutschen Strafanwendungsrechts zu beachten. Dies ergibt sich daraus, dass deutsches Recht völkerrechtskonform61 und unionsrechtskonform auszulegen (EuGH NJW 2005 2839)62 ist. Von den einschlägigen völkerrechtlichen Vereinbarungen, Richtlinien und Rahmenbeschlüssen seien im Folgenden die wichtigsten aufgeführt, welche für die Bundesrepublik verbindlich sind. Dabei wird ihr wesentlicher Inhalt wiedergegeben, soweit er für das Verständnis, die Auslegung und die Anwendung einzelner Bestimmungen des Strafanwendungsrechts von Bedeutung sein kann. Nicht aufgeführt sind im Folgenden solche Abkommen, die für die Bundesrepublik mangels Ratifikation (noch) nicht wirksam sind. Zu nennen sind hier die Council of Europe Convention on the counterfeiting of medical products and similar crimes involving threats to public health (ETS Nr. 211) sowie die Council of Europe Convention on the Manipulation of Sports Competitions (ETS Nr. 215). Soweit der Gesetzgeber den völkervertraglichen Verpflichtungen durch Schaffung neuer Tatbestände im Ordnungswidrigkeitenrecht Rechnung getragen hat, wurde ebenfalls auf eine Darstellung verzichtet. Vgl. insoweit aber Gribbohm LK11 Rdn. 10 und 14 zum Internationalen Vertrag zur Unterdrückung des Branntweinhandels unter den Nordseefischern auf hoher See vom 16.11.1887 i.d.F. der Zusatzprotokolle vom 14.2.1893 und vom 11.4.1894 (RGBl. S. 427, 435, 436) sowie zum Internationalen Abkommen zur Bekämpfung des Alkoholschmuggels vom 19.8.1925 (G vom 14.4.1926, RGBl. II S. 220; Bek. vom 23.8.1927, RGBl. II S. 878).

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58 Vgl. auch Boister European Journal of International Law 14 (2003) 953; Wilkitzki ZStW 99 (1987) 455; umfassend zu Legitimation und Grenzen einer internationalen Strafgesetzgebung auf der Ebene der Vereinten Nationen Macke. 59 Zum Begriff Werle/Jeßberger Rdn. 145 ff und Wilkitzki ZStW 99 (1987) 455, 472. 60 Näher dazu Dannecker ZStW 117 (2005) 697, 723 ff; zur Wirkung von Richtlinien und Rahmenbeschlüssen Hecker § 4 Rdn. 52, § 5 Rdn. 68. 61 Hierzu Steinberger HdbStR VII § 173 Rdn. 50. 62 Hierzu Wehnert NJW 2005 3760. Näher und zusf. zur Rechtsprechung Hecker § 10.

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Die in den angeführten Abkommen, Richtlinien und Rahmenbeschlüssen geregelten internationalen Straftaten lassen sich acht Deliktsgruppen zuordnen: Es handelt sich erstens um Angriffe gegen den Weltfrieden und die internationale Sicherheit (Rdn. 77 ff, 81 ff, vgl. auch Rdn. 94 ff), zweitens um schwere Verletzungen grundlegender Menschenrechte (Rdn. 59 ff, 160 ff, 220 f, 229 f), drittens um (internationalen) Terrorismus (Rdn. 107 ff, 127 ff, 133 ff, 153 ff, 180 ff), viertens um organisierte Kriminalität, insbesondere Menschen- und Betäubungsmittelhandel sowie Korruption (Rdn. 59 ff, 72 ff, 99 ff, 201 ff, 209 ff, 213 ff), fünftens um Umweltstraftaten (Rdn. 167 ff), sechstens um Taten gegen die finanziellen Interessen der EU (Rdn. 192, 233 f), siebtens um Computerkriminalität (Rdn. 222 ff) sowie achtens um (sexualisierte) Gewalttaten gegen Kinder und Frauen (Rdn. 226 ff, 231). Auf die Angabe zusätzlicher Fundstellen wird verzichtet, soweit die im Folgenden 58 angeführten Abkommen und Rechtsakte im Bundesgesetzblatt, im Reichsgesetzblatt oder im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht sind. Hingewiesen sei jedoch auf die folgenden Textsammlungen, in denen ein Teil der im Folgenden angesprochenen Abkommen abgedruckt ist: Sartorius II, Internationale Verträge und Europarecht, Textsammlung, Loseblattausgabe (64. Auflage, 2019); Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas (Hrsg.) Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, Loseblattwerk (47. Aktualisierung 2019); Dörr (Hrsg.) Völkerrechtliche Verträge, 15. Aufl. (2019); Tomuschat/Walter (Hrsg.) Völkerrecht, 8. Aufl. (2018); sowie – in englischer Sprache – Van den Wyngaert/Dewulf (Hrsg.) International Criminal Law, 4. Aufl. (2011). 59

a) Sklaverei und Menschenhandel. Einschlägig sind: Internationales Übereinkommen zur Gewährung wirksamen Schutzes gegen den Mädchenhandel vom 18.5.1904 (RGBl. 1905 S. 695) i.d.F. des Änderungsprotokolls vom 4.5.1949 (Bek. vom 19.10.1972, BGBl. II S. 1478); Internationales Übereinkommen zur Bekämpfung des Mädchenhandels vom 4.5.1910 (RGBl. 1913 S. 31) i.d.F. des Änderungsprotokolls vom 4.5.1949 (Bek. vom 19.10.1972, BGBl. II S. 1482); Internationale Übereinkunft zur Unterdrückung des Frauenund Kinderhandels vom 30.9.1921 (RGBl. 1924 II S. 181) i.d.F. des Änderungsprotokolls vom 12.11.1947 (Bek. vom 19.10.1972, BGBl. II S. 1489); Übereinkommen betreffend die Sklaverei vom 25.9.1926 (RGBl. 1929 II S. 63) i.d.F. des Änderungsprotokolls vom 7.12.1953 (Bek. vom 19.10.1972, BGBl. II S. 1473); Zusatzübereinkommen über die Abschaffung der Sklaverei, des Sklavenhandels und sklavereiähnlicher Einrichtungen und Praktiken vom 7.9.1956 (G vom 4.7.1958, BGBl. II S. 203; Bek. vom 14.3.1959, BGBl. II S. 407); 63 Gemeinsame Maßnahme vom 24.2.1997 betreffend (die Bekämpfung des Menschenhandels und) die sexuelle Ausbeutung von Kindern (ABl. 1997 L 63, S. 2 ff); Zusatzprotokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels, zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität (VNgrenzüOKÜbk.) vom 15.11.2000 (BGBl. 2005 II S. 954); Übereinkommen des Europarates zur Bekämpfung des Menschenhandels vom 16.5.2005 (BGBl. 2012 II S. 1108); G zu dem Übereinkommen des Europarates, vom 12.10.2012 (BGBl. II S. 1107); Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Übereinkommens, vom 21.2.2013 (BGBl. II S. 391); Richtlinie vom 5.4.2011 zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2002/629/JI des Rates (AblEU 2011 L 101, S. 1 ff). – Vergleiche auch die Konvention zur Unterdrückung des Menschenhandels und der Aus-

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Vgl. Oehler Rdn. 440, 448.

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Vorbemerkungen | Vor §§ 3 ff

beutung von Prostituierten vom 21.3.1950 (GBl.-DDR 1975 II S. 2),64 nicht in Kraft für die Bundesrepublik. Während das Übereinkommen von 1904 die beteiligten Staaten in einschlägigen Fällen nur zu Ermittlungen und Verwaltungsmaßnahmen verpflichtet, haben sie nach dem Übereinkommen von 1910 bestimmte Formen der Anwerbung, Verschleppung und Entführung von Frauen und Mädchen zur Unzucht innerstaatlich mit Strafe zu bedrohen, auch wenn die einzelnen tatbestandsmäßigen Handlungen in verschiedenen Staaten begangen werden (Art. 1 bis 3). Die Übereinkunft von 1921 erstreckt die Verpflichtung auf den Kinderhandel (Art. 2), auf den Versuch des Frauen- und Mädchenhandels sowie – „innerhalb der gesetzlichen Grenzen“ – auf Vorbereitungshandlungen hierzu (Art. 3). Nach dem Übereinkommen von 1926 ist Sklaverei die Rechtsstellung oder Lage einer Person, an der einzelne oder alle mit dem Eigentumsrecht verbundene Befugnisse ausgeübt werden (Art. 1 Nr. 1). Sklavenhandel ist jeder Akt der Festnahme, des Erwerbs und der Abtretung einer Person in der Absicht, sie in den Zustand der Sklaverei zu versetzen, sowie jeder Handel mit und die Beförderung von Sklaven (Art. 1 Nr. 2). Die Vertragsstaaten verpflichten sich, jeder für seine Gebiete, den Sklavenhandel zu verhindern und zu unterdrücken und auf die vollständige Abschaffung der Sklaverei hinzuarbeiten (Art. 2); ferner, die Ein- und Ausschiffung und die Beförderung von Sklaven in ihren Hoheitsgewässern und auf allen Schiffen zu verhindern, die ihre Flagge führen (Art. 3 Abs. 1). In Art. 6 verpflichten sich die Vertragsstaaten, Verstöße gegen Gesetze oder sonstige Vorschriften zur Verwirklichung der Ziele des Übereinkommens mit schweren Strafen zu belegen. Das Zusatzübereinkommen von 1956 passt die Vorschriften über den Sklaventransport den Verhältnissen des modernen internationalen Verkehrs an (Art. 3) und sieht überdies das Kennzeichnen von Sklaven z.B. durch Verstümmeln oder Brandmarken (Art. 5) sowie die Beteiligung an der Versklavung einer Person (Art. 6) als strafwürdig an. Das Zusatzabkommen richtet sich auch gegen die Leibeigenschaft, die definiert (Art. 1 Buchst. b) und als sklavenähnliche Rechtsstellung bezeichnet wird (Art. 6 Abs. 2). Das Zusatzprotokoll zum VNgrenzüOKÜbk. von 2000 (Rdn. 201), das für Deutschland am 9.9.2005 in Kraft getreten ist, zielt auf die Bekämpfung des Menschenhandels, insbesondere des Handels mit Frauen und Kindern; dieses Ziel soll u.a. durch die Förderung der Zusammenarbeit der Vertragsstaaten verwirklicht werden (Art. 2). Die Vertragsstaaten sind verpflichtet, die in Art. 3 näher beschriebenen Formen des Menschenhandels, einschließlich des Versuchs und der Organisation solcher Handlungen sowie der Beteiligung an solchen Handlungen (Art. 5 Abs. 2), als Straftaten zu umschreiben (Art. 5 Abs. 1). Menschenhandel wird definiert als Anwerbung, Beförderung oder Aufnahme von Personen durch Nötigung, Entführung, Betrug, Täuschung, Missbrauch von Macht oder Ausnutzung besonderer Hilflosigkeit oder durch Gewährung oder Entgegennahme von Vorteilen zur Erlangung des Einverständnisses einer Person, die Gewalt über eine andere Person hat, zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung oder der Ausbeutung der Arbeitskraft oder des Körpers (Organentnahme). Voraussetzung ist – entsprechend Art. 3 des Übereinkommens (Rdn. 203) –, dass die Straftaten grenzüberschreitender Natur sind (Art. 3 Abs. 2) und eine organisierte kriminelle Gruppe (Art. 2 Buchst. a) daran mitwirkt. Mit Blick auf die Begründung der Gerichtsbarkeit und die Verpflichtung zur Strafverfolgung finden die Bestimmungen des Übereinkommens (hierzu näher Rdn. 204 ff) entsprechende Anwendung (Art. 1 Abs. 2 und 3).

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Abdruck bei Simma/Fastenrath Menschenrechte, 3. Aufl. (1992) S. 136.

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Vor §§ 3 ff | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

Auf europäischer Ebene wurden erste Schritte zur Bekämpfung des Menschenhandels im Zusammenhang mit der Gemeinsamen Maßnahme von 1997 unternommen. Diese wurde, soweit sie den Menschenhandel betraf, im Jahre 2002 durch den Rahmenbeschluss des Rates zur Bekämpfung des Menschenhandels ersetzt (vgl. Art. 9 des Rahmenbeschlusses), blieb im Übrigen – das heißt vor allem mit Blick auf die Definition des Straftatbestandes der sexuellen Ausbeutung von Kindern (Titel I) und die Verpflichtung zur Begründung von Gerichtsbarkeit über einschlägige Inlandstaten und Auslandstaten von Inländern (Titel II Abschn. A Buchst. f) – aber anwendbar. Durch den Rahmenbeschluss des Rates der Europäischen Union zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornografie von 2003 wurde die Gemeinsame Maßnahme schließlich vollständig aufgehoben. In der Folgezeit wurden der Rahmenbeschluss von 2002 durch die Richtlinie von 2011 (Rdn. 67 ), der Rahmenbeschluss von 2003 durch die Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie (AblEU 2011 L 335, S. 1 ff, Rdn. 226, 228) jeweils in Bezug auf die Mitgliedstaaten, die sich an der Annahme der Richtlinien beteiligten, ersetzt. Nach dem Übereinkommen des Europarates verpflichten sich die Vertragsstaaten, 66 den in Art. 4 definierten, vorsätzlich begangenen Menschenhandel (Art. 18) sowie bestimmte Handlungen im Zusammenhang mit Reise- oder Identitätsdokumenten (Art. 20) als Straftat zu umschreiben und mit wirksamen, verhältnismäßigen und abschreckenden Sanktionen zu bedrohen (Art. 23 Abs. 1). Auch Versuch und Beteiligung fallen unter das Übereinkommen (Art. 21). Art. 31 Abs. 1 sieht vor, dass die Vertragsstaaten ihre Gerichtsbarkeit begründen, wenn die in dem Übereinkommen genannten Straftaten in ihrem Hoheitsgebiet (Buchst. a), an Bord eines Schiffes, das ihre Flagge führt (Buchst. b) oder an Bord eines Luftfahrzeuges, das nach dem Recht des jeweiligen Vertragsstaates eingetragen ist (Buchst. c), begangen werden. Wie sich aus einer Zusammenschau mit Art. 31 Abs. 2 ergibt, ist eine fakultative Begründung der Zuständigkeit möglich, wenn die Straftat von einem Staatsangehörigen oder von einer staatenlosen Person, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Vertragsstaaten hat, begangen wird, wenn die Straftat nach dem am Tatort geltenden Recht strafbar ist oder die Straftat außerhalb des Hoheitsgebietes irgendeines Staates begangen wird (Buchst. d); auch kann die Zuständigkeit begründet werden, wenn die Straftat zulasten eines Staatsangehörigen des Vertragsstaates begangen wird (Buchst. e). Befindet sich eine Person, die einer im Übereinkommen bezeichneten Straftat verdächtig ist, im Hoheitsgebiet eines Vertragsstaates und liefert er diese Person trotz vorangegangenem Auslieferungsersuchen nur deshalb nicht an einen anderen Vertragsstaat aus, weil sie seine Staatsangehörige ist, so hat er seine Gerichtsbarkeit über die Straftat zu begründen (Art. 31 Abs. 3). Wird die Gerichtsbarkeit für eine mutmaßliche Straftat von mehreren Vertragsstaaten geltend gemacht, sieht Art. 31 Abs. 4 eine gegenseitige Konsultationspflicht vor, um die „geeignetste Gerichtsbarkeit“ zu begründen (siehe hierzu auch Rdn. 48 ff). Art. 2 der Richtlinie von 2011 verpflichtet die Mitgliedstaaten, die Anwerbung, Be67 förderung, Verbringung, Beherbergung oder Aufnahme von Personen zum Zwecke der Ausbeutung unter Strafe zu stellen und mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens fünf Jahren zu bedrohen (Art. 4), wenn diese Handlungen unter bestimmten qualifizierten Voraussetzungen, darunter die Androhung oder Anwendung von Gewalt, erfolgen. Auch Versuch und Beteiligung an den in Art. 2 genannten Straftaten sind nach Art. 3 unter Strafe zu stellen. Die Mitgliedsstaaten haben ihre Gerichtsbarkeit über diese Taten in den Fällen zu begründen, in denen die Straftat ganz oder teilweise in ihrem Hoheitsgebiet begangen wird (Art. 10 Abs. 1 Buchst. a) oder es sich bei dem Straftäter um einen ihrer Staatsangehörigen handelt (Art. 10 Abs. 1 Buchst. b). Gemäß Art. 10 Abs. 2 65

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Vorbemerkungen | Vor §§ 3 ff

können die Mitgliedstaaten darüber hinaus ihre gerichtliche Zuständigkeit begründen, wenn es sich bei dem Opfer der Straftat um einen ihrer Staatsangehörigen handelt oder der gewöhnliche Aufenthalt des Opfers (Art. 10 Abs. 2 Buchst. a), die Niederlassung der juristischen Person, zugunsten derer die Straftat begangen wird (Art. 10 Abs. 2 Buchst. b) oder der gewöhnliche Aufenthalt des Straftäters in ihrem Hoheitsgebiet liegt (Art. 10 Abs. 2 Buchst. c). Werden die Straftaten von einem Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten außerhalb ihres Hoheitsgebietes begangen, haben diese gem. Art. 10 Abs. 3 sicherzustellen, dass ihre gerichtliche Zuständigkeit nicht von einem Bericht des Opfers bzw. einer Anzeige durch den Staat, in dem die Tat begangen wurde, oder von der Strafbarkeit der Tat an dem Ort, an dem sie begangen wurde, abhängig ist. Aus der Kolonialzeit gibt es in Deutschland das G betreffend die Bestrafung des Sklavenraubs und des Sklavenhandels vom 28.7.1895 (RGBl. S. 425) mit letzten Änderungen durch Art. 54 Bundesrecht-BereinigungsG vom 8.12.2010 (BGBl. I S. 1864). Das Gesetz bedroht den Sklavenhandel (einschließlich des Sklaventransports) als Verbrechen mit Strafe. Der Weltrechtspflegegrundsatz, der durch § 5 des Gesetzes vom 28.7.1895 (i.V.m. § 4 Abs. 2 Nr. 1 RStGB) für die Verfolgung von Sklavenraub und Sklavenhandel eingeführt worden war, wurde insoweit (spätestens) durch Art. 148 Nr. 2 EGStGB aufgehoben. Sklaventransporte auf deutschen Schiffen und Flugzeugen sind nach § 4 auch im Ausland strafbar, womit den Artikeln 3 der Übereinkommen von 1926 und 1956 genügt ist. § 6 Nr. 9 greift nicht ein, weil die beiden Übereinkommen die Vertragsstaaten (über § 4 hinaus) nicht verpflichten, Sklaverei im Ausland zu verfolgen. Die völkervertragsrechtliche Gesamtregelung lässt vielmehr erkennen, dass grundsätzlich jeder Staat strafrechtlich nur die Taten ahnden soll, die innerhalb des eigenen Hoheitsbereiches (dem Hoheitsgebiet mit Häfen, Flughäfen und Küsten) begangen werden. Seit Inkrafttreten des Völkerstrafgesetzbuches zum 30.6.2002 ist die Versklavung eines Menschen unter Anmaßung eines Eigentumsrechtes an ihm gem. § 7 Abs. 1 Nr. 3 VStGB als Verbrechen gegen die Menschlichkeit strafbar, wenn die Versklavung im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung erfolgt. Insoweit gilt gem. § 1 VStGB der Weltrechtspflegegrundsatz (Rdn. 476). Mit dem G zur Verbesserung der Bekämpfung des Menschenhandels v. 11.10.2016 (BGBl. I S. 2226), mit welchem die Richtlinie von 2011 (Rdn. 67) umgesetzt wurde,65 hat der Gesetzgeber §§ 232 ff umfassend überarbeitet. Die zunächst mit dem 37. StÄndG v. 11.2.2005 (BGBl. I S. 239) eingefügten Straftatbestände §§ 232, 233 und 233a wurden geändert und haben nunmehr den Menschenhandel (§ 232), die Ausbeutung der Arbeitskraft (§ 233) und die Ausbeutung unter Ausnutzung einer Freiheitsberaubung (§ 233a) zum Gegenstand. Ergänzt wurden die Regelungen um § 232a (Zwangsprostitution) und § 232b (Zwangsarbeit).

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b) Fälschung und Betrug im Zusammenhang mit Zahlungsmitteln. Einschlägig 72 sind: Internationales Abkommen zur Bekämpfung der Falschmünzerei vom 20.4.1929 (Bek. vom 10.11.1933, RGBl. II S. 913); Rahmenbeschluss des Rates vom 28.5.2001 zur Bekämpfung von Betrug und Fälschung im Zusammenhang mit unbaren Zahlungsmitteln (ABl. 2001 L 149, S. 1 ff); Richtlinie vom 15.5.2014 zum strafrechtlichen Schutz des Euro und anderer Währungen gegen Geldfälschung und zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2000/383/JI des Rates (AblEU 2014 L 151, S. 1 ff).

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BTDrucks. 54/15 S. 1.

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Vor §§ 3 ff | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

Das Abkommen von 1929 legt die Tatbestände fest, die „nach den Vorschriften des allgemeinen Strafrechts“ als Falschmünzerei bestraft werden sollen (Art. 3). Die Strafbestimmungen sollen keinen Unterschied zwischen inländischem und ausländischem Geld machen. Vertragsstaaten, die die Auslieferung eigener Staatsangehöriger nicht zulassen, sollen Auslandstaten von Inländern so bestrafen, wie wenn die Tat im Inland begangen worden wäre (Art. 8 Abs. 1); dies soll auch für Personen gelten, die erst nach der Tat die Staatsangehörigkeit erworben haben. Auch einschlägige Auslandstaten von Ausländern sollen wie Inlandstaten behandelt werden (Art. 9 Abs. 1), dies jedoch nur unter bestimmten Voraussetzungen: Ein Verfolgungszwang trifft die Vertragsstaaten nur, wenn der Ausländer im Inland betroffen und seine Auslieferung beantragt wird, aber wegen eines Umstandes, der mit der Tat selbst nicht zusammenhängt, nicht durchgeführt werden kann (Art. 9 Abs. 2). Art. 17 stellt klar, dass der Beitritt zum Abkommen den „grundsätzlichen Standpunkt, den die vertragschließenden Teile in der allgemeinen Frage des Geltungsbereichs der Strafgerichtsbarkeit als einer Frage des internationalen Rechts einnehmen“, unberührt lässt. Der Rahmenbeschluss von 2001 baut auf dem Abkommen von 1929 auf und erwei74 tert den Strafrechtsschutz mit Blick auf die Einführung des Euro und die Verbreitung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs. Er zielt darauf, sicher zu stellen, dass auch Betrug und Fälschung im Zusammenhang mit allen Formen des bargeldlosen Zahlungsverkehrs (Kreditkarten, Euroscheckkarten, Reiseschecks) als strafbare Handlungen gelten (Art. 2 bis 5) und in allen Mitgliedstaaten mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Strafen geahndet werden (Art. 6). Art. 9 verpflichtet jeden Mitgliedstaat, seine Gerichtsbarkeit für einschlägige Taten zu begründen, die ganz oder teilweise in seinem Hoheitsgebiet oder – fakultativ – von einem seiner Staatsangehörigen oder zu Gunsten einer juristischen Person mit Sitz in diesem Mitgliedstaat begangen werden. Liefert ein Mitgliedstaat eigene Staatsangehörige nicht aus, muss er seine Gerichtsbarkeit auch für Auslandstaten von Inländern begründen und seine Behörden mit den Fällen befassen, in denen seine Staatsangehörigen beschuldigt werden, in einem anderen Mitgliedstaat eine einschlägige Straftat begangen zu haben, damit gegebenenfalls eine Verfolgung durchgeführt werden kann (Art. 10 Abs. 1). Nach der Richtlinie von 2014 sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die in Art. 3 ge75 nannten vorsätzlichen Handlungen im Zusammenhang mit Geldfälschung (nach Maßgabe von Art. 4 einschließlich Versuch und Beteiligung) unter Strafe zu stellen und mit strafrechtlichen Sanktionen zu bedrohen (Art. 5, 7). Sie haben ihre gerichtliche Zuständigkeit zu begründen, wenn die Taten ganz oder teilweise in ihrem Hoheitsgebiet begangen werden (Art. 8 Abs. 1 Buchst. a) oder es sich bei dem Täter um einen ihrer Staatsangehörigen handelt (Art. 8 Abs. 1 Buchst. b). Werden die Straftaten außerhalb des Hoheitsgebietes eines Mitgliedstaates begangen, hat dieser gem. Art. 8 Abs. 2 auch dann seine gerichtliche Zuständigkeit zu begründen, wenn die Währung dieses Mitgliedstaates der Euro ist, sich die Straftat auf den Euro bezieht und entweder sich der Täter in dem Hoheitsgebiet des Mitgliedsstaates aufhält und nicht ausgeliefert wird oder im Zusammenhang mit der Straftat stehende gefälschte Euro-Banknoten oder -Münzen im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates gefunden wurden. Für die strafrechtliche Verfolgung von Straftaten, die im Zusammenhang mit der betrügerischen Fälschung oder Verfälschung von Geld stehen (Art. 3 Abs. 1 Buchst. a), hat gem. Art. 8 Abs. 2 Satz 2 jeder Mitgliedstaat sicherzustellen, dass seine gerichtliche Zuständigkeit nicht von der Bedingung abhängt, dass die Straftat an dem Ort, an dem sie begangen wurde, eine strafbare Handlung darstellt. Deutschland trägt dem Abkommen von 1929 und dem Rahmenbeschluss mit den 76 Strafvorschriften über Geld- und Wertpapierfälschung und deren Vorbereitung (§§ 146, 149, 151 und 152) sowie über die Fälschung von Zahlungskarten, Schecks, Wechseln und 73

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Vorbemerkungen | Vor §§ 3 ff

Vordrucken für Euroschecks (§ 152a und b) Rechnung. Mit Blick auf die Verfolgung von Auslandstaten geht das deutsche Recht mit § 6 Nr. 7 über das völker- und europarechtlich gebotene Minimum hinaus (näher § 6 Rdn. 89 ff). c) Völkermord. Einschlägig ist die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords vom 9.12.1948 (G vom 9.8.1954, BGBl. II S. 729; Bek. vom 14.3.1955, BGBl. II S. 210). In der Völkermordkonvention bestätigen die Vertragsstaaten, „dass Völkermord, ob im Frieden oder im Krieg begangen, ein Verbrechen gemäß internationalem Recht ist“. Sie verpflichten sich zu dessen Verhütung und Bestrafung (Art. I). Sie definieren den Begriff des Völkermordes (Art. II) und legen den Umfang der Strafbarkeit (für Verschwörung, Versuch, Vollendung und Teilnahme) fest (Art. III), und zwar auch für Regierungsmitglieder und „öffentliche Beamte“ (Art. IV). Die Vertragsstaaten verpflichten sich insbesondere, zur Durchsetzung der Konvention „wirksame Strafen“ für Schuldige vorzusehen (Art. V). Die Konvention ist für die Bundesrepublik Deutschland am 22.2.1955 (Bek. vom 14.3.1955, BGBl. II S. 210) in Kraft getreten. Das Zustimmungsgesetz vom 9.8.1954 (BGBl. II S. 729) ist wiederholt geändert worden (vgl. EGStGB vom 2.3.1974, BGBl. I S. 469, 564). § 220a a.F. wurde durch G vom 9.8.1954 (BGBl. II S. 729) eingefügt und stellte den Völkermord unter Strafe; § 6 Nr. 1 i.d.F. des 2. StrRG vom 4.7.1969 (BGBl. I S. 717) verfügte die Geltung des Weltrechtsprinzips für Völkermordtaten. Beide Vorschriften sind durch Art. 2 des Gesetzes zur Einführung des Völkerstrafgesetzbuches vom 26.6.2002 (BGBl. I S. 2254) aufgehoben worden. Seit dem 30.6.2002 ist Völkermord in § 6 VStGB mit Strafe bedroht. Gem. § 1 Satz 1 VStGB gilt deutsches Strafrecht für das Verbrechen des Völkermordes auch, wenn die Tat im Ausland begangen wurde und keinen Bezug zum Inland aufweist (vgl. auch Rdn. 477 f; § 6 Rdn. 34).

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d) Kriegsverbrechen. Einschlägig sind: 1. Genfer Abkommen vom 12.8.1949 (Feld- 81 abkommen, BGBl. 1954 II S. 783); 2. Genfer Abkommen vom 12.8.1949 (Seeabkommen, BGBl. 1954 II S. 813); 3. Genfer Abkommen vom 12.8.1949 (Kriegsgefangenenabkommen, BGBl. 1954 II S. 838); 4. Genfer Abkommen vom 12.8.1949 (Zivilpersonenabkommen, BGBl. 1954 II S. 917); G über den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu den vier Genfer Rotkreuz-Abkommen vom 12.8.1949, vom 21.8.1954 (BGBl. II S. 781); Bekanntmachung über das Inkrafttreten der vier Genfer Rotkreuz-Abkommen vom 12.8.1949, vom 4.11.1954 (BGBl. II S. 1133); Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12.8.1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll I) vom 8.6.1977 (BGBl. 1990 II S. 1551); Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12.8.1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll II) vom 8.6.1977 (BGBl. 1990 II S. 1637); G zu den Zusatzprotokollen I und II zu den Genfer Rotkreuz-Abkommen von 1949, vom 11.12.1990 (BGBl. II S. 1550, 1637); Bekanntmachung über das Inkrafttreten der Zusatzprotokolle I und II zu den Genfer Rotkreuz-Abkommen von 1949, vom 30.7.1991 (BGBl. II S. 968); Zweites Protokoll vom 26.3.1999 zur Haager Konvention vom 14.5.1954 zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten (BGBl. 2009 II S. 717); G zu dem Zweiten Protokoll vom 26.3.1999, vom 7.7.2009 (BGBl. II S. 716); Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Zweiten Protokolls vom 26.3.1999, vom 14.1.2011 (BGBl. II S. 486). Die vier Genfer Abkommen66 dienen dem Schutz von Personen in bewaffneten Kon- 82 flikten, die entweder nicht oder nicht mehr an den Kampfhandlungen teilnehmen. Die

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Hierzu Ipsen/Heintschel von Heinegg §§ 56 ff; Werle/Jeßberger Rdn. 1092 ff.

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Vertragsparteien verpflichten sich, „alle notwendigen gesetzgeberischen Maßnahmen zur Festsetzung von angemessenen Strafbestimmungen für solche Personen zu treffen, die irgendeine der im folgenden Artikel umschriebenen schweren Verletzungen des vorliegenden Abkommens begehen oder zu einer solchen Verletzung den Befehl erteilen“ (Art. 49 Abs. 1 1. Genfer Abk., Art. 50 Abs. 1 2. Genfer Abk., Art. 129 Abs. 1 3. Genfer Abk., Art. 146 Abs. 1 4. Genfer Abk.). Zu den schweren Verletzungen in diesem Sinne gehören, sofern sie gegen geschützte Personen oder Güter begangen werden (Art. 50 1. Genfer Abk., Art. 51 2. Genfer Abk., Art. 130 3. Genfer Abk., Art. 147 4. Genfer Abk.), nach allen Abkommen: vorsätzliche Tötung, Folterung oder unmenschliche Behandlung, einschließlich biologischer Versuche; vorsätzliche Verursachung großer Leiden oder schwere Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der Gesundheit. Dieser Katalog erweitert sich in dem 1. dem 2. und dem 4. Genfer Abkommen um Zerstörung und Aneignung von Eigentum, die durch militärische Erfordernisse nicht gerechtfertigt sind und in großem Ausmaß rechtswidrig und willkürlich vorgenommen werden. Im 3. Genfer Abkommen treten hinzu: Nötigung eines Kriegsgefangenen zur Dienstleistung in den Streitkräften der feindlichen Macht und Entzug seines Anrechts auf ein den Vorschriften entsprechendes Gerichtsverfahren; vom 4. Genfer Abkommen werden ferner erfasst: rechtswidrige Verschleppung oder rechtswidrige Verschickung, rechtswidrige Gefangenhaltung, Nötigung einer geschützten Person zur Dienstleistung in den Streitkräften der feindlichen Macht, Entzug ihres Anrechts auf ein den Vorschriften entsprechendes Gerichtsverfahren und das Festnehmen von Geiseln. Das Protokoll I dehnt den Katalog der schweren Verletzungen durch Art. 85 für alle Abkommen im Einzelnen weiter aus. Die Bundesrepublik Deutschland ist den Abkommen durch G vom 21.8.1954 (BGBl. II S. 781) beigetreten. Die Abkommen sind für sie am 3.3.1955 in Kraft getreten (Bek. vom 4.11.1954, BGBl. II S. 1133),67 die Zusatzprotokolle (Protokolle I und II) am 14.8.1991 (Bek. vom 30.7.1991, BGBl. II S. 968). Die Vertragsstaaten trifft die Verpflichtung, Personen, die mutmaßlich schwere Verletzungen begangen haben, zu ermitteln und sie – ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit – vor die eigenen Gerichte zu stellen oder an einen anderen Vertragsstaat, der an der gerichtlichen Verfolgung interessiert ist, auszuliefern (Art. 49 Abs. 2 Genfer Abkommen I, Art. 50 Abs. 2 Genfer Abkommen II, Art. 129 Abs. 2 Genfer Abkommen III, Art. 146 Abs. 2 Genfer Abkommen IV). Diese Bestimmung wird überwiegend so aufgefasst, dass sie die Befugnis der Staaten, auch schwere Verletzungen zu verfolgen, die im Ausland von Ausländern begangen werden, voraussetzt.68 Die Vereinbarungen sagen nicht ausdrücklich, ob der einzelne Staat auch wegen Auslandstaten von Ausländern ermitteln und eventuell Anklage erheben muss. Die Frage ist jedoch zu bejahen (Gasser FS Haug (1986) 69, 75 f; Werle/Jeßberger Rdn. 258). Das ergibt sich aus der im Vertragswerk vorgesehenen Auslieferungsmöglichkeit. Denn an der Aburteilung von Kriegsverbrechen sind in der Regel gerade die Staaten interessiert, auf deren Gebiet sich solche Taten ereignet haben, wie auch aus Art. 88 Abs. 2 Satz 2 Prot. I hervorgeht; und der Beschuldigte, der im Inland ergriffen worden ist, kann nach dem für die Auslieferung maßgebenden Recht des Aufenthaltsstaats nicht selten selbst dann nicht ausgeliefert werden, wenn er Ausländer ist. Siehe auch § 6 Nr. 9 und § 7 Abs. 2 Nr. 2.

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67 Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas III C 7.1 Rdn. 1. 68 Ipsen/Heintze § 31 Rdn. 11; Randall Texas Law Review 66 (1988) 785, 818; vgl. auch Pictet Commentary Geneva Convention I (1952) S. 358.

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Vorbemerkungen | Vor §§ 3 ff

Zu beachten ist, dass die genannten Bestimmungen über die schweren Verletzungen (Rdn. 82 bis 87) nach dem gemeinsamen Art. 2 der vier Genfer Abkommen nur in internationalen bewaffneten Konflikten (zum Begriff Werle/Jeßberger Rdn. 1135 ff) anwendbar sind. Für den nichtinternationalen bewaffneten Konflikt sieht der gemeinsame Art. 3 der Genfer Abkommen Mindeststandards vor. Ob die nur unter dem Vorbehalt der Auslieferung stehende Ermittlungs- und Aburteilungspflicht (Rdn. 87) auch für Verstöße gegen die Genfer Abkommen in nichtinternationalen bewaffneten Konflikten gilt, ist nicht abschließend geklärt (offen gelassen in BGHSt 46 292, 302). Die weitgehende Assimilierung der in internationalen und nichtinternationalen bewaffneten Konflikten geltenden Regeln (vgl. BTDrucks. 14/8524 S. 25) spricht jedoch dafür, eine entsprechende Verpflichtung auch für nichtinternationale Konflikte anzunehmen.69 Die Regelungen des deutschen Rechts genügen den völkerrechtlichen Anforderungen. Bis zum Inkrafttreten des Völkerstrafgesetzbuches hatte sich der deutsche Gesetzgeber mit der Möglichkeit begnügt, Kriegsverbrechen nach den Strafvorschriften des allgemeinen Strafrechts zu ahnden, etwa als Mord, Totschlag, Körperverletzung oder Nötigung. Obwohl man in der Masse der Fälle auf diese Weise tatsächlich zur Strafbarkeit gelangte, waren die Kriegsverbrechen damit vor Inkrafttreten des Völkerstrafgesetzbuches nur unzureichend erfasst. Zum einen kam der völkerrechtliche Unrechtsgehalt der Verbrechen nicht angemessen zur Geltung; zum anderen ergaben sich teilweise Deckungslücken, so dass einzelne Verhaltensweisen zwar nach Völkerrecht, nicht aber nach deutschem Recht strafbar waren.70 Eine Anpassung der deutschen Gesetzgebung an die strafrechtlichen Bestimmungen der Genfer Abkommen, die von Deutschland im Jahre 1954 ratifiziert wurden (BGBl. II S. 781), erfolgte nicht, obwohl die Bundesregierung selbst die Notwendigkeit einer Anpassung in der Begründung zum Beitrittsgesetz festgestellt hatte (BTDrucks. II/152, VII). Ein im Jahre 1980 durch das Bundesministerium der Justiz vorgelegter Referentenentwurf eines Gesetzes zur Bestrafung von Verletzungen des Kriegsvölkerrechts („Völkerrechtsstrafgesetz“)71 blieb folgenlos. Seit Beginn der neunziger Jahre wurde diese alte Gesetzeslage zunehmend zu einem Anachronismus. In Politik und Rechtsprechung wurde die Ablehnung des Völkerstrafrechts durch neue Positionen überholt, die sich unter dem Stichwort der Völkerstrafrechtsfreundlichkeit zusammenfassen lassen.72 Im Zuge dieser Entwicklung war es folgerichtig, dass die Bundesrepublik die Umsetzung des IStGH-Statuts zum Anlass nahm, um das materielle Völkerstrafrecht in einem Völkerstrafgesetzbuch (siehe auch Rdn. 477) zu kodifizieren. Gerade mit Blick auf die Regelung der Kriegsverbrechen hat die deutsche Gesetzgebung hierbei ein eigenständiges Profil entwickelt. Zu nennen sind vor allem die Systematisierung und Neuordnung des Rechtsstoffes und die weitgehende Assimilierung von Kriegsvölkerstrafrecht und Bürgerkriegsvölkerstrafrecht.73 Mit den §§ 8 bis 12 VStGB hat der Gesetzgeber Kriegsverbrechen mit Wirkung zum 30.6.2002 umfassend unter Strafe gestellt. Dabei sind auch die Regelungen der Genfer Abkommen berücksichtigt, namentlich in § 8 VStGB (BTDrucks. 14/8524 S. 23 ff). Auslandstaten von Ausländern können nach § 1 Satz 1 VStGB sowie – je nach Lage des Falles – nach § 7 Abs. 2 Nr. 2 oder nach § 6 Nr. 9 (hierzu § 6 Rdn. 133) verfolgt werden. Ver-

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69 Ambos NStZ 1999 226, 228; Werle/Jeßberger Rdn. 426 ff; Werle ZStW 109 (1997) 808, 818 f. 70 Näher Kreß Vom Nutzen eines deutschen Völkerstrafgesetzbuches (2000) S. 9 ff; Werle JZ 2000 755, 756 ff. 71 Dazu Wilkitzki ZStW 99 (1987) 455, 467. 72 Näher Werle/Jeßberger JZ 2002 725, 729 ff. 73 Im Einzelnen Werle/Jeßberger JZ 2002 725, 731 f.

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gleiche auch § 1a Abs. 1 und 2 WStG für Taten, die nach diesem Gesetz mit Strafe bedroht sind. Das Zweite Protokoll zur Haager Konvention bezweckt den Schutz von Kulturgut 93 und definiert daher in Art. 15 bestimmte gegen Kulturgut gerichtete Handlungen als Straftaten, die die Vertragsstaaten als solche zu umschreiben und mit angemessenen Strafen zu bedrohen haben. Gem. Art. 16 Abs. 1 hat jeder Vertragsstaat die notwendigen gesetzgeberischen Maßnahmen zu treffen, um seine Gerichtsbarkeit zu begründen, wenn die Straftat im eigenen Hoheitsgebiet begangen wird, wenn die verdächtige Person eine Angehörige des jeweiligen Vertragsstaates ist oder sich diese in bestimmte Fällen des Art. 15 Abs. 1 in seinem Hoheitsgebiet befindet. Art. 16 Abs. 2 Buchst. a stellt klar, dass das Protokoll weder ausschließt, dass nach anwendbarem innerstaatlichen Recht oder Völkerrecht individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit begründet oder Gerichtsbarkeit ausgeübt, noch die Ausübung der Gerichtsbarkeit nach dem Völkergewohnheitsrecht berührt wird. Nach Art. 16 Abs. 2 Buchst. b entsteht für die Mitglieder der Streitkräfte und die Angehörigen eines Nichtvertragsstaates, mit Ausnahme derjenigen seiner Staatsangehörigen, die in den Streitkräften eines Vertragsstaates Dienst tun, nach dem Protokoll grundsätzlich keine individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit; das Protokoll schafft auch keine Verpflichtung, die Gerichtsbarkeit über solche Personen zu begründen oder diese auszuliefern. e) Seeräuberei. Einschlägig sind: Genfer Übereinkommen über die Hohe See vom 29.4.1958 (BGBl. 1972 II S. 1091); G zu dem Übereinkommen vom 29.4.1958 über die Hohe See, vom 21.9.1972 (BGBl. II S. 1089); Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Übereinkommens über die Hohe See, vom 15.5.1975 (BGBl. II S. 843); Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vom 10.12.1982 (BGBl. 1994 II S. 1799);74 G zu dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vom 10.12.1982 (Vertragsgesetz Seerechtsübereinkommen), vom 2.9.1994 (BGBl. II S. 1798); Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen vom 10.12.1982, vom 15.5.1995 (BGBl. II S. 602); Übereinkommen vom 28.7.1994 zur Durchführung des Teiles XI des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen vom 10.12.1982 (BGBl. 1994 II S. 2566); Verordnung zu diesem Übereinkommen, vom 4.10.1994 (BGBl. II S. 2565); G zur Ausführung des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen vom 10.12.1982 sowie des Übereinkommens vom 28.7.1994 zur Durchführung des Teils XI des Seerechtsübereinkommens (Ausführungsgesetz Seerechtsübereinkommen 1982/1994), vom 6.6.1995 (BGBl. I S. 777). Das Genfer Übereinkommen über die Hohe See (HoSeeÜbk.) von 1958 ist – neben 95 den Übereinkommen über das Küstenmeer und die Anschlusszone (KüMÜbk.),75 über die Fischerei und die Erhaltung der lebenden Schätze der Hohen See (FiÜbk.)76 sowie über den Festlandsockel (FestlSÜbk.)77 – eines der vier Genfer Seerechtsübereinkommen vom 29.4.1958, mit denen versucht wurde, die Rechtsverhältnisse in den bezeichneten Seegebieten völkerrechtlich zu regeln. Das Übereinkommen über die Hohe See wird nach seiner Präambel von den Vertragsstaaten im Wesentlichen als Feststellung geltender Grundsätze des Völkerrechts verstanden. Das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (SeeRÜbk.) von 1982 enthält, soweit es um die Unterdrückung und Verfol-

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74 Zu dem Übereinkommen Borchmann NJW 1995 2956, 2957; speziell zu den Bestimmungen über Seeräuberei Oehler Rdn. 431 ff. 75 UNTS Bd. 516, S. 205. 76 UNTS Bd. 559, S. 289. 77 UNTS Bd. 499, S. 311.

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Vorbemerkungen | Vor §§ 3 ff

gung der Seeräuberei geht, im Wesentlichen gleichlautende Vorschriften. Es hat zwischen den Vertragsparteien Vorrang vor den vier Genfer Seerechtsübereinkommen von 1958 (Art. 311 Abs. 1 SeeRÜbk.). Für die strafrechtliche Verfolgung der Seeräuberei kommt es hierauf wegen der Übereinstimmung der einschlägigen Vorschriften allerdings nicht an. Aus den Übereinkommen ergibt sich, dass alle Vertragsstaaten zusammenarbeiten, 96 um die Seeräuberei zu unterdrücken (Art. 14 HoSeeÜbk., Art. 100 SeeRÜbk.). Art. 101 SeeRÜbk. definiert Seeräuberei als Gewalttat, Freiheitsberaubung oder Plünderung, die auf hoher See (vgl. § 5 Rdn. 47 ff) oder an einem anderen Ort, der keiner staatlichen Hoheitsgewalt untersteht, gegen ein Schiff, gegen ein Luftfahrzeug, gegen Personen oder gegen Vermögenswerte begangen werden; Täter der Seeräuberei sind die Besatzung oder die Fahrgäste eines privaten Schiffes oder Luftfahrzeuges, die zu privaten Zwecken handeln. Erfasst sind auch die Beteiligung am Einsatz eines Seeräuberschiffes oder eines entsprechenden Luftfahrzeuges (Art. 103 SeeRÜbk.), die Anstiftung zu einer der genannten Handlungen sowie deren Erleichterung (Art. 101 Buchst. a und b SeeRÜbk.). Jeder Staat hat das Recht, auf hoher See oder an anderen Orten, die keiner staatlichen Hoheitsgewalt unterworfen sind, Seeräuberschiffe aufzubringen und die an Bord befindlichen Personen festzunehmen, über deren Bestrafung seine Gerichte entscheiden können (Art. 19 HoSeeÜbk., Art. 105 SeeRÜbk.). Eine Verpflichtung, dies zu tun, wird nicht ausgesprochen (BGH NStZ 2019 460 auch zu den Konsequenzen für § 6 Nr. 9). Das HoSeeÜbk. ist für die Bundesrepublik Deutschland am 25.8.1973 in Kraft getre- 97 ten (Bek. vom 15.5.1975, BGBl. II S. 843), das SeeRÜbk. am 16.11.1994 (Bek. vom 15.5.1995, BGBl. II S. 602), nachdem der Bundestag dem Beitritt durch G vom 2.9.1994 (BGBl. II S. 1798) zugestimmt hatte. Seeräuberei fällt unter den Tatbestand des § 316c, der nach § 6 Nr. 3 auch für Aus- 98 landstaten von Ausländern unabhängig vom Recht des Tatortes gilt.78 f) Betäubungsmittelkriminalität. Einschlägig sind: Einheits-Übereinkommen über 99 Suchtstoffe vom 30.3.1961 i.d.F. des Änderungsprotokolls vom 25.3.1972 (EinhÜbk., BGBl. 1973 II S. 1354);79 G zu dem Einheits-Übereinkommen vom 30.3.1961 über Suchtstoffe, vom 4.9.1973 (BGBl. II S. 1353); Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Einheits-Übereinkommens über Suchtstoffe, vom 15.8.1974 (BGBl. II S. 1211); G zu dem Protokoll vom 25.3.1972 zur Änderung des Einheits-Übereinkommens von 1961 über Suchtstoffe, vom 18.12.1974 (BGBl. 1975 II S. 2); Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Protokolls zur Änderung des Einheits-Übereinkommens von 1961 über Suchtstoffe, vom 22.10.1975 (BGBl. II S. 2158); Bekanntmachung des Einheits-Übereinkommens von 1961 über Suchtstoffe in der durch das Protokoll zur Änderung des EinheitsÜbereinkommens von 1961 geänderten Fassung, vom 4.2.1977 (BGBl. II S. 111); Übereinkommen von 1971 über psychotrope Stoffe vom 21.2.1971 (BGBl. 1976 II S. 1478); G zu dem Übereinkommen vom 21.2.1971 über psychotrope Stoffe, vom 30.8.1976 (BGBl. II S. 1477); Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Übereinkommens vom 21.2.1971 über psychotrope Stoffe, vom 31.8.1978 (BGBl. II S. 1239); Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen vom 20.12.1988 (BGBl. 1993 II S. 1137); G zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20.12.1988 gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen (Vertragsgesetz Suchtstoffübereinkommen 1988), vom 22.7.1993 (BGBl. II S. 1136);

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Eingehend Bohle Piraterie und Strafrecht. Zur Entstehungsgeschichte siehe Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas III C 1 Rdn. 1 ff.

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Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen, vom 28.2.1994 (BGBl. II S. 496). Die Übereinkommen dienen der Bekämpfung des unerlaubten Umgangs mit Betäubungsmitteln, das von 1988 insbesondere der Bekämpfung der internationalen Rauschgiftkriminalität. Sie enthalten zum Teil eingehende Bestimmungen darüber, wie einschlägige Taten zu bestrafen und zu verfolgen sind, wozu sich die Vertragsstaaten verpflichten (Art. 36 EinhÜbk. 1961, Art. 22 Übk. 1971, Art. 3 Übk. 1988). Doch richtet sich die Bestrafung stets nach innerstaatlichem Recht (Art. 36 Abs. 4 EinhÜbk. 1961, Art. 22 Abs. 5 Übk. 1971, Art. 3 Abs. 11 Übk. 1988). Es sind für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft: das EinhÜbk. 1961 seit dem 2.1.1974 (Bek. vom 15.8.1974, BGBl. II S. 1211), das Übereinkommen von 1971 seit dem 2.3.1978 (Bek. vom 31.8.1978, BGBl. II S. 1239) und das Übereinkommen von 1988 seit dem 28.2.1994 (Bek. vom 28.2.1994, BGBl. II S. 496). Sachlichrechtlich tragen die Straftatbestände des BtMG i.d.F. der Bek. vom 1.3.1994 (BGBl. I S. 358) den Übereinkommen Rechnung, die – wie namentlich das Übereinkommen von 1988 – umfassende Kataloge von Handlungen vorsehen, die die Vertragsstaaten unter Strafe stellen und mit angemessenen Sanktionen bedrohen müssen (vgl. Art. 3 Übk. 1988). Nach den Übereinkommen von 1961 und 1971 ist die Bundesrepublik ferner in bestimmten Fällen zur Strafverfolgung verpflichtet; bei Inlandstaten gilt dies unabhängig von der Staatsangehörigkeit des Täters, bei Auslandstaten dann, wenn der noch nicht verfolgte und verurteilte Beschuldigte im Inland betroffen und nicht ausgeliefert wird (Art. 36 Abs. 2 Buchst. a Ziff. iv EinhÜbk. 1961, Art. 22 Abs. 2 Buchst. a Ziff. iv Übk. 1971). Das Übereinkommen von 1988 differenziert weiter: Es schreibt den Vertragsstaaten die Begründung eigener Gerichtsbarkeit zwingend vor über Inlandstaten und über Taten an Bord eines inländischen Schiffs oder Luftfahrzeugs (Art. 4 Abs. 1 Buchst. a); ferner, wenn sich der Beschuldigte im Inland befindet und nicht ausgeliefert wird, weil er die Tat im Inland oder an Bord eines inländischen Schiffs oder Luftfahrzeugs begangen hat (Art. 4 Abs. 2 Buchst. a Ziff. i) oder weil er Inländer ist (Art. 4 Abs. 2 Buchst. a Ziff. ii). Die Ausübung eigener Gerichtsbarkeit wird, soweit sie nicht vorgeschrieben ist, nach Ermessen zugelassen: bei Taten von Inländern und bei Ausländern, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben (Art. 4 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i); unter bestimmten einschränkenden Voraussetzungen, wenn die Tat an Bord eines fremden Schiffes begangen wird (Art. 4 Abs. 1 Buchst. b Ziff. ii); bei Teilnahme an einer Inlandstat vom Ausland her (Art. 4 Abs. 1 Buchst. b Ziff. iii) sowie für den Fall, dass der im Inland befindliche Beschuldigte nicht an eine andere Vertragspartei ausgeliefert wird (Art. 4 Abs. 2 Buchst. b). Der Sinn der Unterscheidungen kann an dieser Stelle nicht im Einzelnen erläutert werden. Sie verlieren einen Teil ihrer möglichen Bedeutung dadurch, dass alle Abkommen als Grundsatz hervorheben: Auch für die Gerichtsbarkeit sei das innerstaatliche Recht maßgebend (Art. 36 Abs. 4 EinhÜbk. 1961); das Übereinkommen schließe die Ausübung einer Strafgerichtsbarkeit nicht aus, die von einer Vertragspartei (nur) nach innerstaatlichem Recht begründet ist (Art. 36 Abs. 3 EinhÜbk. 1961, Art. 22 Abs. 3 Übk. 1971, Art. 4 Abs. 3 Übk. 1988). Das deutsche Strafanwendungsrecht genügt den völkerrechtlichen Anforderungen auf dem Betäubungsmittelsektor mit den §§ 3, 4, 6 Nr. 5 und § 7. Dem BGH (BGHSt 34 334, 336; 27 30, 32) ist darin zu folgen, dass das Völkerrecht die Anwendung des Universalitätsprinzips (Rdn. 256 ff) auf den unbefugten Vertrieb von Betäubungsmitteln nicht verlangt (hierzu § 6 Rdn. 79 f). Nach Inkrafttreten des Übereinkommens von 1988 gilt Werle/Jeßberger

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aber mehr denn je, dass die Völkergemeinschaft an einer wirksamen Bekämpfung der Betäubungsmittelkriminalität ein erhebliches Interesse hat (vgl. Art. 2 Abs. 1 Übk. 1988) und Bemühungen auf diesem Gebiet grundsätzlich nicht deshalb beanstandet, weil ein Vertragsstaat mehr als das ihm vorgeschriebene Minimum tut. Doch haben die Vertragsparteien ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen in einer Weise zu erfüllen, die mit den Grundsätzen der souveränen Gleichheit und territorialen Unversehrtheit der Staaten sowie der Nichteinmischung in fremde innere Angelegenheiten vereinbar ist (vgl. Art. 2 Abs. 2 und 3 Übk. 1988; BGHSt 34 334, 336, 338 ff; 27 30, 32). g) Straftaten gegen die Sicherheit der zivilen Luftfahrt.80 Einschlägig sind: Abkommen über strafbare und bestimmte andere an Bord von Luftfahrzeugen begangene Handlungen vom 14.9.1963 – Tokioter Abkommen (BGBl. 1969 II S. 123);81 G zu dem Abkommen vom 14.9.1963 über strafbare und bestimmte andere an Bord von Luftfahrzeugen begangene Handlungen, vom 4.2.1969 (BGBl. II S. 121); Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Abkommens, vom 4.5.1970 (BGBl. II S. 276); Übereinkommen zur Bekämpfung widerrechtlicher Inbesitznahme von Luftfahrzeugen vom 16.12.1970 – Haager Übereinkommen (BGBl. 1972 II S. 1506); G zu dem Übereinkommen vom 16.12.1970 zur Bekämpfung der widerrechtlichen Inbesitznahme von Luftfahrzeugen, vom 6.11.1972 (BGBl. II S. 1505); Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Übereinkommens, vom 8.5.1975 (BGBl. II S. 1204); Übereinkommen zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Zivilluftfahrt vom 23.9.1971 – Montrealer Übereinkommen (BGBl. 1977 II S. 1230); G zu dem Übereinkommen vom 23.9.1971 zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Zivilluftfahrt, vom 8.12.1977 (BGBl. II S. 1229); Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Übereinkommens, vom 6.3.1978 (BGBl. II S. 314); Protokoll vom 24.2.1988 zur Bekämpfung widerrechtlicher gewalttätiger Handlungen auf Flughäfen, die der internationalen Zivilluftfahrt dienen, in Ergänzung des Montrealer Übereinkommens vom 23.9.1971 (BGBl. 1993 II S. 867); G zu dem Protokoll vom 24.2.1988 zur Bekämpfung widerrechtlicher, gewalttätiger Handlungen auf Flughäfen, die der internationalen Zivilluftfahrt dienen, vom 9.6.1993 (BGBl. II S. 866); Berichtigung vom 3.5.1994 (BGBl. II S. 620); Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Protokolls vom 24.2.1988, vom 9.12.1994 (BGBl. 1995 II S. 30). Diese Abkommen haben zum Ziel, weltweit die Bestrafung von Gewalttaten gegen den Zivilluftverkehr sicherzustellen und dadurch zugleich mögliche Täter von solchen Taten abzuschrecken.82 Das Tokioter Abkommen von 1963 regelt die Frage, welchem Staat die Gerichtsbarkeit bei strafbaren Handlungen zustehen soll, die an Bord eines Zivilluftfahrzeuges während des Fluges (Art. 1) begangen werden. Erfasst sind dabei neben „Zuwiderhandlungen gegen das Strafgesetzbuch“ insbesondere auch Taten der Luftpiraterie. Dieser Begriff umfasst die gewaltsame Entführung eines Luftfahrzeugs und ähnliche Fälle, in denen eine Person an Bord widerrechtlich mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt die Herrschaft über ein im Flug befindliches Luftfahrzeug ausübt (Art. 11 Abs. 1). Das Abkommen erklärt den Staat zur Verfolgung für zuständig, bei dem das Luftfahrzeug eingetragen ist (Art. 3 Abs. 1): Jeder Vertragsstaat ist verpflichtet, seine Gerichtsbarkeit über Taten zu begründen, die an Bord eines bei ihm registrierten Flugzeuges begangen werden (Art. 3 Abs. 2). Doch wird dadurch eine Strafgerichtsbarkeit eines anderen Vertragsstaates nicht ausgeschlossen, die nach nationalem Recht ausgeübt wird

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Vgl. Jescheck GA 1981 49, 65 ff. Dazu Oehler Rdn. 491 ff. Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas III C 13.1 Rdn. 1; III C 13.2 Rdn. 1, 2; III C 13.3 Rdn. 1, 2.

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(Art. 3 Abs. 3), mag sie auch in bestimmter Weise eingeschränkt sein (Art. 4). Ziel der Regelung ist es, Lücken bei der Strafverfolgung zu schließen und Kompetenzkonflikte zwischen den beteiligten Staaten zu vermeiden.83 Das Haager Übereinkommen von 1970 soll die Strafverfolgung von Flugzeugentführern im Vergleich zum Tokioter Abkommen verbessern. Die Flugzeugentführung (d.h. die widerrechtliche Inbesitznahme oder Beherrschung eines im Flug befindlichen zivilen Luftfahrzeugs) wird, auch in der Form des Versuchs oder der Beteiligung, zur strafbaren Handlung erklärt (Art. 1, Art. 3 Abs. 1 und 2), welche die Vertragsstaaten mit schweren Strafen zu bedrohen haben (Art. 2). Die Vertragsstaaten verpflichten sich, in den folgenden Fällen eigene Gerichtsbarkeit über die strafbaren Handlungen zu begründen: wenn das Luftfahrzeug bei ihnen eingetragen (registriert) ist (Art. 4 Abs. 1 Buchst. a), wenn es mit dem Verdächtigen an Bord in ihrem Hoheitsgebiet landet (Art. 4 Abs. 1 Buchst. b) oder wenn der Verdächtige sich in ihrem Hoheitsgebiet befindet und nicht ausgeliefert wird (Art. 4 Abs. 2), ohne dass durch diese Regelung eine andere Zuständigkeit ausgeschlossen würde, die (nur) nach nationalem Recht ausgeübt wird (Art. 4 Abs. 3). Der Vertragsstaat, in dessen Hoheitsgebiet der Beschuldigte betroffen wird, ist (wenn der Vertragsstaat nicht ausliefert) verpflichtet, den Fall „ohne irgendeine Ausnahme und unabhängig davon, ob die strafbare Handlung in seinem Hoheitsgebiet begangen wurde, seinen zuständigen Behörden zum Zwecke der Strafverfolgung zu unterbreiten“ (Art. 7 Satz 1). Die Verfolgungspflicht bezieht sich für den Vertragsstaat als Ergreifungsstaat nach Art. 4 Abs. 2 nur auf die „strafbare Handlung“ im Sinne des Art. 1, d.h. auf die Entführung des Luftfahrzeugs selbst. Nicht erfasst ist damit zum Beispiel die vorsätzliche Tötung eines Passagiers bei geöffneter Flugzeugtür nach der Landung (vgl. BGH NJW 1991 3104). Das Montrealer Übereinkommen von 1971 ergänzt das Haager Übereinkommen. Es erfasst weitere Straftaten gegen den Zivilluftverkehr, insbesondere die Sabotage.84 Das Übereinkommen erklärt zu Straftaten (einschließlich Versuch und Beteiligung) folgende Handlungen (Art. 1 Abs. 1 und 2, Art. 2): Gewaltanwendung gegen eine Person an Bord eines im Flug befindlichen Luftfahrzeugs, die geeignet ist, die Sicherheit dieses Luftfahrzeugs zu gefährden (Art. 1 Abs. 1 Buchst. a); Zerstörung oder erhebliche Beschädigung eines im Einsatz (Art. 2 Buchst. b) befindlichen Luftfahrzeugs (Art. 1 Abs. 1 Buchst. b); Verbringen einer „Vorrichtung“ oder einer „anderen Sache“ in ein solches Luftfahrzeug, die geeignet ist, es zu zerstören oder erheblich zu beschädigen (Art. 1 Abs. 1 Buchst. c); Sabotage an Flugzeugnavigationseinrichtungen, die geeignet ist, die Sicherheit eines im Flug befindlichen Luftfahrzeugs zu gefährden (Art. 1 Abs. 1 Buchst. d); die Abgabe wissentlich unrichtiger Angaben, wenn dadurch die Sicherheit eines im Flug befindlichen Luftfahrzeugs gefährdet wird (Art. 1 Abs. 1 Buchst. e). Jeder Vertragsstaat verpflichtet sich, diese strafbaren Handlungen mit schweren Strafen zu bedrohen (Art. 3). Die Vertragsstaaten haben eigene Gerichtsbarkeit über diese Taten zu begründen (Art. 5). Das Montrealer Übereinkommen erweitert den Katalog obligatorischer Gerichtsbarkeiten des Haager Übereinkommens (Rdn. 112) um weitere Fälle. Danach ist jeder Vertragsstaat verpflichtet, seine Gerichtsbarkeit für den Fall zu begründen, dass die Tat in seinem Hoheitsgebiet (Art. 5 Abs. 1 Buchst. a) oder gegen ein bei ihm eingetragenes Luftfahrzeug (nicht also notwendig an dessen Bord) begangen wird (Art. 5 Abs. 1 Buchst. b). Wie beim Haager Übereinkommen (Rdn. 112) schließt auch hier die vereinbarte Zustän-

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Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas III C 13.1 Rdn. 2. Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas III C 13.3 Rdn. 2.

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digkeit eine Strafgerichtsbarkeit nicht aus, die (nur) nach nationalem Recht ausgeübt wird (Art. 5 Abs. 3). Die Pflicht zur Strafverfolgung nach Art. 7 entspricht der nach Art. 7 des Haager Übereinkommens (Rdn. 112). Das Montrealer Protokoll von 1988 erweitert den Katalog der strafbaren Handlungen, auf die sich das Übereinkommen von 1971 bezieht, und demgemäß auch die Zuständigkeitsregelung für die Strafverfolgung. Der Katalog der strafbaren Handlungen umfasst nun auch Terroranschläge gegen Personen auf Flughäfen, welche der internationalen Zivilluftfahrt dienen, sowie Terroranschläge auf Einrichtungen eines solchen Flughafens oder gegen Flugzeuge, die sich – außer Einsatz – auf ihm befinden (Art. 2); vgl. Borchmann NJW 1994 3057, 3063. Zur Strafverfolgung erklärt das Protokoll den Staat für zuständig, in dessen Hoheitsgebiet sich der Beschuldigte aufhält, ohne dass er ausgeliefert würde (Art. 3). Für die Bundesrepublik Deutschland ist das Tokioter Abkommen am 16.3.1970 (Bek. vom 4.5.1970, BGBl. II S. 276) in Kraft getreten, das Haager Übereinkommen am 10.11.1974 (Bek. vom 8.8.1975, BGBl. II S. 1204), das Montrealer Übereinkommen am 5.3.1978 (Bek. vom 6.3.1978, BGBl. II S. 314) und das Montrealer Protokoll von 1988 am 25.5.1994 (Bek. vom 9.12.1994, BGBl. 1995 II S. 30). Soweit sich die Bundesrepublik Deutschland in den Haager und Montrealer Übereinkommen verpflichtet hat, die bezeichneten internationalen Delikte nach deutschem Strafrecht mit schwerer Strafe zu bedrohen, genügt sie dem im Wesentlichen durch § 316c, der auch Angriffe gegen den Luftverkehr betrifft.85 Das deutsche Strafanwendungsrecht ermöglicht eine ausreichende Verfolgung durch die §§ 3, 4, 6 Nrn. 3 und 9 sowie § 7 Abs. 1 und 2.86

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h) Betreiben eines „Piratensenders“. Einschlägig sind: Europäisches Überein- 120 kommen zur Verhütung von Rundfunksendungen, die von Sendestellen außerhalb der staatlichen Hoheitsgebiete gesendet werden, vom 22.1.1965 (BGBl. 1969 II S. 1940);87 G zu dem Europäischen Übereinkommen vom 22.1.1965 zur Verhütung von Rundfunksendungen, die von Sendestellen außerhalb der staatlichen Hoheitsgebiete gesendet werden, vom 26.9.1969 (BGBl. II S. 1939); Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Übereinkommens, vom 24.4.1970 (BGBl. II S. 258); Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vom 10.12.1982 (SeeRÜbk., Rdn. 94). Das Europäische Übereinkommen von 1965 bezieht sich auf Rundfunksendestel- 121 len, die an Bord von See- oder Luftfahrzeugen oder anderen schwimmenden oder von der Luft getragenen Gegenständen errichtet oder betrieben werden. Voraussetzung ist, dass ihre außerhalb der staatlichen Hoheitsgebiete ausgestrahlten Sendungen ganz oder teilweise im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei empfangen werden sollen oder können oder dass die Sendungen bei einem genehmigten Funkdienst schädliche Störungen verursachen (Art. 1). Jede Vertragspartei verpflichtet sich, solche Sendestellen („Piratensender“), deren 122 Betrieb sowie die wissentliche Mitwirkung daran als „Zuwiderhandlungen“ zu verfolgen (Art. 2 Abs. 1). Was als „Mitwirkung“ gilt, wird in Art. 2 Abs. 2 definiert, z.B. die Lieferung, Wartung oder Instandsetzung von Betriebsanlagen (Art. 2 Abs. 2 Buchst. a). Jede Vertragspartei ist gehalten, Zuwiderhandlungen sowohl eigener Staatsangehöriger als auch von Ausländern zu verfolgen (Art. 3). Sie darf den Kreis der möglichen Zuwider-

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Einzelheiten bei Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas III C 13.2 Rdn. 2 a.E., III C 13.3 Rdn. 2. Vgl. Jescheck GA 1981 49, 66. Vgl. Oehler Rdn. 441.

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handlungen und der Normadressaten nach innerstaatlichem Recht erweitern und das Übereinkommen auch auf Rundfunksendestellen anwenden, „die auf Gegenständen errichtet oder betrieben werden, welche auf dem Meeresgrund befestigt sind oder darauf ruhen“, wie Plattformen oder künstliche Inseln (Art. 4); zum Ganzen Oehler Piratensender. Das Übereinkommen ist für die Bundesrepublik Deutschland am 28.2.1970 in Kraft getreten (Bek. vom 24.4.1970, BGBl. II S. 258). Das Zustimmungsgesetz vom 26.9.1969 (BGBl. II S. 1939) i.d.F. des Art. 263 EGStGB vom 2.3.1974 (BGBl. I S. 469, 623) sieht für Zuwiderhandlungen (Errichten oder Betreiben einer Rundfunksendestelle, Bestellung oder Durchführung einer Sendung bei einer solchen Stelle) als Vergehen Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe vor, sofern die Tat nicht nach § 15 Abs. 1 Satz 1 FernmG mit schwerer Strafe bedroht ist (Art. 2 Abs. 1). Für Auslandstaten gilt das deutsche Strafrecht unabhängig vom Recht des Tatorts (Art. 4). Das SeeRÜbk. sieht eine Zusammenarbeit aller Staaten bei der Bekämpfung nicht genehmigter Rundfunksendungen von der hohen See aus vor (Art. 109 Abs. 1). Im Sinne dieses Übereinkommens bedeuten „nicht genehmigte Rundfunksendungen“ die Übertragung von Hörfunk- oder Fernsehsendungen zum Empfang durch die Allgemeinheit von einem Schiff oder einer Anlage auf hoher See aus unter Verletzung internationaler Vorschriften (Art. 109 Abs. 2). Wer solche Sendungen verbreitet, darf von den folgenden Staaten gerichtlich verfolgt werden: vom Flaggenstaat des Schiffes; vom Registerstaat der Anlage; von dem Staat, dessen Angehöriger der Beschuldigte ist; von jedem Staat, in dem die Sendungen empfangen werden können, sowie von jedem Staat, in dem genehmigte Funkverbindungen dadurch gestört werden (Art. 109 Abs. 3). Das SeeRÜbk. ist für die Bundesrepublik Deutschland am 16.11.1994 in Kraft getreten. Als Straftatbestand kommt § 15 FernmG in Betracht. Da nach diesem Übereinkommen keine völkerrechtliche Verpflichtung besteht, einschlägige Taten zu verfolgen, greift § 6 Nr. 9 insoweit nicht ein.

i) Straftaten gegen Diplomaten und sonstige völkerrechtlich geschützte Personen.88 Einschlägig sind: Übereinkommen über die Verhütung, Verfolgung und Bestrafung von Straftaten gegen völkerrechtlich geschützte Personen einschließlich Diplomaten (Diplomatenschutzkonvention) vom 14.12.1973 (BGBl. 1976 II S. 1746); G zu dem Übereinkommen vom 14.12.1973 über die Verhütung, Verfolgung und Bestrafung von Straftaten gegen völkerrechtlich geschützte Personen einschließlich Diplomaten (Diplomatenschutzkonvention), vom 26.10.1976 (BGBl. II S. 1745); Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Übereinkommens, vom 31.5.1977 (BGBl. II S. 568). 128 Das Übereinkommen soll der weltweiten Verfolgung von terroristischen Anschlägen gegen Diplomaten und andere völkerrechtlich geschützte Personen dienen und dadurch zugleich potenzielle Täter abschrecken. Wegen der Zunahme einschlägiger Taten war es notwendig geworden, diesen Teilbereich des Terrorismus zum Gegenstand eines besonderen Übereinkommens zu machen.89 Der geschützte Personenkreis umfasst Staatsoberhäupter, Regierungschefs, Au129 ßenminister und Diplomaten, wenn sie sich in einem fremden Staat aufhalten, sowie sie begleitende Familienmitglieder (Art. 1 Abs. 1). Die Konvention betrifft vorsätzliche Angriffe gegen Leben, Leib, Freiheit, Diensträume, Privatwohnungen und Beförderungsmittel des genannten Personenkreises einschließlich Versuch, Teilnahme und Bedro127

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Vgl. hierzu Jescheck GA 1981 49, 61 ff. Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas III C 3.1 Rdn. 2.

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hung mit einem solchen Angriff (Art. 2 Abs. 1). Jeder Vertragsstaat hat derartige Taten mit Strafen zu bedrohen, die ihrer Schwere angemessen sind (Art. 2 Abs. 2). Jeder Vertragsstaat ist verpflichtet, seine Gerichtsbarkeit für folgende Fälle zu be- 130 gründen (Art. 3): wenn die Tat in seinem Hoheitsgebiet oder an Bord eines bei ihm eingetragenen Schiffs oder Luftfahrzeugs begangen wird; wenn der Verdächtige ein eigener Staatsangehöriger ist; wenn die Tat gegen eine geschützte Person begangen wird, die Aufgaben für den Vertragsstaat wahrnimmt, oder wenn sich der Verdächtige in seinem Hoheitsgebiet befindet und nicht (zur Verfolgung wegen der Tat) ausgeliefert wird (Art. 6 Abs. 1, Art. 7). Gemäß Art. 7 ist der Vertragsstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich der Verdächtige befindet, verpflichtet, wenn der Verdächtige nicht ausgeliefert wird, den Fall ohne irgendeine Ausnahme und ohne unangemessene Verzögerung seinen zuständigen Behörden zum Zweck der Strafverfolgung zu unterbreiten. Die Konvention ist am 24.2.1977 für die Bundesrepublik in Kraft getreten (Bek. vom 131 31.5.1977, BGBl. II S. 568). Nach deutschem Strafrecht können die bezeichneten Taten – je nach Lage des Falles 132 – unter eine Vielzahl in Betracht kommender Straftatbestände fallen, so unter §§ 102, 211, 212, 239, 239a, 239b und 241. Die Geltung deutschen Rechts (und damit zugleich die Zuständigkeit der deutschen Gerichte) kann sich je nach den näheren Umständen aus den §§ 3, 4, 5 Nr. 14, 6 Nr. 9 oder aus § 7 Abs. 1 oder 2 ergeben. j) Terrorismus. Einschlägig sind: Europäisches Übereinkommen zur Bekämpfung 133 des Terrorismus (EuTerrÜbk.) vom 27.1.1977 (BGBl. 1978 II S. 322); G zu dem Europäischen Übereinkommen vom 27.1.1977 zur Bekämpfung des Terrorismus, vom 28.3.1978 (BGBl. II S. 321); Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Übereinkommens, vom 8.6.1978 (BGBl. II S. 907); Übereinkommen über den physischen Schutz von Kernmaterial vom 26.10.1979 (BGBl. 1990 II S. 327), geändert durch die Änderung des Übereinkommens über den physischen Schutz von Kernmaterial, vom 8.7.2005 (BGBl. 2008 II S. 575); G zu dem Übereinkommen vom 26.10.1979 über den physischen Schutz von Kernmaterial vom 24.4.1990 (BGBl. II S. 326); Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Übereinkommens über den physischen Schutz von Kernmaterial, vom 13.3.1995 (BGBl. II S. 299); G zu der Entschließung vom 8.7.2005 zur Änderung des Übereinkommens vom 26.10.1979 über den physischen Schutz von Kernmaterial vom 6.6.2008 (BGBl. II S. 574); Bekanntmachung über das Inkrafttreten der Änderung des Übereinkommens über den physischen Schutz von Kernmaterial, vom 26.5.2016 (BGBl. II S. 838); Internationales Übereinkommen zur Bekämpfung terroristischer Bombenanschläge (IntTerrBombÜbk.) vom 15.12.1997 (BGBl. 2002 II S. 2507); G zu dem Internationalen Übereinkommen vom 15.12.1997 zur Bekämpfung terroristischer Bombenanschläge, vom 5.10.2002 (BGBl. II S. 2506); Internationales Übereinkommen zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus (IntFinTerrÜbk.) vom 9.12.1999 (BGBl. 2003 II S. 1923); G zu dem Internationalen Übereinkommen vom 9.12.1999 zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus, vom 19.12.2003 (BGBl. II S. 1922); Rahmenbeschluss des Rates vom 13.6.2002 zur Terrorismusbekämpfung (ABl. 2002 L 164, S. 3 ff), geändert durch den Rahmenbeschluss des Rates vom 28.11.2008 (AblEU 2008 L 330, S. 21 ff); Internationales Übereinkommen zur Bekämpfung nuklearterroristischer Handlungen vom 13.4.2005 (BGBl. 2007 II S. 1587); G zu dem Internationalen Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13.4.2005 zur Bekämpfung nuklearterroristischer Handlungen, vom 23.10.2007 (BGBl. II S. 1586); Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Übereinkommens, vom 15.5.2008 (BGBl. II S. 671); Übereinkommen des Europarates zur Verhütung des Terrorismus vom 16.5.2005 (BGBl. 2011 II S. 301); G zu dem Übereinkommen des Europarates zur Verhütung des Terrorismus, vom 16.3.2011 (BGBl. II S. 300); Bekanntmachung über das Inkrafttreten des 479

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Übereinkommens des Europarates, vom. 26.9.2011 (BGBl. II S. 1060); Additional Protocol to the Council of Europe Convention on the Prevention of Terrorism, vom 22.10.2015 (ETS Nr. 217); Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15.3.2017 zur Terrorismusbekämpfung und zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2002/475/JI zur Terrorismusbekämpfung (AblEU 2017 L 88, S. 6 ff) Das Europäische Übereinkommen von 1977 will die Verfolgung terroristischer Taten insbesondere dadurch verbessern, dass es sie aus dem Bereich der politischen Straftaten oder politischen Zusammenhangstaten herausnimmt, derentwegen eine Auslieferung nach bestehenden zwei- oder mehrseitigen Auslieferungsverträgen nicht möglich ist; ferner werden die Vertragsstaaten unter bestimmten Voraussetzungen zur Ausübung eigener Gerichtsbarkeit verpflichtet.90 Das Übereinkommen betrifft nach Art. 1 Straftaten (einschließlich Versuch und Teilnahme) im Sinne des Haager Übereinkommens vom 16.12.1970 (Rdn. 107, 111 f) und des Montrealer Übereinkommens vom 23.9.1971 (Rdn. 107, 113 f); schwere Straftaten, die in einem Angriff auf das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die Freiheit völkerrechtlich geschützter Personen einschließlich Diplomaten bestehen;91 Entführung, Geiselnahme und schwere widerrechtliche Freiheitsentziehung; ferner Straftaten, bei deren Begehung eine Bombe, eine Handgranate, eine Rakete, eine automatische Schusswaffe oder eine Sprengstoffsendung verwendet wird, wenn dadurch Personen gefährdet werden. Die Vertragsstaaten sind verpflichtet, eigene Gerichtsbarkeit für die genannten Straftaten nach Art. 1 des Übereinkommens zu begründen und den Fall ihren zuständigen Behörden zur Strafverfolgung zu unterbreiten, wenn sich der Verdächtige in ihrem Hoheitsgebiet befindet und sie ihn nach Eingang eines Auslieferungsersuchens eines anderen Vertragsstaats unter bestimmten auslieferungsrechtlichen Voraussetzungen nicht ausliefern (Art. 6 und 7). Das Übereinkommen schließt eine weiterreichende Strafgerichtsbarkeit nicht aus, die allein nach innerstaatlichem Recht ausgeübt wird (Art. 6 Abs. 2). Artikel 2 gibt den Vertragsstaaten ein Ermessen, bei anderen, nicht unter Artikel 1 fallenden schweren Gewalttaten gegen Personen (Absatz 1) oder Sachen (Absatz 2) die Auslieferung auch dann zu bewilligen, wenn sie nach den auslieferungsrechtlichen Vereinbarungen sonst wegen des politischen Charakters der Straftat hätte abgelehnt werden müssen.92 Nach dem Gesetz vom 28.3.1978 (Rdn. 133) ist die Auslieferung gemäß Artikel 2 des Übereinkommens in der Regel zulässig, wenn die Tat den Tod oder eine schwere Körperverletzung (§ 226 StGB) des Opfers verursacht, wenn sie das Leben oder die Gesundheit einer großen Zahl von Menschen gefährdet oder wenn sie grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln begangen wird. Das Übereinkommen ist am 4.8.1978 für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten (Bek. vom 8.6.1978, BGBl. II S. 907).93 Wegen der Straftatbestände, die bei seiner Anwendung in Betracht kommen können, wird auf die Randnummern 119 und 135 verwiesen. Die Geltung des deutschen Strafrechts für einschlägige Auslandstaten kann sich aus den §§ 4, 6 Nr. 3 und § 7 Abs. 2 ergeben. Zu § 6 Nr. 9 siehe dort. Das Übereinkommen von 1979 zielt insbesondere auf den Schutz des internationalen Transportes von für friedliche Zwecke genutztem Kernmaterial (Art. 2 Abs. 1). Zur Erreichung dieses Zieles verpflichten sich die Vertragsstaaten, verschiedene Handlungen

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Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas III C 13.4, S. 4; Gusy NJW 1978 1717. Vgl. die Diplomatenschutzkonvention vom 14.12.1973, Vor § 3 Rdn. 127. Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas III C 13.4, S. 13 Fußn. 13. Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas III C 13.4 Rdn. 1.

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(Art. 7 Abs. 1), die überwiegend im Zusammenhang mit der widerrechtlichen Inbesitznahme von Kernmaterial stehen und deren Katalog durch die Änderung des Übereinkommens aus 2005 (Art. 9) erweitert worden ist, mit angemessenen Strafen zu bedrohen (Art. 7 Abs. 2). Über die in Art. 7 genannten Straftaten hat jeder Vertragsstaat seine Gerichtsbarkeit zu begründen, wenn die Straftat im Hoheitsgebiet des Vertragsstaates oder an Bord eines im Vertragsstaat eingetragenen Schiffes oder Luftfahrzeuges begangen wird (Art. 8 Abs. 1 Buchst. a) oder wenn der Verdächtige Angehöriger des Vertragsstaates ist (Art. 8 Abs. 1 Buchst. b). Gem. Art. 8 Abs. 2 trifft jeder Vertragsstaat darüber hinaus die notwendigen Maßnahmen, um seine Gerichtsbarkeit zu begründen, wenn der Verdächtige sich in seinem Hoheitsgebiet befindet und er ihn nicht nach den in Art. 11 genannten Bestimmungen an einen der in Art. 8 Abs. 1 genannten Staaten ausliefert. Schließlich ermöglicht Art. 8 Abs. 4 eine im Einklang mit dem Völkerrecht stehende fakultative Begründung der Zuständigkeit, wenn der jeweilige Vertragsstaat als Ausfuhroder Einfuhrstaat am internationalen Nukleartransport beteiligt ist. Das Internationale Übereinkommen von 1997, das am 23.5.2003 für die Bundesrepublik in Kraft getreten ist, verpflichtet die Vertragsstaaten, die folgenden Taten (einschließlich Versuch und Beteiligung, Art. 2 Abs. 2 und 3) als Straftaten einzustufen und mit angemessenen Strafen zu bedrohen (Art. 4): Beförderung eines Sprengsatzes oder einer anderen tödlichen Vorrichtung zu einem öffentlichen Ort, einer staatlichen oder öffentlichen Einrichtung, einem öffentlichen Verkehrssystem oder einer Versorgungseinrichtung oder In-Anschlag-Bringen, Auslösen oder Zur-Explosion-Bringen einer solchen Vorrichtung an einem der genannten Orte (Art. 2 Abs. 1). Voraussetzung ist, dass der Täter in der Absicht handelt, den Tod oder eine schwere Körperverletzung zu verursachen oder die weitgehende Zerstörung des betroffenen Ortes herbeizuführen, wenn diese zu einem erheblichen wirtschaftlichen Schaden führen kann. Keine Anwendung findet das Übereinkommen auf einschlägige Straftaten, die keine Auslandsberührung aufweisen (Art. 3). Jeder Vertragsstaat ist verpflichtet, seine Gerichtsbarkeit über die genannten Straftaten in den folgenden Fällen zu begründen: wenn die Tat in seinem Hoheitsgebiet begangen wird (Art. 6 Abs. 1 Buchst. a); wenn die Tat an Bord eines Schiffes oder Luftfahrzeugs begangen wird, das im Vertragsstaat registriert ist (Art. 6 Abs. 1 Buchst. b); wenn der Täter ein Staatsangehöriger des Vertragsstaates ist (Art. 6 Abs. 1 Buchst. c); wenn der Täter sich im Hoheitsgebiet des Vertragsstaates befindet und nicht an einen anderen Vertragsstaat ausgeliefert wird (Art. 6 Abs. 4). Jeder Vertragsstaat kann darüber hinaus seine Gerichtsbarkeit in den folgenden Fällen begründen: wenn die Tat gegen einen Staatsangehörigen des Vertragsstaates begangen wird (Art. 6 Abs. 2 Buchst. a); wenn die Tat gegen eine Einrichtung des Vertragsstaates im Ausland begangen wird (Art. 6 Abs. 2 Buchst. b); wenn die Tat von einem Staatenlosen begangen wird, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt in dem Vertragsstaat hat (Art. 6 Abs. 2 Buchst. c); wenn die Tat in der Absicht begangen wird, den Vertragsstaat zu einem Tun oder Unterlassen zu nötigen (Art. 6 Abs. 2 Buchst. d); wenn die Tat an Bord eines Luftfahrzeuges begangen wird, das von der Regierung des Vertragsstaates betrieben wird (Art. 6 Abs. 2 Buchst. e). Darüber hinaus schließt das Übereinkommen nicht die Ausübung einer Strafgerichtsbarkeit aus, die von einem Vertragsstaat nach seinem innerstaatlichen Recht begründet ist (Art. 6 Abs. 5). Beansprucht mehr als ein Staat die Gerichtsbarkeit über eine Tat, sind die betroffenen Vertragsstaaten gehalten, sich um die Koordination ihrer Verfolgungsmaßnahmen zu bemühen (Art. 7 Abs. 5). Befindet sich der Verdächtige im Hoheitsgebiet eines Vertragsstaates, so ist dieser, wenn er den Verdächtigen nicht ausliefert, in den Fällen des Art. 6 verpflichtet, den Fall ohne irgendeine Ausnahme und unabhängig davon, ob die Tat in seinem Hoheitsgebiet 481

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begangen wurde, seinen zuständigen Behörden zum Zweck der Strafverfolgung zu unterbreiten (Art. 8 Abs. 1; Ausnahme bei Art. 8 Abs. 2). Das Internationale Übereinkommen von 1999 verpflichtet die Vertragsstaaten, das Sammeln und Zur-Verfügung-Stellen von finanziellen Mitteln, in der Absicht oder in Kenntnis davon, dass diese zur Begehung terroristischer Straftaten verwendet werden (Art. 2), in ihrem innerstaatlichen Recht als Straftaten einzustufen und mit angemessenen Strafen zu bedrohen (Art. 4). Die Bestimmungen betreffend die Begründung und Ausübung von Gerichtsbarkeit über die genannten Taten entsprechen im Wesentlichen denjenigen des Abkommens von 1997 (Rdn. 141), vgl. Art. 7. Das Gleiche gilt für die Reichweite der Verfolgungspflicht (Art. 10). Nach Art. 5 des Internationalen Übereinkommens von 2005 verpflichten sich die Vertragsstaaten, die in Art. 2 näher geregelten Straftaten (einschl. des Versuchs), insbesondere solche im Umgang mit radioaktivem Material, nach innerstaatlichem Recht als Straftaten zu umschreiben und mit angemessenen Strafen zu bedrohen. Jeder Vertragsstaat hat eigene Gerichtsbarkeit für die Straftaten zu begründen, wenn sie im Hoheitsgebiet des Staates (Art. 9 Abs. 1 Buchst. a), an Bord eines Schiffes, das zur Tatzeit die Flagge des Staates führt, oder eines Luftfahrzeuges, das zur Tatzeit nach dem Recht des Vertragsstaates eingetragen ist (Art. 9 Abs. 1 Buchst. b), oder von einem Angehörigen des Staates begangen (Art. 9 Abs. 1 Buchst. c) werden. Die genannten Bestimmungen werden ergänzt durch weitere fakultative Regelungen in Art. 9 Abs. 2. Hierzu zählen die Fälle, in denen die Straftat gegen einen Angehörigen des Vertragsstaates (Art. 9 Abs. 2 Buchst. a) oder gegen eine staatliche oder öffentliche Einrichtung dieses Staates im Ausland begangen wird (Art. 9 Abs. 2 Buchst. b). Darüber hinaus kann ein Vertragsstaat seine Zuständigkeit begründen, wenn die Straftat von einer staatenlose Person begangen wird, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Staat hat (Art. 9 Abs. 2 Buchst. c), wenn die Straftat mit dem Ziel begangen wird, diesen Staat zu einem Tun oder Unterlassen zu nötigen (Art. 9 Abs. 2 Buchst. d) oder wenn die Straftat an Bord eines Luftfahrzeuges begangen wird, das von der Regierung dieses Staates betrieben wird (Art. 9 Abs. 2 Buchst. e). Wird der Verdächtige nicht an die Staaten ausgeliefert, die in Übereinstimmung mit Art. 9 Abs. 1, 2 ihre Gerichtsbarkeit begründet haben, ist der Vertragsstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich der Verdächtige befindet, gem. Abs. 4 verpflichtet, seinerseits seine Gerichtsbarkeit zu begründen. Nach dem Übereinkommen des Europarates von 2005, das von Deutschland am 10.6.2011 ratifiziert worden ist, verpflichten sich die Vertragsstaaten, die öffentliche Aufforderung zur Begehung einer terroristischen Straftat (Art. 5) sowie die Anwerbung (Art. 6) und Ausbildung (Art. 9) für terroristische Zwecke als Straftaten zu umschreiben und mit wirksamen, verhältnismäßigen und abschreckenden Strafen zu bedrohen (Art. 11 Abs. 1). Auch Beteiligung (Art. 9 Abs. 1) und Versuch (Art. 9 Abs. 2) sind in einigen Fällen unter Strafe zu stellen. Jeder Vertragsstaat hat eigene Gerichtsbarkeit für die Taten zu begründen, wenn sie in seinem Hoheitsgebiet (Art. 14 Abs. 1 Buchst. a), an Bord eines Schiffes, das die Flagge des Vertragsstaates führt, oder an Bord eines Luftfahrzeuges, das nach dem Recht des Vertragsstaates eingetragen ist (Art. 14 Abs. 1 Buchst. b), begangen werden. Die Gerichtsbarkeit ist ferner dann zu begründen, wenn der Täter Staatsangehöriger des Vertragsstaates ist (Art. 14 Abs. 1 Buchst. c). Das Gleiche gilt gem. Art. 14 Abs. 3, wenn sich der Verdächtige in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaates befindet und dieser den Verdächtigen nicht an einen anderen Vertragsstaat ausliefert, dessen Gerichtsbarkeit auf einer Zuständigkeitsregelung beruht, die in gleicher Weise im Recht des ersuchten Vertragsstaates besteht. Daneben besteht die Möglichkeit einer fakultativen Begründung eigener Gerichtsbarkeit in den in Art. 14 Abs. 2 genannten Fällen. Werle/Jeßberger

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Hierzu zählen die Fälle, in denen es Ziel oder Ergebnis der Straftat war, diese im Hoheitsgebiet oder gegen einen Staatsangehörigen des Vertragsstaates (Art. 14 Abs. 2 Buchst. a) oder gegen eine staatliche oder öffentliche Einrichtung des Vertragsstaates im Ausland (Art. 14 Abs. 2 Buchst. b) zu begehen oder durch diese den Vertragsstaat zu einem Tun oder Unterlassen zu nötigen (Art. 14 Abs. 2 Buchst. c). Darüber hinaus kann die Gerichtsbarkeit durch die Vertragsstaaten begründet werden, wenn die Straftat von einer staatenlosen Person begangen wird, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Vertragsstaaten hat (Art. 14 Abs. 2 Buchst. d) oder wenn die Straftat an Bord eines Luftfahrzeuges begangen wird, das von der Regierung des jeweiligen Vertragsstaates betrieben wird. Wird die Gerichtsbarkeit für eine Straftat von mehr als einem Vertragsstaat geltend gemacht, sieht Art. 14 Abs. 5 vor, dass die beteiligten Vertragsstaaten einander konsultieren, um die für die Strafverfolgung „geeignetste Gerichtsbarkeit“ zu bestimmen. Insofern entsprechen die Gerichtsbarkeitsbestimmungen in dem Übereinkommen des Europarates – mit Ausnahme der Regelung zur konkurrierenden Gerichtsbarkeit – weitestgehend denen des Internationalen Übereinkommens von 2005. Das Additional Protocol to the Council of Europe Convention on the Prevention of Terrorism hat Deutschland am 22.10.2015 gezeichnet, bisher aber nicht ratifziert. Die Richtlinie von 2017 ersetzt den Rahmenbeschluss zur Terrorismusbekämpfung von 2002. Sie zielt auf die Angleichung der Definitionen terroristischer Straftaten in den Mitgliedstaaten der EU und die Festlegung gerichtlicher Zuständigkeiten, um auf diese Weise die wirksame Verfolgung terroristischer Straftaten sicherzustellen. Nach Art. 3 müssen die Mitgliedstaaten bestimmte, in Abs. 1 Buchst. a bis j genannte Handlungen als terroristische Straftaten einstufen, wenn diese mit dem Ziel begangen werden, die Bevölkerung einzuschüchtern, öffentliche Stellen zu nötigen oder die Grundstrukturen eines Landes oder einer internationalen Organisation zu zerstören. Die Art. 4 bis 12 geben den Mitgliedstaaten ferner auf, bestimmte Straftaten im Zusammenhang mit einer terroristischen Vereinigung oder mit terroristischen Aktivitäten unter Strafe zu stellen (u.a. Anwerbung, Ausbildung, Reisen, Finanzierung). Taten nach den Art. 3 bis 12 sind mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Strafen zu bedrohen (Art. 15). Erheblicher Anpassungsbedarf ergibt sich aus der Richtlinie nicht. Zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses von 2002 in deutsches Recht siehe 12. Auflage Rdn. 205 . Art. 19 der Richtlinie enthält einen umfangreichen Katalog von Fällen, in denen die Mitgliedstaaten ihre Gerichtsbarkeit in Bezug auf einschlägige Taten begründen müssen oder können. Danach muss jeder Mitgliedstaat in den folgenden Fällen seine Gerichtsbarkeit begründen: wenn die Tat in seinem Hoheitsgebiet begangen wurde (Abs. 1 Satz 1 Buchst. a); wenn die Tat an Bord eines im Inland registrierten Schiffes oder Flugzeugs begangen wurde (Abs. 1 Satz 1 Buchst. b); wenn der Täter Staatsangehöriger oder Gebietsansässiger dieses Mitgliedstaates ist (Abs. 1 Satz 1 Buchst. c); wenn die Tat zu Gunsten einer juristischen Person mit Sitz in seinem Hoheitsgebiet begangen wurde (Abs. 1 Satz 1 Buchst. d); wenn die Tat gegen seine Institutionen oder seine Bevölkerung oder gegen ein Organ der Europäischen Union oder eine Einrichtung oder sonstige Stelle der Union mit Sitz in dem betreffenden Mitgliedstaat begangen wurde (Abs. 1 Satz 1 Buchst. e). Ferner trifft jeden Mitgliedstaat die Verpflichtung, seine Gerichtsbarkeit für den Fall zu begründen, dass er die Überstellung oder Auslieferung eines Tatverdächtigen an einen anderen Mitgliedstaat oder Drittstaat ablehnt (Art. 19 Abs. 4). Schließlich kann jeder Mitgliedstaat seine Gerichtsbarkeit für den Fall begründen, dass die Tat im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates begangen wurde (Art. 19 Abs. 1 Satz 2). Besonders hervorzuheben ist die Regelung in Art. 19 Abs. 3 der Richtlinie, die den Fall betrifft, dass mehreren Mitgliedstaaten die Gerichtsbarkeit über eine Tat zusteht 483

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(vgl. auch Rdn. 45 ff). Art. 19 Abs. 3 Satz 1 nennt das Ziel, „die Strafverfolgung nach Möglichkeit in einem einzigen Mitgliedstaat zu konzentrieren“, das durch die Zusammenarbeit der betreffenden Mitgliedstaaten und gegebenenfalls unter Einschaltung von Eurojust erreicht werden soll. Art. 9 Abs. 3 Satz 3 bestimmt, dass den folgenden „Anknüpfungspunkten Rechnung getragen [wird]“: Es muss sich um den Mitgliedstaat handeln, in dessen Hoheitsgebiet die Straftat begangen wurde (a), dessen Staatsangehörigkeit der Täter ist oder in dem dieser gebietsansässig ist (b), der das Herkunftsland der Opfer ist (c) oder auf dessen Gebiet der Täter ergriffen wurde (d). Eine Hierarchisierung der Anknüpfungspunkte, wie sie sich noch im Rahmenbeschluss von 2002 fand („nacheinander“; „in erster Linie“; „in zweiter Linie“ usw.; hierzu 12. Auflage Rdn. 149) findet sich in der Richtlinie nicht mehr. 153

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k) Geiselnahme.94 Einschlägig sind: Internationales Übereinkommen gegen Geiselnahme (Geiselnahmekonvention) vom 18.12.1979 (BGBl. 1980 II S. 1361); G zu dem Internationalen Übereinkommen vom 18.12.1979 gegen Geiselnahme, vom 15.10.1980 (BGBl. II S. 1361); Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Übereinkommens, vom 23.6.1983 (BGBl. II S. 461). Die Konvention enthält ein lückenloses (völkerrechtliches) Verbot jeder Art von Geiselnahme ohne Rücksicht auf das Motiv und die Person des Täters und des Opfers. Sie verpflichtet die Vertragsstaaten, jeden Geiselnehmer (bei Taten mit Auslandsberührung, vgl. Art. 13) ohne Ausnahme entweder auszuliefern oder selbst strafrechtlich zu verfolgen. Zur Einschränkung des Anwendungsbereichs der Konvention bei Geiselnahme im Rahmen bewaffneter Konflikte siehe Art. 12 sowie Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas III C 13.5 S. 25 Fußn. 17. Geiselnahme im Sinne des Übereinkommens begeht, wer eine andere Person („Geisel“) in seine Gewalt bringt oder in seiner Gewalt hält und mit dem Tod, mit Körperverletzung oder mit der Fortdauer der Freiheitsentziehung für diese Person droht, um einen Dritten (einen Staat, eine internationale zwischenstaatliche Organisation, eine natürliche oder juristische Person oder eine Gruppe von Personen) zu einem Tun oder Unterlassen als ausdrückliche oder stillschweigende Voraussetzung für die Freigabe der Geisel zu nötigen (Art. 1 Abs. 1). Unter die Konvention fallen auch der Versuch und die Beteiligung (Art. 1 Abs. 2). Jeder Vertragsstaat ist gehalten, solche Taten mit einer angemessenen Strafe zu bedrohen (Art. 2). Er ist auch verpflichtet, seine Gerichtsbarkeit für folgende Fälle zu begründen: wenn die Tat in seinem Hoheitsgebiet oder an Bord eines bei ihm eingetragenen Schiffes oder Luftfahrzeugs (Art. 5 Abs. 1 Buchst. a), von einem seiner Staatsangehörigen (Art. 5 Abs. 1 Buchst. b erste Alternative) oder deshalb begangen wird, um ihn zu einem Tun oder Unterlassen zu nötigen (Art. 5 Abs. 1 Buchst. c). Eine Pflicht zur Begründung eigener Gerichtsbarkeit besteht ferner dann, wenn sich der Verdächtige im Hoheitsgebiet des betreffenden Vertragsstaates befindet und nicht an einen nach Art. 5 Abs. 1 zuständigen Vertragsstaat ausgeliefert wird (Art. 5 Abs. 2, Art. 8). Ergänzt werden die genannten zwingenden Bestimmungen zum Geltungsbereich des Strafrechts der Vertragsstaaten durch weitere fakultative Regelungen. Sofern ein Vertragsstaat es für angebracht hält, kann er seine Gerichtsbarkeit auch für Auslandstaten von Staatenlosen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet haben (Art. 5 Abs. 1 Buchst. b zweite Alternative), und für Taten begründen, die in Bezug auf eine Geisel begangen wurden, die Staatsangehörige dieses Staates ist (Art. 5 Abs. 1

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Hierzu Jescheck GA 1981 49, 64 f.

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Vorbemerkungen | Vor §§ 3 ff

Buchst. d). Die Konvention schließt nicht aus, dass das innerstaatliche Recht eine weitergehende Strafgerichtsbarkeit vorsieht (Art. 5 Abs. 3). Wird der Verdächtige nicht ausgeliefert, begründet das Übereinkommen ferner die 158 Pflicht des Ergreifungsstaates, den Fall den zuständigen Behörden zum Zwecke der Strafverfolgung zu unterbreiten, unabhängig davon, ob die Tat in seinem Hoheitsgebiet begangen wurde (Art. 8 Abs. 1 Satz 1). Die Geiselnahmekonvention ist für die Bundesrepublik Deutschland am 3.6.1983 in 159 Kraft getreten (Bek. vom 23.6.1983, BGBl. II S. 461). Die von ihr erfassten Taten können im Rahmen eines „Dreipersonenverhältnisses“ (Täter – Geisel – Dritter) die Straftatbestände der §§ 239a, 239b erfüllen.95 Die Zuständigkeit deutscher Gerichte für Auslandstaten ergibt sich – je nach den Umständen des Falles – aus den §§ 4, 6 Nr. 9 oder § 7. l) Folter. Einschlägig sind: Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10.12.1984 (Folterkonvention, BGBl. 1990 II S. 247); G zu dem VN-Übereinkommen vom 10.12.1984 gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe, vom 6.4.1990 (BGBl. II S. 246); Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Übereinkommens, vom 9.2.1993 (BGBl. II S. 715). Das Übereinkommen der Vereinten Nationen soll die allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten fördern. Nach der Definition der Folterkonvention ist Folter jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zu einem der in Art. 1 Abs. 1 genannten Zwecke zugefügt werden, wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren Einverständnis verursacht werden (Art. 1 Abs. 1). Außergewöhnliche Umstände wie Krieg oder Kriegsgefahr, innenpolitische Instabilität oder ein sonstiger öffentlicher Notstand sind keine Rechtfertigung für Folter (Art. 2 Abs. 2). Das Gleiche gilt für Weisungen Vorgesetzter oder eines Trägers öffentlicher Gewalt (Art. 2 Abs. 3). Der in der Folterkonvention niedergelegte menschenrechtliche Begriff der Folter und der – etwa in Art. 7 Abs. 1 Buchst. f IStGH-Statut zugrunde gelegte – (völker-) strafrechtliche Begriff der Folter sind nicht vollständig deckungsgleich; insbesondere setzt Folter als Verbrechen gegen die Menschlichkeit abweichend von Art. 1 der Folterkonvention nicht voraus, dass die Schmerzzufügung einem bestimmten Zweck, etwa der Erlangung einer Aussage, dient; das Völkerrechtsverbrechen der Folter verlangt ferner nicht, dass der Täter in amtlicher Eigenschaft handelt; näher Werle/Jeßberger Rdn. 998 ff. Die Vertragsstaaten haben alle Folterhandlungen (einschließlich Versuch und Tatbeteiligung) für strafbar zu erklären und sie mit Strafen zu bedrohen, die der Tatschwere angemessen sind (Art. 4). Sie sind verpflichtet, die Taten in eigener Zuständigkeit gerichtlich zu verfolgen (Art. 5). Die eigene Gerichtsbarkeit ist obligatorisch in den Fällen des Art. 5 Abs. 1 und 2, die denen des Art. 5 Abs. 1 Buchst. a, b erste Alternative und d sowie Abs. 2 der Geiselnahmekonvention (Rdn. 153) entsprechen (Rdn. 156 f). Doch schließt das Übereinkommen eine weitergehende Strafgerichtsbarkeit nicht aus, die nach innerstaatlichem Recht ausgeübt wird (Art. 5 Abs. 3). Entsprechend Art. 8 Abs. 1 der Geiselnahmekonvention ist der Ergreifungsstaat unter bestimmten Umständen zur Strafverfolgung verpflichtet (Art. 7 Abs. 1).

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Vgl. Jescheck GA 1981 49, 64.

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Das Übereinkommen ist für die Bundesrepublik Deutschland gemäß Bekanntmachung vom 9.2.1993 (BGBl. II S. 715) am 31.10.1990 in Kraft getreten. Sachlichrechtlich genügt die Bundesrepublik ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen durch die §§ 340, 343 und – soweit diese Bestimmungen für Ausländer in ausländischen Diensten nicht gelten – durch die §§ 223 ff Foltertaten in bewaffneten Konflikten oder im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung werden als Kriegsverbrechen (§ 8 Abs. 1 Nr. 3 VStGB) bzw. als Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7 Abs. 1 Nr. 5 VStGB) erfasst. Für einschlägige Auslandstaten von Ausländern kann deutsches Strafrecht – je nach Lage des Falles – gemäß § 6 Nr. 9 und § 7 Abs. 1 oder Abs. 2 Nr. 2 sowie gemäß § 1 Satz 1 VStGB gelten. Das Europäische Übereinkommen vom 26.11.1987 zur Verhütung von Folter und 166 unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (G vom 29.11.1989, BGBl. II S. 946; Bek. vom 23.5.1990, BGBl. II S. 491) sowie die Protokolle Nr. 1 und Nr. 2 vom 4.11.1993 zu diesem Übereinkommen (G vom 17.7.1996, BGBl. II S. 1114) haben keine strafrechtliche Bedeutung, sondern sollen durch Inspektionen eines internationalen Kontrollausschusses präventiven Zwecken dienen (Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas III C 5.2 Rdn. 3, 6). m) Straftaten gegen die Umwelt, insbesondere die Meeresumwelt.96 Einschlägig sind: Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vom 10.12.1982 (Rdn. 94); Übereinkommen vom 28.7.1994 zur Durchführung des Teils XI des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen vom 10.12.1982 (BGBl. 1994 II S. 2566); G zur Ausführung des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen vom 10.12.1982 sowie des Übereinkommens vom 28.7.1994 zur Durchführung des Teils XI des Seerechtsübereinkommens (Ausführungsgesetz Seerechtsübereinkommen 1982/1994), vom 6.6.1995 (BGBl. I S. 778); Rahmenbeschluss des Rates vom 12.7.2005 zur Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens zur Bekämpfung der Verschmutzung durch Schiffe (AblEU 2005 L 255, S. 164 ff); Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates der Europäischen Union vom 7.9.2005 über die Meeresverschmutzung durch Schiffe und die Einführung von Sanktionen für Verstöße (AblEU 2005 L 255, S. 11 ff), geändert durch die Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21.10.2009 zur Änderung der Richtlinie 2005/35/EG über die Meeresverschmutzung durch Schiffe und die Einführung von Sanktionen für Verstöße (ABlEU 2009 L 280, S. 52 ff). – Siehe ferner Art. 8 und 9 des Rahmenbeschlusses des Rates vom 27.1.2003 über den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht (AblEU 2003 L 29, S. 55 ff); dieser wurde vom EuGH mit Urteil vom 13. September 2005 für nichtig erklärt (C-176/03 = JZ 2006 307 m. Anm. Heger). Dass eine heile Umwelt und namentlich eine gesunde Meeresumwelt ein bedeu168 tendes internationales Rechtsgut darstellt, ergibt sich aus zahlreichen völkerrechtlichen Vereinbarungen der letzten Jahrzehnte, die ihrem Schutz dienen.97 Hier seien genannt: Internationales Übereinkommen zur Verhütung der Verschmutzung der See durch 169 Öl vom 12.5.1954 (BGBl. 1956 II S. 381), revidiert in den Jahren 1962 (BGBl. 1964 II S. 749), 1969 und 1971 (BGBl. 1978 II S. 1493, 1515), mit Gesetzen vom 21.3.1956 (BGBl. II S. 379), 13.9.1961 (BGBl. II S. 1595), 26.6.1964 (BGBl. II S. 749) und 22.12.1978 (BGBl. II S. 1493); 167

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96 Siehe hierzu umfassend Heger S. 15 ff. 97 Zusf. zu den folgenden Abkommen Geiger S. 193 ff; zur Frage, ob und inwieweit die Schädigung der Umwelt ein Verbrechen gegen das Völkerrecht darstellen kann: Tomuschat FS Rudolf, S. 105 ff.

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Vorbemerkungen | Vor §§ 3 ff

Internationales Übereinkommen über Maßnahmen auf hoher See bei Ölverschmutzungs-Unfällen vom 29.11.1969 (BGBl. 1975 II S. 139) mit Gesetz vom 27.1.1975 (BGBl. II S. 137) und Bekanntmachung vom 6.8.1975 (BGBl. II S. 1196); Übereinkommen zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch das Einbringen durch Schiffe und Luftfahrzeuge vom 15.2.1972 (BGBl. 1977 II S. 169) sowie Übereinkommen zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch das Einbringen von Abfällen und anderen Stoffen vom 29.12.1972 (BGBl. 1977 II S. 180) mit G vom 11.2.1977 (BGBl. II S. 165) sowie Bekanntmachungen vom 21.12.1977 (BGBl. II S. 1492) und 22.1.1979 (BGBl. II S. 273); Protokoll zur Änderung des Übereinkommens zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch das Einbringen durch Schiffe und Luftfahrzeuge, vom 2.3.1983 (BGBl. 1986 II S. 999) mit G vom 21.11.1986 (BGBl. II S. 998) und Bekanntmachung vom 20.9.1989 (BGBl. II S. 789); Internationales Abkommen zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch Schiffe vom 2.11.1973 (BGBl. 1982 II S. 4) und Protokoll vom 17.2.1978 (BGBl. 1982 II S. 24) mit G vom 23.12.1981 (BGBl. II S. 2) sowie Bekanntmachungen vom 19.9.1983 (BGBl. II S. 632), 29.3.1989 (BGBl. II S. 398) und 5.1.1994 (BGBl. II S. 252); Bekanntmachung der Neufassung der amtlichen deutschen Übersetzung des internationalen Übereinkommens von 1973 zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch Schiffe und des Protokolls von 1978 zu diesem Übereinkommen, vom 12.3.1996 (BGBl. II S. 399); Verordnung über die Inkraftsetzung von Änderungen internationaler Vorschriften über den Umweltschutz im Seeverkehr (Inkraftsetzungsverordnung Umweltschutz-See) vom 19.6.1996 (BGBl. II S. 977); Übereinkommen zur Verhütung der Meeresverschmutzung vom Lande aus vom 4.6.1974 (BGBl. 1981 II S. 871) mit G vom 18.9.1981 (BGBl. II S. 870) und Bekanntmachung vom 1.4.1982 (BGBl. II S. 445); Protokoll zur Änderung des Übereinkommens, vom 26.3.1986 mit G vom 21.2.1989 (BGBl. II S. 170) und Bekanntmachung vom 30.7.1990 (BGBl. II S. 808). Dieses Übereinkommen wird im Verhältnis zwischen den Vertragsparteien durch das Übereinkommen vom 22.9.1992 zum Schutz der Meeresumwelt des Nordatlantiks ersetzt (BGBl. 1994 II S. 1355, 1360). Übereinkommen zur Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Verschmutzung der Nordsee durch Öl und andere Schadstoffe vom 13.9.1983 (BGBl. 1990 II S. 71), in Kraft seit dem 1.9.1989 (Bek. vom 12.12.1989, BGBl. 1990 II S. 70), mit Änderungen vom 22.9.1989, in Kraft seit dem 1.4.1994 (Bek. vom 17.1.1995, BGBl. II S. 179); Internationales Übereinkommen über die zivilrechtliche Haftung für Ölverschmutzungsschäden (Haftungsübereinkommen von 1984) vom 25.5.1984 (BGBl. 1988 II S. 825) mit G vom 31.8.1988 (BGBl. II S. 705) und Bekanntmachung vom 8.9.1988 (BGBl. II S. 824). Übereinkommen über den Schutz der Meeresumwelt des Ostseegebiets (HelsinkiÜbereinkommen) vom 9.4.1992 (G vom 23.8.1994, BGBl. II S. 1355, 1397); siehe dazu Borchmann NJW 1995 2956, 2962 f. Auch Art. 192 SeeRÜbk. (Rdn. 94) verpflichtet die Staaten (und auch die Bundesrepublik), die Meeresumwelt zu schützen und zu bewahren. Das Übereinkommen überträgt ihnen die Aufgabe, im Einzelnen Vorschriften zu schaffen und durchzusetzen zur Verhütung, Verringerung und Überwachung der Verschmutzung der Meeresumwelt von Land aus, durch Tätigkeiten auf dem Meeresboden, durch Einbringen von Abfällen (dumping) durch Schiffe, aus der Luft und durch die Luft (Art. 207 ff, 213 ff SeeRÜbk.). Dabei sind die Staaten im Rahmen einer komplizierten Zuständigkeitsregelung (Art. 213 ff) auch befugt, Strafverfahren zu führen, dies unter näher bezeichneten Voraussetzungen selbst bei Gesetzesverstößen durch fremde Schiffe. Bestimmte Straftaten gegen die Umwelt (§§ 324, 326, 330 und 330a), begangen im Bereich der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone (§ 5 Rdn. 54 ff), bewertet das Gesetz allerdings so, als wären sie allein gegen inländische staatliche Interessen gerichtet (vgl. auch § 5 487

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Rdn. 147 ff). Doch erweitert Art. 12 AusfGSeeRÜbk. den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts auch auf solche Taten, die von einem Schiff aus in der Nordsee oder Ostsee außerhalb der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone in den eigenen Hoheitsgewässern oder in den Hoheitsgewässern eines anderen Staates begangen werden (siehe § 5 Entstehungsgeschichte). Nicht sämtliche auf europäischer Ebene zum strafrechtlichen Schutz der Umwelt 178 geschaffenen Rechtsinstrumente haben bereits Wirksamkeit für die Bundesrepublik erlangt. Die Convention on the Protection of the Environment through Criminal Law des Europarates vom 4.11.1998 (ETS Nr. 172) ist von Deutschland zwar gezeichnet, aber bislang nicht ratifiziert worden. Insofern haben die Regelungen zur Gerichtsbarkeit (Art. 5) auch keine Wirkungen auf das deutsche Strafanwendungsrecht. Der Rahmenbeschluss des Rates vom 27.1.2003 über den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht (AblEU 2003 L 29, S. 55 ff) wurde vom EuGH mit Urteil vom 13. September 2005 für nichtig erklärt (Rdn. 167), weil der Rat damit in die nach Art. 175 EGV a.F. der Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten übergegriffen habe; die Kommission hatte bereits zuvor einen Vorschlag für eine entsprechende Richtlinie vorgelegt (ABl. 2001 C 180 E, S. 238 ff). Die Richtlinien von 2005 und 2009 selbst enthalten keine besonderen Gerichts179 barkeitsbestimmungen. Sie definieren zunächst das Einleiten von Schadstoffen in Gewässer in bestimmten Fällen als Straftaten. Auf die Richtlinie von 2005 nimmt der Rahmenbeschluss Bezug, indem gem. Art. 4 Abs. 1 die Mitgliedstaaten sicherzustellen haben, dass die Verstöße im Sinne der Richtlinien, darunter auch Beihilfe und Anstiftung (Art. 3) als Straftaten mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden strafrechtlichen Sanktionen bedroht sind. Art. 7 des Rahmenbeschlusses enthält eine verhältnismäßig lange Auflistung von Fällen, in denen die Mitgliedstaaten „soweit völkerrechtlich zulässig“ ihre gerichtliche Zuständigkeit über die in der Richtlinie von 2005 enthaltenen Straftaten zu begründen haben. Hierzu zählen Fälle, in denen die Taten ganz oder teilweise in ihrem Hoheitsgebiet (Art. 7 Abs. 1 Buchst. a), in ihrer ausschließlichen Wirtschaftszone oder in einer gleichwertigen gemäß dem Völkerrecht errichteten Zone (Art. 7 Abs. 1 Buchst. b), auf einem unter ihrer Flagge fahrenden Schiff (Art. 7 Abs. 1 Buchst. c) oder von einem ihrer Staatsangehörigen, soweit die Tat am Tatort strafbar ist oder der Tatort keiner Strafgewalt untersteht (Art. 7 Abs. 1 Buchst. d), begangen werden. Ferner werden die Fälle aufgeführt, in denen die Taten zugunsten einer juristischen Person mit Sitz im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten begangen werden (Art. 7 Abs. 1 Buchst. e) oder außerhalb ihres Hoheitsgebietes, soweit die Tat eine Verschmutzung in ihrem Hoheitsgebiet oder in ihrer Wirtschaftszone verursacht hat oder wahrscheinlich verursachen wird, sofern sich das Schiff freiwillig in einem Hafen oder Vorhafen des Mitgliedstaates befindet (Art. 7 Abs. 1 Buchst. f). Schließlich ist die Gerichtsbarkeit zu begründen, wenn die Straftaten auf hoher See begangen werden, sofern sich das Schiff freiwillig in einem Hafen oder Vorhafen des Mitgliedstaates befindet (Art. 7 Abs. 1 Buchst. g). Gem. Art. 7 Abs. 2 ist die Begründung der gerichtlichen Zuständigkeit in den Fällen des Abs. 1 Buchst. d und e fakultativ. Für die Konkurrenz verschiedener Strafgewalten sieht Art. 7 Abs. 4 vor, dass die zuständigen Mitgliedstaaten sich in angemessener Weise zu koordinieren haben, insbesondere hinsichtlich der Bedingungen der Verfolgung und der Durchführungsvorschriften der Rechtshilfe. Art. 7 Abs. 5 nennt Anknüpfungspunkte, die bei der Koordinierung berücksichtigt werden „sollten“; eine Hierarchisierung der verschiedenen Anknüpfungspunkte lässt sich Abs. 5 nicht entnehmen. 180

n) Straftaten gegen die Sicherheit der zivilen Seeschifffahrt. Einschlägig sind: Übereinkommen zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Werle/Jeßberger

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Seeschifffahrt vom 10.3.1988 (G vom 13.6.1990, BGBl. II S. 494; Bek. vom 16.6.1992, BGBl. II S. 526); Protokoll zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit fester Plattformen, die sich auf dem Festlandsockel befinden, vom 10.3.1988 (G vom 13.6.1990, BGBl. II S. 494, 508; Bek. vom 9.9.1992, BGBl. II S. 1061). Die weltweite Eskalation terroristischer Gewalthandlungen ist einer der Gründe, die zu dem Übereinkommen von 1988 (Seeschifffahrtübereinkommen) und dessen Ergänzung durch das Protokoll geführt haben. Beide sind den Montrealer Vereinbarungen von 1971 und 1988 (Rdn. 113 ff; 116) nachgebildet, die dem Schutz des zivilen Flugverkehrs dienen, und sollen so zur Sicherheit der Schifffahrt und auf See beitragen. Das Übereinkommen gilt für Schiffe, die dem Verkehr dienen (Art. 2 Abs. 1 Buchst. c). „Schiffe“ sind Wasserfahrzeuge jeder Art, die nicht dauerhaft am Meeresboden befestigt sind, einschließlich Unterwassergeräts und anderen schwimmenden Geräts (Art. 1). Das Übereinkommen gilt nur für zivile Schiffe, nicht für Kriegsschiffe (Art. 2 Abs. 1 Buchst. a) und andere Staatsschiffe im engeren Sinne (Art. 2 Abs. 1 Buchst. b). Geschützt wird die internationale Schifffahrt. Das Schiff muss also tatsächlich oder nach Fahrplan in Gewässer einfahren, Gewässer durchfahren oder aus Gewässern kommen, die jenseits der seewärtigen Grenze des Küstenmeeres (§ 3 Rdn. 41 ff) eines einzelnen Staates oder jenseits der seitlichen Grenzen seines Küstenmeers zu angrenzenden Staaten liegen (Art. 4 Abs. 1; Ausnahme: Art. 4 Abs. 2). Die Vertragsstaaten verpflichten sich, folgende Straftaten (einschließlich Versuch und Beteiligung) mit angemessenen Strafen zu bedrohen (Art. 3, 5): Inbesitznahme eines Schiffes oder Ausübung der Herrschaft darüber durch Gewalt, Drohung mit Gewalt oder durch eine andere Form der Einschüchterung (Art. 3 Abs. 1 Buchst. a); Gewalttätigkeit gegen eine Person an Bord eines Schiffes, wenn dadurch dessen sichere Führung gefährdet werden kann (Art. 3 Abs. 1 Buchst. b); Zerstörung eines Schiffes oder Beschädigung von Schiff oder Ladung, wenn dadurch dessen sichere Führung gefährdet werden kann (Art. 3 Abs. 1 Buchst. c); Verbringen einer „Vorrichtung“ oder einer anderen „Sache“ in ein Schiff, die geeignet ist, das Schiff zu zerstören oder so zu beschädigen, dass die sichere Führung gefährdet wird oder werden kann (Art. 3 Abs. 1 Buchst. d); Zerstörung oder sicherheitsgefährdende Beschädigung von Seenavigationseinrichtungen (Art. 3 Abs. 1 Buchst. e); die Abgabe wissentlich unrichtiger Angaben, wenn dadurch die sichere Führung eines Schiffes gefährdet wird (Art. 3 Abs. 1 Buchst. f); Verletzung oder Tötung einer Person im Zusammenhang mit einer der genannten (u.U. nur versuchten) Taten (Art. 3 Abs. 1 Buchst. g). Jeder Vertragsstaat hat eigene Gerichtsbarkeit für die Taten zu begründen, wenn sie begangen werden: gegen ein Schiff oder an Bord eines Schiffes, das seine Flagge führt (Art. 6 Abs. 1 Buchst. a); in seinem Hoheitsgebiet einschließlich seines Küstenmeeres (Art. 6 Abs. 1 Buchst. b; § 3 Rdn. 41 ff); von einem seiner Staatsangehörigen (Art. 6 Abs. 1 Buchst. c); oder wenn sich der Beschuldigte in seinem Hoheitsgebiet befindet und nicht an einen anderen Vertragsstaat ausgeliefert wird, der (nach Art. 6 Abs. 1 oder 2) für die Verfolgung zuständig ist (Art. 6 Abs. 4). Der Vertragsstaat kann eigene Gerichtsbarkeit auch begründen, wenn die Tat von einem Staatenlosen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland begangen wird (Art. 6 Abs. 2 Buchst. a); wenn bei ihrer Begehung ein eigener Staatsangehöriger festgehalten, bedroht, verletzt oder getötet wird (Art. 6 Abs. 2 Buchst. b); oder wenn sie mit dem Ziel begangen wird, den Staat zu einem Tun oder Unterlassen zu nötigen (Art. 6 Abs. 2 Buchst. c). Das Übereinkommen schließt eine weitergehende Strafgerichtsbarkeit nach innerstaatlichem Recht nicht aus (Art. 6 Abs. 5). Art. 10 des Übereinkommens begründet schließlich eine Art. 8 der Geiselnahmekonvention (Rdn. 158) entsprechende Verpflichtung zur Strafverfolgung. 489

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Das Protokoll erstreckt den strafrechtlichen Schutz auf feste Plattformen, die sich auf dem Festlandsockel (§ 5 Rdn. 62 ff) befinden. Da sich der Festlandsockel seewärts an das Küstenmeer (§ 3 Rdn. 41 ff) eines Küstenstaates anschließt (vgl. Art. 76 Abs. 1 SeeRÜbk.), würden feste Plattformen im Küstenmeer oder in den ihm landwärts vorgelagerten inneren Gewässern (§ 3 Rdn. 32) in den Schutz an sich nicht miteinbezogen. Auch auf solche Fälle ist das Protokoll jedoch anzuwenden, wenn der Beschuldigte im Hoheitsgebiet eines anderen als des Vertragsstaates betroffen wird, in dessen inneren Gewässern oder Küstenmeer sich die feste Plattform befindet (Art. 1 Abs. 2). Unter „fester Plattform“ wird eine künstliche Insel, eine Anlage oder ein Bauwerk verstanden, die oder das Zweck der Erforschung oder Ausbeutung von Ressourcen oder zu anderen wirtschaftlichen Zwecken dauerhaft am Meeresboden befestigt ist (Art. 1 Abs. 3). Die Straftaten, um deren internationale Verfolgung es geht (Art. 2 Abs. 1 und 2), entsprechen sinngemäß denen des Art. 3 Abs. 1 Buchst. a bis d und g sowie Art. 3 Abs. 2 des Übereinkommens (Rdn. 183). Die Regelung, die Art. 3 Prot. über die Gerichtsbarkeit der Vertragsstaaten trifft, entspricht der des Art. 6 Abs. 1 Buchst. a und c, Abs. 2 Buchst. a bis c, Abs. 4 und 5 des Übereinkommens (Rdn. 184 f). Übereinkommen und Protokoll sind für die Bundesrepublik Deutschland am 1.3.1992 in Kraft getreten (Bek. vom 16.6.1992 und 9.9.1992, BGBl. II S. 526, 1061). Durch das Zustimmungsgesetz vom 13.6.1990 (BGBl. II S. 494) hat der Gesetzgeber den zivilen Seeverkehr in den Schutzbereich des § 316c einbezogen und § 6 Nr. 3 entsprechend geändert.

o) Delikte gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union. Einschlägig sind: Übereinkommen vom 26.7.1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 1995 C 316, S. 49 ff); G zu dem Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften vom 10.9.1998 (BGBl. II S. 2322); Protokoll zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften vom 27.9.1996 (ABl. 1996 C 313, S. 1); G vom 10.9.1998 zu dem Protokoll vom 27.9.1996 zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (BGBl. II S. 2340); Zweites Protokoll aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften vom 19.6.1997 (BGBl. 2002 II S. 2723); Gesetz zu dem Zweiten Protokoll vom 19.6.1997 zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, vom 21.10.2002 (BGBl. II S. 2722); Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Zweiten Protokolls zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, vom 25.8.2016 (BGBl. II S. 1110); Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5.7.2017 über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtetem Betrug (AblEU L 198 S. 29). Die Europäische Union treibt den strafrechtlichen Schutz ihrer finanziellen Interes193 sen bereits seit langem als ein Ziel von vorrangiger Bedeutung voran. Das Übereinkommen von 1995, das nach Ratifizierung durch sämtliche Mitglied194 staaten am 17.10.2002 in Kraft getreten ist, bezweckte den Schutz des Haushalts der EG gegen Subventions- und Abgabenbetrug. Das Übereinkommen verpflichtete jeden Vertragsstaat, Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (Art. 1 Abs. 1 und 3) in seinem innerstaatlichen Recht als Straftat zu erfassen und sicherzustellen, dass entsprechende Handlungen durch wirksame, angemessene und abschreckende Strafen geahndet werden können (Art. 1 Abs. 2, Art. 2). Das mit dem 192

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Übereinkommen in Kraft getretene Protokoll von 1996 ergänzte das Übereinkommen mit Blick auf Bestechungshandlungen, welche die finanziellen Interessen der EG schädigen können. Das Zweite Protokoll verpflichtete die Mitgliedstaaten, Geldwäschetaten gegen die finanziellen Interessen der EG (Art. 1) unter Strafe zu stellen (Art. 2). Die Bestimmungen zur Gerichtsbarkeit aus Art. 4 und 5 des Übereinkommens sind grundsätzlich entsprechend anwendbar (Art. 12). Der Gesetzgeber hat dem Übereinkommen von 1995 – soweit die Taten nicht bereits durch die §§ 263, 264 a.F. erfasst wurden – durch das EGFinSchG vom 10.9.1998 (BGBl. II S. 2322) Rechnung getragen und § 264 Abs. 7 neu gefasst. Strafanwendungsrechtlich werden entsprechende Taten durch § 6 Nr. 8 erfasst (§ 6 Rdn. 95 ff). Das Protokoll von 1996 ist durch das EuBestG v. 10.9.1998 (BGBl. II S. 2340) umgesetzt und der Anwendungsbereich der §§ 332, 334 bis 336, 338 ausgedehnt worden. Durch das G zur Bekämpfung der Korruption vom 27.10.2014 (Vor § 3 Rdn, 217 ff) wurden die bisherigen strafanwendungsrechtlichen Vorschriften des EUBestG in § 5 Nr. 15 überführt und zugleich erweitert, hierzu § 5 Rdn. 206 f. Die Richtlinie von 2017 ersetzt das Übereinkommen von 1995 sowie die diesbezüglichen Protokolle (Art. 16). Ihre Bestimmungen waren bis Juli 2019 umzusetzen (Art. 17). Die Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten dazu, Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Union (Art. 3) sowie andere gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete Straftaten (Art. 4) unter Strafe zu stellen, insbesondere Taten der Geldwäsche (Art. 4 Abs. 1), Bestechung und Bestechlichkeit (Art. 4 Abs. 2) sowie die zweckwidrige Verwendung von Vermögenswerten (Art. 4 Abs. 3). In Art. 4 Abs. 4 werden die Begriffe „öffentlicher Bediensteter“ und „Unionsbeamter“ definiert. Mit Strafe zu bedrohen sind auch Anstiftung, Beihilfe und Versuch einer Tat nach Art. 3 oder 4 der Richtlinie (Art. 5). Teilweise abweichend von der Regelung im Übereinkommen und den diesbezüglichen Protokollen (hierzu Voraufl. Rdn. 195 f) verpflichtet Art. 11 jeden Mitgliedstaat, seine Gerichtsbarkeit zu begründen, wenn die Tat ganz oder teilweise in seinem Hoheitsgebiet begangen worden ist oder es sich bei dem Straftäter um einen seiner Staatsangehörigen handelt. Grundsätzlich ist die Gerichtsbarkeit auch für Taten von Unionsbeamten i.e.S. (Art. 4 Abs. 4 Buchst. a i) 1. Spstr.) zu begründen (Art. 11 Abs. 2). Jeder Mitgliedstaat kann ferner seine Gerichtsbarkeit auf Auslandstaten dann erstrecken, wenn der gewöhnliche Aufenthalt des Täters in seinem Hoheitsgebiet liegt, die Tat zugunsten einer in seinem Hoheitsgebiet ansässigen juristischen Person begangen wird oder es sich beim Täter um einen seiner Beamten bei der Ausübung seiner Dienstpflichten handelt (Art. 11 Abs. 3).

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p) Grenzüberschreitende organisierte Kriminalität. Einschlägig sind: Überein- 201 kommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität vom 15.11.2000 (BGBl. 2005 II 956), sog. Palermo-Konvention (VNgrenzüOKÜbk.); G zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 15.11.2000 gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität sowie zu den Zusatzprotokollen gegen den Menschenhandel und gegen die Schleusung von Migranten, vom 1.9.2005 (BGBl. II 954); Rahmenbeschluss vom 24.10.2008 zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität (AblEU 2008 L 300, S. 42 ff). Zweck des Übereinkommens von 2000 ist es, die internationale Zusammenarbeit 202 zu verbessern und auf diese Weise die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität wirksamer zu bekämpfen. Gegenstand des Übereinkommens sind gem. Art. 3 Abs. 1 die in den Art. 5, 6, 8 und 203 23 im Einzelnen genannten Straftaten, soweit sie mit einer Höchststrafe von mindestens 491

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vier Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind (Art. 3 Abs. 1 Buchst. b, Art. 2 Buchst. b), grenzüberschreitender Natur sind (Art. 3 Abs. 2) und eine organisierte kriminelle Gruppe (Art. 2 Buchst. a) daran mitwirkt. Die Vertragsstaaten sind verpflichtet, die im Übereinkommen näher geregelten Straftaten der Beteiligung an einer organisierten kriminellen Gruppe (Art. 5), der Geldwäsche (Art. 6), der Korruption (Art. 8) und der Behinderung der Rechtspflege (Art. 23) mit angemessenen Strafen zu bedrohen (Art. 11 Abs. 1). Das Übereinkommen verpflichtet die Vertragsstaaten, ihre Gerichtsbarkeit für die genannten Straftaten zu begründen, wenn diese im Inland (Art. 15 Abs. 1 Buchst. a) oder an Bord eines inländischen Schiffes oder Luftfahrzeugs begangen werden (Art. 15 Abs. 1 Buchst. b). Das Gleiche gilt, wenn der Verdächtige sich im Inland aufhält und nur deshalb nicht ausgeliefert wird, weil er Staatsangehöriger des betreffenden Vertragsstaates ist (Art. 15 Abs. 3); in diesem Fall ist der Vertragsstaat verpflichtet, den Fall auf Ersuchen des Staates, der sich um die Auslieferung bemüht hat, zum Zweck der Strafverfolgung seinen zuständigen Behörden zu unterbreiten. Die Vertragsstaaten können ihre Gerichtsbarkeit ferner begründen, wenn die Tat gegen einen Staatsangehörigen (Art. 15 Abs. 2 Buchst. a), von einem Staatsangehörigen oder von einem Staatenlosen, der seinen dauernden Aufenthalt in dem betreffenden Vertragsstaat hat, begangen wird (Art. 15 Abs. 2 Buchst. b). Das Gleiche gilt bei Auslandstaten nach Art. 5 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1, die im Zusammenhang mit der Begehung eines Verbrechens im Inland stehen (Art. 15 Abs. 2 Buchst. c) sowie dann, wenn der Verdächtige sich im Inland aufhält und – aus einem anderen Grund als wegen seiner Staatsangehörigkeit – nicht ausgeliefert wird (Art. 15 Abs. 4). Im Übereinkommen wird ausdrücklich hervorgehoben, dass die Staaten ihre Verpflichtungen in Einklang mit den Grundsätzen der souveränen Gleichheit, der territorialen Integrität und der Nichteinmischung ausüben (Art. 4 Abs. 1). Erlangt ein Vertragsstaat, der seine Gerichtsbarkeit entsprechend den Bestimmungen des Abkommens ausübt, davon Kenntnis, dass auch in einem oder mehreren anderen Vertragsstaaten Verfolgungsmaßnahmen wegen derselben Tat durchgeführt werden, müssen die zuständigen Verfolgungsbehörden, soweit dies angemessen ist, darüber beraten, wie ihre Maßnahmen zu koordinieren sind (Art. 15 Abs. 5). Sachlichrechtlich werden die Taten vor allem durch die §§ 129, 257, 261, 331 bis 334 sowie durch die Bestimmungen des Kreditwesengesetzes und des Geldwäschegesetzes erfasst. Strafanwendungsrechtlich kann Deutschland seiner Verpflichtung durch die §§ 3 bis 7 entsprechen (vgl. auch BTDrucks. 15/5150 S. 80). Der Rahmenbeschluss, der die Gemeinsame Maßnahme vom 21.12.1998 betreffend die Strafbarkeit der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (ABl. 1998 L 351, S. 1 f) ersetzt (Art. 9), zielt auf eine wirksamere Bekämpfung krimineller Vereinigungen innerhalb der Europäischen Union. Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, die in Art. 2 Buchst. a und b beschriebenen Verhaltensweisen im Zusammenhang mit der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung als Straftatbestände zu bewerten und mit Freiheitsstrafe zu bedrohen (Art. 3). Nach Art. 7 Abs. 1 Satz 1 haben die Mitgliedstaaten ihre Gerichtsbarkeit jedenfalls dann zu begründen, wenn die in Art. 2 genannten Straftaten ganz oder teilweise in ihrem Hoheitsgebiet begangen werden, unabhängig von dem Ort, an dem die kriminelle Vereinigung ihre Operationsbasis hat oder ihre kriminellen Tätigkeiten ausübt (Abs. 1 Satz 1 Buchst. a). Dies gilt auch dann, wenn die Straftaten von einem ihrer Staatsangehörigen (Abs. 1 Satz 1 Buchst. b) oder zugunsten einer in ihrem Hoheitsgebiet niedergelassenen juristischen Person (Abs. 1 Satz 1 Buchst. c) begangen werden. Begehen die Täter die relevanten Handlungen außerhalb des Hoheitsgebietes eines Mitgliedstaates, kann dieser gem. Abs. 1 Satz 2 beschließen, dass er die Gerichtsbarkeitsbestimmungen nach Abs. 1 Satz 1 Werle/Jeßberger

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Buchst. b und c nicht oder nur unter bestimmten Umständen anwendet. Werden die in Abs. 2 genannten Straftaten von einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates außerhalb seines Hoheitsgebietes begangen und liefert dieser Mitgliedstaat eigene Staatsangehörige nicht aus, ist er gemäß Art. 7 Abs. 3 dazu verpflichtet, seine gerichtliche Zuständigkeit in Bezug auf diese Straftaten zu begründen. Steht mehreren Mitgliedstaaten die Gerichtsbarkeit zu und ist jeder von ihnen berechtigt, die Straftat aufgrund derselben Tataschen wirksam zu verfolgen, sieht Art. 7 Abs. 2 vor, dass die betreffenden Mitgliedstaaten zusammenarbeiten, um darüber zu entscheiden, welcher von ihnen die Straftäter verfolgt. Dabei soll insbesondere den Umständen Rechnung getragen werden, wo die Straftat begangen wurde, welche Staatsangehörigkeit Täter und Opfer haben und wo der Täter ergriffen wurde. q) Schleuserkriminalität. Einschlägig sind: Richtlinie vom 28.11.2002 zur Definition der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt (ABl. 2002 L 328, S. 17 f); Rahmenbeschluss vom 28.11.2002 betreffend die Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens für die Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt (ABl. 2002 L 328, S. 1 ff). Die Richtlinie von 2002 definiert den Tatbestand der Unterstützung (einschl. Teilnahme und Versuch) bei der unerlaubten Ein- und Durchreise sowie beim unerlaubten Aufenthalt und legt fest, dass jeder Mitgliedstaat einschlägige Handlungen in seinem innerstaatlichen Recht mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Sanktionen zu ahnden hat (Art. 1, 3). Der Rahmenbeschluss knüpft an die Definition der Richtlinie an und spezifiziert die Bestimmungen mit Blick auf Sanktionen und Gerichtsbarkeit. Nach Art. 4 muss jeder Mitgliedstaat seine Gerichtsbarkeit begründen, wenn die Tat ganz oder teilweise in seinem Hoheitsgebiet begangen wird (Art. 4 Abs. 1 Buchst. a). Liefert ein Mitgliedstaat eigene Staatsangehörige nicht aus, muss er seine Gerichtsbarkeit auch für Auslandstaten von Inländern begründen und seine Behörden mit den Fällen befassen, in denen seine Staatsangehörigen beschuldigt werden, in einem anderen Mitgliedstaat eine einschlägige Straftat begangen zu haben, damit gegebenenfalls eine Verfolgung durchgeführt werden kann (Art. 5 Abs. 1 Buchst. a und b). Fakultativ (Art. 4 Abs. 2) ist die Begründung eigener Gerichtsbarkeit über Auslandstaten eigener Staatsangehöriger (Art. 4 Abs. 1 Buchst.b) sowie über Taten zu Gunsten einer im Inland niedergelassenen juristischen Person (Art. 4 Abs. 1 Buchst. c). Zur Strafbarkeit des Einschleusens von Ausländern nach deutschem Recht vgl. § 96 AufenthG; die Verpflichtungen aus dem Rahmenbeschluss werden durch Anwendung der allgemeinen Bestimmungen des Strafanwendungsrechts, insbesondere der §§ 3 und 7, erfüllt.

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r) Korruption. Einschlägig sind: Übereinkommen vom 17.12.1997 über die Bekämp- 213 fung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr (Abdruck BRDrucks. 269/98); G zu dem Übereinkommen vom 17.12.1997 über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr, vom 10.9.1998 (BGBl. II 2327); Rahmenbeschluss des Rates vom 22.7.2003 zur Bekämpfung der Bestechung im privaten Sektor (AblEU 2003 L 192, S. 54 ff); Strafrechtsübereinkommen des Europarates über Korruption vom 27.1.1999 (BGBl. 2016 II 1323); Zusatzprotokoll zu dem Strafrechtsübereinkommen über Korruption, vom 15.5.2003 (BGBl. 2016 II 1341); G zu dem Strafrechtsübereinkommen des Europarates und dem Zusatzprotokoll zum Strafrechtsübereinkommen des Europarates über Korruption, vom 14.12.2016 (BGBl. II 1322); Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Strafrechts493

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übereinkommens des Europarates über Korruption sowie des Zusatzprotokolls zum Strafrechtsübereinkommen des Europarats über Korruption, vom 22.5.2017 (BGBl. II 696); Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Korruption vom 31.10.2003 (BGBl. 2014 II 763); G zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Korruption vom 31.10.2003, vom 27.10.2014 (BGBl. II 762); Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Übereinkommens, vom 8.1.2015 (BGBl. II 140). Das Übereinkommen von 1997 verpflichtet die Vertragsstaaten, die Bestechung von Amtsträgern (Art. 1 Abs. 4 Buchst. a) ausländischer Staaten, einschließlich Teilnahme und Versuch, mit wirksamen und angemessenen Strafen zu bedrohen (Art. 1 und 3). Aus Art. 4 ergibt sich die Pflicht, eigene Gerichtsbarkeit für solche Straftaten zu begründen, wenn diese ganz oder teilweise im Hoheitsgebiet des betreffenden Vertragsstaates begangen werden (Art. 4 Abs. 1) und – soweit nach innerstaatlichem Recht die Gerichtsbarkeit für Auslandstaten eigener Staatsangehöriger begründet ist – diese Gerichtsbarkeit auch auf die Bestechung ausländischer Amtsträger im Ausland durch eigene Staatsangehörige zu erstrecken. Das Strafrechtsübereinkommen von 1999 verpflichtet die Vertragsparteien, die in Art. 2 bis 14 benannten Handlungen und Unterlassungen im Zusammenhang mit Korruption sowie die Beihilfe oder Anstiftung zu deren Begehung (Art. 15) als Straftaten zu umschreiben und mit wirksamen, verhältnismäßigen und abschreckenden Sanktionen zu bedrohen (Art. 19). Ihre Gerichtsbarkeit haben die Vertragsparteien gem. Art. 17 zu begründen, wenn die Straftat ganz oder teilweise in ihren Hoheitsgebieten begangen wird. Eine fakultative (Art. 17 Abs. 2) Begründung der Gerichtsbarkeit ist darüber hinaus vorgesehen, wenn der Straftäter Staatsangehöriger, Amtsträger oder Mitglied einer inländischen öffentlich-rechtlichen Vertretungskörperschaft der betreffenden Vertragspartei ist (Art. 17 Abs. 1 Buchst. b) oder wenn an der Straftat ein Amtsträger oder ein Mitglied einer inländischen öffentlich-rechtlichen Vertretungskörperschaft der betreffenden Vertragspartei oder eine der in Art. 9 bis 11 des Übereinkommens genannte Person beteiligt ist, die zugleich Staatsangehörige der Vertragspartei ist (Art. 17 Abs. 1 Buchst. c). Das Zusatzprotokoll von 2003 enthält in Art. 2 bis 6 weitere Handlungen, die die Vertragsparteien als Straftaten zu umschreiben. Zu diesen zählen die Bestechung und Bestechlichkeit inländischer wie ausländischer Schiedsrichter (Art. 2 bis 4) sowie inländischer (Art. 5) und ausländischer (Art. 6) Schöffen. Der Rahmenbeschluss von 2003 verpflichtet die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, Bestechung und Bestechlichkeit im privaten Sektor (Art. 2; Teilnahme: Art. 3) für strafbar zu erklären und sicherzustellen, dass entsprechende Handlungen mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Strafen geahndet werden können (Art. 4). Nach Art. 7 muss jeder Mitgliedstaat seine Gerichtsbarkeit begründen, wenn die Tat ganz oder teilweise in seinem Hoheitsgebiet begangen wird (Art. 7 Abs. 1 Buchst. a). Übergibt ein Mitgliedstaat eigene Staatsangehörige (noch) nicht auf Grundlage des Europäischen Haftbefehls, muss er seine Gerichtsbarkeit auch für Auslandstaten von Inländern begründen (Art. 7 Abs. 3). Fakultativ (Art. 7 Abs. 2) ist die Begründung eigener Gerichtsbarkeit über Auslandstaten eigener Staatsangehöriger (Art. 7 Abs. 1 Buchst. b) sowie über Taten zu Gunsten einer im Inland niedergelassenen juristischen Person (Art. 7 Abs. 1 Buchst. c) vorgesehen. Bestechungshandlungen hat auch das Protokoll zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften vom 27.9.1996 (ABl. 1996 C 313, S. 1) zum Gegenstand; siehe hierzu bereits Rdn. 194 f. Nach dem Übereinkommen von 2003 verpflichten sich die Vertragsstaaten zur Kriminalisierung und Verfolgung einer Vielzahl von Handlungen, die im Zusammenhang mit Korruption stehen (Art. 15 bis 27). Hierzu zählen u.a. die Bestechung und BeWerle/Jeßberger

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stechlichkeit inländischer (Art. 15) und ausländischer (Art. 16) Amtsträger, die unerlaubte Bereicherung (Art. 20) und die Veruntreuung von Vermögensgegenständen im privaten Sektor (Art. 22). Auch Beteiligung und Versuch sind zu sanktionieren (Art. 27). Die Vertragsstaaten haben ihre Gerichtsbarkeit zu begründen, wenn die Straftaten in ihrem Hoheitsgebiet (Art. 42 Abs. 1 Buchst. a) oder an Bord eines Schiffes, das zur Tatzeit ihre Flagge führt, oder eines Luftfahrzeuges, das zur Tatzeit nach ihrem Recht eingetragen ist, (Art. 42 Abs. 1 Buchst. b) begangen werden. Ergänzt werden die genannten Bestimmungen durch weitere fakultative Regelungen: vorbehaltlich des Art. 4 (Schutz der Souveränität) kann die Gerichtsbarkeit u.a. dann begründet werden, wenn die Straftat gegen einen Staatsangehörigen (Art. 42 Abs. 2 Buchst. a) oder von einem Staatsangehörigen bzw. Staatenlosen, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Vertragsstaates hat, (Art. 42 Abs. 2 Buchst. b) begangen wird. Gleiches gilt, wenn eine Tat im Sinne des Art. 23 Abs. 1 Buchst. b Ziffer ii im Ausland in der Absicht begangen wird, eine Tat im Sinne des Art. 23 Abs. 1 Buchst. a Ziffern i oder ii oder Buchst. b Ziffer i im Inland zu begehen. (Art. 42 Abs. 2 Buchst. d). Befindet sich die verdächtige Person im Hoheitsgebiet des Vertragsstaates und liefert er sie nur deshalb nicht aus, weil sie seine Staatsangehörige ist, hat er gem. Art. 42 Abs. 3 seine Gerichtsbarkeit zu begründen. Eine fakultative Begründung der Zuständigkeit ist in diesen Fällen gem. Art. 42 Abs. 4 auch dann möglich, wenn es sich nicht um einen Staatsangehörigen des Vertragsstaates handelt. Führen mehrere Vertragsstaaten Ermittlungen oder Gerichtsverfahren in Bezug auf dasselbe Verhalten durch, haben sie gem. Art. 42 Abs. 5 ihre Maßnahmen abzustimmen. Vor dem Hintergrund des Übereinkommens von 1997 hat das IntBestG vom 10.9.1998 219 (BGBl. II S. 2327) den Anwendungsbereich der §§ 332 ff auf Amtsträger ausländischer Staaten und internationaler Organisationen ausgedehnt; vergleichbare Regelungen fanden sich im EuBestG. Die Regelungen sind inzwischen aus dem Nebenstrafrecht in das StGB überführt, vgl. § 335a, siehe auch § 11 Abs. 2 Nr. 2a sowie Rdn. 195, Voraufl. § 5 Rdn. 192 ff. s) Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Einschlägig ist der Rahmenbeschluss 220 des Rates der Europäischen Union vom 28.11.2008 zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (AbLEU 2008 L 328, S. 55 ff). Nach dem Rahmenbeschluss sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die in Art. 1 Abs. 1 221 Buchst. a bis d genannten rassistischen und fremdenfeindlichen Handlungen unter Strafe zu stellen und mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden strafrechtlichen Sanktionen zu bedrohen (Art. 3). Bezogen auf die überwiegende Anzahl von Handlungen sind auch Anstiftung und Beihilfe unter Strafe zu stellen (Art. 2). Nach Art. 9 hat jeder Mitgliedstaat seine Gerichtsbarkeit über die Straftaten für den Fall zu begründen, dass diese ganz oder teilweise in seinem Hoheitsgebiet (Abs. 1 Buchst. a) begangen werden. Werden die Straftaten von einem seiner Staatsangehörigen (Abs. 1 Buchst. b) oder zugunsten einer juristischen Person, deren Hauptsitz sich im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates befindet (Abs. 1 Buchst. c), begangen, ist die Begründung der Gerichtsbarkeit fakultativ, wie sich aus Art. 9 Abs. 3 ergibt. Werden die Handlungen im Rahmen eines Informationssystems begangen, ist bei der Begründung der gerichtlichen Zuständigkeit im Sinne des Abs. 1 Buchst. a nach Abs. 2 allein ausreichend, dass entweder der Täter bei Begehung der Handlungen im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates physisch anwesend ist oder die Handlungen Inhalte betreffen, die sich in einem im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates betriebenen Informationssystem befinden. Die genannten Voraussetzungen müssen daher nicht kumulativ vorliegen. 495

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t) Computerkriminalität. Einschlägig sind: Übereinkommen des Europarates über Computerkriminalität vom 23.11.2001 (BGBl. 2008 II S. 1243), s.g. Cybercrime Convention; G zu dem Übereinkommen des Europarates vom 23.11.2001 über Computerkriminalität, vom 5.11.2008 (BGBl. II S. 1242); Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Übereinkommens, vom 16.2.2010 (BGBl. II S. 218); Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über Computerkriminalität betreffend die Kriminalisierung mittels Computersystemen begangener Handlungen rassistischer und fremdenfeindlicher Art, vom 28.1.2003 (BGBl. 2011 II S. 291); G zu dem Zusatzprotokoll, vom 16.3.2011 (BGBl. II S. 290); Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Zusatzprotokolls, vom 16.8.2011 (BGBl. II S. 843); Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates der Europäischen Union vom 12.8.2013 über Angriffe auf Informationssysteme und zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2005/222/JI des Rates der Europäischen Union (AblEU 2013 L 218, S. 8 ff). Nach dem Übereinkommen des Europarates sind die Vertragsstaaten gehalten, 223 verschiedene Handlungen als Straftaten zu umschreiben und gem. Art. 13 mit wirksamen, verhältnismäßigen und abschreckenden Sanktionen zu bedrohen. Dabei handelt es sich um Straftaten gegen die Vertraulichkeit, Unversehrtheit und Verfügbarkeit von Computerdaten und -systemen (Art. 2 bis 6), computerbezogene (Art. 7, 8) und inhaltsbezogene Straftaten (Art. 9) sowie Straftaten im Zusammenhang mit Verletzungen des Urheberrechts und verwandter Schutzrechte (Art. 10). In den meisten Fällen sind auch Versuch, Anstiftung und Beihilfe zu erfassen (Art. 11). Die Vertragsstaaten verpflichten sich, ihre Gerichtsbarkeit über die genannten Straftaten zu begründen, wenn diese auf ihrem Hoheitsgebiet begangen werden (Art. 22 Abs. 1 Buchst. a). Die in Art. 22 Abs. 1 Buchst. b und c genannten Gerichtsbarkeitsbestimmungen in den Fällen, in denen die Straftat an Bord eines Schiffes, das die Flagge des Vertragsstaates führt oder an Bord eines Luftfahrzeuges, das nach dem Recht des Vertragsstaates eingetragen ist, begangen wird, sind gem. Art. 22 Abs. 2 fakultativ. Die Vertragsstaaten können darüber hinaus ihre Gerichtsbarkeit dann begründen, wenn die Straftat von einem Staatsangehörigen begangen wird, sofern die Straftat nach dem am Tatort geltenden Recht strafbar ist oder außerhalb des Hoheitsgebietes eines Staates begangen wird (Art. 22 Abs. 1 Buchst. d, Abs. 2). In bestimmten, in Art. 24 Abs. 1 beschriebenen Fällen haben die Vertragsparteien ihre Gerichtsbarkeit zu begründen, wenn sich eine verdächtige Person in ihrem Hoheitsgebiet befindet und sie sie nur deshalb nicht ausliefern, weil sie ihre Staatsangehörige ist, obwohl ein Auslieferungsersuchen gestellt worden ist (Art. 22 Abs. 3). Wird die Gerichtsbarkeit von mehreren Vertragsparteien geltend gemacht, sieht Art. 22 Abs. 5 eine gegenseitige Konsultationspflicht vor, um die für die Strafverfolgung „geeignetste“ Gerichtsbarkeit zu bestimmen. Das Zusatzprotokoll ergänzt das Übereinkommen des Europarates um weitere zu 224 sanktionierende Handlungen. Hierzu zählen die Verbreitung rassistischen und fremdenfeindlichen Materials über Computersysteme (Art. 3), rassistische und fremdenfeindlich motivierte Drohungen (Art. 4) und Beleidigungen (Art. 5) sowie die Leugnung, grobe Verharmlosung, Billigung oder Rechtfertigung von Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 6). Nach Art. 8 Abs. 1 finden die in Art. 22 des Übereinkommens normierten Gerichtbarkeitsbestimmungen entsprechend Anwendung. Mit der Richtlinie werden Mindestanforderungen für die Regelung von Straftaten 225 und Strafen bei Angriffen auf Informationssysteme festgelegt (Art. 1). Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, den rechtswidrigen Zugang zu Informationssystemen (Art. 3), den rechtswidrigen Systemeingriff (Art. 4) sowie den rechtswidrigen Eingriff in (Art. 5) und das rechtswidrige Abfangen (Art. 6) von Daten jedenfalls dann unter Strafe zu stellen, wenn kein leichter Fall vorliegt. Gem. Art. 8 sind die Mitgliedstaaten gehalten sicherzustellen, dass die Anstiftung oder Beihilfe zur Begehung einer Straftat im Sinne der Arti222

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kel 3 bis 7 sowie der Versuch der Begehung einer Straftat im Sinne der Art. 5 und 6 unter Strafe gestellt werden. Die Delikte sind mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Strafen zu ahnden (Art. 9 Abs. 2). Ihre gerichtliche Zuständigkeit haben die Mitgliedstaaten zu begründen, wenn die Straftaten ganz oder teilweise in ihrem Hoheitsgebiet (Art. 12 Abs. 1 Buchst. a) begangen werden. Die gerichtliche Zuständigkeit ist ferner dann zu begründen, wenn der Täter ein Staatsangehöriger ist, zumindest in den Fällen, in denen die Tat an dem Ort, an dem sie begangen wurde, eine Straftat darstellt (Art. 12 Abs. 1 Buchst. b). In den Fällen des Art. 12 Abs. 1 Buchst. a muss gemäß Abs. 2 für die Begründung der Zuständigkeit ausreichend sein, dass entweder der Täter sich bei Begehung der Tat im Hoheitsgebiet des jeweiligen Mitgliedstaates aufhält oder sich die Straftat gegen ein Informationssystem im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates richtet; es darf keine notwendige Bedingung sein, dass beide Voraussetzungen kumulativ vorliegen. Werden die Straftaten außerhalb des Hoheitsgebietes eines Mitgliedstaates begangen, sieht Art. 12 Abs. 3 eine fakultative Begründung der gerichtlichen Zuständigkeit vor, wenn der gewöhnliche Aufenthalt des Straftäters im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates liegt oder die Straftat zugunsten einer im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates niedergelassenen juristischen Person begangen wird. u) Sexuelle Ausbeutung und Missbrauch von Kindern. Einschlägig sind: Über- 226 einkommen des Europarates vom 25.10.2007 zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch (BGBl. 2015 II S. 27); G zu dem Übereinkommen des Europarates vom 25.10.2007, vom 21.1.2015 (BGBl. II S. 26); Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Übereinkommens des Europarates zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch, vom 16.2.2016 (BGBl. II S. 315); Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates der Europäischen Union vom 13.12.2011 zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2004/68/JI des Rates (AblEU 2011 L 335, S. 1 ff). Das Übereinkommen des Europarates hat den Schutz von Kindern vor sexueller 227 Ausbeutung und sexuellem Missbrauch zum Ziel. Zur Erreichung dieses Ziels verpflichten sich die Vertragsstaaten, den sexuellen Missbrauch von Kindern (Art. 18), bestimmte Handlungen im Zusammenhang mit Kinderprostitution (Art. 19) und im Zusammenhang mit Kinderpornografie (Art. 20, 21) als Straftaten zu umschreiben und mit Sanktionen zu bedrohen (Art. 27 Abs. 1). Gleiches gilt für das unsittliche Einwirken auf Kinder (Art. 22) sowie die Kontaktanbahnung zu Kindern zu sexuellen Zwecken (Art. 23). Auch die Beteiligung an den genannten Delikten sowie deren versuchte Begehung sind nach Maßgabe von Abs. 3 unter Strafe zu stellen (Art. 24). Umfangreiche Regelungen zur gerichtlichen Zuständigkeit enthält Art. 25 des Übereinkommens. Art. 25 Abs. 1 sieht zunächst vor, dass die Vertragsstaaten für die genannten Straftaten ihre Gerichtsbarkeit begründen, wenn die Straftat in ihrem Hoheitsgebiet (Art. 25 Abs. 1 Buchst. a), an Bord eines Schiffes, das ihre Flagge führt (Art. 25 Abs. 1 Buchst. b), an Bord eines Luftfahrzeuges, das nach dem Recht der Vertragsstaaten eingetragen ist (Art. 25 Abs. 1 Buchst. c), oder von einem ihrer Staatsangehörgen (Art. 25 Abs. 1 Buchst. d) begangen wird. Gem. Art. 25 Abs. 2 haben die Vertragsstaaten ihre Gerichtsbarkeit ferner dann zu begründen, wenn die Straftat gegen einen ihrer Staatsangehörigen oder eine Person, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in ihrem Hoheitsgebiet hat, begangen wird. Wird die Straftat von einer Person begangen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaates hat, so kann dieser – fakultatitv – gem. Art. 25 Abs. 1 Buchst. e i.V.m. Abs. 3 ebenfalls seine Gerichtsbarkeit begründen. Hat der Staatsangehörige eines Vertragsstaates bestimmte Straftaten (solche im Sinne der Art. 18, 19, 20 Abs. 1 Buchst. a und 21 Abs. 1 497

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Buchst. a und b, für mögliche Ausnahmen siehe Abs. 5) begangen, darf die Begründung der gerichtlichen Zuständigkeit weder davon abhängen, dass die Handlungen am Tatort strafbar sind (Art. 25 Abs. 4), noch davon, dass der Strafverfolgung eine Anzeige des Opfers oder des Staates des Tatortes vorausgegangen ist (Art. 25 Abs. 6). Letzteres gilt auch in Fällen des Art. 21 Abs. 1 Buchst. b und c und auch dann, wenn es sich nicht um einen Staatsangehörigen handelt, sondern um eine Person, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Staates hat. Befindet sich der Verdächtige im Hoheitsgebiet eines Vertragsstaates und liefert dieser den Verdächtigen nur deshalb nicht aus, weil er ein Staatsangehöriger des Staates ist, hat dieser ebenfalls seine Gerichtsbarkeit zu begründen (Art. 25 Abs. 7). Wird die Gerichtsbarkeit von mehreren Vertragsstaaten geltend gemacht, sieht Art. 25 Abs. 8 eine gegenseitige Konsultationspflicht vor, um die „am besten geeignete Gerichtsbarkeit“ zu bestimmen. Auch die Richtlinie zielt auf die Vereinheitlichung von Mindestvorschriften zur De228 finition von Straftaten und Sanktionen auf dem Gebiet des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern, der Kinderpornografie und der Kontaktaufnahme zu Kindern für sexuelle Zwecke (Art. 1). Daher sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die im Zusammenhang mit den genannten Deliktsbereichen stehenden Handlungen (einschließlich Beteiligung sowie in den überwiegenden Fällen auch Versuch, Art. 7), die in Art. 3 bis 6 näher beschrieben sind, unter Strafe zu stellen. Sofern die Straftaten ganz oder teilweise in ihrem Hoheitsgebiet begangen werden oder es sich bei dem Täter um einen ihrer Staatsangehörigen handelt, haben die Mitgliedstaaten gem. Art. 17 Abs. 1 Buchst. a und b ihr gerichtliche Zuständigkeit zu begründen. Wird die Straftat von einem Staatsangehörigen außerhalb des eigenen Hoheitsgebietes begangen, darf die Begründung der gerichtlichen Zuständigkeit nicht von einer vorausgegangenen Anzeige des Opfers oder des Staates, in dem sich der Ort der Begehung der Straftat befindet, abhängen (Art. 17 Abs. 5). Die gerichtliche Zuständigkeit kann ein Mitgliedstaat darüber hinaus dann begründen, wenn es sich bei dem Opfer der Straftat um einen seiner Staatsangehörigen handelt oder der gewöhnliche Aufenthalt des Opfers in seinem Hoheitsgebiet liegt (Art. 17 Abs. 2 Buchst. a), wenn die Straftat zugunsten einer in seinem Hoheitsgebiet niedergelassenen juristischen Person begangen wird (Art. 17 Abs. 2 Buchst. b) oder sich der gewöhnliche Aufenthalt des Straftäters in seinem Hoheitsgebiet befindet (Art. 17 Abs. 2 Buchst. c). Wurden die Straftaten im Sinne der Art. 3, 5, 6 und 7 mittels Informations- und Kommunikationstechnologie verübt, darf die Begründung der gerichtlichen Zuständigkeit nicht davon abhängen, dass sich die Technologie im jeweiligen Hoheitsgebiet befindet, wenn der Zugriff auf die Technologie aus dem Hoheitsgebiet eben jenes Mitgliedstaates erfolgt (Art. 17 Abs. 3); in anderen Fällen der Art. 3 bis 7, die in Abs. 4 näher benannt sind, darf die Begründung der gerichtlichen Zuständigkeit nicht an die Bedingung geknüpft sein, dass die Straftat an dem Ort, an dem sie begangen wurde, eine strafbare Handlung darstellt, wenn sie außerhalb des jeweiligen Hoheitsgebietes begangen wird (Art. 17 Abs. 4). v) Verschwindenlassen. Einschlägig sind: Internationales Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen vom 20.12.2006 (BGBl. 2009 II S. 933); G zu dem Internationalen Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen, vom 30.7.2009 (BGBl. II S. 932); Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Übereinkommens vom 20.12.2006, vom 20.5.2011 (BGBl. II S. 639). Das Übereinkommen verpflichtet die Vertragsstaaten sicherzustellen, dass das in 230 Art. 2 definierte Verschwindenlassen nach ihrem Strafrecht eine Straftat darstellt (Art. 4). Die Vertragsstaaten haben das Verschwindenlassen mit angemessenen Strafen zu bedrohen, welche die „außerordentliche Schwere“ der Straftat berücksichtigen (Art. 7). 229

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Vorbemerkungen | Vor §§ 3 ff

Gem. Art. 9 Abs. 1 Buchst. a ist jeder Vertragsstaat gehalten, seine gerichtliche Zuständigkeit zu begründen, wenn die Straftat in einem der Hoheitsgewalt des betreffenden Staates unterstehenden Gebiet oder an Bord eines in diesem Staat eingetragenene Schiffes oder Luftfahrzeuges begangen wird. Gleiches gilt für die Fälle, dass entweder der Verdächtige (Art. 9 Abs. 1 Buchst. b) oder die verschwundene Person Angehöriger (Art. 9 Abs. 1 Buchst. c) des Vertragsstaates ist und der betreffende Staat die Begründung seiner Zuständigkeit in den Fällen des Art. 9 Abs. 1 Buchst. c für angebracht hält. Gem. Art. 9 Abs. 2 hat jeder Vertragsstaat auch dann seine gerichtliche Zuständigkeit zu begründen, wenn sich der Verdächtige in einem der Hoheitsgewalt des betreffenden Staates unterstehenden Gebiet befindet und dieser ihn nicht im Einklang mit seinen internationalen Verpflichtungen an einen anderen Staat ausliefert oder übergibt oder an ein internationales Strafgericht überstellt, dessen Gerichtsbarkeit er anerkennt. w) Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt. Einschlägig sind: Übereinkom- 231 men des Europarats vom 11.5.2011 zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, sog. Istanbul-Konvention (BGBl. 2017 II S. 1027); G zu dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, vom 17.7.2017 (BGBl. II S. 1026). Nach dem Übereinkommen verpflichten sich die Vertragsparteien, die in Art. 33 bis 232 41 umschriebenen Straftaten mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Sanktionen zu bedrohen (Art. 45). Ihre Gerichtsbarkeit über die benannten Straftaten haben die Vertragsparteien zu begründen, wenn diese auf ihrem Hoheitsgebiet (Art. 44 Abs. 1 Buchst. a) oder an Bord eines Schiffes, das ihre Flagge führt (Art. 44 Abs. 1 Buchst. b) oder an Bord eines Luftfahrzeuges, das nach dem Recht der jeweiligen Vertragspartei eingetragen ist (Art. 44 Abs. 1 Buchst. c), begangen wird. Gleiches gilt, wenn die Straftat von einem ihrer Staatsangehörigen (Art. 44 Abs. 1 Buchst. d) oder einer Person, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in ihrem Hoheitsgebiet hat (Art. 44 Abs. 1 Buchst. e), begangen wird oder sich die Straftat gegen eine solche Person oder einen Staatsangehörigen richtet (Art. 44 Abs. 2). Zur Verfolgung der nach Art. 36 (Sexuelle Gewalt, einschließlich Vergewaltigung), 37 (Zwangsheirat), 38 (Verstümmelung weiblicher Genitalien) und 39 (Zwangsabtreibung und Zwangssterilisierung) umschriebenen Straftaten haben die Vertragsparteien sicherzustellen, dass die Begründung ihrer Gerichtsbarkeit nicht davon abhängig ist, dass die Handlungen in dem Hoheitsgebiet, in dem sie begangen wurden, strafbar sind (Art. 44 Abs. 3). In Bezug auf Art. 44 Abs. 1 Buchst. d und e darf die Begründung der Gerichtsbarkeit gem. Art. 44 Abs. 4 nicht davon abhängen, dass das Opfer die Straftat gemeldet hat oder ein Strafverfahren durch den Staat, in dem die Straftat begangen wurde, eingeleitet wurde. Für Fälle konkurrierender Strafgewalt sieht Art. 44 Abs. 6 vor, dass sich die beteiligten Vertragsparteien einander konsultieren, „um die für die Strafverfolgung am besten geeignete Gerichtsbarkeit zu bestimmen“. x) Marktmanipulation. Einschlägig ist: Richtlinie vom 16.4.2014 über strafrechtli- 233 che Sanktionen bei Marktmanipulation (Marktmissbrauchsrichtlinie) (AblEU 2014 L 173, S. 179 ff). Die Richtlinie vom 16.4.2014 hat die Sicherung der Integrität der Finanzmärkte in 234 der Europäischen Union und die Stärkung des Anlegerschutzes und des Vertrauens der Anleger in diese Märkte zum Ziel (Art. 1 Abs. 1). Hierzu sind die Mitgliedstaaten gehalten, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass jedenfalls in schwerwiegenden Fällen und bei vorsätzlicher Begehungsweise Insidergeschäfte, s.g. Empfehlungen an Dritte und die Anstiftung Dritter zum Tätigen von Insider-Geschäften, strafbar sind (Art. 3). Auch die unrechtmäßige Offenlegung von Insider-Informationen 499

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(Art. 4) und die Marktmanipulation (Art. 5) sind unter Strafe zu stellen. In einigen Fällen sind darüber hinaus Versuch und Beteiligung nach nationalem Recht als Straftaten zu umschreiben (Art. 7). Ihre gerichtliche Zuständigkeit haben die Mitgliedstaaten in den Fällen zu begründen, in denen die Straftaten ganz oder teilweise in ihrem Hoheitsgebiet (Art. 10 Abs. 1 Buchst. a) oder von einem ihrer Staatsangehörigen begangen werden, zumindest dann, wenn die Tat dort, wo sie begangen wurde, eine Straftat darstellt (Art. 10 Abs. 1 Buchst. b). Fakultativ ist die Begründung der Zuständigkeit für Straftaten im Sinne der Richtlinie möglich, wenn der gewöhnliche Aufenthalt des Straftäters im Hoheitsgebiet des jeweiligen Mitgliedstaates liegt (Art. 10 Abs. 2 Buchst. a) oder die Straftat zugunsten einer im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates ansässigen juristischen Person begangen wird (Art. 10 Abs. 2 Buchst. b). IV. Die völkerrechtlichen Geltungsprinzipien Die völkerrechtlichen Geltungsprinzipien bezeichnen den Bereich, in dem das Völkerrecht die Ausübung von Strafgewalt erlaubt (siehe auch Rdn. 26).98 Insofern kommt ihnen eine Schlüsselrolle bei der Bestimmung des völkerrechtlichen Rahmens staatlicher Strafgewalt zu. Je nach Sichtweise (näher Rdn. 24 f) sind in den Geltungsprinzipien „legitimierende Anknüpfungspunkte“ vertypt (z.B. inländischer Tatort, Täter mit inländischer Staatsangehörigkeit) oder völkerrechtliche Erlaubnisnormen verkörpert. In diesem Sinne werden die Geltungsprinzipien auch als Anknüpfungsprinzipien oder Anknüpfungspunkte bezeichnet.99 Oehler100 ordnet die Prinzipien in zwei Gruppen. Während sich die Ausübung von 236 Strafgewalt in der ersten Gruppe aus dem Gesichtspunkt des Selbstschutzes des Staates (Territorialitäts-, Staatsschutz-, passives Personalitätsprinzip) ergebe, stehe bei der zweiten Gruppe der Gedanke der Solidarität der Staaten (aktives Personalitätsprinzip, Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege, Universalitätsprinzip) im Vordergrund. Weiterführend ist zudem die Unterscheidung der Ausübung originärer Strafgewalt (Territorialitätsprinzip, Flaggenprinzip, Personalitätsprinzipien, Staatsschutzprinzip), der Ausübung derivativer Strafgewalt (Universalitätsprinzip, Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege) sowie der zwischenstaatlich vereinbarten Strafgewalt (Vertragsprinzip); näher Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 11 ff, 225 ff; vgl. auch Böse NK Rdn. 8. 237 Bei der Ausgestaltung des staatlichen Strafanwendungsrechts können die völkerrechtlichen Geltungsprinzipien vom Gesetzgeber nach seinem Ermessen aufgegriffen werden.101 Dabei ist der Gesetzgeber nicht gehindert, seine eigenen kriminalpolitischen Ziele auch durch die Kombination mehrerer Prinzipien zu verwirklichen102 und diese – innerhalb des völkerrechtlichen Rahmens – zu modifizieren, wie dies zum Teil in den §§ 3 ff geschieht. 235

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98 Eingehend hierzu Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 220 ff; Vgl. ferner BVerfG NJW 2001 1848, 1852; Ambos MK Rdn. 17; Jakobs 5. Abschn. Rdn. 1; Jescheck/Weigend § 18 II; anders Gribbohm LK11 Rdn. 140 und 142 („vorwiegend methodische Bedeutung“); zur „Dogmengeschichte“ Granitza S. 26 ff sowie – im Zusammenhang mit völkerrechtlichen Grenzen staatlicher Gesetzgebung im Bereich des Wirtschaftsrechts – Sandrock ZVglRWiss 2016 1. 99 Vgl. etwa BVerfG NJW 2001 1848, 1852; Ambos MK Rdn. 17; Jakobs 5. Abschn. Rdn. 1; Jescheck/Weigend § 18 II; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 16. 100 Oehler Rdn. 122, 133, so übereinstimmend schon in FS Grützner, S. 115; ebenso Schröder JZ 1968 241. 101 Henrich S. 21 f („Wegweiserfunktion“); Pappas S. 87. 102 Henrich S. 24; Jescheck/Weigend § 18 II Vor 1.

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Vorbemerkungen | Vor §§ 3 ff

Von den völkerrechtlichen Geltungsprinzipien strikt zu unterscheiden sind die 238 Grundsätze des staatlichen Strafanwendungsrechts.103 Dabei handelt es sich um allgemeine Rechtssätze, die sich aus den Bestimmungen eines staatlichen, etwa des deutschen, Strafanwendungsrechts gewinnen lassen; sie bezeichnen Grund und Umfang der Geltung der staatlichen Strafgesetze und sind Teil der jeweiligen staatlichen Rechtsordnung, nicht des Völkerrechts. Es dient deshalb der Klarheit, wenn die Zugehörigkeit dieser Rechtssätze zu unterschiedlichen Rechtsordnungen auch terminologisch zum Ausdruck kommt; deshalb ist hier von den völkerrechtlichen Geltungsprinzipien einerseits und von den innerstaatlichen Grundsätzen des Strafanwendungsrechts andererseits die Rede. Zu diesen Grundsätzen zählen etwa der Gebietsgrundsatz, der Flaggengrundsatz, der Staatsschutzgrundsatz, der (aktive und passive) Personalgrundsatz, der Domizilgrundsatz, der Weltrechtspflegegrundsatz und der Grundsatz stellvertretender Strafrechtspflege. Die Unterscheidung zwischen den völkerrechtlichen Geltungsprinzipien und den 239 innerstaatlich verwirklichten Grundsätzen des staatlichen Strafanwendungsrechts ist von grundlegender Bedeutung für die Bewertung der innerstaatlichen Gesetzeslage. Die Unterscheidung verdeutlicht nämlich die Notwendigkeit, die innerstaatlichen Grundsätze auf ein völkerrechtliches Geltungsprinzip zurückzuführen. Nur soweit dies möglich ist, ist die innerstaatliche Gesetzeslage völkerrechtskonform.104 In der Regel wird der in der innerstaatlichen Gesetzgebung verwirklichte Grundsatz 240 einem völkerrechtlichen Geltungsprinzip entsprechen. Dies ist etwa beim Rückgriff auf das Territorialitätsprinzip sowie beim aktiven und passiven Personalitätsprinzip unbedenklich der Fall; hier sind allenfalls Randbereiche problematisch. Es sind jedoch auch Konstellationen denkbar, in denen die hier vorgenommene Unterscheidung zur Klärung der Rechtslage beiträgt und gesetzgebungskritisches Potenzial entfaltet.105 Dies betrifft namentlich die Verwirklichung des Universalitätsprinzips, des Staatsschutzprinzips und in gewissem Umfang auch des Stellvertretungsprinzips. Insoweit ermöglicht es die hier getroffene Unterscheidung, etwa im Rahmen des § 6 zwischen der innerstaatlichen Ausdeutung des Weltrechtspflegegrundsatzes und der Reichweite des völkerrechtlichen Universalitätsprinzips zu differenzieren. Hieraus ergeben sich Folgerungen für die Anwendung des geltenden Rechts; zur völkerrechtskonformen Reduktion siehe insbesondere § 6 Rdn. 25 ff. 1. Territorialitätsprinzip.106 Das Territorialitätsprinzip besagt, dass das Strafrecht 241 eines Staates für alle Taten gilt, die auf seinem Staatsgebiet, also im Inland (§ 3 Rdn. 24 ff), begangen werden, gleichgültig, wer sie begeht und gegen wen sie sich richten. Dieses Prinzip folgt der Erwägung, dass sich die innerstaatliche Rechtsordnung gegenüber jedermann durchsetzen muss, der sich im Inland aufhält. Das Territorialitätsprinzip ist im Völkerrecht fest verankert.107 Eine Vielzahl völkerrechtlicher Abkommen verpflichtet die Vertragsstaaten, Gerichtsbarkeit für Taten, die innerhalb ihres Hoheitsgebietes begangen werden, zu begründen (im Einzelnen Rdn. 59 ff). Als Anknüpfungs-

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103 Zutreffend Ambos MK Rdn. 16; eingehend hierzu Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 28 ff. 104 Vgl. auch Ambos MK Rdn. 16; Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 34; Roggemann Strafrechtsanwendung S. 13 f. 105 Beispiele bei Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 288 ff. 106 Ambos MK Rdn. 17; Oehler Rdn. 152 ff; Jescheck/Weigend § 18 II 1; Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 225 ff; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 17 f; Zieher S. 75 f. 107 Vgl. nur BVerfGE 92 277, 320; Ambos MK Rdn. 17; Ipsen/Epping/Gloria § 5 Rdn. 7.

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punkt entspricht das Territorialitätsprinzip den Grundsätzen der Gebietshoheit, der Unabhängigkeit und der Gleichheit der souveränen Staaten.108 Die Reichweite des Territorialitätsprinzips hängt entscheidend von der Bestimmung 242 des Begehungsortes ab. Völkerrechtlich unstrittig ist, dass es für die Ausübung von Strafgewalt auf Grundlage des Territorialitätsprinzips genügt, wenn entweder der Ort der Handlung oder der Ort, an dem der tatbestandliche Erfolg eintritt, im Inland liegt.109 Keine hinreichende Grundlage im Völkerrecht findet dagegen die Ansicht, wonach es zur Ausübung von Strafgewalt nach dem Territorialitätsprinzip genügt, dass die Handlung irgendeine, u.U. auch nur tatsächliche Wirkung im Hoheitsgebiet des Staates hat.110 Aus dem weiten Begriff des Tatortes ergibt sich, dass eine Tat durchaus mehrere Begehungsorte haben kann, die durchaus in jeweils einem anderen Staat liegen können. Insofern ist die Behauptung von Ambos (MK Rdn. 25) nicht zutreffend, dass das Territorialitätsprinzip „zwischenstaatliche Kollisionen a limine ausschließt“. Siehe auch § 9 Rdn. 5, 54 ff. 243

2. Flaggenprinzip.111 Das Flaggenprinzip besagt, dass das Strafrecht eines Staates, dessen Flagge ein See- oder Binnenschiff (gleich welcher Art) führt oder bei dem ein Luftfahrzeug registriert ist, auch für solche Taten gilt, die an Bord dieses Schiffes oder Luftfahrzeuges begangen werden. Es kommt hierbei nicht darauf an, welche Staatsangehörigkeit der Täter hat, auf wessen Hoheitsgebiet die Tat begangen wird oder ob sie auf oder über der hohen See begangen wird. Das Prinzip trägt dem Interesse der Staaten an Aufrechterhaltung der Ordnung in bestimmten Verkehrsmitteln Rechnung, die häufig und bestimmungsgemäß ihren Standort zwischen Inland, Ausland und hoheitsfreiem Raum wechseln.112 Auch das Flaggenprinzip ist völkerrechtlich abgesichert.113 Mit dem Territorialitätsprinzip ist es insofern verwandt, als es die uneingeschränkte Ausübung von Hoheitsgewalt des Flaggenstaates über Handlungen und Ereignisse an Bord inländischer Schiffe oder Luftfahrzeuge rechtfertigt. Unzutreffend ist dagegen die frühere Ansicht, wonach das Flaggenprinzip eine Erweiterung des Hoheitsgebietes fingiere (näher § 3 Rdn. 70 ff; § 4 Rdn. 12).114

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3. Staatsschutzprinzip.115 Nach dem Staatsschutzprinzip ist jeder Staat befugt, sein Strafrecht auf Taten zu erstrecken, die sich unmittelbar gegen die eigenen staatlichen Rechtsgüter richten. Seine innere Berechtigung erfährt das Staatsschutzprinzip daraus, dass der Täter selbst eine Beziehung zur Strafgewalt des betroffenen Staates hergestellt hat und sich dieser Staat nur durch Ausübung eigener Strafgewalt gegen Angriffe von Ausländern aus dem Ausland wehren kann, da der Tatortstaat ihm diesen Schutz in der Regel mangels Strafbarkeit nicht gewähren kann oder nicht gewähren will.

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108 Jescheck/Weigend § 18 II 1; Oehler Rdn. 125, 152 ff. 109 BGHSt 44 52, 56; Akehurst British Yearbook of International Law 46 (1972/73) 145, 152; Kunig/Uerpmann Jura 1994 186, 193; Meng AVR 27 (1989) 156, 183; Miller/Rackow ZStW 117 (2005) 379, 385. 110 Jennings/Watts Oppenheim’s International Law (1992) 460; Mann S. 72 f; Shaw S. 500; aA Blakesley in Bassiouni S. 107; Restatement (Third) § 402 (1) (c); siehe auch Ambos MK Rdn. 21. 111 Ambos MK Rdn. 26; Jescheck FS Maurach, S. 583; Jescheck/Weigend § 18 II 2; Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 234 (Flaggenstaats- und Registerstaatsprinzip); Kolb/Neumann/Salomon ZaöRV 2011 191; Oehler Rdn. 132, 422 ff; Sch/Schröder/ Eser/Weißer Rdn. 19; Wille S. 40; Zieher S. 84. 112 Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 14; Zieher S. 84. 113 Vgl. nur Restatement (Third) § 502. 114 Ambos MK Rdn. 26. 115 Ambos MK Rdn. 35; Jescheck/Weigend § 18 II 4; Oehler Rdn. 542 ff; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 23; eingehend Cameron S. 30 ff.

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Vorbemerkungen | Vor §§ 3 ff

Das Staatsschutzprinzip ist heute im Grundsatz unbestritten und völkerrechtlich 245 anerkannt.116 Es ist in zahlreichen internationalen Abkommen verwirklicht (Rdn. 142, 145, 156, 185; siehe auch Rdn. 151). Die Schwierigkeit besteht allerdings darin, seine völkerrechtlichen Grenzen zu bestimmen.117 Unstreitig ist, dass nicht jedes Verhalten, das sich mittelbar oder unmittelbar gegen staatliche Interessen richtet, die Ausübung von Strafgewalt auf Grundlage des Staatsschutzprinzips zu rechtfertigen vermag. Ebenfalls gesichert ist, dass jedenfalls ein Kernbereich essenzieller Staatsinteressen dem Staatsschutzprinzip unterfällt; hierzu zählen die Sicherheit, die territoriale Integrität und die politische Unabhängigkeit des Staates.118 In den Anwendungsbereich des Staatsschutzprinzips einbezogen sind damit insbesondere Staatsschutzdelikte im engeren Sinne wie Friedensverrat, Landesverrat, Hochverrat und Spionage; siehe auch § 5 Rdn. 73, 74 ff, 82 ff. Welche staatlichen Belange darüber hinaus den Schutz durch die Ausdehnung der 246 Strafgewalt zu rechtfertigen vermögen, ist ungeklärt. Die staatlichen Gesetzgebungen weisen insoweit erhebliche Unterschiede auf. Maßgeblich sollte der Zweck des Staatsschutzprinzips sein, zu verhindern, dass der Staat straflos vom Ausland aus angegriffen werden kann. Erforderlich ist danach, dass die Tat sich unmittelbar gegen ein Rechtsgut des Staates richtet, dass es sich um ein wesentliches Rechtsgut handelt und dass Angriffe gegen dieses Rechtsgut im Ausland nicht verfolgt werden. 4. Passives Personalitätsprinzip.119 Das passive Personalitätsprinzip ist mit dem 247 Staatsschutzprinzip verwandt. Anders als bei jenem geht es hier aber nicht um den Schutz staatlicher Rechtsgüter vor Angriffen aus dem Ausland, sondern um den Schutz der eigenen Staatsangehörigen. Begründen lässt sich die Ausdehnung der Strafgewalt auf Straftaten gegen Inländer mit der Nähebeziehung, die zwischen dem Heimatstaat und dem Opfer der Tat besteht, sowie mit der auch völkerrechtlich fundierten120 Schutzpflicht, die den Staat gegenüber seinen Angehörigen trifft. Das passive Personalitätsprinzip ist völkerrechtlich umstritten. Verbreitet wird die 248 Ausübung von Strafgewalt über Auslandstaten gegen Inländer zwar für völkerrechtlich bedenklich, aber doch für zulässig gehalten.121 Die Gegenansicht geht davon aus, dass es an einer hinreichend einheitlichen Staatenpraxis und damit an einer tragfähigen Grundlage im Völkerrecht fehle.122 Dabei wird indes nicht hinreichend berücksichtigt, dass sich das Prinzip nicht nur in zahlreichen internationalen Abkommen findet (Rdn. 142, 145, 157, 185, 205; vgl. auch Rdn. 130), sondern zudem – teilweise mit Einschränkungen (vgl. etwa § 7 Abs. 1) – in vielen staatlichen Gesetzgebungen verwirklicht ist.123 Auch zeigen

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116 BVerfGE 92 227, 321; Ambos MK Rdn. 35; Oehler Rdn. 577; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 23; Verdross/Simma § 1184; Zieher S. 104. 117 Eingehend Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 256 f. 118 Ambos MK Rdn. 36; Blakesley/Lagodny S. 52 ff; Harvard Draft, Art. 7, S. 543; Zieher S. 78; vgl. auch BVerfGE 92 277, 321 („Existenz oder andere wichtige Rechtsgüter“). 119 Akehurst British Yearbook of International Law 46 (1972/73) 145, 162; Ambos MK Rdn. 38; Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 258 ff (Individualschutzprinzip); Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 22; eingehend Henrich S. 25 ff. 120 Zum Institut des diplomatischen Schutzes Verdross/Simma §§ 1226 ff. 121 Blakesley in Bassiouni S. 124 Fußn. 211; Doehring Völkerrecht (1999) Rdn. 817; Jakobs 5. Abschn. Rdn. 8; Jescheck/Weigend § 18 II 4; Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 260;Verdross/Simma § 1184; Roßwog S. 113; Vogler FS Maurach, S. 596; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 22; Zieher S. 76 f. 122 Li Die Prinzipien des internationalen Strafrechts (1991) S. 182; Mann S. 78 f; vgl. auch Restatement (Third) § 402, Comment g. 123 Rechtsvergleichender Überblick bei Henrich S. 198 ff.

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sich Staaten, die, wie die USA, Großbritannien und Frankreich, dem passiven Personalitätsprinzip traditionell kritisch gegenüberstehen, in jüngerer Zeit gegenüber der Erstreckung des staatlichen Strafrechts auf Auslandstaten gegen Inländer zunehmend aufgeschlossen.124 Im deutschen strafrechtlichen Schrifttum wird das passive Personalitätsprinzip 249 ganz überwiegend nur in seiner durch das Erfordernis der Tatortstrafbarkeit eingeschränkten Form für völkerrechtlich unbedenklich gehalten;125 die Ausdehnung des Strafrechts auf Auslandstaten gegen Inländer soll danach nur erlaubt sein, wenn die Tat auch am Tatort mit Strafe bedroht ist. Diese Auffassung ist abzulehnen. Dem Völkerrecht lässt sich eine solche Einschränkung des passiven Personalitätsprinzips durch das Erfordernis der Tatortstrafbarkeit nicht entnehmen.126 Die Staatsangehörigkeit des Tatopfers bildet vielmehr einen völkerrechtlich ausreichenden Anknüpfungspunkt für die Ausübung staatlicher Strafgewalt. Ist die Tat nach dem Recht des Tatorts nicht strafbar oder sogar rechtmäßig, kann allerdings im Einzelfall ein Verbotsirrtum anzunehmen sein (vgl. auch Rdn. 475). 250 Zur Erfassung von Taten gegen juristische Personen mit inländischer Staatszugehörigkeit (Staatszugehörigkeitsprinzip) und von Taten gegen inländische Amtsträger (passives Hoheitsträgerprinzip) siehe § 5 Rdn. 121, 203 sowie Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 264. 5. Aktives Personalitätsprinzip.127 Das aktive Personalitätsprinzip besagt, dass das Strafrecht des Heimatstaates für Straftaten seiner Staatsangehörigen Geltung beanspruchen kann, gleichgültig, ob diese Straftaten im Inland oder im Ausland begangen werden. Die Anwendung inländischen Strafrechts auf Straftaten von Inländern wurzelt in der Personalhoheit des Staates über seine Angehörigen. Das aktive Personalitätsprinzip ist völkerrechtlich abgesichert, in zahlreichen internationalen Abkommen vorgesehen (vgl. etwa Rdn. 104, 130, 141, 145, 156, 164, 184, 205) und in den staatlichen Gesetzgebungen verbreitet. Völkerrechtlich ist das aktive Personalitätsprinzip auch dann nicht zu beanstanden, wenn die Tat nach dem Recht des Tatortstaates nicht strafbar ist.128 Das aktive Personalitätsprinzip lässt sich unterschiedlich rechtfertigen, je nachdem, 252 ob man es als herrschenden Grundsatz innerhalb eines Strafanwendungsrechts begreift oder – wie nunmehr im geltenden Recht (Rdn. 276) – auf dem Boden des Territorialitätsprinzips (Rdn. 241 ff) lediglich als ergänzendes Prinzip zur Erfassung der Auslandstaten von Inländern. Im ersten Sinne besagt das aktive Personalitätsprinzip, dass das Strafrecht für die 253 Tat eines Inländers gilt, einerlei, ob er sie im Inland oder Ausland begeht. In diesem Sinne folgt das Prinzip dem Gedanken, ein Staat könne von seinen Staatsangehörigen erwarten und fordern, dass sie die Gebote und Verbote der eigenen Rechtsordnung beachten, gleichgültig, wo sie sich aufhalten. Es wird hierbei auf die Bindung des Einzel251

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124 Shaw S. 483 f m.w.N.; vgl. auch Restatement (Third) § 402 Comment g. 125 Ambos MK Rdn. 40; Jescheck/Weigend § 18 II 4; Oehler Rdn. 666; Roßwog S. 190; Satzger § 4 Rdn. 11; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 18. 126 Vgl. Cassese S. 277 f; Henrich S. 189 ff; vgl. auch Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 263. 127 Ambos MK Rdn. 27; Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 239 ff (Staatsangehörigkeitsprinzip); Oehler Rdn. 733 ff, 775 ff; eingehend A. Schmitz S. 175 ff. 128 Doehring Völkerrecht (1999) Rdn. 817; Holthausen NJW 1992 214, 215; Oehler Rdn. 751; Restatement (Third) § 402 (2); Schröder JZ 1968 241; Shaw S. 481; siehe auch Blakesley in Bassiouni S. 116 f; Brownlie S. 460; Cassese S. 276; aA Ambos MK Rdn. 29.

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nen an das heimatliche Strafrecht und auf die Treupflicht des Bürgers gegenüber dem eigenen Staat hingewiesen.129 Das absolute aktive Personalitätsprinzip kommt autoritärem Staatsdenken entgegen130 und wurde in Deutschland bezeichnenderweise vom nationalsozialistischen Gesetzgeber eingeführt (Entstehungsgeschichte). Als Ergänzung des Territorialitätsprinzips lässt sich das aktive Personalitätsprinzip 254 mit dem Gedanken internationaler Solidarität begründen. Es besagt nur etwas über Auslandstaten von Inländern. Es findet sich häufig in solchen Rechtsordnungen, die die Auslieferung eigener Staatsangehöriger an das Ausland ablehnen. Insofern rechtfertigt sich das Prinzip als Kompensation eines restriktiven Auslieferungsregimes.131 Da in diesem Fall die Verfolgung der Auslandstat erfolgt, um die Durchsetzung des Strafanspruchs des Tatortstaates zu unterstützen, liegt es nahe – ohne dass dies aus völkerrechtlicher Sicht zwingend wäre (Rdn. 251) –, die Strafbarkeit der Tat nach Tatortrecht zur Voraussetzung der Ausübung von Strafgewalt zu machen (vgl. § 7 Abs. 2 Nr. 1). Das aktive Personalitätsprinzip rechtfertigt die Ausübung von Strafgewalt auch bei 255 Taten, die von Amtsträgern oder anderen Personen begangen werden, welche Hoheitsgewalt für den Strafgewaltsstaat ausüben. In diesem Fall begründet das zum Strafgewaltsstaat bestehende Dienstverhältnis die besondere personale Bindung, siehe auch § 5 Rdn. 199 sowie Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 251 (aktives Hoheitsträgerprinzip). 6. Universalitätsprinzip.132 Das Universalitätsprinzip besagt, dass das inländische 256 Strafrecht für Taten gilt, die sich gegen die gemeinsamen Interessen der Staatengemeinschaft richten, gleichgültig, wer sie begeht oder wo oder gegen wen sie begangen werden.133 Die im deutschen Schrifttum verbreitete Formel, wonach das Universalitätsprinzip 257 Taten erfasse, „durch die gemeinsame, in allen Kulturstaaten anerkannte Rechtsgüter verletzt“ würden,134 begegnet nicht nur wegen der Verwendung des wenig zeitgemäßen Begriffes der „Kulturstaaten“ Bedenken; nicht überzeugend ist die „KulturstaatenFormel“ vielmehr vor allem deswegen, weil es beim Universalitätsprinzip nicht um die universelle Anerkennung eines Rechtsgutes gehen kann – was fraglos für das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die Freiheit gilt –, sondern allein darum, ob das verletzte Interesse ein solches der Staatengemeinschaft ist.135

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129 Ambos MK Rdn. 28; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 2; diff. Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 243 (Näheverhältnis); dagegen Oehler Rdn. 139 ff; ders. FS Grützner, S. 123; krit. Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 20. 130 Jescheck/Weigend § 18 II 3; Oehler Rdn. 706. 131 Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 243 f. 132 Ambos MK Rdn. 45; Bassiouni Virginia Journal of International Law 42 (2001) 81; Behrendt S. 53 ff; Cassese S. 284 ff; Eser FS Meyer-Goßner, S. 3 ff; ders. FS Trechsel, S. 219 ff; Gärditz Weltrechtspflege (2006); Henzelin S. 24 ff; Jescheck/Weigend § 18 II 5; Kelter GA 2006 25; Merkel in Lüderssen S. 237 ff; Oehler Rdn. 147 ff, 844 ff; Reydams S. 26 ff; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 25; Tomuschat FS Steinberger, S. 315 ff; Weigend FS Eser, S. 955 ff; Wilhelmi S. 7 ff; Zieher S. 79 ff; siehe auch Princeton Principles on Universal Jurisdiction und die Resolution des Institute of International Law vom 26.8.2005 (Universal Jurisdiction with regard to the crime of genocide, crimes against humanity and war crimes), hierzu Kreß Journal of International Criminal Justice 4 (2006) 561. 133 BVerfG NJW 2001 1848, 1852; Ambos MK Rdn. 47; Blakesley in Bassiouni S. 124; Princeton Principles on Universal Jurisdiction, Principle 1; Restatement (Third) § 404; einschränkend Cassese S. 278 ff; Keller GA 2006 25. 134 So Gribbohm LK11 Rdn. 135; vgl. auch Hoyer SK Rdn. 13. 135 Krit. auch Ambos MK Rdn. 47; Hilgendorf FS 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, S. 333, 348; Merkel in Lüderssen S. 245.

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Rechtfertigen lässt sich das Universalitätsprinzip mit zwei Erwägungen: Zum einen ist der Tatortstaat häufig nicht in der Lage oder nicht willens, die angegriffenen Rechtsgüter hinreichend zu schützen und Verletzungen zu verfolgen.136 Zum anderen betreffen Taten gegen die gemeinsamen Interessen der Staatengemeinschaft stets auch jedes einzelne ihrer Mitglieder (Zieher S. 83). Im Grundsatz ist das Universalitätsprinzip völkerrechtlich nicht bestritten. Die Schwierigkeit besteht indes darin, seinen Anwendungsbereich und seine Grenzen zu bestimmen. Einigkeit besteht darüber, dass der Weltfrieden und die internationale Sicherheit Weltgemeinschaftsinteressen (Kreß ZStW 114 (2002) 818, 836) im genannten Sinne darstellen; Straftaten, die sich gegen den Weltfrieden und die internationale Sicherheit richten, unterliegen dem Weltrechtsprinzip. Erfasst sind damit die Völkerrechtsverbrechen des Völkermordes (§ 6 VStGB), der Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7 VStGB) und der Kriegsverbrechen (§§ 8 bis 12 VStGB);137 mit Blick auf das Aggressionsverbrechen (§ 13 VStGB) ist die Rechtslage zweifelhaft.138 Höchst umstritten ist, ob es über die Völkerrechtsverbrechen hinaus weitere Straftaten gibt, deren Verfolgung nach dem Universalitätsprinzip völkerrechtlich erlaubt ist; die verschiedenen Positionen sind im Haftbefehlsfall (Demokratische Republik Kongo gegen Belgien) vor dem IGH deutlich geworden.139 Hierzu ist das Folgende zu bemerken: Maßgeblich für die Reichweite des Universalitätsprinzips ist allein das Völkerrecht. Hierbei kann sich die universelle Strafbefugnis aller Staaten zum einen daraus ergeben, dass die Tat unmittelbar nach universellem Völkergewohnheitsrecht strafbar ist, wie dies bei allen Völkerrechtsverbrechen zutrifft (Rdn. 259). Zum anderen lässt sich die universelle Strafbefugnis aber auch bei solchen Taten annehmen, die zwar nicht unmittelbar nach Völkerrecht strafbar sind, deren Verfolgbarkeit nach dem Universalitätsprinzip aber völkergewohnheitsrechtlich mit Wirkung erga omnes anerkannt ist.140 Nicht ohne weiteres eine Grundlage für die Ausübung von Strafgewalt nach dem Weltrechtsprinzip bilden dagegen internationale Abkommen.141 Dies ergibt sich schon daraus, dass Verträge nur inter partes wirken, Nichtvertragsstaaten durch die Vertragsbestimmungen also nicht gebunden werden (Rdn. 269). Die Ansicht, es könne einem Vertragsstaat nicht verwehrt sein, eine Tat dem Universalitätsprinzip zu unterstellen, wenn in einem völkerrechtlichen Abkommen zum Ausdruck gebracht werde, dass diese nicht straflos sein solle (so Ambos MK Rdn. 49), ist unzutreffend. Bei Ratifikation durch eine große Zahl von Staaten können Bestimmungen in internationalen Abkommen freilich Indizien für eine entsprechende Regel des Völkergewohnheitsrechts sein. Die hier

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136 Vgl. nur Hilgendorf FS 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, S. 333, 353; Abweichende Auffassung Van den Wyngaert zu IGH EuGRZ 2003 563 Nr. 46. 137 BVerfG NJW 2001 1848, 1852 (für Völkermord); Ambos MK Rdn. 52; Eser FS Trechsel, S. 219, 229; Gärditz Weltrechtspflege (2006) 294 ff; Satzger § 5 Rdn. 70; Weigend FS Eser, S. 97; siehe auch Brownlie S. 468 ff; Shaw S. 468; Werle/Jeßberger Rdn. 238 ff m.w.N; zur Legitimation der Geltung des Weltrechtsprinzips bei Völkerrechtsverbrechen sowie Problemen der Strafverfolgungspraxis Weißer GA 2012 416; siehe ferner zur Anwendung des Universalitätsprinzips durch europäische Gerichte bei Verfahren gegen afrikanische Amtsträger den AU-EU Bericht der Expertengruppe zum Universalitätsprinzip, Rat der Europäischen Union Dok. 8672/1/09 REV 1 (16. April 2009) sowie hierzu Geneuss JICJ 7 (2009) 945. 138 Werle/Jeßberger Rdn. 238 m.w.N. 139 IGH EuGRZ 2003 563 (Haftbefehlsfall), siehe insbesondere die Sondervoten des Präsidenten Guillaume und der Richter Higgins, Kooijmans und Buergenthal sowie die abweichende Auffassung der ad hoc-Richterin Van den Wyngaert; zusf. Kreß ZStW 114 (2002) 818. 140 Vgl. auch Kreß NStZ 2000 617, 624; enger Behrendt S. 136 ff (ius cogens). 141 Henzelin S. 63 ff, 123 ff; Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 279; Kreß ZStW 114 (2002) 818, 832 f; Shaw S. 597; aA Ambos MK Rdn. 47.

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vertretene restriktive Auffassung entspricht der Tendenz im neueren Schrifttum, das Universalitätsprinzip auf seinen völkerrechtlich gesicherten Kern zurückzuführen.142 Bei Anlegung dieses Maßstabes ergibt sich, dass das Universalitätsprinzip derzeit nur für die Völkerrechtsverbrechen zweifelsfrei gilt (siehe auch Rdn. 269).143 Folterhandlungen und Terrorismus sind nur dann Völkerrechtsverbrechen – und unterliegen nur dann dem Universalitätsprinzip –, wenn zugleich die Merkmale von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen im konkreten Fall erfüllt sind.144 Demgegenüber wird die Geltung des Universalitätsprinzips bei Folter und internationalem Terrorismus im Schrifttum auch unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen eines Völkerrechtsverbrechens bejaht (so Ambos MK Rdn. 52). Insgesamt ist die Völkerrechtsentwicklung in diesem Bereich derzeit im Fluss.145 Neben den Völkerrechtsverbrechen (Rdn. 259) gibt es weitere Straftaten, die die Staaten mit bestimmten Einschränkungen von Völkerrechts wegen auch dann verfolgen dürfen, wenn sie im Ausland von Ausländern an Ausländern begangen werden. Im Gegensatz zum (echten) Universalitätsprinzip (Rdn. 256) ist die staatliche Strafbefugnis hier allerdings nicht universell, sondern ratione loci begrenzt; es lässt sich insoweit von einem unechten Universalitätsprinzip146 sprechen. Völkerrechtlich abgesichert ist das unechte Universalitätsprinzip zum einen für die Seeräuberei, die bereits per definitionem voraussetzt, dass die Tat auf hoher See, also außerhalb staatlichen Hoheitsgebietes begangen wird (näher Rdn. 96).147 Das unechte Universalitätsprinzip ist zum anderen in denjenigen internationalen Abkommen verwirklicht, aus denen sich ergibt, dass einschlägige Taten auch dann verfolgt werden dürfen (z.T. sogar müssen), wenn sie im Ausland von einem Ausländer begangen werden;148 hier verbindet sich das Universalitätsprinzip mit dem Vertragsprinzip (Rdn. 269). Zu nennen sind in diesem Zusammenhang die Geiselnahmekonvention (Rdn. 153) und das Falschmünzübereinkommen von 1929 (Rdn. 73). Die in zahlreichen Abkommen (vgl. im Einzelnen Rdn. 38) vorgesehene Verpflichtung, Tatverdächtige entweder auszuliefern oder selbst abzuurteilen (aut dedere aut judicare), begründet nicht ohne weiteres die Befugnis zur Ausübung von Strafgewalt nach dem Universalitätsprinzip.149 Voraussetzung ist der Aufenthalt des Verdächtigen im Vertragsstaat (Weigend FS Eser, S. 955, 956 Fußn. 4).

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142 Vgl. Cassese1 S. 289; ders. Journal of International Criminal Justice 1 (2003) 589; Eser FS Trechsel, S. 219, 229; Merkel in Lüderssen S. 237, 242 ff; Tomuschat in Werle (Hrsg.) Justice in Transition (2006) S. 157, 163 ff; Weigend FS Eser, S. 955, 957. 143 So auch Behrendt S. 148; International Law Association S. 4 ff; Gärditz Weltrechtspflege (2006) 295 ff; Kreß ZStW 114 (2002) 818, 844; Satzger § 4 Rdn. 13; N. Schultz ZaöRV 62 (2002) 703, 733; Weigend FS Eser, S. 971; siehe auch Princeton Principles on Universal Jurisdiction, Principle 2 (1); deutlich weiter noch Gribbohm LK11 Rdn. 135. Weitergehend auch Ambos MK Rdn. 52 ff, der dem Universalitätsprinzip auch den Menschenhandel, den grenzüberschreitenden Handel mit Betäubungsmitteln und die Geldwäsche unterstellen will; weiter auch Restatement (Third) § 404. 144 Vgl. auch Brownlie8 S. 595. 145 Vgl. auch Shaw S. 492 mit Blick auf internationalen Terrorismus. 146 Vgl. auch Aust Handbook of International Law S. 46; Cassese European Journal of International Law 13 (2002) 853, 856 („conditional universal jurisdiction“); Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 281 ff; Shaw S. 489 („quasi-universal jurisdiction“); siehe auch Sondervotum Higgins, Buergenthal, Kooijmans zu IGH EuGRZ 2003 563, 574, Nrn. 41 ff (Haftbefehlsfall). 147 Hierzu Kontorovich Harvard International Law Journal 45 (2004) 183. 148 Hierzu auch Brownlie6 S. 597 f. 149 AA Ambos MK Rdn. 49; eingehend zum Grundsatz aut dedere aut iudicare Maierhöfer „Aut dedere aut iudicare“ (2006) passim.

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7. Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege.150 Nach diesem Prinzip greift das inländische Strafrecht an Stelle einer ausländischen Strafrechtsordnung ein: Das Prinzip trifft die Fälle, in denen ein Täter im Inland ergriffen wird und der ausländische Staat, der an sich nach dem Territorialitätsprinzip zur Verfolgung berufen wäre, hieran aus tatsächlichen oder aus rechtlichen Gründen gehindert oder an der Verfolgung nicht interessiert ist. Der inländische Richter tritt also (mit Einschränkungen) für den ausländischen ein; er übt aber gleichwohl die Strafgewalt des eigenen Staates aus. Das Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege setzt die Existenz einer identischen Norm (§ 7 Rdn. 17 ff) im Tatortstaat voraus. Es greift nur ein, wenn der Verdächtige nicht ausgeliefert wird; insofern ist seine Anwendung im Verhältnis zur Auslieferung subsidiär (Oehler Rdn. 823). Von den übrigen Prinzipien unterscheidet sich das Stellvertretungsprinzip dadurch, dass es nicht eine originäre, sondern lediglich eine vom Tatortstaat abgeleitete Strafgewalt begründet,151 die gegenüber dessen Strafgewalt subsidiär ist (BGH NStZ 2019 460). Völkerrechtlich ist das Stellvertretungsprinzip unbedenklich, soweit der originär 268 strafbefugte Staat, also in der Regel der Tatortstaat, mit der stellvertretenden Ausübung von Strafgewalt einverstanden ist. Dies trifft ohne weiteres zu, wenn das Stellvertretungsprinzip eine Grundlage unmittelbar in internationalen Abkommen findet, etwa wenn nach den Vertragsbestimmungen der Ergreifungsstaat einen Tatverdächtigen entweder aburteilen oder ausliefern muss (aut dedere aut judicare).152 Ist auch der Tatortstaat Vertragsstaat, ergibt sich sein Einverständnis mit der Verfolgung des Täters durch den Ergreifungsstaat unmittelbar aus dem Übereinkommen. In allen übrigen Fällen wird man aus der Strafbarerklärung eines bestimmten Verhaltens bei gleichzeitigem Fehlen eines Verfolgungshindernisses entnehmen können, dass der Tatortstaat grundsätzlich mit der stellvertretenden Verfolgung durch den Ergreifungsstaat einverstanden ist (siehe auch § 7 Rdn. 115). Die Ermittlung eines auf die fragliche Sache konzentrierten Verfolgungswillens im Einzelfall, die im Schrifttum teilweise befürwortet wird,153 führt zur Rechtsunsicherheit und zu kaum lösbaren praktischen Problemen. 267

8. Weitere Prinzipien 269

a) Vertragsprinzip.154 Das Vertragsprinzip besagt, dass inländisches Strafrecht für Taten gilt, über deren Verfolgung sich mehrere Staaten in einem internationalen Abkommen verständigt haben. Das Vertragsprinzip ist völkerrechtlich unbedenklich. Zu beachten ist aber, dass der vertraglich begründete Kompetenztitel nicht über den Anwendungsbereich des Vertrages hinausreichen kann; dies ist insbesondere mit Blick auf Taten von Bedeutung, die in Nichtvertragsstaaten begangen werden. Siehe auch § 6 Rdn. 15 ff.

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150 BVerfG NJW 2001 1848, 1852; BGH NStZ 2019 460; Eser JZ 1992 875; Jescheck FS Maurach, S. 580; Jescheck/Weigend § 18 II 6; Oehler Rdn. 143 ff, 802 ff; ders. FS Grützner, S. 124; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 26; Zieher S. 85 f; eingehend Pappas S. 9 ff. Zur Berücksichtigung des Gedankens der Stellvertretung in einem übergreifenden Sachwalterprinzip siehe Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 270; diesem insoweit zust. Böse NK Rdn. 10. 151 Ambos MK Rdn. 56; Pappas S. 100; Zieher S. 85. 152 Ambos MK Rdn. 57; siehe auch Pappas S. 103 f. 153 Vgl. etwa Lagodny ZStW 101 (1989) 993; ähnlich Ambos MK § 7 Rdn. 30. 154 Grundlegend Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 286 ff; vgl. auch Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 30.

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b) Unionsschutzprinzip und europäisches Territorialitätsprinzip. Die Europäi- 270 sierung des Rechts schlägt sich auch im Strafanwendungsrecht nieder. Die Europäische Union ist Trägerin einer Vielzahl von Rechtsgütern, verfügt aber über keine Kompetenz, um diese Rechtsgüter mit den Mitteln des Strafrechts zu schützen (näher Rdn. 300 f). Sie ist daher darauf angewiesen, dass die Mitgliedstaaten ihr nationales Strafrecht in den Dienst der Union stellen. Vor diesem Hintergrund besagt das Unionsschutzprinzip, dass die Mitgliedstaaten 271 der EU Taten, die sich gegen die Interessen der EU richten, auch dann verfolgen und bestrafen dürfen, wenn diese im Ausland begangen werden (siehe schon Oehler Rdn. 913; näher Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 258). Bei dem Unionsschutzprinzip handelt es sich um eine Erweiterung des Staatsschutzprinzips (Rdn. 244). Das Unionsschutzprinzip ist völkerrechtlich abgesichert; es reagiert auf die Schutzlücke, die im Recht von Tatortstaaten außerhalb der EU mit Blick auf Rechtsgüter der Europäischen Union besteht. Insoweit gilt nichts anderes als im Zusammenhang mit dem Staatsschutzprinzip. De lege ferenda ist die Weiterentwicklung des Territorialitätsprinzips zu einem uni- 272 onsrechtlichen oder europäischen Territorialitätsprinzip angesichts der fortschreitenden politischen und gesellschaftlichen Integration Europas konsequent. Bezugspunkt eines solchen erweiterten Territorialitätsprinzips wäre das Gebiet aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union.155 Als fakultative Gerichtsbarkeitsregel ist es etwa in der Richtlinie vom 15.3.2017 zur Terrorismusbekämpfung (Rdn. 151) vorgesehen. Ferner ist das Prinzip etwa im Zusammenhang mit dem Zuständigkeitsbereich einer Europäischen Staatsanwaltschaft und im Zusammenhang mit bestimmten „Europa-Delikten“ vorgeschlagen worden, zu deren Verfolgung und Aburteilung jeder Mitgliedstaat befugt sein soll, wenn die Taten auf dem Gebiet der Europäischen Union begangen werden.156 c) Domizilprinzip. Den Personalitätsprinzipien nahe steht das Domizilprinzip. Es 273 lässt für die Begründung der innerstaatlichen Strafgewalt den inländischen Wohnsitz (bzw. die Gebietsansässigkeit) des Täters (aktives Domizilprinzip) oder des Opfers (passives Domizilprinzip) genügen. 157 Es findet sich in mehreren neueren Abkommen (Rdn. 142, 145, 157, 185, 205 jeweils für Staatenlose mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland) sowie u.a. in der Richtlinie vom 15.3.2017 zur Terrorismusbekämpfung (Rdn. 151). Gegenüber dem Personalitätsprinzip mit seiner starren Anknüpfung an das formale Kriterium der Staatsangehörigkeit ist das Domizilprinzip deutlich flexibler; ob es bereits völkergewohnheitsrechtlich anerkannt ist, ist zweifelhaft; jedenfalls für das passive Domizilprinzip ist dies abzulehnen.158 Die Entwicklung des Völkerrechts ist freilich im Fluss. Gegenwärtig ist davon auszugehen, dass das Domizilprinzip die Ausübung von Strafgewalt grundsätzlich nur zu rechtfertigen vermag, wenn die betroffenen Staaten die Anknüpfung an den inländischen Wohnsitz vertraglich festgelegt haben. Im Einzelfall kann freilich die Verbindung mit anderen Gesichtspunkten, wie etwa dem passiven Per-

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155 Hierzu Ambos MK Rdn. 8, 85; Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 239; Satzger Europäisierung des Strafrechts (2001) S. 388. 156 Vgl. hierzu Delmas-Marty/Vervaele (Hrsg.) Implementation of the Corpus Juris in the Member States (2000), Band 1, S. 188 („European judicial area“); Vogel in Tiedemann (Hrsg.) Wirtschaftsstrafrecht in der Europäischen Union (2002) S. 91, 96. 157 Jescheck/Weigend § 18 II 3; Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 249 und 264; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 28. 158 Vgl. BGH NStZ 1999, 236 sowie Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 265.

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sonalitätsprinzip oder dem Schutz von hochrangigen Individualrechtsgütern zu einem anderen Ergebnis führen (vgl. § 5 Rdn. 107 ff). d) Kompetenzverteilungsprinzip. 159 Dem Kompetenzverteilungsprinzip liegt der Gedanke zugrunde, dass Staaten die Zuständigkeit zur Aburteilung von Taten aus Zweckmäßigkeitsgründen und um der Gerechtigkeit willen so festlegen, dass eine Überschneidung der Geltungsbereiche der Strafrechtsordnungen möglichst eingeschränkt, eine Doppelbestrafung vermieden oder die Vollstreckung eines fremden Urteils vereinbart wird (grdl. Oehler Rdn. 134 ff, 682 ff). Im geltenden Recht hat es keinen Niederschlag gefunden. Das Kompetenzverteilungsprinzip knüpft die Strafbefugnis nicht an den Tatort oder 275 an die Staatsangehörigkeit des Täters, sondern an den Täterwohnsitz; zuständig soll der Staat sein, in dem die Verurteilung am zweckmäßigsten vorgenommen werden kann. Ausprägungen des Kompetenzverteilungsprinzips finden sich in den Europäischen Übereinkommen über die Überwachung bedingt verurteilter oder bedingt entlassener Personen vom 30.11.1964 (ETS Nr. 51),160 über die internationale Gültigkeit von Strafurteilen vom 28.5.1970 (ETS Nr. 70), über die Übertragung von Strafverfahren vom 15.5.1972 (ETS Nr. 73) und über die Ahndung von Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr vom 30.11.1964 (ETS Nr. 52).161 Die Übereinkommen sind für die Bundesrepublik noch nicht in Kraft getreten. Zur Problematik konkurrierender Strafgewalten siehe Rdn. 45 ff.

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V. Die gesetzliche Regelung des Strafanwendungsrechts 1. Die Verwirklichung der völkerrechtlichen Geltungsprinzipien im geltenden Recht.162 Seit dem Inkrafttreten des 2. StrRG am 1.1.1975 (§ 1 des G über das Inkrafttreten des 2. StrRG vom 30.7.1973, BGBl. I S. 909, und Art. 18 II Nrn. 2 ff, Art. 326 Abs. 1 EGStGB) ist der Gebietsgrundsatz (Rdn. 238, 241) – wie schon bis 1940 – wieder Ausgangspunkt des deutschen Strafanwendungsrechts.163 Diese Umkehr entsprach dem Vorschlag der vorangegangenen Entwürfe eines Strafgesetzbuches.164 Die heutige Regelung liegt im Zuge der internationalen Rechtsentwicklung; es entspricht dem gegenwärtigen Verhältnis der Staaten zueinander besser, die eigene Strafgewalt grundsätzlich auf Taten zu beschränken, die im eigenen Gebiet begangen werden. In einem gewissen Gegensatz dazu steht allerdings – jedenfalls in tatsächlicher Hinsicht – eine zunehmende Tendenz, die immer zahlreicher werdenden internationalen Straftaten (Rdn. 52) weltweit zu bekämpfen und zu diesem Zweck die völkerrechtliche Verpflichtung des Staates weiter auszubauen, den Geltungsbereich seines Strafrechts auch auf Auslandstaten zu erstrecken (siehe Rdn. 34 ff). Der nationalsozialistische Gesetzgeber hatte die frühere Regelung durch die Gel277 tungsbereichsVO vom 6.5.1940165 – dem österreichischen Recht und früheren Entwürfen

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159 Jescheck/Weigend § 18 II 7; Satzger § 4 Rdn. 17; krit. Ambos MK Rdn. 60. 160 Abdruck bei Grützner/Pötz III 3 S. 3. 161 Dazu Oehler Rdn. 788. 162 Eingehend zum Folgenden Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 46 ff. 163 Eingehend zur Entwicklung des Strafanwendungsrechts seit Mitte des 18. Jahrhunderts Eder S. 25 ff. 164 §§ 3 ff E 1962, Begründung S. 105, 109; § 4 AE. 165 RGBl. I S. 754 (hierzu Werle Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich (1989) S. 308 ff), ergänzt durch das 3. StRÄndG (BGBl. 1953 I 735) und das 4. StRÄndG (BGBl. 1957 I 597).

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Vorbemerkungen | Vor §§ 3 ff

folgend – eingeführt. Sie beruhte auf dem aktiven Personalgrundsatz (Rdn. 238, 251). Dieser Grundsatz wurde als Ausdruck einer „völkischen Treuepflicht“ verstanden und sollte die „blutsmäßige Bindung“ aller Deutschen juristisch umsetzen. In diesem Sinne war die GeltungsbereichsVO von nationalsozialistischen Vorstellungen geprägt. 166 Gleichwohl war die Regelung nach 1945 nach herrschender Meinung rechtsstaatlich und verfassungsrechtlich unbedenklich.167 Sie wurde sogar, soweit der Grundsatz der identischen Norm (Rdn. 17 ff) beachtlich war, aus dem Gedanken der internationalen Solidarität bei der Verbrechensbekämpfung als besonders wirksamer Schutz ausländischer Rechtsgüter gegen Angriffe Deutscher im Ausland begriffen.168 Straftaten von Ausländern im Inland erfasste das frühere Recht auf Grundlage des Gebietsgrundsatzes (§ 4 Abs. 1 StGB a.F.). Mit Recht wurde indes die Rückkehr zum Gebietsgrundsatz als Leitprinzip des deutschen Strafanwendungsrechts allgemein begrüßt. Kritik169 richtete sich dagegen, dass dieser Grundsatz in wichtigen Bereichen und im Ganzen stärker durchbrochen wird, als dies vor 1940 der Fall war; siehe auch § 3 Rdn. 4 f. Die heutige gesetzliche Regelung knüpft primär nicht mehr an Täter, sondern an Tatorte an. Das Gesetz stellt den Gebietsgrundsatz, wonach das deutsche Strafrecht für alle Inlandstaten gilt, an die Spitze (§ 3). Es lässt die Sonderregelung für Taten auf deutschen Schiffen und Luftfahrzeugen, der der Flaggengrundsatz zugrunde liegt, folgen (§ 4). Danach wird im Einzelnen geregelt, was gilt, wenn die Tat im Ausland begangen wird (§§ 5 bis 7). In diesen Vorschriften wird enumerativ aufgeführt, in welchen Fällen der Anwendungsbereich des deutschen Strafrechts auf das Ausland ausgedehnt wird. Das Gesetz verwirklicht dabei unterschiedliche Geltungsprinzipien, die vielfach miteinander kombiniert sind. So können nach dem Staatsschutzgrundsatz Auslandstaten etwa in den Fällen des § 5 Nrn. 2, 3 Buchst. b, 4, 5 Buchst. a, 10 und 15 Buchst. c verfolgt werden. Der passive Personalgrundsatz liegt den Fällen des § 5 Nrn. 6 Buchst. c, 7 und 14 sowie des § 7 Abs. 1 zugrunde, in denen es um den Schutz Deutscher oder um den Schutz deutscher Unternehmen geht. Der aktive Personalgrundsatz ist unter anderem maßgebend in den Fällen des § 5 Nrn. 8, 9 Buchst. a, 9a Buchst. a und b 1. Alt., 11a, 12, 13 und 17. Er gilt ferner – freilich mit der Einschränkung der Strafbarkeit nach dem Recht des Tatorts sofern dieser einer Strafgewalt unterliegt – allgemein für Auslandstaten Deutscher (§ 7 Abs. 2 Nr. 1 erste Alternative). Unter denselben Voraussetzungen werden auch Auslandstaten im Inland betroffener Ausländer nach dem Grundsatz der stellvertretenden Strafrechtspflege verfolgt, wenn diese nicht ausgeliefert werden (§ 7 Abs. 2 Nr. 2). In § 6 sind Auslandsstraftaten zusammengefasst, die auf Grundlage des Weltrechtspflegegrundsatzes, des Vertragsgrundsatzes oder des Unionsschutzgrundsatzes verfolgt werden können; der Unionsschutzgrundsatz ist ferner in § 5 Nr. 15 Buchst. b verwirklicht. § 5 Nr. 6 Buchst. b und c, 9a Buchst. b 2. Alt. beruhen auf dem passiven Domizilgrundsatz. Die gesetzliche Systematik lässt es zu, dass eine Tat die Voraussetzungen mehrerer Geltungsbereichsnormen erfüllt, die dann nebeneinander anwendbar sind. Konkurrieren mehrere Geltungsbereichsnormen, so hat diejenige den Vorrang, die im Einzelfall am weitesten reicht, die es also gestattet, die Tat strafrechtlich so um-

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166 Jescheck/Weigend § 18 II 3, III 1. 167 BGH NJW 1969 1542 f; 1951 769; BGHSt 2 160 f; OLG Hamburg JZ 1951 305; Oehler GA 1960 121; vgl. dens. Rdn. 751. 168 Jescheck/Weigend § 18 II 3; Oehler Rdn. 139. 169 Gallas ZStW 80 (1968) 14; Schultz GA 1966 198; Vogler FS Grützner, S. 155; siehe auch Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 76 ff.

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fassend zu würdigen, wie nach dem Sachverhalt möglich, das heißt unter allen oder möglichst vielen sachlichrechtlichen Gesichtspunkten.170 Abzulehnen ist deshalb die Auffassung des OLG Düsseldorf (NJW 1979 59, 61 f), § 5 stelle gegenüber § 7 eine Spezialvorschrift dar, welche die Strafbarkeit von Auslandstaten abschließend regele, was mit Blick auf § 5 Nr. 6 (a.F.) zur Folge habe, dass für eine im Ausland gegen einen Ausländer begangene politische Verdächtigung das deutsche Strafrecht „grundsätzlich“ nicht gelte, dies selbst dann, wenn der Täter nach der Tat Deutscher geworden ist (OLG Düsseldorf NJW 1979 59, 62). Richtigerweise kommt hier § 7 zum Zuge;171 entsprechend gilt für einen Deutschen mit Lebensgrundlage im Ausland, der im Ausland die Voraussetzungen des § 218 verwirklicht, deutsches Strafrecht zwar nicht gemäß § 5 Nr. 9 Buchst. b, aber – vorausgesetzt der Abbruch der Schwangerschaft ist nach dem Recht des Tatorts mit Strafe bedroht – gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 1. Hingegen ergibt sich die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts in den Fällen des § 5 Nr. 9 Buchst. a auch für einen Deutschen mit Lebensgrundlage im Ausland, da diese Vorschrift in den Fällen des § 218 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 und Abs. 4 Satz 1 nicht an das Erfordernis der Lebensgrundlage im Inland anknüpft. Eine Ausnahme von dem dargelegten Grundsatz (Rdn. 281) bildet § 7. Nach dem Gesetzeswortlaut ist eindeutig, dass Absatz 1 dieser Vorschrift deren Absatz 2 vorgeht, Absatz 2 also nur in Fällen eingreift, die nicht von Absatz 1 erfasst werden (Ambos MK Rdn. 76). Dadurch wird die Verfolgung von Auslandstaten erleichtert, die sich gegen Deutsche richten; wird sie doch ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit des Täters und unabhängig von den besonderen Voraussetzungen der Nummer 2 des § 7 Abs. 2 ermöglicht. Als weitere Ausnahme regelt § 91a den transnationalen Geltungsbereich der §§ 84 (Fortführung einer für verfassungswidrig erklärten Partei), 85 (Verstoß gegen ein Vereinigungsverbot) und 87 (Agententätigkeit zu Sabotagezwecken) speziell, weil wegen der Besonderheit der Materie die Anwendung der allgemeinen Bestimmungen über das Strafanwendungsrecht nicht in Betracht kommt (Jescheck/Weigend5 § 18 III 6). Die Vorschrift entzieht die bezeichneten Straftatbestände damit der Anwendung des Ubiquitätsgrundsatzes des § 9. Auch geht sie als Spezialnorm den §§ 4 und 7 Abs. 2 Nr. 1 (zweite Alternative) vor, soweit es sich um Tätigkeiten im Ausland handelt.172 In der Gesamtschau reicht der heutige Geltungsbereich des deutschen Strafrechts – auch im internationalen Vergleich – äußerst weit.173 Zahlreiche Stimmen im Schrifttum fordern seine Begrenzung.174 2. Die Rechtsnatur der Geltungsbereichsnormen. Die §§ 3 bis 7 sind Teil des sachlichen Rechts.175 Als allgemeine Geltungsbereichsnormen legen sie den Geltungs- und Anwendungsbereich des deutschen Strafrechts fest (Rdn. 3 ff). Zu den prozessualen Wirkungen der Geltungsbereichsnormen siehe Rdn. 10. Zur Einordnung der in den Geltungsbereichsnormen enthaltenen Geltungsbereichsfaktoren als Merkmale des Unrechtstatbestandes oder objektive Bedingungen der Strafbarkeit siehe Rdn. 471 ff.

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170 Zust. Ambos MK Rdn. 76. 171 So auch Henrich S. 76; vgl. auch Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 85, 104 ff. 172 Vgl. die Erläuterungen zu § 91. 173 Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 85 („Tendenz zur Ausweitung“). 174 Lackner/Kühl/Heger Rdn. 1; Lagodny/Nill-Theobald JR 2000 205, 207; Zieher S. 176f. 175 Ambos MK Rdn. 3; Jeßberger, Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts, S. 115; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 10; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 5 ff; aA Hoyer SK Rdn. 4 („Meta-Normen“).

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3. Geltungsbereichsnorm und Gesetzlichkeitsprinzip. Als Normen des sachli- 287 chen Rechts unterliegen die Vorschriften des Strafanwendungsrechts auch den Erfordernissen des Grundsatzes nullum crimen sine lege (Art. 103 Abs. 2 GG, § 1; BVerfG wistra 2003 255, 257).176 Dies hat zur Folge, dass das Rückwirkungsverbot, der Ausschluss strafbegründenden und strafschärfenden Gewohnheitsrechts (§ 1 Rdn. 169) und das Analogieverbot (§ 1 Rdn. 238) für die bezeichneten Vorschriften gelten (vgl. § 6 Rdn. 103, 105; § 7 Rdn. 87). Denn sie enthalten nicht allein Prozessvoraussetzungen (Rdn. 10), sondern sind Teil des sachlichen Rechts. Dies gilt unabhängig davon, ob ein Geltungsbereichsfaktor als Merkmal des Unrechtstatbestandes oder als objektive Bedingung der Strafbarkeit eingeordnet wird (zu den Einzelheiten Rdn. 471 ff). Auch im Zusammenhang mit dem Strafanwendungsrecht ist auf Grund deutschen 288 Strafrechts zu beurteilen, ob die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Das gilt selbst in Fällen, in denen dieses Recht im Hinblick auf denselben Sachverhalt mit anderen Rechtsordnungen konkurriert. Art. 103 Abs. 2 GG ist dagegen nicht verletzt, wenn die fremde Rechtsordnung eine dem konkurrierenden deutschen Recht entsprechende Strafvorschrift nicht enthält oder wenn sie das nach deutschem Recht strafbare Verhalten ausdrücklich rechtfertigt (BVerfG EuGRZ 1995 203, 215). Im Einklang mit diesen Erwägungen kann es im Rahmen des § 7 nicht darauf an- 289 kommen, ob die nach Auslandsrecht begründete Strafbarkeit am ausländischen Tatort (als Voraussetzung einer Erstreckung des deutschen Strafrechts) in einer Weise bestimmt ist, welche den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG genügt. Die Strafbarkeit muss im Ausland zwar zur Tatzeit bestehen. Sie könnte nach Auslandsrecht aber außerhalb eines formellen Gesetzes anerkannt sein und zum Beispiel auf ungeschriebenem Gewohnheitsrecht beruhen, wenn es sich einwandfrei feststellen ließe (vgl. Henrich S. 81; Scholten S. 130). Im Zusammenhang mit § 7 Abs. 1 und 2 wird Art. 103 Abs. 2 GG auch nicht verletzt, wenn Strafbarkeit nach ausländischem Tatortrecht angenommen wird, obwohl ein totalitäres Regime die auf seinem Gebiet begangene Tat durch willkürliche Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe, welche allgemein anerkannte Menschenrechte in schwer wiegender Weise missachten, von Strafe freistellt (vgl. BVerfG EuGRZ 1996 538; 548 f; BGHSt 39 1, 26 ff; Scholten S. 166 ff; näher § 7 Rdn. 38 f). 4. Tatbestandsmäßige Beschränkungen des Anwendungsbereichs des deut- 290 schen Strafrechts. Die allgemeinen Grundsätze für die Geltung des deutschen Strafrechts sind aus dem Besonderen Teil zu ergänzen.177 Denn bei Taten mit Auslandsbezug können sich Grenzen bei der Anwendung einzelner Straftatbestände daraus ergeben, dass sich der Tatbestand auf den Schutz eines inländischen Rechtsguts beschränkt. a) Problematik. Es gibt Handlungen von Inländern im Ausland, die scheinbar einen 291 deutschen Straftatbestand erfüllen, obwohl dieser nur deutsche Interessen schützen soll, während sich die Auslandstat ausschließlich gegen Rechtsgüter des fremden Staats richtet. Unter welchen Voraussetzungen eine Strafvorschrift nur inländische Rechtsgüter

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176 Fischer Rdn. 1; vgl. auch Ambos MK Rdn. 77 f. 177 Eingehend zu den „geltungsbereichsrelevanten Merkmalen“ im Deliktstatbestand Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 76 ff.

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schützt, ist eine Frage der Auslegung des deutschen Strafgesetzes178 und für jeden Fall gesondert zu prüfen.179 Die Frage, ob der Tatbestand einer deutschen Strafvorschrift das angegriffene Rechtsgut schützt, stellt sich erst, wenn die Geltung dieses Straftatbestandes feststeht.180 Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass die Merkmale der Geltungsbereichsnormen „vor die Klammer“ gezogene, unrechtsbegründende Tatbestandsmerkmale sind (Rdn. 471; dort auch zu den Ausnahmen) und insoweit mit den unmittelbar im Deliktstatbestand geregelten Merkmalen auf einer Stufe stehen. Die herrschende Gegenansicht181 stützt sich u.a. darauf, Handlungen, die den Schutzbereich eines deutschen Straftatbestandes nicht betreffen, seien keine „Taten“ im Sinne der §§ 4 ff, weil sie nicht den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklichten. Sie lässt sich aber nicht damit vereinbaren, dass die Auslegung eines Straftatbestandes notwendig voraussetzt, dass dieser für die fragliche Tat Geltung beanspruchen kann. Die hier vertretene Ansicht trägt dem Umstand Rechnung, dass die fehlende Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts ein Verfahrenshindernis darstellt (Rdn. 10). Zu unterscheiden sind ausländische Rechtsgüter und inländische Rechtsgüter, also solche, die durch die staatliche Rechtsordnung geschützt werden (siehe auch § 5 Rdn. 5).182 Die Unterscheidung ist allerdings nur dort von Bedeutung, wo es sich um staatliche Interessen handelt (eingehend hierzu Obermüller Der Schutz ausländischer Rechtsgüter im deutschen Strafrecht, 1999). Die Frage stellt sich nicht, soweit es um persönliche Rechtsgüter geht. Individualrechtsgüter wie das Leben, die Ehre, das Vermögen und die Freiheit der Willensbetätigung werden allgemein geschützt, gleichgültig, ob Inländer oder Ausländer Träger des Rechtsguts sind (BGHSt 29 85, 88).183 Man kann diesen Gedanken auch so formulieren: „Inländische“ Rechtsgüter in dem Sinne, dass sie grundsätzlich durch den einschlägigen deutschen Straftatbestand geschützt werden, sind alle Individualrechtsgüter, und zwar ohne Rücksicht auf die Nationalität des Rechtsgutsinhabers oder die Belegenheit seines Rechtsguts. Schützt ein Tatbestand außer inländischen staatlichen Interessen zugleich ein persönliches Rechtsgut,184 so dürfte es darauf ankommen, ob es sich insoweit um einen eigenständigen Schutzzweck handelt oder lediglich um einen (nur tatsächlichen) Schutzreflex, dem keine eigenständige rechtliche Bedeutung zukommt. Nur im ersten Fall ist eine Verletzung individueller Interessen tatbestandsmäßig und bei einer Erstreckung des deutschen Strafrechts auf einschlägige Auslandstaten strafbar.185 Die Gleichstellung von Inländern und Ausländern ist, wenn es sich um den Schutz ihrer Individualrechtsgüter handelt, ein anerkannter Grundsatz des „minimum standard of justice“, der als Ausfluss des völkerrechtlichen Fremdenrechts jeden Staat bindet.186 Das bedeutet jedoch nicht, dass einschlägige Straftaten schon deshalb und unabhängig

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178 RGSt 19 192, 195 f; 14 124, 128 ff; OLG Hamm JZ 1960 576 m. Anm. Schröder; zur Gesamtproblematik s. Schlüchter FS Oehler, S. 307 ff; Lüttger FS Jescheck, S. 121 ff. 179 Vgl. BGH NStZ 2017 146, 146 f; BGHSt 21 277, 280; 20 51 f; 8 349, 355 ff. Zur entsprechenden Problematik bei Anwendung der Regeln des interlokalen Strafrechts vgl. BGHSt 7 53, 56 f; umfassend zu dieser Fragestellung Golombek S. 22 ff. 180 Hoyer SK Rdn. 31; Satzger § 3 Rdn. 13; Schroeder NJW 1990 1406; diff. Ambos MK Rdn. 89. 181 BGHSt 29 85, 88; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 9; Fischer Rdn. 4; s. auch Gribbohm LK11 Rdn. 179; offen gelassen bei Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 38 f. 182 Ambos MK Rdn. 82; Hoyer SK Rdn. 32; Böse NK Rdn. 56 ff; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 41. 183 Ambos MK Rdn. 85; Hoyer SK Rdn. 33; Jescheck FS Maurach, S. 583; Jescheck/Weigend § 18 III 8; Böse NK Rdn. 56; Oehler Rdn. 233; ders. JR 1975 293; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 42; Fischer Rdn. 8. 184 Vgl. OLG Celle JR 2002 33 zu § 125 m. Anm. Hoyer. 185 Ambos MK Rdn. 86. 186 Jescheck/Weigend § 18 III 8; vgl. auch Ipsen/Heintschel von Heinegg § 38.

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vom Tatort der Strafgewalt eines jeden Staates unterlägen oder dass sie schon dadurch zu internationalen Straftaten (Rdn. 52) würden. Geht es allein um die Interessen fremder Staaten, beispielsweise um den Schutz ihrer Hoheitsgewalt oder ihrer Verwaltung, so ist die deutsche Staatsgewalt in der Regel nicht berufen, diese strafrechtlich zu schützen.187 Deshalb beziehen sich die in Betracht kommenden Straftatbestände des deutschen Strafrechts grundsätzlich nicht auf den Schutz der Belange fremder Staaten. Anders ist es allerdings, wenn es der Gesetzgeber für erforderlich hält, den Anwendungsbereich des deutschen Strafrechts aus besonderem Grunde ausdrücklich auf ausländische staatliche Interessen oder internationale Institutionen auszudehnen, indem er einen an sich unanwendbaren Straftatbestand entsprechend erweitert, sei es im StGB oder außerhalb durch ein ergänzendes Gesetz (vgl. etwa Rdn. 487; Voraufl. § 5 Rdn. 192 f).188 In einem solchen Fall ist es nicht Sache des Richters, die Anwendung eines Straftatbestands entgegen dessen Wortlaut im Rahmen des Territorialitätsprinzips „teleologisch zu reduzieren“.189 Beispiele für eine solche Ausdehnung des Schutzbereichs deutscher Straftatbestände finden sich etwa in den §§ 102 bis 104, in § 129b und in § 152. Zum Schutz der Vertragsstaaten des Nordatlantikpaktes und ihrer Truppen hat Art. 7 des 4. StRÄndG vom 11.6.1957 in der geltenden Fassung190 zahlreiche zum Zwecke des Staatsschutzes erlassene Straftatbestände erweitert, so aus den Abschnitten Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit (§§ 93 ff – vgl. BGHSt 38 75, 76 f = JR 1992 204 m. Anm. Schroeder; 32 104, 107 ff), Straftaten gegen die Landesverteidigung (§§ 109 ff), Widerstand gegen die Staatsgewalt (§§ 113 ff) sowie Straftaten im Amt (§§ 331 ff). Von besonderer Bedeutung ist die Ausdehnung des Schutzbereichs nationaler Straftatbestände im Zusammenhang mit dem strafrechtlichen Schutz der Interessen der Europäischen Union (näher Hecker § 6 Rdn. 67, § 7 Rdn. 71 ff; M. Vormbaum Schutz der Rechtsgüter von EU-Staaten durch das deutsche Strafrecht, 2005). Die Europäische Union ist Trägerin einer Vielzahl von Rechtsgütern, wie Vermögen, Eigentum, Funktionsfähigkeit der Verwaltung (Satzger § 9 Rdn. 97). Sie ist aber nur sehr eingeschränkt in der Lage, ihre eigenen Interessen mit den Mitteln des Strafrechts selbst zu schützen. Ein i.e.S. supranationales europäisches Kriminalstrafrecht existiert aber nach wie vor nicht (Satzger § 8 Rdn. 9 ff), auch wenn durch den Vertrag von Lissabon und die Neugestaltung von EUV und AEUV den Einwänden gegen eine Strafrechtssetzungskompetenz der EU weitgehend die Grundlage entzogen worden ist. Deshalb wird der strafrechtliche Schutz der Unionsrechtsgüter nach wie vor in erster Linie mit Hilfe der nationalen Strafrechtsnormen und Gerichte durchgesetzt.191 Die Mitgliedstaaten sind dabei nicht nur befugt, Unionsinteressen strafrechtlich abzusichern, sondern hierzu auch verpflichtet (näher Hecker § 7 Rdn. 23 ff).192 Die Mindestanforderungen an den strafrechtlichen Schutz, den jeder Mitgliedstaat zu gewähren hat, sind in einer Reihe von Entscheidungen des EuGH entwickelt worden (insbesondere EuGHE 1989 2965 = EuZW 1990 99 m. Anm. Tiedemann; EuGHE 1990 2911; 1991 4371). Der EuGH verlangt, dass die Mitgliedstaaten für jeden Fall der Ver-

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187 BGHSt 22 282, 285; Ambos MK Rdn. 83; Jescheck/Weigend § 18 III 8; Nowakowski JZ 1971 634; Oehler Rdn. 233, 778 f; ders. FS Mezger, S. 98 f. 188 Hierzu Günther-Nicolay S. 115 ff. 189 AA Schlüchter FS Oehler, S. 307, 320 f gegen BGHSt 32 68, 75 ff zu §§ 148, 152. 190 Letztes Änderungsgesetz vom 19.12.1986 (BGBl. I S. 2566). 191 Ambos § 11 Rdn. 37; Oehler Rdn. 908; Satzger § 9 Rdn. 26. 192 Dannecker ZStW 117 (2005) 697, 721 ff; Satzger § 9 Rdn. 26.

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letzung von Gemeinschaftsrechtsgütern eine wirksame, verhältnismäßige Sanktion verhängen; die Wahl der konkreten Sanktion bleibt jedoch jedem Mitgliedstaat vorbehalten, „Brüche“ mit der nationalen Strafrechtsordnung verlangt der EuGH nicht.193 Sieht das innerstaatliche Recht eines Mitgliedstaates aber bereits Sanktionen für die Verletzung eines vergleichbaren nationalen Rechtsgutes vor, so trifft den Mitgliedstaat über die genannten Mindestanforderungen hinaus die Pflicht, die Verletzung des Gemeinschaftsrechtsgutes nach den gleichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln zu ahnden wie vergleichbare Verstöße gegen nationales Recht (Assimilierungserfordernis). Die Einbeziehung von Rechtsgütern der Europäischen Union in den Schutzbereich deutscher Strafnormen ergibt sich teilweise unmittelbar aus dem Gesetzeswortlaut. Dies ist etwa bei den Tatbeständen des Subventionsbetruges (vgl. § 264 Abs. 7 Satz 1 Nr. 2; hierzu § 6 Rdn. 95 ff) und der Steuerhinterziehung (vgl. § 370 Abs. 6 AO; hierzu Rdn. 480) der Fall;194 das Gesetz erstreckt damit den Anwendungsbereich der Strafnormen gegen Verkürzung der Ein- oder Ausfuhrabgaben, welche traditionell nur inländische fiskalische Belange schützen, auf Eingangsabgaben, die von einem anderen Mitgliedstaat der EU verwaltet werden oder einem Mitgliedstaat der EFTA zustehen (hierzu Fischer Rdn. 9). Ferner dehnt § 108d den Anwendungsbereich der §§ 107 bis 108c auch auf die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus; § 108e erfasst den Stimmenkauf oder -verkauf für eine Wahl oder Abstimmung im Europäischen Parlament (vgl. hierzu auch § 5 Rdn. 213 ff). Auch im deutschen Korruptionsstrafrecht findet sich die Gleichstellung von Unionsinteressen mit deutschen Interessen. Teilweise ergibt sich die Ausdehnung deutscher Straftatbestände auf Unionsinteressen im Wege der auf Grundlage von Art. 4 Abs. 3 EUV gebotenen unionsrechtskonformen Auslegung des deutschen Strafrechts (hierzu Satzger § 9 Rdn. 93 ff; Tiedemann ZStW 116 (2004) 945, 950). Zu beachten ist dabei, dass Grenze jeder Auslegung der mögliche Wortsinn ist. Daraus folgt, dass dann, wenn der deutsche Gesetzgeber den Schutzbereich ausdrücklich auf den Schutz deutscher hoheitlicher Interessen beschränkt hat, eine Ausdehnung auf Unionsrechtsgüter ausscheidet.195 Hier wäre die Grenze zur unzulässigen Analogie überschritten. In den genannten Grenzen kann die unionsrechtskonforme Auslegung aber ergeben, dass etwa § 132 nicht auf inländische Ämter beschränkt ist, sondern auch öffentliche Ämter der EU umfasst;196 weitere Beispiele bei Satzger § 9 Rdn. 120 ff; eingehend zum Ganzen Hecker § 10. Der EuGH hat entschieden, dass sich auch aus dem Unionsrecht eine Pflicht der Mitgliedstaaten ergibt, das nationale Recht „so weit wie möglich“ an Wortlaut und Zweck eines Rahmenbeschlusses auszurichten (EuGH NJW 2005 283; siehe auch Böse NK Rdn. 61). Vielfach ergibt sich die Gleichstellung ausländischer Schutzinteressen mit den Schutzgütern deutscher Straftatbestände auch aus internationalen Abkommen; siehe zu Aussage- und Eidesdelikten vor internationalen Gerichten Rdn. 320 ff. So werden in § 8 des Gesetzes vom 16.12.1997 zu dem Übereinkommen vom 26.7.1995 auf Grund von Artikel K.3 des Vertrages über die Europäische Union über die Errichtung des Europäischen Polizeiamtes (Europol-Gesetz; BGBl. 1997 II S. 2150) die Angehörigen von Europol (Direktor, Bedienstete, Verbindungsbeamte) den Amtsträgern für die Strafvorschriften über die Verletzung von Privatgeheimnissen, die Verwertung fremder Geheimnisse und die Verletzung des Dienstgeheimnisses gleichgestellt.

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Satzger § 9 Rdn. 27; Tiedemann NJW 1993 23, 27 m.w.N. Hierzu Tiedemann NJW 1990, 2226. Satzger § 9 Rdn. 100. So Satzger § 9 Rdn. 101; vgl. auch SSW/Jeßberger § 132 Rdn. 6.

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Gemäß Art. 194 Abs. 2 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) vom 25.3.1957 (EuratomV; BGBl. II S. 1014) behandelt jeder Mitgliedstaat eine Verletzung der die Gemeinschaft betreffenden Geheimhaltungspflicht nach Absatz 1 als Verstoß gegen seine Geheimhaltungsvorschriften; er „wendet dabei hinsichtlich des sachlichen Rechts und der Zuständigkeit seine Rechtsvorschriften über die Verletzung der Staatssicherheit oder die Preisgabe von Berufsgeheimnissen an“ (Art. 194 Abs. 2 Satz 1).197 So griff in einem einschlägigen Fall früher § 100e ein, der im Vorfeld des Landesverrats die Aufnahme oder Unterhaltung verräterischer Beziehungen zum Gegenstand hatte (BGHSt 17 121). Der BGH hat § 100e dort auf Grund einfacher Gesetzesauslegung für anwendbar gehalten, die den durch den Vertrag veränderten Umständen Rechnung trug. Die Entscheidung ist nicht so zu verstehen, als wäre Art. 194 Abs. 2 EuratomV durch das bloße Zustimmungsgesetz vom 27.7.1957 (BGBl. II S. 753, 1014, 1678) zu einer eigenständigen Strafvorschrift geworden, welche das geltende deutsche Strafrecht über die Grenzen seines Wortlauts hinaus erweitert hätte. Zu Bedenken gegen solche (indirekten) Änderungen nationaler Straftatbestände durch internationale Verträge vgl. Oehler Rdn. 920 bis 922. Wesentlich ist, dass der Gesetzgeber in solchen Fällen grundsätzlich nicht gehindert ist, den aus begründetem Anlass gewährten strafrechtlichen Schutz zur besseren Zweckerreichung auch über das völkerrechtlich verbindliche Mindestmaß hinaus zu gewähren (BGHSt 32 104, 112; vgl. 34 334, 336; 34 1, 2 f). Doch kann dies – aus Gründen innerstaatlichen Rechts – im Einzelfall auch einmal anders sein. Besonderheiten (im Sinne einer strikten Bindung) ergeben sich, wenn ein Blankettstrafgesetz (z.B. § 18 AWG) durch Rechtsverordnung oder einen Rechtsakt der Europäischen Union erweitert werden soll, die der Durchsetzung wirtschaftlicher Sanktionen dienen, welche der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nach Kapitel VII der VN-Charta beschlossen hat (BGHSt 41 127; BGH NStZ 1995 550, 551). Hierbei handelt es sich allerdings nicht nur um ein Problem der völkerrechtlichen Bindung (an die VNResolution), sondern auch um die ganz andere Frage, ob die deutsche Rechtsverordnung durch die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage (§ 18 AWG) gedeckt ist (vgl. auch § 1 Rdn. 165). Die Übernahme einer völkerrechtlichen Verpflichtung, bestimmte internationale Straftaten (Rdn. 52) strafrechtlich zu verfolgen, hebt für sich allein nicht die Grenzen auf, die das innerstaatliche Recht der Strafbarkeit zieht. Diese Grenzen würden sich zum Beispiel auswirken, wenn auf Grund der Folterkonvention (Rdn. 160) deutsches Strafrecht gegen einen türkischen Gefängnisbeamten angewendet werden müsste, der in einem türkischen Gefängnis durch körperliche Misshandlung türkischer Gefangener Aussagen erpresst hätte. Die §§ 341, 343 würden nicht eingreifen, weil Amtsträger im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2 grundsätzlich nur ist, wer nach deutschem Recht dazu bestellt ist, Aufgaben öffentlicher Verwaltung wahrzunehmen. Die Anwendung der bezeichneten Strafvorschriften auf den türkischen Beamten würde also gegen das Verbot strafschärfender Analogie verstoßen, es sei denn, der Gesetzgeber erweiterte ihre Anwendbarkeit im Hinblick auf das Folterabkommen. Das ist nicht geschehen. Durch das deutsche Strafrecht erfassbar sind Foltertaten im genannten Fall aber als Körperverletzung (§ 223) und Nötigung (§ 240) sowie gegebenenfalls als Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen (§§ 7, 8 VStGB).

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b) Einzelheiten aa) Beschränkung durch den Gesetzeswortlaut. Es gibt zahlreiche Tatbestände, bei denen sich schon aus dem Gesetzeswortlaut ergibt, dass sie ausschließlich deutsche staatliche Interessen schützen. Zu nennen sind: Friedensverrat (§ 80a), Hochverrat (§§ 81 bis 83a), Gefährdung des 314 demokratischen Rechtsstaats (§§ 84 bis 91a),198 Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit (§§ 93 bis 101a; zur Auslegung des Tatbestandsmerkmals „gegen die Bundesrepublik Deutschland“ in § 99 Abs. 1 Nr. 1 vgl. BGHSt 29 325, 327 ff); Straftaten gegen Verfassungsorgane sowie bei Wahlen und Abstimmungen (§§ 105 bis 106b und §§ 107 bis 108e, soweit nicht ausdrücklich auf Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments (§ 108d) und Mandatstätigkeit von Mitgliedern des Europäischen Parlaments, von Mitgliedern parlamentarischer Versammlungen internationaler Organisation und von Mitgliedern von Gesetzgebungsorganen ausländischer Staaten (§ 108e Abs. 3 Nrn. 4 bis 6) erstreckt (Rdn. 303, § 5 Rdn. 213 ff); vgl. auch BGHSt 39 54, 65);199 Straftaten gegen die Landesverteidigung (§§ 109d bis 109k);200 Widerstand gegen und tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte (§§ 113, 114, 115 i.V.m. § 11 Abs. 1 Nr. 2); Gefangenenbefreiung im Falle des § 120 Abs. 2 i.V.m. § 11 Abs. 1 Nrn. 2, 3, 4; Gefangenenmeuterei im Falle des § 121 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 11 Abs. 1 Nrn. 2, 3, 4;201 Strafvereitelung im Amt, soweit nicht die Bediensteten internationaler oder europäischer Institutionen deutschen Amtsträgern gleichgestellt sind (Voraufl. Rdn. 284) (§ 258a i.V.m. § 11 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 – BGHSt 40 169, 186 f) sowie Straftaten im Amt (§§ 331 bis 358 i.V.m. § 11 Abs. 1 Nrn. 2, 3 4).202 Siehe aber Rdn. 298 ff. 313

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bb) Beschränkung nach dem Sinn und Zweck des gesetzlichen Tatbestands. In anderen Fällen ergibt sich die Beschränkung auf den Schutz deutscher staatlicher Interessen zwar nicht ohne weiteres aus dem Gesetzeswortlaut, wohl aber aus dem Sinn und Zweck der Norm, wie er sich dem Straftatbestand bei Anwendung der anerkannten Auslegungsmethoden entnehmen lässt.203 So ist es bei den folgenden Bestimmungen: Wehrpflichtentziehung durch Ver316 stümmelung oder Täuschung (§§ 109 und 109a),204 Gefangenenbefreiung im Falle des § 120 Abs. 1,205 Gefangenenmeuterei in den Fällen des § 121 Abs. 1 Nrn. 2 und 3,206 Straftaten gegen die öffentliche Ordnung, wie schwerer Hausfriedensbruch (§ 124), Störung des öffentlichen Friedens (§ 126), Bildung bewaffneter Gruppen (§ 127), Volksverhetzung (§ 130),207 Vortäuschen einer Straftat (§ 145d)208 und Strafvereitelung (§ 258).209 Auch dass der Tatbestand der gemeinschädlichen Sachbeschädigung (§ 304) vor 317 dem Beitritt der DDR eine in Berlin (Ost) aufgestellte Tafel mit der Aufschrift „Sie betre-

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198 Siehe für eine differenzierende Bestimmung des Schutzgutes von § 86a Abs. 1 Nr. 2 in Abhängigkeit davon, ob Handlungen im Inland oder im Ausland vorbereitet werden Schumann MMR 2011 440, 442 f. 199 Oehler Rdn. 781; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 51 ff. 200 Vgl. Jescheck/Weigend § 18 III 8; Oehler Rdn. 781; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 50. 201 Oehler Rdn. 781; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 50. 202 Oehler Rdn. 781; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 50. 203 Jescheck/Weigend § 18 III 8. 204 Oehler Rdn. 781; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 50; Fischer Rdn. 9. 205 Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 50; Vogler NJW 1977 1866, 1867. 206 Ambos MK Rdn. 83; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 50. 207 BGH NStZ 2017 146, 146 f; BGHSt 46 212, 219; Fischer Rdn. 9. 208 OLG Düsseldorf NJW 1982 1242 f = JR 1983 75 m. zust. Anm. Bottke; Ambos MK Rdn. 83; Oehler Rdn. 237, 781. 209 Ambos MK Rdn. 83.

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ten die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik“ schützte, war wohl eher zu verneinen.210 cc) Besondere Fälle. Die Frage nach dem Schutzzweck eines Straftatbestandes ist 318 für jeden Tatbestand und, falls vorhanden, für jede Tatbestandsvariante gesondert zu beantworten. (1) Aufforderung zu Straftaten und Hausfriedensbruch. Bei öffentlicher Auffor- 319 derung zu Straftaten (§ 111) ist der Charakter der Straftat maßgebend, zu der aufgefordert wird.211 Dass Hausfriedensbruch (§ 123 Abs. 1) die Unverletzlichkeit der Wohnung des Einzelnen (Art. 13 Abs. 1 GG) und damit jedenfalls auch ein Individualrechtsgut berührt, ist offensichtlich und wird durch das Strafantragserfordernis gemäß § 123 Abs. 2 bestätigt.212 Dem steht nicht entgegen, dass eine differenzierende Beurteilung am Platze ist, soweit die Tat Diensträume (zum Beispiel einer ausländischen Botschaft) betrifft.213 (2) Aussagedelikte und Eidesverletzung. Die Straftatbestände gegen falsche uneidliche Aussage und Meineid (§§ 153 ff) dienen grundsätzlich (siehe aber Rdn. 322 f) nur dem Schutz der deutschen staatlichen Rechtspflege.214 Sie sind auf das deutsche Recht abgestellt. Hinzu kommt, dass die Ausübung ausländischer staatlicher Rechtspflege nicht immer über den Verdacht des Missbrauchs erhaben ist und es nicht dem einzelnen Richter überlassen bleiben kann zu entscheiden, ob die ausländische Rechtspflege den Schutz durch das Strafrecht verdient.215 Mit der hier vertretenen Auffassung steht im Einklang, dass § 5 Nr. 10 nur einschlägige Auslandstaten für strafbar erklärt, die sich auf inländische Verfahren beziehen. Danach ist zum Beispiel ein Meineid, den der Täter in einem ausländischen Prozess vor einem ausländischen Gericht leistet, nicht tatbestandsmäßig im Sinne des § 154 und folglich auch nicht auf dem Weg über § 7 mit Strafe bedroht. Die ältere Rechtsprechung216 und Stimmen im älteren Schrifttum217 haben sich demgegenüber auf den Standpunkt gestellt, dass die Aussagedelikte auch die ausländische Rechtspflege schützten. Abweichend von diesem Grundsatz (Rdn. 320) gelten die §§ 153 ff gem. § 162 nunmehr auch für Aussagedelikte und Eidesverletzungen, die vor internationalen Gerichtshöfen, die durch einen für die Bundesrepublik Deutschland verbindlichen Rechtsakt errichtet worden sind, begangen werden.218 Diese Ausdehnung des Schutzbereichs der Aussagedelikte ist durch G zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie (BGBl. 2008 I 2149) geschaffen worden. Schon zuvor war aufgrund vertraglicher Vereinbarungen eine Ausdehnung des deutschen Strafrechts

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210 So Schroeder JZ 1976 100; ders. NJW 1976 490; vgl. auch Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 50; aA KG JZ 1976 99; LG Berlin JZ 1976 98. . 211 Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 50; aA Tröndle LK10 Rdn. 26; wohl auch Oehler Rdn. 781. 212 OLG Köln StV 1982 471 m. abl. Anm. Bernsmann S. 578; Ambos MK Rdn. 86; Oehler Rdn. 781. 213 Bernsmann StV 1982 578; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 50. 214 Ambos MK Rdn. 83 (siehe aber Rdn. 87); Lackner/Kühl/Heger Rdn. 9; Lüttger FS Jescheck, S. 159 ff; Oehler Rdn. 234, 782; Schröder JZ 1968 244; Fischer Rdn. 9; aA Hoyer SK Rdn. 35. 215 Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 50; Schröder JZ 1968 244; Schroeder JZ 1976 100; vgl. auch Nowakowski JZ 1971 634. 216 RGSt 3 70, 72. 217 Jescheck Internationales Recht und Diplomatie (1956) 78; Kohlrausch/Lange § 3 Anm. I 2; Welzel § 6 II 1. 218 Siehe hierzu Sinn NJW 2008 3526.

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(etwa Art. 70 Abs. 4 IStGH-Statut, Art. 46 der Verfahrensordnung des EGMR; näher Vorauf. Rdn. 303 ff) vorgesehen, ohne dass es hierzu einer ausdrücklichen gesetzlichen Vorschrift bedurft hätte. Die Schutzbereichserweiterung betrifft namentlich Falschaussagen vor dem Interna324 tionalen Strafgerichtshof, dem Internationalen Gerichtshof, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, dem Europäischen Gerichtshof sowie dem Gericht erster Instanz (EuG). 325

(3) Falsche Verdächtigung. Der Tatbestand der falschen Verdächtigung (§ 164) schützt die inländische staatliche Rechtspflege. Insoweit gilt grundsätzlich Gleiches wie bei den §§ 153 ff (Rdn. 320 ff).219 Indessen greift § 164 wegen seiner Doppelnatur220 auch dann ein, wenn ein Deutscher einen anderen vor einer ausländischen Behörde falsch verdächtigt (BGHSt 18 333; OLG Düsseldorf NJW 1982 1242, 1243).221

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(4) Verletzung der Unterhaltspflicht. Hingegen bleibt der Schutz, den der Tatbestand der Verletzung der Unterhaltspflicht (§ 170) gewährt, auf das Inland beschränkt, weil die Vorschrift die deutsche Allgemeinheit vor ungerechtfertigter Inanspruchnahme zu schützen bestimmt ist und dieser Schutz nicht auf die ausländische öffentliche Hand ausgedehnt werden kann (BGHSt 29 85, 87 ff). Die Vorschrift ist also unanwendbar, wenn ein im Inland lebender Ausländer seine gesetzliche Unterhaltspflicht gegenüber im Ausland lebenden Unterhaltsberechtigten nichtdeutscher Staatsangehörigkeit verletzt.222

(5) Kreditbetrug und weitere Taten gegen institutionelle Rechtsgüter des Wirtschaftslebens. Schwierigkeiten bereitet die Bestimmung des Schutzbereiches dort, wo nicht staatsbezogene Allgemeingüter geschützt werden (näher Satzger § 6 Rdn. 2). Entgegen einer früheren Entscheidung des OLG Stuttgart (NStZ 1993 545) hat der BGH nunmehr ganz zu Recht festgestellt, dass der Tatbestand des Kreditbetrugs (§ 265b) nicht nur die Funktionsfähigkeit des inländischen Kreditwesens schützt, sondern auch Straftaten zu Lasten ausländischer Kreditgeber erfasst (BGHSt 60 15; noch offen gelassen in BGH NStZ 2002 435). Geschützt ist demnach auch das ausländische Kreditwesen.223 Entsprechend hatte der BGH bereits zuvor den Schutzbereich des Versicherungs328 missbrauchs (§ 265) bestimmt (wistra 1993 225). 327

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(6) Urkundsdelikte. Ob Urkunden mit Auslandsbezug durch die Urkundentatbestände (§§ 267 ff) geschützt sind, lässt sich nicht einheitlich beurteilen. Uneingeschränkt wird dies zu bejahen sein, soweit die Tatbestände dem Schutz der Urkundenechtheit und -unversehrtheit dienen.224 Soweit es um Wahrheitsschutz geht (§§ 271 bis 273), ist zu beachten, dass diese Vorschriften nicht nur den allgemeinen Beweisverkehr schützen, sondern auch die staatliche Autorität in der besonderen Ausprägung der Beurkun-

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219 Ambos MK Rdn. 83; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 9. 220 BGHSt 14 240, 244 f; 9 240, 242; 5 66, 68. . 221 BGH NJW 1952 1385 (Behörde der französischen Besatzungsmacht); BGH JR 1965 307 (polnische Dienststelle); aA RGSt 60 317 f für französische Dienststellen während der Ruhrgebietsbesetzung 1923. 222 BGHSt 29 85 = JR 1980 380 mit zust. Anm. Oehler; OLG Stuttgart NJW 1977 1601, 1602; OLG Saarbrücken JR 1975 291 m. krit. Anm. Oehler; LG Ravensburg NStZ 1984 459 = NStZ 1985 269 m. Anm. Zuberbier/Becker; Oehler Rdn. 236; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 48; aA OLG Karlsruhe NJW 1978 1754 = JR 1978 379 m. abl. Anm. Oehler; Ambos MK Rdn. 87; Hoyer SK Rdn. 35. 223 Einschränkend – soweit das betreffende Kreditunternehmen seinen Sitz in einem Mitgliedstaat der EU hat – Tiedemann LK12 § 265b Rdn. 119. 224 Ambos MK Rdn. 87.

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dungsbefugnis öffentlicher Urkundspersonen. Da die mittelbare Falschbeurkundung „die Umkehrung der Falschbeurkundung im Amt“225 (§ 348) ist, diese aber ausländische Urkunden nicht erfasst, kann grundsätzlich für § 271 nichts anderes gelten (aA OLG Düsseldorf NStZ 1983 221, 222). Als Schutzobjekt der §§ 271 ff kommen jedoch ausländische Urkunden in Betracht, auf denen eine inländische Legalisierung angebracht ist oder die auf Grund von Staats- oder Konsularverträgen als öffentliche Urkunden anerkannt sind und einer derartigen Überbeglaubigung nicht bedürfen.226 Nach BGHSt 18 333, 334 erfasst § 279 auch den Gebrauch unrichtiger Gesundheitszeugnisse vor ausländischen Konsulaten im Inland. Dem ist im Ergebnis zuzustimmen.227 (7) Straßenverkehrsdelikte. Der frühere Meinungsstreit um die Frage, ob und in- 330 wieweit das deutsche Verkehrsstrafrecht auch für Verkehrsverstöße Deutscher auf ausländischen Straßen gilt, hat sich durch die Rückkehr zum Gebietsgrundsatz (Rdn. 276) im Wesentlichen erledigt. Verkehrsstraftaten Deutscher im Ausland unterliegen der deutschen Strafgewalt nur noch insoweit, als die Voraussetzungen des § 7 gegeben sind oder auf Grund eines für die Bundesrepublik Deutschland verbindlichen zwischenstaatlichen Abkommens die Verfolgbarkeit von Auslandstaten besonders vorgesehen ist (vgl. § 6 Nr. 9).228 Soweit in diesem Sinne ein Anknüpfungspunkt für das deutsche Strafrecht vorhanden ist, sind die Vorschriften über die fahrlässige Tötung und fahrlässige Körperverletzung (§§ 222, 229) auch auf Auslandstaten anwendbar, da diese Vorschriften dem Schutz von Individualinteressen dienen (Rdn. 293 f).229 Dasselbe gilt grundsätzlich für die verkehrsrechtlichen Straftatbestände (§§ 315 ff StGB, 21 ff StVG), soweit diese Bestimmungen nicht nur die Sicherheit der dort genannten Verkehrsarten, insbesondere die des Straßenverkehrs schützen, sondern auch der Sicherheit individueller Rechtsgüter dienen (zu § 315c Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a bei Trunkenheitsfahrt eines Ausländers offengelassen in BGHSt 42 235, 237).230 Die Verhaltensnormen des Straßenverkehrsrechts jedes Landes enthalten ein Ord- 331 nungs-gefüge, dessen abstrakte Gefährdungsnormen nicht ohne weiteres auf ein anderes, ausländisches Straßenverkehrsrecht passen.231 Die Anwendbarkeit von verkehrsstrafrechtlichen Vorschriften ist daher grundsätzlich auf solche Auslandstaten beschränkt, welche die Voraussetzungen konkreter Gefährdungstatbestände erfüllen.232 Freilich gilt diese Überlegung nur, soweit die abstrakte Gefährdungsnorm im Wesentlichen auf Besonderheiten der jeweiligen Rechts- und Straßenverkehrsordnung zugeschnitten ist; der abstrakte Gefährdungstatbestand der Trunkenheit im Verkehr (§ 316), dem ein ganz allgemeines, in allen Straßenverkehrsordnungen geltendes Verhaltensgebot zugrunde liegt, gilt auch für Auslandstaten (OLG Karlsruhe NJW 1985 2905),233 ebenso die Vorschrift über unerlaubtes Entfernen vom Unfallort (§ 142),234 da sie das private Feststellungsinteresse der Unfallbeteiligten schützt.

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225 RGSt 66 132, 137; 27 100, 104. 226 Niewerth NJW 1973 1219; Wiedenbrüg NJW 1973 303; i. Erg. ebenso Oehler Rdn. 784. 227 Oehler Rdn. 784. Vgl. zur Gesamtproblematik Schroeder NJW 1990 1406. 228 Vgl. auch Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 46; Fischer Rdn. 11. 229 BayObLG NJW 1972 1722; Ambos MK Rdn. 90; Oehler Rdn. 787; vgl. auch Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 45; D. Schultz JR 1968 47. 230 Ambos MK Rdn. 90; Hoyer SK Rdn. 33; Oehler Rdn. 787; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 45; Tröndle JR 1977 4. 231 Vgl. BayObLG VRS 29 352; OLG Frankfurt NJW 1965 508; Lackner JR 1968 270; Oehler JZ 1968 191. 232 Ambos MK Rdn. 86; Schröder NJW 1968 285; vgl. Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 45. 233 Ambos MK Rdn. 90; Hoyer SK Rdn. 33; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 45; Fischer Rdn. 11. 234 BayObLG VRS 26 101; Ambos MK Rdn. 90.

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Andere im Ausland begangene Verstöße gegen Straßenverkehrsvorschriften können nach deutschem Recht grundsätzlich nicht verfolgt werden. Als bloße Verkehrsordnungswidrigkeiten unterliegen sie dem Territorialitätsprinzip (§ 5 OWiG), soweit gesetzlich235 oder durch ein ratifiziertes zwischenstaatliches Abkommen nichts anderes bestimmt ist.236 Solche supranationalen Vereinbarungen gibt es bisher nur vereinzelt.237 5. Grundbegriffe des geltenden Strafanwendungsrechts

a) Tat. Die „Tat“ im Sinne der §§ 3 ff, für die das deutsche Strafrecht gilt, ist das konkrete Tatgeschehen (die einheitliche prozessuale Tat) unter allen sachlichrechtlichen Gesichtspunkten. Der Ausdruck „Tat“, wie ihn die §§ 3 ff verwenden, kann unterschiedlichen Inhalt 334 haben (vgl. auch § 11 Rdn. 80). Je nachdem, wie und in welchem Zusammenhang er gebraucht wird, kann seine sachlichrechtliche oder auch seine prozessuale Bedeutung im Vordergrund stehen. 333

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aa) Sachlichrechtliche Bedeutung. Im sachlichrechtlichen Sinne ist stets eine Straftat oder wenigstens eine rechtswidrige Tat (§ 11 Abs. 1 Nr. 5) gemeint. Ordnungswidrigkeiten scheiden aus; für sie gilt § 5 OWiG.238 Sachlichrechtlich bestimmt das Gesetz den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts in unterschiedlicher Weise. Es kann – abgesehen von dem Merkmal der Begehung239 im Inland oder im Ausland – entweder an abstrakte Straftatbestände anknüpfen (wie etwa in § 5 Nr. 2, § 6 Nrn. 2 bis 4) oder an außertatbestandliche Kriterien, von denen es die Geltung des deutschen Strafrechts abhängig macht (wie etwa in § 6 Nr. 9 und § 7). Es kann auch beide Methoden miteinander verbinden, wie es dies in vielen Fällen tut (wie etwa in § 5 Nrn. 6 bis 11). In den Fällen, in denen die Geltung des deutschen Strafrechts – ausschließlich oder neben anderen Kriterien – an einen bestimmten Straftatbestand anknüpft, erstreckt sich die deutsche Strafgerichtsbarkeit nur auf diesen rechtlichen Gesichtspunkt und den ihm zugrunde liegenden Sachverhalt. Das ist unabhängig davon, ob weitere Straftatbestände in sachlichrechtlicher Tateinheit erfüllt sind oder ob sie bei sachlichrechtlicher Tatmehrheit in prozessualer Tateinheit mit ihm verbunden sind (BGHSt 34 1, 3; BGH NJW 1991 3104). Zur Annexkompetenz bei der Verfolgung von Völkermord nach § 6 Nr. 1 a.F. siehe § 6 Rdn. 7. In anderen Fällen, in denen das Gesetz von der „Tat“ spricht, ohne sie rechtlich näher zu bestimmen (§§ 3, 4, 7), ist das konkrete Tatgeschehen gemeint, und zwar unter allen strafrechtlichen Gesichtspunkten. Hier entfällt die Beschränkung, die bei der Ausdehnung des deutschen Strafrechts auf Auslandstaten in der Anführung abstrakter Straftatbestände liegt (Rdn. 337). Tat in diesem Sinne kann auch eine Teilnahme (Anstiftung oder Beihilfe) sein.240 Anderenfalls würde es an einer Norm über die Geltung des deutschen Strafrechts für die

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235 Beispiele bei Göhler OWiG § 5 Rdn. 5. 236 Seit der Umwandlung der Verkehrsübertretungen in Ordnungswidrigkeiten ist BGHSt 21 277 überholt. 237 Z.B. mit der Schweiz (Art. 6 G vom 20.8.1975, BGBl. II S. 1169); vgl. Ambos MK Rdn. 91; Göhler OWiG § 5 Rdn. 7; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 47. 238 Zum transnationalen Geltungsbereich des deutschen Verbandsstrafrechts Schneider ZIS 2013 488. 239 Zum Begriff der Begehung umfassend Lampe GA 2009 673. 240 Ambos § 1 Rdn. 25 (anders noch ders. MK1 § 3 Rdn. 7); Lackner/Kühl/Heger Rdn. 1; Böse NK Rdn. 54; Miller/Rackow ZStW 117 (2005) 381 ff; Sch/Schröder/Eser/Weißer § 3 Rdn. 4a; aA Mitsch Jura 1989 194. .

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im Inland oder Ausland begangene Teilnahme an Inlandstaten fehlen. Für die hier vertretene Auffassung spricht, dass das Gesetz in § 8 (anders als in § 9) nicht nur die Täterschaft, sondern auch die Teilnahme als „Tat“ bezeichnet und dass es, wie die Regelung des § 9 Abs. 2 Satz 2 zeigt, ersichtlich davon ausgeht, bei Auslandstaten, die vom deutschen Strafrecht erfasst werden, sei grundsätzlich auch die Teilnahme strafbar. Aus dem Umstand, dass völkerrechtliche Abkommen nicht selten (vgl. etwa Rdn. 164, 183) die Teilnahme an bestimmten internationalen Delikten ausdrücklich zu strafbaren Handlungen erklären, lässt sich Gegenteiliges nicht herleiten. Das Argument, bei der hier vertretenen Auffassung wäre § 9 Abs. 2 Satz 2 überflüssig,241 ist nicht überzeugend. Denn diese Vorschrift enthält – bei im Übrigen vorausgesetzter Strafbarkeit der Teilnahme nach deutschem Recht – nur einen Verzicht auf die limitierte Akzessorietät der Teilnahme für den Fall, dass die im Ausland verübte Haupttat, der die Teilnahme im Inland gilt, nach dem Recht des ausländischen Tatorts nicht mit Strafe bedroht und deshalb auch im Inland nicht strafbar ist (näher § 9 Rdn. 47 ff; vgl. Ambos § 1 Rdn. 25). Siehe auch § 5 Rdn. 20 ff. bb) Prozessuale Bedeutung. Dem Tatbegriff der §§ 3 ff kommt prozessuale Bedeu- 340 tung zu. Das Fehlen deutscher Gerichtsbarkeit bildet ein Prozesshindernis für die Verfolgung der Tat insgesamt oder unter einem bestimmten sachlichrechtlichen Gesichtspunkt (Rdn. 10). Der prozessuale Einschlag des Tatbegriffs zeigt sich darüber hinaus darin, dass die Geltung des deutschen Strafrechts nach § 7 Abs. 2 Nr. 2 mit davon abhängt, ob der Täter wegen der Tat ausgeliefert wird. b) Inland – Ausland. Der Gebietsgrundsatz, der den Ausgangspunkt des deutschen 341 Strafanwendungsrechts bildet (Rdn. 276 ff), erfordert eine Abgrenzung zwischen Inland einerseits und Ausland andererseits. Inland ist das gesamte Gebiet, auf das sich die Hoheitsgewalt der Bundesrepublik er- 342 streckt; erfasst sind insbesondere das Landgebiet, die Binnengewässer, das Küstenmeer sowie der jeweils darüber liegende Luftraum (näher § 3 Rdn. 24 ff). Hier gilt gemäß § 3 das deutsche Strafrecht. Seit dem Beitritt der DDR sind der strafrechtliche, der staatsrechtliche und der völkerrechtliche Begriff des Inlands ebenso deckungsgleich wie die Begriffe Inland und „räumlicher Geltungsbereich“ des Strafgesetzbuches (vgl. § 3 Rdn. 20). Im Ausland begangen ist die Tat, wenn der Begehungsort nicht im Inland liegt. Zum 343 Ausland gehören deshalb nicht nur Räume unter fremder Gebietshoheit, sondern auch alle gebietshoheitsfreien Räume (näher § 5 Rdn. 41 ff). c) Deutscher – Ausländer. Grundlegend für die Anwendung der §§ 3 ff ist ferner die 344 Unterscheidung zwischen Deutschen und Ausländern, die vor allem im Hinblick auf das Personalitätsprinzip (Rdn. 247, 251, 279; vgl. auch § 7 sowie § 5) erforderlich ist. Wer Deutscher ist, ergibt sich aus Art. 116 GG. Hierunter fallen vor allem Staatsange- 345 hörige der Bundesrepublik Deutschland, daneben aber auch andere Personen, vgl. im Einzelnen § 7 Rdn. 55 ff. Ausländer ist, wer zur Tatzeit nicht Deutscher war und es auch später nicht gewor- 346 den ist, ferner, wer die Staatsangehörigkeit wieder verloren hat (näher § 7 Rdn. 93). Auch Staatenlose sind in strafanwendungsrechtlicher Sicht Ausländer.

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Sch/Schröder/Eser29 § 3 Rdn. 4.

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d) Geltung. Die §§ 3 ff ordnen als Rechtsfolge die „Geltung“ des deutschen Strafrechts an. Geltung bedeutet sachlichrechtlich auch die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts bei der Prüfung, ob eine strafbare Handlung vorliegt (siehe auch Rdn. 3 ff). Darüber hinaus besagt der Ausdruck, dass die Gerichte unter den bezeichneten Voraussetzungen verfahrensrechtlich befugt sind, deutsche Strafgerichtsbarkeit auszuüben. Der Geltungsbegriff hat also eine strafrechtliche und eine strafprozessuale Seite (Rdn. 7, 10).

e) Deutsches Strafrecht. Die in den §§ 3 ff angeordnete Geltung deutschen Strafrechts umfasst die Gesamtheit aller Normen der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Länder, durch die rechtswidrige Taten (§ 11 Abs. 1 Nr. 5) tatbestandlich umschrieben und mit Rechtsfolgen belegt sind (Fischer Rdn. 2). Hierzu gehört auch die Gesamtheit der Rechtfertigungs-, Schuld- und Strafausschließungsgründe sowie die Verfahrenshindernisse. Das gilt zum Beispiel für Rechtfertigungsgründe, soweit das deutsche Strafrecht nach § 7 auf Auslandstaten anzuwenden ist, und zwar unabhängig davon, ob das ausländische Recht einen gleichen Rechtfertigungsgrund kennt oder nicht (OLG Köln MDR 1973 688 zu § 3 a.F.). Mögliche Rechtfertigungen nach deutschem und ausländischem Recht sind voneinander zu trennen. Strafbarkeit nach § 7 (jeweils erste Alternative) kommt nur in Betracht, wenn Rechtfertigungsgründe nach deutschem und ausländischem Recht ausscheiden; Straffreistellungsgründe im ausländischen Recht können wegen Verstoßes gegen den internationalen ordre public (§ 7 Rdn. 38) unbeachtlich sein. Deutsches Strafrecht wird auch angewendet, wenn zivil- oder verwaltungsrechtliche Vorfragen nach ausländischem Recht beurteilt werden müssen (Rdn. 349 ff; § 7 Rdn. 21 ff). 6. Strafanwendungsrecht und Fremdrechtsanwendung. Deutsche Gerichte wen349 den ausschließlich deutsches Recht an (Ambos MK Rdn. 1; siehe auch Rdn. 8). Dies bedeutet, dass der Richter die Voraussetzungen der Strafbarkeit und die Rechtsfolgen anhand der deutschen Strafgesetze ermittelt. Fremdrechtsanwendung im Sinne der unmittelbaren Anwendung ausländischer Strafrechtsnormen ist im geltenden deutschen Strafrecht nicht vorgesehen. Eine Fremdrechtsanwendung in einem weiteren Sinne kennt das deutsche Strafrecht 350 aber durchaus; dies betrifft zum einen die rechtliche Behandlung außerstrafrechtlicher Vorfragen, zum anderen die Bedeutung der Rechtslage am ausländischen Tatort für die Geltung deutschen Strafrechts in den Fällen des § 7; eingehend zum Ganzen Cornils, Schneider sowie Staubach. Ausschlaggebend für die Geltung des deutschen Strafrechts kann ausländisches 351 Strafrecht in den Fällen des § 7 sein. Bei der Prüfung, ob eine Auslandstat nach deutschem Strafrecht mit Strafe bedroht ist (§ 7), muss ihm der Sachverhalt mit allen Tatumständen so, wie er sich wirklich ereignet hat, unverändert unterstellt werden (siehe auch § 7 Rdn. 21 ff). Demnach ist eine Auslandstat nicht als vollendete Unterschlagung mit Strafe bedroht, wenn der Täter nach der Rechtsordnung am ausländischen Tatort Eigentum an der von ihm verwerteten Sache erlangt hat, selbst wenn dies bei einem entsprechenden Erwerb in Deutschland nicht der Fall gewesen wäre.242 Von noch gesteigerter Bedeutung ist das ausländische Tatortrecht dann, wenn man mit der zutreffenden Ansicht (§ 7 Rdn. 89, 92) davon ausgeht, dass in den Fällen des § 7 Abs. 2 Nr. 1 zweite Alternative und Nr. 2 der Strafrahmen der ausländischen Tatortnorm zu Gunsten des Täters zu berücksichtigen ist.

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Jescheck/Weigend § 18 I 1; vgl. auch Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 41.

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Die Geltung und Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts schließt auch jenseits des § 7 nicht aus, dass ausländische Rechtssätze, in der Regel solche des Zivil- oder Verwaltungsrechts, bei der Subsumtion berücksichtigt werden (Lackner/Kühl/Heger Rdn. 1). So kann das Vorliegen eines normativen Tatbestandsmerkmals von einer nach ausländischem Recht zu beurteilenden Rechtsfrage abhängen.243 Ausländische Normen können ferner für die Bestimmung der Sorgfaltspflicht bei Fahrlässigkeitsdelikten oder der Garantenpflicht bei Unterlassungsdelikten maßgeblich sein.244 Aus der Geltung des deutschen Strafrechts folgt allerdings, dass zur Ausfüllung eines maßgebenden deutschen Strafgesetzes, welches als Blankettstrafgesetz (§ 1 Rdn. 148, § 2 Rdn. 103) ausdrücklich oder stillschweigend nur auf andere deutsche Rechtsvorschriften verweist, allein inländische Rechtsnormen heranzuziehen sind; denn nur sie vervollständigen dann – gleichsam als dessen Teil – den Straftatbestand, um dessen Anwendung es geht (vgl. OLG Karlsruhe NStZ 1985 317 = NStZ 1989 182 m. abl. Anm. Liebelt).245 Doch ist zum Beispiel § 283b kein Blankettstrafgesetz (aA OLG Karlsruhe NStZ 1985 317). Vielmehr knüpft die Vorschrift – wie die §§ 242, 246 und 266 – bei Umschreibung des gesetzlichen Tatbestands lediglich (auch) an das Vorhandensein außerstrafrechtlicher Rechtsverhältnisse an, die zu den Tatumständen gehören;246 damit ist bei einer Auslandstat insoweit die ausländische Rechtsordnung – konkret eine nach ausländischem Recht bestehende Buchführungspflicht – maßgebend.247 Nach diesen Grundsätzen (Rdn. 349 ff) kommt es auch für die Prüfung, ob sich der Täter durch eine im Ausland eingegangene Heirat bzw. Lebenspartnerschaft der (verbotenen) Doppelehe bzw. doppelten Lebenspartnerschaft (§ 172) schuldig gemacht hat, auf die Zivilrechtsordnung am Tatort an.248 Die Frage, ob ein Ausländer nach einer ersten Auslandsehe bzw. Auslandslebenspartnerschaft mit einer Ausländerin durch Eingehung einer zweiten mit einer Deutschen in einem anderen ausländischen Staat im Sinne des § 172 (erneut) „eine Ehe geschlossen“ hat, kann also strafrechtlich nicht nach den Regeln des deutschen IPR beurteilt werden, obwohl es sich um die Anwendung deutschen Strafrechts handelt. Cornils (S. 71 ff, 98f, 122) gelangt in den Fällen der von ihr sogenannten „stillschweigend verweisenden Akzessorietät“ des Strafrechts (S. 20 ff) jedenfalls weitgehend zum gleichen Ergebnis wie hier, wenn auch mit anderer Begründung. Nach ihrer Auffassung kommt es bei der Sachverhaltssubsumtion unter ein strafrechtliches Tatbestandsmerkmal, welches sich auf ein im Zivilrecht geregeltes Rechtsverhältnis bezieht, dann zur Fremdrechtsanwendung, wenn das in Bezug genommene Privatrechtsverhältnis einer allseitigen Kollisionsnorm des internationalen Privatrechts unterliegt, die auf Grund der Auslandsberührung eine fremdstaatliche Rechtsordnung für regelungszuständig erklärt (Cornils S. 98; vgl. OLG Schleswig NJW 1989 3105). Handelt es sich dagegen um ein Tatbestandsmerkmal verwaltungsrechtlicher Art, so soll die Fremdrechtsanwendung aus einem ungeschriebenen Grundsatz des internationalen Verwaltungsrechts folgen, näm-

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243 OLG Schleswig NJW 1989 3105; Hoyer SK Rdn. 42; Böse NK Rdn. 63; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 40a f. 244 Jescheck/Weigend § 18 I 1; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 41. 245 Siehe auch Cornils S. 17 f. 246 Vgl. Cornils S. 20 ff. 247 So auch Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 41; aA OLG Karlsruhe NStZ 1985 317; siehe allgemein zur Fremdrechtsanwendung bei Delikten des Wirtschaftsstrafrechts Mosiek StV 2008 94 sowie speziell bei der Untreue zulasten von EU-Auslandsgesellschaften Radtke GmbHR 2008 729. 248 StA München I NStZ 1996 436; Liebelt GA 1994 20 ff; wohl auch Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 41; aA LG Hamburg NStZ 1990 280 = NStZ 1993 544 m. abl. Anm. Liebelt.

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lich dem Gebot der Respektierung fremder Hoheitsgewalt (Cornils S. 99). Gegen die kollisionsrechtliche Lösung zivilrechtlicher Vorfragen spricht, dass sie methodisch dem Strafrecht fremd ist. Die außerstrafrechtlichen Rechtsverhältnisse am ausländischen Tatort gehören zu den Tatumständen und damit zum wirklichen Sachverhalt, der – auch bei Auslandstaten – Gegenstand der strafrechtlichen Beurteilung sein muss.249 Bei grenzüberschreitenden Umweltbeeinträchtigungen, die im Ausland verursacht 357 werden, ist bei der Anwendung deutschen Strafrechts auf die Rechtslage am Tatort abzustellen, soweit es um Fragen der Verwaltungsakzessorietät geht.250 Eingehend hierzu Günther-Nicolay, Martin und Hecker ZStW 116 (2004) 880. Zur Gesamtproblematik der „Fremdrechtsanwendung“ im Rahmen des nationalen 358 Strafrechts gehört auch die Frage, in welchem Umfang Europarecht bei Inlands- und Auslandstaten auf die Auslegung und Anwendung deutschen Strafrechts einwirkt. Siehe hierzu Rdn. 299 ff und Weigend ZStW 105 (1993) 774, 780 f. 359

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7. Konkurrenz mit ausländischen Strafrechtsordnungen und ne bis in idem. Die §§ 3 bis 7 regeln die Reichweite der innerstaatlichen Strafgewalt (Rdn. 3 f). Ob die Strafgewalt ausgeübt wird, unterliegt bei Auslandstaten grundsätzlich dem Ermessen der zuständigen Strafverfolgungsbehörden (§ 153c Abs. 1 Nr. 1 StPO; näher Rdn. 369 ff). Die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts schließt nicht aus, dass dieselbe Tat auch nach dem Recht anderer Staaten strafbar und verfolgbar ist (vgl. auch Rdn. 45). Die §§ 3 bis 7 besagen nichts darüber, was gilt, wenn eine solche Konkurrenz verschiedener Strafrechtsordnungen besteht; sie sind keine Kollisionsnormen.251 Die verschiedenen bei Taten mit Auslandsbezug eingreifenden Strafrechtsordnungen bestehen nebeneinander und richten sich nach den eigenen Gesetzen.252 Das für die Aburteilung zuständige deutsche Gericht wendet inländisches Strafrecht an, soweit nach den Vorschriften der §§ 3 bis 7 hierfür Raum ist. Das gilt grundsätzlich (siehe aber Rdn. 361) auch, wenn der Täter der Auslandstat im Ausland schon verurteilt ist. Der Grundsatz ne bis in idem (Art. 103 Abs. 3 GG) gilt im Verhältnis zur ausländischen Verurteilung grundsätzlich nicht.253 Ausnahmen hiervon bestehen bei Aburteilung durch Gerichte anderer Mitgliedstaaten der EU und durch internationale Strafgerichte (eingehend Kniebühler Transnationales „ne bis in idem“ (2005)). Von großer praktischer Bedeutung sind die Artikel 54 ff des Schengener Durchführungsübereinkommens vom 19.6.1990 (SDÜ; G vom 15.7.1993, BGBl. II S. 1010; in Kraft seit 1.9.1993, Bek. vom 20.4.1994, BGBl. II S. 631). Das Durchführungsübereinkommen soll den Wegfall der Grenzkontrollen im Raum der sog. Schengen-Staaten durch Begleitregelungen kompensieren; durch den Vertrag von Amsterdam ist es in den Besitzstand der Europäischen Union überführt worden und gilt seitdem für alle Mitgliedstaaten der EU. Nach Art. 54 SDÜ darf, wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden,

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249 Differenzierend Oehler Rdn. 151d; für denkbare Alternativen sowie allgemein zur Fremdrechtsanwendung bei Blanketttatbeständen und Tatbeständen mit normativen Tatbestandsmerkmalen siehe Mankonwski/Bock ZStW 120 (2008) 704, 723 ff. 250 Hoyer SK Rdn. 43; diff. Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 42. 251 Ambos MK Rdn. 73 ff; Hoyer SK Rdn. 5; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 5, 78. 252 BVerfGE 92 277, 324; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 78. 253 BVerfGE 75 1, 18; 12 62; BGHSt 6 176, 177; BGH NJW 1969 1542; Ambos MK Rdn. 73; Radtke/Busch EuGRZ 2000 421, 423; Schomburg NJW 1995 1931, 1933; dagegen mit beachtlichen Argumenten für die zwischenstaatliche Geltung des Grundsatzes Specht S. 182 ff.

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vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann; der nochmaligen Verurteilung steht dann ein Verfahrenshindernis entgegen. Die Auslegung einzelner Merkmale der Vorschrift war lange Zeit umstritten.254 Klarstellungen haben hier Entscheidungen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren255 gebracht. In diesen hat der EuGH betont, dass maßgeblich für die Auslegung der Vorschrift nicht eine formale Sichtweise, sondern Sinn und Zweck der Norm sein soll (vgl. etwa EuGH NStZ 2003 332);256 so soll es trotz des Wortlauts von Art. 54 SDÜ („rechtskräftig“, „Urteil“) nicht erforderlich sein, dass die Entscheidung durch ein Gericht und in Form eines Urteils getroffen wird, solange die verfahrensbeendende Entscheidung, etwa der Staatsanwaltschaft, Ahndungswirkung hat und mit ihr die Strafklage nach dem nationalen Recht endgültig verbraucht ist. Auch bei Aburteilung einer Tat durch den Internationalen Strafgerichtshof steht einem Verfahren in Deutschland ein Verfahrenshindernis entgegen, vgl. Art. 20 Abs. 2 IStGH-Statut (für die Strafgerichtshöfe für Jugoslawien und Ruanda vgl. Art. 10 Abs. 1 JStGH-Statut, Art. 9 Abs. 1 JStGH-Statut) Ist der Täter wegen derselben Tat im Ausland verurteilt und die Strafe vollstreckt worden, gilt das sogenannte Anrechnungsprinzip (§ 51 Abs. 3). Die im Ausland vollstreckte Strafe wird dann auf die im Inland verhängte Strafe bei deren Vollstreckung angerechnet, wofür das Gericht den Maßstab bestimmt (§ 51 Abs. 4 Satz 2). Ist die Strafe im Ausland bereits vollstreckt worden, eröffnet zudem § 153c Abs. 2 StPO Einstellungsmöglichkeiten (siehe auch Rdn. 375).257 Diese gesetzliche Regelung ist rechtspolitischen Einwänden ausgesetzt. Verschiedentlich wird verlangt, eine inländische Bestrafung – wie es im Verhältnis der EUMitgliedstaaten inzwischen geltendes Recht ist (Rdn. 363) – grundsätzlich nicht stattfinden zu lassen, wenn der Täter wegen einer Auslandstat im Ausland rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt worden ist (Erledigungsprinzip – Oehler Rdn. 140; dagegen BGHSt 34 334, 340 m. krit. Anm. Rüter JR 1988 136).

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8. Strafanwendungsrecht und Strafverfahrensrecht. Das Strafanwendungsrecht 368 wird durch Regelungen im Verfahrensrecht ergänzt.258 Von herausgehobener Bedeutung für Taten mit Auslandsberührung sind § 153c StPO sowie die Regelungen des Rechts der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen. a) Einstellungsmöglichkeiten bei Taten mit Auslandsberührung. Die Geltung 369 des deutschen Strafrechts nach den §§ 3 bis 7 hat nicht ohne weiteres zur Folge, dass die Tat auch durch die deutsche Strafjustiz verfolgt werden muss. So kann die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung von Auslandstaten (§§ 4 bis 7) 370 absehen (§ 153c Abs. 1 Satz 1 erste Alternative StPO); insoweit gilt das Opportunitätsprinzip. Siehe auch § 4 Rdn. 73 ff, § 5 Rdn. 228, § 6 Rdn. 141, § 7 Rdn. 119 sowie Bock GA 2010 558.

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254 Vgl. BGH NJW 1999 1270; NStZ 1998 149, 150; OLG Köln NStZ 2001 558; vgl. auch Radtke NStZ 2001 662; Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, 4. Aufl. (2006), Art. 54 SDÜ Rdn. 9 ff. 255 Deutschland hat die Zuständigkeit des EuGH für Vorabentscheidungsverfahren im Zusammenhang mit der Auslegung des SDÜ anerkannt, vgl. EuGH-Gesetz vom 6.8.1998 (BGBl. I S. 2035). 256 Hierzu Stein NJW 2003 1162; näher zum Ganzen Satzger § 10 Rdn. 58; Schomburg FS Eser, S. 829. 257 Hierzu Landau FS Söllner, S. 627. 258 Vgl. auch § 6 Rdn. 37 f.

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Der Verfolgungs- und Anklagezwang (§§ 152 Abs. 2, 170 Abs. 1 StPO) – mit den bekannten und großflächigen Durchbrechungen in den §§ 153 ff StPO – betrifft also grundsätzlich nur Inlandstaten (§ 3). Aber auch bei Inlandstaten, die Auslandsberührung aufweisen, ergeben sich aus § 153c StPO Einstellungsmöglichkeiten. So kann von der Verfolgung der im Inland begangenen Teilnahme dann abgesehen werden, wenn die Haupttat im Ausland begangen worden ist (§ 153c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 zweite Alternative StPO); dies gilt ungeachtet des Umstandes, dass die Inlandsteilnahme an einer Auslandstat gem. § 9 Abs. 1 selbst Inlandstat ist (§ 9 Rdn. 42). Das Opportunitätsprinzip erfasst auch Taten, die Ausländer auf einem ausländischen Schiff oder in (siehe § 4 Rdn. 72) einem ausländischen Luftfahrzeug in Deutschland begangen haben (§ 153c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO), also etwa in deutschen Küstengewässern (§ 3 Rdn. 41 ff), im deutschen Luftraum oder auf einem deutschen Flughafen. Entsprechend kann von der Verfolgung von Taten gem. §§ 129, 129a, 129b abgesehen werden, wenn die Vereinigung nicht oder nicht überwiegend im Inland besteht und die im Inland begangenen Beteiligungshandlungen von untergeordneter Bedeutung sind oder sich auf die bloße Mitgliedschaft beschränken (§ 153c Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO). Für Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch gilt § 153c Abs. 1 Satz 1 StPO (Rdn. 478 f) nicht (§ 153c Abs. 1 Satz 2 StPO). Insoweit greift die Sonderregelung des § 153f StPO. Danach besteht abweichend von § 153c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO der Verfolgungs- und Anklagezwang auch bei Auslandstaten, sofern diese einen Inlandsbezug aufweisen (näher Rdn. 478). Kein Verfolgungs- und Anklagezwang besteht ferner bei grenzüberschreitenden Distanzdelikten, wenn der Täter den Erfolg im Inland durch eine im Ausland ausgeführte Tätigkeit herbeigeführt hat (§ 153c Abs. 3 StPO); eingeschränkt werden die Einstellungsmöglichkeiten in diesem Fall durch die zusätzliche Voraussetzung, dass die Durchführung des Verfahrens die Gefahr eines schweren Nachteils für die Bundesrepublik Deutschland herbeiführen würde oder dass der Verfolgung sonstige überwiegende öffentliche Interessen entgegenstehen.259 Von der Verfolgung kann die Staatsanwaltschaft schließlich auch absehen, wenn wegen der Tat im Ausland schon eine Strafe gegen den Beschuldigten vollstreckt worden ist und die im Inland zu erwartende Strafe nach Anrechnung der ausländischen nicht ins Gewicht fiele oder der Beschuldigte wegen der Tat im Ausland rechtskräftig freigesprochen worden ist (§ 153c Abs. 2 StPO). Damit ermöglicht es das Verfahrensrecht, der mit Blick auf die Aburteilung einer Tat im Ausland nur eingeschränkten Geltung des Grundsatzes ne bis in idem (hierzu Rdn. 341 ff) im Einzelfall Rechnung zu tragen.260 Die Entscheidung, ob das Verfahren eingestellt wird, trifft die Staatsanwaltschaft nach pflichtgemäßem Ermessen und ohne Beteiligung des Gerichts, weil vielfach politische Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind.261 Sie ist grundsätzlich nicht anfechtbar.262 Aus internationalen Abkommen kann sich ergeben, dass das Ermessen der Staatsanwaltschaft reduziert ist (näher § 6 Rdn. 142). Die Einstellungsmöglichkeiten, die § 153c StPO bei Taten mit Auslandsberührung eröffnet, ermöglichen es, die weite Ausdehnung des Geltungsbereichs des deutschen Straf-

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259 Kritisch zum Merkmal des öffentlichen Interesses Bock GA 2010 587. 260 Vgl. auch Landau FS Söllner, S. 627, 638. 261 Meyer-Goßner/Schmitt § 153c Rdn. 1. 262 So die h.M., vgl. nur BGHSt 34 334, 341; Beulke LR § 153c Rdn. 18; dagegen Landau FS Söllner, S. 627, 642 f; siehe auch OLG Stuttgart ZIS 2006 143 m. Anm. Singelnstein/Stolle.

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rechts im Einzelfall prozessual zu korrigieren. Auf diese Weise lässt sich der besonderen Konfliktsituation des Täters, der sich im Einklang mit dem Recht des ausländischen Tatorts verhalten hat, ebenso Rechnung tragen wie dem Umstand, dass neben der deutschen noch weitere Strafrechtsordnungen Geltung beanspruchen (vgl. auch Rdn. 359 ff). Von Bedeutung kann die Möglichkeit zur prozessualen Korrektur ferner dort sein, wo das deutsche Strafanwendungsrecht die völkerrechtlichen Grenzen staatlicher Strafgewalt überschreitet (vgl. hierzu § 6 Rdn. 37 f). b) Rechtshilfe und Auslieferung. Bei der Durchsetzung deutscher Strafansprüche wegen Taten mit Auslandsberührung ist die deutsche Strafrechtspflege vielfach auf die Unterstützung durch das Ausland angewiesen. Dies gilt nicht nur, aber in besonderem Maße bei der Verfolgung von Auslandstaten und namentlich dann, wenn der Beschuldigte sich im Ausland aufhält und damit nicht dem direkten Zugriff der deutschen Strafverfolgungsbehörden unterliegt. Damit kommt den Möglichkeiten zwischenstaatlicher Rechtshilfe aus strafanwendungsrechtlicher Sicht große Bedeutung zu. Rechtshilfe beruht auf dem Gedanken internationaler Solidarität. Jenseits vertraglicher Verpflichtungen besteht keine völkerrechtliche Pflicht eines Staates, die Strafverfolgung oder -vollstreckung anderer Staaten zu unterstützen. Kennzeichnend für die internationale Zusammenarbeit sind die Prinzipien der Spezialität und der Gegenseitigkeit sowie das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit (näher zu den Voraussetzungen Vogel in Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas Vor § 1 IRG Rdn. 69 ff). Von großer praktischer Bedeutung sind die zahlreichen bi- und multilateralen Abkommen über die internationale Zusammenarbeit in Strafsachen.263 Voraussetzungen und Grenzen der vertraglosen Rechtshilfe sind seit dem 1.7.1983 durch das Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) geregelt. Mit der (vertikalen) Zusammenarbeit mit internationalen Strafgerichtshöfen264 und mit dem Europäischen Haftbefehl haben sich zwei neue Formen der Rechtshilfe herausgebildet. Grundlage des Europäischen Haftbefehls ist der entsprechende Rahmenbeschluss des Rates der Europäischen Union (ABl. 2002 L 190, S. 1 ff).265 Der Rahmenbeschluss bezweckt eine Vereinfachung des traditionellen Auslieferungsverfahrens und sieht dazu auch Einschränkungen des Prinzips der beiderseitigen Strafbarkeit vor. Das Europäische Haftbefehlsgesetz vom 21.7.2004 (BGBl. I, S. 1748), mit dem der Gesetzgeber die Vorgaben des Rahmenbeschlusses in deutsches Recht umgesetzt und das Verbot der Auslieferung Deutscher (vgl. auch Rdn. 384) mit Blick auf die Mitgliedstaaten der Europäischen Union aufgehoben hatte, ist vom BVerfG für nichtig erklärt worden (BVerfG NJW 2005 2289).266 Zum 2.8.2006 ist das (neue) Europäische Haftbefehlsgesetz vom 20.7.2006 (BGBl. I S. 1721), das den Vorgaben des BVerfG Rechnung tragen soll, in Kraft getreten (näher BTDrucks. 16/1024; Böhm NJW 2006 2592). Besonders klar tritt der Zusammenhang von Strafanwendungsrecht und Rechtshilferecht in § 7 Abs. 2 Nr. 2 hervor. Deutsches Strafrecht gilt danach für Auslandstaten von

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263 Übersichten, die den aktuellen Stand wiedergeben, finden sich bei Grützner/Pötz/Kreß Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, bei Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, 4. Aufl. (2006), sowie unter www.bundesgerichtshof.de. 264 Vgl. dazu Meißner Die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof nach dem Römischen Statut (2003); Stroh Die nationale Zusammenarbeit mit den internationalen Straftribunalen für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda (2002). 265 Hierzu v. Heintschel-Heinegg/Rohlff GA 2003 44. 266 Vgl. auch die Besprechungen der Entscheidung von Lagodny StV 2005 515; Ranft wistra 2005 361; Schünemann StV 2005 681 und Vogel JZ 2005 807.

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Ausländern, die nicht ausgeliefert werden, obwohl die Auslieferung zulässig wäre; siehe auch § 7 Rdn. 90 ff. Seine innere Rechtfertigung im Auslieferungsrecht findet ferner § 7 Abs. 2 Nr. 1 (näher § 7 Rdn. 74, 86). Die Erstreckung deutscher Strafgewalt auf Auslandstaten Deutscher trägt dem Umstand Rechnung, dass der ausländische Tatortstaat angesichts des Auslieferungsverbotes aus Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG an der Durchsetzung des eigenen Strafanspruchs gehindert ist, wenn der deutsche Täter sich nach der Tat nach Deutschland begeben hat. Seit Einfügung des Satzes 2 in Art. 16 Abs. 2 GG durch G vom 29.11.2000 (BGBl. I S. 1633) besteht allerdings die Möglichkeit, das Recht auf Nichtauslieferung einzuschränken. Soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind, kann der Gesetzgeber danach die Auslieferung Deutscher an einen internationalen Gerichtshof oder an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union zulassen (siehe hierzu auch § 7 Rdn. 75).267 Die Grenzen der Rechtshilfe, die etwa das Verbot der Auslieferung eigener Staatsangehöriger zieht, sind aber nicht nur der Grund für die Ausdehnung des Geltungsbereichs des deutschen Strafrechts. Vielmehr bewirken die Regeln über die internationale Zusammenarbeit auch eine Begrenzung der faktischen Geltung des deutschen Strafrechts, indem sie der Durchsetzung des materiellen Geltungsanspruchs des deutschen Strafrechts im Einzelfall entgegenstehen. Dies zeigt sich etwa dann, wenn das deutsche Recht unabhängig vom Recht des Tatorts gilt (§§ 4 bis 6), aufgrund der Straflosigkeit der konkreten Tat am Tatort das Ersuchen auf Auslieferung des mutmaßlichen Täters vom Aufenthaltsstaat aber abgelehnt wird. Bei der Verfolgung von Taten mit Auslandsberührung zu beachten sind ferner die Möglichkeiten zur Vollstreckungsübernahme (hierzu Mix Vollstreckungsübernahme im Internationalen Strafrecht, 2003). Ausländer, die durch ein deutsches Gericht wegen einer Straftat verurteilt worden sind, können nach dem Übereinkommen vom 21.3.1983 zur Überstellung verurteilter Personen zur Vollstreckung ausländischer Urteile (BGBl. 1991 II S. 1007) zur Vollstreckung an ihren Heimatstaat überstellt werden. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass der Strafanspruch in einer Weise durchgesetzt wird, die den Zwecken der Resozialisierung Raum lässt. VI. Exterritoriale – Immunität und Befreiung von der Gerichtsbarkeit

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1. Der Begriff „Exterritorialität“. Exterritorialität ist die Exemtion, die ausländischen Staaten (oder internationalen Organisationen) sowie ihnen zuzurechnenden Personen und Sachen von der inländischen Rechtsordnung im Inland gewährt wird.268 388 Die Exterritorialität interessiert im Zusammenhang mit den §§ 3 ff, soweit sie eine Bestrafung des Täters wegen einer in Deutschland mit Strafe bedrohten Handlung hindert. Insoweit gewährt sie einen auf Völkerrecht (Völkergewohnheitsrecht oder internationalen Abkommen) und innerstaatlichem Recht beruhenden persönlichen Status, der seinen Inhaber – je nach dessen Stellung – absolut oder zeitlich begrenzt der inländischen Strafgewalt entzieht. 389 Ihre Grundlage finden die persönlichen Befreiungen von der deutschen Gerichtsbarkeit im Völkerrecht.269 Der völkerrechtliche Immunitätsschutz basiert auf zwei Grundgedanken:

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267 Hierzu Uhle NJW 2001 1889; Zimmermann JZ 2001 233. 268 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 5 Rdn. 4; Ipsen/Epping § 5 Rdn. 265. 269 Eingehend Lüke Die Immunität staatlicher Funktionsträger (2000); Tangermann Die völkerrechtliche Immunität von Staatsoberhäuptern (2002).

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Zum einen ist kein Staat befugt, über Hoheitsakte eines anderen Staates zu Gericht 390 zu sitzen (par in parem non habet imperium). Aber nicht nur der Staat selbst, sondern auch seine Amtsträger und Organe genießen völkerrechtliche Immunität und unterliegen damit – innerhalb der im Folgenden dargestellten Grenzen – nicht ausländischer Strafgewalt. Handelt der Täter in amtlicher Eigenschaft, greift die völkerrechtliche Immunität ratione materiae; hoheitliche Handlungen werden dem Staat zugerechnet. Immunität genießen ferner auch Kriegs- und sonstige Staatsschiffe (Art. 32, 95 f SeeRÜbk; siehe auch Ambos MK Rdn. 105). Zum anderen verlangt die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des zwischen- 391 staatlichen Verkehrs ein Mindestmaß an äußerer Handlungs- und Bewegungsfreiheit. Vor diesem Hintergrund knüpft die Immunität ratione personae nicht an den hoheitlichen Charakter der Handlung, sondern an bestimmte Personen und Funktionsträger an; insoweit unterliegt auch privates Handeln der Immunität. 2. Rechtliche Wirkungen der Exterritorialität. Die Befreiung des Exterritorialen von der deutschen Gerichtsbarkeit bewirkt verfahrensrechtliche Immunität. Sie soll nicht den Bevorrechtigten als Person, sondern die ihm übertragene Aufgabe und damit den Entsendestaat schützen. Es gibt keine völkerrechtlich anerkannte und damit innerstaatlich zu respektierende Verabredung von Immunität ad personam (BGHSt 32 275, 287 f). Die Befreiung von der deutschen Gerichtsbarkeit bildet ein Verfahrenshindernis (BGHSt 32 275, 276, 290).270 Sie hat aber keine Befreiung von der sachlichrechtlichen Geltung des deutschen Strafrechts zur Folge. Auch der Exterritoriale kann im Sinne des inländischen Strafrechts rechtswidrig und schuldhaft handeln, so dass Notwehr gegen ihn und strafbare Teilnahme an seiner Tat möglich sind; nur darf er, solange und soweit sein exterritorialer Status besteht, im Inland nicht verfolgt werden. Die Annahme, Exterritorialität sei – vergleichbar etwa dem strafbefreienden Rücktritt vom Versuch – ein persönlicher Strafausschließungsgrund (so noch Sch/Schröder/ Eser29 Rdn. 44 m.w.N.), ist unzutreffend: Denn die Exterritorialität kann nachträglich entfallen, sei es durch Verzicht des Entsendestaats auf das Vorrecht oder durch Aufhebung der dienstlichen Stellung, welche das Vorrecht begründete (Jescheck/Weigend § 19 III 2). Ein persönlicher Strafausschließungsgrund aber kann nicht nach der Tat, vielleicht nach Monaten oder Jahren, mit der materiellrechtlichen Wirkung entfallen, dass eine zunächst straflose Tat nachträglich strafbar würde. Nach einer im älteren Schrifttum271 vertretenen Auffassung soll ein gegen einen Exterritorialen ergangenes Strafurteil „unbeachtlich“ oder nichtig sein. Dies kann nur für Ausnahmefälle gelten, in denen der Mangel des Urteils offensichtlich ist. Ob der Angeklagte den Status eines Exterritorialen hat, ist nicht selten eine in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht schwierige Frage (vgl. BGHSt 32 275 zur völkerrechtlichen Stellung eines Sonderbotschafters). Ist sie im Verfahren geprüft und im verneinenden Sinne beantwortet worden, so ist das Urteil nach Rechtskraft grundsätzlich zu respektieren. Stellt sich (etwa auf Grund neuer Unterlagen) nachträglich heraus, dass es sich doch um einen Exterritorialen handelt, so darf das Urteil allerdings nicht vollstreckt werden. Nach Beendigung der dienstlichen Stellung besteht jedenfalls für außerdienstlich begangene Handlungen kein Grund mehr, den Immunitätsschutz fortwirken zu lassen.

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270 RGSt 52 167 f; BayObLG NJW 1974 431; OLG Köln NStZ 2000 667; OLG Düsseldorf NStZ 1987 87 f m. Anm. Jakobs; Ambos MK Rdn. 121 ff; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 5 Rdn. 4; Jescheck/Weigend § 19 III 2; Jescheck ZStW 65 (1953) 291; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 10; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 72. 271 Oehler Rdn. 529; dagegen Ambos MK Rdn. 130.

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Etwas anderes gilt für dienstliche Handlungen; bei ihnen bleibt das Interesse des Staates an der Aufrechterhaltung des Schutzes grundsätzlich auch nach Beendigung der dienstlichen Mission bestehen (BVerfGE 96 68, 80; OLG Düsseldorf NStZ 1987 87 f m. Anm. Jakobs). Doch ist anerkannt, dass eine Immunität die Existenz des Staates, dem der Betreffende angehört, nicht überdauert (BVerfGE 95 96, 108). Eine Grenze findet die Immunität im Völkerstrafrecht.272 Der Umstand, dass ein Völkerrechtsverbrechen – also ein Völkermord, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen der Aggression (vgl. §§ 6 bis 13 VStGB) – in amtlicher Stellung begangen wird, befreit den Täter grundsätzlich nicht von der Strafgerichtsbarkeit.273 Der Internationale Gerichtshof hat bekräftigt, dass dieser Grundsatz uneingeschränkt für die Gerichtsbarkeit internationaler Strafgerichte gilt (näher Kreß GA 2003 25; Werle/Jeßberger Rdn. 751 ff). Gleichzeitig hat er ihn aber mit Blick auf die Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen vor staatlichen Strafgerichten eingeschränkt. Nach der Entscheidung des Internationalen Gerichtshofes im Haftbefehlsfall (EuGRZ 2003 563, 567 f) unterliegen jedenfalls amtierende Außenminister und Staatsoberhäupter fremder staatlicher Gerichtsbarkeit auch dann nicht, wenn sie der Begehung von Völkerrechtsverbrechen beschuldigt werden. Siehe zum Ganzen auch IStGH, Urt. v. 6.5.2019 (AC, ICC02/05-01/09); Ambos MK Rdn. 134 ff; Werle/Jeßberger Rdn. 799 ff, 819 ff.274 Die Exterritorialität erstreckt sich auf Wohn- und Dienstgebäude von Exterritorialen. Dort dürfen auch Amtshandlungen gegen Personen, die selbst nicht von der Gerichtsgewalt befreit sind, nicht vorgenommen werden (BGHSt 37 30; 36 396). Damit ist ein Asylrecht für nichtexterritoriale Personen nicht verbunden. Wohn- und Dienstgebäude von Exterritorialen im Inland sind inländischer Begehungsort (RGSt 69 54, 56; § 3 Rdn. 68). Werden solche Räume in rechtswidriger Weise von Ermittlungsmaßnahmen betroffen, so unterliegen die daraus gewonnenen Ermittlungsergebnisse einem strafprozessualen Verwertungsverbot jedenfalls in Verfahren, welche sich gegen völkerrechtlich mitgeschützte Personen richten (BGHSt 37 30, 31f; 36 396, 398). Ob Exterritorialität vorliegt, entscheiden nicht die Regierungsstellen des Entsendeoder Empfangsstaates, sondern die zuständigen Gerichte eigenverantwortlich (BGHSt 32 275, 276; LG Heidelberg NJW 1970 1514). Doch enthalten die Nrn. 193 ff RiStBV in der seit dem 1.2.1997 geltenden Fassung Richtlinien über die Behandlung der von der deutschen Gerichtsbarkeit befreiten Personen. 3. Durch Exterritorialität geschützter Personenkreis.275 Von der deutschen Gerichtsbarkeit befreit sind die Mitglieder der in der Bundesrepublik Deutschland errichteten Missionen, ihre Familienmitglieder und ihre privaten Hausangestellten (§ 18 GVG); die Mitglieder der in der Bundesrepublik Deutschland errichteten konsularischen Vertretungen einschließlich der Konsularbeamten (§ 19 GVG); Repräsentanten anderer Staaten und deren Begleitung, die sich auf amtliche Einladung der Bundesrepublik Deutschland in Deutschland aufhalten (§ 20 Abs. 1 GVG); andere Personen, soweit sie nach den allge-

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272 Eingehend Werle/Jeßberger Rdn. 799 ff; ferner Ipsen/Epping § 26 Rdn. 37 ff; siehe auch OLG Köln NStZ 2001 665 m. Anm. Wirth. 273 Ambos MK Rdn. 134; vgl. auch die Entscheidung des britischen House of Lords im „Fall Pinochet“, Regina v. Bartle and the Commissioner of Police for the Metropolis and Others, ex parte Pinochet, ILM 38 (1999) 581. 274 Hierzu auch OLG Köln NStZ 2000 667 m. Anm. Wirth sowie der Beschluss des BGH v. 18.11.1998 – 2 ARs 471/98, 474/98 bei Ahlbrecht/Ambos (Hrsg.) Der Fall Pinochet(s), S. 100. 275 Hierzu auch Ambos MK Rdn. 109 ff; Ipsen/Epping § 5 Rdn. 289.

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meinen Regeln des Völkerrechts, auf Grund völkerrechtlicher Vereinbarungen oder sonstiger Rechtsvorschriften von der deutschen Gerichtsbarkeit befreit sind (§ 20 Abs. 2 GVG; vgl. auch Ambos MK Rdn. 111); sowie in beschränktem Umfange die in der Bundesrepublik stationierten ausländischen NATO-Streitkräfte (siehe näher Rdn. 419 ff). a) Völkerrechtliche Vereinbarungen. Im Zusammenhang mit den Befreiungen sind folgende völkerrechtliche Vereinbarungen – teilweise u.U. noch für Altfälle (Rdn. 416 f) – von Bedeutung: Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen (WÜD) vom 18.4.1961 (G vom 6.8.1964, BGBl. II S. 957; Bek. vom 13.2.1965, BGBl. II S. 147),276 Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen (WÜK) vom 24.4.1963 (G vom 26.8.1969, BGBl. II S. 1585; Bek. vom 30.11.1971, BGBl. II S. 1285, und vom 12.6.1974, BGBl. II S. 945). Protokoll über die Beendigung des Besatzungsregimes in der Bundesrepublik Deutschland, vom 23.10.1954 (G vom 24.3.1955, BGBl. II S. 213; Bek. vom 5.5.1955, BGBl. II S. 628) mit Bekanntmachung der Bonner Verträge vom 26.5.1952 in der durch das Protokoll vom 23.10.1954 geänderten Fassung, vom 30.3.1955 (BGBl. II S. 301, 944); darunter der Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten (Generalvertrag, BGBl. 1955 II S. 305) und – als Zusatzvertrag – der Vertrag über die Rechte und Pflichten ausländischer Streitkräfte und ihrer Mitglieder in der Bundesrepublik Deutschland (Truppenvertrag, BGBl. 1955 II S. 321); Abkommen zwischen den Parteien des Nordatlantikvertrags über die Rechtsstellung ihrer Truppen (NATO-Truppenstatut) vom 19.6.1951 (G vom 18.8.1961, BGBl. II S. 1183, 1190; Bek. vom 16.6.1963, BGBl. II S. 745, und vom 12.1.1967, BGBl. II S. 742) mit Zusatzabkommen hinsichtlich der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten ausländischen Truppen, vom 3.8.1959 (G vom 18.8.1961, BGBl. II S. 1183, 1218; Bek. vom 16.6.1963, BGBl. II S. 745) und Unterzeichnungsprotokoll zum Zusatzabkommen, vom 3.8.1959 (G vom 18.8.1961, BGBl. II S. 1183, 1313; Bek. vom 16.6.1963, BGBl. II S. 745); Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika über die Rechtsstellung von Urlaubern, vom 3.8.1959 (G vom 18.8.1961, BGBl. II S. 1183, 1384; Bek. vom 16.6.1963, BGBl. II S. 745). Vertrag über die Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken vom 20.9.1955, in Kraft ab 6.10.1955 (GBl.-DDR I Nr. 107 S. 918); Abkommen zwischen der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik und der Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken über Fragen, die mit der zeitweiligen Stationierung sowjetischer Streitkräfte auf dem Territorium der Deutschen Demokratischen Republik zusammenhängen, vom 12.3.1957, in Kraft ab 27.4.1957 (GBl.-DDR I Nr. 28 S. 238). Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland (Zwei-plusVier-Vertrag), vom 12.9.1990 (G vom 11.10.1990, BGBl. II S. 1317; Bek. vom 15.3.1991, BGBl. II S. 587); Gesetz über die Inkraftsetzung von Vereinbarungen betreffend den befristeten Aufenthalt von Streitkräften der Französischen Republik, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland und der Vereinigten Staaten von Amerika in Berlin und von sowjetischen Streitkräften auf dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet nach Herstellung der Deutschen Einheit, vom 24.9.1990 (BGBl. II S. 1246); Notenwechsel zu dem NATO-Truppenstatut und zu dem Zusatzabkommen nebst zugehörigen Übereinkünften, vom 25.9.1990 (VO vom 28.9.1990, in Kraft ab 3.10.1990, BGBl. II S. 1250; G vom 3.1.

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Zu Einzelheiten des Übereinkommens Oehler Rdn. 524 ff; vgl. auch BVerfGE 96 68, 80 ff.

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1994, BGBl. II S. 26; in Kraft ab 14.1.1994); Notenwechsel zu dem befristeten Verbleib von Streitkräften der Französischen Republik, des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland und der Vereinigten Staaten von Amerika in Berlin, vom 25.9.1990 (VO vom 28.9.1990, in Kraft ab 3.10.1990, BGBl. II S. 1250; G vom 3.1.1994, BGBl. II S. 26; in Kraft ab 14.1.1994); Übereinkommen zur Regelung bestimmter Fragen in Bezug auf Berlin, vom 25.9.1990 (VO vom 28.9.1990, in Kraft ab 3.10.1990, BGBl. II S. 1273; G vom 3.1.1994, BGBl. II S. 26; Übereinkommen nach seinem Art. 11 Abs. 2 in Kraft ab 13.9.1994, Bek. vom 21.10.1994, BGBl. II S. 3703); Gesetz zur Überleitung von Bundesrecht nach Berlin (West) – Sechstes Überleitungsgesetz, vom 25.9.1990 (BGBl. I S. 2106); Vereinbarungen vom 25.9.1990 zu dem Vertrag über den Aufenthalt ausländischer Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland (Bek. vom 8.10.1990, BGBl. II S. 1390); Vereinbarung vom 27./28.9.1990 zu dem Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten (in der geänderten Fassung) sowie zu dem Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen (in der geänderten Fassung) – d.h. zum Generalvertrag und zum Überleitungsvertrag – (Bek. vom 8.10.1990, BGBl. II S. 1386); Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken über die Bedingungen des befristeten Aufenthalts und die Modalitäten des planmäßigen Abzugs der sowjetischen Truppen aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, vom 12.10.1990 (G vom 21.12.1991, BGBl. II S. 256); Notenwechsel über die Rechtsstellung der belgischen, kanadischen und niederländischen Truppen in Berlin, vom 23.9.1991 (G vom 3.1.1994, BGBl. II S. 26, in Kraft ab 14.1.1994); Gesetz zu den Notenwechseln vom 25.9.1990 und vom 23.9.1991 über die Rechtsstellung der in Deutschland stationierten verbündeten Streitkräfte und zu dem Übereinkommen vom 25.9.1990 zur Regelung bestimmter Fragen in Bezug auf Berlin, vom 3.1.1994 (BGBl. II S. 26); Abkommen zur Änderung des Zusatzabkommens vom 3.8.1959 in der durch das Abkommen vom 21.10.1971 und die Vereinbarung vom 18.5.1981 geänderten Fassung zu dem Abkommen zwischen den Parteien des Nordatlantikvertrages über die Rechtsstellung ihrer Truppen hinsichtlich der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten ausländischen Truppen, vom 18.3.1993 (BGBl. 1994 II S. 2596; G vom 28.9.1994, BGBl. II S. 2594); Notenwechsel vom 12.1.1994 zwischen dem Königreich Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, der Französischen Republik, Kanada, dem Königreich der Niederlande, dem Königreich Großbritannien und Nordirland und den Vereinigten Staaten von Amerika zur Änderung des Notenwechsels vom 25.9.1990 zum NATO-Truppenstatut (BGBl. 1994 II S. 3716; G vom 23.11.1994, BGBl. II S. 3712). b) Geschützte Personen aa) Diplomatische Missionen und konsularische Vertretungen. Wer im Einzelnen zum Personenkreis des § 18 GVG (diplomatische Missionen) gehört, ist durch Verweisung auf das Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen von 1961 (Rdn. 404) klargestellt, wer unter den Personenkreis des § 19 GVG (konsularische Vertretungen) fällt, durch Verweisung auf das Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen von 1963 (Rdn. 404). Diese Vorschriften geben auch näher Auskunft über den Umfang der Befreiung von der deutschen Gerichtsbarkeit, die im diplomatischen Bereich weiter geht als im konsularischen (vgl. BGHSt 37 30; 36 396). 409 Hiernach sind durch Vorrechte und Befreiungen begünstigt: Staatsoberhäupter (BGHSt 33 97, 98; dazu Blumenwitz JZ 1985 614)277 mit begleitenden Angehörigen und

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OLG Köln NStZ 2001 665 m. Anm. Wirth.

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Gefolge; Regierungsmitglieder bei Staatsbesuchen (Folz/Soppe NStZ 1996 576 f); sämtliche Angehörige diplomatischer Missionen, Familienangehörige und Hausangestellte von Missionsmitgliedern, nicht jedoch solche von Konsularbeamten. Personen, die Befreiungen nach dem Wiener Übereinkommen über konsularische 410 Beziehungen (Rdn. 404) genießen, sind wegen Verkehrszuwiderhandlungen nur exemt, wenn der Gebrauch des Kraftfahrzeuges in sachlichem Zusammenhang mit der Wahrnehmung konsularischer Aufgaben steht (OLG Karlsruhe NJW 2004 3273; BayObLG NJW 1974 431). Das ist nicht schon der Fall, wenn ein Wahlkonsul mit deutscher Staatsangehörigkeit in alkoholisiertem Zustand fährt und am Fahrtziel für den Staat, den er konsularisch vertritt, ein politisches Gespräch führen will, ohne dass insoweit eine feste Vereinbarung mit dem Gesprächspartner besteht (AG Hannover NdsRpfl. 1975 127). Die Überwachung eines in den Diensträumen eines Konsulats eingerichteten Telefonanschlusses nach dem G 10 ist jedenfalls dann rechtswidrig, wenn sich der zugrunde liegende Verdacht auf strafbare Handlungen bezieht, die mit der Wahrnehmung konsularischer Aufgaben zusammenhängen können (BGHSt 37 30, 31; 36 396). bb) Andere Exterritoriale. Bei den anderen Personen (§ 20 GVG), die nach den 411 allgemeinen Regeln des Völkerrechts begünstigt sind, handelt es sich um Sonderbotschafter (BGHSt 32 275) und durchreisende Gesandte fremder Staaten, Vertreter fremder Staaten auf internationalen Konferenzen und Kongressen, fremde Mitglieder zwischenstaatlicher Abordnungen mit repräsentativem Charakter, fremde Mitglieder internationaler Schiedsgerichte; ferner auch um Angehörige fremder Truppen, die in Friedenszeiten erlaubtermaßen für sie fremdes Herrschaftsgebiet betreten (vgl. RGSt 52 167); Besatzungen ausländischer Kriegsschiffe (§ 4 Rdn. 22 f) und anderer Staatsschiffe (§ 4 Rdn. 22 f) oder Staatsluftfahrzeuge (§ 4 Rdn. 27), jeweils soweit sie in Erfüllung einer dienstlichen Aufgabe des Heimatstaates tätig werden und sich an Bord oder erlaubtermaßen in geschlossenen Abteilungen an Land befinden (Oehler Rdn. 541). Doch gibt es keinen anerkannten Grundsatz des Völkergewohnheitsrechts, dass ein 412 Spion Immunität genießt, wenn er vom Boden seines Heimatstaates aus handelt (BVerfGE 92 277; BGHSt 39 263 f). Auch verbietet das Völkerrecht dem Gerichtsstaat nicht, einen politisch motivierten Mord zu verfolgen, den Mitarbeiter eines fremden Geheimdienstes auf seinem Gebiet im Auftrag eines ausländischen Staates begehen (Folz/Soppe NStZ 1996 580 f). Auf Grund völkerrechtlicher Vereinbarungen oder sonstiger Rechtsvorschriften (§ 20 413 GVG) sind bestimmte Leiter, Vertreter und Beamte verschiedener überstaatlicher und zwischenstaatlicher Organisationen von der deutschen Gerichtsbarkeit ähnlich wie diplomatische oder konsularische Vertreter befreit.278 Dies betrifft etwa die Richter, die Leiterin der Anklagebehörde und den Kanzler des Jugoslawien-Strafgerichtshofes (§ 6 JStGH-G, BGBl. 1995 I 480). Zu Fragen der Indemnität und Immunität von Abgeordneten und des Bundespräsidenten siehe Art. 46, 60 Abs. 4 GG und §§ 36, 37 StGB.

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278 Hierzu Übereinkommen vom 13.2.1946 über die Vorrechte und Immunitäten der Vereinten Nationen (BGBl. 1980 II S. 941); G über den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zum Abkommen über die Vorrechte und Befreiungen der Sonderorganisationen der Vereinten Nationen vom 21.11.1947 und über die Gewährung von Vorrechten und Befreiungen an andere zwischenstaatliche Organisationen vom 22.6.1954 (BGBl. II S. 639).

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cc) Insbesondere ausländische Truppen Schrifttum Borchmann Die Bundesgesetzgebung zu internationalen Abkommen in den Jahren 1994 und 1995, NJW 1995 2956; ders. Die Bundesgesetzgebung zu internationalen Abkommen in den Jahren 1995 und 1996, NJW 1997 101; Marenbach Aktuelle Probleme des NATO-Truppenstatuts, NJW 1974 394, 1070 und 1598; Rumpf Das Recht der Truppenstationierung in der Bundesrepublik (1969); Schwenk Die strafprozessualen Bestimmungen des NATO-Truppenstatuts, des Zusatzabkommens und des Unterzeichnungsprotokolls zum Zusatzabkommen, NJW 1963 1425; ders. Strafprozessuale Probleme des NATO-Truppenstatuts, JZ 1976 581; Witzsch Deutsche Strafgerichtsbarkeit über die Mitglieder der US-Streitkräfte und deren begleitende Zivilpersonen (1970).

Allgemein zu Entwicklung sowie Sinn und Zweck des Rechtsinstituts der Immunität friedlicher fremder Truppen im Aufenthaltsstaat Oehler Rdn. 617 ff. Nach der Beendigung des Besatzungsregimes im Jahre 1955 (Rdn. 427) wurden die ausländischen Streitkräfte und ihre Mitglieder in der Bundesrepublik gemäß Art. 6 Abs. 1 TrV (Rdn. 405) grundsätzlich wie Exterritoriale behandelt. Doch konnten, soweit die Militärgerichte nach dem Recht der beteiligten Macht zur Ausübung der Strafgerichtsbarkeit über ein Mitglied ihrer Streitkräfte nicht zuständig waren, die deutschen Gerichte und Behörden die Strafgerichtsbarkeit hinsichtlich einer nach deutschem Recht strafbaren und gegen deutsche Interessen gerichteten Tat unter im Einzelnen dargelegten Bedingungen ausüben (Art. 6 Abs. 2 TrV). Auch konnten die Behörden der Streitkräfte mit Zustimmung der deutschen Behörden Gruppen von Strafsachen oder einzelne Fälle, für die sie nach Art. 6 Abs. 1 TrV ausschließlich zuständig waren, an die deutschen Gerichte oder Behörden zur Verfolgung abgeben (Art. 6 Abs. 4 TrV). Nach dem Beitritt der Bundesrepublik zur NATO gilt seit dem 1.7.1963 für die belgi415 schen, französischen, kanadischen, niederländischen, britischen und US-amerikanischen Truppen in der Bundesrepublik (ohne Berlin) das NATO-Truppenstatut (NATOTS) von 1951 mit dem Zusatzabkommen von 1959 (Rdn. 405). Diese Verträge sind auch nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik im Jahre 416 1990 weiterhin maßgebend für die Rechtsstellung der ausländischen Streitkräfte in den alten Bundesländern. Nach dem Einigungsvertrag gelten sie nicht auf dem Gebiet der ehemaligen DDR und in Berlin-West (Anl. I Kap. I Abschn. I Nr. 5 EinV; § 3 G vom 25.9.1990, BGBl. I S. 2106). Doch haben die Truppen der Entsendestaaten in den neuen Bundesländern (ohne Berlin) und die US-amerikanischen, britischen und französischen Truppen in Berlin seit dem 3.10.1990 die gleiche Rechtsstellung wie im alten Bundesgebiet, wie die Notenwechsel vom 25.9.1990 und 12.9.1994 (Rdn. 407) ergeben. Zur weiteren Entwicklung des NATO-Truppenstatuts siehe Borchmann NJW 1995 2956, 2957 f; zum Gesetz über die Rechtsstellung ausländischer Streitkräfte bei vorübergehendem Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (Streitkräfteaufenthaltsgesetz – SkAufG) vom 20.7.1995 (BGBl. II S. 554) siehe Borchmann NJW 1997 101. Die Mitglieder ausländischer Streitkräfte unterliegen bei einem solchen Aufenthalt, insbesondere auch hinsichtlich der Strafgerichtsbarkeit, grundsätzlich deutschem Recht (Art. 2 § 7 Abs. 1 SkAufG). Für Altfälle aus der Zeit vor dem Beitritt der DDR enthält das Berlin-Übereinkommen 417 vom 25.9.1990 (Rdn. 407) besondere Befreiungen von der deutschen Gerichtsbarkeit; so schließt Art. 3 Abs. 2 Buchst. c Übk. deutsche Strafverfahren gegen Angehörige der alliierten Streitkräfte aus, es sei denn, der Entsendestaat stimmt der Einleitung des Verfahrens zu.

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Vorbemerkungen | Vor §§ 3 ff

Bis zum Abschluss des Abzugs der sowjetischen Streitkräfte vom Gebiet der ehemaligen DDR und Berlins galten nach dem Vertrag mit der Sowjetunion (TrAufhV) vom 12.10.1990 (Rdn. 407) besondere Vorschriften für die Strafgerichtsbarkeit. Strafbare Handlungen, die (nach der Wiedervereinigung) von Mitgliedern der sowjetischen Truppen oder deren Familienangehörigen begangen wurden, unterlagen der deutschen Gerichtsbarkeit (Art. 18 Abs. 1 TrAufhV). Einschränkungen und die Möglichkeit, Verfahren an die jeweils andere Seite abzugeben, waren in Art. 18 Abs. 2 und 3 TrAufhV geregelt. Zu den Regelungen im Stationierungsvertrag betreffend die Rechtsstellung sowjetischer Streitkräfte in der DDR bis zum Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Gribbohm LK11 Rdn. 358. Das NATO-Truppenstatut (Rdn. 405),279 das die materielle Strafgewalt der beteiligten Staaten unberührt lässt,280 berücksichtigt, dass bei Straftaten, die Angehörige ausländischer Streitkräfte, die in einem anderen NATO-Staat stationiert sind, dort begehen, die Gebietshoheit des Aufnahmestaates und die Personalhoheit des Entsendestaates in Konflikt geraten. Das NATO-TS unterscheidet zwischen ausschließlicher und konkurrierender Strafgerichtsbarkeit. Ausschließliche Strafgerichtsbarkeit besteht zu Gunsten der Behörden des Entsendestaates, wenn Personen, die dem Militärrecht des Entsendestaates unterstehen, eine Tat begehen, die nur nach dem Recht des Entsendestaates, nicht aber nach dem des Aufnahmestaates (der Bundesrepublik) strafbar ist (Art. VII Abs. 2 Buchst. a NATO-TS). Sie besteht ferner zu Gunsten des Aufnahmestaates (der Bundesrepublik), wenn Mitglieder einer Truppe oder eines zivilen Gefolges und deren Angehörige eine Tat begehen, die nur nach dem Recht des Aufnahmestaates, nicht aber nach dem des Entsendestaates strafbar ist (Art. VII Abs. 2 Buchst. b NATO-TS). Unter die ausschließliche Strafgerichtsbarkeit des Entsendestaates fallen daher vornehmlich militärische Delikte (wie militärischer Ungehorsam und Desertion), unter die ausschließliche Strafgerichtsbarkeit der Bundesrepublik beispielsweise Verletzung der Unterhaltspflicht (§ 170) gegenüber unehelichen Kindern281 oder bestimmte Verkehrsdelikte.282 Die Frage, ob eine Handlung nach dem Recht des Entsendestaates strafbar ist, hat die zuständige deutsche Behörde nach den Vereinbarungen des Art. 17 ZusAbk. in einem förmlichen Verfahren zu ermitteln (Bescheinigungsverfahren). Für das „Bescheinigungsverfahren“ besteht eine deutsch-amerikanische „Verwaltungsvereinbarung zur Durchführung des NATOTruppenstatuts und der Zusatzvereinbarungen im Justizbereich“283 Der Begriff der Strafbarkeit im Sinne des Art. VII NATO-TS schließt Ordnungswidrigkeiten mit ein.284 Wenn die Tat nach dem Recht der beiden beteiligten Staaten strafbar ist, besteht eine konkurrierende Strafgerichtsbarkeit (Art. VII Abs. 1 NATO-TS; hierzu BVerwGE 115 147, 149 f). Nach dieser Zuständigkeitsregelung soll der Täter einer auf dem Gebiet des Aufnahmestaates begangenen Tat nicht straflos bleiben, sondern von den Organen entweder des einen oder des anderen Staates verfolgt werden (BGHSt 28 96, 99). Die Gerichtsbarkeit des Entsendestaates hat ein Vorrecht, wenn sich die Tat nur gegen ihn oder einen seiner Truppenangehörigen richtet oder wenn sie in Ausübung des Dienstes285 begangen wurde (Art. VII Abs. 3 Buchst. a NATO-TS). Bei allen anderen Taten steht das

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Dazu Ambos MK Rdn. 113 f; Oehler Rdn. 628. Jescheck/Weigend5 § 18 I 3; Oehler Rdn. 536f. Ambos MK Rdn. 116; Schwenk NJW 1963 1425. Vgl. OLG Stuttgart NJW 1967 508; Marenbach NJW 1974 1598, 1599; ferner Schwenk JZ 1976 581. Vgl. OLG Stuttgart NJW 1967 509; Marenbach NJW 1974 1070. Schwenk JZ 1976 581. Hierzu Schwenk JZ 1976 581, 582 und Art. 18 ZusAbk.

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Vorrecht dem Aufnahmestaat (der Bundesrepublik) zu (Art. VII Abs. 3 Buchst. b NATOTS). Jede Seite kann darauf verzichten, das Vorrecht auszuüben. Der Verzicht ist nur im Rahmen der konkurrierenden Strafgerichtsbarkeit statthaft, nicht etwa auch bei ausschließlicher Strafgerichtsbarkeit. Die Bundesrepublik hat auf das Vorrecht vertraglich allgemein verzichtet (Art. VII Abs. 3 Buchst. c NATO-TS i.V.m. Art. 19 Abs. 1 ZusAbk.).286 Die deutsche Staatsanwaltschaft kann den Verzicht im Einzelfall binnen 21 Tagen, 422 nachdem ihr die Straftat von der zuständigen Stelle des Entsendestaates mitgeteilt worden ist, zurücknehmen, wenn nach den besonderen Umständen wesentliche Belange der deutschen Rechtspflege die Ausübung deutscher Gerichtsbarkeit erfordern. Das kann vor allem in Staatsschutzstrafsachen der Fall sein, die zur Zuständigkeit bestimmter Oberlandesgerichte im ersten Rechtszug gehören (§ 120 GVG), oder wenn es sich um Tötungsdelikte, Raub oder Vergewaltigung handelt, soweit die Opfer nicht Angehörige der Truppe oder des zivilen Gefolges sind (Art. 19 Abs. 3 ZusAbk., Abs. 2 des Unterzeichnungsprotokolls zu Art. 19 ZusAbk.). In der Mehrheit der Fälle wird der allgemeine Verzicht allerdings nicht zurückgenommen.287 423 Der Verzicht bezieht sich nur auf das Vorrecht der Ausübung der Gerichtsbarkeit, nicht auf die Gerichtsbarkeit als solche (OLG Stuttgart NJW 1977 1020).288 Der allgemeine Verzicht begründet kein allgemeines und endgültiges Verfahrenshindernis (OLG Stuttgart NJW 1977 1020), sondern eine „Zuständigkeitsverschiebung zur Ausübung des Rechts zur Durchführung der Hauptverhandlung durch den Entsendestaat“ (OLG Nürnberg NJW 1975 2153; Ambos MK Rdn. 120). Nehmen seine Militärbehörden ihr Vorrecht nicht wahr oder treffen sie ohne ersichtlichen Grund innerhalb angemessener Frist keine Entscheidung, so kann der Aufnahmestaat das Verfahren weiterbetreiben. Das Gleiche gilt, wenn die Immunität vor Einleitung eines Verfahrens erloschen ist (Oehler Rdn. 537). Scheidet zum Beispiel ein Angehöriger der Stationierungsstreitkräfte aus der US-Armee aus, ohne dass gegen ihn ein militärgerichtliches Verfahren wegen Straftaten während seiner Armeezugehörigkeit geführt worden ist, so ist er auch dann der deutschen Gerichtsbarkeit unterworfen, wenn die Staatsanwaltschaft den Verzicht auf das Vorrecht (vor seinem Ausscheiden) nicht zurückgenommen hat (BGHSt 28 96, 99).289 Stellt das zuständige Militärgericht die Sache jedoch ein, wenn auch nur aus prozessualen Gründen, so steht dies einem rechtskräftigen Freispruch im Sinne des Art. VII Nr. 8 NATO-TS gleich.290 Wird in einem Fall der konkurrierenden Gerichtsbarkeit ein deutsches Gericht tätig und das Verfahren durch einen rechtskräftigen Strafbefehl abgeschlossen, ohne dass der Verzicht zurückgenommen ist, so ist die gerichtliche Entscheidung „unbeachtlich“ (Rdn. 395), weil jedenfalls zur Zeit ihres Erlasses offensichtlich ein Verfahrenshindernis vorlag (Marenbach NJW 1974 395). 424 Die deutschen Behörden sind in Fällen der konkurrierenden Gerichtsbarkeit befugt, die Entnahme von Blutproben schon vor der Rücknahme des Verzichts anzuordnen,291 damit der Zweck dieser Maßnahme nicht vereitelt wird. Wird ein in einem deutschen Strafverfahren beschuldigter Angehöriger der US-Streitkräfte auf Grund eines deutschen Haftbefehls nach Art. 22 Abs. 1 bis 3 ZusAbk. in einem US-amerikanischen Militärgefängnis verwahrt, so befindet er sich in deutscher Untersuchungshaft, so dass die §§ 121 ff

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Ambos MK Rdn. 118; Fischer Rdn. 23. Siehe aber: BGH NJW 1966 2280; BGHSt 21 81; zum Verfahren Schwenk ZStW 79 (1967) 721. Marenbach NJW 1974 394; Schwenk JZ 1976 581, 582; Witzsch S. 113 ff. Jescheck/Weigend § 19 III 1 c; Oehler JR 1980 89. OLG Stuttgart NJW 1977 1020; OLG Nürnberg NJW 1975 2153. OLG Stuttgart NJW 1974 1061; Die Justiz 1973 358.

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Vorbemerkungen | Vor §§ 3 ff

StPO gelten.292 Wird der Verzicht zurückgenommen, so haben Angehörige der Streitkräfte vor deutschen Gerichten ein ausdrücklich vereinbartes Recht auf „alsbaldige und schnelle Verhandlung“ (Art. VII Abs. 9 Buchst. a NATO-TS). Wird das Verfahren über Gebühr verzögert und damit dieses Recht verletzt, so wird das Verfahren allerdings nicht schlechthin unzulässig.293 Die Militärbehörden des Entsendestaates, zu Gunsten dessen die Bundesrepublik 425 auf ihr Vorrecht verzichtet hat, können mit Zustimmung der deutschen Behörden einzelne Strafsachen, für die dem Entsendestaat die Gerichtsbarkeit zusteht, an die deutschen Gerichte und Behörden zur Untersuchung, Verhandlung und Entscheidung abgeben (Art. 19 Abs. 5 ZusAbk.). Bis die Militärbehörden des Entsendestaates ein solches Übernahmeersuchen stellen, ist der generelle Verzicht der Bundesrepublik wirksam. Während dieser Zeit ruht die Verjährung.294 VII. Einschränkungen deutscher Gerichtsbarkeit im Hinblick auf Verfahren und Urteile der Besatzungsgerichte295 Die Einschränkungen hängen mit der früheren Besatzungsgerichtsbarkeit der USA, 426 Großbritanniens und Frankreichs zusammen. Sie betreffen – außer einem Verbot der Verfolgung von Personen wegen Unterstützung der Besatzungsmächte und der Immunität gewisser Beamter und Richter – vor allem Beschuldigte beendeter Verfahren. Die Fragen, die sich aus den Einschränkungen ergeben, dürften infolge Zeitablaufs weitgehend gegenstandslos geworden sein. Sie werden hier gleichwohl angesprochen, weil die Verfolgung von Kriegsverbrechen und Menschlichkeitsverbrechen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs wegen Unverjährbarkeit von Mord und Völkermord noch nicht als vollständig abgeschlossen betrachtet werden kann, wie etwa ein im Jahre 2005 geführtes Verfahren vor dem LG München belegt.296 1. Völkerrechtliche Vereinbarungen. Einschlägig sind: Protokoll über die Beendi- 427 gung des Besatzungsregimes in der Bundesrepublik Deutschland, vom 23.10.1954 mit Bekanntmachung der Bonner Verträge vom 26.5.1952 in der durch das Protokoll vom 23.10.1954 geänderten Fassung vom 30.3.1955 (Rdn. 405), darunter der Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten (Generalvertrag, Rdn. 405) und – als Zusatzvertrag – der Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen (Überleitungsvertrag – ÜV; G vom 24.3.1955, BGBl. II S. 213; Bek. vom 30.3.1955, BGBl. II S. 301, 405, 944, und Bek. vom 5.5.1955, BGBl. II S. 628); Abkommen über die deutsche Gerichtsbarkeit für die Verfolgung bestimmter Verbrechen, vom 2.2.1971 (G vom 9.4.1975, BGBl. II S. 431; Bek. vom 18.4.1975, BGBl. II S. 644); Vereinbarung zum Überleitungsvertrag, vom 27./28.9.1990 (Bek. vom 8.10.1990, BGBl. II S. 1386).

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292 OLG Zweibrücken NJW 1975 2150; OLG Hamm JMBl. NRW 1974 166; OLG Koblenz MDR 1974 594; Schwenk JZ 1976 582; aA OLG Frankfurt NJW 1973 2218; Marenbach NJW 1974 394. 293 BGHSt 21 84; OLG Stuttgart NJW 1967 509; krit. Schwenk ZStW 79 (1967) 721, 723, 737; ders. JZ 1976 581, 583. 294 OLG Celle NJW 1965 1673; LG Duisburg NJW 1965 643; LG Krefeld NJW 1965 310; aA OLG Nürnberg NJW 1975 2152; Schwenk JZ 1976 581, 582. 295 Vgl. B. Maier NJW 1975 456; Schwenk NJW 1960 273; Wohlfahrt JZ 1955 526. 296 Zum „Fall Nizansky“ vgl. FAZ v. 20.12.2005; siehe auch BGHSt 49 189 (Fall Engel); hierzu Bertram NJW 2004 2278; Gribbohm NStZ 2005 38; Zöller Jura 2005 552 sowie zum „Fall Demjanjuk“ Werle/Burghardt FS Beulke 339; Burchards HRRS 2010 132.

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Die Verträge gelten nicht in den neuen Bundesländern und nicht in Berlin-West (Anl. I Kap. I Abschn. I Nrn. 1 und 2 EinV; § 3 G vom 25.9.1990, BGBl. I S. 2106).

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2. Regelungen des Überleitungsvertrages. In Art. 3, 6 und 7 ÜV (Rdn. 427) ist geregelt, welche Rechtswirkungen Urteile oder sonstige endgültig abgeschlossene Strafuntersuchungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg von Gerichten oder Behörden der Besatzungsmacht ausgegangen sind, auf die deutsche Gerichtsbarkeit und auf die deutsche Rechtsanwendung haben. Hiernach sind „deutsche Gerichte und Behörden nicht zuständig in strafrechtlichen … Verfahren, die sich auf eine vor Inkrafttreten dieses Vertrages begangene Handlung oder Unterlassung beziehen, wenn unmittelbar vor Inkrafttreten dieses Vertrages die deutschen Gerichte und Behörden hinsichtlich solcher Handlungen oder Unterlassungen nicht zuständig waren …“ (Art. 3 Abs. 2 ÜV). Sie dürfen solche Taten aber verfolgen, wenn das Ermittlungsverfahren der Strafverfolgungsbehörde der Besatzungsmacht noch nicht endgültig abgeschlossen war und die Tat auch nicht in Erfüllung von Pflichten oder Leistung von Diensten für die Besatzungsmacht begangen wurde (Art. 3 Abs. 3 Satz 1 Buchst. b ÜV). Ob diese Voraussetzungen vorliegen, wird durch eine Bescheinigung gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2 ÜV dargetan (BGHSt 21 29, 38 = JZ 1966 806 m. Anm. Jescheck; 14 137, 142 f). Die deutsche Gerichtsbarkeit ist auch ausgeschlossen, wenn das Besatzungsgericht das Verfahren durch Urteil beendet hat (BGHSt 21 29, 36; 12 326, 327f) oder wenn es den ihm mit der Anklage zur Urteilsfindung unterbreiteten Fall aus irgendwelchen Gründen nicht erledigt hat, ohne dass es zu einem Urteil gekommen wäre (BGHSt 21 29, 33 ff). Urteile und Entscheidungen eines Gerichts der Besatzungsmacht „bleiben in jeder Hinsicht nach deutschem Recht rechtskräftig und rechtswirksam und sind von den deutschen Gerichten und Behörden demgemäß zu behandeln“ (Art. 7 Abs. 1 ÜV). Das gilt auch, wenn das Verfahren gegen Deutsche wegen Kriegsverbrechen nicht vor einem Besatzungsgericht im Inland, sondern vor einem Heimatgericht der Besatzungsmacht im Ausland geführt worden ist (BGHSt 21 29, 32). Diese Sperrwirkung wurde durch das deutsch-französische Abkommen von 1971 (Rdn. 427) aufgehoben für Fälle, in denen Deutsche wegen Kriegsverbrechen von französischen Besatzungs- oder Militärgerichten in Abwesenheit verurteilt worden sind, ohne dass das Urteil durch eine Entscheidung im ordentlichen („kontradiktorischen“) Verfahren ersetzt worden wäre (B. Maier NJW 1975 465). Personen, gegen die auf Grund dieses Abkommens wegen einer im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik begangenen Tat ein Strafverfahren vor einem deutschen Gericht rechtskräftig abgeschlossen worden ist, werden in Frankreich wegen derselben Handlung oder Unterlassung keiner erneuten Strafverfolgung ausgesetzt (Art. 2 Abk. 1971). Soweit die Sperrwirkung des Überleitungsvertrags (Rdn. 427) reicht, kommt es nicht auf die Frage an, ob ein besatzungsgerichtliches Urteil das Strafklagerecht verbraucht.297 Soweit der Überleitungsvertrag nicht eingreift (zum Beispiel bei Urteilen sowjetischer Besatzungsgerichte), bleibt es bei dem Grundsatz, dass im Inland angeklagt werden kann, weil Besatzungsgerichte ausländische Gerichtsbarkeit ausüben (BGH NJW 1952 151; BGHSt 6 176, 177 f; 5 370, 371). Inländische Gerichtsbarkeit können nur Gerichte ausüben, die auf der deutschen Staatsgewalt beruhen. Auf die Gerichte der Besatzungsmächte trifft dies nicht zu (BGHSt 6 176, 177). Das gilt auch, soweit sie auf deutschem

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297 Mit Einschränkungen bejahend (während der Rheinlandbesetzung) RGSt 59 397, 399 ff; 54 139, 141 ff; ferner BayObLG NJW 1950 358.

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Vorbemerkungen | Vor §§ 3 ff

Gebiet Recht gesprochen und deutsches Strafrecht angewendet haben (BGHSt 6 176, 177f). Die hiervon abweichende ältere Rechtsprechung (vgl. RGSt 59 397, 399 ff; 54 139, 141 ff) ist überholt. VIII. Interlokales Strafrecht Schrifttum Jedamik Das rundfunkrechtliche Sonderdelikt als Anwendungsfall internationalstrafrechtlicher Grundsätze (1979); Jung Fragen des strafrechtlichen Geltungsbereichs, DJ 1941 597; Kohler Internationales Strafrecht (1917); Krey Zum innerdeutschen Strafanwendungsrecht de lege lata und de lege ferenda (1969); Kümmerlein Fragen des „internationalen“ Strafrechts und Strafverfahrensrechts, DStR 1938 280; Mattil Zur Problematik des interlokalen Strafrechts, GA 1958 142; Middel Interlokaler Geltungsbereich des Strafrechts, DR 1940 1498; Schröder Der Geltungsbereich der Teilstrafrechte im Deutschen Reich, DR 1942 1115; Stern/Schmidt-Bleibtreu Einigungsvertrag und Wahlvertrag (1990).

1. Das interlokale Strafrecht als innerstaatliches Kollisionsrecht. Das Strafanwendungsrecht legt den Geltungs- und Anwendungsbereich des deutschen Strafrechts bei Straftaten fest, die durch den Täter, den Tatort oder das verletzte Rechtsgut Beziehungen zum Ausland aufweisen (Rdn. 3 ff). Es bestimmt damit zugleich, in welchen Fällen Straftaten dieser Art im Inland nicht verfolgbar sind. Das interlokale Strafrecht regelt dagegen Fälle, in denen innerhalb des inländischen Rechtsgebietes verschiedenes Strafrecht gilt. Es stellt – insoweit ähnlich dem internationalen Privatrecht – Grundsätze dafür auf, welches Teilrecht für die übergreifende inländische Tat maßgebend ist. Das interlokale Strafrecht grenzt in erster Linie den Anwendungsbereich der Strafrechte einzelner deutscher Länder gegeneinander ab.298 Interlokales Strafrecht ist daher – anders als das Strafanwendungsrecht (Rdn. 359) – innerstaatliches strafrechtliches Kollisionsrecht.299 Es kann nach dessen Grundsätzen geschehen, dass das erkennende Gericht innerhalb eines deutschen Rechtsgebiets das sachliche Strafrecht eines anderen inländischen Rechtsgebiets auf die Tat anwendet (BGHSt 11 365, 366; 4 396, 398 f). Das interlokale Strafrecht setzt damit eine grundsätzliche Anerkennung der verschiedenen Teilrechtsgebiete für den gesamten Bereich voraus in der Weise, dass eine Vereinheitlichung des Rechts wenigstens prinzipiell möglich wäre. Das ist nur dort der Fall, wo die Teilrechtsgebiete unter einer gemeinsamen Staats- und Strafgewalt stehen. Verschiedene Teilrechtsgebiete oder Strafrechtssysteme innerhalb eines einheitlichen Staatsverbandes gab es früher zum Beispiel im vergrößerten Preußen nach 1866. In der Zeit des Nationalsozialismus erlangte das interlokale Strafrecht durch die zeitweise Ausdehnung des Reichsgebietes große Bedeutung, insbesondere durch die Eingliederung Österreichs in das Reichsgebiet, aber auch durch die Annexion tschechoslowakischer und polnischer Gebiete.300 Seit Gründung der Bundesrepublik spielten Fragen des interlokalen Strafrechts im Allgemeinen nur eine geringe Rolle.301 Der Bund hat von seiner konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit auf dem Gebiet des Strafrechts (Art. 72 Abs. 1, 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) umfassend Gebrauch gemacht. Raum für Partikularstrafrecht der Länder bleibt da-

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Jescheck/Weigend § 20 I 1; Oehler Rdn. 41. Ambos MK Rdn. 96; Jescheck/Weigend § 20 I 1; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 66. Jescheck/Weigend § 20 II; D. Schultz JR 1968 42. Ambos MK Rdn. 93; Oehler Rdn. 41; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 67.

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mit nur in speziellen Rechtsgebieten, so etwa im Presse- und Rundfunkrecht. Auch im Verhältnis zur DDR blieb auf Grundlage des funktionellen Inlandsbegriffs (§ 3 Rdn. 17 ff) kein Raum für die Annahme zweier partikularer Teilrechtsordnungen innerhalb eines deutschen Gesamtstaates.302 Sedes materiae für die Beurteilung von Straftaten mit Bezug zur DDR war das Strafanwendungsrecht, nicht das interlokale Strafrecht (vgl. auch Rdn. 456). 438 Praktische Bedeutung hat das interlokale Strafrecht allerdings in den Jahren nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik mit Wirkung zum 3. Oktober 1990 erlangt (hierzu Rdn. 462). Inzwischen ist die Herstellung voller Rechtseinheit zwischen dem Gebiet der alten Bundesrepublik und dem Beitrittsgebiet abgeschlossen (Rdn. 465), so dass heute von der Geltung partiell unterschiedlicher Strafrechtsordnungen in den alten und neuen Bundesländern keine Rede mehr sein kann; siehe im Einzelnen zur Rechtslage in den ersten Jahren nach dem Beitritt Gribbohm LK11 Rdn. 403 ff. 439

2. Grundsätze des interlokalen Strafrechts. Das deutsche interlokale Strafrecht beruht weitgehend auf Gewohnheitsrecht.303

a) Anwendung des Tatortrechts. Bei Verschiedenheit des Strafrechts im Gebiet der Bundesrepublik kommen für die Rechtsanwendung im Einzelfall das Recht des Tatorts (lex loci), das Recht des Gerichtsorts (lex fori) und das Recht des Wohn- und Aufenthaltsorts des Täters (lex domicilii) in Betracht. Das RG hat grundsätzlich das Recht des Tatorts für maßgebend gehalten.304 Dem ist der BGH gefolgt.305 Diese Rechtsprechung ist zutreffend.306 Maßgeblich ist also das Tatortprinzip, wo441 bei sich der Tatort nach den Regeln des § 9 bestimmt.307 Dies führt zu sachgerechten Ergebnissen, weil die Beantwortung der Frage, welches der in Betracht kommenden verschiedenen Rechte im Einzelfall eingreift, nicht von dem zufälligen Umstand abhängt, von welchem Gericht der Täter abgeurteilt wird, ob von dem des Tatorts oder dem seines Wohn- oder Aufenthaltsorts.308 Der Grundsatz, dass bei Verschiedenheit der in Betracht kommenden Rechte 442 (Rdn. 440 f) das Tatortrecht heranzuziehen ist, gilt auch, wenn nach diesem Recht die Tat zur Tatzeit nicht mit Strafe bedroht ist (BGHSt 11 365, 366), wenn sie am Tatort wegen besonderer Unrechts- oder Schuldausschließungsgründe straffrei ist oder wenn ihre Strafbarkeit dort nachträglich gemildert wird oder entfällt (BGH NJW 1960 395).309 Auch diese Rechtsauffassung ist zu billigen, wofür ein Vergleich mit der Regelung des § 7 Abs. 2 Nr. 1 spricht. Dass bei einer Gesetzesänderung das mildere Gesetz anzuwenden ist, bestimmt § 2 Abs. 3. 443 Im Schrifttum wird die Auffassung vertreten, dass das Tatortprinzip in bestimmten Bereichen durch das Wohnsitzprinzip und das Prinzip der lex fori zu ergänzen oder einzuschränken sei.310 Dem Gesetzgeber ist es nicht verwehrt, bei Bedarf solche Regelungen zu treffen. Doch bestehen im Hinblick auf das Verbot strafbegründender oder strafschärfender Analogie (Art. 103 Abs. 2 GG) durchgreifende Bedenken, ohne gesetzliche

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Ambos MK Rdn. 94. Jescheck/Weigend § 20 I 2 und III 2. RGSt 76 201, 202; 76 97; 75 104, 106; 74 323, 325; 74 219, 220 f. BGHSt 11 365, 366; 7 53, 55; 4 396, 398 f; BGH NJW 1960 395; 1952 1146. Ambos MK Rdn. 96; Hoyer SK Rdn. 56; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 70; Fischer Rdn. 25. Jescheck/Weigend § 20 I 3. BGHSt 4 396, 399; RGSt 75 104, 106; 74 219, 220. Jescheck/Weigend § 20 III 3. Jescheck/Weigend § 20 I 3; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 72 ff.

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Vorbemerkungen | Vor §§ 3 ff

Anordnung die Grundsätze der §§ 5 und 6 im Rahmen des interlokalen Strafrechts sinngemäß anzuwenden.311 b) Konkurrenz mehrerer Tatortrechte. Erstreckt sich ein einheitliches Tatgesche- 444 hen auf mehrere Tatorte (§ 9), die in Gebieten unterschiedlichen Rechts liegen, so ist von allen Tatortrechten dasjenige anzuwenden, welches im Einzelfall das strengste ist (RGSt 75 385, 386; aA RGSt 75 104, 106 f),312 sei es, dass es allein die Tat mit Strafe bedroht, oder sei es, dass es einen strengeren Schuld- oder Strafausspruch zulässt als die anderen Rechte. Für die Prüfung, welches Tatortrecht das strengste ist, sind sinngemäß die Grundsätze anzuwenden, welche bei § 2 Abs. 3 für die Ermittlung des im Einzelfall mildesten Gesetzes gelten (§ 2 Rdn. 86 ff; RGSt 75 385, 386). Es gibt nämlich keinen sachlichen Grund, die Geltung des strengeren Gesetzes, nach 445 welchem eine an einem Ort begangene Handlung überhaupt oder schwerer strafbar ist, allein deshalb einzuschränken, weil zu diesem strafbaren Verhalten vorher oder nachher an einem anderen Ort noch ein weiteres Handlungsstück hinzukommt, das – für sich betrachtet – gegen kein Strafgesetz oder nur gegen ein milderes verstößt. Das Ergebnis entspricht dem Rechtsgedanken des § 52 Abs. 2 Satz 1, wonach bei ungleichartiger Tateinheit das Gesetz anzuwenden ist, welches die schwerere Strafe androht. Nicht überzeugend ist die Ansicht von Ambos (MK Rdn. 98), der grundsätzlich das 446 Recht desjenigen Ortes anwenden möchte, an dem der Schwerpunkt des vorwerfbaren Verhaltens liegt, es sei denn dies führe zur Straflosigkeit. Der Rechtsgedanke des § 2 Abs. 3 (lex mitior), den man nach Ambos „für die Anwendung des milderen Rechts ins Felde führen“ könne, passt nicht. Denn § 2 Abs. 3 betrifft den Fall einer Bewertungsänderung desselben Gesetzgebers im Hinblick auf dasselbe Verhalten, nicht aber den hier in Rede stehenden Fall, dass auf ein deliktisches Geschehen mehrere Tatortrechte nebeneinander anwendbar sind. Bei einer solchen Konkurrenz liegt es in der Tat „auf der Hand“ (Gribbohm LK11 Rdn. 383), die strengere Bewertung zur Geltung zu bringen, nicht aber die mildere. Besonders deutlich zeigt sich die Richtigkeit dieser Auffassung in dem Fall, dass die hinzukommende Handlung am Tatort straflos ist. Hier müsste man nach dem von Ambos herangezogenen Rechtsgedanken des § 2 Abs. 3 zur Straflosigkeit gelangen, eine widersprüchliche Konsequenz, die auch Ambos im Ergebnis zutreffend vermeidet, freilich in einem gewissen Widerspruch zu seinem eigenen Ausgangspunkt. c) Tatortrecht bei Tatbeteiligung. In diesem Bereich können sich Probleme unter 447 Tatort- und Akzessorietätsgesichtspunkten ergeben, wenn die Beteiligten an Orten verschiedenen Rechts handeln. aa) Tatortgesichtspunkte. Nach ihnen gibt es bei Mittäterschaft keine Schwierig- 448 keiten. Da jedem Mittäter das Handeln des oder der anderen als eigene Tat zugerechnet wird (§ 25 Abs. 2), ist unter Tatortgesichtspunkten auf alle das strengste Tatortrecht anzuwenden (RGSt 75 385, 386).313 Fallen die Handlungsorte von Täter und Teilnehmer (Anstifter oder Gehilfen) auseinander, so ist Tatort für den Teilnehmer sowohl der Ort seiner Handlung als auch der Ort, an dem der Täter die Haupttat begangen hat (§ 9 Abs. 2). Anzuwenden wäre auf den Teilnehmer danach (Einschränkungen Rdn. 449 f) das strengere Tatortrecht.

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311 AA Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 73. 312 Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 71; Fischer Rdn. 26. 313 AA Ambos MK Rdn. 99, der auf den „Schwerpunkt des gemeinschaftlichen Verhaltens“ abstellen will.

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bb) Berücksichtigung der Akzessorietät der Teilnahme. Sie führt zu der Frage, ob strafbare Teilnahme überhaupt möglich ist, wenn – bei Verschiedenheit des Tatortrechts – die Tat des Haupttäters am Ort seiner Handlung nicht mit Strafe bedroht ist, sie es aber im Falle ihrer Begehung dort wäre, wo der Teilnehmer tätig wird. Die Frage ist für das interlokale Strafrecht zu verneinen. § 9 Abs. 2 Satz 2 löst die Strafbarkeit der Teilnahme, die vom Inland aus bei einer Auslandstat geleistet wird, im Rahmen des Strafanwendungsrechts zwar von der Strafbarkeit der Haupttat im Ausland (§ 9 Rdn. 49). Die Vorschrift lässt sich aber nicht sinngemäß auf Fälle des interlokalen Strafrechts anwenden. Dem steht das Verbot strafbegründender Analogie entgegen, das auch im Rahmen des Allgemeinen Teils des Strafrechts gilt (§ 1 Rdn. 259; Gribbohm FS Salger, S. 39 f). Aus demselben Grunde scheidet auch eine sinngemäße Anwendung des § 5 im interlokalen Strafrecht aus (Hoyer SK Rdn. 64). 450 Darüber hinaus muss sich die rechtliche Beurteilung der Strafbarkeit des Teilnehmers auch in Fällen, in denen sich der Täter nach dem Tatortrecht der Haupttat strafbar macht, nach diesem Recht richten, und zwar unabhängig davon, ob das Recht am Ort der Teilnahmehandlung für den Teilnehmer strenger ist (zust. Ambos MK Rdn. 99). Das ergibt sich aus dem Grundsatz der Akzessorietät der Teilnahme, der – als allgemeingültige Regel – dem nur für das interlokale Strafrecht geltenden Grundsatz des strengeren Tatortrechts bei Tatortmehrheit (Rdn. 444) vorgeht. Nach § 9 Abs. 2 Satz 1 gilt für den Teilnehmer – auch – das Recht am Ort der Haupttat, so dass es auf ihn angewendet werden darf. 451

d) Reichweite von Amnestien. Eine Amnestie, die in einem Teilgebiet erlassen wird, ist, soweit dessen Recht anzuwenden ist, auch in dem anderen Rechtsgebiet zu beachten, in dem ein entsprechendes Amnestiegesetz nicht gilt.314 Bei Landesamnestiegesetzen, die sich auf – eventuell auch nur partiell geltende – Bundesstrafgesetze beziehen, kommt es darauf an, in welchem Lande die Untersuchung zuerst eröffnet worden ist. Ist dies das amnestierende Land, so wirkt die Niederschlagung auch für die Gerichte anderer Länder (BGHSt 3 134). Im Einklang mit diesen Grundsätzen ist die Aufhebung eines Todesurteils aus der NS-Zeit, die unmittelbar auf Art. 1, 9 des Bayerischen Gesetzes Nr. 21 zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts auf dem Gebiet des Strafrechts vom 28.5.1946 (BayGVBl. S. 180) beruht, im ganzen Bundesgebiet verbindlich (Fall Bonhoeffer – LG Berlin NJW 1996 2742, 2743; vgl. dazu BGH NStZ 1996 485 m. Anm. Gribbohm). Zur Weitergeltung von DDR-Amnestien nach der Vereinigung siehe Rdn. 461. IX. Probleme der Strafrechtsgeltung im Zusammenhang mit der Teilung Deutschlands

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Seit Herstellung der Einheit Deutschlands durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik zum 3. Oktober 1990 gem. Art. 1 des Einigungsvertrages (EV, G v. 23.9.1990, BGBl. II S. 885; Bek. v. 16.10.1990, BGBl. II S. 1360) gilt das bundesdeutsche Strafrecht grundsätzlich auch für das Beitrittsgebiet (Art. 8 EV). Damit hat sich das Problem, ob Taten, die auf dem Gebiet der DDR oder durch oder gegen Bürger der DDR begangen worden waren, nach den Grundsätzen des Strafanwendungsrechts oder denjenigen des interlokalen Strafrechts (Rdn. 453 f) zu behandeln seien (hierzu 1.), im Wesentlichen erledigt. Zugleich hat die Wiederherstellung der deutschen Einheit neue Fragen aufgeworfen (hier-

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314 Mattil GA 1958 147; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 77; vgl. auch OGHSt 2 253; KG JR 1950 565; OLG Hamm MDR 1949 700.

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zu 2.), welche freilich in der Praxis inzwischen ebenfalls kaum noch eine Rolle spielen: Unverfolgte Alttaten sind mit Ausnahme von Tötungsdelikten nahezu vollständig verjährt. Vgl. eingehend zum Ganzen Gribbohm LK11 Rdn. 389 ff. 1. Bis zum Beitritt der DDR zur Bundesrepublik. Vgl. hierzu die Schrifttumsnachweise bei Gribbohm LK11 Vor § 3 vor Rdn. 389. Vor dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik stellte sich die drängende Frage, ob und nach welchem Strafrecht Taten, die in der Sowjetischen Besatzungszone oder der DDR begangen worden waren, in den westlichen Besatzungszonen oder der Bundesrepublik abgeurteilt werden konnten, ob – mit anderen Worten – in solchen Fällen die Grundsätze des interlokalen Strafrechts oder diejenigen des Strafanwendungsrechts galten. Dieses Problem ist zwar durch die Rechtsentwicklung im Gefolge der Veränderung der politischen Verhältnisse in Deutschland erledigt. Aber es ist nicht auszuschließen, dass die rechtlichen Erwägungen, die die Behandlung einschlägiger Fälle geprägt haben, zukünftig im internationalen Zusammenhang bei vergleichbaren Teilungssituationen erneut Bedeutung erlangen werden. Die Kommentierung gibt deshalb die wesentlichen Erwägungen wieder, die vor der deutschen Vereinigung gegen die Anwendung des interlokalen Strafrechts sprachen. Für weitere Einzelheiten sei auf die Bearbeitung Tröndles (LK10 Rdn. 95 ff) verwiesen. Nach dem Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR (Grundlagenvertrag) v. 21.12.1972 (BGBl. 1973 II S. 423) – auch in seiner verbindlichen Auslegung durch das Grundlagenvertragsurteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 36 1) – war anerkannt, dass die DDR „im Sinne des Völkerrechts ein Staat und als solcher Völkerrechtssubjekt“ war, dass „die Hoheitsgewalt jedes der beiden deutschen Staaten sich auf sein Staatsgebiet“ beschränkte und dass die Bundesrepublik und die DDR „die Unabhängigkeit und Selbständigkeit jedes der beiden Staaten in seinen inneren und äußeren Angelegenheiten“ zu respektieren hatten (Art. 6 GrundlV). Die DDR selbst begriff sich als „sozialistischer Staat deutscher Nation“315 Sie hatte ein eigenes StGB, das seit 1.7.1968 in Kraft war316 und sich im Rechtsgüterschutz und im Strafensystem tiefgreifend vom StGB der Bundesrepublik unterschied. Es fehlte vor dem Beitritt also an einer grundsätzlichen Voraussetzung dafür, zwischen der Bundesrepublik und der DDR interlokales Strafrecht anzuwenden. Denn dessen Normen kommen nur in Betracht, wenn in Teilgebieten eines Staates mit einer einheitlichen Strafgewalt verschiedenes (partikuläres) Strafrecht gilt (Rdn. 434 f). Hiervon konnte vor der Wiedervereinigung seit langem keine Rede mehr sein, wie der Grundlagenvertrag zeigte. Für das Verhältnis zur DDR waren daher die §§ 3 ff sedes materiae (BGHSt 30 3 f; § 3 Rdn. 17 f). Grundlage dieser Rechtsprechung war ein funktionelles Verständnis der Begriffe „Inland“ (§ 3) und – im Grundsatz auch – „Deutscher“ (§ 7) mit der Folge, dass die Anwendung der §§ 3 und 7 grundsätzlich auf Taten im Gebiet der Bundesrepublik bzw. auf Taten von Staatsangehörigen der Bundesrepublik beschränkt wurde; zu den Ausnahmen bei Taten gegen DDR-Bürger siehe § 3 Rdn. 18. Zwar dekretierte das Grundlagenvertragsurteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 36 1, 30 f),317 „daß die DDR auch … nach dem Inkrafttreten des Vertrages für die Bundesrepublik Deutschland nicht Ausland geworden ist“. Jenes für alle Gerichte und Behörden verbindliche dictum war

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Gesetz zur Ergänzung und Änderung der Verfassung der DDR vom 7.10.1974 (GBl.-DDR I S. 425). GBl.-DDR I S. 1; hierzu Maurach NJW 1968 913, 1068; Woesner NJW 1969 257. Vgl. auch BVerfGE 37 64 ff; krit. Wengler JZ 1974 529.

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indessen staats- und verfassungsrechtlich zu begreifen und hatte vornehmlich die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Grundrechte aus Art. 116 GG im Auge. Es enthielt keine Beschränkung für die Auslegung des strafrechtlichen Begriffs „Inland“ und konnte diese Kraft auch schwerlich haben, weil die Strafrechtsanwendung sich an der Wirklichkeit orientiert und nicht an Postulaten (Tröndle JR 1977 3). Der Gesetzgeber hatte im Übrigen die Entscheidung darüber, wie der Inlandsbegriff im Hinblick auf die DDR auszulegen sei, ausdrücklich der Rechtsprechung überlassen.318 2. Seit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Schrifttum Albrecht Verfolgungsverjährung und DDR-bezogene Straftaten, GA 2000 123; ders. Das BVerfG und die strafrechtliche Aufarbeitung von Systemunrecht, NJ 1997 1; Ambos Nuremberg revisited, StV 1997 39; ders. Zur Rechtswidrigkeit der Todesschüsse an der Mauer, JA 1997 983; ders. Tatherrschaft durch Willkürherrschaft kraft organisatorischer Machtapparate, GA 1998 226; Amelung Die strafrechtliche Bewältigung des DDR-Unrechts durch die deutsche Justiz, GA 1996 51; Arnold Strafrechtsprobleme der deutschen Vereinigung, in Eser/Huber (Hrsg.) Strafrechtsentwicklung in Europa, Bd. 5.1 (1997) 157; ders. Die Normalität des Strafrechts der DDR, Bd. 2 (1996); ders. Überpositives Recht (usw.), Festschrift Grünwald (1999) 31; Baumann/Kury Politisch motivierte Verfolgung (1998); Biermann Gesetzliches Unrecht in der DDR und Rückwirkungsverbot (usw.) (1998); Blumenwitz Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit ehemaliger Mitglieder des SED Polit-Büros (usw.), Festschrift Kriele (1997) 717; Bohnert Die Amnestien der DDR und das Strafrecht nach dem Beitritt, DtZ 1993 167; Buchner Die Rechtswidrigkeit der Taten von „Mauerschützen“ im Lichte von Art. 103 II (usw.) (1996); Classen Art. 103 II GG – ein Grundrecht unter Vorbehalt? GA 1998 215; Dannecker/Stoffers Rechtsstaatliche Grenzen für die strafrechtliche Aufarbeitung der Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze, JZ 1996 490; Dreier Gustav Radbruch und die Mauerschützen, JZ 1997 421; ders./Eckert/Mollnau/Rottleuthner Rechtswissenschaft in der DDR 1949–1971 (1996); Drobnig Die Strafrechtsjustiz in der DDR (1998); Ebert Strafrechtliche Bewältigung des SED-Unrechts (usw.), Festschrift Hanack (1999) 501; Eser Schuld und Entschuldbarkeit von Mauerschützen und ihren Befehlsgebern, Festschrift Odersky (1996) 337; ders. Deutsche Einheit: Übergangsprobleme im Strafrecht, GA 1991 241; ders./Arnold (Hrsg.) Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht – Deutschland (2000); Franßen Der Denunziant und sein Richter, NJ 1997 169; Frisch Unrecht und Strafbarkeit der Mauerschützen, Festschrift Grünwald (1999) 133; Gropp Die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates als „Mittelbare Mit-Täter hinter den Tätern“? JuS 1996 13; ders. Naturrecht oder Rückwirkungsverbot? NJ 1996 393; Hassemer Staatsverstärkte Kriminalität als Gegenstand der Rechtsprechung, Festgabe BGH 50 (2000) 439; Hillenkamp Offene oder verdeckte Amnestie – über Wege strafrechtlicher Vergangenheitsbewältigung, JZ 1996 179; Hohmann Die strafrechtliche Bewältigung der Rechtsanwendung durch Richter und Staatsanwälte der DDR – Aktuelle Probleme der Rechtsbeugung, DtZ 1996 230; Hohoff An den Grenzen des Rechtsbeugungstatbestandes (2001); Hruschka Die Todesschüsse an der Berliner Mauer vor Gericht, JZ 1992 665; Jakobs Untaten des Staates – Unrecht im Staat, GA 1994 1; Jordan Die Regelung des 2. Verjährungsgesetzes zur „Vereinigungskriminalität“, NJ 1996 294; Keppler Die Leitungsinstrumente des Obersten Gerichts der DDR (1998); Kinzig Die Einführung der Sicherungsverwahrung in den neuen Bundesländern, JZ 1997 63; Kirchner DDRUnrecht in Fallbeispielen aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung, Jura 1998 46; H. König Juristische Feinheiten auf politischem Glatteis, Leviathan 1997 445; Körtning Ist (Straf)Recht ein geeignetes Mittel zur Aufarbeitung der Geschichte? NJ 1999 1; Krajewski Mauerschützen und Menschenrechte, JZ 1997 1054; Kraut Rechtsbeugung? Die Justiz der DDR auf dem Prüfstand des Rechtsstaates (1997); Küpper/Wilms Die Verfolgung von Straftaten des SED-Regimes, ZRP 1992 91; Lamprecht Der Sündenfall. Über die Schüsse an der Mauer und das Rückwirkungsverbot, DRiZ 1997 140; Lehmann Recht muß Recht bleiben, NJ 1996 561; Luther Zum Gesetzlichkeitsprinzip im Strafrecht, Festschrift Bemmann (1997) 202; Maiwald Rechtsbeugung im SED-Staat, NJW 1993 1881; Marxen/Werle Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht, eine Bi lanz (1999) (zit. Bilanz); dies. (Hrsg.) Strafjustiz und DDR-Unrecht, Dokumentation, Band 1: Wahlfälschung

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BTDrucks. V/4095 S. 4; siehe hierzu Fußn. 2 zu § 3 E 1962.

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Vorbemerkungen | Vor §§ 3 ff

(2000), Band 2/1 und 2/2: Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze (2002), Band 3: Amtsmissbrauch und Korruption (2002), Band 4: Spionage (2004); Möller-Heilmann Die Strafverfolgung von Richtern und Staatsanwälten der ehemaligen DDR wegen Rechtsbeugung (1999); Naucke Die strafjuristische Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität (1996); Pawlik Strafrecht und Strafunrecht, GA 1994 472; Quaritsch DDR-Verbrechen vor dem BVerfG, Festschrift Roellecke (1997) 221; Ranft Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Mitglieder des Politbüros, JZ 2003 582; Renzikowski Vergangenheitsbewältigung durch Vergeltung? JR 1992 270; Rogall Bewältigung von Systemkriminalität, Festgabe BGH 50 (2000) 383; Roggemann Die strafrechtliche Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit (usw.), NJ 1997 226; Rosenau Tödliche Schüsse im staatlichen Auftrag (1998); Rotsch Die Rechtsfigur des Täters hinter dem Täter (usw.), NStZ 1998 491; Rummler Die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze vor Gericht (2000); Samson Die strafrechtliche Behandlung von DDR-Alttaten nach der Einigung Deutschlands, NJW 1991 335; Schlüchter/Duttge Spionage zu Gunsten des Rechtsvorgängerstaats (usw.), NStZ 1996 357; Schroeder Geschichtsbewältigung durch Strafrecht? DRiZ 1996 81; ders. Der BGH und der Grundsatz „nulla poena sine lege“, NJW 1999 89; ders. Zur Strafbarkeit von Tötungen in staatlichem Auftrag, JZ 1992 990; ders. Die Rechtswidrigkeit der Flüchtlingserschießungen zwischen Transzendenz und Immanenz, JR 1993 45; Schünemann Dogmatische Sackgassen bei der Strafverfolgung der vom SED-Regime zu verantwortenden Untaten, Festschrift Grünwald (1999) 657; Seebode DDR-Justiz vor Gericht, Festschrift Lenckner (1998) 585; Spendel SED-Justizverbrechen und Strafrecht, RuP 2000 226; ders. Rechtsbeugung und BGH, NJW 1996 809; ders. DDR-Unrechtsurteile in der neueren BGH-Judikatur, JR 1996 177; Vormbaum Der strafrechtliche Schutz von Institutionen der DDR, Festschrift Posser (1997) 153; Wolff Geschichtsbewältigung durch Strafrecht? DRiZ 1996 88; Zielinski Das strikte Rückwirkungsverbot gilt absolut (usw.), Festschrift Grünwald (1999) 811; Zimmermann Strafrechtliche Vergangenheitsaufarbeitung und Verjährung (1997). – Siehe ferner das bei Gribbohm LK11 Vor § 3 vor Rdn. 393 nachgewiesene Schrifttum.

Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik hatte sich zwar eine Vielzahl teilungs- 457 bedingter Probleme der Strafrechtsgeltung erledigt; zugleich waren aber auch neue Probleme entstanden. Die Problematik betraf nunmehr „Neutaten“, die nach dem Beitritt der neuen Bundesländer begangen wurden, aber auch DDR-„Alttaten“ aus der Zeit davor, soweit sie nach dem Beitritt Gegenstand eines Strafverfahrens wurden. Inzwischen haben beide Problemkreise kaum noch praktische Bedeutung (Rdn. 460, 465). a) Alttaten. Soweit es sich um die Beurteilung von „Alttaten“ handelt, die vor dem 458 Wirksamwerden des Beitritts in der DDR begangen wurden, hat es der Gesetzgeber des Einigungsvertrags (Rdn. 452) nicht bei den (ungeschriebenen) Regeln des allgemeinen interlokalen Strafrechts belassen, die zur Anwendung des Rechts der DDR auf Altfälle geführt hätten (Rdn. 440f). Vielmehr hat er, was ihm freistand, mit den Art. 315 ff EGStGB Sonderregelungen geschaffen, nach denen nicht an das Tatortrecht anzuknüpfen ist, sondern – mit Einschränkungen (Art. 315 Abs. 4, Art. 315a EGStGB) – grundsätzlich an das mildere der beiden Rechte der Bundesrepublik und der DDR (Art. 315 Abs. 1 EGStGB).319 Die Sonderregelungen, die sich wegen der Zugehörigkeit der zu vergleichenden Gesetze zu verschiedenen Rechtsordnungen nicht ausschließlich dem Bereich des intertemporalen Strafrechts zuordnen lassen, verdrängen in ihrem Anwendungsbereich die allgemeinen Grundsätze des Strafanwendungsrechts und auch des interlokalen Strafrechts.320 Aus Art. 315 Abs. 4 EGStGB ergibt sich, dass auf Alttaten auf dem Gebiet der DDR, für die bundesdeutsches Strafrecht bereits vor dem Beitritt nach den §§ 4 ff galt, weiterhin bundesdeutsches Strafrecht anzuwenden ist; dies betrifft etwa Taten nach § 99 i.V.m. § 5 Nr. 4 und solche gem. § 241a i.V.m. § 5 Nr. 6 Buchst. a.321

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Hierzu Eser GA 1991 241, 256 ff; Fischer Rdn. 33; Weber GA 1993 201, 202 ff. Vgl. Jescheck/Weigend § 20 III 1. Lackner/Kühl § 2 Rdn. 22; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 84 ff; Fischer Rdn. 33.

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Doch schließt – wie sich aus dem Wortlaut des Art. 315 Abs. 1 EGStGB und dem Normzusammenhang ergibt – Absatz 4 der Vorschrift bei Tatortmehrheit von Alttaten, die einen Tatort sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik haben, die Anwendbarkeit strengeren DDR-Verjährungsrechts nach Art. 315a Abs. 1 EGStGB i.d.F. des EV (Anl. I Kap. III Sachgeb. C Abschn. II Nr. 1 Buchst. c) nicht aus, wenn die Tat nach dem Recht der Bundesrepublik verjährt wäre. Eine vergleichbar strenge Begrenzung der Straftatbestände der Bundesrepublik wie bei der Beschränkung auf das Inland im Strafanwendungsrecht gibt es im Hinblick auf die nach Art. 315 ff EGStGB zu beurteilenden DDRAlttaten nicht.322 Zur Bestimmung des milderen Gesetzes vgl. § 2 Rdn. 86 ff. Die Problematik der Verfolgung von Alttaten ist inzwischen durch Ablauf der Ver460 jährungsfristen praktisch erledigt.323 Eine Ausnahme bildet die Verfolgung von Mord, insbesondere im Zusammenhang mit der Tötung von Republikflüchtigen.324 Siehe zur Gesamtbewertung der Ahndung von DDR-Unrecht Eser/Arnold; Hassemer FG BGH, S. 439; Marxen/Werle Bilanz; Rogall FG BGH, S. 383. Wegen Alttaten aus der DDR werden die Unterbringung in der Sicherungsverwah461 rung und die Führungsaufsicht nach § 68 Abs. 1 nicht angeordnet (Art. 315 Abs. 1 Satz 2 EGStGB); wegen solcher Taten tritt auch Führungsaufsicht nach § 68 f nicht ein (Art. 315 Abs. 1 Satz 3 EGStGB). Der Einigungsvertrag trifft über die Weitergeltung oder Transformation von DDR-Amnestien und DDR-Begnadigungen im Fall von Erwachsenen (im Gegensatz zum Fall von Jugendlichen) keine ausdrückliche Regelung (BVerfG NStZ 1995 205). Im Einklang mit den Grundsätzen, die im interlokalen Strafrecht allgemein für Amnestieregelungen gelten (Rdn. 451), nimmt die Rechtsprechung an, dass DDR-Amnestien aus der Zeit vor der Wiedervereinigung bei der Aburteilung von DDR-Alttaten nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik zu Gunsten des Täters zu berücksichtigen sind, wenn die Voraussetzungen für eine Amnestierung erfüllt sind.325 b) Neutaten. Der Einigungsvertrag vom 23.8.1990 (Rdn. 452) hat für „Neutaten“ aus der Zeit nach dem Beitritt grundsätzlich die Geltung des Strafrechts der Bundesrepublik vorgesehen. Er hat in begrenztem Umfang aber auch Gebiete weitergeltenden verschiedenen Strafrechts in Deutschland geschaffen, wodurch die allgemeinen Grundsätze des interlokalen Strafrechts mit gesetzlichen Modifizierungen (so den Art. 1a a.F., 1b, 315c EGStGB) erneut Bedeutung erlangten.326 Im Beitrittsgebiet ist das StGB am 3.10.1990 mit der Maßgabe in Kraft getreten, 463 dass dort § 5 Nr. 8 a.F., soweit dort § 175 a.F. genannt war, § 5 Nr. 9 a.F., die §§ 144, 175, 182, 218 bis 219d und 236 jeweils a.F. sowie die Vorschriften über die Sicherungsverwahrung nicht anzuwenden waren. 464 Aus dem Strafgesetzbuch der DDR i.d.F. vom 14.12.1988 (GBl.-DDR I 1989 Nr. 3 S. 33) – mit Änderungen durch das 6. StRÄndG-DDR vom 29.6.1990 (GBl.-DDR I Nr. 39 S. 526) – sind für „Neutaten“ in den neuen Bundesländern in Kraft geblieben (Anl. II Kap. III Sachgeb. C Abschn. I Nr. 1 und Abschn. II EV): § 84 (Ausschluss der Verjährung 462

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322 Vgl. auch Hoyer SK Rdn. 44 f. 323 Ambos MK Rdn. 95; Fischer Rdn. 35. 324 Hierzu EurGHMR EuGRZ 2001 210; BVerfGE 95 96, 101; BGHSt 40 232; eingehend Rosenau und Rummler; zusf. Lackner/Kühl § 2 Rdn. 16; Marxen/Werle Bilanz; Fischer Rdn. 36 ff. 325 BGHSt 39 353, 358 f = JR 1994 255 m. Anm. Bohnert; BGH DtZ 1996 393; OLG Dresden DtZ 1994 113; OLG Stuttgart DtZ 1993 191, 192; OLG Koblenz DtZ 1993 190, 191; 1993 188, 189; vgl. auch BVerfG NStZ 1995 205 m. Anm. Alex S. 615; zust. Lackner/Kühl § 2 Rdn. 13. 326 Vgl. Fischer MDR 1991 582 ff; Schneiders MDR 1991 585 ff; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 79; Fischer Rdn. 24.

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für Verbrechen gegen den Frieden, die Menschlichkeit und die Menschenrechte und Kriegsverbrechen), § 149 (sexueller Missbrauch von Jugendlichen), §§ 153 bis 155 (unzulässige Schwangerschaftsunterbrechung) und § 238 (Beeinträchtigung richterlicher Unabhängigkeit), ferner § 191a (Verursachung einer Umweltgefahr) in neuer Fassung sowie die in § 10 Satz 1 des 6. StRÄndG-DDR genannten Vorschriften über Straftaten gegen die sozialistische Wirtschaftsordnung (Anl. II Kap. III Sachgeb. C Nr. 2 EV; siehe auch § 2 Rdn. 186). – Vgl. den Wortlaut der genannten Vorschriften des DDR-StGB bei Gribbohm LK11 Rdn. 419 ff. Inzwischen sind die Unterschiede des Strafrechts, die nach der Wiedervereinigung in den alten und den neuen Bundesländern für „Neutaten“ bestehen blieben (Rdn. 463 f), bis auf wenige, praktisch bedeutungslose Ausnahmen beseitigt. 327 Bei Gribbohm LK11 Rdn. 402 ff ist die teilweise höchst komplizierte Rechtslage in den ersten Jahren nach dem Beitritt eingehend dargestellt. Diese Rechtslage kann ausnahmsweise noch im Einzelfall relevant werden, wenn es sich um Taten handelt, die in dem fraglichen Zeitraum begangen worden sind. Aus diesem Grund werden im Folgenden die Rechtsfragen in ihren Grundlinien dargestellt; für Einzelheiten sei auf die Ausführungen in der elften Auflage (Gribbohm LK11 Rdn. 402 ff) verwiesen. Das verschiedene Strafrecht der Bundesrepublik ist als partielles Bundesrecht grundsätzlich von allen Gerichten des Bundesgebietes zu beachten; insoweit ist nicht etwa das Recht des Aburteilungsorts maßgebend;328 vielmehr ist – sofern keine Sonderbestimmungen (wie die Art. 1a a.F., 1b EGStGB) eingreifen – von der Geltung des Tatortrechts auszugehen (Rdn. 440 f).329 Doch ist zu beachten, dass der Einigungsvertrag den Grundsatz allgemeiner Geltung auch partikulären Rechts (Rdn. 440 f) bei der Schaffung verschiedener Teilrechtsgebiete nach der Vereinigung – unabhängig von den Art. 1a a.F. und 1b EGStGB – erheblich zu Gunsten des Rechts des Gerichtsorts eingeschränkt hat (Hoyer SK Rdn. 56 f). Während nämlich das fortgeltende Strafrecht der DDR schlicht (auch für die Gerichte in den alten Bundesländern) „in Kraft bleibt“ (Rdn. 464), sind Teile des Strafrechts der Bundesrepublik im Beitrittsgebiet „nicht anzuwenden“ (Rdn. 463), also auch dann nicht, wenn es sich um einen Fall handelt, der ihnen der Sache nach unterfällt. Aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art. 103 Abs. 2, Art. 104 Abs. 1 GG) hätte der Gesetzgeber gut daran getan, über die Art. 1a a.F., 1b EGStGB hinaus auch sonst gesetzlich ausdrücklich zu regeln, nach welchen Grundsätzen sich die Anwendung des verschiedenen Rechts der beiden Teilrechtsgebiete richtet. Denn die Grundsätze des allgemeinen interlokalen Strafrechts haben sich (nur) gewohnheitsrechtlich entwickelt (Rdn. 439), und Strafbegründung durch Gewohnheitsrecht ist unzulässig (§ 1 Rdn. 169). Die Bedenken können hier Bedeutung erlangen, wenn das Gewohnheitsrecht zur Anwendung des strengeren Rechts führt, etwa das Wohnsitzrecht milder ist als das Tatortrecht, oder wenn von mehreren an sich eingreifenden Tatortrechten das schärfere angewendet werden soll (Rdn. 444 f). Diese Bedenken lassen sich wohl auf der Grundlage der Annahme ausräumen, aus dem Gesamtzusammenhang der Regelungen ergebe sich mit ausreichender Sicherheit, dass der Gesetzgeber den Einzelregelungen die anerkannten Grundsätze des interlokalen Strafrechts zugrunde gelegt habe, soweit er nicht für bestimmte Bereiche etwas

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327 Siehe im Einzelnen Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 85; vgl. auch Gribbohm LK11 Rdn. 403 ff; Hoyer SK Rdn. 55. 328 Fischer Rdn. 25. 329 Kritisch dazu Schneiders MDR 1991 585 ff; gegen ihn Eser GA 1991 241, 255.

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anderes angeordnet habe. Die Sonderregelungen lassen in der Tat erkennen, dass dem Gesetzgeber die Problematik bewusst war. Für Neutaten, die im Ausland begangen werden und für die unterschiedliches 470 Strafrecht in den neuen und den alten Bundesländern gilt, finden gem. Art. 16 EGStGB diejenigen Vorschriften Anwendung, die an dem Ort gelten, an welchem der Täter seine Lebensgrundlage hat. Näher hierzu Gribbohm LK11 Rdn. 422 ff. X. Innere Tatseite 471

Die dogmatische Einordnung der Geltungsbereichsnormen ist umstritten (siehe auch Rdn. 286 f). Nach der noch herrschenden, auf Beling (1906), 99 ff) zurückgehenden Auffassung gehören die Geltungsbereichsnormen nicht zu den Merkmalen des gesetzlichen Tatbestands, sondern sind objektive Bedingungen der Strafbarkeit (vgl. BGHSt 27 30, 34). Danach muss sich der Tatvorsatz nicht auf die Geltung und Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts erstrecken.330 472 Diese, auch hier bis einschließlich zur Vorauflage (12. Aufl. Rdn. 452) vertretene Auffassung wird nunmehr teilweise aufgegeben. Soweit originäre331 Strafgewalt ausgeübt wird, sind die in den Geltungsbereichsnormen festgelegten Geltungsbereichsfaktoren332 („Begehung im Inland“, „Begehung durch einen Deutschen“ etc.) Teil der Verhaltensnorm. In diesem Fall bestimmen sie den Anwendungsbereich der Strafnorm unmittelbar und sind damit „vor die Klammer“ gezogene Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes.333 Denn die Geltungsbereichsnormen verschaffen den Straftatbeständen des Besonderen Teils erst Geltung (vgl. auch Rdn. 276 f). Sie betreffen nicht erst die Reichweite der Sanktionskompetenz, sondern wirken unmittelbar unrechtsbegründend.334 Anders verhält es sich dort, wo die staatliche Strafrechtsordnung nicht einen origi473 nären Strafanspruch schafft, sondern einen Strafanspruch durchsetzt, der von einer „fremden“ Rechtsordnung abgeleitet ist (Jeßberger der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 130 f; ebenso Böse NK Rdn. 51). Hier konstituiert die Geltungsbereichsnorm nicht das Unrecht der Tat, sondern wirkt als Transformationsregel für die Verhaltensnorm des „fremden“ Rechts. Insofern ist sie unrechtsneutrale objektive Bedingung der Strafbarkeit.335 Für die innere Tatseite bedeutet dies: Entgegen der noch herrschenden Ansicht 474 (Rdn. 471) liegt in den Fällen der Rdn. 472 ein vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum (§ 16) vor, wenn der Täter einen tatsächlichen Umstand nicht kennt, der nach den Bestimmungen des Strafanwendungsrechts die Geltung des deutschen Strafrechts begründet.336

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330 Ambos MK Rdn. 3; Gribbohm JR 1998 177, 179; Jescheck/Weigend § 18 V; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 85; Fischer Rdn. 30; Zieher S. 53; eingehend A. Schneider Verhaltensnorm, S. 273. 331 Siehe zur Unterscheidung von originärer und abgeleiteter Strafgewalt Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts, S. 11 f. 332 Zum Begriff Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts, S. 118. 333 Für diese im Vordringen begriffene Auffassung eingehend Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts (2011) S. 126 f; vgl. auch Böse NK Rdn. 51; Neumann FS MüllerDietz, S. 589, 604 f; Pawlik FS F.-Chr. Schroeder 357, 360 f; ferner Isfen FS Neumann, 869 ff; Walther FS Eser, 933; Matt/Renzikowski/Basak Vor § 3 Rdn. 2. 334 Eingehend Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts, S. 126 f. 335 Näher Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts, S. 129 f; aA Böse NK Rdn 51 (Verfahrensrecht). 336 Anders noch 12. Aufl. Rdn 453; wie hier Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts (2011) S. 133; Böse NK Rdn. 52; Neumann FS Müller-Dietz, 589, 605.

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Im Einzelfall kann auch ein Verbotsirrtum in Betracht kommen, der bei Unver- 475 meidbarkeit zur Schuldlosigkeit führt (§ 17).337 Weiß der Handelnde, dass die Tat nach Tatortrecht nicht rechtswidrig ist und erkennt er nicht, dass die deutsche Rechtsordnung Geltung beansprucht, fehlt die „Einsicht, Unrecht zu tun“. Handelt der Täter außerhalb des Urteilsstaates lässt sich diese Einsicht annehmen, wenn er selbst Angehöriger dieses Staates ist oder sich die Tat ihrer Art nach unmittelbar gegen die Existenz oder Integrität des Urteilsstaates richtet. XI. Strafanwendungsrecht außerhalb des Strafgesetzbuches Die §§ 3 bis 7 regeln das deutsche Strafanwendungsrecht nicht abschließend. Es 476 gibt eine Reihe weiterer Bestimmungen außerhalb des StGB, welche die Geltung des deutschen Strafrechts über das Inland hinaus ausdehnen und insofern die §§ 4 bis 7 ergänzen. Die Spezialregelungen im Nebenstrafrecht gehen grundsätzlich den §§ 3 bis 7 vor (leges speciales). Hier sind folgende Vorschriften zu nennen, ohne dass Vollständigkeit der Übersicht angestrebt wird: Nach § 1 Satz 1 des Völkerstrafgesetzbuches (VStGB; Art. 1 des Gesetzes zur Einfüh- 477 rung des Völkerstrafgesetzbuches vom 26.6.2002, BGBl. I S. 2254) gilt das deutsche Strafrecht für Völkermord (§ 6 VStGB), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7 VStGB) sowie Kriegsverbrechen (§§ 8 bis 12 VStGB) auch dann, wenn die Tat im Ausland begangen wurde und keinen Bezug zum Inland aufweist.338 Die Bestimmung verwirklicht das Universalitätsprinzip und begegnet aus völkerrechtlicher Sicht keinen Bedenken (Rdn. 259). Durch die Formulierung hat der Gesetzgeber klargestellt, dass die einschränkende Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zu § 6 Nr. 1 a.F. (§ 6 Rdn. 27 ff, 34) für Verbrechen nach dem Völkerstrafgesetzbuch nicht maßgeblich sein soll (BTDrucks. 14/8524, S. 14). Für das Verbrechen der Aggression (§ 13 VStGB) gilt gem. § 1 Satz 2 VStGB deutsches Strafrecht für Taten im Ausland unabhängig vom Recht des Tatorts, wenn der Täter Deutscher ist oder sich die Tat gegen die Bundesrepublik Deutschland richtet (hierzu Jeßberger ZIS 2015 514). Die universelle Ausdehnung deutscher Strafgewalt durch § 1 VStGB hat der Gesetz- 478 geber prozessual flankiert.339 Danach unterliegen Taten nach den §§ 6 bis 15 VStGB grundsätzlich auch dann dem Legalitätsprinzip, wenn sie im Ausland begangen werden; die weit reichenden Einstellungsmöglichkeiten des § 153c Abs. 1 Satz 1 StPO (Rdn. 369 ff) gelten nicht (vgl. § 153c Abs. 1 Satz 2 StPO). Unter den Voraussetzungen des § 153f StPO kommt ein Absehen von Verfolgung in Betracht, namentlich bei Fehlen eines Inlandsbezugs der Tat oder bei Verfolgung der Tat durch eine vorrangige Gerichtsbarkeit, etwa einen internationalen Strafgerichtshof oder die Strafjustiz des Tatortstaates.340 Leitlinie für die Auslegung und praktische Anwendung dieser juristisch komplizierten und politisch heiklen Vorschrift muss dabei das gesetzliche Ziel sein, bei Völkerrechtsverbrechen Verfolgungslücken zu vermeiden. In diesem Ziel finden die gesetzlichen Regelungen ihre Rechtfertigung, aber auch ihre Grenze. Letztlich ergibt sich daraus eine subsidiäre deutsche Zuständigkeit: Die Zuständigkeit der Bundesrepublik als Drittstaat

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337 BGHSt 45 97 = StV 2000 422 m. Anm. Neumann; OLG Düsseldorf NStZ 1985 268; Jescheck/Weigend § 18 V; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 79; s. auch Valerius NStZ 2003 341. 338 Näher Weigend GS Vogler, S. 197, 209; Werle/Jeßberger JZ 2002 725, 732 f. 339 Zu den Gründen BTDrucks. 14/8524, S. 37f. 340 Siehe hierzu Generalbundesanwalt beim BGH JZ 2005 311 m. krit. Besprechungen Fischer-Lescano HSFK Standpunkte 1/2005 und Jeßberger in Ratner/Kaleck (Hrsg.) Universal Jurisdiction v. Realpolitik (2006) S. 213; OLG Stuttgart ZIS 2006 143 m. krit. Anm. Singelnstein/Stolle; Beulke LR § 153f Rdn. 4 ff; Werle FS Tomuschat 655, 668 f; Werle/Jeßberger JZ 2002 725, 732 f.

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hat nämlich nicht den Zweck, internationale Gerichtshöfe oder tatnähere Gerichtsbarkeiten zu verdrängen. Es geht keineswegs um die Verletzung fremder Souveränität oder gar eine angemaßte deutsche Weltjustiz, sondern um eine neuartige Form der Bereitschaftsjustiz. Deutsche Strafverfolgungsorgane haben bei Völkerrechtsverbrechen eine „Auffangzuständigkeit“, welche nur dann greift, wenn feststeht, dass tatnähere Justizsysteme zur Verfolgung nicht willens oder nicht in der Lage sind. Wenn Deutschland in einer solchen Situation als Drittstaat Verfolgungsmöglichkeiten hat, muss die deutsche Justiz tätig werden. Ebenfalls unabhängig vom Recht des Tatorts und der Staatsangehörigkeit des Täters gilt deutsches Strafrecht nach Art. 3 des Gesetzes vom 26.9.1969 zu dem Europäischen Übereinkommen vom 22.1.1965 zur Verhütung von Rundfunksendungen, die von Sendestellen außerhalb der staatlichen Hoheitsgebiete gesendet werden (EuRFVerÜbkG; BGBl. 1969 II S. 1939), zuletzt geändert durch G vom 29.7.2009 (BGBl. I S. 2274), für das Errichten und Betreiben sogenannter Piratensender außerhalb Deutschlands (näher Oehler Piratensender). Aus der Bezugnahme auf Art. 1 und 4 des Europäischen Übereinkommens (Art. 3 i.V.m. Art 2 Abs. 3) ergibt sich, dass nur das Errichten oder Betreiben solcher Rundfunksendestellen erfasst ist, die sich außerhalb staatlicher Hoheitsgebiete, namentlich auf hoher See befinden. Insofern begegnet die Ausdehnung des Geltungsbereichs des deutschen Strafrechts keinen völkerrechtlichen Bedenken (Rdn. 264 f; § 6 Rdn. 13). Auch die §§ 370 Abs. 7 und 374 Abs. 4 der Abgabenordnung (AO) i.d.F. der Bek. vom 1.10.2002 (BGBl. I S. 3866), zuletzt geändert durch G vom 11.7.2019 (BGBl. I S. 1066), erstrecken den Geltungsbereich der Strafvorschriften über Steuerhinterziehung (§ 370 Abs. 1 bis 6 AO) und Steuerhehlerei (§ 374 Abs. 1 AO) unabhängig vom Recht des Tatorts auf Auslandstaten.341 Soweit dadurch auch Steuerhinterziehung zum Nachteil des deutschen Fiskus erfasst wird, hätte es der Regelung nicht bedurft, da in diesen Fällen der Erfolgsort stets im Inland gelegen ist und deutsches Strafrecht mithin gem. §§ 3, 9 gilt (Erbs/Kohlhaas-Senge A 24 § 370 Rdn. 60a). Seit der Änderung von § 370 Abs. 7 AO durch Art. 3 des Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 26. Juli 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften vom 10.9.1998 (EGFinSchG; BGBl. II S. 2322) ist klargestellt, dass die Geltungsbereichsnorm auch die Hinterziehung von Eingangsabgaben anderer Mitgliedstaaten der EU und der EFTA (§ 370 Abs. 6 AO) erfasst (BVerfG wistra 2003 255; BGH wistra 2004 63, 64; dagegen aber R. Schmitz/Wulf wistra 2001 361, 369). Ob die Vorschrift sich auch insoweit mit einem auf Gemeinschaftsinteressen erweiterten Staatsschutzprinzip (Rdn. 270 f) rechtfertigen lässt, ist jedenfalls in den Fällen zweifelhaft, in denen Gläubiger der verkürzten Abgaben nicht die Europäische Gemeinschaft, sondern ein einzelner Mitgliedstaat ist; eine völkerrechtliche Grundlage, die es erlauben würde, die Vorschriften dem völkerrechtlichen Universalitätsprinzip zuzuordnen (so LG Kiel NStZ 1998 201), fehlt. Gem. § 23 Abs. 7 des Gesetzes zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen (GeschGehG) vom 18.4.2019 (BGBl. I S. 466), gilt § 5 Nr. 7 entsprechend bei Straftaten der Verletzung von Geschäftsgeheimnissen (§ 23 GeschGehG). Die §§ 17 bis 19 des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (hierzu Vorauflage) sind durch Art. 5 G vom 18.4.2019 (BGBl. I S. 466) aufgehoben worden. Eine Reihe weiterer Vorschriften erstreckt den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts auf Grundlage des aktiven Personalitätsprinzips (Rdn. 251 ff) unabhängig vom Recht des Tatorts auf bestimmte Straftaten, die Deutsche im Ausland begehen:

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341 Zur Hinterziehung ausländischer Steuern und Steuerhinterziehung im Ausland Keßeböhmer/R. Schmitz wistra 1995 1 ff; R. Schmitz/Wulf wistra 2001 361; Tiedemann FS Waseda 927 (934 ff).

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Vorbemerkungen | Vor §§ 3 ff

Hierzu zählt § 21 des Gesetzes über die Kontrolle von Kriegswaffen (KrWaffKontrG) i.d.F. der Bekanntmachung vom 22.11.1990 (BGBl. I S. 2506) zuletzt geändert durch G vom 13.4.2017 (BGBl. I S. 872), der ausgewählte Strafvorschriften gegen Atomwaffen (§ 19 KWKG), biologische und chemische Waffen (§ 20 KWKG) und Antipersonenminen (§ 20a KWKG) erfasst, soweit keiner der in § 22 KWKG geregelten Ausnahmetatbestände eingreift.342 Entsprechend bestimmt § 18 des Ausführungsgesetzes zu dem Übereinkommen vom 13.1.1993 über das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen und über die Vernichtung solcher Waffen (CWÜAG), vom 2.8.1994 (BGBl. I S. 1954), zuletzt geändert durch G vom 13.4.2017 (BGBl. I S. 872), die Geltung des deutschen Strafrechts für Taten gem. § 16 Abs. 1 Nr. 2 CWÜAG i.V.m. § 13 Abs. 1 der Ausführungsverordnung zum Chemiewaffenübereinkommen (BGBl. 1996 I S. 1794; u.a. verbotswidrige Ein- oder Ausfuhr von Chemikalien oder Errichtung von Einrichtungen zur Produktion bestimmter Chemikalien) und gem. § 17 CWÜAG (Missbrauch von Chemikalien oder anderen Stoffen als chemische Waffe), wenn diese von einem Deutschen im Ausland begangen werden. Auch § 17 Abs. 7 des Außenwirtschaftsgesetzes (AWG; BGBl. 1961 I 481, 495, 1555), zuletzt geändert durch G vom 20.7.2017 (BGBl. I S. 2789), verwirklicht das aktive Personalitätsprinzip. Danach gilt das deutsche Strafrecht unabhängig vom Recht des Tatorts für Auslandstaten gem. § 17 Abs. 1 bis 6 AWG (hierzu Andrzejewski Die Strafbewehrung des Terrorismusembargos der Europäischen Union; Dannecker/Freitag ZStW 116 [2004] 797), wenn der Täter Deutscher ist. Nach Art. 2 § 3 des Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 17.12.1997 über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr (IntBestG) vom 10.9.1998 (BGBl. II S. 2327) galt das deutsche Strafrecht unabhängig vom Recht des Tatorts für die Bestechung (§§ 334 bis 336) ausländischer Amtsträger (Art. 2 § 1) oder Abgeordneter im Ausland, wenn der Täter Deutscher ist und die Tat im Zusammenhang mit internationalem geschäftlichem Verkehr steht.343 Die Geltungsbereichnorm ist nunmehr mit § 5 Nr. 15 in das StGB überführt (§ 5 Rdn. 206). § 1a des Wehrstrafgesetzes (WStG) i.d.F. d. Bek. vom 24.5.1974 (BGBl. I S. 1213), zuletzt geändert durch G vom 23.4.2014 (BGBl. I S. 410), ergänzt die §§ 4 bis 7 für militärische Straftaten (§ 2 Nr. 1 WStG), die von Soldaten der Bundeswehr oder von den in § 1 Abs. 2 WStG bezeichneten Personen im Ausland begangen werden; auf das Recht des Tatorts kommt es nicht an.344 Erfasst werden auch Auslandstaten von ehemaligen Soldaten (§ 1 Abs. 3 WStG) und von Zivilpersonen, die zu einer einschlägigen Tat anstiften oder Beihilfe leisten (§ 1 Abs. 4 WStG), wenn sie Deutsche sind und ihre Lebensgrundlage im Inland haben. Das deutsche Strafrecht gilt ferner für Taten, die ein Soldat während eines dienstlichen Aufenthalts oder in Beziehung auf den Dienst im Ausland begeht (§ 1a Abs. 2 WStG; siehe auch § 5 Rdn. 195). Anknüpfend an das Flaggenprinzip (Rdn. 243) unterlagen Straftaten nach §§ 115 bis 123a des Seemannsgesetzes (SeemannsG) vom 26.7.1957 (BGBl. II S. 713), unabhängig vom Recht des Tatorts dem deutschen Strafrecht, auch wenn sie im Ausland begangen werden (§ 131a SeemannsG).345 Diese Regelung findet sich im Seearbeitsgesetz (SeeArbG) vom 20.4.2013 (BGBl. I S. 868), welches das SeemannsG mit Wirkung vom

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342 Vgl. hierzu OLG Stuttgart bei Achenbach NStZ 1993 477, 481; Holthausen NStZ 1992 268; Pottmeyer NStZ 1992 57. 343 Näher zum IntBestG: Heinrich GS Keller, S. 103; Volk GS Zipf, S. 419, 428; Zieschang NJW 1999 105. 344 Schölz/Lingens WStG 3. Aufl. (1988) § 1a Rdn. 1; vgl. Oehler Rdn. 630 f. 345 Oehler Rdn. 423, Fußn. 2.

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§ 3 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

1.8.2013 ersetzt hat und ebenfalls Strafvorschriften enthält (§ 146 SeeArbG), nicht mehr. § 17 des Flaggenrechtsgesetzes i.d.F. d. Bek. v. 26.10.1994 (BGBl. I S. 3140) bestimmt die Geltung des deutschen Strafrechts für Taten des unbefugten Führens der Bundesoder einer Dienstflagge (§ 15 Abs. 2 i.V.m. § 8 FlaggRG), die im Ausland begangen werden. Art. 12 des Ausführungsgesetzes zum Seerechtsübereinkommen 1982/1994 (AusfG489 SeeRÜbk) vom 6.6.1995 (BGBl. I S. 778), zuletzt geändert durch Verordnung vom 31.8.2015 (BGBl. I S. 1474), erweitert den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts für bestimmte Umweltstraftaten, die außerhalb der ausschließlichen deutschen Wirtschaftszone (§ 5 Rdn. 54 ff) in der Nordsee oder Ostsee von Schiffen aus verübt werden (Wortlaut bei § 5 Entstehungsgeschichte). Näher hierzu § 5 Rdn. 178 ff. Das Strafanwendungsrecht wird schließlich modifiziert durch die Bestimmungen 490 über den Anwendungsbereich des Urheberrechtsgesetzes vom 9.9.1965 (UrhG; BGBl. I S. 1273), zuletzt geändert durch Gesetz vom 28.11.2018 (BGBl. I 2014), in den §§ 121 bis 123 UrhG. Danach entfalten Urheberrechte ihre Schutzwirkung nur innerhalb der Grenzen des Schutzlandes.346 Wegen der strengen Zivilrechtsakzessorietät des Urheberstrafrechts gilt dies auch für den strafrechtlichen Schutz nach den §§ 106 ff UrhG.347 Abweichend von § 7 kann nur eine im Inland begangene Verletzungshandlung relevant sein.

§3 Geltung für Inlandstaten Erster Abschnitt. Das Strafgesetz Geltung für Inlandstaten Werle/Jeßberger § 3 https://doi.org/10.1515/9783110300413-006

Das deutsche Strafrecht gilt für Taten, die im Inland begangen werden. Schrifttum Vgl. vor den Vorbemerkungen zu den §§ 3 bis 7.

Entstehungsgeschichte § 3 entspricht mit seiner einfacheren Formulierung in der Sache vollständig dem ursprünglichen § 3 RStGB. Dieser wurde durch die GeltungsbereichsVO vom 6.5.1940 (RGBl. I S. 754; Vor § 3 Entstehungsgeschichte) mit der Einführung des aktiven Personalgrundsatzes grundlegend neu gestaltet (Vor § 3, Entstehungsgeschichte); Absatz 2 wurde durch das 3. StRÄndG vom 4.8.1953 (BGBl. I S. 735) geändert. Mit dem 2. StrRG vom 4.7.1969 (BGBl. I S. 717), in Kraft seit dem 1.1.1975, erhielt die Vorschrift unter Rückkehr zum Gebietsgrundsatz ihre geltende Fassung.

I.

II.

Übersicht Bedeutung | 1 1. Territorialitätsprinzip | 3 2. Völkerrechtliche Verpflichtungen | 7 Voraussetzungen | 8 1. Die Entwicklung des Inlandsbegriffs | 9

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2.

Der Inlandsbegriff des geltenden Rechts | 24 a) Landgebiet | 28 b) Binnengewässer und maritime Eigengewässer | 30 aa) Internationale Wasserwege | 33

BGHSt 49 93, 97 f; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 9; Pfaffendorf NZWiSt 2012 377, 380. Weber JZ 1993 106, 107, Anm. zu BayObLG JZ 1993 104.

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Geltung für Inlandstaten | § 3

c) d) e) f)

bb) Grenzflüsse und Grenzseen | 36 cc) Grenzbrücken | 40 Küstenmeer | 41 Luftraum | 51 Vorgeschobene Zollstellen | 58 Freizonen, insbesondere Freihäfen | 66

g)

III.

Dienst- und Wohngebäude von Diplomaten und anderen Exterritorialen in Deutschland | 68 h) Besonderheiten bei Taten an Bord von Schiffen und Flugzeugen | 70 Prozessuales | 78

I. Bedeutung Nach § 3 gilt das deutsche Strafrecht für Taten, die im Inland begangen werden. Auf 1 die Staatsangehörigkeit des Täters kommt es dabei nicht an. Auch Ausländer unterliegen bei Inlandstaten dem deutschen Strafrecht. Zu beachten ist allerdings, dass bestimmte Personen, typischerweise, aber nicht 2 notwendigerweise solche mit ausländischer Staatsangehörigkeit, ganz oder teilweise von der Gerichtsbarkeit der Gerichte der Bundesrepublik ausgenommen sind. Dies betrifft namentlich die Exterritorialen (Vor § 3 Rdn. 387 ff), etwa Diplomaten und Angehörige der in der Bundesrepublik stationierten ausländischen Streitkräfte. 1. Territorialitätsprinzip. § 3 stellt den Gebietsgrundsatz (Vor § 3 Rdn. 241 f) an die 3 Spitze der Regelung des deutschen Strafanwendungsrechts (Vor § 3 Rdn. 276 ff). Die systematische Stellung des § 3 bringt den Grundgedanken zum Ausdruck, dass die deutsche Strafgewalt grundsätzlich auf Vorgänge im eigenen Staatsgebiet beschränkt ist.1 Die Verwirklichung des Gebietsgrundsatzes in § 3 entspricht dem völkerrechtlichen Territorialitätsprinzip; die Vereinbarkeit des § 3 mit den völkerrechtlichen Vorgaben der Ausübung staatlicher Strafgewalt steht außer Frage (Vor § 3 Rdn. 241 f). Isoliert betrachtet bringt die Vorschrift gegenüber dem früheren Recht keine Ände- 4 rung. Auch der von 1940 bis 1974 in erster Linie maßgebliche aktive Personalitätsgrundsatz (Vor § 3 Rdn. 251 ff) wurde bei Inlandstaten durch den Gebietsgrundsatz ergänzt (§ 4 Abs. 1 RStGB i.d.F. der GeltungsbereichsVO, § 4 Abs. 1 StGB in der bis zum 2. StrRG geltenden Fassung).2 Das deutsche Strafrecht galt also immer schon für Inlandstaten, gleichgültig, ob sie ein Inländer oder ein Ausländer begangen hatte, da es selbstverständlich ist, dass sich die innerstaatliche Rechtsordnung gegenüber jedermann durchsetzt. Die Bedeutung des in § 3 normierten Grundsatzes liegt daher mehr in seiner Kehrseite: Dass nämlich auf Taten, die nicht im Inland begangen werden, die deutschen Strafgesetze nicht ohne weiteres anwendbar sind. Dieser Grundgedanke wird allerdings vom geltenden Recht erheblich relativiert.3 So 5 dehnt die Regelung des Begehungsortes in § 9 auf Grundlage des Ubiquitätsprinzips den Anwendungsbereich von § 3 auch auf Sachverhalte aus, die zumindest zum Teil im Ausland stattfinden (§ 9 Rdn. 54 ff).4 Vor allem aber normieren die §§ 4 bis 7 eine Reihe bedeutsamer Ausnahmen, die den Gebietsgrundsatz durchbrechen, § 3 ergänzen und den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts in erheblichem Umfang erweitern. Dies

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1 Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 1 f; Fischer Rdn. 1. 2 Eingehend zur Entwicklung des gesetzlichen Bestimmungen seit 1871 Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts, S. 46 ff. 3 Vgl. auch Ambos MK Rdn. 2. 4 Vertiefend zur Problematik solcher „unvollständigen Inlandstaten“ unter dem Gesichtspunkt des Schuldgrundsatzes Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts, S. 161 ff.

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§ 3 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

ist im Prinzip nicht zu beanstanden, da die Ausübung von Strafgewalt allein auf der Grundlage des Gebietsgrundsatzes nicht allen schutzwürdigen Interessen des Staates, seiner Staatsbürger und der Staatengemeinschaft gerecht wird. Die begrenzende Funktion des Gebietsgrundsatzes wird dadurch freilich deutlich abgeschwächt. Gleichwohl bleibt der Gebietsgrundsatz Ausgangspunkt des geltenden deutschen 6 Strafanwendungsrechts, wie sich aus seiner unbeschränkten Verwirklichung und aus der Stellung des § 3 an der Spitze der Regelungen des Strafanwendungsrechts ergibt. Auch mit Blick darauf, dass die weitaus größte Zahl der von der deutschen Justiz abgeurteilten Taten Inlandstaten sind, kann man den Gebietsgrundsatz als das Hauptprinzip5 des Strafanwendungsrechts bezeichnen. Erster Abschnitt. Das Strafgesetz Geltung für Inlandstaten Werle/Jeßberger § 3 2. Völkerrechtliche Verpflichtungen. § 3 ist nicht nur für die innerstaatliche 7 Rechtsordnung von Bedeutung, sondern auch im Hinblick auf das Völkerrecht. Die Bundesrepublik hat sich in vielen internationalen Übereinkommen verpflichtet, bestimmte Straftaten unter anderem dann zu verfolgen, wenn sie im eigenen Hoheitsbereich begangen werden (Vor § 3 Rdn. 33), so etwa Betäubungsmittelstraftaten, Luftpiraterie, terroristische Gewalttaten und Geiselnahme. § 3 ermöglicht es der Bundesrepublik, solche völkerrechtlichen Verpflichtungen innerstaatlich durchzusetzen. II. Voraussetzungen 8

Voraussetzung der Geltung des deutschen Strafrechts nach § 3 ist, dass die Tat im Inland begangen wird. Maßgeblich für die Bestimmung des Begehungsortes ist § 9. Zu den Begriffen „Tat“, „Geltung“ und „deutsches Strafrecht“ siehe Vor § 3 Rdn. 333, 347 f.

9

1. Die Entwicklung des Inlandsbegriffs. Für ein Strafrecht, das sich grundsätzlich am Gebietsgrundsatz orientiert, haben die Rechtsbegriffe „Inland“ und „Ausland“ grundlegende Bedeutung. Bei einem Staat deckt sich normalerweise das Staatsgebiet mit dem Geltungsbereich seiner Rechtsordnung. Entsprechend war man früher fast einhellig der Meinung, dass auch bei der Anwendung des Strafrechts das Staatsrecht bestimmt, was Inland und was Ausland ist.6 Vielfach wird diese Frage in der Verfassung oder in der Strafgesetzgebung ausdrücklich geregelt,7 so etwa auch in § 8 RStGB in der bis zur GeltungsbereichsVO vom 6.5.1940 (RGBl. I S. 754) geltenden Fassung: „Ausland im Sinne dieses Strafgesetzes ist jedes nicht zum Deutschen Reich gehörige Gebiet.“ Entsprechend erstreckte § 3 RStGB den Anwendungsbereich der Strafgesetze des deutschen Reichs auf alle im „Gebiet desselben“ begangenen Straftaten. Demgegenüber wollte der Gesetzgeber bei der Neufassung des § 3 durch das 2. StrRG 10 (Vor § 3 Rdn. 276) vor dem Hintergrund der deutschen Teilung die Auslegung des Inlandsbegriffs bewusst der Rechtsprechung überlassen (2. Bericht, BTDrucks. V/4095 S. 4); die in § 3 E 1962 vorgesehene Begriffsbestimmung wurde daher nicht übernommen. Der Begriff des Inlands war vor 1945 lediglich in Einzelheiten umstritten.8 Nach dem 11 Zweiten Weltkrieg aber warf die Frage, was im Strafrecht als „Inland“ und was als „Ausland“ zu gelten habe, grundlegende und schwierige Fragen auf. Dies galt insbeson-

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5 6 7 8

Böse NK Rdn. 1 („Hauptanknüpfungspunkt“); Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 1 („Grundprinzip“). Vgl. nur Jagusch LK8 § 3 Anm. 4a. Vgl. etwa Art. 4 Abs. 2 des italienischen Strafgesetzbuches vom 19.10.1930; Rumpf Der Staat 1970 290. Vgl. v. Liszt/Schmidt AT § 22 II.

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dere, seitdem sich neben der Bundesrepublik auf dem Territorium der früheren sowjetischen Besatzungszone die DDR als „sozialistischer Staat deutscher Nation“9 etabliert hatte. Auch nach der Bildung zweier voneinander unabhängiger Staatsgewalten auf deutschem Boden lebte die staatsrechtliche Vorstellung vom Fortbestand eines (handlungsunfähigen) deutschen Gesamtstaats weiter (Fortbestandstheorie). Sie entsprach der Rechtsprechung des BVerfG.10 Bis zum Abschluss der Ostverträge in den Jahren 1970 bis 1973 herrschte die Auffassung vor, dass das Gebiet des Deutschen Reiches nach dem Stande des 31.12.193711 staatsrechtlich als Inland zu gelten habe. Das hatte zur Folge, dass der staatsrechtliche Begriff „Inland“ und der effektive Geltungsbereich der (Straf-) Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland auseinander fielen.12 Dieses Auseinanderfallen führte in der Rechtsprechung zur Herausbildung eines „funktionellen“ Inlandsbegriffs (dazu Rdn. 15, 17). Der Gesetzgeber reagierte mit der Verwendung neuer Begriffe, wie demjenigen des „räumlichen Geltungsbereichs“ des Strafgesetzbuches.13 Dies betraf etwa die Straftaten der Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates (§§ 84, 91), weil die Vorschriften nur den Schutz der staatlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland zum Zweck haben konnten. Seit Abschluss der Ostverträge 1970/1973 lag es – jedenfalls für die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Strafrechts – nahe, den gesetzlichen Sprachgebrauch in diesem Zusammenhang zu bereinigen.14 Die Ausdehnung des (staats- und völkerrechtlich verstandenen) Begriffs des Inlandes auf die deutschen Reichsgrenzen nach dem Stande vom 31.12.1937, also auch auf die ehemals deutschen Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie, war seit Abschluss des Moskauer Vertrags vom 12.8.1970 (BGBl. 1972 II S. 353) und des Warschauer Vertrags vom 7.12.1970 (BGBl. 1972 II S. 361) unhaltbar, weil durch die Vertragswerke „die territoriale Integrität aller Staaten in Europa in ihren heutigen Grenzen“ und die Oder-Neiße-Linie als „die westliche Staatsgrenze der Volksrepublik Polen“ anerkannt wurden. Nach Abschluss des Grundlagenvertrags vom 21.12.1972 (BGBl. 1973 II S. 421) mit der DDR war es staats- und völkerrechtlich zweifelhaft15 und strafrechtlich sachwidrig, deren Staatsgebiet als Inland zu begreifen. Denn in diesem Vertrag bekräftigte die Bundesrepublik die Unverletzlichkeit der Grenze zur DDR (Art. 3 Abs. 2); zugleich erkannte sie als Grundsatz an, „dass sich die Hoheitsgewalt jedes der beiden Staaten auf sein Staatsgebiet beschränkt“ (Art. 6 Satz 1). Ein Inlandsbegriff, der am Staats- und Völkerrecht ausgerichtet war (Rdn. 9), vermochte zur Strafrechtsanwendung um so weniger beizutragen, als – bezogen auf die Rechtslage Deutschlands – der staatsrechtliche Inlandsbegriff seinerseits umstritten war und gerade durch das „Grundlagenvertragsurteil“ (BVerfGE 36 1) in ein Spannungsverhältnis zum völkerrechtlichen Inlandsbegriff trat. Daher war es sachgerecht, im Straf-

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9 So Art. 1 des G zur Ergänzung und Änderung der Verfassung der DDR v. 7.10.1974 (GBl.-DDR I S. 425). 10 BVerfGE 36 15; 6 336, 363; 5 126; 3 319; 2 277; gegen die Fortbestandstheorie Rumpf Zeitschrift für Politik 1975 129, 135; vgl. auch Wengler JZ 1974 535. 11 Dieses Datum geht auf das Londoner Protokoll der Sieger- und Besatzungsmächte vom 12.9.1944 zurück und fand Eingang in Art. 116 Abs. 1 GG; vgl. Rumpf Der Staat 1970 316; E 1962 Begr. S. 106. 12 Eingehend hierzu Gribbohm LK11 Vor § 3 Rdn. 205 ff. 13 Vgl. etwa § 5 Nrn. 3 Buchst. a, 5 Buchst. b, 7 und 10; § 66 Abs. 4 Satz 5; § 80a; § 84 Abs. 1 Satz 1; § 85 Abs. 1 Satz 1; § 86 Abs. 1 Nr. 3; § 87 Abs. 1; § 88 Abs. 1; § 91a; § 100 Abs. 1; § 109f Abs. 1; § 234a Abs. 1 in der jeweiligen Fassung. 14 Roggemann S. 17, 34, 106; ders. ZRP 1976 245. 15 Und zwar unbeschadet des von der Fortbestandstheorie (Rdn. 11) ausgehenden Grundlagenvertragsurteils BVerfGE 36 15; näher Rumpf Zeitschrift für Politik 1975 127; vgl. Roggemann S. 19.

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recht von einem funktionellen Inlandsbegriff16 auszugehen, der den besonderen Erfordernissen der Strafrechtsanwendung besser gerecht wurde. Zunächst hatte auch die höchstrichterliche Rechtsprechung dem Strafrecht den staats- und völkerrechtlichen Inlandsbegriff zugrunde gelegt. Nach anfänglicher Auffassung des BGH gehörte die sowjetische Besatzungszone sowohl sachlichrechtlich (BGHSt 5 364, 365) als auch prozessual (BGHSt 7 53, 55) zum Inland, dies ungeachtet der politischen Verhältnisse, die das Bestehen einer einheitlichen Regierungsgewalt hinderten und die Rechtseinheit gefährdeten (BGHSt 7 53, 55). Folgerichtig hielt der BGH für den Fall, dass die Tathandlungen mehrere deutsche Rechtsgebiete betrafen, nicht das Strafanwendungsrecht der §§ 3 ff a.F. für maßgebend, sondern die ungeschriebenen Regeln des innerdeutschen (interlokalen) Strafrechts (vgl. Vor § 3 Rdn. 434 ff), nach denen grundsätzlich das Recht des Tatorts gilt (Vor § 3 Rdn. 440 f).17 Nach der Entscheidung BGHSt 15 72, in der es um die gerichtliche Zuständigkeit für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens im Zusammenhang mit einem Urteil eines Gerichts der sowjetischen Besatzungszone ging, waren solche Gerichte nicht Gerichte eines ausländischen Staates, sondern deutsche (inländische) Gerichte (ebenso BGHSt 20 5, 7). Eine Wende beim Verständnis des Inlandsbegriffs deutete sich erst in den Entscheidungen BGHSt 27 5 und BGH NJW 1978 113, 115 an. Die Abkehr vom staats- und völkerrechtlichen sowie die Hinwendung zum funktionellen Inlandsbegriff vollzog BGHSt 30 1.18 Die frühere Gesetzesauslegung, nach welcher der Inlandsbegriff des § 3 die DDR mit umfasste, hielt der BGH „jedenfalls seit dem Abschluss des Vertrags über die Grundlagen der Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik (Grundlagenvertrag)“ vom 21.12.1972 (BGBl. 1973 II S. 421, 423) nun für „nicht mehr vertretbar“ (BGHSt 30 1, 3). Zugleich knüpfte der BGH an den funktionellen Inlandsbegriff an; denn er stellte für die Beurteilung bei § 3 darauf ab, dass die Bundesrepublik auf dem Gebiet der DDR keine Staatsgewalt ausübte.19 Unter Anwendung des funktionellen Inlandsbegriffs behandelte der BGH sodann die DDR strafrechtlich wie Ausland im Sinne des § 7 Abs. 1, dies allerdings nur in begrenztem Umfang. Er meinte, dass diese Vorschrift nicht allgemein auch dem Schutz von Bürgern der DDR vor Straftaten diene, die in der DDR gegen sie begangen würden, nach dem Schutzprinzip wohl aber dem Schutz vor einer dort gegen sie verübten Freiheitsberaubung, die mit einer politischen Verdächtigung (§ 241a) zusammenhänge (BGHSt 32 293, 296, 298 = JZ 1984 946 m. krit. Anm. Oehler; weitergehend OLG Düsseldorf NJW 1983 1277f). Auf der Grundlage dieser Rechtsprechung lag es aber immerhin nahe, DDR-Bürger generell vor schweren Straftaten wie Tötungen, schweren Körperletzungen oder Freiheitsberaubungen zu schützen. Das KG (JR 1988 345) nahm an, entsprechend § 7 Abs. 2 (Nr. 1 oder 2) habe ein Bürger der DDR wegen dort begangener Betrugstaten in der Bundesrepublik bestraft werden können, wenn er nach Tatbegehung hierher geflohen sei. Seit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik20 am 3.10.1990 hat der funktionelle Inlandsbegriff seine praktische Bedeutung, die er gerade im Hinblick auf die Besonder-

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16 BGHSt 30 1; zur Kritik am funktionellen Inlandsbegriff Gribbohm LK11 Vor § 3 Rdn. 224 ff. 17 Vgl. auch BGHSt 30 1, 2; 27 5, 6 f; KG NStZ 1992 542. 18 BGHSt 30 1, 3 = JR 1981 204 m. krit. Anm. Wengler = StV 1981 174 m. abl. Anm. Abendroth = NStZ 1981 179 m. krit. Anm. Schroeder; abl. auch Schroth NJW 1981 500f. 19 BGHSt 40 125, 128 ff; 32 293, 297 = JZ 1984 593 m. Anm. Oehler; BGHSt 30 1, 4, 7; zu Differenzierungen in der Rechtsprechung Gribbohm LK11 Vor § 3 Rdn. 215. 20 Durch G vom 23.9.1990 zu dem Vertrag vom 31.8.1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR über die Herstellung der Einheit Deutschlands und zu der Vereinbarung vom 18.9.1990 (BGBl. II S. 885).

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heiten des staats- und völkerrechtlichen Verhältnisses zwischen den beiden deutschen Staaten hatte, verloren.21 Denn seit diesem Zeitpunkt erstreckt sich die (tatsächlich ausgeübte) hoheitliche Gewalt der Bundesrepublik auch auf das Gebiet der früheren DDR. Für dort begangene Taten gilt – gem. § 3 – grundsätzlich das Strafrecht der Bundesrepublik (näher Vor § 3 Rdn. 457 ff). Damit entspricht der strafrechtliche (funktionelle) Inlandsbegriff seit dem Wirksamwerden des Beitritts (Art. 1 Abs. 1 EV) dem staatsrechtlichen Inlandsbegriff22 und dem völkerrechtlichen Begriff23 des Staatsgebietes.24 Eine inhaltliche, auch gegenwärtig noch gültige Aussage liefert der funktionelle Inlandsbegriff freilich insoweit, als er an eine funktionierende hoheitliche Staatsgewalt anknüpft und sie in dem als „Inland“ in Anspruch genommenen Gebiet voraussetzt.25 Auch strafrechtlich kann zum Inland nur gehören, was als Land-, Meeres- und Luftgebiet rechtlich und tatsächlich der ausschließlichen Hoheitsgewalt des Staates (seiner Gebietshoheit) unterworfen ist.26 Die „Funktionalisierung“ des Inlandsbegriffs und die Abkehr von einer staatsrechtlich-normativen Auffassung haben den Sinngehalt des Territorialitätsprinzips klar hervortreten lassen. Grundlage des Territorialitätsprinzips ist eine soziale und politische Realität, die effektive Ausübung von Hoheitsgewalt in einem bestimmten Herrschaftsbereich. Hierauf basiert die primäre Verantwortlichkeit des Staates für die Ahndung aller im eigenen Hoheitsbereich begangenen Handlungen. Als Kehrseite ergibt sich der grundsätzliche Strafverzicht bei Auslandstaten, der mit der Annahme einhergeht, dass die im Herrschaftsbereich fremder Staatsgewalt begangenen Taten von dieser geahndet werden. Ebenfalls deckungsgleich sind seit dem Beitritt das Inland und der „räumliche Geltungsbereich“ des Strafgesetzbuches; der Begriff des „räumlichen Geltungsbereichs“ ist daher in den §§ 131, 184 durch das VerbrBekG (BGBl. 1994 II S. 3186) gestrichen worden. Nach wie vor findet er sich freilich in § 5 Nrn. 3 Buchst. a, 5 Buchst. b, 7, 10 sowie u.a. in den §§ 66 Abs. 4 Satz 5, 80a, 84 Abs. 1, 91a, 100 Abs. 1, 234a Abs. 1. Die Strafbarkeit von „Alttaten“, die vor dem 3.10.1990 in der DDR von deren Bürgern begangen wurden, richtet sich nach den Sondervorschriften der Art. 315 ff EGStGB, welche durch Art. 1b EGStGB („Anwendbarkeit der Vorschriften des internationalen Strafrechts“) ergänzt werden (Vor § 3 Rdn. 458 ff).27 Die Schwierigkeiten, die solche Fälle der Praxis bereitet haben, ergaben sich in der Regel nicht aus den Grundsätzen des Strafanwendungsrechts, sondern hatten ihre Ursachen in verfassungs- und völkerrechtlichen Fragen sowie in Problemen der Strafbarkeit nach dem Recht der DDR. Dies gilt beispielsweise für die Erschießung von Republikflüchtigen an der innerdeutschen Grenze durch Angehörige der Grenztruppen der DDR oder für Fälle der Rechtsbeugung durch Richter und Staatsanwälte der DDR (zusammenfassend zum Ganzen Eser/Arnold; Hassemer FG BGH, S. 439; Marxen/Werle Bilanz; Rogall FG BGH, S. 383; eingehend zur Rechtsprechung Gribbohm LK11 Vor § 3 Rdn. 219 ff; siehe auch Vor § 3 Rdn. 458 ff).

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2. Der Inlandsbegriff des geltenden Rechts. Das Inland erstreckt sich auf das ge- 24 samte Gebiet innerhalb der völkerrechtlich anerkannten Grenzen, auf dem die Bundes-

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21 Ambos MK Rdn. 9; Sch/Schröder/Eser/Weißer Vorbem §§ 3–9 Rdn. 60; Fischer Vor §§ 3–7 Rdn. 12. 22 Isensee HdbStR IX § 119 Rdn. 66. 23 Ipsen/Epping § 5 Rdn. 3. 24 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 5 Rdn. 41; Jescheck/Weigend § 18 VI 1; Sch/Schröder/Eser/Weißer Vorbem §§ 3–9 Rdn. 60. 25 Lackner/Kühl/Heger Vor §§ 3–7 Rdn. 4; Fischer Vor §§ 3–7 Rdn. 12. 26 Lackner/Kühl/Heger Vor §§ 3–7 Rdn. 4; Sch/Schröder/Eser/Weißer Vorbem §§ 3–9 Rdn. 60. 27 BGHSt 40 272, 275; 40 218, 231; 40 30, 32; 39 317, 319; 39 164, 173, 180; 39 54, 59, 65 f; 39 1, 6 ff; 38 1 f.

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republik Deutschland Hoheitsgewalt ausübt; hier gilt gem. § 3 das deutsche Strafrecht. Umfasst ist das Land- und Meeresgebiet auf der Erdoberfläche, einschließlich der Eigen- und Küstengewässer, sowie der darunter liegende Erdraum (bis zum Erdmittelpunkt) und der darüber liegende Luftraum (bis zum Weltraum). Mit dem so verstandenen Inlandsbegriff ist es vereinbar, dass der Staat in einem be25 stimmten Gebiet (etwa auf Grund eines völkerrechtlichen Vertrags) von einzelnen seiner souveränen Rechte keinen oder nur einen eingeschränkten Gebrauch macht. Dieses Gebiet bleibt Inland. Umgekehrt wird ein Raum, auf den sich die Gebietshoheit des Staates nicht erstreckt, noch nicht dadurch zum Inland, dass der Staat darin einzelne Hoheitsrechte besitzt, sie ausübt und dies auch darf; dies betrifft etwa die deutsche ausschließliche Wirtschaftszone, die sich seewärts an das deutsche Küstenmeer anschließt (§ 5 Rdn. 54 ff). Die Inlandseigenschaft wird ferner nicht dadurch begründet, dass der Staat staats- oder völkerrechtliche Ansprüche auf ein Gebiet erhebt, das der ausschließlichen Hoheitsgewalt eines anderen Staats unterliegt oder nach Völkerrecht nicht Gegenstand souveräner Herrschaftsgewalt sein kann. Die Inlandseigenschaft eines Gebietsteils wird schließlich nicht allein dadurch aufgehoben, dass er durch fremde Truppen besetzt wird (vgl. RGSt 64 15 f). In welchem Raum ein Staat souveräne Hoheitsgewalt ausüben darf, ist vielfach Ge26 genstand völkerrechtlicher Regelungen. Diese Regelungen sind bei der Frage, ob ein Gebiet oder ein Raum zum Inland gehört, zu beachten. Entsprechende Bestimmungen finden sich etwa im SeeRÜbk. (Vor § 3 Rdn. 94) und im Chicagoer Abkommen über die Zivilluftfahrt vom 7.12.1944, das für die Bundesrepublik am 8.6.1956 in Kraft getreten ist (G vom 7.4.1956, BGBl. II S. 411). Dabei ist zu berücksichtigen, dass zahlreiche der vertraglichen Bestimmungen Teil des (universellen) Völkergewohnheitsrechts sind.28 Im Einzelnen gehören zum Inland im Sinne des § 3: 27 a) Landgebiet. Zum Inland gehört das Landgebiet, auf dem die Bundesrepublik Deutschland territoriale Hoheitsgewalt und demgemäß auch Strafgewalt ausübt. Seit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik umfasst das Landgebiet der Bundesrepublik Deutschland das Territorium der 16 Bundesländer, die in der Präambel des Grundgesetzes29 genannt sind (vgl. Art. 1 EV). Nicht zum Inland gehören die ehemals deutschen Gebiete östlich der Oder-Neiße29 Linie, die nach der deutschen Kapitulation 1945 auf Grund der Beschlüsse der Potsdamer Konferenz unter teils polnische, teils sowjetische Verwaltung gestellt wurden.30 Nachdem die DDR die Oder-Neiße-Linie bereits im Görlitzer Vertrag vom 6.7.195031 als „Staatsgrenze zwischen Polen und Deutschland“ anerkannt hatte, folgte dem (der Sache nach) die Bundesrepublik durch die Verträge mit der UdSSR vom 12.8.1970 (Moskauer Vertrag, BGBl. 1972 II S. 354; G vom 23.5.1972, BGBl. II S. 353; Bek. vom 12.6.1972, BGBl. II S. 650) und mit Polen vom 7.12.1970 (Warschauer Vertrag, BGBl. 1972 II S. 362; G vom 23.5.1972, BGBl. II S. 361; Bek. vom 12.6.1972, BGBl. II S. 651), in denen sie die bestehenden Grenzen für unverletzlich erklärte, auf die Anwendung von Gewalt verzichtete und Gebietsansprüche nicht erhob.32

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28 Vgl. Dahm/Delbrück/Wolfrum Bd. I/2 § 116 II. 1; Ipsen/Heintze § 47 Rdn. 5, 6. 29 I.d.F. des Einigungsvertrags vom 31.8.1990 und des ZustG vom 23.9.1990 (BGBl. II S. 889 und 885). 30 Abschn. VI und IX Buchst. b der Amtlichen Verlautbarung über die Konferenz von Potsdam vom 2.8.1945, ABlKR 1945, ErgänzungsH 1 S. 13; Abdruck bei Berber/Randelzhofer Völkerrechtliche Verträge (1979) S. 322; v. Münch Dokumente des geteilten Deutschlands, Band I (1968) S. 32. 31 Abdruck bei v. Münch Dokumente des geteilten Deutschlands, Band I (1968) S. 497. 32 Wie hier Jescheck/Weigend § 18 VI 1; Böse NK Vor §§ 3–7 Rdn. 44.

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b) Binnengewässer und maritime Eigengewässer. Zum Inland gehören auch die 30 Eigengewässer.33 Dies sind die Binnengewässer und die inneren Gewässer. Binnengewässer sind die innerhalb der Staatsgrenzen liegenden und allseitig von 31 Land umschlossenen natürlichen oder künstlichen Wasserläufe (Flüsse und Kanäle) sowie die Binnenhäfen und Binnenseen.34 Maritime Eigengewässer sind die inneren Gewässer. Als solche werden alle Gewässer 32 bezeichnet, die auf der Landseite der Grundlinie liegen, von der aus die Breite des (deutschen) Küstenmeers (Rdn. 41 ff) berechnet wird (Art. 8 Abs. 1 SeeRÜbk.; Art. 5 Abs. 1 KüMÜbk.).35 Hierzu gehören die Seehäfen und Reeden, Baien und Buchten sowie geschlossene Meere, Flussmündungen, Förden, Haffe und Wattenmeere.36 SeeRÜbk. und KüMÜbk. gehen als selbstverständlich davon aus, dass sich die Souveränität des Küstenstaates (nicht nur auf die im Landesinneren gelegenen Binnengewässer, sondern auch) auf die maritimen Eigengewässer erstreckt (Art. 2 Abs. 1 SeeRÜbk., Art. 1 Abs. 1 KüMÜbk.). Einschränkungen können sich unter besonderen Umständen aus dem Recht der friedlichen Durchfahrt (Rdn. 77) ergeben (Art. 8 Abs. 2 SeeRÜbk.). aa) Internationale Wasserwege. Zum Inland gehören damit (innerhalb der deut- 33 schen Staatsgrenzen) grundsätzlich auch die sogenannten internationalen Flüsse oder Wasserwege.37 Das sind zum einen faktisch internationale Ströme, die vom Meer aus schiffbar sind und deren schiffbarer Lauf mehrere Staaten durchfließt oder trennt;38 zum anderen auch schiffbare nationale Wasserstraßen, die durch einen völkerrechtlichen Vertrag für den internationalen Handelsverkehr geöffnet und damit „internationalisiert“ wurden.39 Die internationalen Wasserwege (Rdn. 33)40 – hierzu gehören etwa der Rhein und 34 die Mosel – sind in der ganzen Breite für Schifffahrt und Handel freigegeben; in den übrigen Beziehungen haben die Uferstaaten ihre Staatshoheitsrechte über den Strom aber behalten (RGSt 9 370, 376). Die revidierte Rheinschiffahrtsakte vom 17.10.1868 (Mannheimer Akte) in der Neufassung des deutschen Wortlauts vom 11.3.1969 (BGBl. II S. 597)41 schränkt jedoch die Souveränität der Uferstaaten des Rheins vertraglich hinsichtlich der Setzung von schifffahrts- und strompolizeilichen Vorschriften ein und hat eine Berufung gegen strafrechtliche Urteile des nationalen Schifffahrtsgerichts über Zuwiderhandlungen gegen diese Vorschriften bei der Internationalen Zentralkommission in Straßburg zugelassen.42 Ähnlich der Rheinschifffahrt ist die Moselschifffahrt nebst zugehöriger Gerichtsbarkeit geregelt.43 In Übereinstimmung mit den dargelegten Grundsätzen (Rdn. 33 f) hat die Bundesre- 35 publik Deutschland als Uferstaat die volle Strafgewalt über den Nord-Ostsee-Kanal

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33 Graf Vitzthum HdbStR I § 16 Rdn. 23; Herdegen § 31 Rdn. 4. 34 Oehler Rdn. 396 ff; Verdross/Simma § 1057. 35 Ipsen/Heintschel von Heinegg § 40 Rdn. 1; Graf Vitzthum HdbStR I § 16 Rdn. 28; Herdegen § 31 Rdn. 4. 36 Strupp/Schochauer/Bauer I S. 204; Oehler Rdn. 396 ff. 37 Oehler Rdn. 396. 38 Strupp/Schlochauer/Bauer I S. 204; Strupp/Schlochauer/Krüger II S. 136 f. 39 Graf Vitzthum HdbStR II § 16 Rdn. 28. 40 Vgl. Lederle Das Recht der internationalen Gewässer (1920); Triepel Internationale Flußläufe (1931). 41 Geändert durch Zusatzprotokolle Nrn. 2 und 3 vom 17.10.1979 (BGBl. 1980 II 870, 875). 42 G über das gerichtliche Verfahren in Binnenschiffahrts- und Rheinschiffahrtssachen vom 27.9.1952 (BGBl. I S. 641); Oehler Rdn. 396. 43 Oehler Rdn. 396.

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(Kieler Kanal).44 Selbst die Vorschriften der Art. 380 ff des Versailler Vertrages,45 die durch die Kündigung von deutscher Seite mit Note vom 14.11.1936 (RGBl. II S. 361) – wenigstens faktisch – bedeutungslos wurden, ließen die deutsche Gerichtshoheit über den Kanal und die darin befindlichen Schiffe bestehen.46 bb) Grenzflüsse und Grenzseen. Bildet ein Flusslauf die Staatsgrenze, wie der Rhein oder die Oder, so reicht das Inland, falls nichts anderes vereinbart ist, bei schiffbaren Grenzflüssen bis zum tiefsten Punkt der Fahrrinne im Sinne des „Talwegs“, d.h. der Fahrbahn der stromabwärts fahrenden Schiffe (vgl. RGSt 9 370, 374).47 Doch ist der Grenzverlauf fast überall vertraglich geregelt, und zwar unterschiedlich nach Flussmitte, Talweg und Flussufer.48 Bei nicht schiffbaren Flüssen soll die geografische Mittellinie des Wasserlaufs die Grenze sein.49 Soweit Wasserläufe die Staatsgrenze bilden, sind die folgenden zwischenstaatlichen 37 Vereinbarungen ermittelt:50 mit Belgien Verträge vom 7.11.1929 (G vom 28.3.1931, RGBl. II S. 125; Bek. vom 17.7.1931, RGBl. II S. 532), 10.5.1935 (Bek. vom 31.10.1935, RGBl. II S. 751) und 24.9.1956 (G vom 6.8.1958, BGBl. II S. 262; Bek. vom 11.9.1958, BGBl. II S. 353) mit Ergänzungen (BGBl. 1996 II Fundstellennachweis B S. 18); mit Dänemark Vertrag vom 10.4.1922 (G vom 1.6.1922, RGBl. II S. 141, 235; Bek. vom 23.6.1954, BGBl. II S. 717); mit Frankreich Vertrag vom 27.10.1956 (G vom 22.12.1956, BGBl. II S. 1863; Bek. vom 7.1.1957, BGBl. II S. 2) mit Vereinbarung vom 13./27.5.1975 (Bek. vom 24.2.1976, BGBl. II S. 353); mit Luxemburg Vertrag vom 19.12.1984 (G vom 14.4.1988, BGBl. II S. 414; Bek. vom 8.9.1988, BGBl. II S. 923); mit den Niederlanden Vertrag vom 8.4.1960 (G vom 10.6.1963, BGBl. II S. 458, 463, 602; Bek. vom 29.7.1963, BGBl. II S. 1078) mit Zusatz- und Ergänzungsabkommen (BGBl. 1996 II Fundstellennachweis B S. 90 f); mit Österreich Verträge vom 29.2.1972 (G vom 20.5.1975, BGBl. II S. 765; Bek. vom 3.9.1975, BGBl. II S. 1351) und 3.4.1989 (G vom 2.4.1993, BGBl. II S. 707; Bek. vom 3.8.1993, BGBl. II S. 1730; dazu Borchmann NJW 1994 3057, 3061); mit der Schweiz Verträge vom 23.11.1964 (G vom 19.7.1967, BGBl. II S. 2040; Bek. vom 4.10.1967, BGBl. II S. 2335) und 1.6.1973 (G vom 1.10.1975, BGBl. II S. 1405, 1412; Bek. vom 12.2.1976, BGBl. II S. 348): Flussgrenzen gegenüber den Kantonen Basel, Aargau, Zürich, Thurgau regelmäßig jeweilige Strommitte nach alten Verträgen zwischen dem Großherzogtum Baden und der Schweiz, unter anderem mit dem Kanton Thurgau vom Oktober 1854 Teilung des Untersees des Bodensees und des „Konstanzer Trichters“ auf der Mittellinie (vgl. Anlage zum Übereinkommen vom 1.6.1973, BGBl. 1975 II S. 1405). Hinsichtlich des Grenzflusses Wutach: Vertrag vom 23.11.1964 (BGBl. 1967 II S. 2040). Liegt ein Binnensee auf der Grenze zweier oder mehrerer Staaten, so steht die Ge38 bietshoheit über diesen Grenzsee den Anliegerstaaten zu. Überwiegend wird die Ansicht vertreten, die für den Grenzverlauf an „mehrstaatlichen“ Flüssen entwickelten Regeln seien auch auf stehende Gewässer entsprechend anzuwenden (RGSt 57 368, 369).51 Doch wird in der Praxis mehr auf die Mittellinie als auf den Hauptschifffahrtsweg abgestellt.52 36

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44 OLG Schleswig SchlHA 1955 101; zustimmend Strupp/Schlochauer/v. Münch I S. 85. 45 G über den Friedensschluß zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten vom 16.7.1919 (RGBl. S. 687, 1265 ff). 46 Oehler Rdn. 400; vgl. Strupp/Schlochauer/ Böhmer II S. 220 ff. 47 Vgl. deutsch-französischer Vertrag über den Ausbau des Oberrheins zwischen Basel und Straßburg vom 27.10.1956 (BGBl. II S. 1864); Oehler Rdn. 397. 48 Fischer Vor §§ 3–7 Rdn. 16. 49 RGSt 57 368, 369; Ipsen/Epping/Gloria § 23 Rdn. 10; Oehler Rdn. 397. 50 Vgl. auch Ipsen/Epping § 5 Rdn. 16 ff. 51 Strupp/Schlochauer/Bauer I S. 204, 206. 52 Vgl. Strupp/Schlochauer/Bauer I S. 206; Oehler Rdn. 398.

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Der Bodensee ist nicht gemeinsames Kondominat der Uferstaaten.53 Hinsichtlich 39 des Untersees verläuft die Grenze auf der Mittellinie (RGSt 57 368, 369). Der Überlinger See gehört ganz zum Bundesgebiet, da ihn auf drei Seiten badisches Gebiet umschließt (RGSt 57 368, 369). Beim Obersee (Stammbecken zwischen Bregenz und Konstanz) ist die Grenzziehung strittig.54 Das Bodenseeabkommen vom 1.6.1973 (BGBl. 1975 II S. 1412) lässt die Frage offen und regelt nur die polizeiliche Aufsicht und die Zuständigkeit bei Zuwiderhandlungen gegen die Schifffahrtsvorschriften (Art. 1 Abs. 2, Art. 13).55 cc) Grenzbrücken. Bei ihnen hört die inländische Staatshoheit und damit das In- 40 land, falls nichts anderes vereinbart ist, in der Brückenmitte auf (RGSt 9 370, 378) oder – bei schiffbaren Flüssen – auf der Verlängerung der Talweglinie, welche die Flussgrenze bildet (Oehler Rdn. 397). Als Beispiel einer besonderen Vereinbarung vgl. das Abkommen vom 18.4.1994 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Großherzogtum Luxemburg über den Autobahnzusammenschluss und den Bau einer Grenzbrücke über die Mosel im Raum Perl und Schengen (G vom 9.2.1996, BGBl. II S. 215; dazu Borchmann NJW 1997 101, 103). c) Küstenmeer. Zum Inland gehört auch das deutsche Küstenmeer. Als Küsten- 41 meer (territorial sea) bezeichnet man den Teil des Meeres, der sich seewärts an das Territorium und die inneren Gewässer eines Küstenstaates anschließt und auf den sich seine Souveränität erstreckt (Art. 2 Abs. 1 SeeRÜbk.; Art. 1 Abs. 1 KüMÜbk.; Vor § 3 Rdn. 94 f).56 Dessen Souveränität erstreckt sich auch auf den Luftraum über dem Küstenmeer sowie auf den Meeresboden und den Meeresuntergrund des Küstenmeers (Art. 1 Abs. 2 SeeRÜbk.; Art. 1 Abs. 2 KüMÜbk.). Nicht mehr Teil des Inlands sind die sich seewärts an das Küstenmeer anschließen- 42 den Meeresgebiete. Dies gilt ungeachtet des Umstandes, dass sie nach internationalem Seerecht teilweise einem besonderen rechtlichen Regime unterliegen, das dem Küstenstaat besondere Rechte und Pflichten einräumt. Dies betrifft etwa die deutsche ausschließliche Wirtschaftszone, die sich bis zu 200 Seemeilen gemessen von der Niedrigwasserlinie entlang der Küste an das Küstenmeer anschließt (Art. 57 SeeRÜbk., § 5 Rdn. 54 ff), und – ebenfalls soweit er jenseits des Küstenmeeres liegt – den Festlandsockel (continental shelf), also den Meeresboden und Meeresuntergrund, der sich bis zu 350 Seemeilen gemessen von der Niedrigwasserlinie entlang der Küste erstreckt (Art. 76 SeeRÜbk.); vgl. hierzu § 5 Rdn. 62 ff. Die Breite des Küstenmeers, also desjenigen der Küste vorgelagerten Meeresgebie- 43 tes, in dem souveräne Hoheitsgewalt beansprucht wird, bestimmt jeder Staat selbst. Dabei sind allerdings völkerrechtliche Vorgaben zu beachten. Art. 3 SeeRÜbk. bestimmt, dass eine Breite von zwölf Seemeilen (gemessen von der Niedrigwasserlinie57 entlang der Küste) die äußerste seewärtige Grenze ist, welche die Staaten festlegen dürfen. Zugleich wird eine Zone von drei Seemeilen als mindeste erlaubte Ausdehnung betrachtet.58

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53 RGSt 57 368, 369; zum Ganzen eingehend Allgaier BayVBl. Strupp/Schlochauer/Bauer I S. 217 ff und v. Bayer-Ehrenberg DÖV 1957 38. 54 Fischer Vor §§ 3–7 Rdn. 15. 55 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich vom 29.2.1972 (BGBl. 1975 II S. 766) Art. 1 Abs. 2. 56 Graf Vitzthum HdbStR II § 16 Rdn. 30. 57 Einzelheiten dazu bei Graf Vitzthum HdbStR I § 16 Rdn. 30; Oehler Rdn. 403. 58 Verdross/Simma § 1071.

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Die Bundesrepublik Deutschland nimmt auf Grund der Proklamation der Bundesregierung vom 19.10.1994 (Bek. vom 11.11.1994, BGBl. 1994 I 3428) mit Wirkung vom 1.1. 1995 in der Nordsee die Zwölfmeilenzone als Küstenmeer in Anspruch. Die seitliche Abgrenzung des deutschen Küstenmeeres zu den Niederlanden und zu Dänemark bleibt einer späteren Entscheidung vorbehalten. Die ebenfalls in der Proklamation vom 19.10.1994 festgelegte seewärtige Abgrenzung des deutschen Küstenmeeres in der Ostsee bleibt teilweise hinter dem völkerrechtlichen Abstand von zwölf Seemeilen zurück. Die seitliche Abgrenzung des deutschen Küstenmeeres zur Republik Polen entspricht dem Vertrag vom 14. November 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenzen (BGBl. 1991 II S. 1328). In Art. 2 des internationalen Vertrags vom 6.5.1882 (RGBl. 1884 S. 25) war die Dreimeilenzone, was die Nordsee betrifft, bis zum 26.9.1976 ausdrücklich gesetzlich festgelegt.59 Nach dem Übereinkommen vom 1.6.1967 (BGBl. 1976 II S. 4), das den Vertrag vom 6.5.1882 ersetzte, war das nicht mehr der Fall. Aus neuerer Zeit gibt es einen Beschluss der Bundesregierung über die Erweiterung des Küstenmeers der Bundesrepublik in der Nordsee zur Verhinderung von Tankerunfällen in der Deutschen Bucht (Bek. vom 12.11.1984, BGBl. I S. 1366). Die Erweiterung betrifft (mit Wirkung vom 26.3.1985) ein verkehrsreiches Gebiet, in dem in der Vergangenheit ein hohes Risiko von Schiffsunfällen aufgetreten ist. Die Bundesregierung will sich in diesem Gebiet die notwendigen Hoheitsrechte für Verkehrsregelungen sichern. Die Rechtmäßigkeit der Maßnahme ist nicht unbestritten, weil an einigen betroffenen Stellen die Zwölfmeilengrenze überschritten wird (Seidl-Hohenveldern/Gündling S. 198). Trotz der Souveränität des Küstenstaates haben Schiffe aller Staaten, ob Küstenoder Binnenstaaten, grundsätzlich das Recht der friedlichen Durchfahrt (innocent passage) durch das Küstenmeer (Art. 17 ff SeeRÜbk., Art. 14 ff KüMÜbk.). Die Strafgewalt des Küstenstaates ist insoweit eingeschränkt (Art. 27 SeeRÜbk., Art. 19 KüMÜbk.), ohne dass dies seine Souveränität aufhöbe.60 Fremde Kriegsschiffe und andere fremde Staatsschiffe im engeren Sinne (§ 4 Rdn. 20 ff) genießen völkerrechtliche Immunität (Art. 32 SeeRÜbk., Art. 21 ff KüMÜbk.).61 Art. 18 SeeRÜbk. definiert den Begriff „Durchfahrt“; Art. 19 SeeRÜbk. bestimmt, unter welchen Voraussetzungen die Durchfahrt „friedlich“ ist. Die Voraussetzungen fehlen unter anderem bei Erfüllung nachrichtendienstlicher Aufträge (Art. 19 Abs. 2 Buchst.c SeeRÜbk.), bei Schmuggel und illegaler Einwanderung (Art. 19 Abs. 2 Buchst. g SeeRÜbk.), bei vorsätzlicher schwerer Meeresverschmutzung (Art. 19 Abs. 2 Buchst. h SeeRÜbk.) sowie bei Fischereitätigkeiten (Art. 19 Abs. 2 Buchst. i SeeRÜbk.). Solche Fälle kann der Küstenstaat in der Regel auch im Küstenmeer verfolgen (Art. 27 Abs. 1 SeeRÜbk.).62 Die fremden Schiffe sind verpflichtet, die von ihm erlassenen Gesetze und sonstigen Vorschriften über die friedliche Durchfahrt einzuhalten (Art. 21 SeeRÜbk.). Der Tatbestand der unbefugten Fischerei durch Ausländer in deutschen Küstengewässern (§ 296a a.F.) ist durch § 12 des Seefischereigesetzes vom 12.7.1984 (BGBl. I S. 876) aufgehoben worden.

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59 AusfG vom 30.4.1884, außer Kraft gesetzt durch Art. 8 III Nr. 1 des G vom 19.12.1975 (BGBl. 1976 II S. 1) i.V.m. der Bek. vom 29.10.1976 (BGBl. II S. 1910); hierzu Dreher/Tröndle41 § 296a Rdn. 3. 60 Oehler Rdn. 404 f, 411 bis 414; Verdross/Simma § 1074. 61 Oehler Rdn. 415. 62 Weitere Beispiele zulässiger Strafverfolgung im Küstenmeer bei Oehler Rdn. 413 f.

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d) Luftraum. Der Luftraum über dem Hoheitsgebiet gehört strafrechtlich zum Inland. Die Hoheitsgewalt jedes Staates erstreckt sich kegelförmig in den Luftraum über dem Staatsgebiet mitsamt den Binnen- und Eigengewässern (Rdn. 30 ff) und dem Küstenmeer (Rdn. 41 ff).63 In Art. 1 des Chicagoer Abkommens über die Internationale Zivilluftfahrt vom 7.12.1944, für die Bundesrepublik in Kraft seit dem 8.6.1956 (G vom 7.4.1956, BGBl. II S. 411; Bek. vom 12.10.1956, BGBl. II S. 934),64 wird ausdrücklich anerkannt, dass jeder Staat über seinem Hoheitsgebiet „volle und ausschließliche Lufthoheit“ besitzt. Damit im Einklang heißt es in den das Küstenmeer betreffenden Vereinbarungen, dass sich die Souveränität des Küstenstaats „auf den Luftraum über dem Küstenmeer“ erstreckt (Art. 2 Abs. 2 SeeRÜbk., Art. 2 KüMÜbk.). Nicht abschließend geklärt ist, wie hoch die Lufthoheit in den Luftraum reicht. Genannt werden Höhen von 80 km bis zu der Grenze, an der die Erdanziehungskraft nicht mehr effektiv wirkt.65 Im Allgemeinen wird die äußere Grenze des Luftraums heute bei 80 bis 100 km über dem Meeresspiegel gezogen (Graf Vitzthum HdbStR II § 16 Rdn. 24). Abzulehnen ist die Auffassung, dass der gesamte Raum über der Erdoberfläche (der Weltraum eingeschlossen) rechtlich zum „Luftraum“ gehöre. Vielmehr ist zwischen Luft- und Weltraum zu unterscheiden.66 Die Lufthoheit wird durch völkerrechtliche Vereinbarungen eingeschränkt, die insbesondere Überflug- und Landerechte fremder Zivilflugzeuge regeln und in einigen Fällen auch strafrechtliche Regelungen enthalten, welche sich auf den zivilen Flugverkehr beziehen. Solche freiwilligen Einschränkungen, die den Inlandscharakter des eigenen Luftraums unberührt lassen (Rdn. 51), ergeben sich zum Beispiel aus folgenden Verträgen: Chicagoer Abkommen über die Internationale Zivilluftfahrt vom 7.12.1944 (Rdn. 51); Vereinbarung über den Durchflug im Internationalen Fluglinienverkehr vom 7.12.1944 (G vom 7.4.1956, BGBl. II S. 411, 442; Bek. vom 12.6.1956, BGBl. II S. 934), Internationales Übereinkommen über die Zusammenarbeit zur Sicherung der Luftfahrt (Eurocontrol) vom 13.12.1960 (G vom 14.12.1962, BGBl. II S. 2273; Bek. vom 18.5.1963, BGBl. II S. 776) und Protokoll vom 10.5.1984 (Rdn. 55). Hinzuweisen ist ferner auf die völkerrechtlichen Verträge, welche die Luftpiraterie betreffen (Vor § 3 Rdn. 107 ff). Weitere Beschränkungen der staatlichen Lufthoheit ergeben sich daraus, dass die Staaten (ungeachtet der Souveränität hinsichtlich des Luftraums über ihrem Hoheitsgebiet und der Frage des generellen völkerrechtlichen Gewaltverbots nach der VN-Satzung) sowohl von der Anwendung von Waffengewalt gegen Verkehrsflugzeuge Abstand zu nehmen haben als auch das Leben der Passagiere an Bord und die Sicherheit dieser Luftfahrzeuge nicht gefährden dürfen. Zivilluftfahrzeuge haben Anweisungen zu befolgen, welche die Staaten ihnen in Wahrnehmung ihrer Hoheitsgewalt nach dem Abkommen über die Internationale Zivilluftfahrt erteilen (Protokoll vom 10.5.1984 zur Änderung des Abkommens vom 7.12.1944 über die Internationale Zivilluftfahrt; G vom 9.2.1995, BGBl. II S. 210).67 Wachsende Bedeutung im Sinne einer freiwilligen Einschränkung auch der eigenen Lufthoheit gewinnen schließlich völkerrechtliche Abmachungen, die dem Umweltschutz dienen. Hier sind zu nennen:

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Graf Vitzthum HdbStR II § 16 Rdn. 24; Oehler Rdn. 481. Fundstellen der Änderungen BGBl. 2005 II Fundstellennachweis B S. 303. Strupp/Schlochauer/Rinck II S. 438. Herdegen § 32 Rdn. 1; Strupp/Schlochauer/Wessels III S. 831. Borchmann NJW 1997 101, 103.

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Übereinkommen über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigungen vom 13.11.1979 (G vom 29.3.1982, BGBl. II S. 373; Bek. vom 25.7.1983, BGBl. II S. 548), Protokoll zu dem Übereinkommen von 1979 über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung, betreffend die Verringerung von Schwefelemissionen oder ihres grenzüberschreitenden Flusses um mindestens 30 vom Hundert, vom 8.7.1985 (G vom 19.12.1986, BGBl. II S. 1116; Bek. vom 14.10.1987, BGBl. II S. 711; Protokoll zu dem Übereinkommen von 1979 über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung, betreffend die Bekämpfung von Emissionen von Stickstoffoxyden oder ihres grenzüberschreitenden Flusses, vom 31.10.1988 (G vom 24.9.1990, BGBl. II S. 1278; Bek. vom 14.3.1991, BGBl. II S. 623); Wiener Übereinkommen zum Schutz der Ozonschicht vom 22.3.1985 (G vom 26.9.1988, BGBl. II S. 901; Bek. vom 25.1.1989, BGBl. II S. 160); Montrealer Protokoll über Stoffe, die zu einem Abbau der Ozonschicht führen, vom 16.9.1987 (G vom 9.11.1988, BGBl. II S. 1014; Bek. vom 21.6.1989, BGBl. II S. 622) mit Änderungen und Anpassungen;68 Übereinkommen über die frühzeitige Benachrichtigung bei nuklearen Unfällen vom 26.9.1986 (G vom 16.5.1989, BGBl. II S. 434; Bek. vom 4.8.1993, BGBl. II S. 1845); Übereinkommen über Hilfeleistung bei nuklearen Unfällen oder radiologischen Notfällen vom 26.9.1986 (G vom 16.5.1989, BGBl. II S. 434, 441; Bek. vom 4.8.1993, BGBl. II S. 1830); Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen vom 9.5.1992 (G vom 13.9.1993, BGBl. II S. 1783; Bek. vom 29.3.1995, BGBl. II S. 316); (Kyoto)Protokoll zum VN-Rahmenabkommen über Klimaänderungen vom 11.12.1997 (G vom 27.4.2002, BGBl. II S. 966; Bek. vom 11.1.2005, BGBl. II S. 150).

e) Vorgeschobene Zollstellen. Auch auf ausländisches Territorium vorgeschobene Zollstellen und ihre Verbindungswege zum Staatsgebiet gelten als Inland (RGSt 57 61),69 und zwar ohne Beschränkung auf die Geschäftsräume der Zollstelle (RGSt 66 194, 195f). Dieser Rechtsauffassung des RG ist der BGH gefolgt.70 Dieser Auffassung ist zuzustimmen.71 Das Ergebnis lässt sich allerdings nicht mit 59 dem allgemeinen strafrechtlichen Inlandsbegriff (Rdn. 9 ff; 24 ff) rechtfertigen. Denn danach vermag allein die Ausübung einzelner Hoheitsbefugnisse außerhalb des eigenen Staatsgebiets die Inlandseigenschaft eines fremden oder gebietshoheitsfreien Raumes nicht zu begründen. Das Ergebnis der Rechtsprechung ist, soweit es vorgeschobene Zollstellen und die Verbindungswege der Reisezüge betrifft, aber gleichwohl richtig, weil auf der Grundlage völkerrechtlicher Vereinbarungen durch innerstaatliches Recht (die Zustimmungsgesetze und Ausführungsvorschriften) fingiert wird, dass die Gebietsteile des Nachbarstaats im zoll- und einfuhrrechtlichen Zusammenhang deutsches Hoheitsgebiet (Zollgebiet) und damit (auch strafrechtlich) Inland sind (RGSt 18 241, 243). Auf diese Weise wird der Einzelfall rechtlich so beurteilt, als ob der Tatort im Inland läge. Demgemäß hat das BayObLG (wistra 2001 231) zu Recht entschieden, dass das deutsche Strafrecht nach § 3 auch für Verstöße gegen das AWG gilt, die auf einer vorgeschobenen Grenzdienststelle in Tschechien begangen wurden; zu Straftaten auf einer vorgeschobenen deutschen Grenzabfertigungsstelle in der Schweiz vgl. OLG Karlsruhe NStZ-RR 2006 87 (Leitsatz) = OLGSt StGB § 3 Nr. 1. 60 Gegen eine solche gesetzliche Regelung sind, auch unter strafrechtlichen Gesichtspunkten, durchgreifende Bedenken nicht zu erheben. Dem Gesetzgeber steht es – in58

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68 Fundstellennachweise BGBl. 2005 II Fundstellennachweis B S. 699 ff. 69 Vgl. auch OLG Oldenburg MDR 1974 329. 70 BGHSt 31 215; BGH, Beschl. vom 9.7.1991 – 1 StR 368/91; BGHR BtMG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Einfuhr 25 und 30; ferner auch BayObLG wistra 2001 231; ZfZ 1981 339, 340 f; einschränkend OLG Köln ZfZ 1981 343 f. 71 So auch Ambos MK Rdn. 10; Sch/Schröder/Eser/Weißer Vorbem §§ 3–9 Rdn. 62.

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nerhalb gewisser völkerrechtlicher Schranken – grundsätzlich frei, wie weit er den Geltungsbereich des eigenen Strafrechts ausdehnt (Vor § 3 Rdn. 11). Ein völkerrechtlich unzulässiger Eingriff in die Gebietshoheit eines anderen Staates besteht dann nicht, wenn die Tat im Rahmen eines zwischenstaatlichen Abkommens wie eine Inlandstat zu behandeln ist. Ob er eine einschlägige Regelung im allgemeinen Rahmen der §§ 3 ff trifft oder für einen bestimmten Sachbereich durch Sondervorschriften, ist eine Frage seines Ermessens. Es versteht sich von selbst, dass die Regelung der §§ 3 bis 7 nicht etwa als abschließend im Sinne einer Selbstbindung des Gesetzgebers zu verstehen ist, sondern dass dieser die Freiheit hat, vom Gebietsgrundsatz (§ 3) über die §§ 4 bis 7 hinaus für weitere Fallgestaltungen (insbesondere aus dem Bereich des Nebenstrafrechts) abzuweichen (vgl. auch Vor § 3 Rdn. 476 ff). Im Hinblick auf die für die rechtliche Beurteilung maßgebende Fiktion, der Tatort liege bei den vorgeschobenen Zollstellen und den Verbindungswegen der Reisezüge im Inland (Rdn. 58), ist eine Einfuhrtat bereits vollendet, wenn die Ware nach Überschreiten der Zollgrenze entdeckt und beschlagnahmt wird, bevor sie über die deutsche Hoheitsgrenze tatsächlich ins Inland gelangt (BGHSt 31 215, 218 f). Unzutreffend ist demnach die Auffassung des OLG Köln (NStZ 1982 122), Vollendung sei nur für die mit der unerlaubten Einfuhr von Waffen verbundene Zoll- und Steuerhinterziehung anzunehmen, nicht aber für das Einfuhrdelikt selbst. Die praktische Bedeutung dieser Einordnung der in das Ausland vorgeschobenen Zollstellen ist angesichts der inzwischen vollständig verwirklichten Zollunion zwischen den Mitgliedstaaten der EU gering.72 Seit dem Beitritt Polens und Tschechiens zur EU mit Wirkung zum 1. Mai 2004 gehören mit Ausnahme der Schweiz alle an Deutschland angrenzenden Staaten der Zollunion an. Die Problematik ist damit nur noch im Verhältnis zur Schweiz sowie für Alttaten von Bedeutung. Im Rahmen der Zollunion werden zwischen den EU-Mitgliedstaaten keine Zölle mehr erhoben. Das Zollgebiet der Gemeinschaft wird von der gemeinschaftlichen Zollgrenze umschlossen; diese entspricht im Wesentlichen der Grenze der Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu Drittstaaten.73 Zentrale Rechtsnorm des europäischen Zollrechts ist der Zollkodex der Union (UZK) vom 9. Oktober 2013 (ABlEU 2013 L 269, S. 1 ff). Damit beruht das Zollrecht in der Europäischen Union auf einer einheitlichen Grundlage. Das deutsche Zollgesetz (ZollG) ist mit Inkrafttreten der Vorgängerregelung zur o.g. Verordnung, der Verordnung des Rates zur Festlegung des Zollkodexes der Gemeinschaften vom 12.10.1992 (ABl. L 302, S. 1 ff), zum 1. Januar 1994 aufgehoben worden. Seitdem gilt das deutsche Zollverwaltungsgesetz (BGBl. 1992 I 2125), das bezogen auf die europarechtlichen Regelungen lediglich ergänzende und lückenfüllende Funktion hat. Zur Beschleunigung und Vereinfachung des Abfertigungsverfahrens hat die Bundeszollverwaltung die Zollabfertigung an vielen Grenzübergängen mit der Zollabfertigung der Schweiz zusammengelegt. Die gemeinsame Grenzabfertigung findet auf der Grundlage völkerrechtlicher Verträge teils auf deutschem Boden und teils auf dem Gebiet der Schweiz statt. Grundlage ist das Abkommen vom 1.6.1961 (G vom 1.8.1962, BGBl. II S. 877; Bek. vom 15.5.1964, BGBl. II S. 675) mit Änderung durch das Abkommen vom 12.4.1989 (G vom 21.12.1990, BGBl. 1991 II S. 291; Bek. vom 7.5.1991, BGBl. II S. 729); zu entsprechenden Abkommen mit den übrigen Anrainerstaaten, die durch die Herstellung der Zollunion (Rdn. 63) überholt sind, vgl. Gribbohm LK11 Vor § 3 Rdn. 282.

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Vgl. aber Schwarz/Wockenfoth2/Friedrich Zollrecht Bd. 1/1 Art. 2 ZK Rdn. 17. Schwarz/Wockenfoth2/Friedrich Zollrecht Bd. 1/1 Art. 3 ZK Rdn. 3.

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Eine vorgeschobene Zollstelle ist hinsichtlich des grenzüberschreitenden Verkehrs so anzusehen, als ob sie im eigenen Grenzbezirk läge; eingeführte Waren sind ihr nach Beendigung der Ausgangsabfertigung des Gebietsstaats (d.h. des Deutschland benachbarten Staates, auf dessen Hoheitsgebiet sich die Zollstelle befindet) zu gestellen. Die Zollstelle hat bei der Eingangs- und Ausgangsabfertigung nicht nur die Befugnisse aus dem Zollrecht, sondern zum Beispiel auch aus dem Außenwirtschaftsrecht.74

f) Freizonen, insbesondere Freihäfen. Der Zollkodex der Union (Rdn. 63) kennt die noch im deutschen Zollgesetz (Rdn. 63) vorgesehenen Begriffe „Zollanschluss“, „Zollausschluss“ und „Zollfreigebiet“ nicht mehr. Es gibt allerdings „Freizonen“ (Art. 243 UZK).75 Hauptform der Freizonen sind die Freihäfen.76 Im Inland gelegene Freihäfen wie diejenigen in Bremerhaven und Cuxhafen77 sind 67 Freizonen (Art. 243 ZK; § 20 Abs. 1 ZollVG), d.h. Inland als Teile des deutschen Hoheitsgebiets. Sie gehören zum Zollgebiet der Union, sind jedoch insoweit Zollfreigebiete, als die in ihnen befindlichen Waren noch nicht als in das Freizonenverfahren übergeführt gelten (Art. 246 Abs. 1 Satz 2, 247 Abs. 1 Satz 2 UZK).78 In Zollfreigebieten ist das Zollrecht unwirksam, soweit es daran anknüpft, dass Waren Zollgut sind. Die Strafbarkeit einer unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln wird aber nicht dadurch berührt, dass das Rauschgift nach der Einfahrt des Schiffes in die deutschen Hoheitsgewässer in einen Freihafen gelangt, auch wenn es an Bord bleiben soll (vgl. § 2 Abs. 2 BtMG; BGHSt 31 252, 253 f).

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g) Dienst- und Wohngebäude von Diplomaten und anderen Exterritorialen in Deutschland. Solche Räumlichkeiten Exterritorialer (Vor § 3 Rdn. 387 ff), insbesondere des diplomatischen Dienstes und des konsularischen Bereichs, sind nicht etwa Ausland, sondern gehören zum Inland. Auch für darin begangene Taten gilt gem. § 3 das deutsche Strafrecht (RGSt 69 54, 55 f). Zu beachten ist allerdings, dass unter Umständen der Täter zu den nach §§ 18, 19 und 20 GVG von der inländischen Gerichtsbarkeit befreiten Personen zu zählen ist (Vor § 3 Rdn. 408 ff).79 Umgekehrt liegen die deutschen Auslandsvertretungen nicht im Inland (OLG Köln 69 NStZ 2000 39, 40). Eine dort begangene Straftat ist Auslandstat; die Geltung des deutschen Strafrechts kann sich aber aus anderen Vorschriften ergeben, etwa aus § 5 Nrn. 12, 14, 15 oder § 7 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1.

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h) Besonderheiten bei Taten an Bord von Schiffen und Flugzeugen. Schiffe oder Flugzeuge, die in Deutschland registriert sind und damit die deutsche Staatszugehörigkeit besitzen (näher § 4 Rdn. 1, 38, 53), gehören nicht zum Inland im Sinne des § 3. Schiffe sind ebenso wenig wie Flugzeuge gleichsam losgelöste (schwimmende bzw. fliegende) Gebietsteile des Flaggenstaats, die ausschließlich dessen souveräner Herrschaftsgewalt unterstünden.80 Aus § 4 ergibt sich indes, dass Taten, die auf einem deutschen Schiff oder in einem deutschen Luftfahrzeug begangen werden, so behandelt

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Bail/Schädel/Hutter Kommentar Zollrecht B/2 Rdn. 16. Witte/Wolffgang/Henke/Rinnert/Hebenstreit Lehrbuch des europäischen Zollrechts Rdn. 612 ff. Schwarz/Wockenfoth2/Glashoff Zollrecht Bd. 1/2 Vor Art. 166 ZK Rdn. 1 ff. Witte/Wolffgang Lehrbuch des europäischen Zollrechts Rdn. 320. Schwarz/Wockenfoth2/Glashoff Zollrecht Bd. 1/2 Vor Art. 166 Rdn. 3. Vgl. BGHSt 37 30, 32; 36 396, 398 ff. Oehler Rdn. 426; Sch/Schröder/Eser/Weißer Vorbem §§ 3–9 Rdn. 61:Zieher S. 84.

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werden, als seien sie im Inland begangen (OLG Schleswig wistra 1998 30, 31 m. Anm. Döllel); für die Einzelheiten siehe § 4 Rdn. 12 ff. Die überkommene Theorie81 vom „schwimmenden Territorium“ („territoire flottant“) des Flaggenstaates geht mit § 4 Abs. 2 E 1925 („Deutsche Schiffe und Luftfahrzeuge gelten als Inland, gleichviel wo sie sich befinden“) auf die Rechtsprechung des RG82 zurück; sie ist zwar anschaulich, trifft aber nicht das Richtige. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass Organe des Küstenstaats, soweit Völkerrecht nicht entgegensteht, ein fremdes Schiff im Küstenmeer und in den Binnengewässern des Küstenstaats aus originärem Recht betreten dürfen, während dies beim Territorium des Flaggenstaats nicht der Fall ist; der Flaggenstaat hat nur das Recht, seine Gesetze auf seinem Schiff wie auf seinem Territorium durchzusetzen, dies auch auf hoher See (Art. 92 Abs. 1 SeeRÜbk.), näher Oehler Rdn. 426 f. Aber auch (deutsche oder ausländische) Schiffe oder Flugzeuge, die sich in Deutschland, etwa in einem Hafen oder auf einem Flughafen, befinden, sind weder Inland noch „als Inland zu betrachten“.83 Ebenso wie ein in Hamburg geparktes Auto nicht (als) Inland (zu betrachten) ist, sondern sich im Inland befindet, ist auch ein Schiff oder Flugzeug niemals als Inland zu betrachten, sondern kann sich allenfalls im Inland (oder im Ausland) befinden. Danach gilt mit Blick auf die Geltung des deutschen Strafrechts für Taten, die an Bord eines Schiffes oder Flugzeugs begangen werden, das Folgende: Befindet sich das Schiff oder Flugzeug zum Zeitpunkt der Tat in deutschem Hoheitsgebiet, also in einem deutschen Gewässer einschließlich des deutschen Küstenmeers (Rdn. 41 ff) oder im deutschen Luftraum (Rdn. 51 ff), handelt es sich um eine Inlandstat. Deutsches Strafrecht gilt dann nach § 3. Für deutsche Schiffe und deutsche Luftfahrzeuge, also solche, die berechtigt sind, die Bundesflagge oder das Staatszugehörigkeitszeichen der Bundesrepublik zu führen, ergibt sich die Geltung des deutschen Strafrechts vorrangig (§ 4 Rdn. 13) aus § 4, ohne dass es materiellrechtlich (siehe aber Rdn. 77) darauf ankommt, ob sie sich zur Tatzeit in deutschem oder ausländischem Hoheitsgebiet befinden. Für Taten, die an Bord eines ausländischen Schiffs oder eines ausländischen Flugzeugs außerhalb des deutschen Hoheitsbereichs begangen werden, kann sich die Geltung des deutschen Strafrechts schließlich aus den §§ 5 bis 7 ergeben. Bei Taten auf ausländischen Schiffen ist ferner Folgendes zu beachten: Halten sich ausländische Kriegs- oder Staatsschiffe (zum Begriff § 4 Rdn. 22) befugterweise in deutschen Hoheitsgewässern (dem Küstenmeer, den Binnen- oder Eigengewässern, Rdn. 30 ff, 41 ff) auf, so übt die Bundesrepublik eigene Gerichtsbarkeit regelmäßig nicht aus (§ 153c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO), soweit sie daran nicht ohnehin infolge Exterritorialität oder Immunität (§ 4 Rdn. 20 ff) gehindert wäre.84 Entsprechendes gilt für ausländische Staatsluftfahrzeuge, also solche, die „im Militär-, Zoll- und Polizeidienst verwendet werden“ (Art. 3 des Chicagoer Abkommens; § 4 Rdn. 27 f). Sie genießen, wenn sie mit Genehmigung in fremdes Staatsgebiet einfliegen und dort landen, völkerrechtliche Immunität.85

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81 Vgl. Frank RStGB18 (1931) § 8 Anm. I; v. Liszt/Schmidt AT § 22 II 4 b; vgl. auch Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 5 Rdn. 51; Jakobs 5. Abschn. Rdn. 14 (mit Blick auf Staatsschiffe); Maurach/Zipf § 11 Rdn. 15. 82 RGSt 50 218, 220; 23 266, 267. 83 So aber Oehler Rdn. 295 f, 340 f; Sch/Schröder/Eser/Weißer Vorbem §§ 3–9 Rdn. 61. 84 Vgl. Oehler Rdn. 454, 472 f, 476 f. 85 Strupp/Schlochauer/Meyer III S. 331 f; Oehler Rdn. 485 ff.

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Für Inlandstaten auf anderen (zivilen) ausländischen Schiffen und Flugzeugen gilt gem. § 153c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO ebenfalls das Opportunitätsprinzip; hierbei ist zu beachten, dass das SeeRÜbk. (Vor § 3 Rdn. 94) und das KüMÜbk. (Vor § 3 Rdn. 95) die Strafgerichtsbarkeit des Küstenstaats für Taten einschränken, die während der friedlichen Durchfahrt durch das Küstenmeer an Bord begangen werden (Art. 27 SeeRÜbk., Art. 19 KüMÜbk.; Rdn. 48 f). Die Einschränkungen gelten unter bestimmten Voraussetzungen jedoch dann nicht, wenn es zum Beispiel um unerlaubten Handel mit Betäubungsmitteln geht (Art. 27 Abs. 1 Buchst. d SeeRÜbk., Art. 19 Abs. 1 Buchst. d KüMÜbk.), oder wenn das fremde Schiff nach Verlassen der inneren Gewässer (Rdn. 32) durch das deutsche Küstenmeer (Rdn. 41) der hohen See (§ 5 Rdn. 47) oder fremden Hoheitsgewässern zustrebt (Art. 27 Abs. 2 SeeRÜbk., Art. 19 Abs. 2 KüMÜbk.). Wurde eine strafbare Handlung vor der Einfahrt des fremden Schiffes in das deutsche Küstenmeer begangen, so sind Strafverfolgungsmaßnahmen während der Durchfahrt schlechthin unzulässig, wenn das Schiff aus einem fremden Hafen kommt und das Küstenmeer nur durchfährt, ohne in deutsche innere Gewässer einzulaufen (Art. 27 Abs. 5 SeeRÜbk., Art. 19 Abs. 5 KüMÜbk.). III. Prozessuales

Siehe allgemein zu den prozessualen Wirkungen der Geltung des deutschen Strafrechts Vor § 3 Rdn. 10. Anders als für die in §§ 4 bis 7 geregelten Auslandstaten (§ 153c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 erste Alternative StPO) gilt für Inlandstaten grundsätzlich das Legalitätsprinzip.86 Für Straftaten, die ein Ausländer auf einem ausländischen Schiff oder Luftfahr79 zeug im Inland (etwa in einem inländischen Hafen oder auf einem inländischen Flughafen) begangen hat, eröffnet § 153c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO allerdings die Möglichkeit, von der Verfolgung abzusehen. Dies wird vor allem dann in Betracht kommen, wenn sich die Tat nur gegen ein ausländisches Rechtsgut richtet oder mit einer Verfolgung durch den Heimatstaat des Täters zu rechnen ist;87 siehe hierzu auch Vor § 3 Rdn. 372. Entsprechendes gilt für die Teilnahme eines Anstifters oder Gehilfen im Inland an einer ausländischen Haupttat (§ 153c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 zweite Alternative StPO).

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§4 Geltung für Taten auf deutschen Schiffen und Luftfahrzeugen Erster Abschnitt. Das Strafgesetz Geltung für Taten auf deutschen Schiffen und Luftfahrzeugen Werle/Jeßberger § 4 https://doi.org/10.1515/9783110300413-007

Das deutsche Strafrecht gilt, unabhängig vom Recht des Tatorts, für Taten, die auf einem Schiff oder in einem Luftfahrzeug begangen werden, das berechtigt ist, die Bundesflagge oder das Staatszugehörigkeitszeichen der Bundesrepublik Deutschland zu führen. Schrifttum Bohle Piraterie und Strafrecht (2019); Jescheck Die an Bord von Luftfahrzeugen begangenen Straftaten und ihre Folgen, ZStW 1957 Sonderheft 195; Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts (2011); König Piraterie vor der Küste Somalias und Strafverfolgung, NordÖR 2011 153; Lenzen

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86 Vertiefend zur Problematik dieser Regelung im Blick auf „Inlandstaten mit Auslandsberührung“ Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts, S. 226 ff. 87 Beulke LR § 153c Rdn. 12; Weßlau SK-StPO § 153c Rdn. 17.

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Das Mitführen von Waffen durch ausländische Sicherheitsbeamte in deutschen Luftfahrzeugen, JR 1983 181; Mankiewicz Die Verfolgung der in einem Luftfahrzeug begangenen Straftat, GA 1961 193; Mettgenberg Die Geltung des deutschen Strafrechts im Seebereich und im deutschen Luftraum, DJ 1940 641; ders. Internationales Strafrecht auf See, ZStW 52 (1932) 802; A. Mayer Strafbare Handlungen an Bord von Luftfahrzeugen, Zeitschrift für Luftrecht 1958 87; Rudolf Anwendungsbereich und Auslegung von § 5 StGB, NJW 1954 219; Schnorr von Carolsfeld Straftaten in Flugzeugen (1965); v. Weber Internationales Luftstrafrecht, Festschrift Rittler (1957) 111; Wille Die Verfolgung strafbarer Handlungen an Bord von Schiffen und Luftfahrzeugen (1974); Zlataric Erwägungen zum Abkommen über strafbare Handlungen an Bord von Schiffen und Luftfahrzeugen, Festschrift Grützner (1970) 160. Vgl. ferner vor den Vorbemerkungen zu den §§ 3 bis 7.

Entstehungsgeschichte Die Vorschrift wurde als § 5 durch die GeltungsbereichsVO vom 6.5.1940 (RGBl. I S. 754, Vor § 3 Entstehungsgeschichte) in das StGB eingefügt. Sie galt unverändert bis zum 31.12.1974. Seither ist § 4 in Kraft; er geht auf § 4 E 1962 zurück. Seine ursprüngliche, dem 2. StrRG vom 4.7.1969 (BGBl. I S. 717) entstammende Fassung ist durch das EGStGB vom 2.3.1974 (BGBl. I S. 469) sowie durch Art. 2 des 11. LuftVÄndG vom 25.8.1998 (BGBl. I S. 2432) geändert worden. § 5 in der Fassung von 1940 (Vor § 3 Entstehungsgeschichte) schrieb die Geltung des deutschen Strafrechts, unabhängig vom Recht des Tatorts, vor für Taten, „die auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug begangen werden“. Die Änderung von 1969 brachte zwischen den Worten „Luftfahrzeug“ und „begangen werden“ den Einschub „im Ausland“. Die Fassung von 1974 strich den Einschub sowie das Wort „deutschen“ vor „Schiff oder Luftfahrzeug“ und fügte statt seiner im Anschluss an „begangen werden“ den Relativsatz ein „das berechtigt ist, die Bundesflagge oder das Staatszugehörigkeitszeichen der Bundesrepublik Deutschland zu führen“. Die Novelle von 1998 ersetzte die Worte „oder Luftfahrzeug“ durch „oder in einem Luftfahrzeug“. Gesetzesmaterialien Siehe bei § 5; Entwurf eines Elften Gesetzes zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes, BTDrucks. 13/9513 S. 16, 41; Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr (15. Ausschuss), BTDrucks. 13/10530 S. 34; Gesetzesbeschluss des BT, BRDrucks. 415/98.

I.

II.

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Übersicht Bedeutung | 1 1. Flaggenprinzip | 6 2. Taten auf deutschen Schiffen und in deutschen Luftfahrzeugen im Inland | 12 3. Taten auf ausländischen Schiffen und in ausländischen Luftfahrzeugen | 15 4. Taten in Weltraumfahrzeugen und -stationen | 16 5. Immunität und Befreiung von der Gerichtsbarkeit | 20 Voraussetzungen 1. Begehungsort | 29 a) Auf einem deutschen Schiff

b)

aa) Der Begriff „Schiff“ | 30 bb) Seeschiffe und Binnenschiffe | 33 cc) Berechtigung, die Bundesflagge zu führen | 38 (1) Bei Seeschiffen | 39 (2) Bei Binnenschiffen | 44 dd) Wracks und Rettungsboote | 47 In einem deutschen Luftfahrzeug aa) Der Begriff „Luftfahrzeug“ | 50

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§ 4 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

2.

bb) Berechtigung, das Staatszugehörigkeitszeichen der Bundesrepublik zu führen | 53 Tatmodalitäten | 57 a) Bewegungs- und Ruhezustand des Fahrzeugs | 60

b)

III.

Aufenthalt des Täters an Bord und außerhalb des Fahrzeugs | 66 Prozessuales 1. Einschränkung des Verfolgungszwanges | 70 2. Opportunitätsprinzip und völkerrechtliche Verfolgungspflicht | 73

I. Bedeutung 1

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Die Vorschrift erstreckt den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts (Vor § 3 Rdn. 347 f) auf Taten, die auf Schiffen oder in Luftfahrzeugen mit deutscher Staatszugehörigkeit1 begangen werden. Die Geltung des deutschen Strafrechts ist dabei nicht auf einzelne Tatbestände beschränkt. Es ist unerheblich, an welchem Ort sich das Schiff oder Luftfahrzeug zur Tatzeit befindet; auch die Staatsangehörigkeit des Täters oder des Opfers spielt keine Rolle. Deutsches Strafrecht erfasst daher ohne jede Einschränkung auch Taten zwischen Ausländern an Bord eines deutschen Schiffes oder Flugzeuges. Deutsches Strafrecht gilt dabei unabhängig davon, ob die Tat nach dem Recht des Tatortes mit Strafe bedroht ist oder nicht. Tatort in diesem Sinne ist nicht etwa das Schiff oder Luftfahrzeug, sondern – wie bei den §§ 5 bis 7 – der Ort, an dem sich das Fahrzeug zum Tatzeitpunkt befindet (siehe auch § 3 Rdn. 72). Die Geltung des deutschen Strafrechts hängt also nicht davon ab, ob der Tatort keiner (hohe See, internationaler Luftraum, § 5 Rdn. 48), ausländischer oder deutscher Strafgewalt unterliegt und wie das dort geltende Recht die Tat bewertet. In der Sache bedeutet dies, dass für die Geltung des deutschen Strafrechts die Strafbarkeit nach Tatortrecht nicht vorausgesetzt wird.2 Die Bedeutung3 von § 4 erschließt sich erst vor seinem völkerrechtlichen Hintergrund. Hierzu ist Folgendes zu bemerken: Die hohe See (§ 5 Rdn. 47 ff), also alle Meeresgebiete, die nicht zum Küstenmeer (§ 3 Rdn. 41 ff), zur ausschließlichen Wirtschaftszone (§ 5 Rdn. 54 ff) oder zu den Eigengewässern (§ 3 Rdn. 32) eines Staates gehören (Art. 86 Satz 1 SeeRÜbk.; Vor § 3 Rdn. 94), steht grundsätzlich allen Staaten in gleicher Weise zur friedlichen Nutzung offen (Art. 87 Abs. 1 Satz 1, Art. 88 SeeRÜbk.). Sie unterliegt nicht der Hoheitsgewalt eines Staates; es gelten die Freiheiten der Meere (Art. 87 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2, Art. 89 SeeRÜbk.). Ein Schiff auf hoher See steht nach Völkerrecht grundsätzlich unter der Gerichtsbarkeit des Flaggenstaates (Art. 6 Abs. 1 HoSeeÜbk., Vor § 3 Rdn. 243; Art. 92 Abs. 1 SeeRÜbk.). Das bedeutet, dass jede Straftat auf einem Schiff auf hoher See völkerrechtlich so beurteilt wird, als ob sie auf dem Territorium des Flaggenstaates geschehen wäre. Entsprechendes gilt für Luftfahrzeuge, insbesondere für Flugzeuge, im internationalen Luftraum. Die Staaten nehmen dieses Recht, auf Grund ausdrücklicher Vorschrift oder nach Gewohnheitsrecht, auch in Anspruch (Oehler Rdn. 423). Auf die innerstaatliche Geltung

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1 Nach Art. 91 Abs. 1 Satz 2 SeeRÜbk. (Vor § 3 Rdn. 94) besitzen Schiffe die Staatszugehörigkeit des Staates, dessen Flagge zu führen sie berechtigt sind. 2 Im Einzelnen Jescheck Sonderheft ZStW 1957 195, 202; Wille S. 34 ff. 3 Zuletzt hat das LG Hamburg die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts in einem Prozess wegen des Angriffes auf den Seeverkehr (§ 316c) auch mit dem Flaggenprinzip begründet, siehe LG Hamburg Urt. v. 19.10.2012 – 603 KLs 17/10; siehe zu dem vorangegangenen Verfahren sowie zu Vorschlägen zur Sicherstellung effektiver Strafverfolgung in Fällen von Piraterie König NordÖR 2011 153, ferner Bohle passim; Salomon DRiZ 2012 307.

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des deutschen Strafanwendungsrechts hat dies – mit Ausnahme des § 5 Nr. 11 (dort Rdn. 147 ff) – im Allgemeinen keinen Einfluss (vgl. § 7 Rdn. 51 ff). 1. Flaggenprinzip. § 4 verwirklicht das Flaggenprinzip (Vor § 3 Rdn. 243) und ist damit völkerrechtlich legitimiert.4 Durch die Anknüpfung der Strafrechtsgeltung an die Begehung der Tat an einem bestimmten Ort (und nicht an die Begehung durch eine bestimmte Person oder gegen ein bestimmtes Interesse) steht das Flaggenprinzip dem Territorialitätsprinzip nahe (Vor § 3 Rdn. 241).5 Die Vorschrift stellt sicher, dass jeder Passagier, der sich an Bord eines in Deutschland registrierten Schiffes oder Luftfahrzeuges begibt, ähnlich wie jede nach Deutschland einreisende Person, den Schutz des deutschen Strafrechts genießt (BRDrucks. 200/62 – E 1962 – Begr. S. 109; Ambos MK Rdn. 2). Hieraus lässt sich aber nicht ableiten, dass § 4 eine Ausprägung des passiven Personalitätsprinzips (Vor § 3 Rdn. 247) sei; die Staatsangehörigkeit des Opfers der Tat spielt gerade keine Rolle. Die Regelung des Flaggenprinzips, wie sie in § 4 zum Ausdruck kommt, ist praktikabel. Sie vermeidet Streitfragen und Strafbarkeitslücken. Der Tatort (Rdn. 3) lässt sich nämlich bei Straftaten auf Schiffen und insbesondere in Luftfahrzeugen, die sich in großer Höhe und mit großer Geschwindigkeit bewegen, oft nicht präzise feststellen. Demgegenüber steht die Staatszugehörigkeit eines Schiffes oder Flugzeuges im Allgemeinen fest. Die Regelung des § 4 ermöglicht es der Bundesrepublik zugleich, ihren internationalen Verpflichtungen zu genügen. Zahlreiche völkerrechtliche Vereinbarungen, an denen die Bundesrepublik beteiligt ist, knüpfen bei der weltweiten Bekämpfung von Piraterie und Terrorismus an den „Tatort Schiff oder Flugzeug“ an, um eine Zuständigkeit des Flaggen- oder Registerstaats für die Strafverfolgung zu begründen, selbst wenn die Tat im Ausland begangen wird; so bei Schiffen das SeeschifffahrtÜbk. (Vor § 3 Rdn. 180); bei Luftfahrzeugen das Tokioter Abkommen6 (Vor § 3 Rdn. 107), das Haager Übereinkommen (Vor § 3 Rdn. 52, 55 f), das Montrealer Übereinkommen (Vor § 3 Rdn. 107) und das EuTerrÜbk. (Vor § 3 Rdn. 133); schließlich bei Schiffen und Luftfahrzeugen die Diplomatenschutzkonvention (Vor § 3 Rdn. 127) und die Geiselnahmekonvention (Vor § 3 Rdn. 153); siehe ferner Vor § 3 Rdn. 35. Die Geltung des deutschen Strafrechts und die Zuständigkeit deutscher Gerichte gemäß § 4 können darüber hinaus bei der Verfolgung weiterer Straftaten, die Gegenstand internationaler Vereinbarungen sind, Bedeutung erlangen, so bei Menschenhandel und bei der Betäubungsmittelkriminalität (Vor § 3 Rdn. 52 ff).

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2. Taten auf deutschen Schiffen und in deutschen Luftfahrzeugen im Inland. 12 Taten auf deutschen Schiffen und Luftfahrzeugen werden, wenn sich das Fahrzeug zur Tatzeit im Ausland und nicht im Inland (§ 3 Rdn. 24 ff) befindet, nicht von § 3 erfasst (§ 3 Rdn. 1). Es wäre verfehlt, § 4 als Erweiterung der völkerrechtlichen Gebietshoheit7 des Staates oder als Fiktion einer solchen Erweiterung zu begreifen (§ 3 Rdn. 70 ff; siehe auch Jeßberger, Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts, S. 236 f). Auch

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4 Eingehend Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts, S. 234 ff; siehe auch Ambos MK Rdn. 1; Kunig/Uerpmann Jura 1994 193 f; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 1. 5 Böse NK Rdn. 2; v. Weber S. 114; Wille S. 27. 6 BTDrucks. V/3266, Bericht hierzu DRiZ 1969 21; Oehler Rdn. 491 ff; Schmidt-Räntsch Zeitschrift für Luftrecht und Weltraumfragen 13 (1964) 75 ff; Wille S. 45, 155 ff. 7 So noch RGSt 50 218, 220; 23 266, 267; offen gelassen in BGHSt 53 265.

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erweitert § 4 nicht etwa den Inlandsbegriff,8 sondern ergänzt und überlagert § 3, indem Taten auf deutschen Schiffen und in deutschen Luftfahrzeugen umfassend in den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts einbezogen werden, also unabhängig davon, ob das Schiff oder Luftfahrzeug sich im Inland oder im Ausland befindet. Die entscheidende Gemeinsamkeit mit § 3 liegt dabei darin, dass die effektive Hoheitsgewalt an Bord des Schiffes oder Flugzeugs durch den Flaggen- bzw. Registerstaat ausgeübt wird. 13 Befindet sich das Schiff oder Luftfahrzeug zur Zeit der Tat im Inland (Küstenmeer, Eigen- oder Binnengewässer, Luftraum über dem Staatsgebiet), ergibt sich entgegen der herrschenden Ansicht9 die Geltung des deutschen Strafrechts nicht aus § 3, sondern aus § 4, der § 3 in diesem Fall als lex specialis vorgeht. Diese Lösung hat den Vorteil, dass es der Prüfung nicht bedarf, ob das Schiff oder Luftfahrzeug sich zur Zeit der Tat noch oder schon im Inland bewegte. 14 Gestützt wird diese Auffassung durch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift. So wurde der im G 1969 (Entstehungsgeschichte) vorgesehene Einschub „im Ausland“, der klar gestellt hätte, dass Inlandstaten von § 4 nicht erfasst werden, im G 1974 (Entstehungsgeschichte) wieder gestrichen. Ein Hinweis darauf, dass der Gesetzgeber der Strafgewalt auf Grundlage des Flaggenprinzips den Vorrang einräumt, ergibt sich ferner aus § 153c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO, wonach von der Ausübung deutscher Strafgewalt auf Grundlage des Territorialitätsprinzips (§ 3) abgesehen werden kann, wenn ein ausländischer Täter die Tat zwar im Inland, aber auf einem ausländischen Schiff begangen hat, einem solchen also, das nach dem Flaggenprinzip der Strafgewalt eines ausländischen Staates unterliegt. Schließlich verfolgt § 4 gerade den Zweck, die mitunter schwierige Grenzziehung, ob ein Schiff oder Luftfahrzeug sich nun gerade im In- oder im Ausland befindet, zu vermeiden. Auch dies spricht für den Vorrang des § 4 gegenüber § 3. 15

3. Taten auf ausländischen Schiffen und in ausländischen Luftfahrzeugen. Für Taten auf ausländischen Schiffen und in ausländischen Luftfahrzeugen im Ausland gilt das deutsche Strafrecht (nur) im Rahmen der §§ 5 bis 7; zu beachten ist insbesondere § 6 Nr. 3 (Angriff auf den Luftverkehr, dazu § 6 Rdn. 51 ff). Befindet sich das ausländische Schiff oder Luftfahrzeug zur Tatzeit dagegen im Inland, gilt deutsches Strafrecht grundsätzlich gem. § 3 (Schnorr von Carolsfeld S. 13). Mit Blick auf Taten auf einem ausländischen Schiff im deutschen Küstenmeer unterliegt die deutsche Strafgewalt dabei allerdings Einschränkungen (§ 3 Rdn. 76 f). Bei Schiffen im ausländischen Hoheitsdienst sind besondere Verfahrenshindernisse zu beachten (§ 3 Rdn. 76); soweit Täter ein ausländischer Staatsangehöriger ist, greift ferner das Opportunitätsprinzip (§ 153c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO).

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4. Taten in Weltraumfahrzeugen und -stationen. Weltraumfahrzeuge können in den Weltraum hinausfliegen oder (wie Satelliten und Raumstationen) die Erde lediglich umkreisen. Sie sind nicht Inlandsteil des Staates, dem sie gehören, haben aber eine Staatsschiffen (Rdn. 21 ff) und Staatsluftfahrzeugen (Rdn. 28) vergleichbare völkerrechtliche Stellung. Entsprechend gilt deutsches Strafrecht gem. § 4 für Taten, die in einem deutschen Weltraumfahrzeug begangen werden, solange sich dieses im Luftraum befindet (näher Rdn. 51). Weltraumfahrzeuge unterliegen ausschließlich der Herrschaft des Registerstaats, der allein die Kommandogewalt, die Polizeigewalt und die Gerichtsbarkeit ausübt sowie die Verantwortung für ihre völkerrechtmäßige Führung trägt.10

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8 So aber Hoyer SK Rdn. 1 („doppelter Inlandsbegriff“); vgl. auch OLG Schleswig NStZ-RR 1998 313. 9 Ambos MK Rdn. 1; Hoyer SK Rdn. 2; Oehler Rdn. 517; aA Böse NK Rdn. 2 („nebeneinander“). 10 Oehler Rdn. 421; ders. Piratensender, S. 18 f; Strupp/Schlochauer/Wessels III S. 831, 832 f.

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Diese Auffassung steht im Einklang mit einschlägigen völkerrechtlichen Verein- 17 barungen, so mit dem Vertrag über die Grundsätze zur Regelung der Tätigkeiten von Staaten bei der Erforschung und Nutzung des Weltraums einschließlich des Mondes und anderer Himmelskörper (Weltraumvertrag) vom 27.1.1967 (G vom 2.10.1969, BGBl. II S. 1967; Bek. vom 26.2.1971, BGBl. II S. 166) und mit dem Übereinkommen zur Regelung der Tätigkeiten von Staaten auf dem Mond und anderen Himmelskörpern (Mondvertrag) vom 18.12.1979 (ILM 18 (1979) 1434). Danach behält ein Vertragsstaat, in dem ein in den Weltraum gestarteter „Gegen- 18 stand“ registriert ist, „die Hoheitsgewalt und Kontrolle über diesen Gegenstand und dessen gesamte Besatzung, während sie sich im Weltraum oder auf einem Himmelskörper befinden“ (Art. VIII Satz 1 WeltRV). Das gilt auch für Stationen, Einrichtungen, Geräte und Raumfahrzeuge auf dem Mond.11 Doch ist die Hoheitsgewalt des Entsendestaates bei diesen Objekten insofern eingeschränkt, als sie Vertretern anderer Vertragsstaaten auf der Grundlage der Gegenseitigkeit zugänglich sind (Art. XII Satz 1 WeltRV). Besondere Probleme ergeben sich bei Straftaten in gemeinsam betriebenen Welt- 19 raumstationen. Das Übereinkommen vom 29.9.1988 zwischen der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika, Regierungen von Mitgliedstaaten der Europäischen Weltraumorganisation, der Regierung Japans und der Regierung Kanadas über Zusammenarbeit bei Detailentwurf, Entwicklung, Betrieb und Nutzung der ständig bemannten zivilen Raumstation (G vom 13.7.1990, BGBl. II S. 637) sieht in Artikel 22 außer einer subsidiären Zuständigkeit der USA vor, dass die Vertragsstaaten die Strafgerichtsbarkeit über die von ihnen bereitgestellten Flugelemente und die darin oder daran tätigen Mitglieder des Personals ausüben, die ihre Staatsangehörigkeit besitzen. 5. Immunität und Befreiung von der Gerichtsbarkeit. Unter bestimmten Voraus- 20 setzungen genießen Schiffe und Luftfahrzeuge völkerrechtlich Immunität (siehe auch Vor § 3 Rdn. 387 ff). Bei Schiffen ist nach Völkerrecht zu unterscheiden zwischen Staatsschiffen und an- 21 deren Schiffen. Staatsschiffe sind Kriegsschiffe, ferner staatliche Schiffe, die öffentliche Aufgaben (im engeren Sinne) wahrnehmen, sowie Staatshandelsschiffe. Privatschiffe sind nicht dem Staat gehörende oder dienende Seefahrzeuge.12 Diese Unterscheidung ist allgemein anerkannt, so auch in dem Genfer Übereinkommen über die Hohe See (Vor § 3 Rdn. 94), das sich im Wesentlichen als Feststellung geltender Grundsätze des Völkerrechts versteht (Präambel), in dem Küstenmeerübereinkommen (Vor § 3 Rdn. 95) und in dem VN-Seerechtsübereinkommen (Vor § 3 Rdn. 94). Ein Kriegsschiff ist ein zu den Streitkräften eines Staates gehörendes Schiff, das die 22 äußeren Kennzeichen eines solchen Schiffes seiner Staatszugehörigkeit trägt. Es muss unter dem Befehl eines Offiziers stehen, der sich im Dienst des betreffenden Staates befindet und dessen Name in der entsprechenden Rangliste der Streitkräfte oder einer gleichwertigen Liste enthalten ist. Die Besatzung muss den Regeln der militärischen Disziplin unterliegen (Art. 29 SeeRÜbk., Art. 8 Abs. 2 HoSeeÜbk.).13 Außerhalb der Sondergruppe der Kriegsschiffe sind Staatsschiffe im engeren Sinne solche, die den öffentlichen Zwecken des Staates dienen. Sie üben Schutz- und Kontrollfunktionen aus (wie Grenzschutz-, Fischereischutz-, Polizei- und Zollschiffe) oder nehmen andere öffentliche Aufgaben im Seeverkehr unmittelbar für den Staat wahr (wie Kabel-, Feuer-, Ver-

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Vgl. Geiger S. 272, 325. Strupp/Schlochauer/Geck III S. 334; Seidl-Hohenveldern/Gündling S. 282. Vgl. Strupp/Schlochauer/Geck II S. 368.

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messungs- und Lotsenschiffe). Entscheidend ist die öffentliche Funktion (Strupp/ Schlochauer/Geck III S. 334). Kriegsschiffe und Staatsschiffe im engeren Sinne genießen auf hoher See (§ 5 Rdn. 47 ff) vollständige Immunität (Vor § 3 Rdn. 390 f) von der Hoheitsgewalt jedes anderen als des Flaggenstaats (Art. 95f SeeRÜbk., Art. 8f HoSeeÜbk.).14 Entsprechendes gilt bei der friedlichen Durchfahrt durch fremde Küstenmeere (Art. 32 SeeRÜbk.). Wenn ein Kriegsschiff dabei die einschlägigen Vorschriften des Küstenstaates missachtet, kann es nach erfolgloser Abmahnung lediglich aufgefordert werden, das Küstenmeer sofort zu verlassen (Art. 30 SeeRÜbk., Art. 23 KüMÜbk.). Der Küstenstaat kann insoweit also nicht strafrechtlich eingreifen (Oehler Rdn. 430). Zu den Staatsschiffen – doch nur im weiteren Sinne – gehören schließlich die Staatshandelsschiffe. Das sind Schiffe, die ebenfalls in staatlichem Eigentum oder Dienst stehen, aber kommerziellen Zwecken dienen (vgl. Art. 31, 32, 96 SeeRÜbk.; Art. 9 HoSeeÜbk.; Art. 21, 22 KüMÜbk.). Ihre völkerrechtliche Stellung ist heute – nach dem weitgehenden Zerfall des sozialistischen Systems der Ostblockstaaten – nicht mehr umstritten. Sie gleicht der Stellung privater Schiffe. Beide Gruppen – Staatshandelsschiffe und private Schiffe – unterstehen auf hoher See (§ 5 Rdn. 47 ff), von Ausnahmefällen abgesehen, völkerrechtlich ausschließlich der Hoheitsgewalt des Flaggenstaats (Art. 92 Abs. 1 SeeRÜbk., Art. 6 Abs. 1 HoSeeÜbk.). Der Flaggenstaat ist zum Beispiel zuständig für die Einleitung eines Strafverfahrens gegen den Kapitän oder das Schiffspersonal, wenn es auf hoher See zu einem Schiffszusammenstoß oder einem anderen Unfall kommt, der mit der Führung des Schiffes zusammenhängt (Art. 97 SeeRÜbk., Art. 11 HoSeeÜbk.). Zur Strafverfolgung sind bei einigen internationalen Straftaten (Vor § 3 Rdn. 52) auch fremde Staaten berufen, so bei Seeräuberei (Art. 105 SeeRÜbk., Art. 19 HoSeeÜbk.; Vor § 3 Rdn. 94 ff) oder Betreiben eines Piratensenders (Art. 109 Abs. 3 SeeRÜbk.; Vor § 3 Rdn. 120 ff). Im Hinblick auf das Recht der friedlichen Durchfahrt (Art. 17 SeeRÜbk., Art. 14 Abs. 1 KüMÜbk.) ist das Recht des Küstenstaats eingeschränkt, seine Strafgewalt an Bord eines das Küstenmeer (§ 3 Rdn. 41 ff) durchfahrenden fremden Handelsschiffes auszuüben (Art. 27 SeeRÜbk., Art. 19 KüMÜbk.); siehe auch § 3 Rdn. 77. Auch bei Flugzeugen ist zwischen Staatsflugzeugen, insbesondere Militärmaschinen, und Zivilflugzeugen zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ist vor allem im Zusammenhang mit der Strafverfolgung internationaler Straftaten (Vor § 3 Rdn. 52) von erheblicher praktischer Bedeutung. Mehrere internationale Abkommen, welche die Luftfahrt betreffen, beziehen sich nur auf den zivilen Luftverkehr, so das Tokioter Abkommen 1963 (Art. 1 Abs. 4), das Haager Übereinkommen 1970 (Art. 3 Abs. 2), das Montrealer Übereinkommen 1971 (Art. 4 Abs. 1) und das Montrealer Protokoll von 1988 (Art. 1); siehe im Einzelnen Vor § 3 Rdn. 107 ff. Nach Art. 3 des Chicagoer Abkommens (§ 3 Rdn. 51) gelten als Staatsluftfahrzeuge „Luftfahrzeuge, die im Militär-, Zoll- und Polizeidienst verwendet werden“. Sie genießen, wenn sie mit Genehmigung in fremdes Staatsgebiet einfliegen und dort landen, ähnlich wie Staatsschiffe in fremden Hoheitsgewässern (Rdn. 23) völkerrechtliche Immunität,15 sind aber strafrechtlich nicht Inlandsteil des Staates, dem sie angehören (Oehler Rdn. 497).

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14 Vgl. auch Art. 3 Abs. 1 des Internationalen Abkommens zur einheitlichen Feststellung von Regeln über die Immunitäten der Staatsschiffe vom 10.4.1926 (G vom 9.7.1927, RGBl. II S. 483; Bek. vom 11.9.1936, RGBl. II S. 303); Abdruck bei Berber I S. 1436. 15 Strupp/Schlochauer/Meyer III S. 331 f; Oehler Rdn. 485 ff.

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II. Voraussetzungen 1. Begehungsort. Die Vorschrift setzt voraus, dass die Tat auf einem (deutschen) 29 Schiff oder in einem (deutschen) Luftfahrzeug begangen wird. Maßgeblich für die Bestimmung des Begehungsortes ist § 9 (hierzu OLG Schleswig NStZ-RR 1998 313). a) Auf einem deutschen Schiff aa) Der Begriff „Schiff“. Unter einem Schiff im zivilrechtlichen Sinne ist jedes 30 schwimmfähige, mit einem Hohlraum versehene Fahrzeug von nicht ganz unbedeutender Größe zu verstehen, dessen Zweckbestimmung es mit sich bringt, dass es auf dem Wasser bewegt wird; unter diesen Begriff fällt auch ein Schwimmkran, nicht dagegen ein bewegungsunfähiges Wrack (BGH NJW 1952 1135). Nach Art. 1 des SeeschifffahrtÜbk. (Vor § 3 Rdn. 180) ist ein „Schiff“ ein „nicht dau- 31 erhaft am Meeresboden befestigtes Wasserfahrzeug jeder Art, einschließlich Fahrzeuge mit dynamischem Auftrieb, Unterwassergerät und anderes schwimmendes Gerät“. Damit wird der Begriff „Schiff“ abgegrenzt gegen den Ausdruck „feste Plattform“ 32 in Art. 1 Abs. 3 des Protokolls von 1988 zum Schutze fester Plattformen, die sich auf dem Festlandsockel befinden (Vor § 3 Rdn. 180). Dieser Ausdruck bezeichnet eine künstliche Insel, eine Anlage oder ein Bauwerk, die zum Zwecke der Erforschung oder Ausbeutung von Ressourcen oder zu anderen Zwecken dauerhaft am Meeresboden befestigt sind. bb) Seeschiffe und Binnenschiffe. Es erübrigen sich nähere Überlegungen, ob und wieweit die oben wiedergegebenen Definitionen (Rdn. 30 ff) mit dem allgemeinen Sprachgebrauch übereinstimmen und auch zur Auslegung des § 4 herangezogen werden können. Denn durch das Merkmal der Berechtigung, die Bundesflagge der Bundesrepublik Deutschland zu führen, stellt die Vorschrift klar, dass sie nur für Seeschiffe und Binnenschiffe gilt. Nur für sie wird diese Berechtigung bzw. Befugnis (Rdn. 40) in dem Gesetz über das Flaggenrecht der Seeschiffe und die Flaggenführung der Binnenschiffe (Flaggenrechtsgesetz – FlaggRG) in der zuletzt durch G vom 18.7.2016 geänderten Fassung (BGBl. I S. 1666) sowie in der Flaggenrechtsverordnung (FlRV) vom 4.7.1990 (BGBl. I S. 1389) mit Änderung durch das G zum Abbau verzichtbarer Anordnungen der Schriftform im Verwaltungsrecht des Bundes vom 29.3.2017 (BGBl. I S. 626) geregelt. Anders als im Zusammenhang mit der völkerrechtlichen Immunität (Rdn. 21 ff) kommt es hierbei nicht auf die Unterscheidung zwischen Staatsschiffen und Privatschiffen an. Seeschiffe sind Kauffahrteischiffe und sonstige zur Seefahrt bestimmte Schiffe (§ 1 Abs. 1 FlaggRG). Kauffahrteischiffe sind dem Reeder zum Erwerb durch die Seefahrt dienende Schiffe (vgl. § 484 HGB). Ihnen wurden schon früher Lotsen-, Fischerei-, Bergungs- und Schleppfahrzeuge zugezählt (vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b FlaggRG). Sonstige Seeschiffe sind zum Beispiel seegehende Behördenfahrzeuge, Yachten und Schulschiffe. Näher Erbs/Kohlhaas/Stöckel F 121 § 1 Rdn. 3. Binnenschiffe (§ 14 FlaggRG) dienen der schiffsmäßigen Beförderung von Personen und Gütern auf Binnengewässern, d.h. auf den Gewässern des Festlandes (Seen und Flüssen). Zu ihnen gehören Schleppkähne, nicht aber Flöße und Amphibienfahrzeuge. Seeschiffe und Binnenschiffe unterscheiden sich also voneinander nach dem räumlichen Bereich, in dem mit ihnen Schifffahrt betrieben werden soll. § 1 FLRV bestimmt als Grenzen der Seefahrt (§ 1 FlaggRG) die Festland- und Inselküstenlinie bei mittlerem Hochwasser, die seewärtige Begrenzung der Binnenwasserstraßen, bei an der Küste gelegenen Häfen die Verbindungslinie der Molenköpfe und bei Mündungen von Flüssen, die keine Binnenwasserstraßen sind, die Verbindungslinie der äußeren Uferausläufe. 577

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Von einem Seeschiff kann nur gesprochen werden, wenn das Schiff zur Schifffahrt seewärts der bezeichneten Grenzen bestimmt ist.16 Binnenschiffe, die Seegewässer befahren, sind nach § 1 Abs. 3 FlaggRG Seeschif37 fen mit der Maßgabe gleichgestellt, dass an die Stelle des Schiffszertifikates der Schiffsbrief tritt. Das gilt ohne Rücksicht darauf, ob sie als Seeschiffe in ein Seeschiffsregister eingetragen und nach der deutschen Terminologie als „Seeschiffe“ qualifiziert worden sind; vgl. Erbs/Kohlhaas/Stöckel F 121 § 1 Rdn. 5. 38

cc) Berechtigung, die Bundesflagge zu führen. Sie folgt bei Seeschiffen und Binnenschiffen unterschiedlichen Regeln.

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(1) Bei Seeschiffen. Die Berechtigung (§ 8 FlaggRG) besteht bei Seeschiffen, die im Eigentum deutscher Staatsangehöriger oder diesen gleichgestellter Personen stehen, kraft Gesetzes (§§ 1, 2 FlaggRG) sowie bei in Deutschland angefertigten Seeschiffen und bei Schiffen ausländischer Eigentümer auf Grund Verleihung (§§ 10, 11 FlaggRG). Sie ist durch einen amtlichen Ausweis nachzuweisen (§ 3 FlaggRG), vor dessen Erteilung sie nicht ausgeübt werden darf (§ 4 FlaggRG). Die Flaggenbehörde (das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrografie) führt ein Register aller Seeschiffe, denen ein amtlicher Ausweis über die Berechtigung zur Führung der Bundesflagge erteilt worden ist (§§ 21, 27 FlRV). Für die Geltung des deutschen Strafrechts nach § 4 kommt es bei Seeschiffen allein auf die Berechtigung an, die Bundesflagge zu führen (§ 8 FlaggRG), nicht auch auf die Erteilung des amtlichen Ausweises, der ihrem Nachweis dient (§ 3 FlaggRG), oder auf die Eintragung im Flaggenrechtsregister (§ 21 FlRV). Zwar darf die Berechtigung in der Regel vor Erteilung des Ausweises nicht ausgeübt werden (§ 4 Abs. 1 FlaggRG), und es ließe sich die Auffassung vertreten, eine Berechtigung ohne die Befugnis, sie auszuüben, sei in Wirklichkeit keine. Der Gesetzgeber hat zwischen beiden Fällen aber deutlich unterschieden, auch in der strafrechtlichen Bewertung. So macht sich nach § 15 Abs. 2 FlaggRG eines Vergehens schuldig, wer als Führer eines Seeschiffs oder als sonst dafür Verantwortlicher entgegen § 8 Abs. 1 Satz 1 FlaggRG (d.h. ohne Berechtigung) die Bundesflagge führt, während er nur eine Ordnungswidrigkeit begeht, wenn er entgegen § 4 Abs. 2 FlaggRG auf einer Reise den vorgeschriebenen Ausweis nicht mitführt (§ 16 Abs. 1 Nr. 1 FlaggRG). Es spricht nichts dafür, dass der Gesetzgeber diese Unterscheidung zwischen Berechtigung und Befugnis, sie auszuüben, für das Strafanwendungsrecht in § 4 aufgegeben hätte, zumal er sich dort mit der Formulierung „Schiff, das berechtigt ist, die Bundesflagge zu führen“ sprachlich eng an den Text des § 8 Abs. 1 Satz 1 FlaggRG anlehnt. Für Taten auf Seeschiffen, die nicht zur Führung der Bundesflagge berechtigt sind, sie aber führen, und solchen, die berechtigterweise unter fremder Nationalflagge fahren, ergibt sich die Geltung des deutschen Strafrechts daher nicht aus § 4. Das Gleiche gilt für Schiffe, die keine Flagge führen und auch nicht zur Führung der deutschen Flagge berechtigt sind. In diesen Fällen kann sich die Geltung des deutschen Strafrechts aber aus den §§ 3, 5 bis 7 ergeben.

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(2) Bei Binnenschiffen. Bei ihnen spricht das Flaggenrechtsgesetz – anders als bei Seeschiffen – nicht vom „Flaggenrecht“ oder vom „Recht zur Führung der Bundesflagge“; vielmehr regelt es hier nur die „Flaggenführung“. Demgemäß wird die Auffassung

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vertreten, deutsche Binnenschiffe besäßen kein Flaggenrecht „im eigentlichen Sinne“; sie bedürften seiner nicht, weil sie nicht im hoheitsfreien Raum verkehrten (vgl. Rdn. 35); doch sei ihnen eine „Befugnis“ zur Flaggenführung eingeräumt.17 Dem ist zuzustimmen; doch folgt daraus nicht, dass § 4 auf Binnenschiffe unan- 45 wendbar wäre. Das strafrechtliche Schrifttum ist einhellig der Meinung, dass die Vorschrift unabhängig davon gilt, ob es sich bei dem Schiff um ein See- oder Binnenschiff handelt.18 Dies folgt schon daraus, dass die sprachliche Fassung des § 4 nicht ergibt, dass die 46 Befugnis der Binnenschiffe, die Bundesflagge zu führen, keine Berechtigung im Sinne dieser Vorschrift wäre. Deren Anwendung auf Binnenschiffe ist auch der Sache nach geboten. Das Flaggenrecht hat nach dem HoSeeÜbk. (Vor § 3 Rdn. 94) und nach dem SeeRÜbk. (Vor § 3 Rdn. 94) zwar besondere Bedeutung gerade für Seeschiffe auf hoher See (Art. 4 ff HoSeeÜbk., Art. 90 ff SeeRÜbk.). Im Rahmen des § 4 geht es aber nicht nur um die Erfassung von Straftaten im hoheitsfreien Meeresgebiet der hohen See, sondern auch um Taten, die in (deutschen oder ausländischen) Häfen und auf (deutschen oder ausländischen) Seen oder Flüssen begangen werden. In diesem Bereich fahren auch deutsche Binnenschiffe (Rdn. 36 f). Es gibt keinen sachlichen Grund, insoweit bei der Geltung des deutschen Strafrechts zwischen See- und Binnenschiffen zu unterscheiden. Das gilt um so mehr, als das Binnenschiff bei Überschreitung der Binnenschifffahrtsgrenze zur offenen See hin (Rdn. 36) ohne weiteres zum Seeschiff wird, auf welchem über § 4 deutsches Strafrecht eingreift (Rdn. 37). dd) Wracks und Rettungsboote. Es ist davon auszugehen, dass sich die Berechti- 47 gung (und damit die Geltung des § 4) bei einem Seeschiff auch auf das Wrack bezieht, solange es noch nicht verlassen ist und der Verkehrsvorgang, namentlich die Rettung der Schiffbrüchigen noch andauert, sowie ferner auf die zum Schiff gehörenden Wasserfahrzeuge, bei Seenotfällen also insbesondere auf die bemannten Rettungsboote und flöße.19 Oehler (Rdn. 455 ff) hebt zur Begründung dieses Ergebnisses darauf ab, dass andern- 48 falls solche Schiffsteile oder Rettungsfahrzeuge auf hoher See (§ 5 Rdn. 47 ff) „jeglicher“ strafrechtlicher Gerichtsbarkeit entzogen wären. Das ist allerdings nicht der Fall. Für die Verfolgung von Auslandstaten, die auf hoher See (nicht auf einem Seeschiff) begangen werden, würden nach deutschem Recht wenigstens die wenngleich beschränkten Möglichkeiten offen bleiben, die auch sonst außerhalb der §§ 3 und 4 bestehen; und es wäre überdies nicht ausgeschlossen, dass sich Ausländer wegen Taten auf deutschen Schiffswracks und Rettungsbooten oder -flößen (ohne Flaggenrecht) nach dem Recht ihres Heimatstaates verantworten müssten (vgl. Vor § 3 Rdn. 45). Für die Richtigkeit des Ergebnisses (Rdn. 47) spricht jedoch, dass es in dem hier er- 49 örterten Zusammenhang keinen einleuchtenden Grund gibt, in Seenotfällen etwa bemannte Rettungsboote oder -flöße rechtlich anders zu behandeln als das im Sinken begriffene Seeschiff, zu dem sie gehören. Als Zubehör des Seeschiffs erstreckt sich dessen Flaggenrecht auch auf sie.

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17 Erbs/Kohlhaas/Stöckel F 121 § 14 Rdn. 3. 18 Ambos MK Rdn. 7; Böse NK Rdn. 5; Fischer Rdn. 3; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 2; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 4. 19 Ambos MK Rdn. 8; Böse NK Rdn. 6; Oehler Rdn. 455 bis 463; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 4.

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b) In einem deutschen Luftfahrzeug aa) Der Begriff „Luftfahrzeug“. Luftfahrzeuge sind nach § 1 Abs. 2 Satz 1 des Luftverkehrsgesetzes (LuftVG), zuletzt geändert durch G vom 20.7.2017 (BGBl. I S. 2808), „Flugzeuge, Drehflügler, Luftschiffe, Segelflugzeuge, Motorsegler, Frei- und Fesselballone, Rettungsfallschirme, Flugmodelle, Luftsportgeräte und sonstige für die Benutzung des Luftraums bestimmte Geräte, sofern sie in Höhen von mehr als dreißig Metern über Grund oder Wasser betrieben werden können“. Flugmodelle fallen nicht unter die Vorschriften des Luftverkehrsgesetzes, wenn sie nach Art, Bedeutung, Betrieb und Wirkung nur Kinderspielzeug sind.20 Nach § 1 Abs. 2 Satz 2 LuftVG gelten als Luftfahrzeuge ferner Raumfahrzeuge, Raketen und ähnliche Flugkörper, solange sie sich im Luftraum befinden. Diese gesetzliche Umschreibung ist ersichtlich weit gefasst im Hinblick auf die Freiheit des Luftraums, die § 1 Abs. 1 LuftVG als Grundsatz herausstellt. Nach § 1 Abs. 2 Satz 3 LuftVG gelten als Luftfahrzeuge ebenfalls unbemannte Luftfahrtsysteme, zu welchen „unbemannte Fluggeräte einschließlich ihrer Kontrollstation, die nicht zu Zwecken des Sports oder der Freiheitgestaltung betrieben werden“, gehören. § 1 Abs. 2 LuftVG enthält keine (abschließende) Bestimmung des Begriffs „Luftfahrzeug“, sondern verwendet ihn nur als Oberbegriff für die im Einzelnen bezeichneten Luftfahrzeuge.21 Nach allgemeinem Sprachgebrauch ist ein Luftfahrzeug ein „Gerät“, welches die Ei51 genschaft der Luft braucht, um sich in der Luft zu halten (Erbs/Kohlhaas/Lampe L213 § 1 Rdn. 5). Bei Flugzeugen ist gleichgültig, ob sie mit Propellern, Düsen oder Raketen angetrieben werden. § 1 Abs. 2 Satz 2 LuftVG (Rdn. 50) spricht dafür, auch Raumfahrzeuge § 4 und damit dem Flaggengrundsatz zu unterstellen, solange sie sich im Luftraum befinden.22 Ob der Begriff „Luftfahrzeug“ in § 4 enger gefasst werden muss als nach § 1 Abs. 2 52 LuftVG, kann auf sich beruhen. Einschränkungen für das Strafrecht ergeben sich jedenfalls daraus, dass für die Anwendung des § 4 nur Luftfahrzeuge mit der Berechtigung in Betracht kommen, das Staatszugehörigkeitszeichen der Bundesrepublik Deutschland zu führen (Rdn. 53 f), ferner auch daraus, dass die Tat „in einem Luftfahrzeug“ begangen sein muss (Rdn. 57 ff).

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bb) Berechtigung, das Staatszugehörigkeitszeichen der Bundesrepublik zu führen. Deutsche Luftfahrzeuge dürfen nur verkehren, wenn sie zum Luftverkehr zugelassen (Verkehrszulassung) und – soweit es durch Rechtsverordnung vorgeschrieben ist – in das Verzeichnis der deutschen Luftfahrzeuge (Luftfahrzeugrolle) eingetragen sind (§ 2 Abs. 1 Satz 1 LuftVG). Sie haben das Staatszugehörigkeitszeichen und eine besondere Kennzeichnung zu führen (§ 2 Abs. 5 LuftVG). Der Verpflichtung entspricht die Berechtigung, das Staatszugehörigkeitszeichen zu 54 führen. Anders als Schiffe (Rdn. 39 ff) werden Luftfahrzeuge nach § 3 Abs. 1 LuftVG in die deutsche Luftfahrzeugrolle nur eingetragen – und sind demnach verpflichtet und berechtigt, das Staatszugehörigkeitszeichen zu führen –, wenn sie im ausschließlichen Eigentum deutscher Staatsangehöriger stehen; deutschen Staatsangehörigen sind dabei juristische Personen mit Sitz im Inland gleichgestellt, wenn der überwiegende Teil ihres Vermögens oder Kapitals sowie die tatsächliche Kontrolle darüber deutschen Staatsangehörigen zusteht und die Mehrheit der Vertretungsberechtigten oder persönlich haftenden Personen deutsche Staatsangehörige sind (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 LuftVG). 53

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Erbs/Kohlhaas/Lampe L 213 § 1 Rdn. 6. Erbs/Kohlhaas/Lampe L 213 § 1 Rdn. 5. Ambos MK Rdn. 11.

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Dabei stehen Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der Staaten, in denen das Luftverkehrsrecht der Europäischen Union Anwendung findet, deutschen Staatsangehörigen gleich (§ 3 Abs. 1 Satz 2 LuftVG). Das Staatszugehörigkeitszeichen besteht aus der Bundesflagge (in der Regel im 55 Farbanstrich) und aus dem Buchstaben D. Es ist für alle Luftfahrzeuge gleich. Bei der daneben zu führenden besonderen Kennzeichnung wird unterschieden 56 zwischen Flugzeugen, Drehflüglern (Hub-, Trag- und Flughubschraubern), Luftschiffen, Motorseglern, Segelflugzeugen und bemannten Ballonen (§ 3 Abs. 1 LuftVG; § 14 LuftVZO i.d.F. d. Bek. vom 10.7.2008, BGBl. I S. 1229). 2. Tatmodalitäten. Voraussetzung der Geltung des deutschen Strafrechts ist, dass 57 die Tat auf einem Schiff oder in einem Luftfahrzeug begangen worden ist. Bis zur Novelle durch das 11. LuftVÄndG vom 25.8.1998 (BGBl. I S. 2432) war einheit- 58 liche Anwendungsvoraussetzung von § 4, dass die Tat „auf einem Schiff oder Luftfahrzeug“ begangen wird. Durch Art. 2 des 11. LuftVÄndG wurden die Worte „oder Luftfahrzeug“ durch „oder in einem Luftfahrzeug“ ersetzt. Hintergrund der Änderung ist der Umstand, dass „auf“ einem Luftfahrzeug nur „in extrem seltenen Fällen sportlicher Betätigung“ Straftaten begangen werden (BTDrucks. 13/9513 S. 41). Die Neuregelung stellt daher klar, dass nach § 4 insbesondere solche Straftaten dem deutschen Strafrecht unterliegen, die in einem Luftfahrzeug, also im Passagierraum bzw. in der Kabine eines Luftfahrzeugs begangen werden (BTDrucks. 13/9513 S. 41). Dagegen unterfallen § 4 nach dem nunmehr eindeutigen Wortlaut, der mit dem Gesetzeszweck korrespondiert, keine Straftaten, die auf einem Luftfahrzeug (am Boden oder in der Luft) begangen werden.23 Nicht ausgeschlossen ist die Anwendung von § 4 freilich, wenn der Täter sich zum Zeitpunkt der Tatbegehung außerhalb der Kabine befindet (etwa außen auf dem am Boden befindlichen Luftfahrzeug steht) und dort handelt, soweit nur ein Begehungsort (§ 9) „im Luftfahrzeug“ liegt. § 4 erfordert nicht, dass die Tat gegen das Fahrzeug gerichtet ist. Die Worte „auf“ 59 und „in“ sind im Zusammenhang mit § 4 weiter, als es der Ausdruck „gegen“ wäre. Deutsches Strafrecht gilt bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen beispielsweise auch dann, wenn die Tat nur einen einzelnen Passagier betrifft. a) Bewegungs- und Ruhezustand des Fahrzeugs. Die Worte „auf“ und „in“ be- 60 zeichnen ein räumliches Verhältnis der Tat zu dem Fahrzeug. Sie enthalten keine Aussage darüber, ob sich das Fahrzeug in Bewegung oder im Stillstand befindet; sie deuten auch nicht darauf hin, dass das Fahrzeug bei der Tat in Betrieb sein müsste. § 4 greift danach unabhängig davon ein, ob das Schiff in Fahrt oder das Luftfahrzeug im Flug begriffen ist, obgleich dies in einschlägigen Fällen die Regel sein wird.24 Demnach erfüllt auch eine Tat, die auf einem im Hafen liegenden Schiff oder auf einem in einem Hangar abgestellten Flugzeug begangen wird, die Voraussetzungen des § 4.25 Einige völkerrechtliche Vereinbarungen, welche dem Schutz der zivilen Luftfahrt 61 vor Luftpiraterie und Terroranschlägen dienen (Vor § 3 Rdn. 107 ff), schränken demgegenüber den eigenen Anwendungsbereich durch das Erfordernis einer gewissen Verkehrsbezogenheit des Tatgeschehens ein, so unter dem rechtlichen Gesichtspunkt, dass sich das Luftfahrzeug bei der Tat „im Fluge“ (Tokioter Abkommen 1963, Art. 1

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23 Missverständlich insofern die Gesetzesbegründung BTDrucks. 13/9513 S. 41. 24 Ambos MK Rdn. 12; Oehler Rdn. 518. 25 Zu eng Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 6a („Verschließen der Außentür bis zu deren Öffnung nach dem Anlegen oder Landen“).

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Abs. 2 und 3; Haager Übereinkommen 1970, Art. 1 Abs. 1; Montrealer Übereinkommen 1971, Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und e, Abs. 2 Buchst. a; Vor § 3 Rdn. 107) oder „im Einsatz“ (Montrealer Übereinkommen 1971, Art. 1 Abs. 1 Buchst. b und c, Abs. 2 Buchst. b; Vor § 3 Rdn. 107) befinden müsse. Dabei werden diese Begriffe nach den vertraglichen Umschreibungen allerdings weit gefasst: Ein Luftfahrzeug gilt „als im Flug befindlich“ von dem Augenblick an, in dem zum Zweck des Starts Kraft aufgewendet wird, bis zu dem Augenblick, in dem der Landelauf beendet ist (Art. 1 Abs. 3 Tokioter Abk.), oder auch von dem Augenblick an, in dem alle Außentüren nach dem Einstieg geschlossen werden, bis zu dem Moment, in dem eine dieser Türen zum Aussteigen geöffnet wird (Art. 5 Abs. 2 Satz 1 Tokioter Abk.; Art. 3 Abs. 1 Satz 1 Haager Übk., Art. 2 Buchst. a Montrealer Übk.). Ein Luftfahrzeug gilt „als im Einsatz befindlich“ vom Beginn der Flugvorbereitung durch das Bodenpersonal oder die Besatzung für einen bestimmten Flug bis zum Ablauf von 24 Stunden nach jeder Landung, in jedem Fall auch während des Zeitraums, in dem es sich nach der oben wiedergegebenen Definition im Flug befindet (Art. 2 Buchst. b Montrealer Übk.). Voraussetzung ist also in beiden Fällen nicht, dass sich das Flugzeug tatsächlich in Bewegung befindet. Diese Einschränkungen des Anwendungsbereichs der genannten völkerrechtlichen Übereinkommen stehen der hier vorgenommenen Auslegung des § 4 (Rdn. 60) nicht entgegen. Sie bilden keine Schranke für seine Anwendung. In den Übereinkommen wird ausdrücklich hervorgehoben, dass sie eine Strafgerichtsbarkeit nicht ausschließen, die nach nationalem Recht ausgeübt wird (Art. 3 Abs. 3 Tokioter Abk., Art. 4 Abs. 3 Haager Übk., Art. 5 Abs. 3 Montrealer Übk.). Der Gesichtspunkt der Verkehrsbezogenheit der Tat kann aber in Grenzfällen eine Auslegungshilfe für die Beantwortung der Frage sein, ob eine auf einem Wrack verübte Tat auf einem Schiff oder in einem Luftfahrzeug im Sinne des § 4 begangen wird (vgl. Oehler Rdn. 518; siehe auch Rdn. 47 ff). Es wäre verfehlt anzunehmen, das Problem löse sich dadurch, dass die Eigenschaft als Schiff oder Luftfahrzeug automatisch im Zeitpunkt der schweren Beschädigung oder Zerstörung erlösche, durch die das Fahrzeug die ihm eigentümliche Bewegungsfähigkeit (Schwimm- oder Flugfähigkeit) verliere. Auch wäre es unzureichend, nur darauf abzuheben, ob sich auf dem Wrack (noch) Menschen befinden. Entscheidend ist vielmehr, ob die Tat in eine Zeit fällt, zu welcher der durch die schwere Beschädigung oder Zerstörung beeinträchtigte Verkehrsvorgang andauert (Rdn. 47). Das trifft zu, solange die Maßnahmen zur Rettung der Passagiere, der Besatzung und auch des Fahrzeugs noch nicht abgeschlossen sind. Danach wäre für die Anwendung des § 4 zum Beispiel kein Raum, wenn es unter Plünderern an Bord zu einer schweren Straftat kommt, während sie ein auf hoher See verlassen treibendes, aufgegebenes Wrack nach Beute durchsuchen.

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b) Aufenthalt des Täters an Bord und außerhalb des Fahrzeugs. Die Geltung des deutschen Strafrechts nach § 4 setzt nicht notwendig voraus, dass sich Täter oder Teilnehmer „an Bord“, also auf dem Schiff oder in dem Luftfahrzeug, befinden (Ambos MK Rdn. 14). Das wird zwar regelmäßig der Fall sein; es genügt aber, dass bei Erfolgsdelikten der Handlungserfolg „auf“ bzw. „in“ dem Fahrzeug eintritt; dies kann etwa bei einem Bombenanschlag während des Fluges der Fall sein. Maßgeblich bei der Bestimmung des Begehungsortes ist § 9. Danach sind Distanzdelikte möglich (§ 9 Rdn. 54 ff). In internationalen Verträgen zum Schutz der Zivilluftfahrt vor Luftpiraterie und 67 Terroranschlägen (Vor § 3 Rdn. 107 ff) wird mitunter vorausgesetzt, dass der Täter oder der Teilnehmer zur Ausführung der Tat an Bord ist, so im Haager Übereinkommen 1970 (Art. 1, 4 Abs. 1 Buchst. b). Das kann mit der Art der Taten zusammenhängen, die mit Werle/Jeßberger

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dem Übereinkommen bekämpft werden sollen. In solchen Fällen sind Handlungen von der Vertragsanwendung ausgeschlossen, die von einem Punkt außerhalb des Luftfahrzeugs gegen es gerichtet sind.26 Andere Vereinbarungen stellen darauf ab, ob sich die Tat gegen eine Person an 68 Bord eines im Fluge oder Einsatz befindlichen Luftfahrzeugs richtet, gegen ein solches Flugzeug (Montrealer Übereinkommen 1971, Art. 1 Abs. 1) oder gegen ein nicht im Einsatz befindliches Flugzeug auf einem Flughafen, welcher der internationalen Zivilluftfahrt dient (Montrealer Protokoll 1988, Art. 2 Abs. 1). All dies hat, soweit es als Einschränkung für das deutsche Strafrecht in Betracht 69 kommt, aus den bereits genannten Gründen (Rdn. 63) keinen Einfluss auf die Auslegung des § 4. Die Erstreckung des Verfolgungszwanges auf Taten gegen Luftfahrzeuge, die nicht im Einsatz sind (Rdn. 68), ist vielmehr ein mögliches rechtliches Argument dafür, dass die hier vertretene Auffassung zum Anwendungsbereich des § 4 (Rdn. 63, 66) richtig ist. III. Prozessuales 1. Einschränkung des Verfolgungszwanges. Für Taten, die auf einem deutschen 70 Schiff oder Luftfahrzeug begangen werden, das sich zur Tatzeit im Ausland befindet, ist der Verfolgungszwang gelockert; es gilt – wie allgemein bei Auslandstaten (Vor § 3 Rdn. 370) – das Opportunitätsprinzip (§ 153c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 erste Alternative StPO).27 Für die Verfolgung ist das Gericht zuständig, in dessen Bezirk der Heimathafen oder der Hafen im Geltungsbereich dieses Gesetzes liegt, den das Schiff nach der Tat zuerst erreicht; Entsprechendes gilt für Luftfahrzeuge (§ 10 StPO). Auch für Taten, die ein Ausländer auf einem ausländischen Schiff oder Luftfahr- 71 zeug im Inland begeht, gilt das Opportunitätsprinzip (§ 153c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO). Dass der Gesetzgeber es unterlassen hat, § 153c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO entsprechend 72 der für § 4 durch das 11. LuftVÄndG vom 25.8.1998 (Entstehungsgeschichte) erfolgten Änderung („in“ statt wie früher „auf“ einem Luftfahrzeug) neu zu fassen, darf nicht dahingehend missverstanden werden, dass für Taten, die in, aber nicht auf einem ausländischen Luftfahrzeug im Inland begangen werden, das Legalitätsprinzip gelten würde. 2. Opportunitätsprinzip und völkerrechtliche Verfolgungspflicht. Die Regelun- 73 gen des § 153c Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 und 2 StPO müssen im Rahmen des § 4 unter Berücksichtigung der völkerrechtlichen Verpflichtungen ausgelegt werden, welche die Bundesrepublik in internationalen Verträgen (Vor § 3 Rdn. 52 ff) übernommen hat. Hieraus kann sich eine Ermessensbindung ergeben, die im Rahmen des § 153c Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 und 2 StPO zu beachten ist. So ist die Bundesrepublik u.a. gehalten, als Flaggen- oder Registerstaat die in den 74 jeweiligen Abkommen geregelten Taten zu verfolgen, die begangen worden sind: im Ausland auf deutschen Luftfahrzeugen nach dem Tokioter Abkommen 1963 75 (Art. 3 Abs. 1, 2, Art. 5; Vor § 3 Rdn. 110); dem Haager Übereinkommen 1970 (Art. 3 Abs. 3, Art. 4 Abs. 1 Buchst. a; Vor § 3 Rdn. 112) und dem Montrealer Übereinkommen 1971 (Art. 4 Abs. 2 Buchst. a und b, Art. 5 Abs. 1 Buchst. b, 2; Vor § 3 Rdn. 115); sowie auf deutschen Schiffen nach dem SeeschifffahrtÜbk. (Art. 6 Abs. 1 Buchst. a; Vor § 3 Rdn. 180);

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Vgl. Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas III C 13 2 S. 9 Fußn. 1. Beulke LR § 153c StPO Rdn. 9; Weßlau SK-StPO § 153c StPO Rdn. 11.

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im Inland auf ausländischen Luftfahrzeugen nach dem Haager Übereinkommen 1970 (Art. 4 Abs. 1 Buchst. b; Vor § 3 Rdn. 112) und dem Montrealer Übereinkommen 1971 (Art. 4 Abs. 2 Buchst. b, Art. 5 Abs. 1 Buchst. a; Vor § 3 Rdn. 115), sowie auf ausländischen Schiffen nach dem SeeschifffahrtÜbk. Art. 6 Abs. 1 Buchst. b; Vor § 3 Rdn. 184). Siehe ferner die einzelnen bei Vor § 3 Rdn. 59 ff aufgeführten Abkommen. Diesen völkerrechtlichen Verpflichtungen kann die Bundesrepublik in manchen Fäl77 len genügen, indem sie einen ausländischen Beschuldigten an einen anderen Vertragsstaat ausliefert (Art. 4 Abs. 2 Haager Übk., Art. 5 Abs. 2 Montrealer Übk., Art. 6 Abs. 4 Montrealer Protokoll und Art. 6 Abs. 3, Art. 10 Abs. 1 SeeschifffahrtÜbk.; Vor § 3 Rdn. 107, 180). Für die Anwendung des Opportunitätsprinzips (§ 153c Abs. 1 Nrn. 1 und 2 StPO) wird in der Regel nur Raum sein, wenn die völkerrechtliche Verfolgungspflicht im Einzelfall nicht eingreift, etwa bei Taten auf Luftfahrzeugen oder Schiffen im Militär-, Zolloder Polizeidienst (Art. 1 Abs. 4 Tokioter Abk., Art. 3 Abs. 2 Haager Übk., Art. 4 Abs. 1 Montrealer Übk. und Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und b, Abs. 2 SeeschifffahrtÜbk.; Vor § 3 Rdn. 107, 180), oder wenn der Beschuldigte vertragsgemäß ausgeliefert wird.

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§5 Auslandstaten mit besonderem Inlandsbezug Erster Abschnitt. Das Strafgesetz Auslandstaten mit besonderem Inlandsbezug Werle/Jeßberger § 5 https://doi.org/10.1515/9783110300413-008

Das deutsche Strafrecht gilt, unabhängig vom Recht des Tatorts, für folgende Taten, die im Ausland begangen werden: 1. (weggefallen); 2. Hochverrat (§§ 81 bis 83); 3. Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates a) in den Fällen der §§ 89, 90a Abs. 1 und des § 90b, wenn der Täter Deutscher ist und seine Lebensgrundlage im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes hat, und b) in den Fällen der §§ 90 und 90a Abs. 2; 4. Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit (§§ 94 bis 100a); 5. Straftaten gegen die Landesverteidigung a) in den Fällen der §§ 109 und 109e bis 109g und b) in den Fällen der §§ 109a, 109d und 109h, wenn der Täter Deutscher ist und seine Lebensgrundlage im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes hat; 6. Straftaten gegen die persönliche Freiheit a) in den Fällen der §§ 234a und 241a, wenn die Tat sich gegen eine Person richtet, die zur Zeit der Tat Deutsche ist und ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat, b) in den Fällen des § 235 Abs. 2 Nr. 2, wenn die Tat sich gegen eine Person richtet, die zur Zeit der Tat ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat, und c) in den Fällen des § 237, wenn der Täter zur Zeit der Tat Deutscher ist oder wenn die Tat sich gegen eine Person richtet, die zur Zeit der Tat ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat; 7. Verletzung von Betriebs- oder Geschäftsgeheimnissen eines im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes liegenden Betriebs, eines Unternehmens, das dort seinen Sitz hat, oder eines Unternehmens mit Sitz im Ausland, das von einem Unternehmen mit Sitz im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes abhängig ist und mit diesem einen Konzern bildet; Werle/Jeßberger https://doi.org/10.1515/9783110300413-008

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Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung in den Fällen des § 174 Abs. 1, 2 und 4, der §§ 176 bis 178 und des § 182, wenn der Täter zur Zeit der Tat Deutscher ist; 9. Straftaten gegen das Leben a) in den Fällen des § 218 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 und Abs. 4 Satz 1, wenn der Täter zur Zeit der Tat Deutscher ist, und b) in den übrigen Fällen des § 218, wenn der Täter zur Zeit der Tat Deutscher ist und seine Lebensgrundlage im Inland hat 9a. Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit a) in den Fällen des § 226 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit Abs. 2 bei Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit, wenn der Täter zur Zeit der Tat Deutscher ist, und b) in den Fällen des § 226a, wenn der Täter zur Zeit der Tat Deutscher ist oder wenn die Tat sich gegen eine Person richtet, die zur Zeit der Tat ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat; 10. falsche uneidliche Aussage, Meineid und falsche Versicherung an Eides Statt (§§ 153 bis 156) in einem Verfahren, das im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes bei einem Gericht oder einer anderen deutschen Stelle anhängig ist, die zur Abnahme von Eiden oder eidesstattlichen Versicherungen zuständig ist; 10a. Sportwettbetrug und Manipulation von berufssportlichen Wettbewerben (§§ 265c und 265d), wenn sich die Tat auf einen Wettbewerb bezieht, der im Inland stattfindet; 11. Straftaten gegen die Umwelt in den Fällen der §§ 324, 326, 330 und 330a, die im Bereich der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone begangen werden, soweit völkerrechtliche Übereinkommen zum Schutze des Meeres ihre Verfolgung als Straftaten gestatten; 11a. Straftaten nach § 328 Abs. 2 Nr. 3 und 4, Abs. 4 und 5, auch in Verbindung mit § 330, wenn der Täter zur Zeit der Tat Deutscher ist; 12. Taten, die ein deutscher Amtsträger oder für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteter während eines dienstlichen Aufenthalts oder in Beziehung auf den Dienst begeht; 13. Taten, die ein Ausländer als Amtsträger oder für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteter begeht; 14. Taten, die jemand gegen einen Amtsträger, einen für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten oder einen Soldaten der Bundeswehr während der Ausübung ihres Dienstes oder in Beziehung auf ihren Dienst begeht; 15. Strataten im Amt nach den §§ 331 bis 337, wenn a) der Täter zur Zeit der Tat Deutscher ist, b) der Täter zur Zeit der Tat Europäischer Amtsträger ist und seine Dienststelle ihren Sitz im Inland hat, c) die Tat gegenüber einem Amtsträger, einem für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten oder einem Soldaten der Bundeswehr begangen wird oder d) die Tat gegenüber einem Europäischen Amtsträger oder Schiedsrichter, der zur Zeit der Tat Deutscher ist, oder einer nach § 335a gleichgestellten Person begangen wird, die zur Zeit der Tat Deutsche ist; 16. Bestechlichkeit und Bestechung von Mandatsträgern (§ 108e), wenn a) der Täter zur Zeit der Tat Mitglied einer deutschen Volksvertretung oder Deutscher ist oder

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b) die Tat gegenüber einem Mitglied einer deutschen Volksvertretung oder einer Person, die zur Zeit der Tat Deutsche ist, begangen wird; 17. Organ- und Gewebehandel (§ 18 des Transplantationsgesetzes), wenn der Täter zur Zeit der Tat Deutscher ist. Schrifttum Vgl. vor den Vorbemerkungen zu den §§ 3 bis 7, ferner vor den einzelnen Bestimmungen des § 5.

Entstehungsgeschichte § 5 Nrn. 2 bis 5, 12 bis 14 gehen zurück auf die Ursprungsfassung des § 4 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 RStGB, die durch G vom 26.2.1876 (RGBl. I S. 25), G vom 26.5.1933 (RGBl. I S. 295) und G vom 24.4.1934 (RGBl. I S. 341) geändert wurde. Die GeltungsbereichsVO vom 6.5.1940 (RGBl. I S. 754) fasste unter anderem die Substanz des geltenden § 5 Nrn. 2 bis 5, 7, 10 und 12 bis 14 – im Hinblick auf den absolut geltenden aktiven Personalgrundsatz (Vor § 3 Rdn. 277) beschränkt auf Auslandstaten von Ausländern – in § 4 Abs. 3 RStGB zusammen. Diese Vorschrift wurde in der Folgezeit mehrfach geändert, nämlich durch das StRÄndG vom 30.8.1951 (BGBl. I S. 739), das 3. StRÄndG vom 4.8.1953 (BGBl. I S. 735), das 4. StRÄndG vom 11.6.1957 (BGBl. I S. 597), das 8. StRÄndG vom 25.6.1968 (BGBl. I S. 741), das 11. StRÄndG vom 16.12.1971 (BGBl. I S. 1977) und das 4. StrRG vom 23.11.1973 (BGBl. I S. 1725). Die Fassung des § 5, die seit 1.1.1975 in Kraft ist, geht auf § 5 E 1962 zurück. § 5 i.d.F. des 2. StrRG vom 4.7.1969 (BGBl. I S. 717) wurde durch das EGStGB vom 2.3.1974 (BGBl. I S. 469) geändert. Seit Inkrafttreten der Neufassung des § 5 hat es zahlreiche weitere Änderungen der Vorschrift gegeben. Das 18. StRÄndG (G zur Bekämpfung der Umweltkriminalität) vom 28.3.1980 (BGBl. I S. 373), in Kraft seit dem 1.7.1980, fügte nach der Nummer 10 die gegenwärtige Nummer 11 über Straftaten gegen die Umwelt in den Fällen der §§ 324, 326, 330 und 330a allein mit der Maßgabe ein, dass „die Tat im Bereich des deutschen Festlandsockels begangen wird“. Es fehlte noch die Einschränkung durch die Verweisung auf völkerrechtliche Übereinkommen zum Schutze des Meeres. Die bisherigen Nummern 11 bis 13 erhielten die Nummern 12 bis 14. Durch den Einigungsvertrag (Anl. I Kap. III Sachgebiet C Abschnitt III Nr. 2) ist der frühere Berlin-Vorbehalt in Nummer 5 (Art. 324 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Nr. 1 EGStGB vom 2.3.1974 (BGBl. I S. 469)) entfallen. Durch das G zur Ausführung des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen vom 10.12.1982 sowie des Übereinkommens vom 28.7.1994 zur Durchführung des Teils XI des Seerechtsübereinkommens (Ausführungsgesetz Seerechtsübereinkommen 1982/1994), vom 6.6.1995 (BGBl. I S. 777) erhielt Nummer 11 die gegenwärtige Fassung. Das G vom 6.6.1995 ergänzt den § 5 überdies durch folgende Vorschrift, die seit dem 15.6.1995 gilt: Artikel 12 Erweiterung des Geltungsbereichs des deutschen Strafrechts Das deutsche Strafrecht gilt für Straftaten gegen die Umwelt in den Fällen der §§ 324, 326, 330 und 330a des Strafgesetzbuches, die von einem Schiff aus in der Nordsee oder Ostsee außerhalb der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone durch Einleiten von Stoffen unter Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten (§ 330d Nr. 4, 5 des Strafgesetzbuches) begangen werden, welche der Durchführung völkerrechtlicher Übereinkommen zum Schutz des Meeres dienen. Soweit die Tat in den Hoheitsgewässern eines anderen Staates begangen wird, gilt dies, wenn die Tat nach dem Recht dieses Staates mit Strafe bedroht ist. Für die Abgrenzung

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Auslandstaten mit besonderem Inlandsbezug | § 5

der Nordsee ist Artikel 2 des Übereinkommens zur Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Verschmutzung der Nordsee durch Öl und andere Schadstoffe vom 13.9.1983 (BGBl. 1990 II S. 70) maßgebend.

Nummer 11a wurde durch Art. 2 Nr. 1 des Ausführungsgesetzes zu dem Vertrag vom 24.9.1996 über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen (BGBl. 1998 II S. 1210), vom 23.7.1998 (BGBl. I S. 1882), in Kraft seit dem 30.7.1998, eingefügt. Durch § 24 Nr. 2 des G über die Spende, Entnahme und Übertragung von Organen (Transplantationsgesetz – TPG) vom 5.11.1997 (BGBl. I S. 2631), das am 1.12.1997 in Kraft getreten ist, wurde Nummer 15 a.F., die in ihrer Substanz Nummer 17 in der gegenwärtigen Fassung entspricht, angefügt. Art. 2 § 3 des G zu dem Protokoll vom 27.9.1996 zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (EUBestechungsgesetz) vom 10.9.1998 (BGBl. II S. 2340) ergänzte § 5 um die Nummer 14a a.F., welcher Nummer 16 in der heute gültigen Fassung entspricht. Durch Art. 6 Abs. 2 des G über die Qualität und Sicherheit von menschlichen Geweben und Zellen (Gewebegesetz) vom 20.7.2007 (BGBl. I S. 1574), in Kraft getreten am 1.8.2007, wurde Nummer 17 – Nummer 15 a.F. – an die Änderungen in § 18 des Transplantationsgesetzes angepasst und das Wort „Organhandel“ durch die Worte „Organund Gewebehandel“ ersetzt. Aufgrund der Änderung von § 108e durch das 48. StRÄndG vom 23.4.2014 (BGBl. I S. 410), in Kraft getreten am 1.9.2014, wurde Nr. 14a a.F., die durch Art. 2 § 3 des G zu dem Protokoll vom 27.9.1996 zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (EU-Bestechungsgesetz) vom 10.9.1998 (BGBl. II S. 2340) in § 5 eingefügt worden ist und der Nummer 16 entspricht, angepasst und das Wort „Abgeordnetenbestechung“ durch die Worte „Bestechlichkeit und Bestechung von Mandatsträgern“ ersetzt. Umfassende Änderungen wurden durch das darauffolgende 49. StRÄndG zur Umsetzung europäischer Vorgaben zum Sexualstrafrecht vom 21.1.2015 (BGBl. I S. 10) vorgenommen, das am 27.1.2015 in Kraft getreten ist. Die bestehende Überschrift „Auslandstaten gegen inländische Rechtsgüter“ wurde durch „Auslandstaten mit besonderem Inlandsbezug“ ersetzt. Ferner wurden die bis dahin bestehenden Nummern 6 und 6a in Nummer 6 zusammengefasst und § 237 in die Liste der von Nummer 6 erfassten Straftaten aufgenommen. Nummer 8a und Nummer 8b wurden in Nummer 8 zusammengefasst und auf Fälle des neu eingefügten § 174 Abs. 2 sowie der §§ 177, 178 und – zunächst – 179 erweitert. Ferner ist die Erstreckung deutscher Strafgewalt auch in den in Nummer 8 aufgezählten Fällen des § 174 nunmehr nicht mehr davon abhängig, dass auch die Person, gegen die die Tat begangen wird, Deutsche ist oder Täter und Opfer ihre Lebensgrundlage im Inland haben. Nummer 9 wurde dahingehend geändert, dass in den Fällen des § 218 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 und Abs. 4 Satz 1 deutsches Strafrecht bereits dann gilt, wenn der Täter zur Zeit der Tat Deutscher ist; die Voraussetzung, dass dieser seine Lebensgrundlage im räumlichen Geltungsbereich des Strafgesetzbuches hat, ist entfallen. Für die übrigen Fälle des § 218 wurde die Wendung „im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes“ durch die Worte „im Inland“ ersetzt, an dem genannten Erfordernis aber weiterhin festgehalten. Schließlich wurde durch das 49. StRÄndG Nummer 9a (Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit) eingefügt. Durch das G zur Bekämpfung der Korruption vom 20.11.2015 (BGBl. I S. 2025), in Kraft seit dem 26.11.2015, wurde Nummer 15 eingefügt. Gleichzeitig erhielt die bisherige Nummer 15 die Nummer 17, die bisherige Nummer 14a die Nummer 16. Für die Fälle des § 108e sieht Nummer 16 nunmehr die Anwendung deutschen Strafrechts nicht nur vor, wenn der Täter Deutscher ist oder die Tat gegenüber

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§ 5 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

einem Deutschen begangen wird, sondern auch dann, wenn es sich bei der Person jeweils um ein Mitglied einer deutschen Volksvertretung handelt. Durch die Aufhebung von § 179 infolge des 50. StRÄndG vom 4.11.2016 zur Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung (BGBl. I S. 2460), in Kraft seit dem 10.11.2016, wurde Nummer 8 entsprechend angepasst (Art. 1 Nr. 2 des G) und § 179 aus der Liste entfernt. Durch Art. 2 Abs. 4 Nr. 2 des G zur Änderung des Völkerstrafgesetzbuches vom 22.12.2016 (BGBl. I S. 3150), in Kraft seit dem 1.1.2017, ist Nummer 1 (Vorbereitung eines Angriffskrieges) aufgehoben worden; zugleich wurde das Verbrechen der Aggression in das VStGB aufgenommen (§ 13 VStGB), dessen Anwendungsbereich insoweit nunmehr § 1 Satz 2 VStGB bestimmt. Nummer 10a wurde durch Art. 1 Nr. 2 des 51. StRÄndG vom 11.4.2017 (BGBl. I S. 815), das seit dem 19.4.2017 in Kraft ist, eingefügt. Gesetzesmaterialien § 5 E 1962 Begr. S. 109; Niederschriften der Gr. Str. Kommission Bd. 4 S. 15 ff, 121 ff, 412 ff; Bd. 10 S. 323 ff, 336. Schriftl. Bericht des Sonderausschusses Strafrecht BTDrucks. V/4095 S. 4; Prot. V/6, 70, 2347, 2557, 2619, 2878, 3120, 3199; E EGStGB S. 207. Entwurf eines 16. StRÄndG, BRDrucks. 339/78, Begr. S. 12 f; BTDrucks. 8/2382, Begr. S. 11 f; Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss), BTDrucks. 8/3633 S. 4, 22 f. Entwurf eines StRÄndG – Kinderpornografie, BTDrucks. 12/3001; Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss), BTDrucks. 12/ 4883 S. 4, 6 f; BT, 163. Sitzung, Plenarprotokoll 12/163 S. 14060 ff. Entwurf eines StRÄndG – §§ 175, 182 StGB, BTDrucks. 12/4584 S. 1, 3, 4 ff, 7; Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss), BTDrucks. 12/7035 S. 4, 8; Gesetzesbeschluss des BT, BRDrucks. 265/94. Entwurf eines Sechsten Gesetzes zur Reform des Strafrechts (6. StrRG), BTDrucks. 13/7164 S. 3, 27; BTDrucks. 13/8587 S. 4, 27; Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses (6. Ausschuss), BTDrucks. 13/8991 S. 13; Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss), BTDrucks. 13/9064 S. 8 f; Gesetzesbeschluss des BT, BRDrucks. 931/97; Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses (6. Ausschuss), BTDrucks. 13/8991 S. 13; Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss), BTDrucks. 13/9064 S. 8 f. Entwurf eines Ausführungsgesetzes zu dem Vertrag vom 24.9.1996 über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen, BTDrucks. 13/10076 S. 6, 10; Gesetzesbeschluss des BT, BRDrucks. 510/98. Entwurf eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 27.9.1996 zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (EU-Bestechungsgesetz), BTDrucks. 13/10424 S. 5 ff; Gesetzesbeschluss des BT, BRDrucks. 559/98. Entwurf eines Gesetzes über die Spende, Entnahme und Übertragung von Organen (Transplantationsgesetz – TPG), BTDrucks. 13/4355 S. 9, 32; Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss), BTDrucks. 13/8017 S. 23; Gesetzesbeschluss des BT, BRDrucks. 635/97. Entwurf eines G über Qualität und Sicherheit von menschlichen Geweben und Zellen (Gewebegesetz), BRDrucks. 543/06, Begr. S. 44 f; BTDrucks. 16/3146, Begr. S. 21 f; Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss), BTDrucks. 16/5443; Gesetzesbeschluss des BT, BRDrucks. 385/07. Entwurf eines 48. StRÄndG – Erweiterung des Straftatbestandes der Abgeordnetenbestechung, BTDrucks. 18/ 476, Begr. S. 5 f; Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss), BTDrucks. 18/607; Gesetzesbeschluss des BT, BRDrucks. 64/14. Entwurf eines G zur Änderung des Strafgesetzbuches – Umsetzung europäischer Vorgaben zum Sexualstrafrecht, BTDrucks. 18/2601, Begr. S. 13 f; Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss), BTDrucks. 18/3202; Gesetzesbeschluss des BT, BRDrucks. 574/14. Entwurf eines G zur Bekämpfung der Korruption, BRDrucks. 25/15, Begr. S. 8 f; BTDrucks. 18/4350, Begr. Werle/Jeßberger

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Auslandstaten mit besonderem Inlandsbezug | § 5

S. 11 f; Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschuss (6. Ausschuss), BTDrucks. 18/6389; Gesetzesbeschluss des BT, BRDrucks. 468/15. Entwurf eines G zur Änderung des Strafgesetzbuches – Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung, BRDrucks. 162/16, Begr. S. 3 f; BTDrucks. 18/8210, Begr. S. 7 f; Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss), BTDrucks. 18/9097; Gesetzesbeschluss des BT, BRDrucks. 463/16. Entwurf eines G zur Änderung des Völkerstrafgesetzbuches, BRDrucks. 161/16, Begr. S. 5 f; BTDrucks. 18/8621, Begr. S. 9 f; Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss), BTDrucks. 18/10509; Gesetzesbeschluss des BT, BRDrucks. 723/16. Entwurf eines G zur Änderung des Strafgesetzbuches – Strafbarkeit von Sportwettbetrug und der Manipulation von berufssportlichen Wettbewerben, BRDrucks. 235/16, Begr. S. 5 f; BTDrucks. 18/8831, Begr. S. 10 f; Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss), BTDrucks. 18/11445; Gesetzesbeschluss des BT, BRDrucks. 200/17.

I. II. III. IV.

V.

VI.

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Übersicht Bedeutung | 1 Systematik | 6 Völkerrechtliche Rechtfertigung | 10 Inlandsbezug als gemeinsame Voraussetzung | 11 1. „Deutscher“ und „Deutscher zur Zeit der Tat“ | 16 2. Lebensgrundlage, Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt im Inland | 18 3. Täterbegriff | 20 4. Deutsche mit und Deutsche ohne Lebensgrundlage im Inland | 33 Der Auslandsbegriff | 41 1. Räume unter fremder Gebietshoheit | 43 2. Gebietshoheitsfreie Räume a) Arktis und Antarktis | 44 b) Hohe See | 47 c) Ausschließliche Wirtschaftszone | 54 d) Festlandsockel | 62 e) Weltraum | 67 f) Mond | 70 g) „Failed States“ | 72 Voraussetzungen im Einzelnen | 73 1. Hochverrat (§§ 81 bis 83) | 74 2. Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates (§§ 89, 90, 90a Abs. 1 und 90b) | 77 3. Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit (§§ 94 bis 100a) | 82 4. Straftaten gegen die Landesverteidigung (§§ 109, 109a, 109d bis 109h) | 89

5.

6.

7.

8. 9. 10.

11.

12.

Straftaten gegen die persönliche Freiheit (§§ 234a, 235 Abs. 2 Nr. 2 237, 241a) | 92 Verletzung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen | 114 a) Voraussetzungen | 116 b) Völkerrechtliche Rechtfertigung | 121 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174 Abs. 1, 2 und 4, 176 bis 178) und 182 | 124 Straftaten gegen das Leben (§ 218) | 128 Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit (§§ 226, 226a) | 135 Falsche uneidliche Aussage, Meineid und falsche Versicherung an Eides statt (§§ 153 bis 156) | 138 Sportbetrug und Manipulation von berufssportlichen Wettbewerben | 144 Straftaten gegen die Umwelt (§§ 324, 326, 330 und 330a) a) Inhalt und Bedeutung der Vorschrift | 147 b) Schutzbereich der Tatbestände des deutschen Umweltstrafrechts | 152 c) Völkerrechtliche Rechtfertigung | 158 d) Voraussetzungen | 162 aa) Begehung in der deutschen „ausschließlichen Wirtschaftszone“ | 166 bb) Gestattung der Strafverfolgung durch völkerrechtliche Übereinkommen | 167

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§ 5 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

e)

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14.

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16.

Taten von einem Schiff aus in der Nord- oder Ostsee außerhalb der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone (Art. 12 AusfG SeeRÜbk.) | 178 Verursachung einer Nuklearexplosion (§ 328 Abs. 2 Nrn. 3, 4, Abs. 4, 5 auch in Verbindung mit § 330) | 184 Taten deutscher Amtsträger oder für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteter | 187 a) Völkerrechtliche Rechtfertigung | 189 b) Voraussetzungen | 193 c) Soldaten | 195 Taten von Ausländern als Amtsträger oder für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichtete | 196 Taten gegen einen Amtsträger, einen für den öffentlichen Dienst besonders

Verpflichteten oder einen Soldaten der Bundeswehr | 200 a) Geschützter Personenkreis | 201 b) Völkerrechtliche Rechtfertigung | 203 c) Voraussetzungen | 204 17. Straftaten im Amt (§§ 331 bis 337) | 206 a) Voraussetzungen | 207 b) Völkerrechtliche Rechtfertigung | 212 18. Bestechlichkeit und Bestechung von Mandatsträgern (§ 108e) | 213 19. Organ- und Gewebehandel (§ 18 TPG) | 219 VII. Versuch; Täterschaft und Teilnahme | 223 VIII. Geltung für tateinheitlich verwirklichte Straftatbestände | 226 IX. Prozessuales | 228

I. Bedeutung § 5 erstreckt die deutsche Strafgewalt auf bestimmte Auslandstaten. Die Vorschrift durchbricht den in § 3 verankerten Gebietsgrundsatz (Vor § 3 Rdn. 278 f) und bewirkt eine erhebliche Erweiterung des Geltungsbereichs des deutschen Strafrechts. Ebenso wenig wie bei § 6 kommt es dabei darauf an, ob die Tat nach dem am Tatort 2 geltenden Recht strafbar ist. Deutsches Strafrecht gilt also auch dann, wenn die Tat nach dem Recht des Tatorts nicht mit Strafe bedroht oder sogar erlaubt ist. Dies ist mit Blick auf die völkerrechtliche Zulässigkeit der Ausdehnung des Geltungsbereichs nicht durchweg unbedenklich (Rdn. 108, sowie Vor § 3 Rdn. 20 ff). Maßgeblich kann das Tatortrecht allerdings für (außerstrafrechtliche) Inzidenzfragen sein (vgl. Vor § 3 Rdn. 352).1 Im Unterschied zu § 6, der Taten gegen international geschützte Rechtsgüter betrifft, 3 steht bei § 5 der Inlandsbezug der Tat im Vordergrund. Der Bezug der Tat zum Inland (Rdn. 11 ff) ergibt sich dabei teilweise unmittelbar aus dem Straftatbestand, dessen Geltungsbereich auf Auslandstaten erstreckt wird (z.B. Nr. 3 Buchst. b des § 5 i.V.m. § 90), teilweise wird er in § 5 ausdrücklich vorausgesetzt (z.B. Nrn. 9 Buchst. a, 9a Buchst. b), näher Rdn. 11 ff. Die Vorschrift erfasst Auslandstaten gegen Rechtsgüter, die nach Ansicht des Ge4 setzgebers besonders schutzbedürftig sind, weil sie entweder spezifisch inländische, durch das ausländische Recht in der Regel nicht geschützte Belange betreffen (z.B. Hochverrat, Straftaten gegen die Landesverteidigung) oder weil die Gefahr besteht, dass das deutsche Strafrecht durch Verlegung des Begehungsorts in das Ausland unterlaufen wird (z.B. in den Fällen der Nrn. 9b und 10a); im zweiten Fall setzt das Gesetz eine besondere persönliche Beziehung des Täters oder des Opfers zu Deutschland oder eine sachliche Beziehung voraus, die den Bezug der Tat zum Inland begründet (Rdn. 14 f). Hinzu kommt, dass die bezeichneten Taten typischerweise am ausländischen Tatort nicht strafbar sind oder nicht wirksam verfolgt werden. 1

_____ 1

Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 6.

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Mit dem 49. StrÄndG v. 21.1.2015 (Entstehungsgeschichte) hat der Gesetzgeber die 5 u.a. in der 12. Auflage dieser Kommentierung (Rdn. 5 f) vorgetragene Kritik an der früheren Fassung der amtlichen Überschrift („Auslandstaten gegen inländische Rechtsgüter“) aufgegriffen und diese an den Regelungsinhalt von § 5 angepasst (BT-Drs. 18/2601, S. 18 f). Maßgeblich ist der Inlandsbezug der Tat (siehe auch Rdn. 11 ff), nicht des Rechtsguts. Denn weder ist der Träger der über § 5 geschützten Rechtsgüter notwendigerweise ein Inländer (vgl. etwa Nrn. 9, 14a), noch sind die über § 5 geschützten Rechtsgüter selbst durchweg ihrem Inhalt nach spezifisch „deutsch“ (vgl. etwa Nrn. 6: Freiheit, 8: sexuelle Selbstbestimmung). Nach der Gesetzesbegründung soll der „besondere“ Inlandsbezug – etwa in Abgrenzung von § 7 – darin bestehen, dass dieser an bestimmte Einzeldelikte anknüpft. Folgerungen für die Auslegung etwa des § 6 (vgl. § 6 Rdn. 2) sollen sich nicht ergeben. II. Systematik Als Folge zahlreicher Ergänzungen und Änderungen der ursprünglichen Regelung, hat sich die Vorschrift zu einer wenig übersichtlichen Sammelbestimmung entwickelt. Diese erfasst alle Auslandstaten, in denen deutsches Strafrecht unabhängig vom Recht des Tatorts gilt und die – nach Ansicht des Gesetzgebers – nicht zugleich international geschützte Rechtsgüter betreffen (sonst § 6); für Auslandstaten in hoheitsfreiem Gebiet siehe ferner § 7. Vielfach erschließt sich die Bedeutung der in § 5 getroffenen Regelungen erst im Zusammenhang mit anderen Bestimmungen des Strafanwendungsrechts. So verfolgt der Gesetzgeber in den Fällen, in denen § 5 der (aktive oder passive) Personalgrundsatz zugrunde liegt (Rdn. 10), vielfach den Zweck, Strafbarkeitslücken zu schließen, die sich daraus ergeben, dass einschlägige Straftaten nach dem Recht des Tatorts nicht strafbar sind und sich die Geltung und Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts insoweit mangels identischer Tatortnorm (§ 7 Rdn. 18 ff) nicht aus § 7 ergibt. Umgekehrt besteht bei Straftaten, die regelmäßig auch in ausländischen Rechtsordnungen mit Strafe bedroht sind, im Hinblick auf § 7 keine Notwendigkeit, sie in den Katalog des § 5 aufzunehmen. Hier übernimmt § 5 eine Ergänzungsfunktion, wenn Straftaten erfasst werden sollen, deren Tatortstrafbarkeit nicht hinreichend gesichert erscheint. Der Katalog der Nummern 2 bis 17 umfasst Straftatbestände, die dem Schutz inländischer staatlicher oder sonstiger öffentlicher Interessen einerseits oder bestimmter Individualinteressen andererseits dienen, namentlich Staatsschutzdelikte (Nrn. 2 bis 5), Wirtschaftsdelikte (Nr. 7), Sexualdelikte (Nr. 8), Delikte gegen das Leben und die körperliche Unversehrtheit (Nrn. 9, 9a), Rechtspflegedelikte (Nr. 10), Umweltdelikte (Nrn. 11, 11a) sowie weitere Straftatbestände, die sich keinem der Bereiche eindeutig oder ausschließlich zuordnen lassen (Nrn. 6, 9, 10a, 12 bis 17). Zur Erstreckung des Geltungsbereichs bedient sich der Gesetzgeber dabei verschiedener Regelungstechniken. Überwiegend zählt § 5 Straftatbestände (teilweise in Klammerzusätzen) auf, deren Geltung unabhängig vom Recht des Tatorts auch dann angeordnet wird, wenn sie im Ausland verwirklicht werden (Nrn. 2 bis 11a, 15 bis 17). Im Gegensatz dazu sind nach den Nummern 12 bis 15 alle Straftatbestände des deutschen Strafrechts anwendbar bei Straftaten, die von oder gegenüber deutschen Amtsträgern im Ausland begangen werden; damit stehen die Nummern 12 bis 15 ihrer Struktur nach näher bei § 7 als bei den übrigen Nummern des § 5. In Nummer 7 kennzeichnet das Gesetz – ähnlich wie in § 6 Nr. 5 (§ 6 Rdn. 69 ff) – die erfassten Straftaten schließlich mit einer neuartigen Wendung („Verletzung von Betriebs- oder Geschäftsgeheimnissen“), für die es an einer Entsprechung im Straftatenkatalog des StGB fehlt (siehe aber §§ 203, 355). 591

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III. Völkerrechtliche Rechtfertigung 10

Die Vorschrift lässt sich nicht auf ein einziges völkerrechtliches Geltungsprinzip (Vor § 3 Rdn. 235 ff) zurückführen. Sie fasst vielmehr Regelungen zusammen, die jeweils unterschiedliche Geltungsprinzipien verwirklichen. Während die Nummern 2, 3 Buchst. b, 4, 5 Buchst. a, 10 und 15 Buchst. c auf dem Staatsschutzprinzip (Vor § 3 Rdn. 244 ff) beruhen, verwirklichen die Nummern 6 Buchst. c 1. Alt., 7 und 14 das passive Personalitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 247 ff) und die Nummern 8, 9 Buchst. a, 9a Buchst. a und b 1. Alt., 11a, 12, 13, 15 Buchst. a und 17 das aktive Personalitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 251 ff). Nummer 6 Buchst. b und c 2. Alt., 9a Buchst. b 2. Alt. lassen sich dem (völkerrechtlich bedenklichen) passiven Domizilprinzip (Vor § 3 Rdn. 273) zuordnen (Rdn. 107 f). Dem Unionsschutzprinzip ist Nummer 15 Buchst. b zuzuordnen. Die Nummern 3 Buchst. a, 5 Buchst. b, 6 Buchst. a und c, 9 Buchst. b, und 9a Buchst. b, 15 Buchst. d und 16 beruhen auf einer Kombination der genannten Prinzipien, während Nummer 11 auf einem völkerrechtlichem Jurisdiktionstitel sui generis beruht (näher Rdn. 161). Nummer 10a lässt sich einem (völkerrechtlich nicht hinreichend abgesicherten) weiten Territorialitätsprinzip (i.S.e. Auswirkungsprinzips) zuordnen und bedarf der völkerrechtskonformen Reduktion (näher Rdn. 146). IV. Inlandsbezug als gemeinsame Voraussetzung

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Gemeinsames Kennzeichen der von § 5 erfassten Auslandstaten ist der Bezug der Tat zum Inland. In einigen Fällen ergibt sich dieser Inlandsbezug unmittelbar aus dem Straftatbestand, dessen Auslandsgeltung § 5 anordnet. Dies betrifft namentlich die Katalogtaten, die sich ausschließlich oder jedenfalls auch gegen staatliche oder sonstige öffentliche Interessen richten und deren extraterritoriale Geltung sich insoweit mit dem Staatsschutzprinzip rechtfertigen lässt (Nrn. 2, 3 Buchst. b bis 5 Buchst. a, 10, 15). In den übrigen Fällen, in denen der Tatbestand der Katalogtaten selbst „neutral“ ist und keinen unmittelbaren Bezug zum Inland aufweist, werden Auslandstaten nur erfasst, wenn ein in § 5 im Einzelnen näher konkretisierter Berührungspunkt (der Tat, des Täters, des Opfers) zum Inland vorliegt. Die Geltung für Auslandstaten nach § 5 ist insoweit von zusätzlichen Voraussetzungen abhängig, die zu den Merkmalen des Straftatbestandes hinzutreten müssen. Dies betrifft zum einen die Fälle, in denen die Vorschrift einen geografischen oder sachlichen Bezug der Tat zum Inland voraussetzt. Dies gilt für die Nummern 7 (Betrieb oder Unternehmen mit Sitz im räumlichen Geltungsbereich), 10 (Verfahren, das im räumlichen Geltungsbereich anhängig ist), 10a (Bezug zu einem Wettbewerb, der im Inland stattfindet) und 11 (Begehungsort im Bereich der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone). Zum anderen betrifft dies diejenigen Fälle, in denen das Bestehen eines besonderen personalen Bezuges (des Täters oder des Opfers) zum Inland Voraussetzung der Geltung des deutschen Strafrechts ist (Nrn. 3 Buchst. a, 5 Buchst. b, 6, 8, 9, 9a, 11a). Dies gilt insbesondere für die Katalogtaten, die sich gegen Individualrechtsgüter richten und deren extraterritoriale Geltung sich mit dem aktiven oder passiven Personalitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 247, 251) rechtfertigen lässt. Dabei wird teilweise an das formale Kriterium der Staatsangehörigkeit angeknüpft (Nrn. 6 Buchst. a, 8, 9 Buchst. a, 9a Buchst. a, 11a, 12, 15 Buchst. a und d, 16, 17: „Deutscher“); teilweise wird zusätzlich oder alternativ eine tatsächliche lebensmäßige Verbundenheit des Täters und/oder des Opfers einer Katalogtat zu Deutschland („Inland“; „räumlicher Geltungsbereich“ des StGB, § 3 Rdn. 24 ff) verWerle/Jeßberger

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langt (Nrn. 3 Buchst. a, 5 Buchst. b, 9 Buchst. b: „Lebensgrundlage“; Nrn. 6 Buchst. b und c, 9a Buchst. b: „Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt“). Die Nummern 13 und 14 verlangen einen besonderen Inlandsbezug in der Person des Täters oder Opfers: Der ausländische Täter (Nr. 13) oder das (u.U. ausländische) Opfer (Nr. 14) müssen nach deutschem Recht in ein Amts- oder sonstiges öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis bestellt worden sein. In ähnlicher Weise setzen Nr. 15 Buchst. b und c voraus, dass der Täter zur Zeit der Tat Europäischer Amtsträger ist und seine Dienststelle ihren Sitz im Inland hat (Buchst. b) oder das Opfer der Tat ein Amtsträger, ein für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteter oder ein Soldat der Bundeswehr (Buchst. c) ist. 1. „Deutscher“ und „Deutscher zur Zeit der Tat“. Verschiedene Nummern des § 5 16 verlangen, dass entweder der Täter oder das Opfer der Tat Deutscher ist oder dass beide Deutsche sind (zum Begriff des Deutschen Vor § 3 Rdn. 345; § 7 Rdn. 55 ff). Dabei erfassen die Nummern 6 Buchst. c, 8, 9 Buchst. a und b, 9a Buchst. a und b, 11a, 15 Buchst. a16 Buchst. a, 17 ausdrücklich den Fall, dass der Täter „zur Zeit der Tat“ Deutscher ist, während in den Nummern 3 Buchst. a und 5 Buchst. b lediglich vorausgesetzt wird, dass der Täter Deutscher ist, ohne dass der Zeitpunkt angesprochen wird. Dieser sprachliche Unterschied könnte Anlass geben, die Geltung des deutschen Strafrechts in den Fällen der Nrn. 3 Buchst. a und 5 Buchst. b entsprechend § 7 Abs. 2 Nr. 1 zweite Alternative auch zu bejahen, wenn der Täter die deutsche Staatsangehörigkeit erst nach der Tat erworben hat. Entscheidend wäre dann allein der Zeitpunkt der Verfolgung. Richtigerweise ist allerdings davon auszugehen, dass der Täter auch in den Fällen 17 der Nummern 3 Buchst. a und 5 Buchst. b bereits zum Zeitpunkt der Tat (§ 8) Deutscher sein muss. Allgemeinen Grundsätzen entsprechend müssen die Voraussetzungen der Strafbarkeit, soweit nichts anderes bestimmt ist, zum Zeitpunkt der Tat vorliegen. Insoweit gilt für das Merkmal „Deutscher“ nichts anderes als etwa für die Amtsträgereigenschaft in Nummer 12; auch diese muss zum Zeitpunkt der Tat gegeben sein. 2. Lebensgrundlage, Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt im Inland. Le- 18 bensgrundlage (Nrn. 3 Buchst. a, 5 Buchst. b, 9 Buchst. b) bezeichnet die Summe derjenigen Beziehungen, die den persönlichen und wirtschaftlichen Schwerpunkt im Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt ausmachen (BTDrucks. V/2860 S. 23 f). Vorübergehende und unter Umständen auch längere Auslandsaufenthalte (Diplomaten, Soldaten, Geschäftsreisende) 2 stehen der Annahme einer Lebensgrundlage im Inland grundsätzlich nicht entgegen (BGHSt 10 46); umgekehrt vermag ein vorübergehender längerer Aufenthalt in Deutschland allein noch keine Lebensgrundlage im Inland zu begründen (BTDrucks. V/2860 S. 24). Die Lebensgrundlage liegt regelmäßig dann im Inland, wenn der Täter seinen ausschließlichen Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt in Deutschland genommen hat.3 Bei Doppelwohnsitz kommt es auf den familiären, persönlichen und wirtschaftlichen Lebensmittelpunkt an.4 Ob die Lebensgrundlage im In- oder Ausland liegt, ist objektiv festzustellen. Darauf, ob der Täter möglicherweise seinen familiären, beruflichen oder wirtschaftlichen Mittelpunkt gerade deshalb ins Ausland verlegt hat, um deutsche Strafnormen zu umgehen, kommt es daher nicht an.5

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Krauth/Kurfess/Wulf JZ 1968 582. Ambos MK Rdn. 16; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 5. Fischer Rdn. 3. So auch A. Schmitz S. 182; aA Hoyer SK Rdn. 9.

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§ 5 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

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Wohnsitz (Nrn. 6 Buchst. b und c, 9a Buchst. b) ist der Ort, an dem eine Person ordnungsrechtlich gemeldet ist, also auch der Zweitwohnsitz.6 Gewöhnlicher Aufenthalt (Nrn. 6 Buchst. b und c, 9a Buchst. b) ist der Ort, an dem eine Person zur Tatzeit eine Wohnung oder Unterkunft nicht nur vorübergehend tatsächlich benutzt.7 Dabei kommt es ebenso wenig wie beim Wohnsitz darauf an, ob sich dort der familiäre, berufliche und wirtschaftliche Lebensmittelpunkt des Täters befindet.8

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3. Täterbegriff. Grundsätzlich gilt das deutsche Strafrecht gem. § 5 auch für die Teilnahme an einer fremden Tat und den Versuch der Beteiligung; auch die Anstiftung (§ 26) oder die Beihilfe (§ 27) zu einer Katalogtat des § 5 ist eine „Tat“, die „im Ausland begangen“ werden kann (Vor § 3 Rdn. 339). Nun setzen freilich die Nummern 3 Buchst. a, 5 Buchst. b, 6 Buchst. c, 8, 9 Buchst. a und b, 9a Buchst. a und b, 11a, 12, 15 Buchst. a, 16 Buchst. a und b und 17 ausdrücklich voraus, dass der „Täter“ Deutscher ist, sowie die Nummern 3 Buchst. a, 5 Buchst. b, und 9 Buchst. b zusätzlich, dass der „Täter“ seine Lebensgrundlage in Deutschland hat. Damit stellt sich die Frage, ob und inwieweit in diesen Fällen auch deutsche Teilnehmer vom Geltungsanspruch des deutschen Strafrechts erfasst sind. Da der Begriff „Täter“ im Zusammenhang des materiellen Strafrechts verwendet wird, liegt es zunächst nahe, auf den Sprachgebrauch des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches zurückzugreifen. Danach ist zwischen Tätern (§ 25) und Teilnehmern, also Anstiftern (§ 26) und Gehilfen (§ 27), zu unterscheiden. Daraus wird teilweise der Schluss gezogen, das deutsche Strafrecht erfasse in den Fällen der Nummern 3 Buchst. a, 5 Buchst. b, 6 Buchst. c, 8, 9 Buchst. a und b, 9a Buchst. a und b, 11a, 15 Buchst. a, 16 Buchst. a und b und 17 nur Taten, an denen ein Deutscher als Täter im Sinne des § 25 beteiligt ist; dass ein Deutscher zu einer Katalogtat anstiftet oder zu ihr Beihilfe leistet, soll danach nicht genügen.9 Zu bedenken ist aber, dass der Begriff des Täters im Zusammenhang mit § 5 eine andere Funktion hat als bei der Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme. In den §§ 3 ff geht es zunächst darum, einen Bezug der Tat zum Inland und zur inländischen Rechtsordnung herzustellen; nur aus diesem Grund interessiert, ob derjenige, der die Tat begangen hat, Deutscher ist oder nicht. Unter dem Gesichtspunkt des aktiven Personalitätsprinzips erlaubt das Völkerrecht die Ausübung von Strafgewalt über Auslandstaten von Inländern (Vor § 3 Rdn. 251 ff). Die Unterscheidung von Täterschaft und Teilnahme im Sinne der §§ 25 ff ist dem Völkerrecht dabei fremd (vgl. auch Ambos MK Rdn. 6). Es ist ferner zu berücksichtigen, dass die Bestimmungen des Strafanwendungsrechts auch prozessuale Weichenstellungen bewirken. Denn die Geltung des deutschen Strafrechts für Auslandstaten, die durch die §§ 4 ff begründet wird, ist (auch) eine Prozessvoraussetzung, die in jedem Stadium des Verfahrens von Amts wegen zu berücksichtigen ist (Vor § 3 Rdn. 10). Die sachlichrechtliche Unterscheidung von Täterschaft und Teilnahme kann aber von Einzelheiten des Sachverhalts abhängen, die sich bei Beteiligung mehrerer am Tatgeschehen oft erst auf Grund des Ergebnisses der Hauptverhandlung feststellen lassen. Es wäre daher wenig sachgerecht, das Vorliegen der Prozessvoraussetzung von dieser Unterscheidung abhängig zu machen. Nach allem ist ein spezifisch strafanwendungsrechtlich-prozessuales Verständnis des Merkmals „Täter“ in dem Sinne geboten, dass die Nummern 3 Buchst. a, 5

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Hoyer SK Rdn. 16; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 2. Hoyer SK Rdn. 16; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 2. Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 5. So Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 4.

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Buchst. b, 6 Buchst. c, 8, 9 Buchst. a und b, 9a Buchst. a und b, 11a, 15 Buchst. a, 16 Buchst. a und b und 17 grundsätzlich alle Deutschen bzw. Deutschen mit Lebensgrundlage im Inland erfassen, gegen die sich das Verfahren wegen einer bezeichneten Tat richtet; ob diese der Täterschaft oder nur der Teilnahme im Sinne der §§ 25 ff verdächtig sind, ist unerheblich.10 Dieses Ergebnis lässt sich auch mit dem Wortsinn vereinbaren. Zwar kann der Begriff „Täter“ im Sinne des Sprachgebrauchs des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuchs, namentlich also des § 25, verstanden werden (siehe Rdn. 22); es ist aber, dem Wortsinne nach, ebenso möglich, unter „Täter“ jeden Tatbeteiligten zu verstehen, gegen den sich das Strafverfahren richtet. Auf Grundlage dieses strafanwendungsrechtlich-prozessualen Täterbegriffs und unter Beachtung der Einschränkungen, die sich allgemein aus der Akzessorietät der Teilnahme zur Haupttat ergeben (§ 9 Rdn. 47 ff), ist bei den Nummern 3 Buchst. a, 5 Buchst. b, 6 Buchst. c, 8, 9 Buchst. a und b, 9a Buchst. a und b, 11a, 15 Buchst. a, 16 Buchst. a und b und 17 wie folgt zu unterscheiden: Ist (zumindest auch) ein Deutscher an der Haupttat als (Mit-) Täter im Sinne des § 25 beteiligt, gilt auch für einen deutschen Teilnehmer (Anstifter, Gehilfe) an dieser Auslandstat das deutsche Strafrecht.11 Entsprechend macht sich ein Deutscher, der einen anderen Deutschen im Ausland zum Organhandel (§ 5 Nr. 17) anstiftet, nach deutschem Recht strafbar (§ 18 TPG, § 26). Nach § 5 Nr. 9 Buchst. b ist der deutsche Teilnehmer (mit inländischer Lebensgrundlage) an einem Schwangerschaftsabbruch strafrechtlich verantwortlich, der an einer deutschen Schwangeren (mit Lebensgrundlage im Inland) im Ausland vorgenommenen wird; nicht aber der deutsche Arzt (als Mittäter), der den Schwangerschaftsabbruch vornimmt, aber keine Lebensgrundlage in Deutschland hat, sondern dauerhaft am ausländischen Tatort lebt; siehe hierzu auch Rdn. 131 f. Etwas Anderes ergibt sich, sofern die Abtreibung gegen den Willen der Schwangeren vorgenommen wird, da in diesem Fall nicht erforderlich ist, dass der Täter zusätzlich zur deutschen Staatsbürgerschaft seine Lebensgrundlage im Inland hat (§ 5 Nr. 9 Buchst. a). Ist dagegen kein Deutscher als Täter (§ 25) an der Auslandstat beteiligt, sind alle (Mit-) Täter also Ausländer, fehlt es grundsätzlich an einer beteiligungsfähigen, d.h. nach deutschem Recht tatbestandsmäßigen und rechtswidrigen Haupttat. Deutsches Strafrecht gilt in diesem Fall weder für die Haupttat noch für etwaige Teilnahmehandlungen eines Deutschen (oder eines Ausländers; siehe aber Rdn. 31).12 Eine deutsche Krankenschwester, die zum Schwangerschaftsabbruch eines ausländischen Arztes an einer ausländischen Schwangeren im Ausland Beihilfe leistet, macht sich danach nicht nach §§ 218, 27, 5 Nr. 9 strafbar. Die Straflosigkeit der Teilnahme ergibt sich insoweit unabhängig von der Auslegung des § 5 unmittelbar aus dem Grundsatz der Akzessorietät der Teilnahme. Zu beachten ist, dass sich für den (deutschen oder ausländischen) Teilnehmer an einer Auslandstat, der im Inland handelt, die Geltung des deutschen Strafrechts bereits aus §§ 3, 9 Abs. 2 ergibt, ohne dass es eines Rückgriffs auf § 5 bedürfte. Wer im Inland zu einer Auslandstat anstiftet oder zu ihr Beihilfe leistet, unterliegt dem deutschen Strafrecht, weil er eine Tat im Inland begeht; gem. § 9 Abs. 2 Satz 2 ist dabei die Akzessorietät von Teilnahme und Haupttat durchbrochen (§ 9 Rdn. 47 ff). Bezogen auf die Fälle der

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10 Wie hier Ambos MK Rdn. 6; ders. § 1 Rdn. 26. 11 Ambos MK Rdn. 6; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 21 für § 5 Nr. 9; unklar Fischer Rdn. 8 („nicht nur ein Teilnehmer“). 12 Lackner/Kühl/Heger Rdn. 3 für § 5 Nr. 9; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 21; Fischer Rdn. 9.

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Nummern 3 Buchst. a, 5 Buchst. b, 6 Buchst. c, 8, 9 Buchst. a und b, 9a Buchst. a und b, 11a, 15 Buchst. a, 16 Buchst. a und b und 17 bedeutet dies, dass für die Anstiftung oder Beihilfe zu einer im Ausland begangenen Katalogtat eines Ausländers dann deutsches Strafrecht gilt, wenn der Anstifter oder Gehilfe im Inland handelt. Danach macht sich ein Deutscher, der von Deutschland aus einen Ausländer zum Organhandel im Ausland anstiftet, nach § 18 TPG, §§ 3, 9 Abs. 2, 26 strafbar; der angestiftete Ausländer bleibt dagegen nach deutschem Recht straflos (arg. e § 5 Nr. 17), es sei denn die Voraussetzungen des § 7 liegen vor. Ein ausländischer Teilnehmer macht sich in den Fällen der Nummern 3 Buchst. a, 32 5 Buchst. b, 6 Buchst. c, 8, 9 Buchst. a und b, 9a Buchst. a und b, 11a, 15 Buchst. a, 16 Buchst. a und b und 17 demgegenüber selbst dann nicht nach deutschem Recht strafbar, wenn Täter (§ 25) der Haupttat ein Deutscher ist. So bleibt ein Ausländer, der einen Deutschen im Ausland zum Organhandel anstiftet, nach deutschem Recht straflos. Begründen lässt sich dies damit, dass eine völkerrechtlich tragfähige Grundlage in den Fällen, in denen die Ausübung der Strafgewalt auf Grundlage des aktiven Personalitätsprinzips (Vor § 3 Rdn. 251 ff) erfolgt, eben nur besteht, soweit Inländer für die Auslandstat strafrechtlich verantwortlich sind. Raum für eine Erfassung auch ausländischer Teilnehmer bleibt allerdings dort, wo die Geltungsbereichsnorm (zusätzlich) auf andere Geltungsprinzipien zurückgreift, etwa das Staatsschutzprinzip (bspw. Nrn. 3 Buchst. a, 5 Buchst. b, 11a, 16 Buchst. a und b) oder das passive Personalitätsprinzip (Nr. 6 Buchst. c 1. Alt.). Hier spricht einiges dafür, auch ausländische Teilnehmer in den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts dann einzubeziehen, wenn ein Deutscher als Täter (§ 25) an der Auslandstat beteiligt ist, eine beteiligungsfähige Haupttat also vorliegt. 33

4. Deutsche mit und Deutsche ohne Lebensgrundlage im Inland. Nach den Nummern 3 Buchst. a, 5 Buchst. b und 9 Buchst. b ist die Geltung des deutschen Strafrechts nicht nur davon abhängig, dass der Täter Deutscher ist, sondern zusätzlich davon, dass er seine Lebensgrundlage (Rdn. 18) in Deutschland hat. Außerhalb des Geltungsbereichs des deutschen Strafrechts liegen in diesen Fällen nicht nur einschlägige Auslandstaten von Ausländern (mit oder ohne Lebensgrundlage im Inland), sondern auch Auslandstaten von Deutschen mit Lebensgrundlage im Ausland. Der diesen Bestimmungen zugrunde liegende aktive Personalitätsgrundsatz wird 34 also durch den aktiven Domizilgrundsatz (Vor § 3 Rdn. 273) eingeschränkt. Die Kumulation von aktivem Personalitätsprinzip und aktivem Domizilprinzip ist aus völkerrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden (Vor § 3 Rdn. 27), aber kriminalpolitisch motivierter Kritik13 ausgesetzt. Gegenstand dieser Kritik ist die „Privilegierung“ von Deutschen mit Lebensgrundlage im Ausland einerseits und von Ausländern mit Lebensgrundlage im Inland andererseits, die mit Blick auf einschlägige Auslandstaten jeweils nicht in den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts einbezogen sind. 35 Die differenzierte Behandlung der genannten Fallgruppen durch den Gesetzgeber lässt sich freilich durchaus begründen. Dabei ist zwischen den einzelnen Geltungsbereichsnormen wie folgt zu unterscheiden: 36 Soweit die Geltung des deutschen Strafrechts nach § 5 Nrn. 3 Buchst. a und 5 Buchst. b voraussetzt, dass der Täter seine Lebensgrundlage in Deutschland hat, trägt die Erwägung, wonach das Zusatzerfordernis der inländischen Lebensgrundlage darauf beruht, dass die den Straftatbeständen zugrunde liegende Pflicht zur Solidarität und zur Achtung deutscher staatlicher Belange nur solchen Deutschen auferlegt werden könne,

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Vgl. Ambos MK Rdn. 17 ff; Oehler Rdn. 699 f; Zieher S. 134 ff.

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die eine über die bloße Staatsangehörigkeit hinausgehende, besondere Bindung an Deutschland besitzen.14 Eine solche Bindung fehlt bei Deutschen, die sich dauerhaft von Deutschland gelöst haben; sie besteht dagegen bei stabiler Einbindung in die inländische Gesellschaft. Diese Begründung findet eine Stütze in der Entstehungsgeschichte der betreffenden Geltungsbereichsnormen: Das Merkmal „Lebensgrundlage im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes“ geht auf den früheren § 91 Nr. 3 i.d.F. des 8. StRÄndG vom 25.6.1968 (BGBl. I S. 741) zurück. Mit ihm sollte – in Anlehnung an eine Tatbestandsbeschränkung, die § 100d Abs. 2 a.F. durch den BGH (BGHSt 10 46, 50 f) erfahren hatte – sichergestellt werden, dass nur solche Deutsche Normadressaten sind, die der in den betroffenen Tatbeständen vorausgesetzten Treue- und Achtungspflicht unterliegen.15 Vor dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik sollten insbesondere Bürger der DDR, die ursprünglich als Deutsche im Sinne der §§ 3 ff angesehen worden waren (§ 3 Rdn. 18; § 7 Rdn. 61), vom Anwendungsbereich der Vorschrift ausgenommen sein. Auf Grundlage dieser Argumentation spräche allerdings Einiges dafür, den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts de lege ferenda auch auf einschlägige Auslandstaten von Ausländern mit Lebensgrundlage im Inland zu erstrecken. Ganz in diesem Sinne nahm der BGH (BGHSt 10 46, 50) eine entsprechende „Treupflicht“ nämlich allgemein bei Personen an, die dauerhaft in Deutschland leben – also insoweit auch bei ausländischen Staatsangehörigen – oder die zum deutschen Staat – wie Beamte – in einem besonderen Schutz- und Treuverhältnis stehen. Zieher (S. 115 f) begründet die Ausklammerung von Deutschen mit Lebensgrundlage im Ausland aus dem Anwendungsbereich von § 5 Nrn. 3 Buchst. a und 5 Buchst. b nicht mit der besonderen Solidaritäts- und Achtungspflicht des Inländers, der auch lebensmäßig mit seinem Heimatstaat verbunden ist, sondern mit seiner gegenüber dem dauerhaft im Ausland lebenden Inländer gesteigerten Informations- und Einsichtsfähigkeit.16 Diese Ansicht überzeugt indes nicht: Denn es ist nicht plausibel, wieso ein Deutscher mit Lebensmittelpunkt im Ausland zwar erkennen können soll, dass der Handel mit Organen (§ 5 Nr. 17) oder die Bestechung eines Abgeordneten des Europäischen Parlaments (§ 5 Nr. 16 Buchst. a) nach deutschem Recht überhaupt strafbar ist und dies auch, wenn die Tat im Ausland begangen wird, nicht aber, dass dasselbe für die Verunglimpfung eines deutschen Verfassungsorgans (§ 5 Nr. 3 Buchst. a) gilt.17 Schließlich vermag diese Ansicht nicht hinreichend zu erklären, warum das Gesetz zwar von einem Ausländer, der sich möglicherweise nur vorübergehend im Inland aufhält und dort eine Straftat begeht, nicht aber von einem im Inland sozialisierten Deutschen, der seinen Wohnsitz in das Ausland verlegt hat und dort gegen die Norm des deutschen Strafrechts verstößt, normgerechtes Verhalten verlangt. Soweit die Geltung des deutschen Strafrechts nach § 5 Nummer 9 Buchst. b voraussetzt, dass der Täter seine Lebensgrundlage in Deutschland hat, lässt sich die differenzierte Behandlung von Deutschen mit und Deutschen ohne Lebensgrundlage im Inland mit dem Gesetzeszweck begründen; dieser liegt darin, zu verhindern, dass der Täter sich gerade deshalb in das Ausland begibt, um dort die Tat straflos begehen zu können, also ein zwischen dem In- und Ausland bestehendes Strafrechtsgefälle ausnutzt.18 Bestim-

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14 Jescheck/Weigend § 18 III 3; vgl. auch BGHSt 10 46, 50; aA Hoyer SK Rdn. 8. 15 Krauth/Kurfess/Wulf JZ 1968 582 . 16 Vgl. auch Fischer Rdn. 3. 17 Krit. auch Ambos MK Rdn. 17. 18 So vor allem Hoyer SK Rdn. 9, der allerdings den Umgehungsgedanken auch bei § 5 Nrn. 3 Buchst. a und 5 Buchst. b verwirklicht sieht; vgl. auch Ambos MK Rdn. 28; Böse NK Rdn. 26.

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mend für die Ausdehnung des Geltungsbereichs ist insoweit der Umgehungsgedanke. Die differenzierte Behandlung von Schwangerschaftsabbrüchen gegen den Willen der Schwangeren (§ 218 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1) und den übrigen Fällen des § 218 geht auf die Umsetzung europarechtlicher Vorgaben zurück (siehe hierzu Rdn. 131). V. Der Auslandsbegriff Im Ausland begangen ist die Tat nach allgemeiner Ansicht, wenn der Begehungsort nicht im Inland (§ 3 Rdn. 24 ff) liegt;19 das Gesetz ordnet dabei auch gebietshoheitsfreie Räume als Ausland ein (vgl. § 7 Abs. 1 und 2 jeweils zweite Alternative, Rdn. 42; § 7 Rdn. 51 ff). Maßgeblich für die Bestimmung des Begehungsorts ist § 9. Im Hinblick auf den allgemeinen Sprachgebrauch naheliegend wäre es, unter „Aus42 land“ nur solche Räume zu verstehen, die ausgeübtem fremdem Hoheitsrecht unterworfen sind. Wenn zum Beispiel ein Astronaut auf dem Mond tödlich verunglückte, würde es natürlichem Sprachempfinden zuwiderlaufen zu sagen, er sei im Ausland verstorben. Dies hätte indes zur Folge, dass es neben Inland und Ausland mit den gebietshoheitsfreien Räumen eine dritte Kategorie von Räumen als Tatort gäbe, für welche die Regeln über Auslandstaten jedenfalls nicht ohne weiteres gelten würden. Der deutsche Gesetzgeber hat sich jedoch gegen diese Möglichkeit entschieden. Aus § 7 Abs. 1 und 2 ergibt sich nämlich, dass der Gesetzgeber auch gebietshoheitsfreie Räume als Ausland bezeichnet. Denn die Geltung des deutschen Strafrechts für „Taten, die im Ausland begangen werden“, wird auch für Fälle angeordnet, bei denen der Tatort „keiner Strafgewalt unterliegt“. Damit sind ersichtlich Tatorte in gebietshoheitsfreien Räumen gemeint. Deren Gleichstellung in § 7 mit fremden Hoheitsgebieten hat den Vorteil, dass sie die Geltung des deutschen Strafrechts von der Klärung unter Umständen schwieriger Vorfragen unabhängig macht, so wenn der Tatort in einem Bereich liegt, dessen staats- und völkerrechtlicher Status umstritten ist. 41

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1. Räume unter fremder Gebietshoheit. Sie sind Ausland. Das gilt für fremde Staatsgebiete, also das Landgebiet einschließlich der Binnen- und Eigengewässer, des Küstenmeeres und des darüber befindlichen Luftraums (vgl. im Einzelnen § 3 Rdn. 24 ff). Fremde Schiffe (§ 4 Rdn. 30 ff), Flugzeuge (§ 4 Rdn. 50 ff) und Weltraumflugkörper (§ 4 Rdn. 16 ff) sind, auch wenn sie völkerrechtliche Immunität genießen, weil sie Staatsfahrzeuge sind, im deutschen Hoheitsgebiet nicht gleichsam verselbständigte Teile des Auslands (§ 4 Rdn. 12 ff). 2. Gebietshoheitsfreie Räume

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a) Arktis und Antarktis. Auch sie sind strafrechtlich Ausland. Für die Arktis gibt es keine besondere völkerrechtliche Regelung. Es ist davon auszugehen, dass für das Nordpolarmeer und dessen Eisdecke allgemeines Seevölkerrecht gilt. Es sind grundsätzlich die jeweils einschlägigen Regeln über das Küstenmeer (§ 3 Rdn. 41 ff) und die hohe See (Rdn. 47 ff) anzuwenden.20 Zur Frage, welchen Staaten die Gebietshoheit an den arktischen Landgebieten (Randstreifen und Inseln) zusteht, siehe Dahm/Delbrück/Wolfrum Bd. I/2 § 142; Ipsen/Epping § 5 Rdn. 40 ff.

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19 Ambos MK Rdn. 8; Lackner/Kühl/Heger Vor §§ 3–7 Rdn. 6; Böse NK 2; Sch/Schröder/Eser/Weißer Vorbem §§ 3–9 Rdn. 64; Fischer Vor §§ 3–7 Rdn. 20. 20 Seidl-Hohenveldern/Berg S. 236.

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Die Frage der Gebietshoheit über antarktischem Gebiet ist völkerrechtlich unge- 46 klärt. Ansprüche über sich teilweise überschneidende Teile der Antarktis werden unter anderem von Argentinien, Australien, Chile, Frankreich, Großbritannien, Neuseeland und Norwegen geltend gemacht.21 Der Antarktis-Vertrag vom 1.12.1959 (G vom 22.12.1978, BGBl. II S. 1517; Bek. vom 2.5.1979, BGBl. II S. 420) schreibt die Souveränitätsansprüche der genannten, sowie weiterer fünf Staaten (Belgien, Japan, der Russischen Föderation, Südafrika, USA) fest und schließt die Erhebung neuer Ansprüche aus (Art. IV); vgl. im Einzelnen Ipsen/Epping § 5 Rdn. 46. b) Hohe See. Sie beginnt an der äußersten seewärtigen Grenze des Küstenmeeres (§ 3 Rdn. 41 ff) und ist für das deutsche Strafrecht ebenso wie der darüber liegende (internationale) Luftraum Ausland. Die Regeln des Völkerrechts über die hohe See sind im Wesentlichen im Genfer Übereinkommen über die Hohe See von 1958 (Vor § 3 Rdn. 94) und im Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vom 10.12.1982 (Vor § 3 Rdn. 94) niedergelegt. Hohe See sind danach alle Teile des Meeres, die nicht zum Küstenmeer oder zu den inneren Gewässern eines Staates (§ 3 Rdn. 32) gehören (Art. 1 HoSeeÜbk.; Art. 8b Abs. 1 Satz 1 SeeRÜbk.). Der hohen See zuzurechnen ist auch, allerdings unter besonderer Bezeichnung, das „Gebiet“, d.h. der Meeresboden und der Meeresuntergrund jenseits der Grenzen des Bereichs nationaler Hoheitsbefugnisse (Art. 1 Abs. 1 Nr. 1 SeeRÜbk., vgl. auch Art. 137, 141 SeeRÜbk.). Die ausschließlichen Wirtschaftszonen (Rdn. 55 ff) hat das Seerechtsübereinkommen aus dem Begriff der hohen See ausgegliedert und einer besonderen Rechtsordnung unterstellt (Art. 55, 86 SeeRÜbk.; Herdegen § 31 Rdn. 7). Die hohe See steht allen Staaten offen (Art. 87 Abs. 1 Satz 1 HoSeeÜbk.). Kein Staat darf den Anspruch erheben, irgendeinen Teil der hohen See seiner Souveränität zu unterstellen (Art. 89 SeeRÜbk., Art. 2 Abs. 1 Satz 1 HoSeeÜbk.). Die Freiheit der hohen See umfasst die Freiheiten der Schifffahrt, des Überflugs, der Fischerei und der Verlegung unterseeischer Kabel und Rohrleitungen (Art. 87 Abs. 1 Satz 3 SeeRÜbk., Art. 2 Abs. 1 Satz 3 HoSeeÜbk.). Der nutzungsrechtliche Aspekt der Freiheit der hohen See wird allerdings durch die Einrichtung ausschließlicher Wirtschaftszonen eingeschränkt (näher Rdn. 54 ff). Da nach anerkannten Regeln des Völkerrechts die hohe See der Souveränität der Staaten entzogen ist, unterliegt sie auch keiner Strafgewalt. Wenn Tatort einer strafbaren Handlung ausschließlich die hohe See ist, kann also kein Staat die Aburteilung des Täters mit der Begründung beanspruchen, der Tatort unterliege seiner Strafgewalt. Gleichwohl ist eine Straftat in einem solchen Fall nicht jeglicher Strafgewalt entzogen. Strafverfolgung ist möglich, wenn sie nach dem Recht des Staates, der den Täter verantwortlich machen will, auf ein anderes völkerrechtliches Geltungsprinzip als das Territorialitätsprinzip gestützt werden kann (Vor § 3 Rdn. 241 ff).22 Die Strafgewalt wird sich in diesen Fällen häufig mit dem Flaggenprinzip, mitunter auch mit dem aktiven oder passiven Personalitätsprinzip begründen lassen (Vor § 3 Rdn. 243, 247, 251). Teil der hohen See und damit gebietshoheitsfreie Räume sind auch die sich an die Küstengewässer anschließenden Anschlusszonen (Verdross/Simma § 1087). Sie sind Ausland ungeachtet des Umstandes, dass das Völkerrecht dem Küstenstaat dort besondere Kontrollrechte gewährt. Im Einzelnen gilt hierzu Folgendes:

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Ipsen/Epping § 5 Rdn. 45 ff. Oehler Rdn. 422.

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In einer an sein Küstenmeer (§ 3 Rdn. 41 ff) seewärts angrenzenden Zone, die als Anschlusszone (contiguous zone) bezeichnet wird, hat der Küstenstaat zwar keine Souveränität, er hat aber bestimmte (polizeiliche) Kontrollrechte, um Verstöße gegen seine Zollund sonstigen Finanzgesetze, Einreise- oder Gesundheitsgesetze und gegen seine sonstigen Vorschriften in seinem Hoheitsgebiet oder in seinem Küstenmeer zu verhindern, ferner um solche Verstöße zu ahnden, wenn sie in seinem Hoheitsgebiet oder in seinem Küstenmeer begangen worden sind (Art. 33 Abs. 1 SeeRÜbk., Art. 24 Abs. 1 und 2 KüMÜbk., vgl. auch Herdegen § 31 Rdn. 6). Die von Ausländern in der Anschlusszone verübten Verstöße gegen die bezeichneten Vorschriften darf der Küstenstaat dagegen grundsätzlich nicht bestrafen (Oehler Rdn. 416). Die Anschlusszone darf sich nicht weiter als 24 Seemeilen über die Basislinie hinaus erstrecken, von der aus die Breite des Küstenmeeres gemessen wird (Art. 33 Abs. 2 SeeRÜbk.).

c) Ausschließliche Wirtschaftszone. Diese ist ein seewärts jenseits des Küstenmeeres (§ 3 Rdn. 41 ff) gelegener und an dieses angrenzender Raum, der einer besonderen Rechtsordnung unterliegt (Art. 55 SeeRÜbk.).23 Eine solche Zone darf sich nicht weiter als 200 Seemeilen von der Basislinie erstrecken, von der aus die Breite des Küstenmeeres gemessen wird (Art. 57 SeeRÜbk.). Das Küstenmeer gehört – anders als die Anschlusszone – nicht zur ausschließlichen Wirtschaftszone. Küstenmeer, Anschlusszone und ausschließliche Wirtschaftszone dürfen zusammengenommen nicht mehr als 200 Seemeilen breit sein; eingehend zur Rechtsordnung der Wirtschaftszone Gündling S. 114 ff. Das Seerechtsübereinkommen (Vor § 3 Rdn. 94) hat die ausschließliche Wirtschafts55 zone aus dem Begriff „hohe See“ ausgegliedert (Art. 86 SeeRÜbk.), um sie einer besonderen Rechtsordnung zu unterstellen (Art. 55 ff SeeRÜbk.). Sie wird insofern im Schrifttum24 nach ihrer Rechtsnatur völkerrechtlich zutreffend als „Zone sui generis“ bezeichnet, die – mit gewissen praktischen Konsequenzen – weder zur hohen See noch zum Küstenmeer gehört. Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass die Bestimmungen über die hohe See subsidiär auch in der ausschließlichen Wirtschaftszone anzuwenden sind (Art. 58 Abs. 2 SeeRÜbk.). 56 Das durch das Seerechtsübereinkommen neu geschaffene Rechtsinstitut der ausschließlichen Wirtschaftszone gibt dem Küstenstaat unter anderem souveräne Rechte zur Erforschung und Ausbeutung, Erhaltung und Bewirtschaftung der lebenden und nicht lebenden natürlichen Ressourcen der Gewässer über dem Meeresboden, des Meeresbodens und seines Untergrundes, ferner Hoheitsbefugnisse in Bezug auf die Errichtung und Nutzung von künstlichen Inseln, von Anlagen und Bauwerken sowie in Bezug auf den Schutz und die Bewahrung der Meeresumwelt (Art. 56 Abs. 1 SeeRÜbk.). Bei Ausübung seiner souveränen Rechte, die sich auf die lebenden Ressourcen in der ausschließlichen Wirtschaftszone beziehen, darf der Küstenstaat auch gerichtliche Verfahren einleiten (Art. 73 Abs. 1 SeeRÜbk.). Strafen für Verstöße gegen Fischereigesetze dürfen in der Regel Haft nicht einschließen (Art. 73 Abs. 3 SeeRÜbk.). Die Bundesrepublik hat durch Proklamation vom 25.11.1994 mit Wirkung vom 57 1.1.1995 in der Nordsee und in der Ostsee vor der seewärtigen Grenze ihres Küstenmeeres eine ausschließliche Wirtschaftszone errichtet (Bek. vom 29.11.1994, BGBl. II S. 3769);

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23 Überblicksartig Wamser StraFo 2010 279; näher Churchill/Lowe The Law of the Sea, 3. Aufl. (1999) S. 160 f. 24 Vgl. nur Churchill/Lowe The Law of the Sea, 3. Aufl. (1999) S. 165; Dahm/Delbrück/Wolfrum Bd. I/2 § 116 II. 2.

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freilich ist die Zone bislang nicht gegenüber allen Nachbarstaaten festgelegt.25 Dies ist bedenklich, weil es dadurch möglich ist, dass sich im Einzelnen nicht genau bestimmen lässt, ob der Begehungsort innerhalb oder außerhalb des Bereichs der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone und damit innerhalb oder außerhalb des Geltungsbereichs des deutschen Strafrechts (vgl. § 5 Nr. 11) liegt. Die deutsche ausschließliche Wirtschaftszone ist Ausland. Dies ergibt sich schon aus der Regelung in § 5 Nr. 11, die unverständlich wäre, wenn der Gesetzgeber den Bereich der ausschließlichen Wirtschaftszone als Inland betrachten würde. Danach werden bestimmte Delikte gegen die Umwelt (§§ 324, 326, 330 und 330a), die im Bereich der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone begangen werden, als Auslandstaten nach deutschem Recht mit Strafe bedroht, soweit völkerrechtliche Übereinkommen zum Schutze des Meeres die Verfolgung als Straftaten gestatten (näher Rdn. 147 ff). Ausland sind auch die Fischereizonen, die einem Küstenstaat außerhalb seines Küstenmeeres zustehen; vgl. hierzu Fischerei-Übereinkommen vom 9.3.1964 (G vom 15.9.1969, BGBl. II S. 1897; Bek. vom 30.4.1970, BGBl. II S. 259). Zahlreiche Küstenstaaten haben ausschließliche Fischereizonen von 200 Seemeilen proklamiert.26 Die Bundesrepublik Deutschland errichtete durch Proklamation eine solche Zone in der Nordsee (Bek. vom 22.12.1976, BGBl. II S. 1999) und eine später noch zu bestimmende Fischereizone in der Ostsee (Bek. vom 2.6.1978, BGBl. II S. 867). Sie übt in diesen Zonen hoheitliche Rechte aus und trifft geeignete Maßnahmen gegen Zuwiderhandlungen. Der Rat der EG beschloss am 3.11.1976, dass die Staaten der Gemeinschaft ihre Fischereizonen durch abgestimmte Maßnahmen auf 200 Seemeilen in der Nordsee und im Nordatlantik (jeweils zum 1.1.1977) sowie in der Ostsee (zum 1.1./15.8.1978) ausdehnen. Durch die Etablierung des Konzeptes der ausschließlichen Wirtschaftszone im modernen Völkerrecht ist die Errichtung von Fischereizonen allerdings überholt.27 Das sich weltweit rasch durchsetzende seevölkerrechtliche Regime der ausschließlichen Wirtschaftszone gibt dem Küstenstaat auch das alleinige Recht zur Ausbeutung der lebenden natürlichen Ressourcen (Rdn. 56); eingehend zum Verhältnis von Fischereizonen und ausschließlichen Wirtschaftszonen Dahm/Delbrück/Wolfrum Bd. I/1 § 81 II. 2. f; Ipsen/ Heintschel von Heinegg § 45 Rdn. 25 ff.

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d) Festlandsockel. Der Festlandsockel (continental shelf) eines Küstenstaates um- 62 fasst den jenseits seines Küstenmeeres (§ 3 Rdn. 41 ff) gelegenen Meeresboden und den Meeresuntergrund der Unterwassergebiete, die sich über die gesamte natürliche Verlängerung seines Landgebietes bis zur äußeren Kante des Festlandrandes, oder – dort, wo die äußere Kante des Festlandrandes in geringerer Entfernung als 200 Seemeilen gemessen von der Niedrigwasserlinie verläuft – bis zu dieser 200 Seemeilengrenze erstrecken (Art. 76 Abs. 1 SeeRÜbk.).28 Der Wasser- und Luftraum über dem Meeresgrund gehören zur hohen See.29 Im Unterschied zur ausschließlichen Wirtschaftszone, die außerhalb des Küstenmeeres innerhalb der bezeichneten 200-Seemeilen-Grenze auch die Meeresgewässer umfasst, betrifft der Festlandsockel nur den Meeresboden und den Mee-

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25 Ipsen/Gloria § 53 Rdn. 10; Fischer Vor §§ 3–7 Rdn. 14. 26 Geiger S. 285; Gündling S. 20 ff, 321 f; Oehler Rdn. 419a. 27 Ipsen/Heintschel von Heinegg § 45 Rdn. 26; Herdegen § 31 Rdn. 7. 28 Ipsen/Heintschel von Heinegg § 45 Rdn. 11; Herdegen § 31 Rdn. 9; siehe ferner das Genfer Übereinkommen über den Festlandsockel vom 29.4.1958 (Vor § 3 Rdn. 95), das freilich von kollidierenden Bestimmungen des Seerechtsübereinkommens verdrängt wird (Art. 311 Abs. 1 SeeRÜbk.). 29 Seidl-Hohenveldern/Rojahn S. 87.

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resuntergrund, dies aber unter Umständen bis zu einer Breite von 350 Seemeilen abzüglich der Küstenmeerbreite (näher Art. 76 Abs. 5 SeeRÜbk.). Der Festlandsockel ist Ausland.30 Der Küstenstaat übt bei der Erforschung und Ausbeutung des Festlandsockels zwar Hoheitsrechte über ihn aus (Art. 77 Abs. 1 SeeRÜbk., Art. 2 Abs. 1 FestLSÜbk.). Diese Rechte berühren nach ausdrücklicher Regelung aber weder den Rechtsstatus der über dem Festlandsockel befindlichen Gewässer noch den des Luftraums darüber (Art. 78 Abs. 1 SeeRÜbk., Art. 3 FestLSÜbk.). Sie erweitern das nationale Küstenmeer also nicht. Doch darf der Küstenstaat künstliche Inseln, Anlagen und Bauwerke auf dem Festlandsockel unterhalten und sie mit einer Sicherheitszone von höchstens 500 m umgeben. Solche Einrichtungen unterstehen allein seiner Hoheitsgewalt, ohne dass sie die Rechtsstellung von Inseln hätten oder die Abgrenzung des Küstenmeeres beeinflussten (Art. 80 SeeRÜbk., Art. 5 Abs. 2 bis 5 FestLSÜbk.). Ihr Status lässt sich also mit dem von Schiffen eigener Staatszugehörigkeit (§ 4 Rdn. 5) vergleichen. Das wirtschaftliche Interesse der Küstenstaaten am Festlandsockel gilt vor allem den Erdöl- und Erdgasvorräten unter dem Festlandsockel, zu deren Ausbeutung sie Bohrinseln und andere Plattformen (zum Beispiel Landeplätze für Hubschrauber) errichten, welche auf Stelzen oder freischwimmend auf dem Meeresboden verankert sind.31 Dem internationalen strafrechtlichen Schutz solcher Anlagen dienen das Übereinkommen zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Seeschifffahrt und das zugehörige Protokoll, beide vom 10.3.1988 (Vor § 3 Rdn. 180). Obwohl die Rechte des Küstenstaates am Festlandsockel weder von einer tatsächlichen oder angenommenen Besitzergreifung noch von einer ausdrücklichen Erklärung abhängen (Art. 77 Abs. 3 SeeRÜbk., Art. 2 Abs. 3 FestLSÜbk.), hat die Bundesregierung durch eine Proklamation über die Erforschung und Ausbeutung des deutschen Festlandsockels solche Rechte geltend gemacht (Bek. vom 22.1.1964, BGBl. II S. 104). Bis zu seiner Änderung durch das Ausführungsgesetz zum Seerechtsübereinkommen 1982/ 1994, vom 6.6.1995 (BGBl. I S. 777) bestimmte § 5 Nr. 11 die Geltung des deutschen Strafrechts für bestimmte Umweltstraftaten, die „im Bereich des deutschen Festlandsockels“ begangen werden (Entstehungsgeschichte). Die Abgrenzung des Festlandsockels ist ferner Gegenstand der folgenden völkerrechtlichen Vereinbarungen: Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Dänemark über die Abgrenzung des Festlandsockels der Nordsee in Küstennähe vom 9.6.1965 und Protokoll zu diesem Vertrag vom selben Tage (G vom 22.4.1966, BGBl. II S. 205; Bek. vom 15.6.1966, BGBl. II S. 545); Vertrag vom 28.1.1971 zwischen Dänemark, Großbritannien, den Niederlanden und der Bundesrepublik über die Abgrenzung des Festlandsockels unter der Nordsee (G vom 23.8.1972, BGBl. II S. 881; Bek. vom 17.11.1972, BGBl. II S. 1616); Protokoll vom 28.1.1971 zwischen der Bundesrepublik, Dänemark und den Niederlanden zu diesem Vertrag. e) Weltraum. Er ist der Teil des Alls, der sich – von der Erde wegführend – an den Luftraum über dem Hoheitsgebiet der Staaten (§ 3 Rdn. 51 ff) oder über den gebietshoheitsfreien Räumen (wie der hohen See, Rdn. 47 ff) anschließt. In welcher Höhe über der Erde er anfängt, ist umstritten (vgl. auch § 3 Rdn. 52; Ipsen/Heintze § 48 Rdn. 1 ff). Nach inzwischen wohl herrschender Meinung verläuft die Demarkationslinie zwischen Luftund Weltraum dort, wo auf unterster Ebene ein Satellitenverkehr (d.h. mindestens ein voller 360°-Erdumlauf) technisch möglich ist (unterste Satellitenflughöhe). Das ist nach

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Sch/Schröder/Eser/Weißer Vorbem §§ 3–9 Rdn. 61. Seidl-Hohenveldern/Rojahn S. 87.

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dem gegenwärtigen Stand der Technik in Höhe von 80 bis 110 km über dem Meeresspiegel der Fall.32 Der Weltraum hat einen rechtlichen Status, der dem der hohen See (Rdn. 47 ff) ähnlich ist.33 Er ist im strafrechtlichen Sinne Ausland. Nach dem Weltraumvertrag von 1967 (§ 4 Rdn. 17) besteht eine friedlichen Zwecken 68 dienende Weltraumfreiheit (Art. 1 WeltRV). Der Weltraum einschließlich des Mondes und anderer Himmelskörper „unterliegt keiner nationalen Aneignung durch Beanspruchung der Hoheitsgewalt, durch Benutzung oder Okkupation oder durch andere Mittel“ (Art. 2 WeltRV). Der einzelne Staat behält aber die Hoheitsgewalt und Kontrolle über einen „in den Weltraum gestarteten Gegenstand“ und dessen Besatzung, während sie sich im Weltraum oder auf einem Himmelskörper befinden (Art. 8 Satz 1 WeltRV). Für Rechtsfragen, die mit der Erschließung des Weltraums zusammenhängen, sind 69 außer dem Weltraumvertrag (§ 4 Rdn. 17) und dem Mondvertrag von 1979 (§ 4 Rdn. 17) folgende völkerrechtliche Vereinbarungen von Bedeutung:34 Übereinkommen über die Rettung und Rückführung von Raumfahrern sowie die Rückgabe von in den Weltraum gestarteten Gegenständen (Astronautenvertrag) vom 22.4.1968 (G vom 14.5.1971, BGBl. II S. 237; Bek. vom 1.8.1972, BGBl. II S. 1105); Übereinkommen über die völkerrechtliche Haftung für Schäden durch Weltraumgegenstände vom 29.3.1972 (G vom 29.8.1975, BGBl. II S. 1209; Bek. vom 23.4.1976, BGBl. II S. 585); Übereinkommen zur Gründung einer Europäischen Weltraumorganisation vom 30.5.1975 (G vom 23.11.1976, BGBl. II S. 1861; Bek. vom 5.6.1981, BGBl. II S. 371). f) Mond. Seine Rechtsstellung ist völkerrechtlich im Weltraumvertrag (Rdn. 68) und 70 im Mondvertrag (Rdn. 69) geregelt. Auch er ist Ausland im Sinne der §§ 4 ff, weil er nach völkerrechtlichen Grundsätzen souveräner staatlicher Hoheitsgewalt entzogen ist. Die Freiheit zur Erforschung und Nutzung des Mondes ist anerkannt (Art. 1 71 WeltRV). Wie der Weltraum unterliegt der Mond „keiner nationalen Aneignung durch Beanspruchung der Hoheitsgewalt, durch Benutzung oder Okkupation oder durch andere Mittel“ (Art. 2 WeltRV, Art. 11 MondV). Doch behalten die Vertragsstaaten die Hoheitsgewalt und Kontrolle über ihre Besatzungen, Raumfahrzeuge, Geräte, Anlagen, Stationen und Einrichtungen auf dem Mond (Art. 8, 12 WeltRV; Geiger S. 727). All dies gilt entsprechend in Bezug auf andere Himmelskörper. g) „Failed States“. Gebietshoheitsfreie Räume, also Ausland, sind ferner auch sol- 72 che („Staats“-) Gebiete, in denen Staatsgewalt – etwa infolge eines Bürgerkrieges – nicht mehr ausgeübt wird (siehe auch § 7 Rdn. 53).35 Dies traf in der jüngeren Vergangenheit – phasenweise – etwa auf den Südsudan und Somalia zu. VI. Voraussetzungen im Einzelnen Nach § 5 gilt das deutsche Strafrecht, unabhängig vom Recht des Tatorts, für im Ein- 73 zelnen aufgeführte Straftaten, die im Ausland begangen werden. Zu den Begriffen „Tat“, „Geltung“ und „deutsches Strafrecht“ siehe Vor § 3 Rdn. 333 ff, 347 f. Nummer 1 (Vorbereitung eines Angriffskrieges) ist durch Art. 2 Abs. 4 Nr. 2 des G zur Änderung des Völkerstrafgesetzbuches vom 22.12.2016 (BGBl. I S. 3150), in Kraft seit dem 1.1.2017, aufgehoben worden; zeitgleich wurde das Verbrechen der Aggression in das VStGB aufgenommen

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Ipsen/Heintze § 48 Rdn. 2; Herdegen § 32 Rdn. 1. Strupp/Schlochauer/Wessels III S. 831, 832. Vgl. Geiger S. 273 ff. Ambos MK Rdn. 18; Ipsen/Epping § 5 Rdn. 141.

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(§ 13 VStGB) und in § 1 Satz 2 VStGB eine spezielle Geltungsbereichsregelung getroffen (hierzu Jeßberger ZIS 2015 514). 74

1. Hochverrat (§§ 81 bis 83). Nach § 5 Nr. 2 gilt das deutsche Strafrecht für Hochverrat gegen den Bund oder ein Land einschließlich entsprechender Vorbereitungshandlungen (§ 83), wenn die Tat im Ausland begangen wird; ob der Täter Deutscher oder Ausländer ist, spielt ebenso wenig eine Rolle wie die Strafbarkeit der Tat nach dem Recht des Tatorts. Diese Ausdehnung der deutschen Strafgewalt rechtfertigt sich aus dem Staatsschutzprinzip (Vor § 3 Rdn. 244 ff). 75 Den Bedenken, die allgemein gegen die Strafbarkeit der bloßen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens (§ 83) erhoben werden können,36 werden durch den Umstand, dass über § 5 Nr. 2 auch Auslandstaten von Ausländern erfasst werden, keine neuen Gesichtspunkte hinzugefügt. Insbesondere ist es aus strafanwendungsrechtlicher Sicht nicht geboten, in Anlehnung an § 80 die Herbeiführung einer konkreten Gefahr zu verlangen (aA Ambos MK Rdn. 14). 76 Der praktische Anwendungsbereich von § 5 Nr. 2 ist schmal. Typischerweise wird nämlich der zum Tatbestand der §§ 81 bis 83 gehörende Erfolg, also die Beeinträchtigung des Bestandes der Bundesrepublik Deutschland, der territorialen Integrität eines Landes oder die Änderung der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik oder eines Landes, tatsächlich oder nach der Vorstellung des Täters im Inland eintreten, so dass sich die Geltung des deutschen Strafrechts in der Regel bereits aus §§ 3, 9 Abs. 1 dritte oder vierte Alternative ergibt (siehe auch Rdn. 83, 139).37 Die Tat unterliegt dann als Inlandstat dem deutschen Strafrecht. 77

2. Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates (§§ 89, 90, 90a Abs. 1 und 90b).38 Nach § 5 Nr. 3 gilt deutsches Strafrecht für bestimmte Taten der Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates, wenn sie im Ausland begangen werden. Die Vorschrift erfasst die verfassungsfeindliche Einwirkung auf die Bundeswehr und öffentliche Sicherheitsorgane (§ 89), die Verunglimpfung des Bundespräsidenten (§ 90) oder des Staates und seiner Symbole (§ 90a Abs. 1) sowie die verfassungsfeindliche Verunglimpfung von Verfassungsorganen (§ 90b). Die Geltung des deutschen Strafrechts gem. § 5 Nr. 3 Buchst. a (§§ 89, 90a Abs. 1 und 78 § 90b) setzt voraus, dass der Täter (Rdn. 20 ff) Deutscher (Vor § 3 Rdn. 345; § 7 Rdn. 55 ff) ist und seine Lebensgrundlage (Rdn. 18) in Deutschland (zum Begriff des „räumlichen Geltungsbereichs“ § 3 Rdn. 12, 22) hat. Nur dann kommt es auf das Tatortrecht nicht an, andernfalls gilt deutsches Strafrecht nur unter den Voraussetzungen des § 7. 79 Demgegenüber gilt das deutsche Strafrecht gem. § 5 Nr. 3 Buchst. b (§§ 90, 90a Abs. 2) ohne die genannten Einschränkungen (Rdn. 78), also auch für die einschlägigen Auslandstaten von Deutschen mit Lebensgrundlage im Ausland und von Ausländern. § 5 Nr. 3 beruht auf dem Staatsschutzprinzip (Vor § 3 Rdn. 244 ff), wobei die Reich80 weite des deutschen Strafrechts in den Fällen des Buchst. a durch Kumulation mit dem aktiven Personalitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 251 ff) und dem aktiven Domizilprinzip (Vor § 3 Rdn. 273) eingeschränkt ist.

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36 Sch/Schröder/Stree/Sternberg-Lieben § 83 Rdn. 8. 37 Vgl. auch BayObLG NJW 1957 1327, 1328 zu § 4 Abs. 3 Nr. 2 a.F.; ferner Hoyer SK Rdn. 6; Sch/Schröder/ Eser/Weißer Rdn. 12. 38 Langrock Der besondere Anwendungsbereich der Vorschriften über die Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates (§§ 84–91 StGB) (1972).

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Während der Vorschrift aus völkerrechtlicher Sicht daher keine Bedenken begeg- 81 nen, ist die kriminalpolitische Berechtigung der unterschiedlichen Reichweite deutscher Strafgewalt für die in Buchst. a aufgeführten Straftaten einerseits und die von Buchst. b erfassten Straftaten andererseits zweifelhaft (vgl. auch Ambos MK Rdn. 17 f; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 13). Hierzu ist Folgendes zu bemerken: Anhaltspunkte für Unterschiede hinsichtlich der Schwere der jeweils erfassten Taten, welche die unterschiedlich weitreichende Strafgewalt begründen könnte, finden sich im Gesetz nicht.39 Dies zeigt sich etwa mit Blick auf § 90a (Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole) Abs. 1 einerseits und Abs. 2 andererseits sowie bei § 90 (Verunglimpfung des Bundespräsidenten) einerseits und § 90b (Verunglimpfung von Verfassungsorganen) andererseits. Im Gegenteil: Die angedrohte Höchststrafe bei §§ 89 und 90b, die jeweils nur dem eingeschränkten Staatsschutzprinzip (Rdn. 80) unterliegen, liegt sogar oberhalb derjenigen, die für § 90a Abs. 1, bei dem das deutsche Strafrecht uneingeschränkt auch auf Auslandstaten von Ausländern Anwendung finden soll, angedroht ist. Auch aus den Gesetzesmaterialien ergeben sich keine Hinweise, welche Überlegungen der Differenzierung zugrunde liegen (vgl. etwa 2. Bericht BTDrucks. V/4095 S. 5). Auch wenn die gesetzliche Differenzierung somit wenig überzeugend ist, dürfte es allerdings nicht willkürlich sein, wenn der Gesetzgeber bei der Verunglimpfung des Bundespräsidenten und bei bestimmten Formen der Verunglimpfung des Staates ein erhöhtes Schutzbedürfnis im Hinblick auf das Ansehen Deutschlands im Ausland bejaht. 3. Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit (§§ 94 bis 100a). § 5 82 Nr. 4 erstreckt die deutsche Strafgewalt auf Spionagehandlungen, die sich gegen die Bundesrepublik richten und im Ausland durchgeführt werden. Deutsches Strafrecht gilt danach für Straftaten im Zusammenhang mit dem Schutz von Staatsgeheimnissen (§§ 94 bis 98), geheimdienstliche Agententätigkeit (§ 99), die Aufnahme oder die Unterhaltung friedensgefährdender Beziehungen (§ 100) sowie landesverräterische Fälschung (§ 100a), wenn die Tat im Ausland begangen wird; ob der Täter Deutscher oder Ausländer ist, spielt keine Rolle, soweit nicht die Straftatbestände selbst, wie § 100 („Deutscher, der seine Lebensgrundlage im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes hat“), entsprechende Einschränkungen enthalten. Wird die Spionage durch ausländische Nachrichtendienste von exterritorialen Gebieten aus begangen (Botschaften und Kasernen in Deutschland), handelt es sich um Inlandstaten (§ 3 Rdn. 68), so dass deutsches Strafrecht insoweit ohne weiteres gem. § 3 anwendbar ist. Soweit es sich bei den erfassten Straftaten, wie bei §§ 94 bis 97 und 100a, um konkrete 83 Gefährdungsdelikte („Gefahr eines schweren Nachteils für die Bundesrepublik Deutschland“) handelt, wird regelmäßig ein Tatort im Inland (§ 9 Abs. 1 dritte Alternative) begründet sein (BayObLG NJW 1957 1327, 1328 zu § 4 Abs. 3 Nr. 2 a.F.; siehe auch § 9 Rdn. 27); eines Rückgriffs auf § 5 Nr. 4 bedarf es dann nicht; deutsches Strafrecht gilt gem. § 3 (siehe auch Rdn. 76, 139). Entsprechendes gilt für §§ 98 und 99, die richtiger Ansicht nach als abstrakte Gefährdungsdelikte auch einen Erfolgsort im Sinne des § 9 Abs. 1 begründen können (§ 9 Rdn. 28 ff), der einen inländischen Tatort begründen könnte. § 5 Nr. 4 ist durch das Staatsschutzprinzip (Vor § 3 Rdn. 244 ff) gedeckt (BVerfGE 92 84 277, 317 f, 321). Dies gilt auch, soweit die Spionagetätigkeit nicht politische oder militärische, sondern wirtschaftliche Ziele40 verfolgt. Tatbestandliche Voraussetzung ist nämlich in jedem Fall, dass die Tätigkeit ein Staatsgeheimnis der Bundesrepublik Deutschland

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AA Gribbohm LK11 Rdn. 12. Dazu Jerouschek/Kölbel NJW 2001 1601, 1602.

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betrifft (§ 93) bzw. sich „gegen die Bundesrepublik Deutschland“ richtet (§§ 99, 100, 100a). Die Vorschrift hat den folgenden praktischen und völkerrechtlichen Hintergrund: Seit jeher betreiben die Staaten einerseits Auslandsaufklärung durch eigene Nachrichtendienste und schützen sich andererseits mit dem Mittel des innerstaatlichen Strafrechts gegen Verrat und Spionage. Dies geschieht nicht nur im Krieg, sondern auch in Friedenszeiten und im Allgemeinen unabhängig davon, ob die Tat im Inland oder im Ausland, von eigenen Staatsangehörigen oder von Ausländern begangen wird (BGHSt 37 305, 307).41 Durch das Völkerrecht sind die Spionage selbst sowie ihre Abwehr mit dem Mittel des Strafrechts grundsätzlich nicht verboten (BVerfGE 92 277, 317 f, 328 f; BGHSt 37 305, 308).42 Ein ausländischer Spion kann sich als solcher allerdings weder auf völkerrechtliche Immunität (Vor § 3 Rdn. 378 ff) noch auf die sog. „Act of State“-Doktrin berufen (BVerfGE 95 96, 129f; 92 277, 321 f). Das Verfolgungshindernis der Immunität kann aber dann in Betracht kommen, wenn die nachrichtendienstliche Tätigkeit von Diplomaten ausgeübt wird (Vor § 3 Rdn. 402). Vor diesem Hintergrund hat die deutsche Justiz seit jeher Spionage gegen die Bundesrepublik verfolgt (BGHSt 32 104). Praktische Bedeutung hat § 5 Nr. 4 vor allem im Zusammenhang mit Spionage erlangt, die vom Gebiet der ehemaligen DDR gegen die Bundesrepublik begangen wurde.43 Ihren Höhepunkt fanden die Bemühungen um Verfolgung der innerdeutschen Spionage nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik.44 Für die Fälle, in denen Spionagehandlungen vom Boden der DDR oder ihr befreundeter Staaten aus von Personen begangen wurden, die Staatsbürger der DDR waren und bis zum Wirksamwerden des Beitritts ihre Lebensgrundlage in der DDR hatten, hat das BVerfG allerdings ein Verfolgungshindernis angenommen (BVerfGE 92 277, 325 ff).45 In solchen Fällen verstößt die Strafverfolgung nach den §§ 94 und 99 gegen Art. 2 GG in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der auf dem Rechtsstaatsprinzip beruht (BVerfGE 92 277, 317 ff). Dagegen ist das Bundesverfassungsgericht46 Rechtsauffassungen nicht gefolgt, wonach eine Strafverfolgung der Mitarbeiter des (DDR-) Ministeriums für Staatssicherheit das Völkerrecht verletze.47 Die in Art. 7 Abs. 1 des 4. StRÄndG vom 11.6.1957 (BGBl. I S. 597) i.d.F. des 8. StRÄndG vom 25.6.1968 (BGBl. I S. 741) geregelte Erweiterung des Schutzbereichs der §§ 93 ff um Geheimnisse der nichtdeutschen Vertragsstaaten des Nordatlantikpaktes und ihrer in Deutschland stationierten Truppen (hierzu auch Vor § 3 Rdn. 298) betrifft den in § 5 Nr. 4 festgelegten Geltungsbereich der Tatbestände nicht. Die Tatbestandserweiterung bezieht sich nach Art. 7 Abs. 4 des 4. StRÄndG nämlich nur auf Straftaten, die im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes begangen werden (Art. 7 Abs. 4). Es bleibt also dabei, dass deutsches Strafrecht auf Auslandstaten gem. § 5 Nr. 4

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41 Dazu BGH NStZ 1991 429; Simma/Volk NJW 1991 871. 42 Folz/Soppe NStZ 1996 579 f; Gusy NZWehrR 1984 197 f; Strupp/Schlochauer/Hinz III S. 298, 300; einschränkend Simma/Volk NJW 1991 871 f. 43 BGHSt 32 104; weitere Literaturhinweise bei Gribbohm LK11 vor Rdn. 13. 44 BGHSt 39 260 = NStZ 1994 282 m. Anm. Träger; BGHSt 38 75; 37 305 = JZ 1991 713 m. Anm. Classen; BGH NStZ 1996 129; zusf. Lampe FG BGH, S. 449; Marxen/Werle Bilanz S. 216 ff; eingehend Thiemrodt Strafjustiz und DDR-Spionage (2000) sowie Marxen/Werle (Hrsg.) Strafjustiz und DDR-Unrecht, Dokumentation, Bd. 4/1. und 2. Teilband (2004). 45 Hierzu Marxen/Werle Bilanz S. 138, 232; Simma/Volk NJW 1991 871, 873; Thiemrodt Strafjustiz und DDR-Spionage (2000) S. 145 ff. 46 BVerfGE 92 277, 320 ff. 47 KG NJW 1991 2501 = JR 1991 426 m. Anm. Volk; Kasper MDR 1994 545 f; eingehend hierzu Gribbohm LK11 Rdn. 17 f; Marxen/Werle Bilanz S. 126 ff, 231 f; Thiemrodt Strafjustiz und DDR-Spionage (2000), S. 116 ff.

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nur anwendbar ist, wenn Staatsgeheimnisse der Bundesrepublik Deutschland betroffen sind. 4. Straftaten gegen die Landesverteidigung (§§ 109, 109a, 109d bis 109h).48 89 Nach § 5 Nr. 5 gilt das deutsche Strafrecht für Straftaten gegen die Landesverteidigung, wenn die Tat im Ausland begangen wird. Das Gesetz unterscheidet hier – wie bei § 5 Nr. 3 (Rdn. 78 f) – zwischen Fällen, in denen gem. Buchst. a Auslandstaten unabhängig vom Tatortrecht ohne Rücksicht darauf mit Strafe bedroht sind, ob sie von Deutschen oder von Ausländern begangen werden (§§ 109, 109e, 109f und 109g), und solchen, in denen gem. Buchst. b unabhängig vom Tatortrecht (sonst § 7) nur Deutsche (Vor § 3 Rdn. 345, § 7 Rdn. 55) mit Lebensgrundlage im Inland (Rdn. 18) als Täter (Rdn. 20 ff) einer Auslandstat erfasst werden (§§ 109a, 109d und 109h). Unter völkerrechtlichem Aspekt ist die Regelung des § 5 Nr. 5 durch das Staats- 90 schutzprinzip (Vor § 3 Rdn. 244 ff) gerechtfertigt. Bei Buchst. b treten ergänzend das aktive Personalitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 251 ff) und das aktive Domizilprinzip (Vor § 3 Rdn. 273) hinzu. Der Grund für die jeweils unterschiedliche Reichweite der deutschen Strafgewalt ist 91 aus kriminalpolitischer Perspektive ähnlich angreifbar wie bei § 5 Nr. 3 (Rdn. 81; Ambos MK Rdn. 20). 5. Straftaten gegen die persönliche Freiheit (§§ 234a, 235 Abs. 2 Nr. 2, 237, 241a).49 Nach § 5 Nr. 6 Buchst. a gilt das deutsche Strafrecht für Verschleppung und politische Verdächtigung, wenn die Tat im Ausland begangen wird. Ob Täter ein Deutscher oder Ausländer ist, ist unerheblich. Voraussetzung ist allerdings, dass sich die Tat gegen einen Deutschen (Vor § 3 Rdn. 345; § 7 Rdn. 55 ff) richtet, der im Inland seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt (Rdn. 19) hat. Auf das Tatortrecht kommt es dann an. Geht die tatbestandsmäßige Gefährdung in eine Verletzung der geschützten Rechtsgüter über, wird die Tat regelmäßig auch nach dem Recht des Tatorts strafbar sein (Freiheitsberaubung, Körperverletzung), so dass sich dann die Geltung des deutschen Strafrechts aus § 7 Abs. 1 ergibt; in diesem Fall werden über § 5 Nr. 6 Buchst. a hinaus auch Taten gegen deutsche Opfer mit Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland erfasst. Soweit § 234a Abs. 1 voraussetzt, dass der Täter einen anderen davon abhält, vom Ausland nach Deutschland zurückzukehren, schränkt § 5 Nr. 6 Buchst. a den Anwendungsbereich des Straftatbestandes insofern ein, als dieser nur anwendbar ist, wenn ein Deutscher mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland an der Rückkehr gehindert wird. Dies ergibt sich daraus, dass § 234a Abs. 1 in der genannten Alternative bereits tatbestandlich als Auslandstat konzipiert ist (2. Bericht, BTDrucks. V/4095 S. 5). Eine gewisse praktische Bedeutung hat die Vorschrift im Zusammenhang mit Taten in der ehemaligen DDR erlangt. Die Kriminalisierung von Verschleppungen in die oder aus der DDR war auch ein zentrales Motiv für die Einfügung der Norm in das Strafgesetzbuch.50 Mit Rücksicht auf den Schutzzweck des § 5 Nr. 6 Buchst. a hat der BGH (BGHSt 40 125, 130 ff m. Anm. Seebode JZ 1995 417; 32 293, 294 f; 30 1, 7 f) angenommen, dass eine in

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Zieher S. 104 ff. Zieher S. 126 ff. KG NJW 1956 1570; Endemann NJW 1966 2386; Wagner MDR 67 629.

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der DDR verübte Verschleppung oder politische Verdächtigung, die einen Bürger der DDR betrifft, zwar keine Inlandstat im Sinne des § 3 sei, sich aber gleichwohl – im Hinblick auf den Betroffenen – als Auslandstat gegen einen Deutschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im „Inland“ (nämlich in der DDR) richte.51 Auf welchem Geltungsprinzip die Vorschrift beruht – und damit ob und wie sie sich völkerrechtlich rechtfertigen lässt – ist umstritten. In Rechtsprechung und Literatur wird § 5 Nr. 6 Buchst. a teilweise dem Staatsschutzgrundsatz,52 teilweise dem Weltrechtspflegegrundsatz53 zugeordnet. Gegen beide Auffassungen sprechen allerdings gewichtige Gründe. Gegen eine Rechtfertigung durch das Staatsschutzprinzip (Vor § 3 Rdn. 244 ff) spricht schon, dass die §§ 234a, 241 kein staatliches Rechtsgut schützen, sondern allein Individualrechtsgüter des Betroffenen, namentlich seine Freiheit und seine körperliche Unversehrtheit (vgl. die Erläuterungen zu § 234a und § 241). Es fehlt damit an der völkerrechtlich vorausgesetzten Nähe der Tat zum Bestand und zur Integrität der Bundesrepublik Deutschland. Der Versuch, die Norm auf das Universalitätsprinzip zu stützen, vermag nicht zu überzeugen, weil das Völkerrecht eine universelle Strafbefugnis für Taten gem. §§ 234a, 241a nicht kennt (Vor § 3 Rdn. 256 ff). Eine Ausnahme hiervon besteht nur, wenn die Tat im Rahmen eines systematischen oder großangelegten Angriffs gegen die Zivilbevölkerung oder im Zusammenhang mit einem bewaffneten Konflikt begangen wird, und deshalb (zugleich) als Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen eingeordnet werden kann (z.B. gem. §§ 7 Abs. 1 Nr. 9; 8 Abs. 3 Nr. 1 VStGB);54 in diesem Fall beansprucht das deutsche Strafrecht gem. § 1 VStGB zu Recht universelle Geltung. Der Umstand, dass die Humanitätsverbrechen des Gesetzes Nr. 10 des Alliierten Kontrollrates (KRG 10, Abl. des Kontrollrats in Deutschland Nr. 3 v. 31.1.1945, S. 50 f) als Vorbild für die Schaffung der §§ 234a, 241a, 5 Nr. 6 Buchst. a dienten,55 vermag für sich genommen eine Rechtfertigung durch das Universalitätsprinzip nicht zu tragen. Zuordnen lässt sich die Vorschrift richtigerweise allein dem passiven Personalitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 247 ff), das durch das passive Domizilprinzip („Wohnsitz“, „gewöhnlicher Aufenthalt“; Vor § 3 Rdn. 273) ergänzt wird.56 Damit ist § 5 Nr. 6 Buchst. a aus völkerrechtlicher Sicht hinreichend gerechtfertigt. Ist man entgegen der hier vertretenen Auffassung (Vor § 3 Rdn. 249) der Ansicht, dass sich das passive Personalitätsprinzip nur in seiner eingeschränkten Form, also unter der Voraussetzung einer identischen Tatortnorm, mit dem Völkerrecht vereinbaren lasse (Vor § 3 Rdn. 249), wird § 5 Nr. 6 Buchst. a dem Verdikt der Völkerrechtswidrigkeit (so Ambos MK Rdn. 21) nur durch eine völkerrechtskonforme Auslegung entgehen können. Konkret wäre dann zusätzlich zu verlangen, dass eine den §§ 234a, 241 entsprechende Norm im Tatortrecht besteht oder eine sonstige völkerrechtliche Erlaubnisnorm, etwa das aktive Personalitätsprinzip, im Einzelfall eingreift. Derart eingeschränkt wäre § 5 Nr. 6 Buchst. a allerdings weitgehend überflüssig, da die einschlägigen Fälle über § 7 Abs. 1 oder gegebenenfalls über § 7 Abs. 2 Nr. 1 abgedeckt wären, und dies, ohne dass es

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51 Dagegen Eser FG BGH IV, S. 1, 17 ff . 52 Henrich S. 40 f; Jescheck/Weigend § 18 III 3 („Einschlag des Staatsschutzprinzips“); wohl auch Schultz GA 1966 199. 53 BGHSt 40 125, 130 („Universalitätsgrundsatz“); Zieher S. 127 ff. 54 Dazu Werle Rdn. 686 ff, 935 ff. 55 Maurach NJW 1952 163 f. 56 BGHSt 30 1, 3; s. auch BGHSt 32 293, 294 („Schutzprinzip“, gemeint ist ersichtlich das passive Personalitätsprinzip); Ambos MK Rdn. 21; Baumann/Weber/Mitsch/Einsele § 5 Rdn. 48; Hoyer SK Rdn. 16; Jescheck/Weigend § 18 III 3; Satzger § 5 Rdn. 66; wohl auch Oehler Rdn. 678.

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auf die einschränkenden Voraussetzungen des § 5 Nr. 6 Buchst. a („Wohnsitz“ oder „gewöhnlicher Aufenthalt“ im Inland) ankäme. Zugleich würde eine solche einschränkende Auslegung dem Zweck von § 5 Nr. 6 Buchst. a zuwiderlaufen: Erfasst werden sollen gerade diejenigen Auslandstaten gegen Deutsche, gegen die das ausländische Recht einen hinreichenden strafrechtlichen Schutz versagt (vgl. E 1962 Begr., BRDrucks. 200/62 S. 111; Zieher S. 129). Nach § 5 Nr. 6 Buchst. b gilt das deutsche Strafrecht für die sog. passive Entführung eines Kindes, also für Fälle, in denen das im Ausland befindliche Kind vom Täter nicht an den Sorgeberechtigten (Eltern, Elternteil, Pfleger, Vormund) herausgegeben wird. Maßgeblich für das Bestehen der Personensorge ist deutsches Recht, einschließlich des deutschen internationalen Privatrechts. 57 Voraussetzung der Geltung des deutschen Strafrechts ist, dass entweder das Kind oder der Sorgeberechtigte, gegen den sich die Tat richtet, im Inland seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt (Rdn. 19) hat (BTDrucks. 13/8587 S. 27). Ob der Täter, das Kind oder der Sorgeberechtigte Deutsche oder Ausländer sind und ob die Tat nach dem am Tatort geltenden Recht strafbar ist, ist nach dem Wortlaut der Vorschrift unerheblich (siehe aber Rdn. 105 ff). Inwieweit den in § 235 Abs. 2 genannten Personen überhaupt ein Umgangsrecht zusteht, das durch die Entziehung beeinträchtigt sein könnte, ist für die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts nicht von Bedeutung.58 Ähnlich wie § 5 Nr. 6 Buchst. a (Rdn. 94) schränkt auch § 5 Nr. 6 Buchst. b den bereits im Tatbestand des § 235 Abs. 2 Nr. 2 angelegten (extraterritorialen) Geltungsanspruch des deutschen Strafrechts ein, indem nur Straftaten erfasst werden, die sich gegen eine Person richten, die zum Zeitpunkt der Tat ihren Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland hat. Das in § 235 Abs. 2 Nr. 2 mit Strafe bedrohte Verhalten („Vorenthalten im Ausland“) erfasst auch und gerade Auslandstaten. Die Vorschrift begegnet teilweise völkerrechtlichen Bedenken und bedarf einer völkerrechtskonformen Reduktion (allgemein dazu § 6 Rdn. 25 ff). Soweit § 5 Nr. 6 Buchst. b Taten gegen deutsche Staatsangehörige erfasst, rechtfertigt sich die Norm aus dem passiven Personalitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 247 ff). Einbezogen sind aber auch Taten gegen ausländische Staatsangehörige, sofern sie vom Bundesgebiet ins Ausland verbracht worden sind oder sich dorthin begeben haben. Diese Konstellation ist vom passiven Personalitätsprinzip nicht gedeckt. Erfasst wird nämlich auch die im Ausland begangene Vorenthaltung eines ausländischen Kindes gegenüber einem ausländischen Sorgeberechtigten, sofern nur entweder das Kind oder der Sorgeberechtigte einen Wohnsitz, wobei ein Zweitwohnsitz genügt (Rdn. 19), im Inland hat oder sich gewöhnlich dort aufhält. Nicht überzeugend ist der Versuch, § 5 Nr. 6 Buchst. b mit dem Staatsschutzprinzip (Vor § 3 Rdn. 244 ff) zu rechtfertigen (so aber Ambos MK Rdn. 24). Die Tat richtet sich gegen das elterliche oder sonst familienrechtliche Sorgerecht und das vorenthaltene Kind (BTDrucks. 13/8597 S. 38).59 Selbst wenn man – was zweifelhaft ist – dem Staatsschutzprinzip auch den Schutz der inländischen Wohnbevölkerung als „kollektivem Teil des staatlichen Bestandes“ zurechnet (Ambos MK Rdn. 24), so richtet sich die Tat nach § 235 Abs. 2 Nr. 2 jedenfalls nicht gegen die Wohnbevölkerung als solche, sondern nur gegen ein einzelnes Individuum, das Teil dieser Wohnbevölkerung ist. Soweit Taten gegen ausländische Staatsangehörige erfasst werden, kann § 5 Nr. 6 Buchst. b allein dem passiven Domizilprinzip zugeordnet werden (Vor § 3 Rdn. 273; so

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BGH NStZ 2015 338, 340; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 3; Fischer Rdn. 6a. BGH NStZ-RR 2016 213. BGHSt 44 355, 357; Lackner/Kühl/Heger § 235 Rdn. 1.

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auch Satzger § 5 Rdn. 66). Dieses ist als solches völkerrechtlich indes (noch) nicht vollständig anerkannt, obwohl sich ein Bedürfnis nach seiner Anerkennung aus den zunehmenden Migrationsbewegungen ergibt. Zu weit geht die Vorschrift deshalb, wenn sie auch in denjenigen Fällen Anwendung finden soll, in denen ausländische Staatsangehörige in der Bundesrepublik Deutschland nur vorübergehend einen Wohnsitz genommen haben. Hier ist es nicht gerechtfertigt, das deutsche Strafrecht auf die in der Norm genannten Sachverhalte zu erstrecken. Insoweit bedarf die Vorschrift der völkerrechtskonformen Reduktion (allgemein dazu § 6 Rdn. 25 ff; vgl. auch Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 17). Deutsches Strafrecht kann in diesem Fall für Auslandstaten gem. § 235 Abs. 2 Nr. 2 nur gelten, wenn der Täter, das Kind oder der Inhaber der Personensorge Deutscher ist oder die Voraussetzungen des Stellvertretungsprinzips (Vor § 3 Rdn. 267 ff; § 7 Rdn. 90 ff) vorliegen, insbesondere also die Tat nach dem Recht des Tatorts mit Strafe bedroht ist. Zweifelhaft, aber letztlich wohl völkerrechtskonform, ist dagegen die Anwendung des deutschen Strafrechts in denjenigen Fällen, in denen das ausländische Opfer ein langjähriges Domizil in Deutschland hatte, beispielsweise hier aufgewachsen und zur Schule gegangen ist oder zur Schule geht. Hier kommen neben dem Gedanken des passiven Domizilprinzips die Nähe zum passiven Personalitätsprinzip und der Schutz des Kindeswohls ins Spiel. Das Völkerrecht steht einer solchen vorsichtigen Ausdehnung des Geltungsbereichs auf Auslandstaten gegen dauerhaft im Inland lebende Ausländer wohl nicht entgegen. Nach § 5 Nr. 6 Buchst. c gilt das deutsche Strafrecht für Zwangsverheiratung (§ 237) im Ausland, wenn der Täter zur Zeit der Tat Deutscher (Rdn. 16; Vor § 3 Rdn. 345) ist oder wenn sich die Tat gegen eine Person richtet, die zur Zeit der Tat ihren Wohnsitz (Rdn. 19) oder gewöhnlichen Aufenthalt (Rdn. 19) im Inland hat. Dies gilt auch dann, wenn die Tat nach dem Recht des Tatorts nicht mit Strafe bedroht ist. Bereits vom Wortlaut der Norm sind die Fälle nicht erfasst, in denen Personen von einem Nicht-Deutschen zwangsverheiratet werden, die zwar Deutsche sind, jedoch nicht ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben. Die Erstreckung deutscher Strafgewalt in Fällen des § 237 ist durch das 49. StRÄndG vom 21.1.2015 in den Katalog von § 5 Nr. 6 eingefügt worden und dient der Umsetzung von Art. 44 Abs. 1 Buchst. d des Übereinkommens des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, sogenannte IstanbulKonvention (Vor § 3 Rdn. 231), vgl. BTDrucks. 18/2601 S. 19. Soweit § 5 Nr. 6 Buchst. c die Erstreckung deutschen Strafrechts von der Staatsangehörigkeit des Täters abhängig macht, wird an das aktive Personalitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 251 ff) angeknüpft, in den übrigen Fällen an das passive Domizilprinzip („Wohnsitz“, „gewöhnlicher Aufenthalt“; Vor § 3 Rdn. 273). Insoweit, insbesondere mit Blick auf die Verwirklichung des passiven Domizilprinzips in Fällen eines nur vorübergehenden Wohnsitzes im Inland, gelten die Ausführungen bei Rdn. 108 entsprechend. Von der Möglichkeit eines Vorbehalts gem. Art. 78 Abs. 2 der Istanbul-Konvention, die Regelung des Art. 44 Abs. 1 Buchst. e nicht oder nur in bestimmten Fällen oder unter bestimmten Bedingungen anzuwenden, hat Deutschland keinen Gebrauch gemacht. Dennoch hat der deutsche Gesetzgeber, anders als in Art. 44 Abs. 1 Buchst. e vorgesehen, die Erstreckung deutscher Strafgewalt nicht für Fälle angeordnet, in denen die Tat von einer Person begangen wird, die zwar nicht die deutsche Staatsangehörigkeit hat, deren gewöhnlicher Aufenthalt sich jedoch in Deutschland befindet. Von einer Anknüpfung an das aktive Domizilprinzip hat der Gesetzgeber somit abgesehen (vgl. auch Sch/ Schröder/Eser/Weißer Rdn. 18). Werle/Jeßberger

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6. Verletzung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen.60 § 5 Nr. 7 schützt Be- 114 triebs- und Geschäftsgeheimnisse gegen Auslandstaten unabhängig vom Recht des Tatorts. Erfasst sind insbesondere Verletzungs- und Verwertungshandlungen gem. §§ 202a, 115 202b, 203, 204. Nach § 23 Abs. 7 des Gesetzes zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen (GeschGehG) vom 18.4.2019 (BGBl. I S. 466) gilt § 5 Nr. 7 für die Verletzung von Geschäftsgeheimnissen (§ 23 GeschGehG) entsprechend. Ferner genügt es, wenn die Verletzung der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse durch die Begehung eines allgemeinen Eigentums- oder Vermögensdeliktes wie §§ 242, 246, 266 erfolgt, soweit die Tat der Beschaffung von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen dient.61 a) Voraussetzungen. Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse sind Tatsachen, die nach dem erkennbaren Willen des Betriebsinhabers geheimgehalten werden sollen, die ferner nur einem begrenzten Personenkreis bekannt und damit nicht offenkundig sind, und hinsichtlich derer der Betriebsinhaber deshalb ein berechtigtes Geheimhaltungsinteresse hat, weil eine Aufdeckung der Tatsachen geeignet wäre, ihm wirtschaftlichen Schaden zuzufügen (BGH wistra 1995 266 f); vgl. auch die Legaldefinition in § 2 Nr. 1 GeschGehG, die das (subjektive) Merkmal des Geheimhaltungswillens durch ein objektives Merkmal (Geheimhaltungsmaßnahmen) ersetzt. Unter einem Geheimnis ist im Übrigen jedes Verfahren zu verstehen, das einem Gewerbebetrieb so eigentümlich ist, dass es in anderen Betrieben nicht oder nur vereinzelt angewendet wird, und das so wichtig ist, dass es unbekannt bleiben soll, weil das Bekanntwerden die Wettbewerbsfähigkeit des Betriebs beeinträchtigen könnte (RGSt 48 12, 14 f). Insoweit besteht zwischen Geschäftsund Betriebsgeheimnis kein Unterschied (RGSt 31 90, 91). Das Geschäftsgeheimnis bezieht sich auf den allgemeinen Geschäfts- und Handelsverkehr, das Betriebsgeheimnis auf den technischen Betrieb. Steuergeheimnisse werden – entgegen dem Vorschlag des § 5 Nr. 12 E 1962 – von § 5 Nr. 7 nicht erfasst und sind grundsätzlich nicht gegen Auslandstaten geschützt (siehe aber Nrn. 12, 13 i.V.m. § 355).62 Ob der Täter, der Eigentümer des Betriebes oder Unternehmens oder der über das Geheimnis Verfügungsberechtigte Deutscher oder Ausländer ist, ist für die Frage der Geltung des deutschen Strafrechts unerheblich. Geschützt sind aber nur Geheimnisse von Betrieben und Unternehmen, die eine formalisierte Verbindung zum Inland aufweisen, nämlich Betriebe, die in Deutschland (im „räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes“, § 3 Rdn. 12, 22) liegen und dort ihre Produktions- und Geschäftstätigkeit entfalten. Bloße „Briefkastenadressen“ genügen nicht. Auch ist der Begriff des Betriebs in § 5 Nr. 7 mit dem des § 14 Abs. 2 nicht identisch.63 Unternehmen, die ihren Firmen- oder Geschäftssitz (§ 106 HGB, § 5 AktG, §§ 4a GmbHG) im Inland haben. In wessen Eigentum sie stehen, ist nicht maßgebend, auch Unternehmen, deren Geschäftskapital ganz oder teilweise Ausländern zusteht, fallen darunter; umgekehrt werden Unternehmen mit Sitz im Ausland nicht etwa deswegen erfasst, weil sie sich ganz oder teilweise in den Händen deutscher Anteilseigner befinden (2. Bericht, BTDrucks. V/4095 S. 5). Unternehmen, deren Sitz zwar im Ausland liegt, die aber, etwa als „Tochtergesellschaft“, von einem Unternehmen mit Sitz im räumlichen Geltungsbereich abhängig sind

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Bruch NStZ 1986 259; Oehler Rdn. 583; Zieher S. 131 ff. Zieher S. 133; diesem folgend: Ambos MK Rdn. 26; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 3; aA Böse NK Rdn. 20. 2. Bericht, BTDrucks. V/4095 S. 5. Fischer Rdn. 7.

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und mit diesem einen Konzern bilden. Indessen fallen sogenannte Gleichordnungskonzerne (§ 18 Abs. 2 AktG), bei denen rechtlich selbstständige Unternehmen unter einheitlicher Leitung zusammengefasst werden, nicht darunter, sondern nur solche ausländischen Tochtergesellschaften, die mit einem deutschen Mutterunternehmen zu einem einheitlichen Konzern im Sinne des § 18 Abs. 1, §§ 329 ff AktG verbunden sind (2. Bericht, BTDrucks. V/4095 S. 5). b) Völkerrechtliche Rechtfertigung. § 5 Nr. 7 beruht auf dem passiven Personalitätsprinzip, das grundsätzlich auch Taten erfasst, die sich gegen inländische juristische Personen mit inländischer Staatszugehörigkeit richten (Kindhäuser LPK Rdn. 6). Nach anderer Auffassung soll die Vorschrift auf dem Staatsschutzprinzip (Vor § 3 122 Rdn. 244 ff) beruhen.64 Eine Stütze findet diese Ansicht in den Gesetzesmaterialien, wonach § 5 Nr. 7 primär den Schutz der deutschen Volkswirtschaft gegen Angriffe aus dem Ausland bezwecke (BTDrucks. IV/650 S. 111; E 1962 Begr., BRDrucks. 200/62 S. 111). Argumentiert wird, die Verletzung der Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse könne sich unter Umständen negativ auf den wirtschaftlichen Erfolg des betroffenen Betriebes oder Unternehmens auswirken und damit mittelbar dessen Fähigkeit beeinträchtigen, zum (deutschen) Bruttosozialprodukt beizutragen, Arbeitsplätze in Deutschland zu schaffen und Steuern an den deutschen Fiskus zu zahlen.65 Dem entspreche es, dass die Eigentumsverhältnisse am Unternehmen ohne Bedeutung für die Geltung des deutschen Strafrechts sind. Der Versuch, das Staatsschutzprinzip für die völkerrechtliche Rechtfertigung des § 5 123 Nr. 7 fruchtbar zu machen, vermag indes nicht zu überzeugen: Es lässt sich rechtlich nicht überzeugend begründen, dass die Wirtschaft eines Staates als solche vom Staatsschutzprinzip umfasst sein soll. Durch das Staatsschutzprinzip rechtfertigen lässt sich der Einsatz des Strafrechts nur zur Abwehr von solchen Angriffen, die sich unmittelbar gegen die Existenz und die Integrität des Staates und seiner Funktionen richten (Vor § 3 Rdn. 244). Das Prinzip ist überdehnt, wenn es zur Rechtfertigung möglicher und höchst mittelbarer Beeinträchtigungen der staatlichen Volkswirtschaft herangezogen wird. Andernfalls ließe sich unter dem Gesichtspunkt des Staatsschutzprinzips die Strafgewalt auf nahezu jedes im Ausland zum Nachteil eines inländischen Unternehmens begangene und am ausländischen Tatort möglicherweise straflose Wirtschaftsdelikt ausdehnen. 121

7. Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174 Abs. 1, 2 und 4, 176 bis 178 und 182).66 Nach § 5 Nr. 8 gilt das deutsche Strafrecht für bestimmte Sexualstraftaten, wenn diese von Deutschen im Ausland begangen werden; ob die Tat auch nach dem Recht des Tatorts strafbar ist oder nicht ist unerheblich. Erfasst werden der sexuelle Missbrauch von Kindern (§§ 176 bis 176b), von Jugendlichen (§ 182) und von Schutzbefohlenen (§ 174 Abs. 1, 2 und 4), letzterer jedoch nur, soweit der Missbrauch durch Handlungen „am“ Schutzbefohlenen erfolgt oder dieser dazu bestimmt wird, Handlungen am Täter vorzunehmen. § 5 Nr. 8 erfasst ferner den sexuellen Übergriff, die sexuelle Nötigung und die Vergewaltigung (§ 177) sowie deren erfolgsqualifizierte Begehungsweise, die in der leichtfertigen Verursachung der Todesfolge liegt (§ 178). 125 Die bisherige Beschränkung auf Sexualstraftaten mittlerer Schwere ist durch das 49. StRÄndG aufgehoben worden. Die dadurch bedingte Erweiterung des Straftatenkatalo-

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64 Henrich S. 42; Hoyer SK Rdn. 18; Jescheck/Weigend § 18 III 3 („Einschlag des Staatsschutzprinzips“); Oehler Rdn. 583; Zieher S. 131 f; unklar Ambos MK Rdn. 1 (passives Personalitätsprinzip) einerseits, Rdn. 26 (Schutz der deutschen Volkswirtschaft) andererseits. 65 Ambos MK Rdn. 27; Zieher S. 132. 66 Schroeder NJW 1993 2581.

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ges des § 5 dient der Umsetzung europäischer Vorgaben zum Sexualstrafrecht (Art. 17 Abs. 1 Buchst. b i.V.m. Abs. 4 der Richtlinie des Europäischen Parlamentes und des Rates zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2004/68/JI (Vor. § 3 Rdn. 226), Art. 25 Abs. 1 Buchst. d i.V.m. Abs. 4 des Übereinkommens des Europarats zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch (Vor § 3 Rdn. 226) und Art. 44 Abs. 1 Buchst. d i.V.m. Abs. 3 des Übereinkommens des Europarates zu Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, sog. Istanbul-Konvention (Vor. § 3 Rdn. 231), BTDrucks. 18/2601 S. 18). Nach diesen Vorschriften haben die Mitgliedsstaaten ihre Gerichtsbarkeit zu begründen, wenn die dort genannten Straftaten von einem ihrer Staatsangehörigen begangen werden. Zwar galt das deutsche Strafrecht vor Inkrafttreten des 49. StRÄndG für schwere Sexualstraftaten in vielen Fällen bereits aufgrund von § 7 Abs. 2 Nr. 1; die Strafrechtserstreckung setzte jedoch voraus, dass die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist oder der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt. Diese Voraussetzungen sind mit der Gesetzesänderung entfallen. Die Vorschrift beruht auf dem aktiven Personalitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 251 ff). In- 126 soweit ist die Bestimmung völkerrechtlich unbedenklich.67 Auch wenn das Ziel der Vorschrift aus kriminalpolitischer Sicht nicht zu beanstan- 127 den ist, ist sie ohne praktische Bedeutung geblieben, zumal es nach wie vor an vertraglichen Rechtshilferegelungen mit den vorrangig betroffenen Tatortstaaten fehlt.68 8. Straftaten gegen das Leben (§ 218). Nach § 5 Nr. 9 Buchst. a und b gilt das deutsche Strafrecht für den Abbruch der Schwangerschaft (§ 218), wenn die Tat im Ausland begangen wird. Ob die Tat nach dem Recht des Tatorts strafbar ist oder nicht, ist ohne Bedeutung. Nicht erfasst werden Verstöße gegen §§ 218b, 219a, 219b. Die Vorschrift verfolgt einen doppelten Zweck: Zum einen soll verhindert werden, dass grenznah im Inland lebende Deutsche (Ärzte, Krankenschwestern) im Ausland straflos Schwangerschaftsabbrüche vornehmen; zum anderen soll der Entwicklung entgegen gewirkt werden, dass deutsche Schwangere sich ins Ausland begeben, um ihre Schwangerschaft dort straflos abzubrechen; insoweit richtet sich die Vorschrift gegen ein angebliches „Reichenprivileg“.69 Die Vorschrift erweitert den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts über § 7 hinaus gerade in den Fällen, in denen die ausländische Rechtsordnung eine grundsätzlich andere Haltung zur Legalität des Schwangerschaftsabbruchs einnimmt (vgl. 2. Bericht, BTDrucks. V/4095 S. 5). Ist die Tat auch am Tatort mit Strafe bedroht, gilt deutsches Strafrecht gem. § 7 Abs. 2 Nr. 1 über die Fälle des § 5 Nr. 9 Buchst. a hinaus auch für Taten von Deutschen mit Lebensgrundlage im Ausland sowie – gem. § 7 Abs. 1 – auch für den Schwangerschaftsabbruch eines Ausländers an einer deutschen Schwangeren. Voraussetzung ist sowohl in Fällen des § 5 Nr. 9 Buchst. a, als auch in Fällen des § 5 Nr. 9 Buchst. b jedenfalls, dass der Täter (oder die Täterin; zum Begriff Rdn. 20 ff) zur Zeit der Tat Deutscher (Vor § 3 Rdn. 345; § 7 Rdn. 55 ff) ist. Sofern die Abtreibung nicht gegen den Willen der der Schwangeren (§ 218 Abs. 2 Satz. 2 Nr. 1, Abs. 4 Satz) vorgenommen wird, ist darüber hinaus erforderlich, dass der Täter seine Lebensgrundlage

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67 Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 20; krit Böse NK Rdn. 25; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 3; Oehler Rdn. 139. 68 Krit. daher Schomburg/Lagodny StV 1994 393, 395; Vogler FS Grützner, S. 158 („kriminologische Naivität“ des Gesetzgebers); vgl. auch Zieher S. 135. 69 E 1962 Begr., BRDrucks. 200/62 S. 111; 2. Bericht, BTDrucks. V/4095 S. 5; Hoyer SK Rdn. 24; krit. Zieher S. 137 f.

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(Rdn. 18) in Deutschland hat (§ 5 Nr. 9 Buchst. b). Diese Differenzierung geht auf das des 49. StRÄndG zurück, mit welchem die Vorgaben aus Art. 44 Abs. 1 Buchst. b Abs. 3 i.V.m. Art. 39 Buchst. a des Übereinkommens des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Vor § 3 Rdn. 231) umgesetzt wurden (BTDrucks. 18/2601 S. 20 f). Diese sehen vor, dass die Vertragsparteien ihre Gerichtsbarkeit über Zwangsabtreibungen bereits dann begründen, wenn diese von einem ihrer Staatsangehörigen begangen werden. Unabhängig vom Recht des ausländischen Tatorts gilt das deutsche Strafrecht damit, wenn eine deutsche Schwangere im Ausland eine Selbstabtreibung an sich vornimmt oder eine Fremdabtreibung an sich vornehmen lässt, oder wenn ein Deutscher, in der Regel ein deutscher Arzt, im Ausland die Schwangerschaft einer (deutschen oder ausländischen) Schwangeren abbricht; Voraussetzung ist in beiden Fällen allerdings, dass, sofern die Abtreibung nicht gegen den Willen der der Schwangeren vorgenommen wird, die Schwangere bzw. der Arzt ihre Lebensgrundlage in Deutschland haben und die in § 218a genannten Voraussetzungen nicht vorliegen. Dagegen greifen § 5 Nr. 9 Buchst. a und b nicht ein, wenn ein deutscher Arzt oder 132 eine deutsche Krankenschwester lediglich Beihilfe zum Schwangerschaftsabbruch eines Ausländers an einer Ausländerin leisten.70 Dies ergibt sich aus der Akzessorietät der Teilnahme zur (in diesem Fall straflosen) Haupttat (siehe auch Rdn. 27 ff). Für Anstiftung und Beihilfe durch eine Deutsche oder durch einen Deutschen zu einer Auslandstat gilt das deutsche Strafrecht mithin nur, wenn (außerdem) entweder der schwangerschaftsabbrechende Arzt oder die Schwangere Deutsche (in den Fällen des § 9 Buchst. b mit Lebensgrundlage im Inland) sind oder der Teilnehmer im Inland handelt (dann: §§ 3, 9 Abs. 2 Satz 2). Die Vorschrift beruht auf dem aktiven Personalitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 251 ff),71 133 das in den Fällen des § 218 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 und Abs. 4 Satz 1 (§ 5 Nr. 9 Buchst. b) durch das aktive Domizilprinzip (Vor § 3 Rdn. 273) eingeschränkt wird. Soweit die Schwangerschaft einer deutschen Schwangeren abgebrochen wird, verwirklicht die Vorschrift mit Blick auf die (werdende) Inländerin oder den (werdenden) Inländer zugleich das passive Personalitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 247 ff); siehe aber auch § 7 Rdn. 65.72 Verfehlt ist dagegen die Ansicht von Ambos (MK Rdn. 29),73 wonach die Vorschrift 134 deshalb (auch) auf dem Staatsschutzprinzip beruhe, weil der Bestand der deutschen Bevölkerung geschützt werde. § 218 schützt (neben der Gesundheit der Schwangeren) das ungeborene Leben als Individualrechtsgut (vgl. die Erläuterungen zu § 218) und nicht etwa den (Fort-)Bestand des deutschen Staatsvolkes. Im Übrigen erfasst die Norm gerade auch die Abtreibung an einer ausländischen Schwangeren durch einen deutschen Arzt. 135

9. Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit (§§ 226, 226a). § 5 Nr. 9a erstreckt den Anwendungsbereich deutschen Strafrechts auf Fälle der absichtlichen oder wissentlichen Herbeiführung des Verlusts der Fortpflanzungsfähigkeit (§ 226 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 2), wenn der Täter zur Tatzeit Deutscher ist sowie auf Fälle der Verstümmelung weiblicher Genitalien (§ 226a), wenn sich die Tat gegen eine Person richtet, die zur Zeit der Tat ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat. Ob die Tat nach dem Recht des Tatorts strafbar ist oder nicht, ist ohne Bedeutung.

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Lackner/Kühl/Heger Rdn. 3; Oehler Rdn. 769; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 21; Fischer Rdn. 9. Satzger § 5 Rdn. 66; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 21; Fischer Rdn. 9. Krit. Hoyer SK Rdn. 23. Ähnlich Begr. § 5 Nr. 13 E 1962, BRDrucks. 200/62 S. 111.

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Auslandstaten mit besonderem Inlandsbezug | § 5

Auch mit dieser Erweiterung des Straftatenkataloges auf die genannten Fälle der 136 §§ 226, 226a hat der Gesetzgeber die Verpflichtungen aus Art. 44 Abs. 1, 3 i.V.m. Art. 38, 39 des Übereinkommens des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt („Istanbul-Konvention“) umgesetzt (BTDrucks. 18/2601 S. 21). Dabei ist er einerseits über die Vorgaben der Istanbul-Konvention hinausgegangen, da das deutsche Strafrecht nunmehr auch dann zur Anwendung kommt, wenn das Opfer der Tat männlich ist, andererseits dahinter zurückgeblieben, da die in Art. 38 Buchst. b und c der Konvention beschriebenen Nötigungshandlungen deutscher Täter von § 5 Nr. 9a nicht erfasst sind. Für die Erstreckung der deutschen Strafgewalt auf Fälle der Verstümmelung weiblicher Genitalien gem. § 226a sieht § 5 Nr. 9a Buchst. b von dem Erfordernis der deutschen Staatsangehörigkeit des Täters ab und knüpft alternativ an den im Inland befindlichen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt des Opfers an. Dadurch soll sichergestellt sein, dass auch „Ferienbeschneidungen“ erfasst werden, bei denen Frauen und Mädchen von Deutschland ins Ausland verbracht und dort Opfer dieser Tat werden (BTDrs. 18/2601, S. 21). Völkerrechtlich rechtfertigen lässt sich § 5 Nr. 9a Buchst. a durch das aktive Perso- 137 nalitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 251 ff), § 5 Nr. 9a Buchst. b allenfalls durch das passive Domizilprinzip (Vor § 3 Rdn. 273); insoweit gelten die bei Rdn. 108 ausgeführten Einschränkungen. 10. Falsche uneidliche Aussage, Meineid und falsche Versicherung an Eides statt (§§ 153 bis 156).74 § 5 Nr. 10 erfasst Aussagedelikte, die nach den §§ 153 bis 156 strafbar sind und im Ausland vor einem ausländischen oder internationalen Gericht oder einer anderen zuständigen ausländischen oder deutschen Stelle, etwa einem deutschen Konsulat, begangen werden. Die Geltung des deutschen Strafrechts steht dabei unter der einschränkenden Voraussetzung, dass das Aussagedelikt in einem Verfahren begangen wird, das bei einem deutschen Gericht oder einer anderen deutschen Stelle, die zur Abnahme von Eiden oder eidesstattlichen Versicherungen zuständig ist, anhängig ist. Ob der Täter Deutscher oder Ausländer ist und ob das ausländische Recht die Tat mit Strafe bedroht, spielt für die Geltung des deutschen Strafrechts keine Rolle. Zu beachten ist, dass regelmäßig bereits ein Begehungsort im Inland anzunehmen sein wird, vgl. auch § 9 Rdn. 33 f; deutsches Strafrecht gilt dann gem. §§ 3, 9. § 5 Nr. 10 bezweckt allein den Schutz der deutschen Rechtspflege. Die Vorschrift ist vor allem für Falschaussagen von Bedeutung, die bei Rechtshilfeverfahren vor ausländischen Behörden oder vor deutschen Auslandsvertretungen (§ 12 Nrn. 2, 3, § 15 Abs. 2 KonsularG) gemacht werden. Hingegen schützt das deutsche Strafrecht Verfahren vor ausländischen Behörden und Gerichten grundsätzlich nicht (Vor § 3 Rdn. 320). Der Wortlaut der Vorschrift („Verfahren, das im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes bei einem Gericht … anhängig ist“) darf nicht etwa dahin missverstanden werden, dass § 5 Nr. 10 auch Verfahren vor ausländischen Gerichten, die ausnahmsweise in Deutschland tätig werden (vgl. etwa Art. VII Abs. 1 Buchst. a NATO-TS, Vor § 3 Rdn. 22), schütze. Für gem. § 162 strafbare Falschaussagen vor internationalen Gerichten ergibt sich die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts aus § 6 Nr. 9 und § 7 Abs. 2.75 Die Vorschrift beruht auf dem Staatsschutzprinzip (Vor § 3 Rdn. 244 ff) und sichert die deutsche Rechtspflege gegen Angriffe aus dem Ausland.76

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Zieher S. 118 ff. Böse NK Rdn. 15. Ambos MK Rdn. 32; Satzger § 5 Rdn. 66.

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Die Bedenken, die Oehler (Rdn. 592) gegen die Einbeziehung des § 153 in § 5 Nr. 10 geltend macht, greifen nicht durch. Zwar trifft es zu, dass nur wenige Rechtsordnungen die falsche uneidliche Aussage vor Gericht für strafbar erklären. Allerdings lässt sich eine möglicherweise darauf gründende Fehlvorstellung des (ausländischen) Täters nach den allgemeinen Regeln (insbesondere § 17) hinreichend berücksichtigen (Vor § 3 Rdn. 471 f).

11. Sportbetrug und Manipulation von berufssportlichen Wettbewerben (§§ 265c, 265d). § 5 Nr. 10a erstreckt den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts auf Fälle von Sportbetrug und der Manipulation von berufssportlichen Wettbewerben, sofern sich die Tat auf einen Wettbewerb bezieht, der im Inland stattfindet. Ob der Täter Deutscher ist oder nicht, ist nach dem Gesetzeswortlaut (siehe aber Rdn. 146) ebenso unerheblich wie die Frage, ob die Tat nach dem Recht des Tatortes strafbar ist. Maßgeblich ist allein der durch den Austragungsort des Wettbewerbes vermittelte Inlandsbezug. 145 § 5 Nr. 10a wurde durch das 51. StrÄndG eingefügt. Die Vorschrift soll den Schutz der Integrität der von §§ 265c und 265d erfassten sportlichen Wettbewerbe sowie der damit verbundenen Vermögensinteressen auch dann gewährleisten, wenn die Tat zwar im Ausland begangen wird, sie aber einen besonderen Inlandsbezug aufweist (BTDrucks. 18/8831 S. 14). Da die Taten vielfach nach dem Recht des ausländischen Tatorts nicht strafbar sein dürften und sich deshalb die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts nicht über § 7 StGB begründen lässt, dient die Regelung vor allem dazu, entsprechenden Umgehungsversuchen entgegenzuwirken (so BTDrucks. 18/8831 S. 14). Dies mag kriminalpolitisch nachvollziehbar sein, ändert aber nichts daran, dass die 146 Vorschrift erheblichen völkerrechtlichen Bedenken ausgesetzt ist.77 Rechtfertigen lässt sich die Ausdehnung deutscher Strafgewalt weder mit dem Staatsschutzprinzip – geschützte Interessen sind die Integrität und Glaubwürdigkeit des Sports sowie Vermögensinteressen – noch mit dem Universalitätsprinzip. Auch das Vertragsprinzip kommt nicht in Betracht; insbesondere ist das Übereinkommen des Europarates über die Manipulation von Sportwettbewerben vom 18.9.2014 (SEV Nr. 215) zwar von Deutschland gezeichnet, aber noch nicht in Kraft getreten. Bedenkenswert erscheint allein eine Rechtfertigung über ein weit verstandenes völkerrechtliches Territorialitätsprinzip, welches (über § 9 StGB hinausgehend: die tatsächliche Beeinflussung des inländischen Wettbewerbs ist gerade keine Strafbarkeitsvoraussetzung) auch bloße (mitunter nur beabsichtigte) Wirkungen der Tat als geltungsbegründend anerkennt (hierzu eingehend Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 232 f). Hält man, wie hier, daran fest, dass es für ein solcherart erweitertes Territorialitätsprinzip an einer hinreichenden Grundlage im Völkerrecht fehlt (Vor § 3 Rdn. 242), bedarf die Vorschrift der völkerrechtskonformen Reduktion (allgemein dazu § 6 Rdn. 25 ff). Deutsches Strafrecht kann danach für Auslandstaten gem. §§ 265c und 265d nur gelten, wenn der Täter oder der Inhaber der betroffenen Vermögensinteressen deutscher Staatsangehöriger ist oder die Voraussetzungen des Stellvertretungsprinzips (Vor § 3 Rdn. 267 ff; § 7 Rdn. 90 ff) vorliegen, insbesondere also die Tat nach dem Recht des ausländischen Tatorts mit Strafe bedroht ist.

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Siehe auch Lackner/Kühl/Heger Rdn. 3; Rehmet HRRS 2017 518.

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12. Straftaten gegen die Umwelt (§§ 324, 326, 330 und 330a) Schrifttum Gündling Die 200-Seemeilen-Wirtschaftszone (1983); Günther-Nicolay Die Erfassung von Umweltstraftaten mit Auslandsbezug durch das deutsche Umweltstrafrecht gemäß §§ 324 ff StGB (2002); Hecker Die Strafbarkeit grenzüberschreitender Luftverunreinigungen im deutschen und europäischen Umweltstrafrecht, ZStW 115 (2003) 800; Klages Meeresumweltschutz und Strafrecht (1989); Laufhütte/Möhrenschlager Umweltstrafrecht in neuer Gestalt, ZStW 92 (1980) 912; Möhrenschlager Konzentration des Umweltstrafrechts, ZRP 1979 97; Oehler Die internationalstrafrechtlichen Bestimmungen des künftigen Umweltstrafrechts, GA 1980 241; Sack Das Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität, NJW 1980 1424; Tiedemann Die Neuordnung des Umweltstrafrechts (1980); Triffterer Die Rolle des Strafrechts beim Umweltschutz in der Bundesrepublik Deutschland, ZStW 91 (1979) 309.

a) Inhalt und Bedeutung der Vorschrift. Nach § 5 Nr. 11 gilt deutsches Strafrecht für die darin bezeichneten Straftaten gegen die Umwelt, wenn sie in der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone (Rdn. 54), also im Ausland begangen werden. Die Vorschrift erweitert den Geltungsbereich des deutschen Umweltstrafrechts, der sich insbesondere aus § 3 (für Taten im Küstenmeer, § 3 Rdn. 41 ff), aus § 4 (für Taten, die von deutschen Schiffen aus begangen werden), sowie aus § 7 Abs. 2 Nr. 1 (für Taten eines Deutschen im Bereich der hohen See, vgl. Rdn. 47 ff; § 7 Rdn. 73 ff) ergibt.78 Bedeutung hat die Vorschrift demnach vor allem für Taten, die Ausländer von ausländischen Schiffen aus sowie von Anlagen und Bauwerken, etwa Bohrinseln, aus im Bereich der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone begehen. § 5 Nr. 11 erfasst die folgenden Umweltstraftaten: die Gewässerverunreinigung (§ 324) den unerlaubten Umgang mit Abfällen („dumping“, § 326), sowie die schwere Gefährdung durch das Freisetzen von Giften (§ 330a); soweit die Voraussetzungen eines besonders schweren Falles vorliegen (§ 330), erstreckt § 5 Nr. 11 den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts zudem auf Taten der Bodenverunreinigung (§ 324a), der Luftverunreinigung (§ 325), der Verursachung von Lärm, Erschütterungen und nichtionisierenden Strahlen (§ 325a), des unerlaubten Betreibens von Anlagen (§ 327), des unerlaubten Umgangs mit radioaktiven Stoffen und anderen gefährlichen Stoffen und Gütern (§ 328) sowie der Gefährdung schutzbedürftiger Gebiete (§ 329). § 5 Nr. 11 kann trotz seines ungenauen Wortlauts nicht so verstanden werden, dass hier – abgesehen vom Fall des § 330a – allein besonders schwere Fälle der §§ 324 und 326 in Verbindung mit § 330 erfasst werden sollen. Nach dem Zweck der Vorschrift, der Meeresverschmutzung auch auf hoher See entgegenzuwirken, stehen, was die Seeschifffahrt betrifft, zwar die Straftatbestände der Gewässerverunreinigung (§ 324) und des „dumping“ (§ 326) im Vordergrund (vgl. auch BTDrucks. 8/3633 S. 22). Der Meeresumwelt drohen aber nicht nur von der Schifffahrt Gefahren, sondern auch von der Ausbeutung und Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen der Gewässer über dem Meeresboden, des Meeresbodens und seines Untergrunds sowie von der Errichtung und Nutzung künstlicher Inseln, Anlagen und Bauwerke. Dieser Umstand darf bei der Auslegung des § 5 Nr. 11 nicht außer Betracht bleiben. Eine Stütze findet diese Auslegung von § 5 Nr. 11 in der Entstehungsgeschichte. In Art. 1 Nr. 1 des Entwurfs eines 16. StrÄndG vom 13.12. 1978 (BTDrucks. 8/2382), den das 18. StrÄndG (Entstehungsgeschichte) aufgegriffen hat, waren die im Einzelnen erfassten Straftatbestände noch ausdrücklich benannt (u.a. „schwere Umweltgefährdung (§ 330)“).

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78 Vgl. auch BTDrucks. 8/2383 S. 12; Laufhütte/Möhrenschlager ZStW 92 (1980) 912, 927; Sch/Schröder/ Eser/Weißer Rdn. 27.

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§ 5 Nr. 11 wird ergänzt durch Art. 12 AusfGSeeRÜbk. (Rdn. 178 ff; Entstehungsgeschichte). Dieser erstreckt die deutsche Strafgewalt auf einschlägige Umwelttaten, die in der Nord- und Ostsee außerhalb der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone, also auf hoher See (Rdn. 47 ff) begangen werden. Anders als § 5 Nr. 11 ist Art. 12 AusfGSeeRÜbk. auf Taten von Schiffen aus beschränkt. Hinzuweisen ist ferner auf § 12 Abs. 3 MBergG (Meeresbodenbergbaugesetz – Art. 9 AusfGSeeRÜbk.; BGBl. 1995 I S. 782, hierzu Ambos MK Rdn. 42). Dort hat der Gesetzgeber für den Meeresbodenbergbau (Erschließung und Ausbeutung der Bodenschätze) im „Gebiet“ (Art. 1 Abs. 1 Nr. 1 SeeRÜbk.), also dem Meeresboden und Meeresuntergrund außerhalb des deutschen Hoheitsbereichs, eine Strafvorschrift geschaffen, in der die §§ 324, 326, 330 und 330a in derselben Weise angeführt werden wie in § 5 Nr. 11.

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b) Schutzbereich der Tatbestände des deutschen Umweltstrafrechts. § 5 Nr. 11 ist im Zusammenhang mit der Reichweite der Tatbestände des Umweltstrafrechts zu sehen. Es versteht sich nicht von selbst, dass es überhaupt Aufgabe des deutschen Umweltstrafrechts ist, (auch) die Meeresumwelt des Auslands zu schützen, zu dem die deutsche ausschließliche Wirtschaftszone und die hohe See gehören (vgl. Rdn. 47, 54).79 Es wäre immerhin vorstellbar, dass die Straftatbestände der §§ 324 ff nur dem Schutz der innerstaatlichen Umwelt dienen, so dass Angriffe auf die Meeresumwelt im Ausland schon nicht tatbestandsmäßig wären (vgl. auch Vor § 3 Rdn. 290 ff). Durch § 5 Nr. 11, § 330d Abs. 1 Nr. 1 und überdies durch Art. 12 AusfGSeeRÜbk. hat der Gesetzgeber aber klargestellt, dass es sich anders verhält: dass nämlich die Meeresumwelt allgemein auch zu den Rechtsgütern gehört, die er strafrechtlich schützt. So erfasst der Gewässerbegriff nach § 330d Abs. 1 Nr. 1 auch „das Meer“. Durch das 31. StRÄndG (2. UKG) vom 27.6.1994 (BGBl. I S. 1440) hat der Gesetzgeber den Schutzbereich der Umweltdelikte einheitlich auch auf ausländische Gewässer ausgeweitet, indem die in § 330d Nr. 1 a.F. für oberirdische Gewässer und das Grundwasser bestehende Einschränkung auf Gewässer „im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes“ gestrichen wurde. Die Einschränkung hatte vor der Aufhebung zur Folge, dass ein Deutscher, der einen ausländischen Fluss verunreinigte, mangels Tatbestandsmäßigkeit seines Verhaltens nicht bestraft werden konnte, während er sich bei Verunreinigung ausländischer Küstengewässer strafbar machte (vgl. auch BGHSt 40 79, 81). Es wäre allerdings verfehlt, § 5 Nr. 11 vor diesem Hintergrund als Einschränkung des Geltungsbereichs des deutschen Umweltstrafrechts zu begreifen.80 „Meer“ ist nämlich nicht notwendigerweise Ausland, sondern wie namentlich das deutsche Küstenmeer auch Teil des Inlands (§ 3 Rdn. 41 ff). Soweit das Meer Ausland ist, gilt das deutsche Strafrecht nur kraft besonderer gesetzlicher Maßgabe. So ist etwa nach §§ 324, 4 das „dumping“ von Abfällen von einem deutschen Schiff aus auch dann strafbar, wenn es auf dem Atlantik, also auf hoher See, oder vor der niederländischen Nordseeküste, also in fremden Küstengewässern, begangen wird. Dagegen gilt deutsches Strafrecht für Umwelttaten, die ein Ausländer von einem ausländischen Schiff aus begeht, grundsätzlich nur im deutschen Küstenmeer (§ 3) und – gem. § 5 Nr. 11 – im Bereich der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone.

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79 Vgl. Oehler GA 1980 241, 242. 80 BGHSt 40 82 f = StV 1994 426 m. Anm. Michalke; Klages S. 3 f; Kloepfer/Heger Umweltstrafrecht 3. Aufl. (2014) Rdn. 376; aA Hoyer SK Rdn. 27; Laufhütte/Möhrenschlager ZStW 92 (1980) 912, 929; Fischer Rdn. 11.

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Bei der Anwendung der Straftatbestände des deutschen Umweltstrafrechts ist fer- 157 ner zu beachten, dass diese vielfach verwaltungsakzessorisch ausgestaltet sind (z.B. §§ 324a, 325, 328, 329). Im Zusammenhang mit grenzüberschreitenden Umweltbeeinträchtigungen stellen sich hier schwierige Fragen, die bislang nicht abschließend geklärt sind. Fraglich ist insbesondere, ob zur Ausfüllung der entsprechenden Tatbestandsmerkmale deutsches, gemeinschaftsrechtliches Verwaltungsrecht oder Völkerrecht anzuwenden ist (Hecker ZStW 115 (2003) 880 ff; siehe auch Vor § 3 Rdn. 352 f). c) Völkerrechtliche Rechtfertigung. Auf welchem Geltungsprinzip § 5 Nr. 11 beruht, ist streitig. Nicht rechtfertigen lässt sich die Ausdehnung der deutschen Strafgewalt mit dem passiven Personalitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 247 ff)81 oder dem Universalitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 256 ff); richtigerweise hat der Gesetzgeber daher davon abgesehen, wie zunächst geplant,82 die nunmehr in § 5 Nr. 11 enthaltene Regelung in den Katalog des § 6 aufzunehmen. Zwar kann die Verursachung langfristiger und weitreichender Umweltschäden dem Universalitätsprinzip unterliegen, doch gilt dies nur, wenn sie in internationalen bewaffneten Konflikten begangen wird und daher als Kriegsverbrechen eingeordnet werden kann (§§ 1 Satz 1, 11 Abs. 3 VStGB). Nach allgemeiner Ansicht erfasst das Universalitätsprinzip dagegen keine Umweltstraftaten als solche.83 Verbreitet wird die Bestimmung dem Staatsschutzprinzip zugeordnet.84 Begründet wird dies damit, die Vorschrift diene dem Schutz der eigenen seerechtlichen Ausbeutungs- und Nutzungsrechte, die das Völkerrecht dem Küstenstaat in der ausschließlichen Wirtschaftszone gewährt. Hiergegen lässt sich einwenden, dass der Schutz der Umwelt in einem Bereich außerhalb des Küstenmeeres und damit außerhalb des staatlichen Hoheitsbereichs nicht mehr ohne weiteres zu den Kerninteressen des Staates gezählt werden kann, deren Schutz das Staatsschutzprinzip erlaubt (Vor § 3 Rdn. 244 ff). Überzeugender ist es, angesichts des besonderen seevölkerrechtlichen Status der ausschließlichen Wirtschaftszone (Rdn. 54 ff) einen völkerrechtlichen Jurisdiktionstitel sui generis anzunehmen. Obwohl die Strafgewalt nicht auf das Territorialitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 241 f) gestützt werden kann, weil der Küstenstaat in der ausschließlichen Wirtschaftszone nicht über Gebietshoheit verfügt (Rdn. 55 f),85 weist dieser Jurisdiktionstitel bei funktionaler Betrachtung doch eine gewisse Nähe zum Territorialitätsprinzip auf. So übt der Küstenstaat in der ausschließlichen Wirtschaftszone bestimmte souveräne Rechte aus, insbesondere Hoheitsbefugnisse mit Blick auf den Schutz und die Bewahrung der Meeresumwelt (Art. 56 Abs. 1 Buchst. b) (ii) SeeRÜbk.). Völkerrechtlich unbedenklich ist die Ausdehnung der Strafgewalt in § 5 Nr. 11 schon wegen des ausdrücklichen Vorbehalts völkervertraglicher Gestattung (Rdn. 167 ff).

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81 So aber Hoyer SK Rdn. 27. 82 Entwurf eines § 6 Nr. 9 in BTDrucks. 8/2382 S. 11 f; krit. dazu Oehler GA 1980 241, 243 f; siehe zur Ablehnung durch den Rechtsausschuss BTDrucks. 8/3633 S. 4, 22 f; ferner Laufhütte/Möhrenschlager ZStW 92 (1980) 912, 927. 83 So auch Ambos MK Rdn. 34; Klages S. 161 f. 84 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 5 Rdn. 43; Jescheck/Weigend § 18 III 3; Kloepfer/Vierhaus Umweltstrafrecht2 (2002) Rdn. 166 zu § 5 Nr. 11 a.F.; Oehler GA 1980 241 ff; zu § 5 Nr. 11 a.F. Satzger § 5 Rdn. 66; dagegen Klages S. 146 ff; Kloepfer/Heger Umweltstrafrecht 3. Aufl. (2014) Rdn. 377; zweifelnd Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 27. 85 Ambos MK Rdn. 16; Klages S. 113.

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d) Voraussetzungen. Die Geltung des deutschen Strafrechts nach § 5 Nr. 11 setzt voraus, dass die Tat im Bereich der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone begangen und die Strafverfolgung durch ein völkerrechtliches Übereinkommen gestattet ist. Art. 11 AusfGSeeRÜbk. (Entstehungsgeschichte), durch den die Vorschrift ihre gel163 tende Fassung erhalten hat, hat ihren Anwendungsbereich in doppelter Hinsicht verändert. Zum einen ist der Geltungsbereich des deutschen Strafrechts verengt worden, indem die Geltung des deutschen Strafrechts ausdrücklich unter den Vorbehalt der völkerrechtlichen Zulässigkeit der Strafverfolgung gestellt wurde. Zum anderen ist der Geltungsbereich des deutschen Strafrechts durch die Ersetzung der Worte „im Bereich des Festlandsockels“ durch die Wendung „im Bereich der ausschließlichen Wirtschaftszone“ erweitert worden. Die Frage, ob die Ersetzung der Worte „im Bereich des deutschen Festlandsockels“ 164 durch die Wendung „im Bereich der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone“ den Anwendungsbereich der Vorschrift räumlich einschränkt oder erweitert, kann zwar von den geografischen Gegebenheiten des Einzelfalls und von vertraglichen Festlegungen abhängen; während sich nämlich die ausschließliche Wirtschaftszone nicht weiter als 200 Seemeilen von den Basislinien erstrecken darf, von denen aus die Breite des Küstenmeeres gemessen wird (Art. 57 SeeRÜbk.), können die äußeren Grenzen des Festlandsockels rechtlich bis zu 350 Seemeilen von diesen Basislinien entfernt sein (Art. 76 Abs. 2 bis 6 SeeRÜbk.). Angesichts der geografischen Gegebenheiten an der deutschen Nord- und Ostseeküste ist der Geltungsbereich des deutschen Strafrechts durch die Bezugnahme auf die deutsche ausschließliche Wirtschaftszone aber räumlich erweitert worden.86 Im Übrigen unterscheiden sich beide Begriffe seevölkerrechtlich dadurch, dass sich 165 der Festlandsockel (nur) auf den Meeresboden und Meeresuntergrund der Unterwassergebiete bezieht (Art. 76 Abs. 1 SeeRÜbk.), während die Rechte des Küstenstaates in der eigenen ausschließlichen Wirtschaftszone auch für die Gewässer über dem Meeresboden gelten (Art. 56 Abs. 1 SeeRÜbk.). Doch kommt es auf diese Unterscheidung im vorliegenden Zusammenhang nicht an, weil es sich in beiden Fällen allein um eine räumliche Festlegung für den vom Gesetz erfassten Tatort der bezeichneten Umweltstraftaten handelt (früher: „im Bereich“ des deutschen Festlandsockels, jetzt: „im Bereich“ der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone). 166

aa) Begehung in der deutschen „ausschließlichen Wirtschaftszone“. Zum Begriff und zur Ausdehnung der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone (Art. 55 SeeRÜbk.) siehe Rdn. 54 ff. Völkerrechtlich handelt es sich um eine Zone sui generis, die weder einem Staatsgebiet angehört noch der hohen See. Strafrechtlich ist sie Ausland (Rdn. 54).

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bb) Gestattung der Strafverfolgung durch völkerrechtliche Übereinkommen. Die Geltung des deutschen Strafrechts nach § 5 Nr. 11 ist ausdrücklich davon abhängig, dass völkerrechtliche Übereinkommen zum Schutze des Meeres die strafrechtliche Verfolgung der bezeichneten Umweltdelikte als Straftaten gestatten. Damit wird zum einen ausgedrückt, dass die deutsche Strafgewalt nur innerhalb des völkerrechtlichen Rahmens auf einschlägige Auslandstaten erstreckt wird. Insoweit handelt es sich um eine allgemeine und selbstverständliche Voraussetzung der Ausübung staatlicher Strafgewalt (Vor § 3 Rdn. 27). Zum anderen – und dies ist das eigentlich Bemerkenswerte –

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Zu Unrecht aA Ambos MK Rdn. 33.

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knüpft die Vorschrift die Ausübung deutscher Strafgewalt ausdrücklich an die Vorgaben völkervertraglicher Erlaubnisnormen, mit der Folge, dass die im Allgemeinen ausreichende Gestattung durch Völkergewohnheitsrecht nicht genügt und zugleich die spezifischen Verfolgungsvoraussetzungen der einschlägigen Übereinkommen zu beachten sind. Unberührt von dieser Einschränkung durch das Erfordernis vertragsrechtlicher Gestattung bleibt die Geltung des deutschen Strafrechts für Straftaten, die auf deutschen Schiffen im Bereich der hohen See oder der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone begangen werden (§ 4). Die Einschränkung betrifft also im wesentlichen fremde Schiffe, die sich gegen die Meeresumwelt vergangen haben sollen, mag sie auch rechtstechnisch deutsche Schiffe mit berühren. Zu den völkerrechtlichen Übereinkommen zum Schutze des Meeres (vgl. Vor § 3 Rdn. 167 ff), welche die Verfolgung von Umwelttaten in der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone durch die Bundesrepublik erlauben, gehört insbesondere das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen von 1982 (Vor § 3 Rdn. 94). Es gestattet der Bundesrepublik: als Inhaberin der Rechte und Hoheitsbefugnisse in der ausschließlichen Wirtschaftszone den Erlass und die Durchsetzung von Vorschriften gegen die Verschmutzung der Meeresumwelt, die sich aus Tätigkeiten auf dem Meeresboden ergibt oder von künstlichen Inseln, Anlagen und Bauwerken herrührt (Art. 208, 214 SeeRÜbk.); als Küstenstaat den Erlass und die Durchsetzung von Vorschriften gegen das Einbringen („dumping“) in der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone oder auf ihrem Festlandsockel (Art. 210, 216 Abs. 1 SeeRÜbk.), gleich ob es durch eigene oder fremde Schiffe geschieht; als Küstenstaat auch die Einleitung eines Verfahrens wegen Verschmutzung der Meeresumwelt, begangen durch ein fremdes Schiff in der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone, wenn sich das Schiff freiwillig in einem deutschen Hafen befindet (Art. 211 Abs. 4 ff, Art. 220 Abs. 1, 3 ff SeeRÜbk.); das in Art. 220 SeeRÜbk. verwirklichte Hafenstaatsprinzip schränkt die Verfolgungsbefugnis des Küstenstaates weiter ein (vgl. auch BRDrucks. 927/94 S. 65), namentlich durch die Bestimmung einer vorrangigen Zuständigkeit des Flaggenstaates (Art. 228 SeeRÜbk.), die Beschränkung zulässiger Sanktionen (Art. 230 SeeRÜbk.: nur Geldstrafen), sowie besondere Mitteilungspflichten (Art. 231); als Flaggenstaat den Erlass und die Durchsetzung von Vorschriften gegen die Verschmutzung der Meeresumwelt durch eigene Schiffe (Art. 211 Abs. 1, 217 SeeRÜbk.). Hinzuweisen ist des Weiteren auf das Übereinkommen zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch das Einbringen durch Schiffe und Luftfahrzeuge vom 15.2.1972 (Vor § 3 Rdn. 171) sowie auf das Übereinkommen über die Verhütung der Meeresverschmutzung durch das Einbringen von Abfällen und anderen Stoffen vom 29.12.1972 (Vor § 3 Rdn. 171). Beide Übereinkommen, von denen sich das erste auf näher bezeichnete Teile der hohen See und des Küstenmeeres, das zweite dagegen auf alle Meeresgewässer mit Ausnahme der inneren Gewässer von Staaten (§ 3 Rdn. 32) bezieht, verpflichten die Bundesrepublik, in ihrem Hoheitsgebiet (Hoheitsbereich) geeignete Maßnahmen zur Verhütung und Bestrafung von Verstößen gegen die Übereinkommen zu treffen. Demgemäß enthielt das Vertragsgesetz vom 11.2.1977 (Vor § 3 Rdn. 171) einen Straftatbestand der Verunreinigung der hohen See (Art. 8), für den bei Gefährdung anderer Personen verschärfte Strafe angedroht war (Art. 9). Art. 11 des Gesetzes zur Bekämpfung der Umweltkriminalität vom 28.3.1980 (18. StRÄndG, BGBl. I S. 373) hat diese Strafvorschriften aufgehoben. Nach Art. 7 AusfGSeeRÜbk. umfasst der Begriff „hohe See“ (in den beiden Übereinkommen von 1972) auch die ausschließlichen Wirtschaftszonen.

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In dem Vertragsgesetz vom 23.12.1981 zu dem Internationalen Übereinkommen von 1973 zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch Schiffe und zu dem Protokoll von 1978 zu diesem Übereinkommen (Vor § 3 Rdn. 172) gibt es keine Strafvorschriften. Es enthält aber eine Ermächtigung, durch Rechtsverordnung Zuwiderhandlungen im eigenen Hoheitsbereich als Ordnungswidrigkeit mit Geldbuße zu bedrohen. Als eigener Hoheitsbereich gilt insoweit auch die deutsche ausschließliche Wirtschaftszone (Art. 6 Abs. 1 Nr. 1 AusfGSeeRÜbk.).

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e) Taten von einem Schiff aus in der Nord- oder Ostsee außerhalb der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone (Art. 12 AusfGSeeRÜbk.). § 5 Nr. 11, der sich nur auf Umwelttaten im Bereich der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone bezieht, wird ergänzt durch Art. 12 AusfGSeeRÜbk. (Entstehungsgeschichte). Die Vorschrift betrifft Fälle der §§ 324, 326, 330 und 330a (Rdn. 149), bei denen die Tat von einem Schiff aus durch Einleiten von Stoffen in der Nordsee oder Ostsee außerhalb der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone (Rdn. 54 ff) begangen wird (BTDrucks. 13/193 S. 24). Voraussetzung der Geltung des deutschen Strafrechts ist, dass durch die Tat verwaltungsrechtliche Pflichten (§ 330d Abs. 1 Nrn. 4, 5) verletzt werden, welche der Durchführung völkerrechtlicher Übereinkommen zum Schutze des Meeres dienen. Dadurch wird sichergestellt, dass der von Art. 218 SeeRÜbk. vorgegebene Rahmen eingehalten ist. Diese verwaltungsrechtlichen Pflichten betreffen insbesondere das sogenannte Öltagebuch, dessen Führung allen Schiffen auferlegt ist, auch denen von Staaten, die nicht Vertragspartei des Internationalen Übereinkommens von 1973 (Vor § 3 Rdn. 172) sind (vgl. Art. 6 Abs. 1 Nr. 3 AusfGSeeRÜbk.). Soweit die Tat im Hoheitsgebiet eines ausländischen Staates begangen wird, muss sie nach dem Recht des Tatorts mit Strafe bedroht sein (Art. 12 Satz 2 AusfGSeeRÜbk.). Im Hinblick auf § 4 hat Art. 12 AusfGSeeRÜbk. Bedeutung vor allem für Taten, die von ausländischen Schiffen aus begangen werden. Die Vorschrift erweitert dabei den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts über § 5 Nr. 11 hinaus, indem sie ihn auf einen Bereich (Nordsee, Ostsee) der hohen See außerhalb der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone, auf die deutschen Hoheitsgewässer (insbesondere das deutsche Küstenmeer) und auf ausländische Hoheitsgewässer innerhalb der Nord- und Ostsee ausdehnt. Dass die Vorschrift die Geltung des deutschen Strafrechts auf die eigenen Hoheitsgewässer, also das Inland (§ 3 Rdn. 24 ff), „erweitert“, ist kein Versehen des Gesetzgebers. Denn auch in diesem Seegebiet ist die Ausübung eigener Hoheitsgewalt gegenüber fremden Schiffen völkerrechtlich eingeschränkt, und zwar auf Grund des Rechts der friedlichen Durchfahrt durch das Küstenmeer (Art. 17 SeeRÜbk.; § 3 Rdn. 77). Die Vorschrift erfasst Fälle des „Einleitens von Stoffen“ von einem Schiff aus insbesondere dann, wenn der Tatort außerhalb der deutschen Binnen- und Eigengewässer (§ 3 Rdn. 30 ff), des deutschen Küstenmeeres (§ 3 Rdn. 41 ff) und der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone (Rdn. 54 ff) liegt. In diesen Fällen kann die Bundesrepublik als Hafenstaat ein Verfahren führen, wenn sich das Schiff freiwillig in einem deutschen Hafen befindet (Art. 218 Abs. 1 SeeRÜbk.); siehe zu den Einschränkungen der Verfolgungsbefugnis in diesem Fall Rdn. 171. Liegt der Tatort in fremden Hoheitsgewässern oder einer fremden ausschließlichen Wirtschaftszone, kann die Bundesrepublik nur tätig werden auf Ersuchen des Tatortstaates, des Flaggenstaates oder des durch die Einleitung bedrohten Staates oder falls durch die Tat die Verschmutzung deutscher Küstengewässer oder der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone droht (näher Art. 218 Abs. 2 SeeRÜbk.).

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13. Verursachung einer nuklearen Explosion (§ 328 Abs. 2 Nrn. 3, 4, Abs. 4, 5 184 auch in Verbindung mit § 330). Unabhängig von der Strafbarkeit am Tatort gilt deutsches Strafrecht nach § 328 Abs. 2 für die Verursachung einer nuklearen Explosion im Ausland sowie die Verleitung eines anderen zu einer solchen Tat und ihre Förderung. Einbezogen sind ferner besonders schwere Fälle nach § 330. Voraussetzung ist, dass der Täter (Rdn. 20 ff) zur Zeit der Tat Deutscher (Vor § 3 Rdn. 345; § 7 Rdn. 55 ff) ist. Die Vorschrift beruht auf dem aktiven Personalitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 251 ff).87 Mit § 5 Nr. 11a hat der Gesetzgeber die Verpflichtung umgesetzt, die sich aus dem 185 Vertrag über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen vom 24.9.1996 ergibt (BGBl. 1998 II 1210). Danach hat Deutschland als Vertragsstaat seinen Staatsangehörigen an jedem Ort jede Tätigkeit zu verbieten, die aufgrund des Vertrages untersagt ist (Art. III Abs. 1 Buchst. c); eine Verpflichtung der Vertragsstaaten, diese Tätigkeiten unter Strafe zu stellen, begründet der Vertrag indes nicht. Gleichwohl hat der Gesetzgeber die innerstaatliche Umsetzung des Vertrages zum Anlass genommen, um die Strafnormen in § 328 Abs. 2 Nr. 3 und 4 zu schaffen und ihren Anwendungsbereich auf Auslandstaten Deutscher zu erstrecken (BTDrucks. 13/10076 S. 10). Angesichts zahlreicher Überschneidungen mit anderen Vorschriften bleibt für § 5 186 Nr. 11a nur ein schmaler Anwendungsbereich (siehe aber BTDrucks. 13/10076 S. 10). Bedroht das Recht des Tatorts die Tat mit Strafe, greift auch § 7 Abs. 2 Nr. 1 ein. Ferner wird ein Teil der einschlägigen Auslandstaten von § 6 Nr. 2 und § 21 KrWaffKontrG (Vor § 3 Rdn. 483) erfasst. 14. Taten deutscher Amtsträger oder für den öffentlichen Dienst besonders 187 Verpflichteter.88 Nach § 5 Nr. 12 gilt das deutsche Strafrecht unabhängig vom Recht des Tatorts für Taten, die ein deutscher Amtsträger (§ 11 Abs. 1 Nr. 2) oder ein für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteter (§ 11 Abs. 1 Nr. 4) im Ausland während eines dienstlichen Aufenthalts oder in Beziehung auf den Dienst begeht. „Deutsch“ sind Amtsträger und besonders Verpflichtete, die Deutsche (Vor § 3 Rdn. 345, § 7 Rdn. 55 ff) sind, also insbesondere deutsche Staatsangehörige; für Ausländer im Amtsverhältnis siehe § 5 Nr. 13, Rdn. 197 ff. § 5 Nr. 12 erfasst nicht nur Amtsdelikte, sondern Straftaten jeglicher Art.89 188 a) Völkerrechtliche Rechtfertigung. Die Vorschrift beruht auf dem aktiven Per- 189 sonalitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 251 ff).90 Die Loyalitätspflicht, die den Auslandsreisenden kraft seiner Staatsangehörigkeit trifft, wird noch verstärkt durch das Dienstverhältnis, das den Träger öffentlicher Gewalt an den Staat bindet (Zieher S. 123). Der Staat verlangt von seinen Amtsträgern, dass sie die eigene Rechtsordnung achten, solange sie sich im Ausland aufhalten.91 Verfehlt ist es aber, die Notwendigkeit der Erstreckung deutscher Strafgewalt auf 190 Auslandstaten von Hoheitsträgern mit dem Argument begründen zu wollen, der inländische Hoheitsträger sei durch Immunität vor einer Bestrafung im Gastland geschützt (so aber Oehler Rdn. 614). Dies folgt bereits daraus, dass nur ein kleiner Teil der von § 5 Nr. 12 erfassten Hoheitsträger überhaupt völkerrechtliche Immunität genießt (Vor § 3

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87 AA A. Schmitz S. 201 f (Staatsschutzprinzip). 88 Oehler Rdn. 610 ff, 614; Zieher S. 122 ff. 89 BGH NStZ-RR 2014 278, 279; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 29; Fischer Rdn. 12. 90 Hoyer SK Rdn. 28; Jescheck/Weigend § 18 III 3; A. Schmitz S. 205; vgl. auch Begr. zu § 5 Nr. 15 E 1962, BRDrucks. 200/62 S. 112; aA Oehler Rdn. 612 („Verletzung der den Amtsträger treffenden Sonderpflicht“). 91 Begr. zu § 5 Nr. 15 E 1962, BRDrucks. 200/62 S. 112.

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Rdn. 402). Zudem kann die Immunität des Hoheitsträgers nur dann relevant werden, wenn die Tat nach dem Recht des Tatorts mit Strafe bedroht ist; in diesen Fällen ergibt sich die Geltung des deutschen Strafrechts aber bereits aus § 7 Abs. 2 Nr. 1;92 Zweck des § 5 Nr. 12 ist es den Geltungsanspruch des deutschen Strafrechts gerade dann zu begründen, wenn die Tat nach dem Recht des ausländischen Tatorts nicht strafbar ist. Wer entgegen der hier vertretenen Ansicht (Vor § 3 Rdn. 251) das nicht durch das Er191 fordernis einer identischen Tatortnorm eingeschränkte aktive Personalitätsprinzip für völkerrechtswidrig hält (Vor § 3 Rdn. 253 Fn. 130), wird daher bei Straftaten, die keine echten Amtsdelikte sind, über den Gesetzeswortlaut hinaus verlangen müssen, dass entweder – wie nach § 7 Abs. 2 Nr. 1 – die Tat nach dem Recht des Tatorts strafbar ist oder die Strafbefugnis sich aus dem Stellvertretungs-, dem Universalitäts- oder dem Staatsschutzprinzip ergibt (in diesem Sinne konsequent Hoyer SK Rdn. 28). 192 Das Staatsschutzprinzip (Vor § 3 Rdn. 244 ff) tritt ergänzend hinzu, allerdings nur, soweit die Norm echte Amtsdelikte, etwa §§ 331 f, 336 oder sonstige Taten in Bezug auf den Dienst erfasst.93 Denn nur in diesem Fall betrifft die Tat ein staatliches Rechtsgut, das auch gegen Angriffe im und aus dem Ausland geschützt werden darf. Insoweit besteht auch ein Bedürfnis, den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts auszudehnen, weil das ausländische Strafrecht deutsche staatliche Interessen in der Regel nicht schützt (vgl. zum umgekehrten Fall der eingeschränkten Schutzaufgabe des inländischen Strafrechts Vor § 3 Rdn. 296). Soweit § 5 Nr. 12 auch sonstige Straftaten, die während eines dienstlichen Aufenthalts im Ausland begangen werden, erfasst, lässt sich die Geltung des deutschen Strafrechts dagegen nicht mit dem Staatsschutzprinzip rechtfertigen.94 Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem vom Gesetzgeber verfolgten Zweck (Begr. zu § 5 Nr. 15 E 1962, BRDrucks. 200/62 S. 112), das Ansehen des Staates im Ausland dadurch zu wahren, dass im Ausland delinquierende Hoheitsträger verfolgt werden. Denn in dem Bereich, in dem die ausländische Rechtsordnung ein Verhalten nicht mit einem strafrechtlichen Unwerturteil versieht, ist ein „Ansehensverlust“ nicht zu befürchten. b) Voraussetzungen. Die Tat muss entweder während eines dienstlichen Aufenthaltes oder in Beziehung auf den Dienst begangen sein. Das Merkmal „während eines dienstlichen Aufenthalts“ bedeutet nicht, dass die Tat im Zusammenhang mit dem Dienst stehen muss; das Merkmal ist vielmehr rein zeitlich zu verstehen (Tröndle/Fischer Rdn. 12). Halten sich deutsche Amtsträger oder besonders Verpflichtete privat im Ausland auf, so kommt die zweite Alternative des § 5 Nr. 12 in Betracht. In diesem Fall unterliegen sie dem deutschen Strafrecht nur insoweit unabhängig vom Tatortrecht (sonst § 7 Abs. 2 Nr. 1), als sie Straftaten in Bezug auf den Dienst, etwa Taten nach §§ 331, 332 oder sonstige Pflichtverletzungen im Hinblick auf eine dienstliche Tätigkeit (z.B. §§ 203 Abs. 2, 353b) begehen (vgl. auch BTDrucks. 7/550 S. 207). 194 Aus kriminalpolitischer Sicht ist zu kritisieren, dass der Gesetzgeber bei dem Versuch, die Träger öffentlicher Gewalt auch im Ausland zur Achtung der inländischen Rechtsordnung anzuhalten, über das Ziel hinausgeschossen ist.95 Dies zeigt sich etwa daran, dass ein deutscher Notar oder Schöffe, der „gelegentlich“ eines dienstlichen Auf193

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92 Ambos MK Rdn. 37; Zieher S. 122 f. 93 Ambos MK Rdn. 36; Böse NK Rdn. 16 f; Jakobs 5. Abschn. Rdn. 16. 94 So aber Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 5 Rdn. 43; Satzger § 5 Rdn. 66; A. Schmitz S. 204 f; wohl auch Zieher S. 124. 95 Vgl. auch Jakobs 5. Abschn. Rdn. 16; Zieher S. 123; zu Recht enger daher § 5 Nr. 3 AE; dazu BTDrucks. V/4095 S. 6.

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enthaltes im Ausland eine Tat begeht, sich nach deutschem Strafrecht zu verantworten hat, selbst wenn die Tat nach dem Recht des Tatorts straflos ist (sonst § 7). Hier bietet die Einstellung nach § 153c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO ein prozessuales Ventil, das in der Praxis eine sinnvolle Handhabung der Vorschrift erlaubt. c) Soldaten. Sachlich ergänzt wird § 5 Nr. 12 durch § 1a Abs. 2 des Wehrstrafgesetzes 195 (WStG), neugefasst durch Bek. vom 24.5.1974 (BGBl. I S. 1213), zuletzt geändert durch G vom 23.4.2014 (BGBl. I S. 410) für deutsche Soldaten (Rdn. 202) der Bundeswehr. Danach gilt das deutsche Strafrecht auf Grundlage des aktiven Personalitätsprinzips (Vor § 3 Rdn. 251 ff) unabhängig vom Recht des Tatorts auch für Taten, die ein Soldat während eines dienstlichen Aufenthalts (Rdn. 193) oder in Beziehung auf den Dienst (Rdn. 193) im Ausland begeht. Die Geltung des deutschen Strafrechts ist insoweit nicht auf Straftaten nach dem WStG beschränkt. Für Straftaten nach dem WStG gilt das deutsche Strafrecht allerdings auch dann, wenn der Soldat sich privat im Ausland aufhält und die Tat nicht in Beziehung zu seinem Dienst steht (§ 1a Abs. 1 Nr. 1 WStG). Die Geltung des deutschen Strafrechts für Auslandstaten von Soldaten hat angesichts der zahlreichen Auslandseinsätze der Bundeswehr inzwischen auch praktische Bedeutung erlangt.96 15. Taten von Ausländern als Amtsträger oder für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichtete.97 Nach § 5 Nr. 13 gilt das deutsche Strafrecht für Auslandstaten eines Ausländers (Vor § 3 Rdn. 346; § 7 Rdn. 93), die dieser als Amtsträger im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2 oder für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteter im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 4 begeht. Darauf, ob die Tat nach dem Recht des Tatorts oder dem Recht des Heimatstaates des Täters strafbar ist oder nicht, kommt es nicht an. § 5 Nr. 13 gilt nur für Auslandstaten, die ein Ausländer in seiner Eigenschaft als Träger eines deutschen staatlichen Amtes (z.B. als Wahlkonsul, § 133 BBG) oder als für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteter begeht (Begehung „als“ Amtsträger). Anders als bei Nummer 12 (Rdn. 193) werden Taten, die der Amtsträger oder Verpflichtete nur gelegentlich eines dienstlichen Aufenthalts im Ausland begangen hat, nicht erfasst. Amtsträger und für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichtete sind also in unterschiedlichem Umfang für Auslandstaten verantwortlich, je nachdem, ob sie deutsche oder ausländische Staatsangehörige sind. Auf welchem Geltungsprinzip die Vorschrift beruht, ist umstritten. Teilweise wird die Bestimmung insgesamt dem Staatsschutzprinzip (Vor § 3 Rdn. 244 ff) zugeordnet.98 Dies trifft freilich nur teilweise zu, nämlich soweit § 5 Nr. 13 echte Amtsdelikte oder andere Delikte erfasst, die sich gegen staatliche Rechtsgüter richten (vgl. auch Rdn. 192). Nach der Gegenansicht soll die Vorschrift auf dem aktiven Personalitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 251 ff) beruhen.99 Diese Auffassung verdient Zustimmung. Mit dem Eingehen des Dienstverhältnisses zur Bundesrepublik Deutschland akzeptiert der Amtsträger eine besondere personale Bindung. Diese personale Bindung bewirkt auf der einen Seite, dass der Amtsträger dem Schutz der deutschen Rechtsordnung unterstellt wird (§ 5 Nr. 14); sie rechtfertigt es auf der anderen Seite, dem Amtsträger eine Pflicht zur Respektierung der deutschen Rechtsordnung auch im Ausland aufzuerlegen. Diese Konsequenz trifft den Amtsträger keineswegs überraschend, denn die Bindung an die deutsche

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96 Umfassend hierzu Bettendorf. 97 Zieher S. 122 ff. 98 Ambos MK Rdn. 38; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 5 Rdn. 43; Satzger § 5 Rdn. 66; A. Schmitz S. 207; siehe auch Begr. § 5 Nr. 15 E 1962, BRDrucks. 200/62 S. 112. 99 Hoyer SK Rdn. 29; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 30; Fischer Rdn. 12; dagegen A. Schmitz S. 207.

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Rechtsordnung erwächst aus dem Dienstverhältnis, das der Amtsträger mit dem deutschen Staat eingeht. Diese Erwägung spricht dafür, das aktive Personalitätsprinzip auch auf Fälle von Dienstverhältnissen zu erstrecken. 200

16. Taten gegen einen Amtsträger, einen für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten oder einen Soldaten der Bundeswehr.100 § 5 Nr. 14 erstreckt den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts auf alle Straftaten, die im Ausland gegen einen Träger deutscher öffentlicher Gewalt während der Ausübung seines Dienstes oder in Beziehung auf seinen Dienst begangen werden. Ob Täter oder Opfer deutsche oder ausländische Staatsangehörige sind, ist ebenso unerheblich wie die Frage, ob die Tat nach dem Recht des Tatorts strafbar ist oder nicht. Auch Ausländer, die nach deutschem Recht Amtsträger, für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichtete oder Soldaten (vgl. § 37 Abs. 2 SG) sind, werden gemäß § 5 Nr. 14 vom deutschen Strafrecht geschützt. Deutsches Strafrecht gilt dabei nicht nur für Staatsschutzdelikte, sondern für alle Taten, die gegen einen Träger von Hoheitsgewalt gerichtet sind. Die Vorschrift spiegelt § 5 Nr. 12, wobei zusätzlich ausländische Amtsträger und Soldaten der Bundeswehr in den Schutzbereich einbezogen sind.

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a) Geschützter Personenkreis. Zum Begriff Amtsträger siehe § 11 Abs. 1 Nr. 2, zum Begriff des „für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten“ § 11 Abs. 1 Nr. 4. Praktisch bedeutsam ist die Vorschrift vor allem bei Taten gegen Diplomaten. Wer Soldat der Bundeswehr ist, ergibt sich nicht aus dem StGB. Einen besonderen strafrechtlichen Soldatenbegriff, der etwa dem Amtsträgerbegriff (§ 11 Abs. 1 Nr. 2) vergleichbar wäre, gibt es nicht; maßgeblich ist der verwaltungsrechtliche Soldatenbegriff des Soldatengesetzes (BGBl. 1956 I 114), näher Schölz/Lingens § 1 Rdn. 2. Soldat ist demnach, wer auf Grund der Wehrpflicht oder auf Grund freiwilliger Ver202 pflichtung in einem Wehrdienstverhältnis steht (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 SG). Einzelheiten über Beginn, Ende und Wirksamkeit des Wehrdienstverhältnisses bei Schölz/Lingens4 § 1 Rdn. 3 ff. Zur Problematik, die sich im Zusammenhang mit dem Status als Soldat aus der Fehlerhaftigkeit von Einberufungsbescheiden ergeben kann, siehe BGH NZWehrR 1967 173. 203

b) Völkerrechtliche Rechtfertigung. Die Vorschrift lässt sich mit dem passiven Personalitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 247 ff) rechtfertigen.101 Dagegen ist es eher fernliegend, die Vorschrift dem Staatsschutzprinzip zuzuordnen.102 Kriminalpolitisch legitim ist die Erstreckung des Strafrechtsschutzes durch § 5 Nr. 14 deshalb, weil sich die Opfer typischerweise auf Grund einer dienstlichen Anordnung im Ausland befinden und ihnen daher größtmöglicher Strafrechtsschutz zusteht, zumindest was die Beeinträchtigung wichtiger persönlicher Rechtsgüter angeht.

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c) Voraussetzungen. § 5 Nr. 14 setzt voraus, dass sich der Verletzte in Ausübung des Dienstes befindet (etwa bei einer internationalen Behörde oder bei einem der NATOStäbe) oder dass die Tat in Beziehung auf seinen Dienst (Rdn. 193) begangen ist. Das ist der Fall, wenn der Umstand, dass er Amtsträger, für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteter oder Soldat ist, zumindest ein mitbestimmender Beweggrund für die Tat war. Nicht notwendig ist, dass der Verletzte sich im Ausland aufhält (Tröndle/Fischer

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Oehler Rdn. 584 ff; Zieher S. 122 ff. AA Hoyer SK Rdn. 31. So aber Ambos MK Rdn. 39; Böse NK Rdn. 18; Henrich S. 43; Oehler Rdn. 584; Zieher S. 125.

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Rdn. 14). Befindet sich der Verletzte im Inland, wird allerdings häufig (auch) ein Tatort im Inland begründet sein, so dass das deutsche Strafrecht dann schon nach § 3 gilt. „Gegen“ einen Amtsträger oder Soldaten richtet sich die Tat, wenn er von dem An- 205 griff wenigstens mit betroffen ist (§ 7 Rdn. 69). Es genügt deshalb nicht, dass die Tat – etwa eine Strafvereitelung – ausschließlich ein staatliches Rechtsgut verletzt (Sch/ Schröder/Eser/Weißer Rdn. 31). Zu den Verletzten im dargelegten Sinne gehört auch nicht, wer an der Tat selbst beteiligt ist, wie etwa der Bundeswehrsoldat, der zur Fahnenflucht angestiftet wird.103 17. Straftaten im Amt (§§ 331 bis 337). § 5 Nr. 15 wurde durch das G zur Bekämp- 206 fung der Korruption vom 20.11.2015 (BGBl. I 2025) eingefügt und dient (auch) der Umsetzung der Vorgaben von Art. 17 Abs. 1 Buchst. b des Strafrechtsübereinkommens des Europarates über Korruption (Vor § 3 Rdn. 215) und von Art. 8 i.V.m. Art. 2 bis 6 des Zusatzprotokolls zum Strafrechtsübereinkommen über Korruption (Vor § 3 Rdn. 215; BTDrucks. 18/4350); eingehend Isfen JZ 2016 228 sowie Weigend in Hoven/Kubiciel, Das Verbot der Auslandsbestechung. Durch Einfügung des § 5 Nr. 15 wurden die bisherigen strafanwendungsrechtlichen Vorschriften zu Bestechungsdelikten aus dem Nebenstrafrecht (namentlich des IntBestG, EUBestG, hierzu Voraufl. Rdn. 192 ff und 200, sowie des NATOTruppen-SchutzG und des IStGH-GleichstellungsG) in das StGB überführt und zugleich erweitert (BTDrucks. 18/4350 S. 13).104 a) Voraussetzungen. Die Bestimmungen unterscheidet vier Anwendungsbereiche, 207 in denen Auslandstaten nach §§ 331 bis 337 unabhängig vom Recht des Tatortes dem deutschen Strafrecht unterliegen: Der Täter ist zur Zeit der Tat Deutscher (Buchst. a), der Täter ist zur Zeit der Tat europäischer Amtsträger und seine Dienststelle hat ihren Sitz im Inland (Buchst. b), die Tat wird gegenüber einem Amtsträger, einem für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten oder einem Soldaten der Bundeswehr begangen (Buchst. c) oder die Tat wird gegenüber einem europäischen Amtsträger oder Schiedsrichter, der zur Zeit der Tat Deutscher ist, oder einer nach § 335a gleichgestellten Person begangen, die zur Zeit der Tat Deutsche ist (Buchst. d). Die Geltung deutschen Strafrechts gem. § 5 Nr. 15 Buchst. a setzt voraus, dass der 208 Täter zur Zeit der Tat Deutscher (Rdn. 16) ist. Dies entspricht den Vorgängerregelungen in Art. 2 § 2 Nr. 1 EuBestG, soweit die §§ 332, 334 bis 336 betroffen sind, und in Art. 2 § 3 Nr. 1 IntBestG, soweit die §§ 334 bis 336 betroffen sind. Die Erstreckung deutschen Strafrechts auch auf Fälle im Ausland begangener Taten nach §§ 331 (Vorteilsannahme), 333 (Vorteilsgewährung) und 337 (Schiedsrichtervergütung) erweitert die bisherigen Regelungen. Der praktische Anwendungsbereich dürfte jedoch eng sein, da sich die Anwendung deutschen Strafrechts in einer Vielzahl der Fälle bereits aus § 5 Nr. 12 ergibt. Nach § 5 Nr. 15 Buchst. b gilt deutsches Strafrecht für Straftaten im Amt nach den 209 §§ 331 bis 337 dann, wenn der Täter zur Zeit der Tat Europäischer Amtsträger ist und seine Dienststelle ihren Sitz im Inland hat. Der besondere Inlandsbezug des Sitzes der Dienststelle im Inland entspricht Art. 2 § 2 Nr. 1 Buchst. b Doppelbuchst. bb EUBestG und dient der Vermeidung paralleler Zuständigkeiten mehrerer Mitgliedsstaaten.105

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103 Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 31. 104 Böse NK Rdn. 18a; siehe zur Korruptionsbekämpfung im Ausland durch das deutsche Strafrecht auch Isfen JZ 2016 228 sowie Horrer KritV 2010 304; zu der Frage der Vereinbarkeit des Anwendungsbereiches des UK Bribery Acts mit den Grundsätzen des Völkerrechts siehe Kappel/Lagodny StV 2012 695. 105 So auch Böse NK Rdn. 18b und Ambos MK Rdn. 40,

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§ 5 Nr. 15 Buchst. c erfordert, dass der Vorteilsempfänger ein Amtsträger, ein für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteter oder ein Soldat der Bundeswehr ist. Auch diese Formulierung entspricht im Wesentlichen der Vorgängerregelung in Art. 2 § 2 Nr. 2 EUBestG. Darüber hinausgehend ermöglicht die Einbeziehung von § 333 allerdings, dass auch Vorteilsgewährungen durch Ausländer im Ausland an den in Buchst. c genannten Personenkreis erfasst sind. In Umsetzung von Art. 17 Abs. 1 Buchst. c des Strafrechtsübereinkommens des Europarates über Korruption wurde auf das Erfordernis der deutschen Staatsbürgerschaft des Vorteilsempfängers verzichtet. Schließlich ermöglicht § 5 Nr. 15 Buchst. d die Anwendung deutschen Strafrechts, 211 wenn der Vorteilsempfänger Europäischer Amtsträger, Schiedsrichter oder eine nach § 335a gleichgestellte Person ist. Gemeinsame Voraussetzung ist jeweils, dass der Empfänger des Vorteils Deutscher ist.106 Die Erstreckung deutschen Strafrechts auf Fälle der Bestechung deutscher Schiedsrichter und der Vorteilsgewährung an deutsche Schiedsrichter im Ausland ist auf die Umsetzung von Art. 17 Abs. 1 Buchst. b des Strafrechtsübereinkommens des Europarates über Korruption zurückzuführen.

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b) Völkerrechtliche Rechtfertigung. § 5 Nr. 15 Buchst. a knüpft an die deutsche Staatsangehörigkeit des Täters an und beruht somit auf dem aktiven Personalitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 251 ff). Soweit von § 5 Nr. 15 echte Amtsdelikte wie §§ 331 f, 336 erfasst sind, wird das aktive Personalitätsprinzip um das Staatsschutzprinzip ergänzt (vgl. hierzu bereits Rdn. 189 ff). An das Staatsschutzprinzip wird hingegen ausschließlich angeknüpft, soweit § 5 Nr. 15 Buchst. c die Erstreckung deutscher Strafgewalt davon abhängig macht, dass die Taten gegenüber einem Amtsträger (§ 11 Abs. 1 Nr. 2), einem für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten (§ 11 Abs. 1 Nr. 4) oder einem Soldaten der Bundeswehr begangen werden, da die Anwendung deutschen Strafrechts in diesen Fällen nicht von der Staatsangehörigkeit des Täters abhängt. Um eine Erweiterung des Staatsschutzprinzips handelt es sich bei dem Unionsschutzprinzip (Vor § 3 Rdn. 271), das in § 5 Nr. 15 Buchst. b und Buchst. d verwirklicht worden ist.107 Es besteht jedoch insoweit eine Einschränkung, als in den Fällen von Buchst. b die Dienststelle des Europäischen Amtsträgers ihren Sitz im Inland haben muss, in den Fällen von Buchst. d der Empfänger des Vorteils die deutsche Staatsangehörigkeit haben muss. Durch letztere Einschränkung wird ergänzend an das passive Personalitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 247 ff) angeknüpft.

18. Bestechlichkeit und Bestechung von Mandatsträgern (§ 108e). Nach § 5 Nr. 16 gilt das deutsche Strafrecht für Taten gem. § 108e, die im Ausland begangen werden, wenn der Täter (Buchst. a) (Rdn. 20 ff) oder derjenige, gegenüber dem die Tat begangen wird (Buchst. b), Deutscher (Vor § 3 Rdn. 345; § 7 Rdn. 55 ff) ist oder die Tat von oder gegenüber einem Mitglied einer deutschen Volksvertretung begangen wird. Dies gilt auch dann, wenn die Tat nach dem Recht des Tatorts nicht mit Strafe bedroht ist. Mit der Vorschrift, die am 22.9.1998 in Kraft getreten war (Nr. 14a a.F.), hatte der Ge214 setzgeber zunächst die Verpflichtung aus dem Protokoll vom 27.9.1996 zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (BTDrucks. 13/10424 S. 8 ff) umgesetzt (Vor § 3 Rdn. 192). Danach war Deutschland verpflichtet, sowohl den Kauf als auch den Verkauf der Stimme eines deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments im Ausland in den Geltungsbereich des deut213

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Kritisch zu dieser Einschränkung Isfen JZ 2016 228, 232 f. So auch Böse NK Rdn. 18b; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 34.

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Auslandstaten mit besonderem Inlandsbezug | § 5

schen Strafrechts einzubeziehen (Art. 4 Abs. 2 i.V.m. 6 Abs. 1 Buchst. b des Protokolls). Durch das G zur Bekämpfung der Korruption (BGBl. 2015 I 2025) wurde § 108e neu gefasst und neben dem Stimmenkauf und -verkauf jegliche Bestechung und Bestechlichkeit von Mandatsträgern unter Strafe gestellt. Für sämtliche der in § 108e genannten Begehungsweisen erklären § 5 Nr. 16 Buchst. a und b unter den dort genannten Voraussetzungen das deutsche Strafrecht für anwendbar. Dem Anwendungsbereich der §§ 5 Nr. 16, 108e unterfallen nunmehr zunächst neben der Bestechung und Bestechlichkeit von deutschen Mandatsträgern auf kommunaler, Landes- und Bundesebene (§ 108e Abs. 1, Abs. 3 Nr. 1–3) und von deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments (§ 108e Abs. 3 Nr. 4) auch die Bestechung und Bestechlichkeit von deutschen Mitgliedern einer parlamentarischen Versammlung einer internationalen Organisation (§ 108e Abs. 3 Nr. 5) oder eines Gesetzgebungsorgans eines ausländischen Staates (§ 108e Abs. 3 Nr. 6). Die Änderung, dass das deutsche Strafrecht darüber hinaus auch Anwendung findet, wenn die Tat von oder gegenüber einem (nichtdeutschen) Mitglied einer deutschen Volksvertretung begangen wird, wurde durch das G zur Bekämpfung der Korruption in Umsetzung von Art. 17 Abs. 1 Buchst. b und c des Strafrechtsübereinkommens des Europarates (Vor § 3 Rdn. 215) eingefügt. Nach dem Strafrechtsübereinkommen hat jede Vertragspartei ihre Gerichtsbarkeit für Bestechungstaten zu begründen, wenn der Täter oder ein an der Straftat Beteiligter „Mitglied einer innerstaatlichen öffentlich-rechtlichen Vertretungskörperschaft“ ist. Eine Anknüpfung allein an die deutsche Staatsangehörigkeit war zur Umsetzung dieser Regelung nicht ausreichend, da bei Wahlen in Kreisen und Gemeinden auch EU-Bürger wählbar sind (Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG) und dadurch die Funktion eines Mandatsträgers einnehmen können.108 § 5 Nr. 16 Buchst. a ergänzt § 7 Abs. 2 Nr. 1 in Bezug auf deutsche Mandatsträger, indem Fälle erfasst werden, in denen das Tatortrecht eine Strafbarkeit nicht vorsieht (BTDrucks. 13/10424 S. 6f). Mandatsträger sind grundsätzlich keine Amtsträger (vgl. für kommunale Mandatsträger BGH Urt. v. 9.5.2006 – 5 StR 453/05), so dass sich die Geltung des deutschen Strafrechts für Auslandstaten von deutschen Mandatsträgern nicht bereits aus § 5 Nrn. 12, 13 i.V.m. §§ 331 bis 334, § 15 Buchst. a ergibt. Völkerrechtlich lässt sich die Vorschrift mit dem Staatsschutzprinzip rechtfertigen, das im Hinblick auf Mandatsträger mit deutscher Staatsangehörigkeit durch das aktive Personalitätsprinzip ergänzt wird.109 § 108e schützt das öffentliche Vertrauen in die Unkäuflichkeit der Mandatsausübung und die Funktionsfähigkeit des repräsentativen Systems (vgl. die Erläuterungen zu § 108e sowie Lackner/Kühl/Heger § 108e Rdn. 1). Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die Erstreckung der Strafgewalt auf Taten eines Ausländers gegenüber einem deutschen Mandatsträger rechtfertigen. Soweit § 108e auch Wahlen und Abstimmungen im Europäischen Parlament (§ 108e Abs. 3 Nr. 4) schützt, greift das Staatsschutzprinzip dabei in seiner erweiterten Form (Vor § 3 Rdn. 270 f), nämlich bezogen auf die Integrität der europäischen Institutionen als Unionsschutzprinzip.

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19. Organhandel- und Gewebehandel (§ 18 TPG). § 5 Nr. 17 ist durch das G über die 219 Spende, Entnahme und Übertragung von Organen (Transplantationsgesetz – TPG) vom 5.11.1997 (BGBl. I S. 2631) eingefügt worden und erweitert – auf Grundlage des aktiven Personalitätsprinzips (Vor § 3 Rdn. 251 ff) – den Geltungsbereich des deutschen Straf-

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BTDrucks. 18/4350 S. 8. Ambos MK Rdn. 41; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 36.

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rechts um Verstöße gegen § 18 TPG, die von Deutschen (Vor § 3 Rdn. 345; § 7 Rdn. 55 ff) im Ausland begangen werden. Das Transplantationsgesetz trifft Regelungen zur Spende und Entnahme von 220 menschlichen Organen oder Geweben zum Zweck der Übertragung auf andere Menschen (§ 1 Abs. 2 TPG) sowie zum Verbot des Handels mit menschlichen Organen und Geweben. Die Vermittlung vermittlungspflichtiger Organe, also solcher, die von toten Organspendern entnommen werden, ist Vermittlungsstellen vorbehalten, die an strenge Vorgaben gebunden sind (§ 12 TPG). Verboten ist es sowohl, mit Organen, die einer Heilbehandlung zu dienen bestimmt sind, zu handeln (§ 17 Abs. 1 Satz 1 TPG), als auch, Organe, die Gegenstand verbotenen Handeltreibens sind, zu entnehmen, zu übertragen oder sich übertragen zu lassen (§ 17 Abs. 2 TPG). Wegen Organ- und Gewebehandels macht sich nach § 18 TPG grundsätzlich straf221 bar, wer mit Organen oder Geweben, die einer Heilbehandlung eines anderen zu dienen bestimmt sind, Handel treibt oder Organe oder Gewebe, die Gegenstand verbotenen Handeltreibens sind, entnimmt, überträgt oder sich übertragen lässt. § 18 Abs. 4 TPG erlaubt es dem Gericht bei Organ- oder Gewebespendern, deren Organe oder Gewebe Gegenstand verbotenen Handeltreibens waren, und bei Organ- oder Gewebeempfängern von einer Bestrafung abzusehen oder die Strafe zu mildern. Nicht erfasst von § 5 Nr. 17 sind Taten nach § 19 TPG (u.a. Entnahme von Organen oder Geweben ohne dass die Voraussetzungen von §§ 3, 4 und 8 TPG vorliegen). § 5 Nr. 17 unterwirft Deutsche, die sich im Ausland am Organhandel beteiligen 222 (Rdn. 221), der deutschen Strafgewalt unabhängig davon, ob die Tat nach dem Recht des Tatorts strafbar ist. Ebenfalls unbeachtlich ist die Staatsangehörigkeit des Organempfängers und desjenigen, dessen Organe gehandelt werden. Nach Ansicht des Gesetzgebers habe sich in der Praxis gezeigt, dass Straftaten in diesem Bereich, speziell bei Vermittlungsgeschäften, häufig und vielfältige Möglichkeiten für eine Auslandsberührung aufwiesen, so dass eine Beschränkung des Verbots auf Inlandstaten unzureichend wäre (BTDrucks. 13/4355 S. 15, 32). VII. Versuch; Täterschaft und Teilnahme Die Geltung des deutschen Strafrechts nach § 5 setzt voraus, dass eine der im Katalog bezeichneten „Taten“ im Ausland „begangen“ wird (Vor § 3 Rdn. 320). Zur Strafbarkeit einer Auslandstat nach deutschem Recht genügt es danach, dass die Tat in strafbarer Weise versucht wurde (§§ 22, 23). Auch Teilnahme an fremder Tat oder versuchte Beteiligung (§§ 26, 27, 30) genügen 224 grundsätzlich (Vor § 3 Rdn. 339).110 Dies gilt mit den Einschränkungen, die sich aus der Akzessorietät der Teilnahme zur Haupttat ergeben (§ 9 Rdn. 47) auch in den Fällen der 3 Buchst. a, 5 Buchst. b, 6 Buchst. c, 8, 9 Buchst. a und b, 9a Buchst. a und b, 11a, 15 Buchst. a, 16 Buchst. a und b und 17 (näher Rdn. 20 ff). Eine Auslandstat im Sinne dieser Vorschrift liegt nicht vor, wenn es sich um eine im 225 Ausland begangene Begünstigung oder Strafvereitelung bezüglich einer in den Nummern 1 bis 11a, 15 bis 17 genannten Taten handelt. Dagegen kommen grundsätzlich auch diese Straftatbestände in Betracht, soweit es um Auslandstaten nach § 5 Nrn. 12 und 13 geht; im Fall der Nummer 14 ergeben sich Einschränkungen daraus, dass sich die Tat „gegen“ eine der dort genannten Personen richten muss (Rdn. 205). 223

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Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 4.

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VIII. Geltung für tateinheitlich verwirklichte Straftatbestände Der Geltungsanspruch des deutschen Strafrechts erfasst bei den Nrn. 1 bis 11a, 15 bis 226 17 nur die jeweils bezeichneten Straftatbestände. Beispielsweise erlaubt § 5 Nr. 6 Buchst. a nur die Anwendung der §§ 234a, 241a; für eine tateinheitlich damit im Ausland verwirklichte Freiheitsberaubung gilt das deutsche Strafrecht nicht nach § 5 Nr. 6 Buchst. a (BGHSt 40 125, 133). Allerdings wird sich in diesen Fällen häufig eine identische Tatortnorm feststellen lassen, so dass sich – mit Blick auf weitere verwirklichte Straftatbestände – die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts unter Umständen aus § 7 ergeben kann. Dagegen erfassen die Nummern 12 bis 14 jeweils alle durch die Tat verwirklichten 227 Straftatbestände, die durch oder gegen einen Amtsträger oder für den öffentlich Dienst besonders Verpflichteten begangen werden. IX. Prozessuales Für die Verfolgung von Auslandstaten gilt gem. § 153c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO das Op- 228 portunitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 370). Die Staatsanwaltschaft kann ferner gem. § 153c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO von der Verfolgung von Straftaten absehen, die ein Ausländer im Inland (Vor § 3 Rdn. 372) auf einem ausländischen Schiff begangen hat; dies betrifft etwa Taten nach Art. 12 AusfGSeeRÜbk. (Rdn. 178 ff). Bei § 5 Nrn. 2 bis 6 Buchst. a kann darüber hinaus ein Absehen von Verfolgung gem. § 153d Abs. 1 StPO in Betracht kommen.

§6 Auslandstaten gegen international geschützte Rechtsgüter Erster Abschnitt. Das Strafgesetz Auslandstaten gegen international geschützte Rechtsgüter Werle/Jeßberger § 6 https://doi.org/10.1515/9783110300413-009

Das deutsche Strafrecht gilt weiter, unabhängig vom Recht des Tatorts, für folgende Taten, die im Ausland begangen werden: 1. (aufgehoben); 2. Kernenergie-, Sprengstoff- und Strahlungsverbrechen in den Fällen der §§ 307 und 308 Abs. 1 bis 4, des 309 Abs. 2 und des 310; 3. Angriffe auf den Luft- und Seeverkehr (§ 316c); 4. Menschenhandel (§ 232); 5. unbefugter Vertrieb von Betäubungsmitteln; 6. Verbreitung pornografischer Schriften in den Fällen der §§ 184a, 184b Abs. 1 und 2 und § 184c Abs. 1 und 2, jeweils auch in Verbindung mit § 184d Abs. 1 Satz 1; 7. Geld- und Wertpapierfälschung (§§ 146, 151 und 152), Fälschung von Zahlungskarten mit Garantiefunktion und Vordrucken für Euroschecks (§ 152b Abs. 1 bis 4) sowie deren Vorbereitung (§§ 149, 151, 152 und 152b Abs. 5); 8. Subventionsbetrug (§ 264); 9. Taten, die auf Grund eines für die Bundesrepublik Deutschland verbindlichen zwischenstaatlichen Abkommens auch dann zu verfolgen sind, wenn sie im Ausland begangen werden. Schrifttum Ambos Aktuelle Probleme der deutschen Verfolgung von „Kriegsverbrechern“ in Bosnien-Herzegowina, NStZ 1999 226; ders. Völkerrechtliche Bestrafungspflichten bei schweren Menschenrechtsverletzungen, AVR 37 (1999) 328; Arzt Zur identischen Strafnorm etc., Festgabe zum Schweizer Juristentag (1988)

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417; Bassiouni Universal Jurisdiction for International Crimes, Virginia Journal of International Law 42 (2001) 81; Behrendt Die Verfolgung des Völkermordes in Ruanda durch internationale und nationale Gerichte (2005); Benavides The Universal Jurisdiction Principle: Nature and Scope, Anuario Mexicano de Derecho International 1 (2001) 19; Bungenberg Extraterritoriale Strafrechtsanwendung bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord, AVR 39 (2001) 170; Eser Völkermord und deutsche Strafgewalt, Festschrift Meyer-Goßner (2001) 3; ders. Das „Internationale Strafrecht“ in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, Festgabe BGH 50 (2000) 3; ders. National Jurisdiction over Extraterritorial Crime within the Framework of International Complementarity in Vohrah et al. (Hrsg.) Man’s Inhumanity to Man (2003) 279; ders. For Universal Jurisdiction: Against Fletcher’s Antagonism, Tulsa Law Review 39 (2004) 955; Gärditz Weltrechtspflege (2006); Henzelin Le principe de l’universalité en droit pénal international (2001); Hilgendorf Nationales oder transnationales Strafrecht? Festschrift 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät (2002) 333; Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts (2011); Keller Zu Weltrechtspflege und Schuldprinzip, Festschrift Lüderssen (2002) 425; ders. Grenzen, Unabhängigkeit und Subsidiarität der Weltrechtspflege, GA 2006 25; Kreß Völkerstrafrecht und Weltrechtsprinzip im Blickfeld des Internationalen Gerichtshofes, ZStW 114 (2002) 818; ders. Universal Jurisdiction over International Crimes and the Institut de Droit international, Journal of International Criminal Justice 4 (2006) 561; Maierhöfer „Aut dedere – aut iudicare“ (2006); Merkel Universale Jurisdiktion bei völkerrechtlichen Verbrechen in Lüderssen (Hrsg.) Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse, Band 3 (1999) 237; Morris Universal Jurisdiction in a divided world, New England Law Review 35 (2001) 337; O’Keefe Universal Jurisdiction, Journal of International Criminal Justice 2 (2004) 735; Oehler Neuerer Wandel in den Bestimmungen über den strafrechtlichen Geltungsbereich in den völkerrechtlichen Verträgen, Festschrift Carstensen (1984) 435; Randall Universal Jurisdiction Under International Law, Texas Law Review 66 (1988) 785; Reydams Universal Jurisdiction (2003); Rüter Ein Grenzfall: Die Bekämpfung der internationalen Drogenkriminalität im Spannungsfeld zwischen den Niederlanden und der Bundesrepublik Deutschland, JR 1988 136; Scharf Application of Treaty-Based Universal Jurisdiction to Nationals of Non-Party States, New England Law Review 35 (2001) 363; Tomuschat The Duty to Prosecute International Crimes Committed by Individuals, Festschrift Steinberger (2001) 315; ders. National Prosecution, Truth Commissions and International Criminal Justice in Werle (Hrsg.) Justice in Transition (2006) 157; Weigend Grund und Grenzen universaler Jurisdiktion, Festschrift Eser (2005) 955. Vgl. ferner vor den Vorbemerkungen zu den §§ 3 bis 7.

Entstehungsgeschichte Vgl. zunächst die Entstehungsgeschichte zu § 5. § 6 Nr. 7 geht zurück auf die Ursprungsfassung des § 4 Abs. 2 Nr. 1 RStGB, die durch G vom 26.2.1876 (RGBl. I S. 25), G vom 26.5.1933 (RGBl. I S. 295) und G vom 24.4.1934 (RGBl. I S. 341) geändert wurde. Die GeltungsbereichsVO vom 6.5.1940 (RGBl. I S. 754) fasste in § 4 Abs. 3 RStGB – beschränkt auf Auslandstaten von Ausländern – unter anderem die Materie des geltenden § 6 Nrn. 4 bis 7 zusammen. § 4 RStGB wurde durch die Gesetze, die in der Entstehungsgeschichte zu § 5 näher aufgeführt sind, mehrfach geändert. Die Fassung des § 6, die seit 1.1.1975 in Kraft ist, geht auf § 5 E 1962 zurück. § 6 i.d.F. des 2. StrRG vom 4.7.1969 (BGBl. I S. 717) wurde durch das EGStGB vom 2.3.1974 (BGBl. I S. 469) geändert. In der Folgezeit hat es weitere Änderungen gegeben. Durch das 1. WiKG vom 29.7.1976 (BGBl. I S. 2034) wurde als Nummer 8 der Subventionsbetrug eingefügt. Durch Art. 1 Nr. 1 des 2. WiKG vom 15.5.1986 (BGBl. I S. 721), in Kraft seit dem 1.8.1986, erhielt Nummer 7 die geltende Fassung, die gegenüber der früheren die Geltung des deutschen Strafrechts auf die Fälschung von Vordrucken für Euroschecks und Euroscheckkarten (§ 152a a.F.) erstreckt (dazu Weber NStZ 1986 481, 485). Es folgte das Gesetz zu dem Übereinkommen vom 10.3.1988 zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Seeschifffahrt (Vor § 3 Rdn. 180) und zum Protokoll vom 10.3.1988 zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit fester Plattformen, die sich auf dem Festlandsockel befinden (Vor § 3 Rdn. 180), vom 13.6.1990 (BGBl. II S. 494); das Werle/Jeßberger

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Auslandstaten gegen international geschützte Rechtsgüter | § 6

Gesetz fasste die Nummer 3 neu, so dass sie den Seeverkehr in den erweiterten Strafrechtsschutz einbezieht. Durch Art. 1 Nr. 1 des gegen den Menschenhandel gerichteten 26. StRÄndG vom 14.7.1992 (BGBl. I S. 1255) wurden in Nummer 4 die Worte „Förderung der Prostitution in den Fällen des § 180a Abs. 3 bis 5 und“ ersetzt durch die Worte „Menschenhandel (§ 180b) und schwerer“. Die Bestimmung wurde damit an die Neufassung der Vorschriften über Menschenhandel und schweren Menschenhandel (§§ 180b, 181 a.F.) angeglichen. Das 27. StRÄndG vom 23.7.1993 gegen Kinderpornografie (BGBl. I S. 1346) fügte in Nummer 6 der Angabe „§ 184 Abs. 3“ die Angabe „und 4“ an. Durch Art. 1 Nr. 3 Buchst. a des 6. StrRG vom 26.1.1998 (BGBl. I S. 164) heißt es nun in Nummer 2 nicht mehr „in den Fällen der §§ 310b, 311 Abs. 1 bis 3, des 311a Abs. 2 und des 311b“ sondern „in den Fällen der §§ 307 und 308 Abs. 1 bis 4, des § 309 Abs. 2 und des § 310“. Hierbei handelt es sich lediglich um redaktionelle Änderungen, die den sachlichen Gehalt dieser Vorschrift nicht verändern. Zugleich bezog Art. 1 Nr. 3 Buchst. b des 6. StrRG in Nummer 7 auch die Vorbereitung der Fälschung von Zahlungskarten und Vordrucken für Euroschecks (§ 152a Abs. 5) ein. Nummer 1, die in § 6 Taten des Völkermordes gem. § 220a a.F. erfasste, wurde durch Art. 2 Nr. 2 des Gesetzes zur Einführung des Völkerstrafgesetzbuches v. 26.6.2002 (BGBl. I S. 2254) aufgehoben; für Völkermord gem. § 6 VStGB gilt das deutsche Strafrecht nunmehr gem. § 1 VStGB (zu den Gründen BTDrucks. 14/8524 S. 36 f; Werle/Jeßberger JZ 2002 725). Die Nummer 6 wurde durch Art. 1 Nr. 2 des SelbstbG vom 27.12.2003 (BGBl. I S. 3007) an die Neuordnung des § 184 (Verbreitung pornografischer Schriften) angepasst und lautete zunächst „in den Fällen der §§ 184a und 184b Abs. 1 bis 3, auch in Verbindung mit § 184c Satz 1“ anstatt „in den Fällen des § 184 Abs. 3 und 4“. Seine geltende Fassung erhielt Nummer 7 durch Art. 1 Nr. 2 des 35. StrÄndG vom 22.12.2003 (BGBl. I S. 2838), wobei es sich um eine Folgeregelung zu den Änderungen der §§ 150, 152a, 152b handelt. Nummer 4 wurde durch Art. 1 Nr. 2 des 37. StrÄndG vom 11.2.2005 (BGBl. I S. 239) an die Überführung der Strafvorschriften gegen Menschenhandel (§§ 180b, 181 a.F.) in den neuen § 232 angepasst; zudem wurden die §§ 233 und 233a in den Katalog des § 6 Nr. 4 aufgenommen. Durch Art. 1 Nr. 2 des G zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates der Europäischen Union zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie vom 31.10.2008 (BGBl. I S. 2149) wurden in Nummer 6 die Worte „und § 184b Abs. 1 bis 3, auch in Verbindung mit § 184c Satz 1“ durch die Worte „, 184b Abs. 1 bis 3 und § 184c Abs. 1 bis 3, jeweils auch in Verbindung mit § 184d Satz 1“ ersetzt, welche wiederum durch Art. 1 Nr. 3 des 49. StRÄndG vom 21.1.2015 (BGBl. I S. 10) durch die Worte „184b Absatz 1 und 2 und § 184c Absatz 1 und 2, jeweils auch in Verbindung mit § 184d Absatz 1 Satz 1“ ersetzt wurden. Aufgrund der Neuordnung der §§ 232 ff wurden die zunächst in Nummer 4 aufgenommenen §§ 233 und 233a durch Art. 1 Nr. 1 des G zur Verbesserung der Bekämpfung des Menschenhandels und zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes sowie des Achten Buches Sozialgesetzbuch vom 11.10.2016 (BGBl. I S. 2226) wieder gestrichen. Gesetzesmaterialien § 5 E 1962, Begr. S. 109; vgl. weiterhin wie vor § 5. Entwurf eines 2. WiKG, BTDrucks. 10/119; Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss), BTDrucks. 10/5058 S. 4, 25. Entwurf eines StRÄndG – Menschenhandel, BRDrucks. 638/ 91 S. 1, 7 und BTDrucks. 12/2046 S. 3, 5, 7; Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss), BTDrucks. 12/2589 S. 4. Entwurf eines StRÄndG – Kinderpornografie, BTDrucks. 12/3001; Beschlussempfehlung und Bericht des Rechts633

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ausschusses (6. Ausschuss), BTDrucks. 12/4883 S. 4, 7; BT, 163. Sitzung, Plenarprotokoll 12/163 S. 4060 ff. Entwurf eines Sechsten Gesetzes zur Reform des Strafrechts (6. StrRG), BTDrucks. 13/7164 S. 3, 27; BTDrucks. 13/8587 S. 4, 27, 56, 80; Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses (6. Ausschuss), BTDrucks. 13/8991 S. 13; Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss), BTDrucks. 13/9064 S. 9; Gesetzesbeschluss des BT, BRDrucks. 931/97. Entwurf eines 37. StrÄndG, BTDrucks. 15/3045 S. 3, 7; Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss), BTDrucks. 15/4048 S. 3, 11; Gesetzesbeschluss des BT, BRDrucks. 988/04. Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung anderer Vorschriften, BTDrucks. 15/350 S. 5, 13; Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss), BTDrucks. 15/1311 S. 7; Gesetzesbeschluss des BT, BRDrucks. 853/03. Entwurf eines 35. StrÄndG, BTDrucks. 15/1720 S. 5, 8; Gesetzesbeschluss des BT, BRDrucks. 880/03. Entwurf eines 37. StrÄndG, BTDrucks. 15/3045, Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss), BTDrucks. 15/048; Gesetzesbeschluss des BT, BRDrucks. 846/04. Entwurf eines G zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates der Europäischen Union zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie, BRDrucks. 625/06, BTDrucks. 16/3439; Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss), BTDrucks. 16/9646; Gesetzesbeschluss des BT, BRDrucks. 614/08. Entwurf eines G zur Änderung des Strafgesetzbuches – Umsetzung europäischer Vorgaben zum Sexualstrafrecht, BTDrucks. 18/2601, Begr. S. 13 f; Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss), BTDrucks. 18/3202; Gesetzesbeschluss des BT, BRDrucks. 574/14. Entwurf eines G zur Umsetzung der Richtlinie 2011/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2002/629/JI des Rates, BRDrucks. 54/15, BTDrucks. 18/4613; Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss), BTDrucks. 18/9095; Gesetzesbeschluss des BT, BRDrucks. 464/16.

I. II. III.

IV.

Übersicht Bedeutung | 1 Systematik | 5 Völkerrechtliche Rechtfertigung | 9 1. Universalitätsprinzip | 10 2. Staatsschutzprinzip | 14 3. Vertragsprinzip | 15 4. Völkerrechtskonforme Reduktion | 25 a) Einschränkung des Anwendungsbereichs von § 6 in der Rechtsprechung | 27 b) Materiellrechtliche Reduktion und prozessuale Korrektur | 36 Voraussetzungen im Einzelnen 1. Kernenergie-, Sprengstoff- und Strahlungsverbrechen | 40 2. Angriffe auf den Luft- und Seeverkehr | 51 3. Menschenhandel | 60 4. Unbefugter Vertrieb von Betäubungsmitteln | 69

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a)

5. 6.

7. 8.

Anwendungsvoraussetzungen | 72 b) Völkerrechtliche Rechtfertigung | 77 Verbreitung gewalt-, tier- und kinderpornografischer Schriften | 86 Fälschung von Geld, Wertpapieren, Zahlungskarten mit Garantiefunktion und Vordrucken für Euroschecks sowie Vorbereitung der Fälschung | 89 Subventionsbetrug | 95 Auslandstaten, die auf Grund zwischen staatlicher Abkommen zu verfolgen sind | 101 a) Allgemeines aa) Bedeutung | 102 bb) Gesetzliche Bestimmtheit der Strafbarkeit | 105 cc) Vertragliche Verfolgungspflicht und universeller Geltungsbereich | 108

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Auslandstaten gegen international geschützte Rechtsgüter | § 6

b)

Voraussetzungen aa) Begriff der Tat | 115 bb) Verbindliches zwischenstaatliches Abkommen | 120 cc) Pflicht zur Verfolgung von Auslandstaten | 123

c)

V.

Anwendungsbereich | 133 d) Völkerrechtliche Rechtfertigung | 138 Prozessuales | 141

I. Bedeutung Nach § 6 gilt das deutsche Strafrecht für bestimmte Auslandstaten auch dann, wenn das Tatortrecht die Tat nicht mit Strafe bedroht. Anders als § 5 macht § 6 dabei keine täter- oder opferbezogenen Einschränkungen. Auf die Staatsangehörigkeit des Täters oder Teilnehmers kommt es nach dem Gesetzeswortlaut nicht an (siehe aber Rdn. 36). Während der Gesetzgeber mit § 5 Auslandstaten „mit besonderem Inlandsbezug“ erfasst, betrifft § 6 ausweislich der amtlichen Überschrift bestimmte, durch die katalogartig aufgezählten Straftaten verletzte oder gefährdete „international geschützte Rechtsgüter“. § 6 bezieht sich dabei ersichtlich auf einen Begriff des „international geschützten Rechtsgutes“, der daran anknüpft, dass mehrere Staaten – darunter die Bundesrepublik Deutschland – gemeinsam den Schutz eines bestimmten Rechtsgutes mit den Mitteln des Strafrechts sicherstellen wollen. Bewirkt wird diese „Internationalisierung“ des Strafrechtsschutzes durch vertragliche Vereinbarungen zwischen den Staaten. Entsprechend bilden zwischenstaatliche Abkommen, in denen sich Deutschland zum Schutz bestimmter Rechtsgüter mit den Mitteln des Strafrechts verpflichtet hat, die Grundlage für die Auswahl der Katalogtaten in § 6.1 Besonders deutlich wird dies bei Nummer 9, wo der Geltungsbereich des deutschen Strafrechts generalklauselartig auf Auslandstaten erstreckt wird, bei denen Deutschland eine völkervertragliche Verfolgungspflicht trifft. Mit der vom Gesetz programmatisch in Bezug genommenen „Internationalität“ der Rechtsgüter ersichtlich nicht gemeint ist dagegen, dass es sich bei dem geschützten Interesse unmittelbar um ein eigenes Interesse der Staatengemeinschaft als solcher – etwa den Weltfrieden oder die internationale Sicherheit – handelt oder dass das betroffene Rechtsgut übereinstimmend in allen Rechtsordnungen der Welt Schutz genießt, wie etwa das Leben oder die körperliche Unversehrtheit. Zu den Folgen, die sich aus dem Begriff des „internationalen Rechtsgutes“ (dazu Rdn. 2) für die Zuordnung der Vorschrift zum Universalitätsprinzip und für ihre völkerrechtliche Rechtfertigung ergeben siehe Rdn. 15 ff. Die nach ihrem Wortlaut weit ausgreifende Vorschrift hat bisher nur geringe praktische Bedeutung erlangt. Die wenigen zu verzeichnenden Anwendungsfälle betrafen die Nummer 52 sowie die Nummern 1 a.F. und 93 sowie in einem vielbeachteten Verfahren („Hamburger Piratenprozess“) die Nummer 3.4

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II. Systematik Wie § 5 ist auch § 6 eine Sammelbestimmung, die alle Fälle erfassen soll, in denen 5 deutsches Strafrecht unabhängig vom Recht des Tatorts gilt und die – insofern anders als § 5 – nach Auffassung des Gesetzgebers (auch) international geschützte Rechtsgüter

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Satzger § 5 Rdn. 75; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 1b. BGHSt 34 334; 27 30. BGHSt 46 292; 46 212; 45 64; NStZ 1999 236; NStZ 1994 485. LG Hamburg Urt v 19.10.12 – 603 KLs 17/10 – Rdn. 740 ff.

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§ 6 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

(Rdn. 2) betreffen. Der Katalog des § 6 lässt jenseits des Zusammenhangs mit internationalen Abkommen (Rdn. 2 f) – keine inhaltlichen, etwa rechtsgutorientierten Auswahlkriterien erkennen und scheint vielfach ohne Rücksicht auf die völkerrechtliche Zulässigkeit einer so weitreichenden Ausdehnung deutscher Strafgewalt entstanden zu sein.5 Gemeinsam ist den in § 6 zusammengefassten Fällen allein das formelle Kriterium des Zusammenhangs mit zwischenstaatlichen Abkommen, die Deutschland mit anderen Staaten zum Schutz von insoweit „international geschützten“ Rechtsgütern (Rdn. 2) geschlossen hat. Diese formelle Gemeinsamkeit erklärt die Heterogenität des Straftatenkatalogs; sie hat auch unmittelbare Auswirkungen auf die Auslegung der Vorschrift (näher Rdn. 15 ff). In den Nummern 2 bis 4 und 6 bis 8 sind – wie überwiegend auch in § 5 (§ 5 Rdn. 9) 6 – die Auslandstaten, für die das deutsche Strafrecht gilt, mit abstrakten Straftatbeständen abschließend gekennzeichnet. Eine entsprechende Anwendung des § 6 auf andere als die darin genannten Fälle scheidet wegen des Verbots strafbegründender Analogie (§ 1, Art. 103 Abs. 2 GG) aus (BGHSt 45 64, 71; siehe auch Vor § 3 Rdn. 287); idealkonkurrierende Straftatbestände können nur angewendet werden, wenn sie nach einer anderen Norm des Strafanwendungsrechts, namentlich nach den §§ 4, 5 oder 7, anwendbar sind. So lässt sich die Geltung des deutschen Strafrechts für ein mit § 316c zusammentreffendes Tötungsdelikt nicht mit § 6 Nr. 3 begründen.6 Unzulässig ist es auch, den Anwendungsbereich des § 6 unter Berufung auf ein der Geltungsbereichsnorm tatsächlich oder vermeintlich zugrunde liegendes Abkommen und dessen Schutzzweck auf Straftatbestände zu erstrecken, die in den Nummern 2 bis 4 und 6 bis 8 nicht genannt sind.7 Im Zusammenhang mit § 6 Nr. 1 a.F. hat der Bundesgerichtshof allerdings eine 7 „Annexkompetenz“ angenommen, wonach der Geltungsbereich des Strafrechts über die Völkermordtat gem. § 220a Abs. 1 Nr. 1 a.F. hinaus auch tateinheitlich verwirklichte Verbrechen des Mordes gem. § 211 erfassen soll (BGHSt 46 292, 296; BGHSt 45 64, 69 ff = JZ 1999 1176 mit insoweit zust. Anm. Werle; = NStZ 1999 396 mit insoweit zust. Anm. Ambos).8 Überzeugend begründet wurde dies damit, dass Völkermord gem. § 220a Abs. 1 Nr. 1 a.F. (jetzt: § 6 Abs. 1 Nr. 1 VStGB) ebenso wie § 212 als Tatbestandsmerkmal die vorsätzliche Tötung eines Menschen voraussetze und die vom Völkermordtatbestand erforderte Zerstörungsabsicht in aller Regel zugleich das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe erfülle. Diese „innere Verzahnung“ der genannten Tatbestände gehe über die durch bloße Identität der Ausführungshandlung begründete Tateinheit hinaus und rechtfertige die Annahme der sog. Annexkompetenz. Dabei soll es sich nicht um eine durch das Analogieverbot untersagte entsprechende, sondern um eine unmittelbare Anwendung des § 6 Nr. 1 a.F. handeln.9 Anders als in den Nummern 2 bis 4 und 6 bis 8 wird in den Nummern 5 und 9 der 8 Geltungsbereich nicht auf einen konkreten Straftatbestand des deutschen Strafrechts erstreckt und beschränkt. § 6 Nr. 5 stellt auf den „unbefugten Vertrieb“ von Betäubungsmitteln ab;10 hier fehlt es im deutschen Recht an einer entsprechenden Strafnorm

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5 Kritisch auch Merkel in Lüderssen S. 237, 240 ff; Weigend FS Eser, S. 955, 958; siehe auch Ambos MK Rdn. 3; Hilgendorf JR 2002 82, 83. 6 BGH NJW 1991 3104; Böse NK Rdn. 6. 7 Höchst bedenklich die Gegenansicht von Lemke NK2 Rdn. 3, der eine „erweiternde Auslegung“ unter Umständen für geboten hält; dagegen zutr. Böse NK Rdn. 6. 8 Insoweit zust. auch Eser FG BGH 50, S. 3, 26. 9 BGHSt 45 64, 71. Vgl. zur Frage einer Annexkompetenz in einem Fall des § 6 Nr. 3 BGH NStZ 2019 460, 461. 10 Kritisch mit Blick auf Art. 103 Abs. 2 GG Schrader NJW 1986 2874.

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(näher Rdn. 72 ff). In § 6 Nr. 9 wird der Geltungsbereich allein anhand eines außertatbestandlichen Kriteriums bestimmt; maßgeblich ist das Bestehen einer vertraglichen Verfolgungspflicht. Namentlich in den Fällen des § 6 Nr. 9 und – mit Einschränkungen – auch des § 6 Nr. 5 gilt danach anders als bei den Nummern 2 bis 4 und 6 bis 8 (Rdn. 6), dass bei Vorliegen der Voraussetzungen der Strafanwendungsnorm grundsätzlich alle einschlägigen Strafnormen des deutschen Rechts anzuwenden sind (vgl. auch Rdn. 115). III. Völkerrechtliche Rechtfertigung Die Vorschrift lässt sich keinem Geltungsprinzip einheitlich zuordnen. Mit Blick auf 9 die völkerrechtliche Rechtfertigung ist vielmehr wie folgt zu unterscheiden: 1. Universalitätsprinzip. § 6 wird überwiegend als Ausdruck des Weltrechtspflegegrundsatzes (vgl. hierzu auch Vor § 3 Rdn. 256 ff) begriffen.11 Dies ist insofern berechtigt, als § 6 seinem Wortlaut nach die Auslandsgeltung des deutschen Strafrechts schlechthin anordnet, also selbst für Taten von Ausländern gegen Ausländer. Gleichwohl bedarf die völkerrechtliche Zulässigkeit einer solchen Geltungserstreckung der gesonderten Prüfung; die einseitige Anordnung des deutschen Gesetzgebers reicht insoweit nicht aus. Die nähere Prüfung ergibt, dass nur ein Teil der in § 6 geregelten Fälle in dem schmalen Bereich liegt, in dem das Völkerrecht die Ausübung von Strafgewalt auf Grundlage des Universalitätsprinzips (Vor § 3 Rdn. 256 ff) erlaubt. Durch das Universalitätsprinzip gedeckt ist die Geltung des deutschen Strafrechts nur in bestimmten Fällen des § 6 Nr. 9, nämlich soweit dieser die Geltung des deutschen Strafrechts für Kriegsverbrechen verfügt (Rdn. 135; für Foltertaten siehe Vor § 3 Rdn. 263 und Rdn. 133 ff). Die entsprechenden Regelungen der Genfer Abkommen (Vor § 3 Rdn. 86 f) sind durch universelles Völkergewohnheitsrecht abgesichert.12 Im Übrigen hat der Gesetzgeber den Spielraum, den das Völkerrecht den Staaten zur Ausübung universeller Strafgewalt belässt (Vor § 3 Rdn. 256 ff), in § 1 VStGB ausgeschöpft. Soweit sich die Geltung des deutschen Strafrechts für schwere Verletzungen der Genfer Abkommen aus Nr. 9 ergibt, ist zu beachten, dass diese Fälle bereits durch die vorrangigen Regelungen des Völkerstrafgesetzbuches (§§ 1, 8 ff) abgedeckt sind; das Gleiche gilt für Foltertaten, soweit diese im Rahmen eines großangelegten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung oder im Zusammenhang mit einem bewaffneten Konflikt begangen werden (§§ 1, 7, 8 VStGB). Soweit Taten gem. § 316c zugleich die Voraussetzungen der Seeräuberei erfüllen (Art. 101 SeeRÜbk., Vor § 3 Rdn. 94 ff), lässt sich die Geltung des deutschen Strafrechts nach § 6 Nummer 3 durch das unechte, weil ratione loci auf den Bereich der hohen See eingeschränkte Universalitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 264 f) rechtfertigen. Völkerrechtlich unbedenklich ist danach die Geltung des deutschen Strafrechts für Taten gem. § 316c, die von Ausländern an Ausländern auf hoher See (§ 5 Rdn. 47 ff) oder an einem anderen Ort, der keiner Strafgewalt unterliegt, begangen werden.

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11 Ambos MK Rdn. 1; Gribbohm LK11 Rdn. 1; Hecker § 2 Rdn. 50; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 1; Oehler Rdn. 867; Satzger § 5 Rdn. 73; für die Nrn. 2 bis 7 auch Böse NK Rdn. 10 ff ; vgl. Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 1. 12 Vgl. auch BayObLG NJW 1998 392, 393 (für Verletzungen des IV. Genfer Abkommens zum Schutz von Zivilpersonen).

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2. Staatsschutzprinzip. Die Nummern 7 und 8 lassen sich mit dem Staatsschutzprinzip (Vor § 3 Rdn. 244 ff) völkerrechtlich rechtfertigen. In den Fällen der Nummer 8 ist dabei das zum Unionsschutzprinzip (Vor § 3 Rdn. 270 f) erweiterte Staatsschutzprinzip heranzuziehen (näher Rdn. 100).

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3. Vertragsprinzip. Keinen völkerrechtlichen Bedenken begegnet § 6 ferner, wenn und soweit die erfassten Fälle von zwischenstaatlichen Abkommen abgedeckt sind. Hier kommt zum Tragen, dass der Gesetzgeber sich bei der Festlegung des Katalogs der Nummern 2 bis 8 an entsprechenden völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik orientiert hat (Rdn. 2). Liegen die Anwendungsvoraussetzungen des Vertrages vor, ist die Ausübung von Strafgewalt nach dem Vertragsprinzip (Vor § 3 Rdn. 269) völkerrechtlich erlaubt. Danach ist die Erstreckung deutscher Strafgewalt auf Taten, die in einem Vertragsstaat begangen werden, völkerrechtlich abgesichert, soweit das betreffende Übereinkommen dies vorsieht. Die genannten Abkommen sehen häufig eine Verpflichtung der Bundesrepublik zur Ausübung von Strafgewalt über bestimmte Auslandstaten vor (Vor § 3 Rdn. 34 ff) und setzen insoweit das Bestehen einer entsprechenden (völkerrechtlichen) Befugnis voraus. Dabei ergibt sich typischerweise die Strafbefugnis für einschlägige Inlandstaten sowie für einschlägige Auslandstaten von Inländern, gegen Inländer und gegen den Strafgewaltstaat; ergänzt werden diese Vertragsbestimmungen vielfach durch Klauseln, die die Vertragsstaaten zur Ausübung von Strafgewalt über Auslandstaten auch dann berechtigen (und verpflichten), wenn der (u.U. ausländische) Verdächtige im Inland ergriffen und nicht ausgeliefert wird. Allerdings ist stets für den Einzelfall zu prüfen, ob die Voraussetzungen vorliegen, unter denen der Vertragsstaat nach dem Abkommen zur Ausübung von Strafgewalt befugt ist. Fällt die konkrete Straftat nicht in den Anwendungsbereich des Vertrages, bildet dieser keine hinreichende völkerrechtliche Legitimationsgrundlage. Dies ist insbesondere der Fall bei Straftaten, die in einem Nicht-Vertragsstaat durch einen Angehörigen eines Nicht-Vertragsstaates begangen werden. Insoweit kann die Befugnis zur Ausübung von Strafgewalt nicht aus dem Vertrag hergeleitet werden. Unrichtig ist daher die verbreitete Auffassung, die aus dem Umstand, dass mehrere Staaten vertraglich den Schutz eines Rechtsgutes mit den Mitteln des Strafrechts vereinbart haben, pauschal auf die Befugnis jedes dieser Staaten schließen will, über diese Straftaten Strafgewalt nach dem Universalitätsprinzip auszuüben (vgl. auch Vor § 3 Rdn. 256).13 Dies ergibt sich zum einen daraus, dass nach allgemeinen völkerrechtlichen Grundsätzen eine vertraglich begründete Strafbefugnis jedenfalls nicht weiter reichen kann als der Vertrag selbst. Der Anwendungsbereich der zwischenstaatlichen Vereinbarung ratione materiae, loci und personae schlägt also unmittelbar auf die Reichweite der durch ihn vermittelten Strafbefugnis durch. Vertragliche Vereinbarungen vermögen Rechtswirkungen grundsätzlich nur zwischen den Vertragsparteien zu erzeugen (Art. 34 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23.5.1969, WVRK, BGBl. 1985 II 926). Der Geltungsbereich der Vertragsbestimmungen entspricht dem Hoheitsgebiet der Vertragsparteien und ist auf dieses begrenzt (Art. 29 WVRK). Deshalb stellt der vertragliche Kompetenztitel im Verhältnis zu Nicht-Vertragsstaaten grund-

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13 So aber Hoyer SK Rdn. 4; siehe auch Gribbohm LK11 Rdn. 2 ff; wie hier dagegen Behrendt S. 124 f; Merkel in Lüderssen S. 237, 246.

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sätzlich keine hinreichende Grundlage der Ausübung von Strafgewalt dar. Eine vertragliche Regelung über den strafrechtlichen Schutz bestimmter Rechtsgüter und über die Befugnis zur Begründung eigener Gerichtsbarkeit zwischen einer begrenzten Anzahl von Staaten kann nicht Grundlage für die Ausübung universeller Strafgewalt sein (zutr. Merkel in Lüderssen S. 247). Etwas anderes gilt nur dann, wenn sich die vertragliche Regelung zu einem Rechtssatz des Gewohnheitsrechts verdichtet hat, wie dies beispielsweise bei den Genfer Abkommen (Vor § 3 Rdn. 81 ff) der Fall ist (vgl. auch Art. 38 WVRK). Zum anderen sehen nur wenige Abkommen, auf die sich § 6 bezieht, das Universalitätsprinzip tatsächlich vor. In der Regel verpflichten oder berechtigen die Abkommen, die dem Katalog des § 6 zugrunde liegen, die Staaten nur zur Ausübung von Strafgewalt nach anderen Geltungsprinzipien als dem Universalitätsprinzip, etwa nach dem aktiven Personalitätsprinzip oder dem Prinzip stellvertretender Strafrechtspflege (im Einzelnen Vor § 3 Rdn. 52 ff). Eine Befugnis zur Ausübung universeller Strafgewalt lässt sich auch nicht aus der in zahlreichen Abkommen enthaltenen Klausel entnehmen, wonach eine im Vergleich zu den Vertragsbestimmungen weitergehende Strafgerichtsbarkeit nach innerstaatlichem Recht nicht ausgeschlossen sein soll.14 Solche Klauseln finden sich etwa in Art. 3 Abs. 3 Tokioter Abk. 1963 (Vor § 3 Rdn. 110), Art. 4 Abs. 3 Haager Übk. 1970 (Vor § 3 Rdn. 112), Art. 5 Abs. 3 Montrealer Übk. 1971 nebst Protokoll von 1988 (Vor § 3 Rdn. 115), Art. 3 Abs. 3 Diplomatenschutzkonvention (Vor § 3 Rdn. 127), Art. 6 Abs. 2 EuTerrÜbk. (Vor § 3 Rdn. 136), Art. 5 Abs. 3 Geiselnahmekonvention (Vor § 3 Rdn. 157), Art. 4 Abs. 3 SuchtstÜbk. 1988 (Vor § 3 Rdn. 105). Erforderlich ist nämlich auch in diesen Fällen stets, dass die innerstaatliche Norm, die eine gegebenenfalls weiterreichende Strafgerichtsbarkeit begründet, durch ein völkerrechtlich anerkanntes Geltungsprinzip gedeckt ist (Vor § 3 Rdn. 26). Dieser Rechtsauffassung entspricht es, dass in einigen neueren Übereinkommen auf die völkerrechtlichen Schranken bei der Ausübung eigener Rechte und Pflichten ausdrücklich hingewiesen wird; beispielsweise heißt es in Art. 2 Abs. 2 des SuchtstÜbk. 1988 (Vor § 3 Rdn. 99): „Die Vertragsparteien erfüllen ihre Verpflichtungen nach diesem Übereinkommen in einer Weise, die mit den Grundsätzen der souveränen Gleichheit und territorialen Unversehrtheit der Staaten sowie der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten vereinbar ist.“

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4. Völkerrechtskonforme Reduktion. Die Ausübung von Strafgewalt in den von 25 § 6 erfassten Fällen lässt sich nur teilweise mit dem Universalitätsprinzip (Rdn. 11), dem Staatsschutzprinzip (Rdn. 14) oder dem Vertragsprinzip (Rdn. 15 ff) rechtfertigen. Über diesen Bereich hinaus ist die Ausübung von Strafgewalt nur dann völkerrechtskonform, wenn sie auf ein anderes anerkanntes Prinzip des Strafanwendungsrechts gestützt werden kann, namentlich das aktive oder passive Personalitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 247 ff, 251 ff) oder das Prinzip stellvertretender Strafrechtspflege (Vor § 3 Rdn. 267 ff). Eine weitergehende Ausdehnung deutscher Strafgewalt wäre als völkerrechtswidrig anzusehen. Wegen des Vorrangs, den die allgemeinen Regeln des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 GG genießen, können abweichende Rechtsbefehle des nationalen Rechts ihnen gegenüber keinen Bestand haben (Tomuschat HdbStR XI § 226 Rdn. 44; vgl. auch Vor § 3 Rdn. 29 f).

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AA Ambos MK Rdn. 24; Gribbohm LK11 Rdn. 12 ff.

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Diese Situation stellt den Rechtsanwender vor die Aufgabe, für eine völkerrechtskonforme Handhabung des § 6 Sorge zu tragen. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu den Nummern 1 a.F., 5 und 9 weist hierzu den Weg, indem sie über den Wortlaut des § 6 hinaus verlangt, die Ausübung deutscher Strafgewalt dürfe nicht gegen ein völkerrechtliches Verbot verstoßen. Diese Grundsätze greift die Kommentierung auf und erstreckt sie als völkerrechtskonforme Reduktion auf die Vorschrift insgesamt (zust. Lackner/Kühl/Heger Rdn. 1; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 1a; ähnlich Ambos § 3 Rdn. 100; Hilgendorf JR 2002 82, 83; eingehend Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts).15

a) Einschränkung des Anwendungsbereichs von § 6 in der Rechtsprechung. Das Ziel, die Einhaltung der völkerrechtlichen Grenzen der Ausübung extraterritorialer Strafgewalt über den Gesetzeswortlaut hinaus durch zusätzliche Voraussetzungen sicherzustellen, leitet schon bislang die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu § 6 Nr. 1 a.F., 5 und 9. 28 Den Ausgangspunkt dieser Rechtsprechung (zusf. Eser FG BGH 50, S. 3, 26 ff)16 bildet die Feststellung, die Ausübung von Strafgewalt unter dem Gesichtspunkt des Weltrechtsgrundsatzes über Taten, die Ausländer im Ausland an Ausländern begehen, sei als „autonome Vindikation einer uferlosen Strafgewalt“ verfehlt in Fällen, in denen „keine Person, kein Rechtsgut, kein Interesse des aburteilenden Staates verletzt“ sei (BGHSt 34 336, 339). Sie lässt sich in ihren Grundlinien wie folgt zusammenfassen: Voraussetzung der Begründung der deutschen Gerichtsbarkeit für die Verfolgung von Straftaten, die von Ausländern im Ausland an Ausländern verübt worden sind, sei, dass der Anwendung deutschen Strafrechts ein völkerrechtliches Verbot nicht entgegenstehe; ferner bedürfe es zur Begründung der deutschen Gerichtsbarkeit in diesen Fällen eines zusätzlichen legitimierenden Anknüpfungspunktes im Einzelfall, der einen unmittelbaren Bezug der Strafverfolgung zum Inland herstelle.17 Anderenfalls, so der BGH, wäre die völkerrechtlich gebotene Beachtung der Souveränität anderer Staaten unter dem Gesichtspunkt des Nichteinmischungsprinzips „kaum“ zu gewährleisten und die inländische Strafjustiz auch überfordert.18 29 Die Auffassung, dass es zur Ausdehnung der staatlichen Strafgewalt auf Auslandstaten ausländischer Straftäter eines „legitimierenden Anknüpfungspunktes“ bedürfe, hat der 3. Strafsenat erstmals in einer Entscheidung zu § 6 Nr. 5 aus dem Jahre 1976 angedeutet (BGHSt 27 30, 32) und im Jahre 1987 bekräftigt (BGHSt 34 334, 336). Seine Bedenken gegenüber dem weiten Anwendungsbereich der Vorschrift sah der BGH in der zuletzt genannten Entscheidung vor allem dadurch zerstreut, dass durch die zu beurteilende Tat „schutzwürdige Inlandsbelange“ verletzt seien (BGHSt 34 334, 339). Die Berufung auf das Schutzprinzip begründete der Senat damit, dass in dem zu entscheidenden Fall das Rauschgift unweit der deutschen Staatsgrenze und entweder an deutsche Staatsangehörige oder an Betäubungsmittelhändler veräußert worden sei, die das Rauschgift anschließend in die Bundesrepublik eingeführt hätten. Zuletzt hatte der 2. Strafsenat (BGH NStZ 2017, 295) in einem Anfragebeschluss zu § 6 Nr. 5 den Stand27

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15 Auch in der Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der Zwangsheirat (BRDrucks. 767/04, S. 11) wird ausgeführt, ein Verstoß gegen das Nichteinmischungsprinzip sei mit der Einstellung der Strafvorschrift zur Zwangsheirat deshalb nicht verbunden, weil es „auch bei diesen Auslandstaten eines legitimierenden inländischen Anknüpfungspunktes für die Strafverfolgung“ bedürfe. 16 Vgl. auch Bungenberg AVR 39 (2001) 170, 174 ff. 17 BGHSt 45 64, 66; BGH NStZ 1999 236; BGH-Ermittlungsrichter NStZ 1994 232 m. Anm. Oehler NStZ 1994 485; BGHR StGB § 6 Nr. 5 Vertrieb 2. 18 BGH NStZ 1999 236.

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punkt vertreten, es bedürfe grundsätzlich eines Inlandsbezugs der im Ausland begangenen Vertriebshandlung, dann aber, nachdem der angefragte 1. Senat der Auffassung entgegengetreten war, einen solchen jedenfalls „in der zugrunde liegenden Fallkonstellation“ nicht für erforderlich gehalten (im Einzelnen Rdn. 80 ff). Zu der eingangs (Rdn. 28) angeführten Formel fortentwickelt wurde diese Rechtsprechung in mehreren Entscheidungen zu § 6 Nr. 1 a.F. und 9 (BGHSt 45 64, 65 f; BGH NStZ 1999 236; vgl. auch BGHSt 46 292, 306; 46 212, 224; OLG Frankfurt a.M. Urt. v. 29.12.2015 – 4 – 3 StE 4/10 – 4 – 1/15 – Rdn. 250). Ausdrücklich findet sich das Erfordernis eines „zusätzlichen legitimierenden Anknüpfungspunktes im Einzelfall“ erstmals in einem Beschluss des Ermittlungsrichters beim BGH aus dem Jahre 1994.19 Das Bundesverfassungsgericht hat die Frage, ob es eines zusätzlichen legitimierenden Anknüpfungspunktes bei § 6 Nr. 1 a.F. bedürfe, offen gelassen (BVerfG NJW 2001 1848, 1853). Nachdem der BGH diese zusätzlichen Voraussetzungen zunächst auch in Fällen des § 6 Nr. 9 angenommen hatte, ließ der 3. Strafsenat in einem Urteil aus dem Jahre 1999 (BGHSt 45 64, 69) erstmals dahinstehen, ob auch insoweit eine einschränkende Auslegung geboten sei; in BGHSt 46 292, 306 f hat der 3. Strafsenat schließlich angedeutet, dass er aus völkerrechtlicher Sicht bei Nummer 9 eine Einschränkung des Gesetzeswortlauts nicht für erforderlich halte. Es lassen sich zwei Fallgruppen bilden, bei denen der BGH hinreichend legitimierende Anknüpfungspunkte für eine Strafverfolgung von Auslandstaten nach § 6 angenommen hat. Die erste Gruppe umfasst Fälle, bei denen der (ausländische) Täter über eine besondere Nähebeziehung zu Deutschland verfügt. Im Einzelnen wurde ein Anknüpfungspunkt angenommen bei Wohnsitz und regelmäßigem Aufenthalt des Beschuldigten in Deutschland sowie bei sozialen Kontakten nach Deutschland;20 bei ständigem, mehrjährigem Aufenthalt (auch) vor der Tatbegehung, wenn der Beschuldigte noch während und nach der Begehung der Tat amtlich gemeldet ist, Familienangehörige sich in Deutschland aufhalten und der Beschuldigte im Inland ergriffen wird;21 bei Aufenthalt des ausländischen Beschuldigten in Deutschland.22 In den Fällen der zweiten Gruppe, die insbesondere für die Geltung des deutschen Strafrechts bei Völkerrechtsverbrechen relevant ist, ergibt sich der legitimierende Anknüpfungspunkt aus dem besonderen, politischen und u.U. auch militärischen Engagement der Bundesrepublik Deutschland im Tatortstaat. Zum Tragen kam dabei, dass die Verfolgung des Beschuldigten durch die deutsche Strafgerichtsbarkeit im Zusammenhang mit Maßnahmen der Völkergemeinschaft stand, die (von der Tat) betroffene Opfergruppe zu schützen.23 Nach – insoweit zutreffender – Ansicht des BGH grundsätzlich keine legitimierende Anknüpfungspunkte sollen dagegen der Aufenthalt des Anzeigeerstatters oder eines Opfers der Tat in Deutschland bilden.24 Diese Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ist – soweit sie die Verfolgung von Völkermord (§ 6 Nr. 1 a.F.) und bis BGHSt 46 292 (Rdn. 30) auch von Kriegsverbrechen (§ 6 Nr. 9 i.V.m. dem IV. Genfer Abkommen) betraf – im Schrifttum zu Recht abgelehnt

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19 BGH-Ermittlungsrichter NStZ 1994 232, mit zust. Anm. Oehler NStZ 1994 485. 20 BGHSt 46 292, 306 f. 21 BGHSt 45 64, 68. 22 BGH NStZ 1999 236; BGHR § 6 Nr. 1 Völkermord 1; BGH-Ermittlungsrichter NStZ 1994 232; zurückhaltend BayObLG NJW 1998 392, 395. 23 BGHSt 45 64, 69; BGH-Ermittlungsrichter NStZ 1994 232, 233; BayObLG NJW 1998 392, 395. 24 BGH NStZ 1999 236.

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worden:25 In diesen Fällen gilt gerade das Universalitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 259); eines zusätzlichen inländischen Anknüpfungspunktes bedarf es daher nicht (Vor § 3 Rdn. 256). Inzwischen hat der Gesetzgeber mit Blick auf Völkermordtaten (§ 6 VStGB) und Kriegsverbrechen (§§ 8 bis 12 VStGB) in § 1 Satz 1 VStGB ausdrücklich klargestellt, dass das deutsche Strafrecht insoweit auch dann gilt, wenn die Tat im Ausland begangen wird und keinen Bezug zum Inland aufweist. Für das Verbrechen der Aggression (§ 13 VStGB) sieht § 1 Satz 2 VStGB hingegen vor, dass deutsches Strafrecht nur gilt, wenn entweder der Täter Deutscher ist oder sich die Tat gegen die Bundesrepublik Deutschland richtet. 35 Mit Blick auf die völkerrechtskonforme Ausrichtung der Nummern 2 bis 8 ist die dargestellte Rechtsprechung (Rdn. 28 ff) dagegen hilfreich; ihr Ausgangspunkt und ihr Ziel überzeugen (Rdn. 36 ff). Zu kurz greift die Rechtsprechung dagegen, indem sie das Merkmal des „zusätzlichen legitimierenden Anknüpfungspunktes im Einzelfall“ nicht an den völkerrechtlich anerkannten Geltungsprinzipien ausrichtet (vgl. auch Vor § 3 Rdn. 26), sondern hierzu eine eigene, in der Gesamtschau unterhalb der völkerrechtlich entscheidenden Schwelle angesiedelte Kasuistik entwickelt. So genügen der Wohnsitz oder Aufenthalt eines einer Auslandstat beschuldigten Ausländers im Inland eben nicht, um eine völkerrechtlich hinreichende Legitimation für die Ausübung extraterritorialer Strafgewalt zu vermitteln (vgl. auch Vor § 3 Rdn. 273). b) Materiellrechtliche Reduktion und prozessuale Korrektur. Ausgehend von den in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen (Rdn. 28 ff) ist richtigerweise davon auszugehen, dass deutsches Strafrecht gem. § 6 – abgesehen von den in den Rdn. 11, 13, 14 und 15 angeführten Fällen – nur dann Geltung beanspruchen darf, wenn über den Gesetzeswortlaut hinaus die Voraussetzungen eines völkerrechtlichen Geltungsprinzips (Vor § 3 Rdn. 235 ff) vorliegen. In Betracht kommen namentlich das aktive und das passive Personalitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 247, 251) sowie das Prinzip stellvertretender Strafrechtspflege (Vor § 3 Rdn. 267). Deutsches Strafrecht gilt für die in der Vorschrift bezeichneten Auslandstaten dann nur, wenn entweder die Tat nach dem Recht des Tatorts mit Strafe bedroht ist und eine Auslieferung des in Deutschland befindlichen Täters nicht erfolgt oder wenn der Täter oder das Opfer Deutscher ist. Bei dieser Einschränkung der Vorschrift handelt es sich um eine Reduktion, die den Vorgaben des Völkerrechts Rechnung trägt (völkerrechtskonforme Reduktion). 37 Im Einzelfall lässt sich ein Verstoß gegen Völkerrecht im Übrigen auch auf prozessualem Wege vermeiden. Das entsprechende prozessuale Korrektiv bietet § 153c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO, wonach für die Verfolgung von Auslandstaten grundsätzlich das Opportunitätsprinzip gilt (näher Vor § 3 Rdn. 370). Im Rahmen der Ermessensausübung sind auch die völkerrechtlichen Grenzen der Ausübung von Strafgewalt zu beachten. Mit Blick auf diese prozessuale Rechtslage hat der BGH zu Recht betont, § 6 wirke „in der Praxis nicht als starrer Grundsatz“ und zwinge die deutschen Strafverfolgungsbehörden nicht dazu, ohne Rücksicht auf die Umstände des Einzelfalles einzuschreiten (BGHSt 34 334, 337). Der 2. Strafsenat vertritt die Ansicht, der Gesetzgeber habe sich „mit dem Willen zur Ressourcenschonung in Fällen von Auslandsberührung mit § 153c StPO für eine prozessuale Lösung entschieden“; aus diesem Grund möchte der Senat nicht länger an dem Erfordernis eines materiellrechtlich verstandenen Inlandsbezuges festhalten (BGHSt 61 290, 293).

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25 Ambos NStZ 1999 226, 227; Eser FG BGH 50, S. 3, 26 f; ders. FS Meyer-Goßner, S. 3, 7 ff; Kreß NStZ 2000 617, 624; Lagodny JR 1998 475, 477; Werle JZ 1999 1181, 1183.

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Die Möglichkeit, den durch § 6 begründeten Geltungsbereich des deutschen Straf- 38 rechts prozessual auf das völkerrechtlich erlaubte Maß zurückzuschneiden, ist im Einzelfall geeignet, einen Verstoß gegen Völkerrecht zu vermeiden. Sie entbindet den Rechtsanwender aber nicht von der dargestellten Verpflichtung (Rdn. 36), bereits den Anwendungsbereich des § 6 – und damit den materiellen Geltungsanspruch des deutschen Strafrechts – in völkerrechtskonformer Weise einzuschränken.26 Als Folge der völkerrechtlich gebotenen Reduktion des Anwendungsbereichs von § 6 39 ergeben sich Überschneidungen mit anderen Bestimmungen des Strafanwendungsrechts, insbesondere mit § 7. Damit läuft § 6 indes nicht leer. Denn in den Fällen des § 6 gilt deutsches Strafrecht für Auslandstaten Deutscher oder gegen Deutsche – abweichend von § 7 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 – auch dann, wenn die Tat am Tatort nicht mit Strafe bedroht ist; dies ergibt sich daraus, dass das aktive und das passive Personalitätsprinzip völkerrechtlich keine Strafbarkeit nach Tatortrecht voraussetzen (Vor § 3 Rdn. 249, 251). IV. Voraussetzungen im Einzelnen 1. Kernenergie-, Sprengstoff- und Strahlungsverbrechen (§§ 307 und 308 Abs. 1 bis 4, 309 Abs. 2, 310). Nach § 6 Nr. 2 gilt das deutsche Strafrecht für die Herbeiführung einer Explosion durch Kernenergie (§ 307), die vorsätzliche Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion (§ 308 Abs. 1 bis 4), den Missbrauch ionisierender Strahlen, soweit eine unübersehbare Zahl von Menschen der Strahlung ausgesetzt werden soll (§ 309 Abs. 2), sowie für entsprechende Vorbereitungshandlungen (§ 310), wenn die Tat im Ausland begangen wird. Unerheblich sind dabei die Staatsangehörigkeit des Täters und des Opfers sowie die strafrechtliche Bewertung der Handlung durch das Recht des (ausländischen) Tatortes (siehe aber Rdn. 49 f). In der deutschen Gesetzgebung hat die Erstreckung des Geltungsbereichs des Strafrechts auf im Ausland begangene Sprengstoffverbrechen eine lange Tradition.27 Angesichts des modernen Terrorismus hat diese gesetzliche Praxis neue Bedeutung erlangt,28 die sich freilich bislang noch nicht in Strafverfahren niedergeschlagen hat. Dem entspricht eine völkerrechtliche Vertragspraxis, welche die Kriminalisierung von Sprengstoffanschlägen und damit eine bessere Bekämpfung terroristischer Straftaten bezweckt. Vor diesem Hintergrund stellt § 6 Nr. 2 sicher, dass Deutschland in der Lage ist, seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen zu genügen. Von den zahlreichen zwischenstaatlichen Abkommen zu nennen ist hier insbesondere das Internationale Übereinkommen zur Bekämpfung terroristischer Bombenanschläge von 1997 (Vor § 3 Rdn. 133). Ferner sei auf folgende Übereinkommen hingewiesen: auf das Montrealer Übereinkommen 1971 und das Montrealer Protokoll von 1988 (Vor § 3 Rdn. 107), die (auch) der Verfolgung von Bombenanschlägen gegen die zivile Luftfahrt gelten (Vor § 3 Rdn. 114, siehe auch Rdn. 51); auf die Diplomatenschutzkonvention (Vor § 3 Rdn. 127), die in einem Teilbereich der weltweiten Verfolgung von schweren Terroranschlägen dienen soll; ferner auf das EuTerrÜbk. (Vor § 3 Rdn. 133), in welchem auch Taten aufgeführt sind, bei denen Menschen durch Verwendung von Bomben, Handgranaten, Raketen oder Sprengstoffsendungen gefährdet werden; auf das

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26 Siehe auch Lagodny/Nill-Theobald JR 2000 205, 206. 27 Vgl. § 12 des Gesetzes gegen verbrecherischen und gemeingefährlichen Gebrauch von Sprengstoffen vom 9.6.1884 (RGBl. S. 61); dieses Gesetz ist inzwischen durch das Sprengstoffgesetz ersetzt worden, jetzt i.d.F. der Bek. vom 17.4.1986 (BGBl. I S. 577). 28 Hoyer SK Rdn. 3; kritisch noch Oehler Rdn. 898.

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SeeschifffahrtÜbk. und das zugehörige, feste Plattformen auf dem Festlandsockel betreffende Protokoll (Vor § 3 Rdn. 180, siehe auch Rdn. 51 ff), die mit auf die weltweite Eskalation terroristischer Gewalthandlungen zurückzuführen sind. Hinzuweisen ist schließlich auf den Vertrag über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen v. 29.9.1996 (BGBl. 1998 II S. 1210; siehe auch § 5 Rdn. 184 ff), wonach Deutschland verpflichtet ist, einschlägige Auslandstaten von Deutschen zu verbieten; keine Verpflichtung besteht allerdings, diese Taten auch unter Strafe zu stellen. Deutschland hat den Vertrag u.a. mit der Einfügung von § 5 Nr. 11a umgesetzt; dies war nach Ansicht des Gesetzgebers erforderlich, da § 6 Nr. 2 nicht ausreiche, um die vertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen (BTDrucks. 13/10076 S. 10; vgl. § 5 Rdn. 186). Soweit § 6 Nr. 2 die Geltung des deutschen Strafrechts für die Herbeiführung einer Explosion durch Kernenergie gem. § 307 bestimmt, ergeben sich Überschneidungen mit § 5 Nr. 11a. Danach gilt das deutsche Strafrecht u.a. für die Verursachung einer nuklearen Explosion (§ 328 Abs. 2 Nrn. 3 und 4) im Ausland durch einen Deutschen. Nach § 6 Nr. 2 gilt das deutsche Strafrecht indes auch für Ausländer. Hinzuweisen ist schließlich auf das Internationale Übereinkommen zur Bekämpfung nuklearterroristischer Handlungen v. 13.4.2005 (BGBl. 2007 II S. 1587). Indem in § 6 Nr. 2 die uneingeschränkte Geltung des deutschen Strafrechts für einschlägige Taten, die Ausländer im Ausland an Ausländern begehen, angeordnet wird, geht das deutsche Strafanwendungsrecht allerdings über die völkerrechtlichen Pflichten hinaus, die Deutschland in den angeführten Abkommen übernommen hat und überschreitet dabei zugleich die Grenzen des Bereichs, innerhalb dessen die Ausübung deutscher Strafgewalt völkerrechtlich zu rechtfertigen ist. Insoweit bedarf § 6 Nr. 2 der Einschränkung, die den Anwendungsbereich der Vorschrift auf das völkerrechtlich zulässige Maß zurückschneidet (Rdn. 36 ff).29 Dies ergibt sich daraus, dass Kernenergie-, Sprengstoff- und Strahlungsverbrechen als solche nicht dem Universalitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 256 ff) unterliegen. Dies gilt auch dann, wenn die Tat als terroristische Straftat zu bewerten ist (Vor § 3 Rdn. 263). Eine universelle Strafbefugnis lässt sich auch nicht mit der Behauptung begründen, dass die von § 6 Nr. 2 erfassten Taten in ihren Auswirkungen territorial regelmäßig nicht eingrenzbar und damit weltweit gefährlich seien.30 Diese Überlegung mag mit Blick auf einen Teil der erfassten Delikte zutreffen (§§ 307, 309 Abs. 2); sie bildet aber auch dann keine hinreichende Grundlage für die völkerrechtliche Rechtfertigung der Vorschrift unter dem Gesichtspunkt des Universalitätsprinzips. Soweit sich § 6 Nr. 2 auf völkerrechtliche Übereinkommen zurückführen lässt, ist die Erstreckung deutscher Strafgewalt im Einzelfall völkerrechtlich abgesichert, wenn die Anwendungsvoraussetzungen des Übereinkommens vorliegen und das betreffende Übereinkommen entsprechende Jurisdiktionstitel vorsieht (siehe auch Rdn. 15 ff und Vor § 3 Rdn. 269). In diesem Fall lässt sich die Ausübung von Strafgewalt über Auslandstaten von Ausländern durch das Vertragsprinzip (Vor § 3 Rdn. 269) rechtfertigen. Nach den genannten Abkommen (Rdn. 42 ff) sind die Vertragsstaaten befugt, ihre Gerichtsbarkeit für Auslandstaten in mehreren oder allen der folgenden Fälle zu begründen (näher Vor § 3 Rdn. 34 ff, 52 ff): wenn die Tat an Bord eines Schiffes oder Luftfahrzeuges begangen wird, das in dem betreffenden Vertragsstaat registriert ist; wenn Täter ein Staatsangehöriger des Vertragsstaates ist; wenn die Tat gegen einen Staatsangehörigen des Vertragsstaates oder gegen eine nach der Diplomatenschutzkonvention geschützte

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AA Gribbohm LK11 Rdn. 30. So aber Ambos MK Rdn. 9; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 2.

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Person, die Aufgaben für den betreffenden Vertragsstaat wahrnimmt, begangen wird; wenn die Tat gegen eine Einrichtung des Vertragsstaates im Ausland begangen wird; wenn die Tat von einem Staatenlosen begangen wird, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt in dem Vertragsstaat hat; wenn die Tat begangen wird, um den Vertragsstaat zu einem Tun oder Unterlassen zu nötigen; sowie wenn der Verdächtige sich in dem betreffenden Vertragsstaat befindet und nicht ausgeliefert wird. In den Fällen, in denen es an einer entsprechenden Vertragsnorm fehlt oder deren 50 Voraussetzungen (Rdn. 49) nicht vorliegen ist § 6 Nr. 2 völkerrechts- und verfassungskonform (Art. 25 GG) einzuschränken (näher Rdn. 36 ff). 2. Angriffe auf den Luft- und Seeverkehr (§ 316c). Nach § 6 Nr. 3 gilt das deutsche Strafrecht für im Ausland begangene Angriffe auf den (zivilen) Luft- und Seeverkehr (§ 316c). Wie bei § 6 Nr. 2 ist die Bedeutung der Vorschrift vor allem im Zusammenhang mit der Bekämpfung terroristischer Straftaten zu sehen.31 Die Vorschrift stellt sicher, dass Deutschland in der Lage ist, bei einschlägigen Taten den völkerrechtlichen Verpflichtungen zu genügen, welche es übernommen hat im Hinblick auf Angriffe gegen die Sicherheit des zivilen Luftverkehrs durch das Tokioter Abkommen 1963 (Vor § 3 Rdn. 107), das Haager Übereinkommen 1970 (Vor § 3 Rdn. 107), das Montrealer Übereinkommen 1977 (Vor § 3 Rdn. 107) und das Montrealer Protokoll von 1988 (Vor § 3 Rdn. 107) sowie im Hinblick auf die Sicherheit der zivilen Seeschifffahrt durch das Übereinkommen von 1988 mit dem zugehörigen Protokoll über die festen Plattformen auf dem Festlandsockel (Vor § 3 Rdn. 180). Durch das Vertragsgesetz von 1990 (Vor § 3 Rdn. 180) zu diesen Vereinbarungen wurde die Fassung des § 6 Nr. 3 (und des § 316c) dem Umstand angeglichen, dass auch der zivile Seeverkehr in den internationalen strafrechtlichen Schutz einbezogen ist (Entstehungsgeschichte). Dabei geht § 6 Nr. 3 allerdings über die völkerrechtlichen Pflichten hinaus, die Deutschland in den angeführten Abkommen übernommen hat (siehe auch Rdn. 45). Zugleich wird die Grenze des Bereichs überschritten, innerhalb dessen die Ausübung deutscher Strafgewalt völkerrechtlich zu rechtfertigen ist. Dies ergibt sich daraus, dass Angriffe auf den Luft- und Seeverkehr gem. § 316c als solche nicht dem Universalitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 256 ff) unterliegen.32 Dies ist auch dann nicht der Fall, wenn die Tat als terroristische Straftat zu bewerten ist (Vor § 3 Rdn. 263). Nur wenn die Tat nach § 316c zugleich die Voraussetzungen der Seeräuberei (Art. 101 SeeRÜbk.) erfüllt, erlaubt das Völkerrecht die Ausübung von Strafgewalt unter dem Gesichtspunkt des (unechten) Weltrechtsprinzips (Rdn. 13). In diesem Fall besteht eine völkerrechtliche Befugnis zur Verfolgung von Taten, die Ausländer an Ausländern im Ausland begangen haben, soweit der Tatort auf hoher See (§ 5 Rdn. 47), also außerhalb fremder Hoheitsgewässer, liegt. Eine universelle Strafbefugnis kann auch nicht deshalb (mittelbar) aus den genannten Übereinkommen entnommen werden, weil es deren Zweck, „eine lückenlose Strafverfolgung sicherzustellen“, entspreche, die einschlägigen Delikte dem Weltrechtsprinzip zu unterstellen (so aber Ambos MK Rdn. 9). Die Vermeidung von Verfolgungslücken erfolgt in den Abkommen nämlich gerade nicht durch die Verpflichtung der Vertragsstaaten zur Ausübung von Strafgewalt auf Grundlage des Universalitätsprinzips. Ebenso wenig lässt sich die Geltung des Universalitätsprinzips damit begründen, dass die Si-

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Hoyer SK Rdn. 3; vgl. auch BTDrucks. 11/4946 S. 5 f. AA Gribbohm LK11 Rdn. 40; Böse NK Rdn. 11; Oehler Rdn. 848; Wille S. 238; Zieher S. 151.

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cherheit der zivilen Luft- und Seeschifffahrt „im Interesse der Menschheit als Ganzes“ liege.33 Zwar trifft dies für die Seeschifffahrt außerhalb staatlicher Hoheitsgewässer, im Bereich der hohen See, sicher zu; diesem Umstand wird durch die völkergewohnheitsrechtlich abgesicherte Strafbefugnis über Taten der Seeräuberei Rechnung getragen (Rdn. 55). Für die Ausübung von Strafgewalt über Taten in ausländischen Hoheitsgewässern fehlt es aber an der erforderlichen formellen Legitimationsgrundlage im Völkerrecht (siehe auch Vor § 3 Rdn. 265). Völkerrechtlich abgesichert ist die Ausübung deutscher Strafgewalt soweit sich § 6 57 Nr. 3 auf völkerrechtliche Übereinkommen zurückführen lässt und deren Anwendungsvoraussetzungen im Einzelfall vorliegen (siehe auch Rdn. 15 ff, 58). In diesem Fall lässt sich die Ausübung von Strafgewalt über Auslandstaten von Ausländern unter dem Gesichtspunkt des Vertragsprinzips (Vor § 3 Rdn. 269) rechtfertigen. 58 Nach den genannten Abkommen (Rdn. 53 f) sind die Vertragsstaaten befugt, ihre Gerichtsbarkeit für Auslandstaten in den folgenden Fällen zu begründen (näher Vor § 3 Rdn. 34 ff, 52 ff): wenn die Tat an Bord eines Schiffes oder Luftfahrzeuges begangen wird, das in dem betreffenden Vertragsstaat registriert ist; wenn das Luftfahrzeug mit dem Verdächtigen an Bord im Hoheitsgebiet des Vertragsstaates landet; wenn Täter ein Staatsangehöriger des Vertragsstaates ist; sowie wenn der Verdächtige sich in dem betreffenden Vertragsstaat befindet und nicht ausgeliefert wird. In den Fällen, in denen es an einer entsprechenden Vertragsnorm fehlt oder deren 59 Voraussetzungen (Rdn. 58) nicht vorliegen und in denen sich die Strafgewalt auch nicht auf das (unechte) Universalitätsprinzip stützen lässt (Rdn. 55), ist § 6 Nr. 3 völkerrechtsund verfassungskonform (Art. 25 GG) einzuschränken (näher Rdn. 36 ff). 60

3. Menschenhandel (§ 232). Nach § 6 Nr. 4 gilt das deutsche Strafrecht für Menschenhandel unabhängig vom Recht des Tatorts und der Staatsangehörigkeit der Beteiligten, wenn die Tat im Ausland begangen wird. 61 Dabei ist zu beachten, dass Taten gegen ausländische Frauen, die sich deshalb in einer Zwangslage befinden oder hilflos sind (§ 232 Abs. 1 Satz 1), weil sie sich in Deutschland aufhalten, in der Regel bereits als Inlandstaten von § 3 erfasst werden. Praktisch bedeutsam ist § 6 Nr. 4 daher vor allem mit Blick auf Personen, die aus einem Drittland in einen anderen ausländischen Staat zum Zwecke der Ausbeutung verbracht werden. 62 Die Vorschrift steht im Zusammenhang mit den internationalen Übereinkommen gegen den Mädchen-, Frauen- und Kinderhandel aus den Jahren 1904 und 1910 mit Änderungsprotokoll von 1949 (Vor § 3 Rdn. 59) sowie aus dem Jahre 1921 mit Änderungsprotokoll von 1947 (Vor § 3 Rdn. 59). Zu nennen sind ferner das Zusatzprotokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels, zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität aus dem Jahr 2000, das Übereinkommen des Europarates zur Bekämpfung des Menschenhandels aus dem Jahre 2005 sowie die Richtlinie vom 5.4.2011 zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer (Vor § 3 Rdn. 59), die den Rahmenbeschluss des Rates der EU aus dem Jahr 2002 zur Bekämpfung des Menschenhandels ersetzte. Indem in § 6 Nr. 4 die uneingeschränkte Geltung des deutschen Strafrechts für ein63 schlägige Taten, die Ausländer im Ausland an Ausländern begehen, angeordnet wird, geht das deutsche Strafanwendungsrecht – wie schon bei den Nummern 2 und 3 – über

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die völkerrechtlichen Pflichten hinaus, die Deutschland in den angeführten Abkommen übernommen hat und überschreitet dabei zugleich die Grenzen des Bereichs, innerhalb dessen die Ausübung deutscher Strafgewalt völkerrechtlich zu rechtfertigen ist. Menschenhandel als solcher unterliegt nicht dem Universalitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 256 ff); etwas anderes gilt nur dann, wenn die Tat im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung begangen wird (§ 7 Abs. 1 Nr. 3 VStGB). Dann unterliegt auch der Handel mit Menschen, insbesondere Frauen und Kindern, als Verbrechen gegen die Menschlichkeit dem Universalitätsprinzip (vgl. § 1 Satz 1 VStGB). Die Ausübung von Strafgewalt über Taten des Menschenhandels, die ein Ausländer im Ausland an Ausländern begeht, ist auch nicht etwa deswegen „völkerrechtlich unbedenklich“, weil es „um den Schutz grundlegender Menschenrechte“ geht, deren „Universalität völkerrechtlich anerkannt“ sei.34 Denn wie Freiheit, sexuelle Selbstbestimmung oder körperliche Unversehrtheit sind etwa auch das Recht auf Leben oder die Menschenwürde fraglos universell anerkannte Menschenrechte, ohne dass ernsthaft die Geltung des Universalitätsprinzips allein aus diesem Grund für Tötungsdelikte oder Verletzungen der Würde in Betracht gezogen würde. Auch der in dieser Pauschalität schon unplausible Hinweis, der organisierte Menschenhandel stelle „eine Gefahr für die internationale Staatengemeinschaft“ dar,35 weshalb jeder Staat zur Ahndung entsprechender Auslandstaten befugt sein müsse, vermag nicht die fehlende formelle Legitimation im Völkerrecht (Vor § 3 Rdn. 256 ff) zu ersetzen. Soweit sich § 6 Nr. 4 auf völkerrechtliche Übereinkommen oder Rechtsakte der Europäischen Union (Rdn. 62) zurückführen lässt, ist die Erstreckung deutscher Strafgewalt auf Auslandstaten völkerrechtlich nicht zu beanstanden. Voraussetzung ist, dass das betreffende Übereinkommen bzw. die Richtlinie entsprechende Jurisdiktionstitel vorsieht und ihre weiteren Anwendungsvoraussetzungen vorliegen (siehe auch Rdn. 15 ff und Vor § 3 Rdn. 269). In diesem Fall lässt sich die Ausübung von Strafgewalt über Auslandstaten von Ausländern unter dem Gesichtspunkt des Vertragsprinzips (Vor § 3 Rdn. 269) rechtfertigen. Nach den genannten Abkommen und der genannten Richtlinie (Rdn. 62) sind die Vertrags- bzw. Mitgliedsstaaten befugt, ihre Gerichtsbarkeit für Auslandstaten in den folgenden Fällen zu begründen (näher Vor § 3 Rdn. 34 ff, 52 ff): wenn die Tat an Bord eines Schiffes oder Luftfahrzeuges begangen wird, das in dem betreffenden Staat registriert ist; wenn Täter ein Staatsangehöriger des betreffenden Staates ist oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort hat oder ein Staatenloser ist, der seinen dauernden Aufenthalt in dem Staat hat, sowie wenn die Tat zu Gunsten einer in dem betreffenden Staat niedergelassenen juristischen Person begangen wird. Darüber hinaus sieht die Richtlinie eine fakultative Begründung der Gerichtsbarkeit vor, wenn es sich bei dem Opfer der Straftat um einen Staatsangehörigen des Mitgliedsstaates handelt oder der gewöhnliche Aufenthalt des Opfers im Hoheitsgebiet liegt In den Fällen, in denen es an einer entsprechenden Vertragsnorm fehlt oder deren Voraussetzungen (Rdn. 67) nicht vorliegen, ist § 6 Nr. 4 völkerrechts- und verfassungskonform (Art. 25 GG) einzuschränken (Rdn. 36 ff).

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So aber Ambos MK Rdn. 10; siehe auch Böse NK Rdn. 8. So ebenfalls Ambos MK Rdn. 10.

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4. Unbefugter Vertrieb von Betäubungsmitteln Schrifttum Körner Betäubungsmitteldelikte im Ausland, NStZ 1986 306; Rüter Ein Grenzfall: Die Bekämpfung der Drogenkriminalität im Spannungsfeld zwischen den Niederlanden und der Bundesrepublik Deutschland, JR 1988 136; Schrader Der Begriff „Vertrieb von Betäubungsmitteln“ und das Bestimmtheitsgebot, NJW 1986 2874.

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§ 6 Nr. 5 erstreckt den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts auf den unbefugten Vertrieb von Betäubungsmitteln36 im Ausland. Erfasst werden dabei auch Taten von Ausländern. Ob die Tat nach dem Recht des ausländischen Tatorts strafbar ist oder nicht, spielt keine Rolle. In Fällen grenzüberschreitender Betäubungsmittelkriminalität ergibt sich die Gel70 tung des deutschen Strafrechts häufig bereits aus §§ 3, 9 (vgl. OLG Karlsruhe NStZ-RR 1998 348). Dies betrifft namentlich Fälle des „Handeltreibens“; eines Rückgriffs auf § 6 Nr. 5 bedarf es dann nicht. Die Einbeziehung von im Ausland begangenen Betäubungsmitteldelikten in den 71 Geltungsbereich des deutschen Strafrechts, geht auf § 4 Abs. 3 Nr. 8 RStGB i.d.F. der GeltungsbereichsVO zurück (Entstehungsgeschichte). Nach seinem heutigen Sinn und Zweck soll § 6 Nr. 5 es der Bundesrepublik ermöglichen, ihrer Verpflichtung zur Verfolgung von Betäubungsmitteldelikten zu genügen, die sie durch die internationalen Übereinkommen von 1961, 1971 und 1988 (Vor § 3 Rdn. 99) übernommen hat (BGHSt 34 1, 2). Die Vorschrift ist gleichwohl angesichts der im Ausland teilweise erheblich abweichenden (strafrechtlichen) Bewertung des Gebrauchs bzw. Missbrauchs von Betäubungsmitteln von großer kriminalpolitischer Brisanz. Dies belegt auch die Kontroverse,37 die zwei Entscheidungen38 aus den Jahren 1976 und 1987 ausgelöst haben, in denen sich der BGH eingehend mit der Reichweite und Auslegung von § 6 Nr. 5 befasst hat. 72

a) Anwendungsvoraussetzungen. „Vertrieb“ von Betäubungsmitteln (§ 1 Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln vom 28.7.1981 (BtMG; BGBl. I S. 681, 1187) i.d.F. der Bekanntmachung vom 1.3.1994 (BGBl. I S. 358), zuletzt geändert durch Art. 1 18 ÄndVO vom 16.6.2017 (BGBl. I S. 1670)) ist jede Tätigkeit, durch die der in der Regel entgeltliche Absatz von Betäubungsmitteln an andere gefördert wird (BGHSt 34 1, 2; BGH NStZ 2012 335).39 Der Begriff des „Vertriebs“ ist damit unabhängig vom Begriff des „Handeltreibens“ (§ 29 BtMG) auszulegen; von den zahlreichen Teilakten des „Handeltreibens“ werden durch den Vertrieb nur solche erfasst, die unmittelbar auf die Weitergabe gerichtet sind (BGH NStZ 2012 335). Nach der mit Blick auf den Wortlaut der Norm zweifelhaften Rechtsprechung des BGH soll damit nicht nur der Verkauf, sondern auch der Ankauf von Betäubungsmitteln erfasst sein, sofern dieser zugleich unselbstständiger Teil des Handeltreibens ist.40

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36 Ob auch der Betrieb sog. Pseudodrogen von § 6 Nr. 5 erfasst wird, wenn die Beteiligten den weitergegebenen Stoff für Betäubungsmittel halten, hat der BGH offen gelassen, BGH NJW 1999 2683, 2684. 37 Vgl. etwa die Beiträge von Rüter und Vogler in JR 1986 136. 38 BGHSt 27 30 = JR 1977 422 m. Anm. Oehler 34 334. 39 Ambos MK Rdn. 11; Körner/Patzak/Volkmer BtMG § 30b Rdn. ±17; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 2. 40 BGHSt 34 1, 2 = StV 1986 473 m. Anm. Herzog; BGHSt 27 30 = JR 1977 422 m. Anm. Oehler; BGH NStZ 1985 361; NJW 1979 1259; krit. Schrader NJW 1986 2874.

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Dagegen fällt der Erwerb von Betäubungsmitteln zum Eigenverbrauch41 ebenso wenig unter den Begriff des „Vertriebs“ wie der bloße Besitz,42 die Herstellung oder die Verarbeitung (Körner/Patzak/Volkmer BtMG § 30b Rdn. 17). Das gilt nach der Rechtsprechung auch, soweit es um den entgeltlichen Erwerb zu diesem Zweck, insbesondere um den Ankauf geht; denn in diesem Fall ist der Erwerber nicht mit dem Ziel des Weitervertriebs oder der Unterstützung des Vertreibers an einem Vertriebsvorgang beteiligt.43 Unter Beachtung der genannten Grundsätze gilt das deutsche Strafrecht gem. § 6 Nr. 5 namentlich für das „Handeltreiben“ mit Betäubungsmitteln (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 dritte Alternative; § 29a Abs. 1 Nr. 2 erste Alternative, jeweils auch in Verbindung mit §§ 30, 30a BtMG) im Ausland. Die Einfuhr von Betäubungsmitteln (§§ 29 Abs. 1 Satz 1; 30 Abs. 1 BtMG) setzt voraus, dass diese in das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland verbracht werden. Das Tatbestandsmerkmal der „Einfuhr“ ist dabei nicht etwa durch die Berufung auf § 6 Nr. 5 ersetzbar (BGH NStZ 2000 150). „Unbefugt“ ist der Vertrieb, wenn der Täter ohne die am Tatort gegebenenfalls erforderliche Erlaubnis handelt.44 Maßgeblich für die Geltung des deutschen Strafrechts gem. § 6 Nr. 5 ist insoweit also das Recht des Tatorts. Die Strafbarkeit nach deutschem Recht setzt zusätzlich voraus, dass die Vertriebshandlung (auch) nach deutschem Betäubungsmittelrecht „unerlaubt“ ist (z.B. § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG).

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b) Völkerrechtliche Rechtfertigung. Eine Anwendung der Vorschrift entsprechend 77 ihrem Wortlaut müsste die Grenzen des Bereichs überschreiten, innerhalb dessen die Ausübung von Strafgewalt völkerrechtlich erlaubt ist.45 Sie ginge zugleich – wie schon bei den Nummern 2, 3 und 4 – über die völkerrechtlichen Pflichten hinaus, die Deutschland in den angeführten Abkommen übernommen hat. Insoweit bedarf § 6 Nr. 5 der Einschränkung, die den Anwendungsbereich der Vorschrift auf das völkerrechtlich zulässige Maß zurückschneidet. Dies ergibt sich daraus, dass § 6 Nr. 5 sich völkerrechtlich weder mit dem Universali- 78 tätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 256 ff; Rdn. 10 ff) noch mit dem Staatsschutzprinzip (Vor § 3 Rdn. 244 ff) rechtfertigen lässt. Der Vertrieb von Betäubungsmitteln unterliegt nicht dem Universalitätsprinzip 79 (Vor § 3 Rdn. 256 ff). So trifft es zwar zu, dass sich aus den einschlägigen Abkommen entnehmen lässt, dass die Vertragsstaaten im Interesse des Wohles und der Gesundheit der Menschheit eine weltweite internationale Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Rauschgiftkriminalität für erforderlich halten (BGHSt 34 334, 336; 27 30, 33). Dies allein vermag allerdings ebenso wenig wie die pauschale Behauptung, der Handel mit Rauschgift berühre wegen seiner „grenzüberschreitenden Gefährlichkeit in der Regel stets auch

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41 BGH Beschl. v. 15.5.2012 – 3 StR 138/12. 42 BGHSt 34, 1, 2 = StV 1986 473 m. Anm. Herzog; BGH StV 1984 286; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 6; zweifelnd für Fälle, in denen der Besitz an Betäubungsmitteln mit dessen Vertrieb in Tateinheit steht BGH NStZ 2010 521. 43 BGHSt 34 1, 2 = StV 1986 473 m. Anm. Herzog; BGH StV 1992 65 f; 1990 550; OLG Düsseldorf NStZ 1985 268; OLG Köln MDR 1979 251; aA OLG Hamm NJW 1978 2346. 44 Ambos MK Rdn. 11; Fischer Rdn. 5; Zieher S. 158. 45 Für Völkerrechtswidrigkeit bei uneingeschränkter Anwendung auch: Hilgendorf FS 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, S. 324, 354; Kunig JuS 1978 594, 595 f; Merkel in Lüderssen S. 237, 243; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 6; aA Böse NK Rdn. 13; Fischer Rdn. 5.

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Inlandsinteressen“ (so BGHSt 34 1, 3), die Ausübung staatlicher Strafgewalt allgemein über Auslandstaten von Ausländern zu rechtfertigen.46 Vor diesem Hintergrund lässt sich die Ansicht des BGH, § 6 Nr. 5 sei Ausdruck des 80 Weltrechtspflegegrundsatzes,47 richtigerweise nur so verstehen, dass die Vorschrift ihrem Wortlaut nach die Strafverfolgung einschlägiger Auslandstaten von Ausländern ermöglicht. Dabei hatte der Bundesgerichtshof darauf hingewiesen, dass § 6 Nr. 5 trotz der weiten Fassung in der Regel nur in Fällen angewendet werde, in denen sich eine Inlandsberührung der Tat aus der Ergreifung des Täters im Inland ergebe, allerdings zunächst offen gelassen, ob insoweit Einschränkungen des Gesetzeswortlauts rechtlich geboten seien und ob die Festnahme des Verdächtigen für sich alleine zur Begründung einer sachgerechten Inlandsberührung ausreichen könne (BGHSt 34 334, 338). Nunmehr hat der 2. Senat ausdrücklich entschieden, dass jedenfalls in dem früheren Verfahren, in welchem ein niederländischer Angeklagter in den Niederlanden Beihilfehandlungen zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln vorgenommen hatte und auf Grund eines Europäischen Haftbefehls festgenommen und nach Deutschland ausgeliefert worden war, ein besonderer Inlandsbezug nicht erforderlich gewesen sei (BGH NStZ 2017 295; allerdings hatte der 2. Senat in einem vorangegangenen Anfragebeschluss, welchem der 1. Senat (BGH Beschl. v. 16.12.2015 – 1 Ars 10/15) entgegengetreten ist, mit einigem Begründungsaufwand zunächst den Standpunkt vertreten, es bedürfe grundsätzlich eines Inlandsbezuges, der über die bloße Festnahme des Beschuldigten im Inland hinausgehe, s. BGH NStZ 2015 568, vgl. auch die Entscheidungsanmerkung von Afshar, HRRS 2015 331). Weder Wortlaut noch Sinn und Zweck des § 6 Nr. 5 StGB ließen eine entsprechende Einschränkung erkennen. Auch die Beachtung höherrangigen Rechts und völkerrechtlicher Grundsätze führten nicht zu einer Beschränkung des Anwendungsbereichs von § 6 Nr. 5 StGB. Zuvor war die Rechtsprechung des BGH allerdings erkennbar von dem Bemühen geprägt, einen Inlandsbezug der Tat herzustellen, der im Wortlaut des Gesetzes nicht zum Ausdruck kommt. So wurde in BGHSt 34 334, 339 festgestellt, schutzwürdige Inlandsbelange seien nachhaltig dadurch verletzt worden, dass der Tatort unweit der deutschen Grenze im Ausland gelegen sei und Betäubungsmittel an deutsche Staatsangehörige oder an Betäubungsmittelhändler, die das Rauschgift anschließend in die Bundesrepublik einführten, veräußert worden seien. Allerdings ging der BGH auch zuvor in den zu § 6 Nr. 5 entschiedenen Fällen nicht so weit, ausdrücklich einen „zusätzlichen legitimierenden Anknüpfungspunkt im Einzelfall“ (Rdn. 28), etwa in Form des längeren Aufenthalts des Verdächtigen im Inland, zu verlangen. Auch auf das Staatsschutzprinzip (Vor § 3 Rdn. 244 ff) vermag sich die Ausübung 81 deutscher Strafgewalt nach § 6 Nr. 5 nicht zu stützen. Die Gegenansicht von Ambos (MK Rdn. 15) ist nicht überzeugend. Zweifelhaft ist bereits, ob die Gesundheit der Wohnbevölkerung unter dem Gesichtspunkt des Staatsschutzprinzips überhaupt erfasst ist. Die (deutsche) Volksgesundheit ist zudem durch den im Ausland durchgeführten An- und Verkauf von Betäubungsmitteln allenfalls mittelbar berührt. Völkerrechtlich unbedenklich ist die Ausübung von Strafgewalt über Auslandstaten, 82 soweit sich § 6 Nr. 5 auf völkerrechtliche Übereinkommen (Rdn. 71), insbesondere das EinhÜbk. 1961 und das SuchtstÜbk. 1988 (Vor § 3 Rdn. 99), zurückführen lässt. Voraussetzung ist, dass das betreffende Übereinkommen einen entsprechenden Jurisdiktionsti-

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46 Wie hier: Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 6; anders BGHSt 27 30, 33; dem BGH zust. Gribbohm LK11 Rdn. 46; Körner/Patzak/Volkmer BtMG Vor § 29 Rdn. 298; Böse NK Rdn. 9. 47 BGH NStZ 2017 295; BGH Beschl. v. 16.12.2015 – 1 Ars 10/15 – ; BGHSt 34 334, 336; 34 1, 2; 27 30, 32; vgl. auch OLG Karlsruhe NStZ-RR 1998 348 sowie Körner/Patzak/Volkmer BtMG Vor § 29 Rdn. 298.

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tel vorsieht und die weiteren Anwendungsvoraussetzungen des Übereinkommens vorliegen (siehe auch Rdn. 15 ff und Vor § 3 Rdn. 269). In diesem Fall lässt sich die Ausübung von Strafgewalt über Auslandstaten von Ausländern unter dem Gesichtspunkt des Vertragsprinzips (Vor § 3 Rdn. 269) rechtfertigen. Das SuchstÜbk. 1988 (Vor § 3 Rdn. 99) enthält eine eingehende Regelung der Zu- 83 ständigkeit der Vertragsparteien für die Strafverfolgung, in der sich allerdings das Universalitätsprinzip gerade nicht findet (so auch BGHSt 34 334, 336; 34 1, 3). Auch lässt der Inhalt dieser Regelung den Schluss zu, dass jeder Vertragsstaat sich grundsätzlich nicht mit Taten zu befassen hat, die ein Ausländer im Hoheitsgebiet seines Heimatstaates begeht. Auf völkerrechtliche Schranken weist das Abkommen ausdrücklich hin (Art. 2 Abs. 2 und 3 SuchtstÜbk. 1988). Befugt sind die Vertragsstaaten nach den genannten Abkommen (Rdn. 71) zur Be- 84 gründung eigener Gerichtsbarkeit in den folgenden Fällen (näher Vor § 3 Rdn. 34 ff, 99 ff): wenn die Tat an Bord eines inländischen Schiffes oder Luftfahrzeugs begangen wird; wenn Täter ein Staatsangehöriger des Vertragsstaates ist oder ein Ausländer, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat; wenn der Verdächtige im Hoheitsgebiet des Vertragsstaates betroffen und nicht ausgeliefert wird. In den Fällen, in denen es an einer entsprechenden Vertragsnorm fehlt oder deren 85 Voraussetzungen (Rdn. 84) nicht vorliegen, ist § 6 Nr. 5 völkerrechts- und verfassungskonform (Art. 25 GG) einzuschränken (Rdn. 36 ff). 5. Verbreitung gewalt-, tier- und kinder- und jugendpornografischer Schriften 86 (§§ 184a, 184b Abs. 1 und 2, 184c Abs. 1 und 2, 184d Abs. 1 Satz 1). Nach § 6 Nr. 6 gilt das deutsche Strafrecht für die Verbreitung sog. „harter“ Pornografie, also von gewalt- oder tierpornografischen (§ 184a), von kinderpornografischen (§ 184b Abs. 1 und 2) oder von jugendpornografischen Schriften (§ 184c Abs. 1 und 2), wenn die Tat im Ausland begangen wird. Auf die Nationalität des Täters oder des Opfers kommt es dabei ebenso wenig an wie darauf, ob die Tat nach dem Recht des Tatorts mit Strafe bedroht ist. Erfasst ist auch die Zugänglichmachung pornografischer Inhalte mittels Rundfunk oder Telemedien (§ 184d Abs. 1 Satz 1). Bei Verbreitung über das Internet wird allerdings vielfach bereits eine Inlandstat nach §§ 3, 9 anzunehmen sein (§ 9 Rdn. 73 ff). Die Bestimmung steht im Zusammenhang mit dem Abkommen zur Bekämpfung der 87 Verbreitung unzüchtiger Veröffentlichungen vom 4.5.1910 (RGBl. 1911 S. 209) und der Internationalen Übereinkunft zur Bekämpfung der Verbreitung und des Vertriebs unzüchtiger Veröffentlichungen vom 12.9.1923 (RGBl. 1925 II S. 289). Allerdings enthalten beide Abkommen weder eine Verpflichtung noch eine ausdrückliche Befugnis zur Ausübung von Strafgewalt auf Grundlage des Universalitätsprinzips. Zudem war der Gesetzgeber wegen der begrenzten Freigabe der „einfachen“ Pornografie im 4. StrRG48 gehalten, beide Abkommen zu kündigen. Die Kündigung der Abkommen wurde mit dem 25.1.1975 wirksam.49 Einschlägig sind ferner das Übereinkommen des Europarates zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch aus dem Jahre 2007 sowie die Richtlinie vom 13.12.2011 zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie (Vor § 3 Rdn. 226). Nach dem Übereinkommen hat jede Vertragspartei ihre Gerichtsbarkeit über die Auslandstat grundsätzlich zu begründen, wenn diese an Bord eines Schiffes, das die Flagge der Vertragspartei führt, oder an Bord eines Luftfahrzeuges, das nach dem Recht

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Vom 23.11.1973 (BGBl. I S. 1725). Bek. über das Außerkrafttreten vom 22.5.1974 (BGBl. II S. 912).

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der Vertragspartei eingetragen ist, begangen wird oder der Täter Staatsangehöriger oder eine Person ist, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Vertragspartei hat. Die Richtlinie sieht eine (fakultative) Begründung der Gerichtsbarkeit vor, wenn Täter oder Opfer der Auslandstat Staatsangehöriger des Mitgliedstaates sind oder der gewöhnliche Aufenthalt dort liegt oder wenn die Tat zu Gunsten einer im Inland niedergelassenen juristischen Person begangen wird. 88 Die Ausdehnung deutscher Strafgewalt in § 6 Nr. 6 lässt sich völkerrechtlich nicht mit dem Universalitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 256 ff) rechtfertigen.50 Die Vorschrift ist daher völkerrechtskonform einzuschränken (Rdn. 36 ff). Danach gilt deutsches Strafrecht für die in der Vorschrift bezeichneten Auslandstaten nur, wenn der Täter oder das Opfer Deutscher ist – wobei anders als in den Fällen des § 7 eine identische Tatortnorm nicht erforderlich ist (Vor § 3 Rdn. 249, 251) – oder die Voraussetzungen des Prinzips stellvertretender Strafrechtspflege (Vor § 3 Rdn. 267 ff) vorliegen. 6. Fälschung von Geld, Wertpapieren, Zahlungskarten mit Garantiefunktion und Vordrucken für Euroschecks sowie Vorbereitung der Fälschung (§§ 146, 149, 151, 152, 152b). Nach § 6 Nr. 7 gilt das deutsche Strafrecht für die Fälschung von Geld (§ 146), Wertpapieren (§ 151), Zahlungskarten mit Garantiefunktion, also insbesondere Kreditkarten und sog. Debitkarten (ec/electronic-cash) (§ 152b Abs. 4) sowie von Vordrucken für Euroschecks (§ 152b Abs. 1) im Ausland. Die Einbeziehung von Vordrucken für Euroschecks hat allerdings seit Auslaufen der Garantiefunktion zum 31.12.2001 und der daraus resultierenden Abschaffung des Euroscheckverkehrs keine praktische Bedeutung mehr (Husemann NJW 2004 104, 108). Dem deutschen Strafrecht unterliegen dabei auch Vorbereitungshandlungen im Aus90 land, soweit diese in §§ 149, 152b Abs. 5 mit Strafe bedroht sind. Gem. § 152 sind die Bestimmungen auch auf Geld und Wertpapiere eines fremden Währungsgebietes anzuwenden. Die Verpflichtung zur Gleichstellung von inländischem und ausländischem Geld ergibt sich aus Art. 5 des internationalen Abkommens zur Bekämpfung der Falschmünzerei von 1929 (Vor § 3 Rdn. 72), mit dem die Vorschrift insgesamt zusammenhängt. Ziel des Abkommens ist es, die Unterscheidung von Inlandstat und Auslandstat, von inländischen und ausländischen Tätern und von Taten gegen inländische und gegen ausländische Währungen aufzuheben (Art. 5 bis 7) und dadurch die Bekämpfung grenzüberschreitender Geldfälschungskriminalität zu verbessern. 91 Im Zuge der Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates der Europäischen Union vom 28.5.2001 zur Bekämpfung von Betrug und Fälschung im Zusammenhang mit unbaren Zahlungsmitteln (Vor § 3 Rdn. 72) durch das 35. StrÄndG wurden die Straftatbestände der Fälschung unbarer Zahlungsmittel geändert; § 6 Nr. 7 wurde redaktionell an die Änderungen angepasst (Entstehungsgeschichte). Hinzuweisen ist ferner auf die Richtlinie vom 16.4.2014 über strafrechtliche Sanktionen bei Marktmanipulation (Marktmissbrauchsrichtlinie; AblEU 2014 L 173, S. 179 ff) sowie die Richtlinie vom 15.5.2014 zum strafrechtlichen Schutz des Euro und anderer Währungen gegen Geldfälschung und zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2000/383/JI des Rates (AblEU 2014 L 151, S. 1 ff). § 6 Nr. 7 lässt sich völkerrechtlich mit dem Staatsschutzprinzip (Rdn. 93) und dem 92 Vertragsprinzip (Rdn. 94) rechtfertigen. 89

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50 Ambos MK Rdn. 14; Gärditz Weltrechtspflege (2006) 310; Merkel in Lüderssen S. 248 f; Zieher S. 159 ff; vgl. auch Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 7; aA Gribbohm LK11 Rdn. 49; diff. Böse NK Rdn. 11.

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§ 6 Nr. 7 tritt vom Ausland aus bewirkten Gefahren für den inländischen Zahlungs- 93 verkehr entgegen. Die Vorschrift lässt sich daher mit dem Staatsschutzprinzip (Vor § 3 Rdn. 244 ff) rechtfertigen (vgl. auch BTDrucks. 10/5058 S. 25).51 Beeinträchtigungen des inländischen Zahlungsverkehrs können sich durch die Fälschung der inländischen Währung, also des Euro, ebenso ergeben wie im Zusammenhang mit der Fälschung der Währung eines fremden Währungsgebietes, wenn diese im Inland eingesetzt werden soll. Aber auch dann, wenn der Tatort in einem Drittstaat außerhalb der EU liegt und Gegenstand der Fälschung eine ausländische Währung – also nicht der Euro – ist, kann eine Gefährdung des inländischen Zahlungsverkehrs nicht ausgeschlossen werden. Völkerrechtlich abgesichert ist die Geltung des deutschen Strafrechts ferner durch 94 das Vertragsprinzip (Vor § 3 Rdn. 269), soweit die Tat im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei des Internationalen Abkommens zur Bekämpfung der Falschmünzerei begangen wird. Diesem lässt sich die Verpflichtung (samt der dazugehörigen Befugnis) der Vertragsstaaten entnehmen, einen Ausländer zu verfolgen, der eine einschlägige Tat im Ausland, u.U. mit Bezug auf eine ausländische Währung (Art. 5) begangen hat und sich im Hoheitsgebiet des (Vertrags-)Staates befindet, dessen Gesetzgebung als allgemeine Regel die Strafverfolgung von Auslandstaten zulässt (Art. 9). 7. Subventionsbetrug (§ 264). Nach § 6 Nr. 8 gilt das deutsche Strafrecht unabhängig vom Recht des Tatorts für Subventionsbetrug (§ 264), der im Ausland von Deutschen oder Ausländern begangen wird. Befindet sich – wie häufig – der Subventionsgeber (§ 264 Abs. 1 Nr. 1) in Deutschland, unterliegt die Tat regelmäßig als Inlandstat gem. §§ 3, 9 dem deutschen Strafrecht (Fischer Rdn. 8); eines Rückgriffs auf § 6 Nr. 8 bedarf es dann nicht. § 6 Nr. 8 ist durch das 1. WiKG vom 29.7.1976 (BGBl. I S. 2034) eingefügt worden. Die Erweiterung des Geltungsbereichs des deutschen Strafrechts hat ihren Grund in dem Bemühen, Täter, die Subventionen aus Mitteln der Europäischen Gemeinschaften erschleichen (§ 264 Abs. 7 Satz 1), ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit und das Tatortrecht mit der Strafdrohung des § 264 zu erreichen.52 Voraussetzung ist, dass es sich um eine Subvention im Sinne des § 264 Abs. 7 handelt. Subventionen sind danach nur Leistungen, die aus öffentlichen Mitteln nach (deutschem) Bundes- oder Landesrecht (Nr. 1) oder aus Mitteln der Europäischen Gemeinschaften (Nr. 2) gewährt werden. Betrugshandlungen im Zusammenhang mit sonstigen, nach ausländischen Rechtsgrundlagen gewährten Beihilfen werden vom Tatbestand nicht erfasst. Staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte „Beihilfen“ der Mitgliedstaaten sind nur zulässig, soweit sie mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar sind; Beispiele nennt der Katalog des Art. 107 Abs. 2 AEUV (näher Streinz Europarecht, 2016, Rdn. 1096 ff). Die Gewährung von „Beihilfen“ ist ein besonderes Mittel der Europäischen Union zur Regelung auch der landwirtschaftlichen Märkte und des Handels mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen im Rahmen gemeinsamer Marktorganisationen. Insofern ist § 6 Nr. 8 von großer Bedeutung. Völkerrechtlich rechtfertigen lässt sich die Geltung des deutschen Strafrechts für Auslandstaten von Ausländern nach § 6 Nr. 8 mit dem Staatsschutzprinzip (Vor § 3 Rdn. 244 ff). Taten nach § 264 richten sich unmittelbar gegen das Vermögen der öffentli-

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So auch Ambos MK Rdn. 15. Oehler Rdn. 926 a.E.

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chen Hand; sanktioniert wird zugleich die Zweckverfehlung im Hinblick auf den angestrebten gesamtwirtschaftlichen Effekt (Lackner/Kühl/Heger § 264 Rdn. 1). Mit Blick auf europäische Beihilfen ergibt sich die völkerrechtliche Rechtfer100 tigung der Vorschrift aus dem Gesichtspunkt des Unionsschutzprinzips (näher Vor § 3 Rdn. 270 ff);53 siehe auch das Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften vom 26.7.1995 (Vor § 3 Rdn. 192). Nach Art. 325 Abs. 2 AEUV haben die Mitgliedstaaten zur Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, die gleichen Maßnahmen zu ergreifen, die sie auch zur Bekämpfung von Betrügereien gegen ihre eigenen finanziellen Interessen einsetzen. Vor diesem Hintergrund besteht aus völkerrechtlicher Sicht kein Anlass, die Ausübung von Strafgewalt (und damit den Anwendungsbereich von § 6 Nr. 8) auf Taten zu beschränken, die innerhalb der Grenzen der Europäischen Union begangen werden (so aber Ambos MK Rdn. 16). § 6 Nr. 5 ist damit aus völkerrechtlicher Sicht auch dann nicht zu beanstanden, wenn der Geltungsbereich des deutschen Strafrechts auf tatbestandliche Handlungen erstreckt wird, die außerhalb des Gebietes der Europäischen Union begangen werden (ebenso Tiedemann LK12 § 264 Rdn. 166). 101

8. Auslandstaten, die auf Grund zwischenstaatlicher Abkommen zu verfolgen sind. Nach § 6 Nr. 9 gilt das deutsche Strafrecht unabhängig vom Recht des Tatorts für Taten, die auf Grund eines für die Bundesrepublik Deutschland verbindlichen zwischenstaatlichen Abkommens auch dann zu verfolgen sind, wenn sie im Ausland begangen werden. a) Allgemeines

aa) Bedeutung. Die Vorschrift enthält eine Generalklausel, die auf die Bezeichnung bestimmter Straftatbestände verzichtet. § 6 Nr. 9 verweist stattdessen nach Art eines Blanketts (§ 1 Rdn. 148 ff) auf völkerrechtliche Vertragsnormen, die nach Ratifizierung für die Bundesrepublik verbindlich geworden sind. Die Vorschrift ist wörtlich übernommen aus § 5 Abs. 1 Nr. 7 E 1962 und erstmals in § 4 103 Abs. 3 Nr. 10 i.d.F. des 11. StRÄndG vom 16.12.1971 (BGBl. I S. 1977) in das Strafgesetzbuch eingefügt worden. Ihr Zweck besteht darin, das deutsche Strafrecht auf alle nicht bereits in den Straftatkatalogen der §§ 5 und 6 (bzw. des § 5 E 1962) enthaltenen Auslandstaten für anwendbar zu erklären, deren Verfolgung die Bundesrepublik Deutschland durch zwischenstaatliche Abkommen übernommen hat oder künftig übernehmen wird (Begr. E 1962, BRDrucks. 200/62 S. 110). Auf diese Weise will der Gesetzgeber Lücken im geltenden Recht schließen und es ermöglichen, völkerrechtlichen Verpflichtungen zur Verfolgung bestimmter Auslandstaten nach der Ratifizierung einschlägiger zwischenstaatlicher Verträge ohne oder schon vor Änderung des Strafgesetzbuches nachzukommen (E 1962 Begr. S. 110). Eine solche blankettartige Regelung ist an sich möglich und grundsätzlich auch mit dem Bestimmtheitsgrundsatz vereinbar (näher Rdn. 105 ff); sie belastet den Rechtsanwender allerdings mit der im Einzelfall unter Umständen schwierigen Vorfrage, ob die Bundesrepublik auf Grund eines verbindlichen zwischenstaatlichen Abkommens völkerrechtlich zur Verfolgung verpflichtet ist (näher Rdn. 120 ff).54 § 6 Nr. 9 erweitert – wie die übrigen Bestimmungen des § 6 – den Geltungsbereich 104 des deutschen Strafrechts und ist damit Teil des materiellen Rechts und nicht etwa nur 102

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Siehe auch Oehler Rdn. 908 f, 919; Tiedemann LK12 § 264 Rdn. 166 („Europarechtsprinzip“). Vgl. Oehler Rdn. 889.

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eine Prozessnorm.55 Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass Nummer 9 auf der „Tatbestandsseite“ das Bestehen einer (prozessualen) Verpflichtung zur Verfolgung verlangt. bb) Gesetzliche Bestimmtheit der Strafbarkeit. Unter dem Gesichtspunkt gesetz- 105 licher Bestimmtheit der Strafbarkeit, der auch für die Bestimmungen des Strafanwendungsrechts gilt (Vor § 3 Rdn. 287),56 ist § 6 Nr. 9 nicht unbedenklich. Zwar dient auch § 6 Nr. 9 – wie § 5 Nr. 11 (siehe § 5 Rdn. 167 f) – der Wahrung des Völkerrechts; doch erschöpft er sich bei der Bezeichnung der Taten, um die es geht, in einer allgemeinen Verweisung auf (oft auslegungsbedürftige) völkerrechtliche Abkommen, welche die Bundesrepublik zur Strafverfolgung verpflichten. Bei der Auslegung, welche die Vorschrift hier erhält (Rdn. 108 ff), ist sie – für sich 106 genommen – hinreichend klar (vgl. auch Zieher S. 170 f). Blankette (und zu ihnen muss man § 6 Nr. 9 rechnen) genügen den Bestimmtheitsanforderungen des § 1 und des Art. 103 Abs. 2 GG aber nur, wenn nicht allein sie selbst, sondern auch die Normen, auf die sie zur Begründung der Strafbarkeit verweisen, die erforderliche Klarheit aufweisen (§ 1 Rdn. 148 ff). § 6 Nr. 9 und das einzelne zwischenstaatliche Abkommen, das ihm unterfällt, sind insoweit als einheitliche Vorschrift zu sehen. Der Vertrag muss also deutlich erkennen lassen, auf welche Taten er überhaupt an- 107 zuwenden ist und unter welchen Voraussetzungen eine vertragliche Pflicht zur Verfolgung besteht. Unter diesem Aspekt ist die Frage der gesetzlichen Bestimmtheit der Strafbarkeit im Rahmen des § 6 Nr. 9 bei jedem zwischenstaatlichen Abkommen gesondert zu prüfen; dabei sind allerdings Besonderheiten des Sprachgebrauchs in völkerrechtlichen Vereinbarungen zu berücksichtigen (vgl. auch Zieher S. 170 f). cc) Vertragliche Verfolgungspflicht und universeller Geltungsbereich. § 6 Nr. 9 108 betrifft Auslandstaten, für die aufgrund eines zwischenstaatlichen Abkommens eine Verfolgungspflicht besteht. Unter den Voraussetzungen der Nr. 9 ordnet § 6 für solche Fälle die Geltung des deutschen Strafrechts für Auslandstaten unabhängig vom Recht des Tatortes an. Die Verknüpfung, die § 6 Nr. 9 zwischen dem Bestehen einer vertraglichen Verfolgungspflicht und der Geltung des deutschen Strafrechts herstellt, wirft eine Reihe von Auslegungsfragen auf. Nimmt man § 6 Nr. 9 beim Wort, so würde sich aus einer bestehenden vertraglichen 109 Verpflichtung der Bundesrepublik die universelle Geltung des deutschen Strafrechts für die entsprechenden Taten ergeben, und zwar ohne Rücksicht auf das Tatortrecht.57 Eine solche Konsequenz ist völkerrechtlich nur dann gerechtfertigt, wenn sich aus dem Abkommen tatsächlich eine Pflicht zur Strafverfolgung nach dem Universalitätsprinzip begründen lässt. Dies trifft nur in Ausnahmefällen zu (vgl. Rdn. 135). Denn erstens binden Verträge grundsätzlich nur die Vertragsparteien; zwischen- 110 staatliche Abkommen berechtigen keineswegs zur Einmischung in die Angelegenheiten dritter (Nichtvertrags-) Staaten. Nur wenn der Vertrag universell anerkannt ist und damit in der Regel zugleich universelles Völkergewohnheitsrecht darstellt, kann er Rechtswirkungen für alle Staaten haben. Und zweitens verpflichten die zwischenstaatlichen Abkommen die Vertragsstaaten nur in Ausnahmefällen dazu, Taten nach dem Universalitätsprinzip zu verfolgen, das heißt auch dann, wenn diese im Ausland zwischen Aus-

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Vgl. auch Zieher S. 165 ff. Vgl. Gribbohm FS Salger, S. 39 f. Vgl. Ambos MK Rdn. 22 ff.

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ländern begangen werden (näher Vor § 3 Rdn. 256 ff). Grundlage der vertraglichen Verfolgungspflichten ist in der Regel nicht das Universalitätsprinzip, sondern das aktive Personalitätsprinzip, das Flaggenprinzip oder das Prinzip stellvertretender Strafrechtspflege. Leitet man aus der bloßen vertraglichen Verpflichtung, eine Straftat zu verfolgen, die Geltung des Universalitätsprinzips ab, so besteht eine erhebliche Gefahr von Verstößen gegen das Völkerrecht. Eine Übereinstimmung zwischen den völkerrechtlichen Pflichten und der innerstaatlichen Rechtsordnung der Bundesrepublik lässt sich freilich dadurch erreichen, dass der aus § 6 Nr. 9 folgende Geltungsbereich des deutschen Strafrechts nur so weit erstreckt wird, wie auch die vertragliche Verfolgungspflicht reicht. Richtigerweise ist die Reichweite der deutschen Strafgewalt also unmittelbar an den Voraussetzungen des zwischenstaatlichen Abkommens auszurichten und, soweit erforderlich, § 6 Nr. 9 auf der „Rechtsfolgenseite“ entsprechend einzuschränken (ähnlich Oehler Rdn. 889; siehe auch Rdn. 126). Konkret bedeutet dies, dass der Geltungsbereich des deutschen Strafrechts über § 6 Nr. 9 nicht weiter reichen kann als die Verfolgungspflicht, der die Bundesrepublik unterliegt. Ist Deutschland als Vertragsstaat mithin (nur) zur Verfolgung verpflichtet, wenn der Verdächtige in Deutschland ergriffen und nicht ausgeliefert wird oder deutscher Staatsangehöriger ist, gilt auch das deutsche Strafrecht über § 6 Nr. 9 für einschlägige Auslandstaten nur bei Vorliegen dieser Voraussetzungen. Die Voraussetzungen der völkervertraglichen Verfolgungspflicht werden also für das deutsche Strafanwendungsrecht unmittelbar maßgeblich. Diese Auslegung stellt einen Gleichklang zwischen den völkerrechtlichen Pflichten und der innerstaatlichen Rechtsordnung her. Sie entspricht dem Sinn und Zweck von § 6 Nr. 9, nämlich sicherzustellen, dass die Verpflichtungen, die Deutschland in den einschlägigen Abkommen übernommen hat, erfüllt werden. Zweck der Vorschrift ist es nicht, die deutsche Strafgewalt über die völkerrechtlichen Verpflichtungen hinaus zu erweitern. Soweit sich bei dieser Auslegung Überschneidungen mit den Fällen der §§ 3, 4, 5 oder 6 Nrn. 2 bis 8 ergeben, tritt § 6 Nr. 9 zurück; dies entspricht dem Auffangcharakter der Vorschrift. Der Wortlaut steht einer solchen Auslegung nicht entgegen. Dem systematisch fundierten Einwand, bei dieser Auslegung habe § 6 Nr. 9 mit Weltrechtspflege allenfalls am Rande zu tun, lässt sich zweierlei entgegen halten. Denn zum einen handelt es sich nach zutreffender Ansicht bei den in § 6 Nrn. 2 bis 8 geregelten Fallgruppen nicht durchweg um Fälle, in denen das Völkerrecht die Ausübung von Strafgewalt unter dem Gesichtspunkt des Universalitätsprinzips erlauben würde (vgl. Rdn. 9 ff). Zum anderen ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift, dass der Gesetzgeber bei der Schaffung von § 6 Nr. 9 keineswegs ausschließlich oder in erster Linie den Weltrechtsgrundsatz im Blick hatte. Zu beachten ist nämlich, dass der E 1962, auf den § 6 zurückgeht, die in den heutigen §§ 5 und 6 erfassten Fälle, darunter auch § 6 Nr. 9 in seiner jetzigen Fassung, in einer Vorschrift (§ 5) zusammen fasste. Im Katalog des § 5 fanden sich mithin auch Geltungsbereichsnormen, die dem Staatsschutzprinzip, dem aktiven Personalitätsprinzip (z.B. § 5 Abs. 1 Nr. 13 E 1962) oder dem passiven Personalitätsprinzip (z.B. § 5 Abs. 1 Nr. 11 E 1962) zuzuordnen waren. Die Entscheidung, den Katalog des § 5 E 1962 in zwei getrennte Normen, die heutigen §§ 5 und 6, aufzuspalten, ist erst im Sonderausschuss gefallen (2. Ber. BTDrucks. V/4095 S. 5). Wie nach der hier vertretenen Auffassung (Rdn. 112) lassen sich Friktionen mit dem Völkerrecht auch dadurch vermeiden, dass die „Tatbestandsseite“ von § 6 Nr. 9 einschränkend ausgelegt und an die „Rechtsfolgenseite“ angepasst wird. Als „zwischenstaatliche Abkommen“ im Sinne des § 6 Nr. 9 würden danach nur solche Verträge in Betracht kommen, die ausdrücklich die Befugnis enthalten, Strafgewalt nach dem UniWerle/Jeßberger

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versalitätsprinzip auszuüben.58 Auf diese Weise würde allerdings der Anwendungsbereich von § 6 Nr. 9 erheblich verengt und der Zweck der Vorschrift, eine fortlaufende Anpassung der Geltungsbereichsregelungen entbehrlich zu machen (Rdn. 103), nicht vollständig erreicht. b) Voraussetzungen aa) Begriff der Tat. Gemeint sind zunächst „Taten“ im sachlichrechtlichen Sinne (Vor § 3 Rdn. 335 f). Da § 6 Nr. 9 keine einzelnen Straftatbestände bezeichnet, begrenzt der Begriff hier aber nicht den Umfang, in dem das deutsche Strafrecht auf Auslandstaten erstreckt wird. Vielmehr können unter diese Vorschrift alle Straftatbestände des StGB und des Nebenstrafrechts fallen, sofern die weiteren Voraussetzungen dafür erfüllt sind. § 6 Nr. 9 vermag aber nur die Geltung und Anwendbarkeit von bereits bestehenden Straftatbeständen des deutschen Strafrechts zu begründen. Die Vorschrift entbindet den Gesetzgeber nicht etwa von der (völkerrechtlichen) Verpflichtung, neue Strafnormen zu schaffen. Zieher (S. 166) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, der völkerrechtliche Vertrag könne in umschreibender Form bestimmte Verhaltensweisen herausgreifen und sie pauschal der Bewertung des nationalen Strafrechts zuweisen (Fallgruppe 1). Er könne aber auch eigenständige, von nationalen Tatbestandsarten unabhängige Vertatbestandlichungen schaffen und diese, mangels eigener Strafgewalt und eigener Strafverfolgungsorgane (der Völkerrechtsgemeinschaft), dem nationalen Strafrecht zur treuhänderischen Durchsetzung überantworten (Fallgruppe 2). Schließlich sei es möglich, dass ein völkerrechtlicher Vertrag lediglich eine Pflicht zur Anwendung nationaler Tatbestände oder Tatbestandsgruppen für Handlungen im Ausland auferlege (Fallgruppe 3). § 6 Nr. 9 hat nach seinem Sinn und Zweck, Bestrafung von Auslandstaten ohne Strafrechtsänderung zu ermöglichen (Rdn. 103), Bedeutung hauptsächlich für Fälle der dritten Gruppe von Verträgen. Insoweit hat der Gesetzgeber schon mit dieser Norm (§ 6 Nr. 9) innerstaatlich die materiellen Voraussetzungen für die völkerrechtlich gebotene Strafverfolgung geschaffen, und zwar im Hinblick auf zukünftige Verträge bereits vor der Entstehung der völkerrechtlichen Verfolgungspflicht (vgl. Zieher S. 167). In den Fällen der Gruppen 1 und 2 wird es dagegen in der Regel notwendig sein, dass der Vertragsinhalt in innerstaatliche Straftatbestände mit besonderer Strafdrohung transformiert wird;59 allerdings braucht auch in diesen Fällen der Katalog des § 6 nicht ergänzt zu werden. Insoweit trifft überdies der Hinweis (Fischer Rdn. 9) zu, die Verträge hätten die Wirkung, dass (bereits) bestehende Strafvorschriften auf Taten im Ausland auch dann anzuwenden seien, wenn spezielle, das Abkommen ausfüllende Strafnormen noch fehlten oder wenn die vorhandenen Straftatbestände nicht voll erfassten, was nach dem Vertrag unter Strafe zu stellen sei.

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bb) Verbindliches zwischenstaatliches Abkommen. Voraussetzung der Straf- 120 rechtsgeltung ist das Bestehen eines wirksamen zwischenstaatlichen Abkommens, also eines völkerrechtlichen Vertrages, den die Bundesrepublik mit einem oder mehreren Staaten geschlossen hat. Ob § 6 Nr. 9 auch Rechtsakte der Europäischen Union, insbes.

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58 So Fischer Rdn. 9; dagegen Ambos MK Rdn. 18; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 10. 59 Vgl. allgemein zur Umsetzung völkerrechtlicher Regelungen in das nationale Recht der Bundesrepublik Wilkitzki ZStW 99 (1987) 455, 464 f.

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Rahmenbeschlüsse und Richtlinien, erfasst, ist umstritten.60 Um „zwischenstaatliche Abkommen“ i.e.S. handelt es sich bei diesen Rechtsakten nicht. Die jedenfalls begrifflich denkbare Rückanknüpfung an die Gründungsverträge der EU als „zwischenstaatliche Abkommen“61 wird wohl eine unzulässige Umgehung der Wortlautgrenze darstellen. Unmittelbar aus den Gründungsverträgen ergibt sich keine Verfolgungspflicht. Zwischenstaatliche Verträge, die sich wie das Straf- und Strafprozessrecht (Art. 74 121 Abs. 1 Nr. 1 GG) auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, werden verbindlich, sobald die erforderliche Zustimmung in Form eines in Kraft getretenen Bundesgesetzes vorliegt (Art. 59 Abs. 2 GG) und die vertraglich vereinbarten Voraussetzungen für die völkerrechtliche Wirksamkeit des Abkommens erfüllt sind.62 Die oft schwierige Feststellung, ob dies der Fall ist, wird in der Praxis durch die Übung erleichtert, dass der Zeitpunkt, an dem der Vertrag in Kraft tritt, auf Grund einer Anordnung im Zustimmungsgesetz im Bundesgesetzblatt bekannt gemacht wird.63 Insbesondere wenn es sich um ein älteres Abkommen handelt, kann Anlass beste122 hen zu prüfen, ob es noch gilt oder durch Zeitablauf oder auf Grund besonderer Umstände nach Völkergewohnheitsrecht erloschen ist.64 Der Fundstellennachweis B des Bundesgesetzblatts (Teil II) erleichtert auch diese Prüfung insofern, als er nur völkerrechtliche Vereinbarungen enthält, die – soweit ersichtlich – noch in Kraft sind oder (nach Meinung des Herausgebers) „sonst noch praktische Bedeutung haben können“.65 cc) Pflicht zur Verfolgung von Auslandstaten. § 6 Nr. 9 betrifft nur Fälle, in denen sich nach dem Inhalt eines zwischenstaatlichen Abkommens eine Pflicht der Bundesrepublik zur Verfolgung von Auslandstaten ergibt (BGH NJW 1991 3104). Eine ausdrückliche oder stillschweigende Ermächtigung, Auslandstaten zu ahnden, 124 oder die bloße rechtliche Möglichkeit dazu genügen also nicht (Ambos MK Rdn. 17). Dies betrifft vor allem Abkommen, die den Vertragsstaaten lediglich ein Recht zur Verfolgung von Auslandstaten gewähren, ohne dieses mit einer entsprechenden Verpflichtung zu verbinden. So ist nach dem SeeRÜbk. (Vor § 3 Rdn. 94 ff) zwar jeder Staat berechtigt, Seeräuber auf hoher See festzunehmen und durch seine Gerichte bestrafen zu lassen; er ist dazu – nach diesen Übereinkommen – jedoch nicht verpflichtet. Ähnlich verhält es sich beim Völkermord: Während eine nach Völkergewohnheitsrecht bestehende Befugnis der Staaten zur Verfolgung auf Grundlage des Universalitätsprinzips nicht mehr zu bestreiten ist, unterwirft die Völkermordkonvention (Vor § 3 Rdn. 77) die Vertragsstaaten lediglich der Verpflichtung, Inlandstaten zu verfolgen und zu bestrafen (Art. VI). Auch Verfolgungs- und Bestrafungspflichten, die sich nicht aus Völkervertragsrecht, 125 wohl aber aus Völkergewohnheitsrecht ergeben (hierzu Vor § 3 Rdn. 44) vermögen nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift die Geltung des deutschen Strafrechts gem. § 6 Nr. 9 nicht zu begründen. Dies ist rechtspolitisch fragwürdig, praktisch aber wenig schädlich, da der Gesetzgeber den ohnehin weiten Geltungsbereich des deutschen Strafrechts durch die Schaffung von § 1 VStGB für die einschlägigen Fälle erweitert hat (Vor § 3 Rdn. 477). 123

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Dagegen Satzger 83; siehe auch Böse NK Rdn. 19. So Böse NK Rdn. 19. v. Münch/Kunig/Rojahn Art. 59 Rdn. 28 ff. Vgl. Bundesministerium der Justiz (Hrsg.) Fundstellennachweis B, BGBl. 2005 II. Vgl. Strupp/Schlochauer/Guggenheim/Marck III S. 528, 538 ff. Bundesministerium der Justiz (Hrsg.) Fundstellennachweis B, BGBl. 2005 II S. 6.

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§ 6 Nr. 9 greift nur ein, wenn im Einzelfall nach der vertraglichen Regelung eine Verfolgungspflicht besteht (BGHSt 46 292, 297 = JR 2002 79 m. Anm. Hilgendorf).66 Es reicht nicht aus, dass die Tat ihrer Art nach unter das zwischenstaatliche Abkommen fällt, die Bundesrepublik aber gleichwohl nicht gehalten ist, sie zu verfolgen, weil die Verfolgungspflicht – wie in der Regel (Rdn. 136) – an zusätzliche Voraussetzungen geknüpft ist, die im konkreten Fall nicht erfüllt sind. Maßgeblich für das Bestehen der Verfolgungspflicht als Voraussetzung der Geltung des deutschen Strafrechts ist allein das zwischenstaatliche Abkommen. § 6 Nr. 9 kann damit nur eingreifen, wenn, soweit und solange eine solche Pflicht besteht. Insofern bewirkt die Verkoppelung von Vertragsnorm und Geltung des deutschen Strafrechts eine Umgrenzung des Geltungsbereichs, die den Vorzug hat, dass dieser stets völkerrechtskonform (siehe Rdn. 112) ist. Besteht im Einzelfall keine völkerrechtliche Verpflichtung, strafrechtlich einzuschreiten, scheidet eine Anwendung des § 6 Nr. 9 aus. Der Kompetenzrahmen, den das deutsche Recht über die Transformationsnorm des § 6 Nr. 9 ausfüllt, ist also durch den maßgeblichen Vertrag vorgegeben. Geboten ist danach eine dreistufige Prüfung. In einem ersten Schritt ist festzustellen, ob der in Betracht kommende Vertrag im konkreten Fall ratione loci und ratione personae anwendbar ist (vgl. Merkel in Lüderssen S. 265). In einem zweiten Schritt ist zu ermitteln, ob das dem Verdächtigen vorgeworfene Verhalten die im Abkommen niedergelegte Deliktsbeschreibung verwirklicht. Zu prüfen ist dabei beispielsweise, ob die Voraussetzungen einer „Folterhandlung“ im Sinne der Folterkonvention oder einer schweren Verletzung der Genfer Abkommen im zu beurteilenden Fall erfüllt sind. In einem dritten Schritt ist schließlich zu prüfen, ob die Voraussetzungen vorliegen, unter denen das Abkommen zur Verfolgung einschlägiger Auslandstaten verpflichtet. Auf der dritten Stufe scheidet die Geltung des deutschen Strafrechts nach § 6 Nr. 9 beispielsweise aus, wenn der Vertrag vorschreibt, dass der Flaggenstaat eine Auslandstat bestrafen muss, die an Bord eines ihm zugehörigen Schiffes begangen wird (vgl. Vor § 3 Rdn. 35), während sie nach dem zu beurteilenden Sachverhalt tatsächlich bei einem Landurlaub der Schiffsmannschaft verübt wurde. Entsprechendes gilt, wenn der Vertrag Verfolgungspflichten für bestimmte Staaten begründet, zu denen aber der Ergreifungsstaat – in casu Deutschland – nicht gehört (so BGH NStZ 1991 525 für das Haager Übereinkommen 1970, Vor § 3 Rdn. 107). Sieht ein zwischenstaatliches Abkommen – wie nicht selten (vgl. etwa Art. 10 Abs. 1 des IntFinTerrÜbk. (Vor § 3 Rdn. 133) und Art. 8 Abs. 1 der Geiselnahmekonvention (Vor § 3 Rdn. 153) – vor, dass ein Vertragsstaat den im Inland betroffenen Beschuldigten strafrechtlich verfolgen muss, wenn er ihn nicht ausliefert (aut dedere aut judicare), so ist eine die Anwendbarkeit des § 6 Nr. 9 begründende Verfolgungspflicht anzunehmen, solange der Beschuldigte trotz Auslieferungsersuchens in Deutschland anwesend und nicht ausgeliefert ist.67 Hält der Verdächtige sich im Ausland auf, gilt das deutsche Strafrecht – mangels Verfolgungspflicht – nicht. Hält sich der Verdächtige im Inland auf, steht die vertragliche Pflicht, ein Ermittlungs- oder Strafverfahren einzuleiten, unter einer auflösenden Bedingung mit der Folge, dass das deutsche Strafrecht nach der Auslieferung für die Tat nicht mehr auf dem Weg über § 6 Nr. 9 gilt. Mit der Auslieferung erlischt die vertragliche Verfolgungspflicht nicht notwendig endgültig. Sie kann wieder aufleben, so etwa dann, wenn es dem Beschuldigten gelungen ist, vor Abschluss des

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BGH NJW 1991 3104; Hoyer SK Rdn. 4; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 10. Vgl. Grützner/Pötz III C 13.4 S. 19 Fn. 19.

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gegen ihn laufenden Verfahrens aus der Haft des Vertragsstaats, der um die Auslieferung ersucht hatte, zu entweichen und wenn er danach erneut im Inland betroffen wird. Die dreistufige Prüfung (Rdn. 127 f) entspricht dem Vorgehen der Rechtsprechung; siehe zum IV. Genfer Abkommen (Vor § 3 Rdn. 81): BGHSt 46 292, 297 ff, BayObLG NJW 1998 392, 393 ff; zum Haager Übereinkommen 1970 (Vor § 3 Rdn. 107): BGH NStZ 1991 525. Steht damit die Geltung des deutschen Strafrechts über § 6 Nr. 9 in Verbindung mit einem zwischenstaatlichen Abkommen fest, ist in einem weiteren Schritt der „passende“ Straftatbestand im deutschen Strafrecht zu ermitteln. Die Wirkung von § 6 Nr. 9 besteht dabei darin, die Geltung bereits bestehender (oder auf Grund des Abkommens neu geschaffener) Straftatbestände des deutschen Strafrechts auf einschlägige Auslandstaten anzuordnen.68 So lassen sich beispielsweise die vorsätzliche Tötung nach Art. 147 des IV. Genfer Abkommens (Vor § 3 Rdn. 81) als Mord (§ 211),69 die rechtswidrige Gefangenschaft bzw. Verschleppung als (Beihilfe zur) Freiheitsberaubung (§ 239) sowie die Folter bzw. unmenschliche Behandlung als gefährliche Körperverletzung (§ 224)70 erfassen. c) Anwendungsbereich. Nach den vorgenannten Grundsätzen gilt das deutsche Strafrecht gem. § 6 Nr. 9 für Taten, die nach den folgenden – beispielhaft angeführten – zwischenstaatlichen Abkommen zu verfolgen sind: schwere Verletzungen nach den vier Genfer Abkommen von 1949 (Vor § 3 Rdn. 81 ff)71 sowie nach den beiden Zusatzprotokollen von 1977 (Vor § 3 Rdn. 81 ff);72 terroristische Gewalttaten, die von Art. 1 EuTerrÜbk. (Vor § 3 Rdn. 133 ff) erfasst werden;73 Verbrechen nach der Geiselnahmekonvention (Vor § 3 Rdn. 153 ff)74 sowie Verstöße gegen die Folterkonvention (Vor § 3 Rdn. 160 ff).75 Ferner begründen u.a. die folgenden Verträge unter jeweils bestimmten Voraussetzungen eine Pflicht der Bundesrepublik Deutschland, Auslandstaten zu verfolgen: das Europäische Übereinkommen von 1965 zur Verhütung von Rundfunksendungen, die von Sendestellen außerhalb der staatlichen Hoheitsgebiete gesendet werden, (Vor § 3 Rdn. 120 ff); die Diplomatenschutzkonvention (Vor § 3 Rdn. 127 ff);76 das Übereinkommen von 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (Vor § 3 Rdn. 192 ff) sowie das Protokoll von 1996 zu diesem Übereinkommen (Vor § 3 Rdn. 192 ff); das Internationale Übereinkommen von 1999 zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus; sowie das Internationale Übereinkommen von 2000 zur Bekämpfung der transnationalen organisierten Kriminalität (Vor § 3 Rdn. 201 ff). Siehe ferner zu den von § 6 Nrn. 2 bis 7 abgedeckten Abkommen Rdn. 42 ff, 52 ff, 62, 83, 87, 93. Nur wenige der genannten völkerrechtlichen Übereinkommen schreiben den Vertragsstaaten vor, Auslandstaten auch dann zu verfolgen, wenn diese zwischen Ausländern begangen worden sind und es an einer Inlandsberührung fehlt. Eindeutige Beispie-

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68 Ambos MK Rdn. 17; Hoyer SK Rdn. 4; Böse NK Rdn. 14; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 10; Zieher S. 168. 69 BayObLG NJW 1998 392, 393. 70 BGHSt 46 292, 297 ff. 71 BGHSt 46 292, 297; BayObLG NJW 1998 392, 394; Ambos MK Rdn. 20; Merkel in Lüderssen S. 263; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 11. 72 Oehler Rdn. 847, 894; Roggemann NJW 1994 1436; Zieher S. 171. 73 Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn 11. 74 Ambos MK Rdn. 23; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 11. 75 Ambos MK Rdn. 22; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 11. 76 Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn 11.

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le sind die vier Genfer Abkommen (Vor § 3 Rdn. 81); hiernach sind die Vertragsstaaten zur Ausübung von Strafgewalt nach dem Universalitätsprinzip verpflichtet.77 Die überwiegende Zahl der genannten Abkommen begründet eine Verfolgungs- 136 pflicht für Auslandstaten dagegen nur bei Vorliegen zusätzlicher Anknüpfungspunkte, so z.B. unter der Voraussetzung, dass die Tat an Bord eines dem Vertragsstaat zugehörigen Schiffes oder Luftfahrzeugs begangen wird (näher Vor § 3 Rdn. 35), dass der Täter Staatsangehöriger des Vertragsstaats ist (näher Vor § 3 Rdn. 36) oder dass er nach der Tat im Gebiet des Vertragsstaats betroffen und nicht ausgeliefert wird (näher Vor § 3 Rdn. 38). In diesen Fällen bilden nicht das Universalitätsprinzip, sondern andere völkerrechtliche Geltungsprinzipien (Vor § 3 Rdn. 235 ff) – wie das Flaggenprinzip, das aktive Personalitätsprinzip und das Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege – die Grundlage der völkerrechtlichen Pflicht, Auslandstaten zu verfolgen. Zu beachten ist, dass § 6 Nr. 9 vielfach durch spezielle Geltungsbereichsnormen 137 verdrängt wird. Dies gilt nicht nur mit Blick auf die Nummern 2 bis 7, sondern etwa auch für § 1 VStGB i.V.m. §§ 8 ff VStGB. d) Völkerrechtliche Rechtfertigung. Welchem Geltungsprinzip § 6 Nr. 9 zuzuord- 138 nen ist, ist umstritten. Teilweise wird die Vorschrift dem Universalitätsprinzip zugeordnet,78 teilweise dem Stellvertretungsprinzip.79 Nach richtiger Ansicht verwirklicht § 6 Nr. 9 das Vertragsprinzip, das als eigenständiges Prinzip des Strafanwendungsrechts neben den klassischen Geltungsprinzipien steht und eigenen Regeln folgt (Vor § 3 Rdn. 269).80 Aus diesem Grund ist die Vorschrift aus völkerrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Zustimmung verdient daher die Andeutung des 3. Strafsenats des BGH, er halte ei- 139 nen von ihm für § 6 Nr. 1 a.F. über den Gesetzeswortlaut hinaus verlangten zusätzlichen legitimierenden Anknüpfungspunkt in den Fällen des § 6 Nr. 9 nicht für erforderlich (vgl. auch Rdn. 30).81 Denn wenn die Bundesrepublik in Erfüllung einer völkerrechtlichen Verfolgungspflicht die Auslandstat eines Ausländers an Ausländern verfolge und nach deutschem Strafrecht ahnde, könne – so der BGH – von einem Verstoß gegen das Nichteinmischungsprinzip „schwerlich“ die Rede sein. Im Rahmen des Vertragsprinzips kommen über § 6 Nr. 9 je nach Ausgestaltung des 140 in Bezug genommenen zwischenstaatlichen Abkommens unterschiedliche Geltungsprinzipien zum Tragen. Deutsches Strafrecht gilt nach dem Universalitätsprinzip nur, wenn dem Abkommen selbst eine Verpflichtung zur Verfolgung bestimmter Taten auf Grundlage des Universalitätsprinzips zu entnehmen ist, also auch für den Fall, dass ein Ausländer die Tat an einem Ausländer im Ausland begangen hat. Verpflichtet das Abkommen aber, wie meist, auf der Grundlage anderer Geltungsprinzipien zur Verfolgung von Auslandstaten, etwa nach dem Prinzip stellvertretender Strafrechtspflege oder dem aktiven Personalitätsprinzip, so gilt auch das deutsche Strafrecht angesichts der Akzessorietät der Geltungserstreckung nur in diesem Rahmen (vgl. auch Rdn. 126).

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77 Oehler Rdn. 889, 894. 78 Hoyer SK Rdn. 1; wohl auch Lackner/Kühl/Heger Rdn. 1; Fischer vor Rdn. 1; dagegen Ambos MK Rdn. 17; Henrich S. 74; Sch/Schröder/Eser29 Rdn. 10; Zieher S. 169. 79 Sch/Schröder/Eser29 Rdn. 1. 80 Ähnlich – im Anschluss an Zieher S. 169 f – Henrich S. 74 („Strafverfolgungszuständigkeit auf Grund zwischenstaatlicher Abkommen“); zust. Ambos MK Rdn. 17; Böse NK Rdn. 17 ff; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 10. 81 BGHSt 46 292, 307 m. zust. Anm. Hilgendorf JR 2002 82; offengelassen in BGHSt 45 64, 69; aA noch BGH NStZ 1999 236; BayObLG NJW 1998 392, 393.

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V. Prozessuales Siehe allgemein Vor § 3 Rdn. 368 ff. Für die Verfolgung von Auslandstaten gilt das Opportunitätsprinzip (§ 153c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO). Die Verfahrenseinstellung nach § 153c StPO kann im Einzelfall unvereinbar sein mit 142 dem Sinn und Zweck einer völkerrechtlichen Vereinbarung, welche der Bundesrepublik die Verfolgung bestimmter internationaler Straftaten gebietet (vgl. Rdn. 136). Im Einzelfall kann das staatsanwaltliche Verfolgungsermessen daher auf Null reduziert sein.82 Dies betrifft insbesondere die Fälle, die gem. § 6 Nr. 9 in den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts fallen. Zu beachten ist aber, dass die entsprechenden Vertragsklauseln vielfach die nach nationalem Strafverfahrensrecht bestehenden Einstellungsmöglichkeiten nicht von vornherein für unanwendbar erklären. 143 Wenn nach einer zwischenstaatlichen Vereinbarung Taten, die außerhalb des Geltungsbereichs der StPO begangen werden, so zu behandeln sind, als seien sie im Inland begangen worden, gilt § 153c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO nicht (vgl. auch RiStBV Nr. 94).83 Dies betrifft etwa Taten nach dem Internationalen Abkommen zur Bekämpfung der Falschmünzerei (vgl. Art. 8 Abs. 1; Vor § 3 Rdn. 72 f). 141

§7 Geltung für Auslandstaten in anderen Fällen Erster Abschnitt. Das Strafgesetz Geltung für Auslandstaten in anderen Fällen Werle/Jeßberger § 7 https://doi.org/10.1515/9783110300413-010

(1) Das deutsche Strafrecht gilt für Taten, die im Ausland gegen einen Deutschen begangen werden, wenn die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist oder der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt. (2) Für andere Taten, die im Ausland begangen werden, gilt das deutsche Strafrecht, wenn die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist oder der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt und wenn der Täter 1. zur Zeit der Tat Deutscher war oder es nach der Tat geworden ist oder 2. zur Zeit der Tat Ausländer war, im Inland betroffen und, obwohl das Auslieferungsgesetz seine Auslieferung nach Art der Tat zuließe, nicht ausgeliefert wird, weil ein Auslieferungsersuchen innerhalb angemessener Frist nicht gestellt oder abgelehnt wird oder die Auslieferung nicht ausführbar ist. Schrifttum Arzt Zur identischen Strafnorm beim Personalitätsprinzip und bei der Rechtshilfe, Festgabe zum Schweizerischen Juristentag (1988) 417; Cornils Die Fremdrechtsanwendung im Strafrecht (1978); Eser Grundlagen und Grenzen „stellvertretender Strafrechtspflege“ (§ 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB), JZ 1993 875; Henrich Das passive Personalitätsprinzip im deutschen Strafrecht (1994); Liebelt Bigamie als Auslandstat eines Ausländers, GA 1994 20; Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts (2011); Niemöller Zur Geltung des inländischen Strafrechts für Auslandstaten Deutscher, NStZ 1993 171; Oehler Zur Rückwirkung des Begriffs des Deutschen im geltenden deutschen internationalen Strafrecht, Festschrift Bockelmann (1979) 771; Pappas Stellvertretende Strafrechtspflege (1997); Plutte Zum Umfang der nach § 7 StGB erforderlichen Prüfung ausländischen Strafrechts (1982); A. Schmitz Das aktive Personalitätsprinzip im Internationalen Strafrecht (2002); R. Schmitz § 7 II Nr. 2 StGB und das Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege, Festschrift Grünwald (1999) 619; Scholten Das Erfordernis der Tatortstrafbarkeit in § 7 II

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82 Ambos MK Rdn. 30; Bungenberg AVR 39 (2001) 170, 197 f; vgl. auch Eser FS Meyer-Goßner, S. 3, 27; Griesbaum Humanitäres Völkerrecht – Informationsschriften 1997 127, 129. 83 Meyer-Goßner/Schmitt § 153c Rdn. 3.

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Geltung für Auslandstaten in anderen Fällen | § 7

Nr. 2 StGB, NStZ 1994 266; ders. Das Erfordernis der Tatortstrafbarkeit (1995); Schröder Grundlagen und Grenzen des Personalitätsprinzips im internationalen Strafrecht, JZ 1968 241; Vogler Der Fall Kappler in internationalstrafrechtlicher Sicht, NJW 1977 1866. Vgl. ferner vor den Vorbemerkungen zu den §§ 3 bis 7.

Entstehungsgeschichte § 7 Abs. 2 Nr. 1 hatte bereits in § 4 Abs. 2 Nr. 3 der Ursprungsfassung des RStGB einen Vorläufer. Danach konnte ein Deutscher, der eine am Tatort mit Strafe bedrohte Auslandstat begangen hatte, nach deutschem Strafrecht verfolgt werden. Die GeltungsbereichsVO vom 6.5.1940 (RGBl. I S. 754) erhob den aktiven Personalgrundsatz in § 3 RStGB zum Ausgangsprinzip des Strafanwendungsrechts (Vor § 3 Rdn. 276 f) und schuf den § 4, der in seinem Absatz 2 – im Hinblick auf das aktive Personalitätsprinzip beschränkt auf Auslandstaten von Ausländern – eine Regelung enthielt, die weitgehend dem heutigen § 7 entsprach. Seine geltende Fassung erhielt § 7 im Wesentlichen durch das 2. StrRG (BGBl. 1969 I 717), das am 1.1.1975 in Kraft getreten ist. Sie geht wörtlich auf § 6 E 1962 zurück. § 7 AE enthielt keine Bestimmung im Sinne des § 7 Abs. 1 und schlug an Stelle der Vorschrift des geltenden § 7 Abs. 2 das Erledigungsprinzip und die Berücksichtigung der ausländischen lex mitior vor; die Beibehaltung des passiven Personalitätsprinzips (§ 7 Abs. 1 der geltenden Fassung) lehnte er ausdrücklich ab (AEBegr. S. 37 f). Durch Art. 12c Nr. 1 des zum 1.9.2004 in Kraft getretenen 1. JuMoG (BGBl. I S. 2198) wurde in Absatz 2 Nr. 2 der Zusatz „innerhalb angemessener Frist“ einfügt. Gesetzesmaterialien § 6 E 1962 Begr., BRDrucks. 200/62 S. 12, 112 f; Zweiter Schriftlicher Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, BTDrucks. V/4095 S. 7, 54. Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Beschleunigung von Verfahren der Justiz (1. Justizbeschleunigungsgesetz), BTDrucks. 15/999 S. 8, 34 f; Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss), BTDrucks. 15/3482 S. 12, 25; Gesetzesbeschluss des BT, BRDrucks. 537/04.

I. II. III.

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Übersicht Bedeutung | 1 Völkerrechtliche Rechtfertigung | 3 Voraussetzungen 1. Übergreifende Voraussetzungen | 11 a) Begriff des Tatorts | 13 b) Tatort unter fremder Gebietshoheit | 17 aa) Sinn und Zweck der Beachtlichkeit des Tatortrechts | 18 bb) Beachtlichkeit des Tatortrechts und Fremdrechtsanwendung | 21 cc) Kriminalstrafe | 27 dd) Vergleichsmaßstab | 29 ee) Materielle Straffreistellungsgründe des Tatortrechts | 37

ff)

Verfolgungshindernisse des Tatortrechts | 41 gg) Faktische Nichtverfolgung am Tatort | 48 c) Gebietshoheitsfreier Tatort | 51 aa) Niemandsland | 52 bb) „Failed states“ | 53 2. Auslandstaten gegen einen Deutschen (§ 7 Abs. 1) | 54 a) Begriff des Deutschen | 55 b) Deutscher als Verletzter | 69 3. Auslandstaten von Personen, die zur Zeit der Tat Deutsche sind (§ 7 Abs. 2 Nr. 1 erste Alternative) | 73 4. Auslandstaten von Ausländern, die nach der Tat Deutsche geworden sind (sog. Neubürger; § 7 Abs. 2 Nr. 1 zweite Alternative) | 82

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§ 7 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

5.

Auslandstaten von Ausländern (§ 7 Abs. 2 Nr. 2) | 90 a) Begriff des Ausländers | 93 b) Anwesenheit in Deutschland | 94 c) Keine Auslieferung | 95 aa) Zulässigkeit der Auslieferung | 96 bb) Gründe für die Nichtauslieferung | 106

(1)

IV.

ein Auslieferungsersuchen | 109 (2) Ablehnung eines Auslieferungsersuchens | 116 (3) Undurchführbarkeit der Auslieferung | 117 Prozessuales | 118

I. Bedeutung § 7 erstreckt den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts auf Auslandstaten und ergänzt damit § 3. Anders als bei §§ 5 und 6 wird die Geltung nicht für bestimmte katalogartig aufgezählte Tatbestände bestimmt (siehe § 5 Rdn. 9; § 6 Rdn. 6). Vielmehr ordnet § 7 generell die Geltung des deutschen Strafrechts für die in der Norm benannten täteroder opferbezogenen Situationen an. Voraussetzung ist dabei stets, dass die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist oder dass der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt. Erfasst werden Taten von Deutschen (§ 7 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1) und Ausländern (§ 7 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2). Auch soweit § 7 voraussetzt, dass die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist, ist grund2 sätzlich deutsches Strafrecht anzuwenden (BGH NJW 1997 334; Vor § 3 Rdn. 349). Danach kann bei Auslandstaten zum Beispiel die Sicherungsverwahrung angeordnet werden, wenn deren gesetzliche Voraussetzungen vorliegen (BGHR § 7 Sicherungsverwahrung 1); dies gilt selbst dann, wenn das ausländische Recht eine vergleichbare Maßregel nicht kennt. Bei Delikten, bei denen Art, Umfang und Maß der Strafwürdigkeit in der menschlichen Gesellschaft umstritten und in den staatlichen Rechtsordnungen unterschiedlich bestimmt sind, kann sich aus dieser Regelung ein erhebliches „Strafgefälle“ zwischen Ausland und Inland ergeben, das sich – etwa bei Straftaten nach dem Embryonenschutzgesetz (ESchG) vom 13.2.1990 (BGBl. I S. 2746)1 – empfindlich zum Nachteil des Beschuldigten auswirken kann. Ein solches „Strafgefälle“ kann bei der Strafzumessung zu berücksichtigen sein (siehe Rdn. 76, 89, 92). 1

II. Völkerrechtliche Rechtfertigung Aus völkerrechtlicher Sicht ist die Vorschrift insgesamt nicht zu beanstanden. Dies ergibt sich für den – freilich praktisch wenig bedeutsamen – Fall, in dem der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt, schon daraus, dass völkerrechtlich zu beachtende Souveränitätsrechte anderer Staaten nicht betroffen sind (näher Vor § 3 Rdn. 21). Völkerrechtlich gerechtfertigt ist die Ausübung von Strafgewalt nach § 7 aber auch 4 bei Taten, die auf fremdem Hoheitsgebiet begangen werden, bei denen die Geltung des deutschen Strafrechts also davon abhängt, dass die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist (näher Rdn. 17 ff). Nach ganz überwiegender Ansicht lässt sich die Vorschrift insoweit nicht einheitlich einem einzelnen Geltungsprinzip zuordnen;2 welche Geltungsprinzipien der Vorschrift zugrunde liegen, wird unterschiedlich beurteilt. 3

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1 Hierzu Deutsch NJW 1991 721, 724 f. 2 AA Hoyer SK Rdn. 3, der in § 7 insgesamt das Stellvertretungsprinzip verwirklicht sieht; ähnlich Jakobs 5. Abschn. Rdn. 18.

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Einigkeit besteht zunächst darüber, dass § 7 Abs. 2 Nr. 2 eine Ausprägung des Prinzips stellvertretender Strafrechtspflege (Vor § 3 Rdn. 267 ff) darstellt.3 Umstritten ist dagegen, ob sich die Geltung des deutschen Strafrechts in den Fällen des § 7 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 auf das aktive (Abs. 2 Nr. 1) und passive (Abs. 1) Personalitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 247 ff, 251 ff) stützen kann oder ob auch in diesen Fällen ausschließlich oder jedenfalls zusätzlich das Prinzip stellvertretender Strafrechtspflege zum Tragen kommt. Der Streit wurzelt in einem unterschiedlichen Verständnis der Funktion des lex lociErfordernisses (hierzu Rdn. 17 ff). Während einige in der Beachtlichkeit des Tatortrechts lediglich eine Einschränkung des aktiven und des passiven Personalitätsprinzips erkennen,4 begreifen andere das Erfordernis der Tatortstrafbarkeit als Indiz dafür, dass deutsche Strafgewalt nur stellvertretend für den Tatortstaat ausgeübt werden solle.5 Richtigerweise ist mit der wohl überwiegenden Ansicht wie folgt zu unterscheiden: § 7 Abs. 1 verwirklicht allein das (eingeschränkte) passive Personalitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 247 ff).6 Ebenfalls ausschließlich einem einzigen Geltungsprinzip, dem aktiven Personalitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 251 ff) nämlich, lässt sich § 7 Abs. 2 Nr. 1 in der ersten Alternative zuordnen.7 Hier ist der Umstand, dass der Täter Deutscher ist, das für die Erstreckung des Geltungsbereichs auf Auslandstaten bestimmende Merkmal. Dagegen kann sich die Ausübung von Strafgewalt in der zweiten Alternative von Abs. 2 Nr. 1 neben dem aktiven Personalitätsprinzip jedenfalls auch auf den Gedanken stellvertretender Strafrechtspflege stützen.8 Denn hier fehlt es – jedenfalls zur Zeit der Tat – an der personalen Verbindung zu Deutschland. Es versteht sich, dass in den genannten Fällen der Gedanke stellvertretender Strafrechtspflege jeweils nur – in dem allerdings aus praktischer Sicht zentralen Fall des § 7 – zum Tragen kommt, wenn die Tat auf dem Hoheitsgebiet eines ausländischen Staates begangen wird (§ 7 Abs. 1, Abs. 2 jeweils 1. Alternative – „am Tatort mit Strafe bedroht“). Bei Taten, die auf hoheitsfreiem Gebiet (§ 5 Rdn. 44 ff), etwa auf hoher See, begangen werden, bei denen der Tatort also keiner Strafgewalt unterliegt (§ 7 Abs. 1 und 2 jeweils 2. Alternative), lässt sich von einer stellvertretend für den Tatortstaat ausgeübten Strafgewalt nicht sprechen. Die Ausübung von Strafgewalt ist freilich in diesem Fall, in dem die Souveränitätssphäre eines fremden Staates nicht berührt wird, ohnehin völkerrechtlich unbedenklich (Vor § 3 Rdn. 21). Begründen lässt sie sich mit der Überlegung, dass Deutschland dann im Interesse aller Staaten handelt. Die Frage, welchem der völkerrechtlichen Geltungsprinzipien die einzelnen Regelungen des § 7 Abs. 1 und 2 zuzuordnen sind, ist zwar für die völkerrechtliche Rechtferti-

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3 BGH NStZ 2019 460, 462; StV 2001 504, 505; BayObLG NJW 1998 392, 395; Ambos MK Rdn. 1; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 5 Rdn. 57; Böse NK Rdn. 11; Satzger § 5 Rdn. 80; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 1; krit. Pappas S. 66 f. 4 So etwa Satzger § 5 Rdn. 80. 5 So etwa Hoyer SK Rdn. 3. 6 KG NJW 2006 3016, 3017; OLG Stuttgart NStZ 2004 402, 403; OLG Düsseldorf MDR 1992 1162; Ambos MK Rdn. 1; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 5 Rdn. 54; Henrich S. 38; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 1; Böse NK Rdn. 2; Satzger § 5 Rdn. 80; Scholten S. 101, 108; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 1; Fischer vor Rdn. 1a; aA (Kumulation mit dem Stellvertretungsprinzip:) Hoyer SK Rdn. 3; Jescheck/Weigend § 18 II 5. 7 Ambos MK Rdn. 1; Satzger § 5 Rdn. 80; A. Schmitz S. 209 f; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 1; Fischer Rdn. 1; Oehler Rdn. 814; aA (Kumulation mit dem Stellvertretungsprinzip:) BGHSt 42 275, 279; Hoyer SK Rdn. 3; Jescheck/Weigend § 18 II 5; Scholten S. 115; wohl auch Lackner/Kühl/Heger Rdn. 1; siehe auch Böse NK Rdn. 12. 8 BGH NStZ-RR 2000 208, 209; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 1; A. Schmitz S. 212 f; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 1; aA (nur stellvertretende Strafrechtspflege:) Böse NK Rdn. 12; aA (nur aktives Personalitätsprinzip:) Ambos MK Rdn. 1; Maurach/Zipf8 § 11 Rdn. 36 ff; Niemöller NStZ 1993 172.

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gung der Vorschrift von nur untergeordneter Bedeutung, hat aber Auswirkungen auf die Auslegung von § 7.9 Dies betrifft insbesondere die Frage, in welchem Umfang die durch Verfahrenshindernisse des Tatortrechts bewirkte Nichtverfolgbarkeit und die faktische Nichtverfolgung im Tatortstaat zu beachten sind (näher Rdn. 44 ff, 50). Bedeutsam kann die Zuordnung zu einem Geltungsprinzip ferner bei der Beurteilung der Frage werden, ob – entsprechend der früheren Rechtslage (vgl. § 4 Abs. 2 RStGB 1871; Vor § 3 Entstehungsgeschichte) – ein milderes ausländisches Gesetz anzuwenden ist (näher Rdn. 25).10 In beiden Fällen bewirkt die Zuordnung zum Stellvertretungsprinzip und die damit verbundene Feststellung, dass die Ausübung von Strafgewalt nur hilfsweise „in Vertretung“ für einen anderen Staat erfolgt, eine weiterreichende Beachtlichkeit der Rechtslage am Tatort als dies etwa bei einer Zuordnung zum aktiven oder passiven Personalitätsprinzip der Fall wäre. III. Voraussetzungen 11

1. Übergreifende Voraussetzungen. Voraussetzung der Geltung des deutschen Strafrechts nach § 7 ist, dass entweder die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist oder dass der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung, ob der Tatort fremder Gebietshoheit 12 unterliegt und ob die Tat mit Strafe bedroht ist, ist die Zeit der Tat (§ 8).11 a) Begriff des Tatorts. „Tatort“ im Sinne der Vorschrift ist der geografische Ort, an dem die Tat begangen wird. Maßgeblich für die Frage, ob die Tat mit Strafe bedroht ist oder keiner Strafgewalt unterliegt, ist das an diesem Ort geltende Recht. Ob die Tat nach anderen Geltungsprinzipien fremder Strafgewalt unterworfen ist, ist unerheblich; entscheidend ist das Recht des Tatortstaates, der nach dem Territorialitätsprinzip Strafgewalt beanspruchen kann. 14 Werden Taten auf einem Schiff oder in einem Luftfahrzeug begangen, so ist nach den dargestellten Grundsätzen „Tatort“ im Sinne des § 7 nicht etwa das Schiff oder das Luftfahrzeug, sondern deren geografischer Standort zum Zeitpunkt der Tatbegehung (siehe auch § 3 Rdn. 72; § 4 Rdn. 3). Bedeutsam ist dies vor allem dann, wenn das Schiff oder Luftfahrtzeug sich zur Tatzeit auf oder über der hohen See befindet; bei solchen Taten unterliegt der Tatort keiner Strafgewalt (§ 5 Rdn. 47). Der Umstand, dass Schiffe und Luftfahrzeuge in der Regel der Strafgewalt ihres Flaggen- oder Registerstaates (Vor § 3 Rdn. 243) unterworfen sind, ist für die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts nach § 7 Abs. 1 und 2 (jeweils zweite Alternative) unerheblich.12 Entsprechendes gilt dann, wenn das Schiff oder Luftfahrzeug sich zur Tatzeit im Hoheitsraum eines ausländischen Staates, etwa in dessen Küstengewässern oder auf einem Flughafen befindet. Für § 7 allein maßgeblich ist hier die vom Träger der Gebietshoheit verbindlich gesetzte Rechtsordnung. In den genannten Fällen handelt es sich um ein Problem der Konkurrenz verschiedener Rechtsordnungen (Vor § 3 Rdn. 45 ff); die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts (über § 7) schließt die Geltung ausländischen Rechts (etwa desjenigen des Flaggenstaats) nicht aus (vgl. auch Vor § 3 Rdn. 45). 13

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9 Vgl. auch OLG Düsseldorf wistra 1992 352, 353; Ambos MK Rdn. 2; Eser JZ 1993 875, 880 ff; Jescheck/Weigend § 18 III 5 a.E.; Satzger § 5 Rdn. 80. 10 So Hoyer SK Rdn. 6; (de lege ferenda) Jakobs 5. Abschn. Rdn. 19. 11 RGSt 55 267; Ambos MK Rdn. 4; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 8. 12 Hoyer SK Rdn. 7.

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Nicht zutreffend ist danach die Auffassung des BGH (NStZ 1991 525 f), wonach bei 15 Straftaten, die an Bord eines auf einem Flughafen befindlichen Flugzeugs begangen werden, „Tatort“ im Sinne des § 7 „jedenfalls auch“ das Flugzeug sein soll. Ob der Landestaat als „weiterer Tatort“ Berücksichtigung finden könnte, lässt die Entscheidung offen. Richtigerweise wäre hier im Rahmen des § 7 allein zu prüfen gewesen, ob die Tat nach dem Recht des Landestaates mit Strafe bedroht ist. Wird die Tat auf einem ausländischen Schiff oder Luftfahrzeug auf oder über der 16 hohen See begangen, so ist der Fall denkbar, dass die an Bord geltende ausländische Rechtsordnung die Tat straffrei lässt, während sie nach deutschem Recht strafbar wäre. In solchem Falle ist es erwägenswert, sich bei der Lösung am Erfordernis der ausländischen Tatortstrafbarkeit (§ 7 Abs. 1 und 2, jeweils erste Alternative) zu orientieren und als (ausländischen) Tatort nicht nur den geografischen Standort des Schiffs oder Flugzeugs anzusehen, sondern auch das Fahrzeug selbst, dies notfalls im Wege einer zulässigen Analogie zu Gunsten des Täters. Doch ist zu bedenken, dass Schiffe und Luftfahrzeuge eben nicht gleichsam Teile des Territoriums ihres Flaggen- oder Registerstaates sind (§ 3 Rdn. 70 ff; § 4 Rdn. 12) und es auch keinen allgemeinen Rechtssatz des Inhalts gibt, dass bei einer Konkurrenz der inländischen mit einer ausländischen Strafrechtsordnung jeweils das mildere Recht maßgebend wäre (Vor § 3 Rdn. 45 ff). An diesen Grundsätzen sollte festgehalten werden, dies hier mit der Folge, dass in dem erörterten Fall deutsches Strafrecht nach § 7 Abs. 1 und 2, jeweils zweite Alternative, gilt. b) Tatort unter fremder Gebietshoheit. Unterliegt der Tatort einer fremden Ge- 17 bietshoheit, liegt der Begehungsort also insbesondere im Hoheitsgebiet eines ausländischen Staates, setzt die Geltung des deutschen Strafrechts voraus, dass die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist (lex loci). aa) Sinn und Zweck der Beachtlichkeit des Tatortrechts. Die Begrenzung des 18 Geltungsbereichs des deutschen Strafrechts durch die Beachtlichkeit des Tatortrechts lässt sich mit zwei Erwägungen erklären:13 Zum einen soll sichergestellt werden, dass die Gebietshoheit des betroffenen aus- 19 ländischen Souveräns nicht mehr als notwendig beeinträchtigt wird. Das Gesetz soll verhindern, dass der Geltungsanspruch des Inlandsrechts überspannt und in Bereiche ausgedehnt wird, in denen der Tatortstaat einen strafrechtlichen Schutz nicht für geboten erachtet (E 1962 Begr. S. 112 f).14 Insoweit erfüllt das Erfordernis einer lex loci eine souveränitätsschützende Funktion.15 Diese steht insbesondere dort im Vordergrund, wo § 7 das Stellvertretungsprinzip verwirklicht (Rdn. 8). Zum anderen berücksichtigt das Erfordernis einer lex loci, dass der im Ausland han- 20 delnde – zumal der ausländische (§ 7 Abs. 2 Nr. 2) – Täter die Strafnormen des deutschen Rechts häufig nicht kennt. Zu beachten ist dabei allerdings, dass § 7 nicht etwa eine „identische Norm“ im Heimatrecht des (im Drittstaat handelnden) Ausländers genügen lässt oder erfordert (lex patriae). § 7 beruht vielmehr auf der zutreffenden Annahme, dass jedem die Normen des Aufenthaltsstaates bekannt sein müssen. Dieser Gesichtspunkt des Individualschutzes setzt sich in den Fällen durch, in denen die Geltung des deutschen Strafrechts – wie bei § 7 Abs. 1 – aus originären Schutzinteressen etwa unter dem Gesichtspunkt des passiven Personalitätsprinzips angeordnet wird, und bei

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13 Eingehend Jeßberger Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts S. 150 ff, 164 (zur Begründung aus dem Schuldgrundsatz) sowie Henrich S. 91 ff; vgl. auch Scholten S. 124. 14 Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 2. 15 Vgl. auch R. Schmitz FS Grünwald, S. 619, 631 („Begründungsfunktion“).

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denen von Völkerrechts wegen auch die Erstreckung des Geltungsbereichs unabhängig vom Tatortrecht denkbar und möglich wäre (Vor § 3 Rdn. 247 f).16 21

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bb) Beachtlichkeit des Tatortrechts und Fremdrechtsanwendung. Die Feststellung, ob die Tat am ausländischen Tatort mit Strafe bedroht ist oder nicht, erfordert eine Fremdrechtsanwendung (vgl. auch Vor § 3 Rdn. 349 ff). Hier sind die Normen einer ausländischen Rechtsordnung unmittelbar für die Beurteilung der Geltung des deutschen Strafrechts maßgeblich. Zur Klärung dieser mitunter schwierigen Vorfrage hat das Gericht gegebenenfalls sachverständigen Rat einzuholen. Im Rahmen der Prüfung, ob die Tat am ausländischen Tatort nach dem Strafrecht des Tatortstaates mit Strafe bedroht ist, können Vorfragen aus dem (ausländischen) Zivilrecht oder dem (ausländischen) öffentlichen Recht eine Rolle spielen (vgl. auch Vor § 3 Rdn. 351).17 Da solche Vorfragen nicht selten zugleich im Rahmen der Anwendung einzelner Straftatbestände des deutschen Strafrechts erheblich sind, kann man insoweit von einer Doppelrelevanz der außerstrafrechtlichen Rechtsordnung des ausländischen Tatorts sprechen. Die Feststellung, dass die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist, ist Voraussetzung der Geltung des deutschen Strafrechts. Der deutsche Richter wendet die ausländische Norm aber nicht in dem Sinne an, dass sie zur Grundlage der strafrechtlichen Würdigung des zu beurteilenden Sachverhalts würde. Dies gilt insbesondere für das Strafmaß. Art und Höhe der vom Tatortrecht angedrohten Strafe binden den deutschen Richter grundsätzlich nicht, weil dieser das deutsche Recht anzuwenden hat.18 Eine allgemeine Anwendung des milderen ausländischen Gesetzes (lex mitior) kennt das geltende Recht nicht (siehe auch Vor § 3 Rdn. 359 ff). Insoweit weicht § 7 von der Regelung des § 4 Abs. 3 i.d.F. bis zur GeltungsbereichsVO vom 6.5.1940 ab (Vor § 3 Entstehungsgeschichte). Der Vorschlag des § 7 Abs. 3 AE, der grundsätzlich die Berücksichtigung des milderen ausländischen Gesetzes (lex mitior) vorsah, wurde im Sonderausschuss mit Hinweis auf praktische Schwierigkeiten verworfen (BTDrucks. V/4095 S. 7).19 Doch kann die ausländische Strafdrohung für die Bewertung des Unrechts der Auslandstat und der Schuld des Täters von Bedeutung sein (§ 46). Ausnahmen von dieser Regel (Rdn. 23) bestehen nach überwiegender Auffassung für § 7 Abs. 2 Nr. 1 zweite Alternative (Neubürgerregelung, Rdn. 82 ff) sowie nach einer im Vordringen begriffenen, zutreffenden Ansicht auch für § 7 Abs. 2 Nr. 2 (näher Rdn. 92). Angesichts des der Vorschrift insoweit zugrunde liegenden Stellvertretungsprinzips (Rdn. 8) hat der deutsche Richter in beiden Fällen die Strafe einem etwa vorhandenen milderen Gesetz des Tatortrechts zu entnehmen.20 Der BGH hat ferner entschieden, dass auch in den Fällen des § 7 Abs. 2 Nr. 1 erste Alternative mildere Rechtsfolgen des Tatortrechts zu Gunsten des Beschuldigten zu berücksichtigen seien (BGHSt 42 275, 279; Rdn. 76). Die bei den Beratungen im Sonderausschuss noch betonten praktischen Schwierigkeiten der Berücksichtigung der gegenüber dem deutschen Recht milderen Rechtsfolgen eines ausländischen Strafgesetzes dürften heute angesichts vereinfachter Infor-

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16 Vgl. auch R. Schmitz FS Grünwald, S. 619, 633 Fußn. 55 im Anschluss an Scholten S. 124 („Begrenzungsfunktion“). 17 Fischer Rdn. 7a. 18 Oehler Rdn. 151c. 19 Henrich S. 81 Fußn. 12 m.w.N. 20 Weitergehend Hoyer SK Rdn. 6, der auf Grundlage der Zuordnung des § 7 insgesamt zum Stellvertretungsprinzip die limitierende Wirkung der ausländischen Strafrahmenobergrenze auf alle Fälle des § 7 erstrecken will.

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mationsmöglichkeiten und der Einbeziehung ausländischen Rechts in die juristische Ausbildung wesentlich gemindert sein.21 Zudem wird die Ermittlung des Strafrahmens einer ausländischen Strafnorm i.d.R. keine größeren Schwierigkeiten bereiten als die Prüfung, ob die Tat einem Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund des Tatortrechts unterfällt (hierzu Rdn. 37). cc) Kriminalstrafe. Nach allgemeiner Ansicht setzt § 7 voraus, dass die Tat am Tat- 27 ort mit einer Kriminalstrafe bedroht ist (BGHSt 27 5, 8).22 Dem modernen Gesetzgeber ist die Unterscheidung zwischen Straftat und Verwaltungsunrecht sowie demgemäß zwischen Kriminalstrafe und außerstrafrechtlicher Sanktion von Verwaltungsunrecht geläufig. Auch im Ausland kommt diese Unterscheidung vor. Welche Ahndung das ausländische Recht vorsieht, muss der Richter notfalls durch ein Rechtsgutachten klären lassen. Bis zur Entscheidung im Jahre 1976 (BGHSt 27 5) hat demgegenüber die Rechtspre- 28 chung eine Handlung als „mit Strafe bedroht“ angesehen, wenn der Tatortstaat ihretwegen, und zwar so, wie sie in der Hauptverhandlung festgestellt wurde, unter irgendeinem rechtlichen Gesichtspunkt irgendeine Sühnemaßnahme vorsah (BGHSt 8 349, 356 f; 2 160, 161).23 Die Androhung einer Geldbuße, wie sie das deutsche Ordnungswidrigkeitenrecht kennt, oder die öffentlichrechtliche Ahndung nach vergleichbaren Vorschriften genügte danach dem Erfordernis der identischen Norm (BGHSt 21 277, 279; 8 349, 356 f; 2 160, 161 f). Diese Auffassung hat der BGH in seinem Beschluss vom 30.9.1976 (BGHSt 27 5) mit der Begründung aufgegeben, das frühere Recht habe die Unterscheidung zwischen strafwürdigem Unrecht und bloßen Ordnungswidrigkeiten, die nur mit Ordnungsmaßnahmen zu ahnden seien, nicht gekannt. Inzwischen träfen auch ausländische Strafrechtsordnungen vergleichbare Unterscheidungen. Dies sei bei der Anwendung des § 7 zu berücksichtigen (BGHSt 27 5, 8) und stehe dessen ausdehnender Auslegung entgegen (ebenso BayObLG JR 1982 4 mit zust. Anm. Oehler). dd) Vergleichsmaßstab. Bei der Prüfung des Tatortrechts maßgebend ist eine 29 konkrete Betrachtungsweise. Entscheidend ist nicht, ob die beiden zu vergleichenden Rechtsordnungen korrespondierende oder gleichbenannte Strafnormen haben. Es kommt vielmehr darauf an, ob die konkrete Tat (§ 264 StPO) einer Norm des Tatortrechts unterfällt (vgl. RGSt 70 324, 325 f; 40 402, 403 f).24 Die Feststellung, auch das Tatortrecht kenne den Straftatbestand des Diebstahls, genügt also nicht; vielmehr muss sich die Handlung des Beschuldigten unter diesen Straftatbestand subsumieren lassen. Der ausländische Tatbestand braucht sich dabei mit dem zur Anwendung kommenden 30 deutschen Straftatbestand nicht zu decken; er muss nicht einmal denselben Rechtsgedanken verfolgen (BGHSt 2 160, 161; BGH NJW 1954 1086).25 Es genügt grundsätzlich, dass die konkrete Tat im Sinne des § 264 StPO am Ort ihrer Begehung unter irgendeinem rechtlichen Gesichtspunkt mit Strafe bedroht ist (BGHSt 42 275, 277; siehe aber Rdn. 36).26 Aus-

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21 Skeptisch aber R. Schmitz FS Grünwald, S. 619, 632 f. 22 Ambos MK Rdn. 5; Henrich S. 83; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 2; Böse NK Rdn. 7; Satzger § 5 Rdn. 89; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 3. 23 Vgl. auch RG HRR 1939 1550. 24 Böse NK Rdn. 14; Satzger § 5 Rdn. 89; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 4. 25 RGSt 54 249; 5 424, 425; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 4. 26 BGH NJW 1997 334; OLG Celle NJW 2001 2734 m. krit. Anm. Hoyer JR 2002 34; Ambos MK Rdn. 6; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 2; Satzger § 5 Rdn. 89.

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reichend für die Geltung des deutschen Strafrecht ist es daher beispielsweise, wenn die Tat nach deutschem Recht eine Unterschlagung, nach ausländischem aber eine Untreue darstellt.27 Das gleiche gilt für eine Tat, die nach deutschem Recht als Überlassen von Betäubungsmitteln an Minderjährige strafbar ist, vom Tatortrecht dagegen als unbefugter (Eigen-) Konsum von Betäubungsmitteln erfasst wird (BGH NJW 1997 334). Am Tatort „mit Strafe bedroht“ ist die Tat dabei allerdings nur, wenn der Straftatbestand des ausländischen Tatortrechts von seinem Schutzbereich her eingreift (siehe auch Vor § 3 Rdn. 290 ff). Dies ist etwa zu verneinen, wenn die ausländische Strafnorm nur ein ausländisches Rechtsgut (z.B. die „öffentliche Sicherheit in Frankreich“), die deutsche dagegen nur ein entsprechendes inländisches Rechtsgut schützt.28 Findet sich ein „passender“ Straftatbestand im Tatortrecht, führt dies grundsätzlich zur umfassenden Geltung des deutschen Strafrechts; erfasst sind insbesondere auch tateinheitlich verwirklichte Taten. Niemöller (NStZ 1993 171, 172) bringt dies treffend mit dem Satz zum Ausdruck: „Ein einziger, auf das Täterverhalten zutreffender Straftatbestand des Tatortrechts eröffnet – einem Schlüssel vergleichbar – die Tür zur umfassenden Geltung aller Vorschriften des deutschen Strafrechts.“ Auf Konkurrenzfragen des ausländischen Strafrechts kommt es nicht an (RGSt 42 330, 333 f).29 Eine Tatortstrafbarkeit im Sinne des § 7 Abs. 1 und 2 jeweils erste Alternative wurde u.a. in den folgenden Fällen angenommen: BGHSt 45 64, 72 (Völkermord und Mord in Bosnien-Herzegowina); BGH NStZ-RR 2000 208 (sexueller Missbrauch in Kasachstan); BGH NJW 1997 334 (Drogenbesitz in der Schweiz); BGH NStZ 1991 525 (Tötungsdelikt an Bord eines US-amerikanischen Flugzeugs); BayObLG VRS 59 293 (fahrlässige Tötung in Österreich); OLG Düsseldorf NStZ 1985 268 (Drogenhandel in den Niederlanden); OLG Karlsruhe NStZ 1985 317 m. Anm. Liebelt NStZ 1989 182 (Konkursdelikt in der Schweiz); OLG Celle JR 2002 33 m. Anm. Hoyer (Landfriedensbruch in Frankreich). Keine Tatortstrafbarkeit konnte der BGH dagegen im Fall des Geschlechtsverkehrs eines Türken mit seiner 20-jährigen Tochter in der Türkei ermitteln (BGH NStZ-RR 1997 257). Gegen die dargestellte h.M. (Rdn. 30) wird das Merkmal „am Tatort mit Strafe bedroht“ im Schrifttum teilweise eingeschränkt. Oehler (Rdn. 151a) verlangt, es müsse „stets die Tatsubstanz strafrechtlicher Tatortahndung“ vorliegen, womit anscheinend die Vergleichbarkeit des geschützten Rechtsguts gemeint ist. Arzt (FG Schweizerischer Juristentag, S. 417, 424) will Normidentität nur annehmen, wenn die Verbotsnormen vergleichbare Rechtsgedanken verfolgen, also insbesondere vergleichbare Rechtsgüter vor vergleichbaren Angriffen schützen. 30 Nach Hoyer (SK Rdn. 4) und Böse (NK Rdn. 14) muss der ausländische Straftatbestand eine „parallele Schutzrichtung“ aufweisen. Scholten (S. 136) meint, das Geschehen, welches Substrat des strafrechtlichen Vorwurfs sei, müsse inhaltlich dem entsprechen, das die Strafdrohung am Tatort begründe; eine Einschränkung nimmt auch Satzger (§ 5 Rdn. 83) an in Fällen, in denen die Tat nach ausländischem Strafrecht „ein völlig anderes rechtliches Gepräge“ als nach deutschem Strafrecht aufweise. Soweit § 7 den Gedanken stellvertretender Strafrechtspflege verwirklicht, verdient die im Schrifttum befürwortete Begrenzung des Kreises der berücksichtigungsfähigen Tatortnormen Zustimmung. Denn hier dient die stellvertretende Ausübung deutscher

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Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 4. Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 4. Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 4. So auch R. Schmitz FS Grünwald, S. 619, 628.

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Strafgewalt der Durchsetzung eines fremden Strafanspruchs (Vor § 3 Rdn. 267). Deshalb ist zu verlangen, dass die „identische Tatortnorm“ derjenigen des deutschen Strafrechts hinsichtlich des geschützten Rechtsgutes sowie hinsichtlich der Bewertung der Tat vergleichbar ist. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Strafzwecke, die der Tatortstaat mit seinem Strafanspruch verfolgt, sich nicht dadurch erreichen lassen, dass in Deutschland wegen eines andersartigen Vorwurfs eine in Art und Höhe nicht vergleichbare Strafe verhängt wird (Hoyer JR 2002 34). Praktisch bedeutsam dürfte die Frage freilich nur in seltenen, extrem gelagerten Fällen werden, etwa wenn das deutsche Recht die Tat als versuchten Totschlag bewertet, während nach dem Recht des Tatorts kein Versuch vorliegt, sondern nur ein unerlaubter Waffengebrauch.31 ee) Materielle Straffreistellungsgründe des Tatortrechts. Straffreistellungsgründe des ausländischen Tatortrechts, also – in den Kategorien der deutschen Strafrechtsdogmatik – Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe sowie sonstige materiellrechtliche Gründe, die die Strafbarkeit ausschließen, sind im Rahmen des § 7 in der Regel zu berücksichtigen.32 Dies ergibt sich zwar nicht zwingend aus dem Wortlaut des § 7,33 lässt sich aber daraus ableiten, dass es für die Strafbarkeit nach Tatortrecht auf die Beurteilung der konkreten Tat ankommt (Rdn. 29), nicht nur auf einen abstrakten Vergleich der inländischen und ausländischen Straftatbestände. Gestützt wird dieses Ergebnis durch die Entstehungsgeschichte der Norm (näher Scholten S. 147 f) und die teleologische Erwägung, dass die Begrenzungsfunktion des Tatortrechts (Rdn. 19) eine Berücksichtigung materieller Straffreistellungsgründe erfordert (Ambos MK Rdn. 10). Doch gibt es Ausnahmen von dieser Regel (eingehend dazu Scholten S. 166 ff). Anerkannt ist, dass solche Straffreistellungsgründe des Tatortrechts unbeachtlich sind, die in Widerspruch zum internationalen ordre public, also zu „universell anerkannten Rechtsgrundsätzen“ stehen (BGHSt 42 275, 279).34 Das ist insbesondere der Fall, wenn sie allgemein anerkannte Menschenrechte in schwerwiegender Weise missachten.35 Dem entspricht es, wenn in der Begründung zu § 6 E 1962 S. 113 „willkürliche Rechtfertigungsoder Entschuldigungsgründe“ für unbeachtlich angesehen wurden, „die den von den zivilisierten Völkern anerkannten Rechtsgrundsätzen widersprechen“. Die Anerkennung des sog. internationalen ordre public-Vorbehalts (Rdn. 38) und die daraus folgende Ausdehnung des Geltungsbereichs verstoßen nicht gegen Art. 103 Abs. 2 GG (hierzu auch Vor § 3 Rdn. 287 ff). Das BVerfG (BVerfGE 95 96, 130 ff) begründet die Annahme, die Vorschrift stehe der Anerkennung des bezeichneten Vorbehalts nicht entgegen, mit dem Wegfall der Vertrauensgrundlage, der mit dem schwerwiegenden Verstoß gegen die Menschenrechte verbunden sei.36 Anders als der internationale hat der deutsche ordre public bei der Beurteilung der Strafbarkeit nach dem ausländischen Tatortrecht außer Betracht zu bleiben (BGHSt 39 1,

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31 Oehler Rdn. 151a. 32 Ambos MK Rdn. 10; Hoyer SK Rdn. 4; Jescheck/Weigend § 18 III 5; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 2; Satzger § 5 Rdn. 92; wohl auch Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 5; vgl. BGHSt 42 275, 277; für generell unbeachtlich hält materielle Straffreistellungsgründe des Tatortrechts, soweit ersichtlich, nur Woesner ZRP 1976 248, 250. 33 So aber Ambos MK Rdn. 10. 34 OLG Düsseldorf NJW 1983 1277, 1278; NJW 1979 59, 63; Ambos MK Rdn. 15; Hoyer SK Rdn. 4; Jescheck/ Weigend § 18 III 5; Satzger § 5 Rdn. 95; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 5; Fischer Rdn. 7a; eingehend Scholten S. 172 f; aA Jakobs 5. Abschn. Rdn. 18; Böse NK Rdn. 15. 35 BVerfGE 95 96, 133 betr. die Tötung von DDR-Flüchtlingen an der früheren innerdeutschen Grenze durch Minen und gezielte Schüsse; BGHSt 39 1, 26 ff; OLG Düsseldorf NJW 1983 1277, 1278. 36 Vgl. in diesem Zusammenhang Werle NJW 2001 3001.

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15).37 Der BGH hat dies – im Zusammenhang mit § 2 Abs. 3 – mit dem hohen Rang der Rechtssicherheit begründet. Die Begründung gilt ebenso für § 7, soweit die Strafbarkeit nach deutschem Recht mit von der Prüfung des ausländischen Tatortrechts abhängt. 41

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ff) Verfolgungshindernisse des Tatortrechts. Ob und inwieweit solche Hindernisse, die (wie Verjährung, Fehlen eines Strafantrags oder Amnestie) nach dem Recht des ausländischen Tatorts einer Verfolgung im Wege stehen, im Rahmen des § 7 zu beachten sind, ist umstritten. Nach h.M. sind Verfolgungshindernisse generell unbeachtlich für die Frage, ob die Tat am ausländischen Tatort „mit Strafe bedroht“ ist; entscheidend soll in allen Fällen des § 7 allein die sachlichrechtliche Lage sein.38 Dagegen geht eine im Vordringen begriffene Ansicht im Schrifttum davon aus, dass auch die prozessuale lex loci zu beachten sei.39 Wie im Zusammenhang mit den materiellen Straffreistellungsgründen wird hier eine Grenze nur dort gezogen, wo die Verfahrenshindernisse dem internationalen ordre public widersprechen (Rdn. 38), was etwa deshalb der Fall sein kann, weil der Tatortstaat entgegen einer völkerrechtlichen Verfolgungs- oder Bestrafungspflicht eine General- oder Blankettamnestie gewährt.40 Richtigerweise ist wie folgt zu unterscheiden: Soweit § 7 auf dem aktiven (Abs. 2 Nr. 1 erste Alternative) oder auf dem passiven (Abs. 1) Personalitätsprinzip beruht (vgl. Rdn. 5 ff), kommt es – insoweit mit der h.M. – allein auf die materiellrechtliche Lage an;41 ob die Tat am ausländischen Tatort verfolgbar ist oder nicht, spielt keine Rolle. Ihre Stütze findet diese Auffassung in der Entstehungsgeschichte der Norm. Schon § 4 Abs. 2 Nr. 3 der Ursprungsfassung des RStGB machte die Verfolgung der Auslandstat eines Deutschen sachlichrechtlich davon abhängig, dass die Tat am ausländischen Tatort „mit Strafe bedroht“ war. Nach § 5 RStGB war die Verfolgung jedoch unter anderem ausgeschlossen, wenn sie im Ausland bereits rechtskräftig abgeschlossen und eine Strafvollstreckung erledigt war, wenn sie nach den Gesetzen des Auslands verjährt war oder wenn ein nach ihnen erforderlicher Strafantrag des Verletzten fehlte. Aus der bezeichneten Unterscheidung hat die Rechtsprechung schon früh den Schluss gezogen, dass andere als die in § 5 RStGB genannten ausländischen Verfahrenshindernisse bei der Prüfung der Strafbarkeit der Auslandstat außer Betracht zu bleiben hätten (RGSt 40 402, 404). Die ausdrückliche Unterscheidung zwischen materiellem und prozessualem Auslandsrecht entfiel im Zuge der Reform des Strafanwendungsrechts durch die GeltungsbereichsVO von 1940 (Vor § 3 Entstehungsgeschichte). Die §§ 3 und 4 RStGB i.d.F. der GeltungsbereichsVO erwähnten rechtskräftige Aburteilung, Verjährung und Fehlen eines erforderlichen Strafantrags als beachtliche ausländische Verfahrenshindernisse nicht mehr. Auch § 7 tut dies nicht. Auf der Grundlage der früheren Rechtslage und Gerichtspraxis spricht die Nichterwähnung dafür, dass nunmehr ausländische Verfahrenshindernisse für die Auslegung des Begriffs „mit Strafe bedroht“ über den bisherigen Umfang hinaus allgemein unerheblich sein sollen.42

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37 Satzger § 5 Rdn. 94; aA Henrich S. 19 und Küpper/Wilms ZRP 1992 91, 93; vgl. auch Scholten S. 173. 38 BGHSt 2 160, 161; BGH NStZ-RR 2011 245 (Strafantrag); NStZ-RR 2000 361 (Verjährung); NStZ-RR 2000 208, 209 (Verjährung); JR 1994 161 mit abl. Anm. Lagodny/Pappas; GA 1976 242, 243; NJW 1954 1086; KG JR 1988 345, 346 (Amnestie); offengelassen für den Fall einer ausländischen Amnestie in BGH wistra 1992 350, 351, insoweit in BGHSt 38 312 nicht abgedruckt; Oehler Rdn. 798 ff; Fischer Rdn. 7. 39 Satzger § 5 Rdn. 95; vgl. auch R. Schmitz FS Grünwald, S. 619, 631. 40 Hierzu Ambos MK Rdn. 16; Werle Rdn. 190 ff. 41 AA Hoyer SK Rdn. 5 (der allerdings alle Fälle des § 7 dem Stellvertretungsprinzip zuordnet); Satzger § 5 Rdn. 101; Schröder JZ 1968 241, 243. 42 Im Ergebnis wie hier Scholten S. 149 ff, 159, 195 f; aA Ambos MK Rdn. 12; Eser JZ 1993 875, 880.

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Soweit § 7 dagegen auf dem Stellvertretungsprinzip beruht (§ 7 Abs. 2 Nr. 1 zweite 46 Alternative; Abs. 2 Nr. 2; vgl. Rdn. 5 ff), hindert die Nichtverfolgbarkeit der Tat nach Tatortrecht zugleich die Geltung des deutschen Strafrechts und damit die stellvertretende Ausübung deutscher Strafgewalt. 43 Die Durchsetzung des (ausländischen) Strafanspruchs durch die deutsche Strafjustiz liefe sonst dem durch das Verfolgungshindernis dokumentierten Interesse des (vertretenen) Tatortstaates zuwider, gerade nicht zu bestrafen (Hoyer SK Rdn. 5). Dies ergibt sich insoweit aus Sinn und Zweck der Norm, die das Stellvertretungsprinzip verwirklicht. Auch das OLG Düsseldorf (MDR 1992 1161) hat diese Auffassung vertreten; in der 47 gleichen Sache hat der BGH (NJW 1992 2775) offen gelassen, ob es geboten sei, das Merkmal „mit Strafe bedroht“ bei § 7 Abs. 2 Nr. 2 im Wege teleologischer Auslegung abweichend von den Fällen der Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 dahingehend zu verstehen, dass auch Verfolgungshindernisse im Tatortstaat zu berücksichtigen seien.44 gg) Faktische Nichtverfolgung am Tatort. Nach überwiegender Ansicht soll es bei 48 der Prüfung des Tatortrechts schließlich nicht darauf ankommen, ob die Tat am Tatort tatsächlich verfolgt wird oder nicht.45 Die Gegenansicht geht davon aus, dass auch die Strafverfolgungspraxis des Tat- 49 ortstaates bei der Frage, ob die Tat mit Strafe bedroht ist, nicht gänzlich außer Betracht bleiben kann.46 Danach soll deutsches Strafrecht für Auslandstaten nicht gelten, wenn im Tatortstaat faktisch nicht mit einer strafrechtlichen Verfolgung gerechnet werden muss, es sei denn die Nichtverfolgung steht im Widerspruch zum internationalen ordre public (Rdn. 38). Richtigerweise ist die Lösung aus dem Sinn und Zweck der jeweils maßgeblichen 50 Geltungsbereichsnorm zu entwickeln und wie folgt zu unterscheiden (zust. Sch/Schröder/ Eser/Weißer Rdn. 6 f). Soweit § 7 das aktive (Abs. 2 Nr. 1 erste Alternative) oder passive (Abs. 1) Personalitätsprinzip verwirklicht (Rdn. 5 ff), sind zutreffender Ansicht nach bereits rechtlich begründete Verfahrenshindernisse unbeachtlich (Rdn. 44); entsprechend kann auch die tatsächliche Verfolgungspraxis keine Rolle spielen. Der Gedanke stellvertretender Strafrechtspflege (§ 7 Abs. 2 Nr. 2) führt auch hier zu einem anderen Ergebnis. Kommt der faktische Verfolgungsverzicht praktisch einer Rechtsänderung gleich, weil er eine „Grundsatzentscheidung der Verfolgungsorgane“ manifestiert,47 dann ist er ebenso beachtlich wie ein rechtliches Verfahrenshindernis. Auch in einem solchen Fall hat der Tatortstaat seinen mangelnden Verfolgungswillen allgemein dokumentiert. Bloße Verfolgungsdefizite freilich, denen keine eindeutige generelle Entscheidung zur Nichtverfolgung zu entnehmen ist, oder die Nichtverfolgung in Einzelfällen hindern dagegen die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts nicht. c) Gebietshoheitsfreier Tatort. Unterliegt der Tatort (Rdn. 13 f) keiner Strafge- 51 walt, so ist für die Einschränkung der Anwendbarkeit des deutschen Rechts aus dem Gesichtspunkt des Tatortrechts kein Raum. Völkerrechtlich ist dieser Fall unbedenklich,

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43 So auch Ambos MK Rdn. 13; Eser JZ 1993 875, 878; Hoyer SK Vor § 3 Rdn. 40; Jescheck/Weigend § 18 III 5; Schröder JZ 1968 241, 243; vgl. auch Lackner/Kühl/Heger Rdn. 2; Pappas S. 91 ff. 44 Vgl. auch BGH NStZ-RR 2000 208, 209; JR 1994 161 m. abl. Anm. Lagodny/Pappas. 45 OLG Düsseldorf NStZ 1985 268; NJW 1983 1277, 1278; Hoyer SK Rdn. 6; Oehler JR 1977 425; Fischer Rdn. 7. 46 Ambos MK Rdn. 14; Henrich S. 97 ff; Böse NK Rdn. 15; vgl. auch Arzt FG Schweizer Juristentag, S. 417, 427. 47 Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 7.

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da es an einer territorialen Strafgewalt fehlt (Vor § 3 Rdn. 21). Strafgewaltkonkurrenzen (Vor § 3 Rdn. 45) können sich aber auch hier ergeben, etwa mit konkurrierenden Strafansprüchen anderer Staaten, die Strafgewalt auf Grundlage des Flaggenprinzips (Vor § 3 Rdn. 243) oder des aktiven Personalitätsprinzips (Vor § 3 Rdn. 251 ff) ausüben. 52

aa) Niemandsland. Keiner Strafgewalt unterliegt der Tatort, wenn er nicht im Hoheitsgebiet eines Staates liegt. Niemandsland in diesem Sinne sind die hohe See (§ 5 Rdn. 47 ff), der Weltraum (§ 5 Rdn. 67) und der Mond (§ 5 Rdn. 70), die Arktis und die Antarktis einschließlich des darüber liegenden Luftraums. Strafrechtlich ist das Niemandsland Ausland (§ 5 Rdn. 41).

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bb) „Failed states“. Die Gebiete, bei denen es an einer territorialen Hoheitsgewalt und damit auch an Strafgewalt per definitionem fehlt (Rdn. 52), sind von solchen zu unterscheiden, über die eine einheitliche Staatsgewalt nicht (mehr) ausgeübt wird („failed states“).48 Der Grund kann ein interner bewaffneter Konflikt sein, der zur Auflösung der staatlichen Zentralgewalt führt, wie dies in der jüngeren Vergangenheit – phasenweise – etwa in Ruanda, Somalia und Syrien der Fall war. Auch solche Gebiete unterliegen keiner Strafgewalt im Sinne des § 7.49

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2. Auslandstaten gegen einen Deutschen (§ 7 Abs. 1). § 7 Abs. 1 ist Ausdruck des passiven Personalitätsprinzips (Rdn. 8, Vor § 3 Rdn. 247 ff). Die Vorschrift unterscheidet nicht nach der Staatsangehörigkeit des Täters; maßgebend für ihre Anwendung ist, dass der Verletzte Deutscher (Rdn. 55 ff) ist. Handelt es sich um einen solchen Fall, so greift unter näher bestimmten Voraussetzungen § 7 Abs. 1 ein. Er geht Absatz 2 vor, weil dessen Bestimmungen nur „für andere Taten“ (als die des Absatzes 1) gelten, die im Ausland begangen werden.

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a) Begriff des Deutschen. Wer im Sinne der Vorschrift Deutscher ist, ergibt sich aus Art. 116 GG (siehe auch Vor § 3 Rdn. 345). Unter den Begriff des Deutschen fallen zunächst die deutschen Staatsangehö56 rigen. Maßgebend für die Frage, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, ist das Staatsangehörigkeitsgesetz vom 22.7.1913 (StAG, BGBl. 1999 I 1618) zuletzt geändert durch G vom 11.10.2016 (BGBl. I S. 2218); zum Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit vgl. §§ 3 bis 7 StAG. Deutsche sind danach jedenfalls bis zum Erreichen der Volljährigkeit (§ 29 StAG) auch die nach Inkrafttreten des StAG (1.1.2000) in Deutschland geborenen Kinder von Ausländern (§ 4 Abs. 3 StAG, sog. Optionsmodell); Deutscher ist auch, wer neben der deutschen noch eine weitere Staatsangehörigkeit besitzt (siehe aber § 25 StAG).50 Deutsche sind außer den Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit auch Flücht57 linge und Vertriebene deutscher Volkszugehörigkeit und deren Ehegatten und Abkömmlinge, soweit sie im Gebiet des Deutschen Reiches nach dem Gebietsstand vom 31.12.1937 Aufnahme gefunden haben (Art. 116 Abs. 1 GG; BGHSt 20 22, 24). 58 Nicht Deutsche sind die Bürger der im Zuge der nationalsozialistischen Herrschaft zwischen 1938 und 1945 besetzten und annektierten Gebiete. Angesichts der Völkerrechtswidrigkeit der deutschen Besatzungspolitik ist ihre zwangsweise Einbürgerung

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Ambos MK Rdn. 18; Ipsen/Epping § 5 Rdn. 141. Vgl. auch BGH NStZ-RR 2011 199. Fischer Rdn. 5.

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grundsätzlich als ex tunc unwirksam zu betrachten; dies gilt jedenfalls, soweit die Heimatstaaten ihren Staatsangehörigkeitsanspruch aufrecht erhalten (zum Fortbestand der österreichischen Staatsangehörigkeit: ÖVGH ÖJZ 1967 414) und die Betroffenen keinen entgegengesetzten Willen bekundet haben (Ambos MK Rdn. 20; Makarov JZ 1952 403). Mit Blick auf österreichische Staatsangehörige ist dies jedenfalls für die Zeit nach Beendigung des „Anschlusses“ (27.4.1945) vom BVerfG (BVerfGE 4 322) ausdrücklich klargestellt worden. Deutsche, die in den Jahren 1933 bis 1945 zwangsweise ausgebürgert wurden, 59 also aus „politischen, rassischen oder religiösen Gründen“ ihre deutsche Staatsangehörigkeit verloren haben,51 und ihre Abkömmlinge sind auf Antrag wieder einzubürgern (Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG). Das BVerfG hat festgestellt, dass diese Ausbürgerungen offensichtlich rechtswidrig und daher nichtig waren (BVerfGE 54 53, 68; siehe hierzu auch LG München Urt. v. 12.5.2011 – 1 Ks 115 JS 12496/08).52 Sofern die betroffenen Personen nach 1945 ihren Wohnsitz in Deutschland genommen haben, gelten sie als nicht ausgebürgert (Art. 116 Abs. 2 Satz 2 GG). Daraus ergibt sich, dass das deutsche Strafrecht für Taten gegen zwangsweise ausgebürgerte Personen gem. § 7 Abs. 1 Geltung beansprucht, wenn sie vor der Tat ihre Wiedereinbürgerung beantragt oder ihren Wohnsitz in Deutschland genommen haben; entsprechend gilt das deutsche Strafrecht auch gem. § 7 Abs. 2 Nr. 1 für Taten, die solche Personen im Ausland begehen. Schwieriger zu beantworten ist dagegen die Frage, ob auch diejenigen deutschen 60 Juden und ihre Abkömmlinge, die während der NS-Herrschaft aus Deutschland geflohen sind und deshalb ihre Staatsangehörigkeit verloren haben, aber nach 1945 weder nach Deutschland zurückgekehrt noch einen Antrag auf Wiedereinbürgerung gestellt haben, als Deutsche oder zumindest „wie Deutsche“53 im Sinne des § 7 zu behandeln sind. Die Frage hat im Zusammenhang mit Strafanzeigen von Opfern der argentinischen Militärdiktatur und ihren Angehörigen in Deutschland praktische Bedeutung erlangt. Mit Blick auf § 7 Abs. 2 Nr. 1 scheitert eine solche erweiternde Interpretation an Art. 103 Abs. 2 GG. Der staatsangehörigkeitsrechtliche Begriff des Deutschen bedarf aber im Hinblick auf den Schutzzweck des § 7 Abs. 1 insofern einer Korrektur, als die betroffenen Personen zumindest unter dem Gesichtspunkt des passiven Personalitätsprinzips als „Deutsche“ im strafanwendungsrechtlichen Sinne zu behandeln sind. Es wäre nämlich ein unvertretbares und unerträgliches Ergebnis, den Personen, die im Ausland Opfer schwerster Menschenrechtsverletzungen wurden, den Schutz des deutschen Strafrechts deshalb zu versagen, weil sie (bzw. ihre Eltern) bereits einmal Opfer menschenrechtswidriger Politik, nämlich der Politik der deutschen Nationalsozialisten, geworden sind. Bürger der DDR waren vor dem Beitritt grundsätzlich nicht Deutsche im Sinne des 61 § 7 Abs. 1. Sie waren allerdings insoweit als Deutsche zu behandeln, als sie ihre Lebensgrundlage in der BRD (einschließlich Berlin-West) hatten oder sich sonst in deren Schutzbereich aufhielten (BVerfGE 36 30; BGHSt 32 293); eingehend zum früheren Status von DDR-Bürgern Tröndle LK10 Vor § 3 Rdn. 65 ff. Bei „Alttaten“ (Vor § 3 Rdn. 458 ff) aus der Zeit vor dem Beitritt, die gegen Bürger der DDR gerichtet waren, kommt auch eine sinngemäße Anwendung des § 7 Abs. 1 nicht in Betracht. Denn dies würde im Ergebnis auf eine umfassende Geltung des Strafrechts der Bundesrepublik für Straftaten in der früheren DDR hinauslaufen, weil die meisten Straftaten in der DDR gegen Bürger der DDR begangen worden sind. Sie wäre mit der Übergangsregelung des Art. 315 EGStGB nicht vereinbar, die davon ausgeht, dass auf „DDR-Alttaten“ grundsätzlich das zur Tat-

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Vgl. insbesondere 11. VO zum ReichsbürgerG v. 25.11.1941 (RGBl. I S. 722). Siehe dazu Burchard HRRS 2010 132. So Ambos MK Rdn. 22.

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zeit geltende Recht der DDR anzuwenden ist, wenn es das mildere ist (BGHSt 40 125, 129 f). Deutscher im Sinne des § 7 Abs. 1 kann nur eine natürliche Person sein, nicht aber eine juristische Person.54 Für Auslandstaten eines Ausländers, die sich gegen eine juristische Person mit Sitz in Deutschland richten, gilt das deutsche Strafrecht nur, wenn die Voraussetzungen von § 5 Nr. 7 oder § 7 Abs. 2 Nr. 2 vorliegen. Zwar lässt sich die Staatszugehörigkeit von juristischen Personen bestimmen; maßgebend ist nach der in Kontinentaleuropa herrschenden Sitztheorie der Ort des effektiven Verwaltungssitzes.55 Die Gegenansicht, die auch Taten gegen juristische Personen mit Sitz in Deutschland in den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts nach § 7 Abs. 1 einbeziehen will,56 ist aber mit dem Analogieverbot (Art. 103 Abs. 2 GG) nicht zu vereinbaren. Es widerspricht dem Sprachgebrauch, unter „Deutschen“ auch juristische Personen mit Sitz in Deutschland zu verstehen. § 5 Nr. 7 zeigt, dass es der Gesetzgeber im Gesetz klar zum Ausdruck bringt, wenn er (auch) andere als natürliche Personen in den Schutz des eigenen Strafrechts einbeziehen will. Die hier vertretene Ansicht findet eine Stütze auch in der Entstehungsgeschichte des § 7. Daraus ergibt sich nämlich, dass der Gesetzgeber in § 7 Abs. 1 den bis dahin geltenden § 4 Abs. 2 Nr. 2 a.F., der die Strafrechtsgeltung ausdrücklich für Auslandstaten „gegen deutsche Staatsangehörige“ vorsah, dahingehend erweitern wollte, dass über die Staatsangehörigen hinaus auch sonstige „Deutsche“ im Sinne des Art. 116 Abs. 2 GG (Rdn. 56 f) einbezogen werden, nicht aber dahingehend, dass über natürliche nunmehr auch juristische Personen erfasst werden sollten.57 Gleichwohl wird sich das Ergebnis, zu dem die Gegenansicht (Rdn. 62) unter Anwendung des § 7 Abs. 1 gelangt, oft als richtig erweisen. Denn bei einer juristischen Person können Deutsche, etwa weil sie Gesellschafter der juristischen Person sind, unmittelbar betroffen und deshalb durch die Tat verletzt sein (aA AG Bremen NStZ-RR 2005 87). Das Problem, ob bei einer Straftat gegen eine juristische Person auch deren Mitglieder Verletzte sind, ist insbesondere im Zusammenhang mit § 266 bekannt (Gribbohm ZGR 1990 1, 20 f, 24 f). In einem solchen Fall wird das Einverständnis eines GmbH-Gesellschafters mit der Tat seine Eigenschaft als Verletzter im Sinne des § 7 Abs. 1 aufheben, nicht jedoch die der GmbH, auf die es (nach der hier vertretenen Auffassung) bei § 7 Abs. 1 allerdings nicht ankäme. Unterschiedlich beurteilt wird schließlich, ob die Leibesfrucht der schwangeren Frau „Deutscher“ im Sinne des § 7 Abs. 1 sein kann; praktische Bedeutung kann diese Frage in Fällen des strafbaren Schwangerschaftsabbruchs (§ 218) im Ausland erlangen, wenn die Schwangere Ausländerin und der Vater Deutscher ist (siehe hierzu auch § 5 Rdn. 130 ff). Die Frage wird im Schrifttum überwiegend, aber zu Unrecht bejaht.58 So soll bei Vorliegen einer Tatortnorm (Rdn. 17 ff), auch für Auslandstaten, die sich gegen die Leibesfrucht richten, deutsches Strafrecht, insbesondere § 218, gelten. Begründet wird dies

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54 BGH NJW 2018 2742, 2743; KG NJW 2006 3016; OLG Stuttgart NStZ 2004 403; AG Bremen NStZ-RR 2005 87; Ambos MK Rdn. 23; Henrich S. 108 ff; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 3; ebenso Ensenbach wistra 2011 4, 9, der neben dem (passiven) Personalitätsprinzip auch weitere Anknüpfungspunkte zur Anwendung deutschen Strafrechts auf Taten zum Nachteil einer Auslands-GmbH aufzeigt. 55 Isensee HdbStR IX § 199 Rdn. 65; Verdross/Simma § 1204. 56 Böse NK Rdn. 4; Hoyer SK Rdn. 8; Jakobs 5. Abschn. Rdn. 18; Oehler Rdn. 677; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 6. 57 OLG Stuttgart NStZ 2004 403 m.w.N. 58 So von Ambos MK Rdn. 24; Mitsch Jura 1989 193, 195; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 6; Tröndle/ Fischer Rdn. 6.

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damit, dass der Fötus mit Geburt automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit erlangt (§§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 4 Abs. 1 StAG). Für die überzeugende Gegenansicht59 spricht, dass die Leibesfrucht im Tatzeit- 67 punkt, der allein für die rechtliche Beurteilung maßgeblich ist, nicht Deutscher ist, es vielmehr erst nach der Tat, nämlich mit Geburt, wird. Die vom Analogieverbot (Art. 103 Abs. 2 GG) gezogene Grenze wäre überschritten, wenn man den Fötus „wie einen Deutschen“ behandeln würde. Hinzu kommt, dass aus völkerrechtlicher Sicht das passive Personalitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 247 f), welches § 7 Abs. 1 zugrunde liegt, umstritten ist; auch dies spricht dafür, § 7 Abs. 1 restriktiv zu interpretieren. Die herrschende Ansicht (Rdn. 66) kann sich auch nicht auf BGHSt 18 283, 285f stüt- 68 zen.60 Diese zu § 218 ergangene Entscheidung beruht auf § 4 Abs. 2 Nr. 2 i.d.F. der GeltungsbereichsVO vom 6.5.1940 (Vor § 3 Entstehungsgeschichte), wonach auf eine Auslandstat eines Ausländers deutsches Strafrecht auch anwendbar war, wenn sie „gegen das deutsche Volk […] gerichtet“ war. Es kam in jenem Fall also nicht darauf an, ob sich die Auslandstat zugleich „gegen rechtlich geschützte Güter der deutschen Frau“ bzw. gegen die Leibesfrucht richtete (BGHSt 18 283, 286). b) Deutscher als Verletzter. Voraussetzung der Geltung des deutschen Strafrechts nach § 7 Abs. 1 ist, dass die Tat gegen einen Deutschen begangen wird; dies ist der Fall, wenn er durch sie verletzt ist oder – im Falle eines strafbaren Versuchs – verletzt werden sollte. Verletzt ist derjenige, in dessen Rechtssphäre die Tat unmittelbar eingreift (RGSt 68 305), dessen Rechte oder rechtlich geschützte Güter also widerrechtlich beeinträchtigt werden oder werden sollen (BGHSt 18 283, 284).61 Hierbei muss es sich um einen bestimmten oder zumindest einen bestimmbaren einzelnen Deutschen handeln (BGHErmittlungsR Beschl. v. 2.7.12 – 2 BGs 152/12 – Rdn. 8; BGHSt 18 283, 284).62 Erfasst sind damit nur Taten, die sich unmittelbar gegen ein Individualrechtsgut richten, dessen Träger ein Deutscher (Rdn. 55 ff) ist (BGHSt 39 49, 54).63 Taten gegen deutsche Universalrechtsgüter (vgl. auch Vor § 3 Rdn. 293 ff) unterliegen jedenfalls nicht gem. § 7 Abs. 1 der deutschen Strafgewalt. Bisweilen ist fraglich, ob eine Strafvorschrift dem Schutz des Einzelnen dient. Die Einfuhr von Betäubungsmitteln (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG) richtet sich nicht gegen einen Einzelnen, sondern gegen die Allgemeinheit.64 Das Gleiche gilt für eine Wahlfälschung nach § 107a. Die Vorschriften über Straftaten bei Wahlen und Abstimmungen (§§ 107 ff) bezwecken den Schutz der demokratischen Willensbildung und Willensäußerung. Sie schützen einen bestimmten oder bestimmbaren einzelnen Deutschen jedenfalls dann nicht, wenn nicht dessen persönliches Wahlrecht beeinträchtigt, sondern der Ausgang der Wahlen insgesamt verfälscht wird (BGHSt 39 54, 59 f). Oehler65 meint, „gegen“ einen Deutschen, der Träger des geschützten Rechtsguts sei, sei die Tat nur begangen, wenn er zum Schutze des Rechtsguts auch am Tatort anwesend sei. Die Ansicht trifft in dieser Allgemeinheit nicht zu. Der Gesetzeswortlaut gibt für eine so weitreichende Einschränkung des § 7 Abs. 1 nichts her. Die Vorschrift dient

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59 Henrich S. 114 ff; Oehler Rdn. 677. 60 Insoweit zutreffend Henrich S. 115. 61 Schröter Der Begriff des Verletzten im Strafantragsrecht (1998), S. 60 ff; siehe auch BGHSt 31 207, 210. 62 Oehler Rdn. 677. 63 Ambos MK Rdn. 25; Hoyer SK Rdn. 8; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 3; Böse NK Rdn. 5; Satzger § 5 Rdn. 83; Fischer Rdn. 6. 64 Oehler JR 1977 425. 65 Oehler Rdn. 677; dagegen auch Ambos MK Rdn. 25.

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nicht nur dem Schutz persönlicher Rechtsgüter wie Leib, Leben und Gesundheit. Sie setzt nicht mehr voraus, als dass der Tatort der Tat, die sich gegen einen Deutschen richtet, im Ausland liegt. Das ist auch der Fall, wenn der Angriff einem im Ausland gelegenen Vermögen eines Deutschen gilt, und zwar unabhängig davon, ob der Vermögensinhaber zur Tatzeit am ausländischen Tatort, an anderer Stelle im Ausland oder im Inland weilt. Auch Oehler (Rdn. 677) nimmt deutsches Eigentum und deutsches Vermögen im Ausland nicht schlechthin vom Schutz des § 7 Abs. 1 aus. Er verlangt aber einen Angriff „gegen“ einen Deutschen in der Form, dass wenigstens ein „Bevollmächtigter“ des Eigentümers oder Vermögensinhabers an Ort und Stelle anwesend ist. Auch dem ist aus den genannten Gründen nicht zuzustimmen. 73

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3. Auslandstaten von Personen, die zur Zeit der Tat Deutsche sind (§ 7 Abs. 2 Nr. 1 erste Alternative). Nach § 7 Abs. 2 Nr. 1 erste Alternative gilt deutsches Strafrecht für Auslandstaten von Deutschen, die sich gegen Ausländer richten; Taten, die Deutsche gegen Deutsche im Ausland begehen, werden vorrangig von § 7 Abs. 1 erfasst. Die Vorschrift lässt sich mit dem aktiven Personalitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 251 ff) rechtfertigen (Rdn. 8). Die deutschen Gerichte und Strafverfolgungsbehörden nehmen eine originäre und nicht etwa eine Aufgabe der Tatortgerichte wahr. Ein praktisches Bedürfnis für die Erstreckung des deutschen Strafrechts auf Auslandstaten Deutscher ergibt sich aus dem Auslieferungsverbot des Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG.66 Das strikte verfassungsrechtliche Verbot der Auslieferung Deutscher an das Ausland ist mit Einfügung des Satzes 2 in Art. 16 Abs. 2 GG durch G vom 29.11.2000 (BGBl. I S. 1633) gelockert worden (siehe dazu auch Vor § 3 Rdn. 383 f). Das Grundgesetz eröffnet nunmehr die Möglichkeit, eine abweichende Regelung für Auslieferungen an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder an einen internationalen Gerichtshof zu treffen, soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind. Siehe dazu § 2 des G zur Ausführung des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes vom 17.7.1998, vom 21.6.2002 (BGBl. I S. 2144). Das Europäische Haftbefehlsgesetz vom 21.7.2004 (BGBl. 2004 I 1748), mit dem der Gesetzgeber den Rahmenbeschluss des Europäischen Rates über den Europäischen Haftbefehl (ABl. 2002 L 190, S. 1 ff)67 umgesetzt und von der Ermächtigung in Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG Gebrauch gemacht hat, ist vom BVerfG allerdings für nichtig erklärt worden (BVerfG NJW 2005 2289).68 Mit dem Europäischen Haftbefehlsgesetz vom 20.7.2006 (BGBl. I 1721) ist ein Gesetz verabschiedet worden, das den Vorgaben des BVerfG Rechnung trägt. Bei der Anwendung deutschen Strafrechts nach § 7 Abs. 2 Nr. 1 kann das Tatortrecht grundsätzlich zu Gunsten des Täters berücksichtigt werden; dies bedeutet insbesondere, dass der Richter bei der Strafzumessung Rücksicht auf Art und Maß des Tatortrechts zu nehmen hat (BGHSt 42 275, 279; diff. OLG Karlsruhe Urt. v 22.7.09 – 1 Ss 177/ 08 –; siehe auch Rdn. 23 ff). Voraussetzung der Geltung deutschen Strafrechts nach § 7 Abs. 2 Nr. 1 erste Alternative ist, dass der Täter (näher § 5 Rdn. 20 ff) zur Zeit der Tat (§ 8) Deutscher (eingehend Rdn. 55) ist. Unerheblich ist, ob er seine Lebensgrundlage im Inland oder im Ausland hat (siehe aber § 5 Rdn. 18).

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66 OLG Celle NJW 2001 2734; Hoyer SK Rdn. 9; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 4; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 16. 67 Hierzu Heintschel-Heinegg/Rohlff GA 2003 44. 68 Vgl. auch die Besprechung der Entscheidung von Lagodny StV 2005 515; Ranft wistra 2005 361; Schünemann StV 2005 681 und Vogel JZ 2005 807.

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Das Problem, ob auch eine juristische Person oder (bei § 218) die Leibesfrucht „Deutsche“ im Sinne des § 7 sein können (hierzu Rdn. 62), stellt sich bei § 7 Abs. 2 Nr. 1 nicht. Denn nach deutschem Strafrecht können nur natürliche Personen (schuldfähige) Täter sein. Es gibt im Strafrecht keine § 30 OWiG (i.d.F. des 31. StRÄndG vom 27.6.1994, BGBl. I S. 1440) entsprechende Vorschrift, die es ermöglichen würde, eine juristische Person wegen schuldhafter Tat zu bestrafen. Eine Strafbarkeitslücke entsteht dadurch nicht; § 14 gilt auch im Rahmen des § 7 Abs. 2 Nr. 1. Von § 7 Abs. 2 Nr. 1 ohne weiteres erfasst sind aber Auslandstaten Deutscher, die sich gegen juristische Personen mit Sitz in Deutschland richten, wenn der Täter Deutscher ist. Bleibt aus tatsächlichen Gründen zweifelhaft, ob der einer Auslandstat Beschuldigte zur Tatzeit Deutscher oder Ausländer war, so ist nach dem Grundsatz im Zweifel für den Angeklagten zu verfahren (BGHSt 20 22, 25).69 Gibt der Täter seine deutsche Staatsangehörigkeit nach der Tat auf (vgl. §§ 17 ff StAG) oder verliert er sie auf andere Weise, gilt das deutsche Strafrecht gem. § 7 Abs. 2 Nr. 1 weiterhin, obwohl das Auslieferungsverbot aus Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG dann nicht mehr greift. Begründen lässt sich dies mit § 8. Maßgeblich ist allein, dass der Täter zur Zeit der Tat Deutscher war.70 Während § 7 Abs. 1 nur von „Taten“ spricht, verwendet § 7 Abs. 2 für den Beschuldigten den Ausdruck „Täter“. Damit ist – wie bei anderen Vorschriften des Strafanwendungsrechts (§ 5 Rdn. 20 ff) auch – nicht etwa allein der Täter im Sinne des § 25 gemeint, sondern der Beschuldigte, gegen den sich das Verfahren richtet, sei es wegen Täterschaft oder Teilnahme.71 Ein zusätzliches Argument hierfür liefert § 9 Abs. 2 Satz 1, der auch Auslandstaten betrifft, wie Satz 2 deutlich macht.

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4. Auslandstaten von Ausländern, die nach der Tat Deutsche geworden sind (sog. Neubürger; § 7 Abs. 2 Nr. 1 zweite Alternative). § 7 Abs. 2 Nr. 1 eröffnet in Alternative 2 den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts für Auslandstaten von Personen, die zur Tatzeit Ausländer waren, aber nach der Tat Deutsche geworden sind. Dass der Täter Deutscher geworden ist, muss dabei spätestens zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung in der letzten Tatsacheninstanz feststehen. Zum Begriff des Deutschen vgl. Rdn. 55 ff. „Neubürger“ sind auch deutsche Volkszugehörige, die ihre Lebensgrundlage nicht in der Bundesrepublik hatten, jedoch nach der Tat in die Bundesrepublik gekommen sind (Art. 116 Abs. 2 GG).72 Keine „Neubürger“ sind Bürger der ehemaligen DDR, die mit dem Beitritt der DDR die Staatsangehörigkeit der Bundesrepublik Deutschland erworben haben (BGHSt 40 125, 129 f; 39 54, 60).73 Die Sondervorschriften des Art. 315 Abs. 1 bis 3 EGStGB würden leer laufen, wenn § 7 Abs. 2 Nr. 1 zweite Alternative bei DDR-Alttaten alle ehemaligen DDR-Bürger erfassen würde. Wird der Status als Neubürger vor Urteilsverkündung in der letzten Tatsacheninstanz aufgegeben, etwa durch Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit unter Verlust der deutschen (§ 18 StAG), so ist für die Anwendung des § 7 Abs. 2 Nr. 1 zweite Alternative kein Raum mehr. Anders als bei nachträglicher Aufgabe oder Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit durch eine Person, die zur Tatzeit Deutsche war (hierzu

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69 Ambos MK Rdn. 19. 70 Hoyer SK Rdn. 9; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 19. 71 Ambos MK Rdn. 32; für Strafbarkeit der Teilnahme im Rahmen des § 7 Abs. 2 Nr. 1 auch Oehler Rdn. 765; eingehend § 5 Rdn. 21 ff. 72 BGHSt 11 63; OLG München JZ 1951 146. 73 Hoyer SK Rdn. 10; Fischer Rdn. 9a.

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Rdn. 80), fehlt es in diesem Fall an einem Anknüpfungspunkt für die Geltung des deutschen Strafrechts. Völkerrechtlich lässt sich die Neubürgerklausel des § 7 Abs. 2 Nr. 1 mit dem Prinzip stellvertretender Strafrechtspflege rechtfertigen (Rdn. 8; Vor § 3 Rdn. 267 ff). Die Gleichstellung des Neubürgers, der im Tatzeitpunkt noch keine Bindung zum deutschen Recht hat, mit demjenigen, der zur Zeit der Tat Deutscher ist, erklärt sich daraus, dass auch dem Neubürger das Auslieferungsverbot des Art. 16 Abs. 2 GG (Rdn. 74 f; Vor § 3 Rdn. 383 f) zugute kommt und damit eine Verfolgung durch den Tatortstaat häufig ausscheidet. Die Vorschrift ist nicht verfassungswidrig (BGHSt 20 2, 23 zu § 4 Abs. 2 Nr. 1 i.d.F. der GeltungsbereichsVO vom 6.5.1940, RGBl. I S. 754). Insbesondere ist sie weder im Hinblick auf das Auslieferungsverbot des Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG willkürlich noch verstößt sie gegen das Gebot gesetzlicher Bestimmtheit der Strafbarkeit (Art. 103 Abs. 2 GG, § 1).74 Sie sieht zwar vor, dass wegen eines erst nach der Tat eingetretenen Umstandes, nämlich des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit, deutsches Strafrecht anwendbar ist; insoweit wird die Strafbarkeit erst nach der Tat begründet. Es ist aber schon bei Begehung der Tat gesetzlich bestimmt, dass und wie der Täter bestraft wird, wenn er nach der Tat Deutscher wird (BGHSt 20 22, 23). Im Übrigen ist für Vertrauensschutz kein Raum: Der Täter ordnet sich durch den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit freiwillig der deutschen Rechtsordnung unter (Hoyer SK Rdn. 10). Die Regelung steht auch mit den Grundsätzen des Schuldstrafrechts im Einklang. Der nachträgliche Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft ist objektive Bedingung der Strafbarkeit. Solche Bedingungen sind mit einem Schuldstrafrecht nicht schlechthin unvereinbar. Soweit die Tat nach dem zur Tatzeit geltenden Recht am ausländischen Tatort oder nach dem Heimatrecht des Täters mit Strafe bedroht ist, muss er ohnehin mit Bestrafung rechnen. Soweit das deutsche Recht strenger ist als das des Tatorts, hat der Tatrichter dies bei der Strafzumessung zu berücksichtigen (BGHSt 42 275, 279; OLG Karlsruhe Urt. v 22.7.09 – 1 Ss 177/08 –).75 In diesen Fällen ist bei der Bemessung der Tatfolgen das zur Tatzeit mildere Tatortrecht maßgeblich; dies erfordern Art. 103 Abs. 2 GG, § 2 Abs. 1.76 Es steht der Berücksichtigung eines ausländischen milderen Gesetzes nicht entgegen, dass der Gesetzgeber dies – anders als in § 7 Abs. 3 AE vorgeschlagen – nicht ausdrücklich angeordnet hat.77

5. Auslandstaten von Ausländern (§ 7 Abs. 2 Nr. 2). Nach § 7 Abs. 2 Nr. 2 gilt das deutsche Strafrecht für Taten, die Ausländer im Ausland an Ausländern begehen; Auslandstaten von Ausländern gegen Deutsche werden vorrangig von § 7 Abs. 1 erfasst. Voraussetzung der Geltung des deutschen Strafrechts nach § 7 Abs. 2 Nr. 2 ist, dass der Täter in Deutschland betroffen und nicht ausgeliefert wird. Die Bestimmung ist Ausdruck des Prinzips stellvertretender Strafrechtspflege 91 (Rdn. 5);78 sie ist völkerrechtlich unbedenklich (Vor § 3 Rdn. 267 ff).79

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74 Fischer Rdn. 9a; zweifelnd Lackner/Kühl/Heger Rdn. 4 („verfassungsrechtlich bedenklich“). 75 Ambos MK Rdn. 26; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 21; krit. Jescheck/Weigend § 18 III 5. 76 Lackner NStZ 1994 235, 236; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 4; Satzger § 5 Rdn. 80; Sch/Schröder/Eser/ Weißer Rdn. 21; Fischer Rdn. 9a; vgl. ferner BGHSt 39 317, 321 und BGHSt 20 22, 25 f, 29 f zu § 4 Abs. 2 Nr. 3 a.F. sowie Hoyer SK Vor § 3 Rdn. 41. 77 2. Bericht, BTDrucks. V/4095 S. 7. 78 BGH NStZ 2019, 460; krit. zur Zuordnung zum Stellvertretungsprinzip mit beachtlichen Argumenten Pappas S. 45 ff. 79 AA Pappas S. 192 ff.

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Nach einer im Vordringen begriffenen Ansicht ist bei § 7 Abs. 2 Nr. 2 im Rahmen der 92 Strafzumessung milderes Tatortrecht heranzuziehen.80 Diese Auffassung ist mit Blick auf den Grundgedanken der stellvertretenden Strafrechtspflege und unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes überzeugend. Denn der Ausländer, der eine Straftat im Ausland begeht, musste zum Tatzeitpunkt nicht damit rechnen, nach dem gegenüber dem Tatortrecht strengeren Gesetz der Bundesrepublik verfolgt zu werden. a) Begriff des Ausländers. Ausländer im Sinne des § 7 Abs. 2 Nr. 2 ist, wer zur Tat- 93 zeit nicht Deutscher war und auch später nicht (§ 7 Abs. 2 Nr. 1 zweite Alternative; Rdn. 82 ff) geworden ist; ferner, wer – nach Erwerb der Neubürgereigenschaft – diese Stellung anschließend wieder verloren hat (Rdn. 85). Ausländer sind auch Staatenlose (Vor § 3 Rdn. 346). b) Anwesenheit in Deutschland. Im Inland (Vor § 3 Rdn. 342) betroffen, wird der 94 Täter, wenn dort seine Anwesenheit festgestellt worden ist. Die Geltung des deutschen Strafrechts hängt von dieser Feststellung ab. Das schließt aber nicht aus, strafrechtliche Ermittlungen zu führen, wenn ein hinreichender Verdacht besteht, dass sich der ausländische Täter einer Auslandstat im Inland aufhält.81 Die prozessuale Lage ist insofern nicht anders, als wenn bei einer Inlandstat Tatverdacht gegen einen Beschuldigten besteht. Maßgeblicher Zeitpunkt für die „Betroffenheit“ ist die Urteilsverkündung. Daher scheidet die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts nach § 7 Abs. 2 Nr. 2 aus, wenn der Täter Deutschland zwischenzeitlich verlassen hat.82 c) Keine Auslieferung. Die Geltung des deutschen Strafrechts setzt ferner voraus, 95 dass der Täter nicht ausgeliefert wird, obwohl das Auslieferungsgesetz seine Auslieferung nach der Art der Tat zuließe. Das Gesetz nennt drei mögliche Gründe für die Nichtauslieferung (näher Rdn. 106 ff). aa) Zulässigkeit der Auslieferung. Ob – wie es § 7 Abs. 2 Nr. 2 voraussetzt – das 96 „Auslieferungsgesetz“ die Auslieferung des Täters nach der Art der Tat zuließe, richtet sich nach innerdeutschem Recht, insbesondere also nach dem Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) i.d.F. der Bek. vom 27.6.1994 (BGBl. I S. 1537). Richtiger Ansicht nach sind aber auch die gegenüber dem IRG vorrangigen Regelungen in völkerrechtlichen Vereinbarungen zu beachten, soweit sie unmittelbar anwendbares innerstaatliches Recht geworden sind (§ 1 Abs. 1, 3 IRG).83 Die Gegenansicht84 beruft sich auf den Wortlaut; sie verkennt aber, dass das „Auslieferungsgesetz“ in § 1 Abs. 3 IRG selbst die Beachtlichkeit vertraglicher Regelungen vorschreibt. Das IRG lässt die Auslieferung zur Verfolgung „nach der Art der Tat“ zu, wenn die 97 Tat nach deutschem Recht im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht ist oder wenn sie bei sinngemäßer Umstellung des Sachverhalts nach deutschem Recht mit einer solchen Strafe bedroht wäre (§ 3 Abs. 2 IRG). Auslieferung im Sinne des § 7 Abs. 2 Nr. 2 ist nicht nur die Auslieferung an einen an- 98 deren Staat, sondern auch die Überstellung an ein internationales Strafgericht, insbesondere den Internationalen Strafgerichtshof (vgl. für die internationalen Strafgerichte

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Ambos MK Rdn. 26; Cornils S. 224, 227 f; Satzger § 5 Rdn. 85; vgl. auch Hoyer SK Vor § 3 Rdn. 41. Zust. Ambos MK Rdn. 27. BGH NStZ-RR 2007 48, 50; OLG Celle Beschl. v. 5.6.2007 – 1 Ws 191-193/07. BGHSt 45 64, 72; Ambos MK Rdn. 28. Lackner/Kühl/Heger Rdn. 5; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 25.

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für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda, die inzwischen ihre Tätigkeit beendet haben, BayObLG NJW 1998 392, 395; vgl. auch Vor § 3 Rdn. 381). Unzulässig ist die Auslieferung bei politischen Straftaten (zum Begriff BGHSt 29 211), vgl. § 6 Abs. 1 Satz 1 IRG. Nach § 6 Abs. 1 Satz 2 IRG ist die Auslieferung wegen einer politischen Tat aber ausnahmsweise zulässig, wenn der Verurteilte wegen versuchtem oder vollendetem Völkermord, Mord oder Totschlag sowie Beteiligung hieran verfolgt wird oder verurteilt worden ist. Soweit mit Blick auf Völkermord eine Ausnahme vom Verbot der Auslieferung wegen politischer Straftaten gemacht wird, ist freilich Zurückhaltung geboten. Denn gerade bei der Verfolgung wegen Völkerrechtsverbrechen ist die Gefahr politischer Instrumentalisierung nicht von vornherein auszuschließen. Unzulässig ist die Auslieferung ferner, wenn ernstliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Verfolgte im Falle seiner Auslieferung wegen seiner Rasse, seiner Religion, seiner Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seinen politischen Anschauungen verfolgt oder bestraft werden würde (§ 6 Abs. 2 IRG), bei einer Tat, die ausschließlich in der Verletzung militärischer Pflichten besteht (§ 7 IRG), sowie bei im Ausland drohender Todesstrafe (§ 8 IRG). Unzulässig ist die Auslieferung schließlich insbesondere dann, wenn sie wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung oder den in Art. 6 EUV enthaltenen Grundsätzen widersprechen würde (§ 73 Satz 1 IRG). Dies ist der Fall, wenn begründete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass dem Verfolgten im ersuchenden Staat die Gefahr droht, dort gefoltert oder in anderer Weise menschenrechtswidrig behandelt zu werden (BVerfG NStZ 2001 100).85 Während die Erheblichkeitsschwelle des § 3 Abs. 2 IRG (Rdn. 97) unter dem Gesichtspunkt stellvertretender Strafrechtspflege ohne weiteres einleuchtet, vermag die sich aus § 7 Abs. 2 Nr. 2 ergebende Koppelung von Auslieferungsverboten und Geltungsbereich aus rechtspolitischer Sicht nicht zu überzeugen.86 Gerade dann, wenn die Auslieferung wegen einer politischen Straftat oder wegen drohender Todesstrafe unzulässig ist, kann nämlich ein Bedürfnis für ein stellvertretendes Einschreiten der deutschen Strafjustiz bestehen. Dass – trotz Zulässigkeit der Auslieferung nach der Art der Tat (Rdn. 96 ff) – nicht ausgeliefert wird, muss spätestens zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung in der letzten Tatsacheninstanz (BGH NJW 2001 3717) feststehen.87 Ändert sich die Rechtslage erst im Laufe des Revisionsverfahrens, ergibt sich nunmehr also doch die Möglichkeit, dass der Beschuldigte ausgeliefert wird, entsteht kein Verfahrenshindernis. Dies hat der BGH in einem obiter dictum unter Hinweis auf die Funktionsfähigkeit der stellvertretenden Strafrechtspflege festgestellt, die gefährdet sei, wenn immer wieder alle denkbaren Auslieferungsmöglichkeiten überprüft werden müssten (BGH NJW 2001 3717). bb) Gründe für die Nichtauslieferung. Das Gesetz nennt – abweichend von § 4 Abs. 2 Nr. 3 a.F. – abschließend88 drei Gründe für die Nichtauslieferung: ein Auslieferungsersuchen wird innerhalb angemessener Frist nicht gestellt (Rdn. 109 ff); ein (ge-

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85 Vgl. auch OLG Hamm NJW 2005 286. 86 So auch Ambos MK Rdn. 28. 87 OLG München StV 1998 270, 271; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 5; Fischer Rdn. 11; zur Prüfungspflicht des Tatrichters BGH NStZ 1995 440, 441. 88 Vgl. E 1962 Begr. S. 113.

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stelltes) Auslieferungsersuchen wird abgelehnt (Rdn. 116); die Auslieferung ist nicht ausführbar (Rdn. 117). Ob ausgeliefert wird, hat nicht das Gericht zu entscheiden, sondern die nach § 74 107 IRG zuständige Behörde, namentlich das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz. Liegt eine solche Entscheidung noch nicht vor, so hat das Gericht, bevor es nach deutschem Strafrecht verfährt, eine verbindliche Entscheidung herbeizuführen.89 Dieses Vorgehen kann sich im Einzelfall erübrigen, wenn nach dem Sachverhalt ernstliche Zweifel daran ausscheiden, dass ein Auslieferungsersuchen nicht gestellt wird.90 Hat der ausländische Täter die Straftat nicht in seinem Heimatstaat begangen, so 108 genügt es nicht, dass sich das Gericht die Gewissheit verschafft, eine Auslieferung an den Tatortstaat werde unterbleiben. Vielmehr ist die deutsche Gerichtsbarkeit in einem solchen Fall erst begründet, wenn feststeht, dass der Täter auch an seinen Heimatstaat nicht ausgeliefert wird.91 Dies gilt entsprechend, wenn die Tat in die Zuständigkeit eines vorrangig zuständigen internationalen Strafgerichts fällt, wie dies namentlich beim Jugoslawien-Strafgerichtshof oder dem Ruanda-Strafgerichtshof der Fall gewesen ist. Der Internationale Strafgerichtshof ist gegenüber der staatlichen Strafjustiz nicht vorrangig zuständig; praktisch wird im Zuständigkeitsbereich des IStGH aber ein Rückgriff auf § 7 Abs. 2 Nr. 2 nicht notwendig sein, weil § 1 VStGB die Geltung des deutschen Strafrechts ohnehin großflächig anordnet. (1) Kein Auslieferungsersuchen. Als ersten möglichen Grund für die Nichtausliefe- 109 rung des Täters nennt § 7 Abs. 2 Nr. 2 den Fall, dass ein Auslieferungsersuchen nicht gestellt wird. Dies kann etwa unterbleiben, weil der Tatortstaat oder der Heimatstaat an der Verfolgung nicht interessiert sind.92 Besteht mit einem in Frage kommenden Staat Auslieferungsverkehr, muss die Aus- 110 lieferung erfolglos angeboten worden sein. In einschlägigen Fällen ist auch einem vorrangig zuständigen internationalen Strafgericht die Überstellung anzubieten. Dies ist nicht erforderlich, wenn feststeht, dass einem Auslieferungsersuchen ohnehin nicht entsprochen würde.93 Das Gesetz stellt nunmehr klar, dass deutsches Strafrecht gilt, wenn „innerhalb an- 111 gemessener Frist“ kein Auslieferungsersuchen gestellt wird. Die Aufnahme der Worte „innerhalb angemessener Frist“ in den Gesetzestext durch Art. 12c Nr. 1 des zum 1.9.2004 in Kraft getretenen 1. JuMoG (BGBl. I S. 2198) hat eine Rechtsgrundlage für ein ohnehin übliches Verfahren geschaffen (BTDrucks. 15/3482 S. 25). So entsprach es bereits vor Änderung des Gesetzeswortlauts der Praxis, Anfragen an Staaten, die potenziell ein Interesse an der Auslieferung haben könnten, mit einer Frist zu versehen. In der Praxis üblich ist eine Frist von drei Wochen. Auf eine Festlegung dieser Frist im Gesetz hat der Gesetzgeber verzichtet, um eine Anpassung an den Einzelfall, insbesondere an die Gepflogenheiten im Verkehr mit dem jeweiligen Staat, zu ermöglichen.

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89 BGHSt 18 283, 287 f; BGHR § 7 Abs. 2 Nr. 2 Verfahrenshindernis 1; BayObLG GA 1958 244; OLG Karlsruhe Die Justiz 1963 304; siehe aber auch BGH NJW 1991 3104. 90 BGH GA 1976 242, 243. 91 BGH NJW 1995 1844, 1845; NStZ 1985 545; BGHR § 7 Abs. 2 Nr. 2 Auslieferung 1; vgl. auch BGHSt 45 64, 73. 92 BGH GA 1976 242, 243; BayObLG NJW 1998 392, 395. Zu der Frage, ob die Möglichkeit der Auslieferung in einen anderen Staat, etwa den Heimatstaat der Geschädigten, der auf Grundlage des Individualschutzgrundsatzes Strafgewalt ausübt, in Betracht zu ziehen ist, BGH NStZ 2019 460, 462 („ungeklärt“). 93 BGH NJW 1991 3104.

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Ziel der Fristsetzung ist es, schnellstmöglich zu klären, ob deutsches Recht anwendbar ist, um eine effektive Strafverfolgung zu gewährleisten (BTDrucks. 15/3482 S. 25; BTDrucks. 13/4541 S. 14). Dabei wird auch dem Umstand Rechnung getragen, dass Fälle grenzüberschreitender Kriminalität häufig Haftsachen sind. Ist die erst nach erfolgter Akteneinsicht zu treffende endgültige Entscheidung der ausländischen Behörden, ob um Auslieferung ersucht wird, noch offen, widerspricht es rechtsstaatlichen Grundsätzen, den Beschuldigten bis zur Entscheidung in Haft zu halten (OLG München NStZ-RR 1998 300; vgl. auch OLG München StV 1998 270). Nach Ablauf der Frist ist davon auszugehen, dass ein Auslieferungsersuchen nicht 113 gestellt wird. Allerdings ist es auch nach Fristablauf noch möglich, gegebenenfalls unter Einstellung des inländischen Verfahrens gem. § 154b StPO, einem späteren Auslieferungsersuchen nachzukommen, da die Frage der Zulässigkeit der Auslieferung unberührt bleibt (BTDrucks. 15/3482 S. 25). Aus welchen Gründen ein Auslieferungsersuchen nicht gestellt wird, ist nach dem 114 Gesetz ohne Bedeutung; auf die Motive des Heimat- oder Tatortstaates kommt es nicht an, insbesondere muss keine ausdrückliche Ermächtigung zur Strafverfolgung durch den vertretenen Staat erfolgen. Hieraus ergibt sich die theoretische Möglichkeit, dass es im Einzelfall zu einer Art 115 „aufgedrängter Strafverfolgung“ kommt. Denn es ist nicht auszuschließen, dass der Tatortstaat an der Strafverfolgung – trotz gesetzlicher Strafbarerklärung – kein Interesse hat oder die Straftat sogar überhaupt nicht verfolgt wissen möchte.94 Es gibt indes keinen, insbesondere keinen verfassungs- oder völkerrechtlichen Grund, § 7 Abs. 2 Nr. 2 auf Fälle zu beschränken, in denen entweder ein ausdrückliches „Verfolgungsersuchen“ vorliegt oder aber eine andere völkerrechtliche Erlaubnisnorm eingreift (vgl. auch Vor § 3 Rdn. 268).95 Das Gesetz orientiert sich an der Strafbarkeit (und Verfolgbarkeit, dazu Rdn. 41 ff) der Tat nach Tatortrecht und genügt damit den völkerrechtlichen Anforderungen. Weitere Einschränkungen wären contra legem. Deshalb ist auch nicht zu verlangen, dass stets ein Auslieferungsersuchen eines „originär“ zuständigen Staates vorliegen müsse.96 Zusätzlich begründen lässt sich die Ausübung von Strafgewalt in den Fällen „aufgedrängter Strafverfolgung“ mit der Überlegung, es sei einem Staat schlechterdings nicht zumutbar, (mutmaßliche) ausländische Straftäter in seinem Hoheitsgebiet zu dulden, ohne sie einer Strafe zuzuführen (BayObLG NJW 1998 392, 395).97 116

(2) Ablehnung eines Auslieferungsersuchens. Als Grund für die Nichtauslieferung nennt § 7 weiter, dass durch die deutschen Instanzen das Auslieferungsersuchen abgelehnt wird; dies kann etwa der Fall sein, weil mit dem betreffenden Staat kein Auslieferungsverkehr besteht oder die Gegenseitigkeit nicht verbürgt ist (§ 5 IRG).98

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(3) Undurchführbarkeit der Auslieferung. Als dritten Grund dafür, dass eine Auslieferung nicht erfolgt, nennt das Gesetz schließlich die Undurchführbarkeit der Auslieferung. Undurchführbar ist die Auslieferung beispielsweise, wenn der Täter aus gesundheitlichen Gründen nicht ausgeflogen werden kann.

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94 Vgl. Ambos MK Rdn. 30; Hecker § 2 Rdn. 54; R. Schmitz FS Grünwald, S. 619, 636. 95 So aber Henrich S. 98 f; ähnlich Ambos MK Rdn. 30. 96 So aber Lagodny ZStW 101 (1989) 993; vgl. auch R. Schmitz FS Grünwald, S. 619, 630. 97 Vgl. auch Ambos MK Rdn. 31; Pappas S. 190 ff; Scholten NStZ 1994 266, 268. 98 BGH Beschl. v. 19.11.2003 – 2 StR 280/03; BayObLG GA 1958 244; siehe auch BGH StV 2001 504; NStZ 1991 525, 526.

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Zeit der Tat | § 8

IV. Prozessuales Solange im Fall des § 7 Abs. 2 Nr. 2 über die Auslieferung noch nicht entschieden ist, 118 fehlt eine Prozessvoraussetzung (Vor § 3 Rdn. 10) mit der Folge, dass das Strafverfahren nicht abgeschlossen werden kann, was das Revisionsgericht auf die Sachrüge hin zu beachten hat. Das Verfahrenshindernis ist vorläufiger Natur, solange die Entscheidung noch getroffen werden kann (BGH NJW 1995 1844, 1845). Es wird jedoch endgültig und führt dann zur Einstellung des Verfahrens, wenn die Entscheidung nicht mehr nachgeholt werden kann, etwa weil sich der Täter nach Entlassung aus der Haft (freiwillig) in seinen Heimatstaat zurückbegeben hat und damit dessen Strafgewalt unterworfen ist (BGH NStZ 1985 545). Für die Strafverfolgung gilt in allen Fällen des § 7 das Opportunitätsprinzip gemäß 119 § 153c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO.

§8 Zeit der Tat Erster Abschnitt. Das Strafgesetz Zeit der Tat Werle/Jeßberger § 8 https://doi.org/10.1515/9783110300413-011 1 Eine Tat ist zu der Zeit begangen, zu welcher der Täter oder der Teilnehmer gehandelt hat oder im Falle des Unterlassens hätte handeln müssen. 2Wann der Erfolg eintritt, ist nicht maßgebend.

Entstehungsgeschichte Die Vorschrift wurde durch das 2. StrRG vom 4.7.1969 (BGBl. I S. 717) eingefügt. Sie folgt wörtlich der Fassung des § 7 E 1962. Gesetzesmaterialien E 1962 § 7 Begr. S. 113; Niederschriften der Gr. Str. Kommission Bd. 3 S. 290, 295 f, 300, 418 ff; ferner § 8 Abs. 1 AE.

I.

II.

Übersicht Bedeutung | 1 1. Die Tätigkeitstheorie | 3 2. Tatzeitbestimmung und gesetzliche Bestimmtheit der Strafbarkeit | 4 3. Tatzeitbegriff und Tatschuld | 5 Inhalt | 6 1. Tatzeit bei Begehungsdelikten | 7 a) Mittelbare Täterschaft | 9 b) Objektive Bedingungen der Strafbarkeit | 11 c) Rechtliche Bewertungseinheiten | 13

2.

III.

Tatzeit bei Unterlassungsdelikten | 14 3. Tatzeit bei Teilnahme a) Tatzeit der Teilnahme | 15 aa) Der Tatbegriff des § 8 | 16 bb) Teilnahme als „andere Straftat“ (§ 55) | 18 b) Tatzeit der Haupttat bei Teilnahme | 20 Gesetzesänderungen | 22

I. Bedeutung § 8 bestimmt, wann eine Tat begangen ist. Die Frage nach der Tatzeit ist nicht nur 1 für die zeitliche (§§ 1, 2) und räumliche Geltung des Strafgesetzes (vgl. etwa § 5 Nr. 8, § 7 Abs. 2 Nrn. 1 und 2) von Bedeutung; maßgeblich ist die Zeit der Tat auch für die Rechts685 https://doi.org/10.1515/9783110300413-011

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§ 8 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

widrigkeit der Tat (z.B. für das Vorliegen einer Einwilligung) und für die Schuld des Täters (etwa im Zusammenhang mit der Annahme eines Schuldausschließungsgrundes, ferner für die Rückfallverjährung (§ 66 Abs. 3 Satz 3) und für Fristen und Zeitabläufe, schließlich auch für die Anwendung von Amnestiegesetzen (vgl. BGHSt 11 119). Zu beachten ist, dass § 8 teilweise durch Sonderregelungen verdrängt wird. So ist 2 § 8 nicht für den Verjährungsbeginn (§ 78a S. 2) maßgebend, da die Sachgründe, die das Institut der Verfolgungsverjährung rechtfertigen (näher Erläuterungen zu § 78), zur Voraussetzung haben, dass der zum Tatbestand gehörende Erfolg bei Beginn der Verjährung eingetreten ist.1 Besonderheiten gelten auch für die nachträgliche Gesamtstrafenbildung gem. § 55 und die Beurteilung, ob die andere Straftat, wegen der ein rechtskräftig Verurteilter verurteilt wird, vor der früheren Verurteilung begangen worden ist oder nicht (näher Rdn. 18). 3

1. Die Tätigkeitstheorie. Auf dem Boden der Rechtsprechung des Reichsgerichts (RGSt 57 193, 195 ff) stellt die Vorschrift klar, dass der Begehungszeitpunkt sich anders als der Begehungsort (§ 9) nicht nach der Ubiquitätstheorie (§ 9 Rdn. 3), sondern nach der Tätigkeitstheorie bestimmt: Maßgeblich ist demnach allein, wann der Täter gehandelt hat oder im Falle des Unterlassens hätte handeln müssen. Ohne Bedeutung ist, wann der Erfolg eintritt, soweit ein solcher vom Tatbestand vorausgesetzt wird. Entsprechend wird nunmehr nicht mehr zwischen unbewusst fahrlässigen und bewusst fahrlässigen oder vorsätzlichen Unterlassungsdelikten unterschieden, für welche die Rechtsprechung früher (BGHSt 11 119) den Erfolgszeitpunkt für maßgebend gehalten hat.

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2. Tatzeitbestimmung und gesetzliche Bestimmtheit der Strafbarkeit. § 8 steht inhaltlich im Einklang mit dem Gebot gesetzlicher Bestimmtheit der Strafbarkeit und mit dem Rückwirkungsverbot (§ 1 Rdn. 87). Dem Täter wird es ermöglicht, schon bei der Handlung deren Rechtsfolgen vorauszusehen sowie sein Verhalten danach auszurichten.2 Ein Erfolg, dessen Herbeiführung zur Zeit der Handlung nicht mit Strafe bedroht ist, wird ihm objektiv nicht zugerechnet, auch wenn die Herbeiführung des Erfolgs vor dessen Eintritt für strafbar erklärt worden ist.

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3. Tatzeitbegriff und Tatschuld. Die Bedeutung des § 8 ist weiter darin zu sehen, dass es für die Beantwortung der Schuldfrage nicht darauf ankommt, ob der Täter in der Zeit zwischen Handlung und Erfolgseintritt noch einen aktuellen Tatvorsatz hat, ob er also an den Erfolgseintritt noch gedacht oder schuldhaft nicht mehr gedacht hat. Sogar ein Sinneswandel des Täters in diesem Zeitabschnitt ist für sich allein für den Schuldspruch unerheblich. Er reicht zum strafbefreienden Rücktritt nicht aus, wenn der Erfolg eintritt oder wenn – falls er ausbleibt – der Versuch bereits beendet ist (§ 24). II. Inhalt

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Bei der Bestimmung der Tatzeit ist zwischen Begehungsdelikten und Unterlassungsdelikten sowie zwischen Haupttat und Teilnahme zu unterscheiden.

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1. Tatzeit bei Begehungsdelikten. Bei ihnen kommt es darauf an, wann der Täter (der Alleintäter oder ein Mittäter) gehandelt hat. Maßgebend ist derjenige Zeitpunkt, zu

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Ambos MK Rdn. 3; Schröder JZ 1959 31. Vgl. Tiedemann FS Jescheck, 1423.

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dem der Täter die Handlung vornimmt, die den Tatbestand verwirklicht (so bei schlichten Tätigkeitsdelikten) oder verwirklichen soll (so bei Erfolgsdelikten), nicht jedoch jener, zu welchem der tatbestandsmäßige oder ein weiterer Erfolg eintritt (§ 8 Satz 2). Entsprechend ist eine Beleidigung durch einen Aktenvermerk im Zeitpunkt der Niederschrift begangen, nicht dagegen im Zeitpunkt der Kenntnisnahme durch Dritte (RGSt 57 193, 195 f). Beim Versuch kommt es für die Tatzeit auf den Zeitpunkt an, zu dem der Täter zur 8 Verwirklichung des Tatbestands unmittelbar ansetzt (§ 22).3 Bei Mittäterschaft gilt die Tat zu jedem Zeitpunkt als begangen, zu dem ein gegenseitig zurechenbarer Tatbeitrag geleistet wird.4 a) Mittelbare Täterschaft. Bei mittelbarer Täterschaft (§ 25 Abs. 1 zweite Alternati- 9 ve) ist nicht nur der Akt maßgebend, durch den der mittelbare Täter den Tatmittler einsetzt, sondern auch dessen Handlung, die dem mittelbaren Täter als die seines Werkzeugs zuzurechnen ist.5 Der Gesichtspunkt gegenseitiger Zurechnung, der für die Bestimmung der Tatzeit 10 bei Mittäterschaft erheblich ist, spielt bei mittelbarer Täterschaft keine Rolle. Die Möglichkeit einseitiger Zurechnung für sich allein genügt zur Begründung der Tatzeit nicht, soweit es um die Erfolgsseite der Tat geht (arg. § 8). Dagegen reicht die Möglichkeit aus, eine Tätigkeit anderer Personen einseitig dem Täter als eigene zuzurechnen. Die gesetzliche Regelung des § 8, dass Handeln des Teilnehmers (§§ 26, 27) die Tatzeit des Täters nicht beeinflusst (Rdn. 20), steht dem nicht entgegen. Denn die Teilnahme ist für den Täter fremdes Tun oder Unterlassen. b) Objektive Bedingungen der Strafbarkeit. Unerheblich für die Bestimmung der 11 Tatzeit ist, ob eine objektive Bedingung der Strafbarkeit bereits eingetreten ist oder nicht. So kommt es im Fall des Vollrauschs (§ 323a) nicht auf die Rauschtat an, sondern auf den Zeitpunkt des vorwerfbaren Sichberauschens. Hieran ändert § 323a Abs. 2 nichts, weil er lediglich die Strafhöhe begrenzt, aber nichts zur Tatzeit angibt. Für sie ist der zurechenbare Unrechtsakt maßgebend.6 Diese Lösung führt zu vernünftigen Ergebnissen. Ändert sich der Strafrahmen des 12 Tatbestands der Rauschtat in der Zeit zwischen dem schuldhaften Sichbetrinken und der Rauschtat, so ändert sich über § 323a Abs. 2 auch die Strafdrohung des Vollrauschtatbestands, so dass für das Sichberauschen nach § 2 Abs. 3 das mildere Gesetz gilt. Verschärft sich in dem bezeichneten Zeitraum die Strafe für die „Rauschtat“ als Delikt, so bleibt die Verschärfung, da erst nach der Tatzeit eingetreten, gemäß § 2 Abs. 1 außer Betracht. c) Rechtliche Bewertungseinheiten. Im Übrigen erstreckt sich die Tatzeit auf die 13 gesamte Zeit des vorwerfbaren und zurechenbaren Tätigwerdens; vielfach wird sich also nicht ein konkreter Begehungszeitpunkt feststellen lassen, sondern vielmehr ein Begehungszeitraum. So reicht die Tatzeit bei Dauerdelikten (z.B. §§ 239, 315c Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a, 316) bis zum Abschluss des vorwerfbaren Dauerverhaltens.7 Auch bei anderen

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3 Ambos MK Rdn. 11; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 3. 4 BGH NJW 1999 1979; aA Böse NK Rdn. 3. 5 Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 3; Fischer Rdn. 3; aA Böse NK Rdn. 3; Hoyer SK Rdn. 5; zweifelnd Gribbohm LK11 Rdn. 7. 6 Stree JuS 1965 473; Fischer Rdn. 3; aA OLG Braunschweig NJW 1966 1878. 7 Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 6; vgl. auch BGHSt 22 67, 71; Hruschka GA 1968 193.

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rechtlichen Bewertungseinheiten, insbesondere tatbestandlichen Handlungseinheiten,8 erstreckt sich die Tatzeit bis zum letzten Einzelakt.9 Entsprechendes ist bei – der in der Praxis freilich aufgegebenen10 Fallgruppe der – fortgesetzten Handlungen anzunehmen. Anders verhält es sich bei Zustandsdelikten (z.B. §§ 169, 171): In diesen Fällen kommt es nur auf die Tathandlung an, die den rechtswidrigen Zustand schafft, und nicht auf dessen Dauer.11 14

2. Tatzeit bei Unterlassungsdelikten. Bei echten (z.B. §§ 138, 323c) und unechten Unterlassungsdelikten (§ 13) kommt es darauf an, wann der Täter hätte handeln können und müssen, um die Verwirklichung des Tatbestands zu verhindern, bei unechten Unterlassungsdelikten also den Erfolg abzuwenden. Die Zeit der Tat im Sinne des § 8 erstreckt sich in diesen Fällen typischerweise über einen gewissen Zeitraum. Sie beginnt, sobald der Unterlassungstäter das seine Handlungspflicht begründende Ereignis (z.B. den Unglücksfall, § 323c) wahrnimmt. Sie endet, sobald die Handlungspflicht erfüllt ist oder auf deliktische Weise nicht mehr verletzt werden kann, wenn etwa bei § 323c Hilfe nicht mehr erforderlich oder dem Täter nicht mehr zuzumuten ist.12 3. Tatzeit bei Teilnahme

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a) Tatzeit der Teilnahme. Bei der Frage, wann ein Teilnehmer (Anstifter oder Gehilfe) die Tat begangen hat, richtet sich die Antwort allein nach dem Teilnahmeakt. Tatbeiträge mehrerer Teilnehmer sind hinsichtlich der Tatzeit selbstständig zu beurteilen, es sei denn, sie handelten ihrerseits gemeinschaftlich. Auf die Zeit der Haupttat, zu der angestiftet oder Beihilfe geleistet wird, kommt es nicht an.13 Die Teilnahmehandlung ist im Sinne des § 8 begangen und beendet, wenn sie als solche abgeschlossen ist, nicht etwa erst mit Beendigung der Haupttat.14 Das ist trotz der Akzessorietät der Teilnahme folgerichtig angesichts der Festlegung in § 8, dass der Taterfolg (die Haupttat als „Erfolg“ der Teilnahme) bei der Bestimmung der Tatzeit aus den bezeichneten Gründen (Rdn. 3) außer Betracht zu bleiben habe. Beim Versuch der Beteiligung (§ 30) kommt es auf den jeweiligen (strafbaren) Versuchsakt an, bei der Teilnahme durch Unterlassen auf den Zeitpunkt, in dem der Teilnehmer zur Verhinderung der Haupttat hätte tätig werden müssen.15

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aa) Der Tatbegriff des § 8. Bei dieser Auslegung ist der Begriff „Tat“ in § 8 also mehrdeutig. Er umfasst sowohl die Haupttat als auch die Teilnahme, meint aber jeweils nur das eine oder das andere, je nachdem, ob es um die Zeit der Haupttat oder die der Teilnahme geht. Diese Auslegung ist nach dem Gesetzeswortlaut nicht zwingend, aus den genannten Erwägungen (Rdn. 15) aber zutreffend. Anstiftern und Gehilfen wird damit nur zugerechnet, was sie selbst zu verantworten haben. Sie beherrschen zwar die

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8 Vgl. Gribbohm FS Odersky, S. 387, 398 f. 9 BGH bei Dallinger MDR 1967 12; RGSt 56 54, 56. 10 Hierzu Fischer Vor § 52 Rdn. 47 sowie BGHSt 40 138. 11 Fischer Rdn. 3. 12 Lackner/Kühl/Heger Rdn. 3; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 4; hierzu auch BGHSt 11 119, 124 m. Anm. Schröder JZ 1959 30. 13 BGH NStZ 2017 356, 358; BGH wistra 2005 147 f; BGH NStZ 2000 197, 198. 14 BGH NStZ 2017 356, 358; Ambos MK Rdn. 6; Böse NK Rdn. 3; Hoyer SK Rdn. 5; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 2; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 5. 15 Hoyer SK Rdn. 4; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 5.

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Teilnahmehandlung, nicht aber die Haupttat, bei der die Tatherrschaft beim Haupttäter liegt. Auf der Grundlage dieses Gesetzesverständnisses überrascht auch die unterschiedli- 17 che Ermittlung der Tatzeit bei Mittäterschaft (Rdn. 8) und Teilnahme (Rdn. 15) nicht. Bei Mittäterschaft folgt aus dem gemeinsamen Tatentschluss und der darauf beruhenden gegenseitigen Zurechnung der Tatbeiträge aller Mittäter, dass jedem auch die Zeit, zu der einer der oder die anderen gehandelt haben, als Zeit eigenen Handelns zugerechnet wird. Für den Teilnehmer aber ist die Haupttat rechtlich nicht eigenes Tun oder Unterlassen. bb) Teilnahme als „andere Straftat“ (§ 55). Der BGH (NStZ 1994 482 f) meint, für 18 die Beantwortung der Frage, ob der Teilnehmer seine Beihilfe „vor der früheren Verurteilung“ im Sinne des § 55 geleistet habe, komme es nicht nur darauf an, wann er (im Sinne des § 8) gehandelt habe, sondern auch darauf, ob die von ihm unterstützte Haupttat vor oder nach der früheren Verurteilung vollendet worden sei (ebenso OLG Stuttgart MDR 1992 177). Diese Auffassung entspricht der wohl herrschenden Meinung, welche die Zeit der Tatbegehung bei § 55 für die „andere Straftat“ nach deren Beendigung bestimmt.16 Gegen die Auffassung des BGH spricht, dass sie – wenn man § 8 so versteht wie dar- 19 gelegt (Rdn. 15) – mit dieser Vorschrift nicht im Einklang steht, weil sie die Tatzeit der Teilnahme von der Begehung der Haupttat und überdies die Tatzeit der Haupttat bei Erfolgsdelikten vom Eintritt des Erfolgs abhängig macht. Auch ist sie nicht erforderlich, um sinnvolle Ergebnisse zu erreichen. Es kommt bei der Anwendung des § 55 nicht auf die tatsächlichen Erkenntnismöglichkeiten des früheren Tatrichters an, der von der Vollendung der durch die Teilnahme geförderten Haupttat noch keine Kenntnis haben kann, solange sie im Versuchsstadium steckt. Maßgebend ist vielmehr eine Betrachtung ex post durch den späteren Tatrichter, welcher die Teilnahmetat untersucht. Er ist (auf der Grundlage einer Beurteilung der Tatzeit nach § 8) nicht gehindert, bei der nach § 55 gebotenen Gesamtstrafenbildung auch den Umstand zu berücksichtigen, dass die unterstützte Haupttat erst nach der früheren Verurteilung über das Versuchsstadium hinausgediehen und vollendet worden ist. b) Tatzeit der Haupttat bei Teilnahme. Man könnte erwägen, wenn nicht dem 20 Teilnehmer die Tatzeit des Haupttäters, so jedenfalls dem Haupttäter die für den Teilnehmer maßgebliche Tatzeit als eigene zuzurechnen. Auch dies muss aber daran scheitern, dass es am gemeinsamen Tatentschluss als rechtlicher Grundlage gegenseitiger Zurechnung fehlt und die Teilnahme eines anderen im Rechtssinne nicht eigenes Tun oder Unterlassen des Haupttäters ist.17 Wer die eigene Tat unterstützt, ist kraft Gesetzes (§ 27 Abs. 1) nicht Gehilfe. Wenn 21 Gehilfe und Haupttäter eine Handlung zusammen begehen, die für den ersten Beihilfe (§ 27 Abs. 1), für den zweiten aber Tatvorbereitung oder Teil der Tathandlung ist, so umfasst die Tatzeit des Haupttäters die des Gehilfen nur, soweit der zusammen verübte Akt zeitlich nach Beginn des mit Strafe bedrohten Versuchs liegt. Anderenfalls geht die Tatzeit des Gehilfen der des Haupttäters ganz oder teilweise voraus, obwohl die Strafbarkeit der Beihilfe vom nachfolgenden Eintritt der Handlung des Haupttäters in das Versuchsstadium abhängt.

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16 BGHR § 55 Abs. 1 Begehung 1; BGH bei Holtz MDR 1988 101; OLG Hamm NJW 1954 324; 1957 1937; Ambos MK Rdn. 16; Sch/Schröder/Sternberg-Lieben/Bosch § 55 Rdn. 12. 17 Ambos MK Rdn. 16.

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§ 9 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

III. Gesetzesänderungen 22

Erstreckt sich die Tatzeit auf einen längeren Zeitraum (Rdn. 13) und fällt dieser unter den (zeitlichen) Geltungsbereich verschiedener Strafgesetze, so ist § 2 Abs. 2 zu beachten.

§9 Ort der Tat Erster Abschnitt. Das Strafgesetz Ort der Tat Werle/Jeßberger § 9 https://doi.org/10.1515/9783110300413-012

(1) Eine Tat ist an jedem Ort begangen, an dem der Täter gehandelt hat oder im Falle des Unterlassens hätte handeln müssen oder an dem der zum Tatbestand gehörende Erfolg eingetreten ist oder nach der Vorstellung des Täters eintreten sollte. (2) 1Die Teilnahme ist sowohl an dem Ort begangen, an dem die Tat begangen ist, als auch an jedem Ort, an dem der Teilnehmer gehandelt hat oder im Falle des Unterlassens hätte handeln müssen oder an dem nach seiner Vorstellung die Tat begangen werden sollte. 2Hat der Teilnehmer an einer Auslandstat im Inland gehandelt, so gilt für die Teilnahme das deutsche Strafrecht, auch wenn die Tat nach dem Recht des Tatorts nicht mit Strafe bedroht ist.

Schrifttum Barton/Gercke/Janssen Die Veranstaltung von Glücksspielen durch ausländische Anbieter per Internet unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH, wistra 2004 321; Berberich Das Internet-Glückspiel (2004); Bergmann Der Begehungsort im internationalen Strafrecht Deutschlands, Englands und der Vereinigten Staaten von Amerika (1966); Bremer Strafbare Internet-Inhalte in internationaler Hinsicht (2001); ders. Radikal-politische Inhalte im Internet, MMR 2002 147; Conradi/Schlömer Die Strafbarkeit der Internet-Provider, NStZ 1996 366 (1. Teil), 472 (2. Teil); Cornils Der Begehungsort von Äußerungsdelikten im Internet, JZ 1999 394; Derksen Strafrechtliche Verantwortung für in internationalen Computernetzen verbreitete Daten mit strafbarem Inhalt, NJW 1997 1878; Dombrowski Extraterritoriale Strafrechtsanwendung im Internet (2014); Endemann Interlokalrechtliche Probleme im Bereich des Staatsschutzrechts unter besonderer Berücksichtigung des Tatortbegriffs (§ 3 Abs. 3 StGB), NJW 1966 2381; Eser Internet und internationales Strafrecht in Leipold (Hrsg.) Rechtsfragen des Internet und der Informationsgesellschaft (2002) 303; Graf Internet: Straftaten und Strafverfolgung, DRiZ 1999 281; Gribbohm Strafrechtsgeltung und Teilnahme, JR 1998 177; Hecker Die Strafbarkeit grenzüberschreitender Luftverunreinigungen im deutschen und europäischen Umweltstrafrecht, ZStW 115 (2003) 885; ders. Internationales Strafrecht: Propagandadelikt im Cyberspace (Anm. zu BGH) JuS 2015 274; Heinrich Der Erfolgsort beim abstrakten Gefährdungsdelikt, GA 1999 72; ders. Handlung und Erfolg bei Distanzdelikten, Festschrift Weber (2004) 91; Herrmann Die Anwendbarkeit des politischen Strafrechts auf Deutsche im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik (1960); Heymann Territorialprinzip und Distanzdelikt (1914); Hilgendorf Überlegungen zur strafrechtlichen Interpretation des Ubiquitätsprinzips im Zeitalter des Internet, NJW 1997 1873; ders. Neue Medien und das Strafrecht, ZStW 113 (2001) 650; ders./Frank/Valerius Computer- und Internetstrafrecht (2005); Jedamzik Das rundfunkrechtliche Sonderdelikt als Anwendungsfall interlokalrechtlicher Grundsätze (1979); Jung Die Inlandsteilnahme an ausländischer strafloser Haupttat, JZ 1979 325; Jeßberger Verbreitung der „Auschwitzlüge“ im Internet (Anm. zum BGH) JR 2011 429; ders. Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts (2011); Kappel Das Ubiquitätsprinzip im Internet (2007); Klengel/Heckler Geltung des deutschen Strafrechts für vom Ausland aus im Internet angebotenes Glücksspiel, CR 2001 243; Knaup Die Begrenzung globaler Unternehmensleitung durch § 9 Absatz 2 Satz 2 StGB (2011); Koch Zur Strafbarkeit der „Auschwitzlüge“ im Internet – BGHSt 46, 212, JuS 2002 123; ders. Nationales Strafrecht und globale Internetkriminalität, GA 2002 703; Krapp Distanzdelikt und Distanzteilnahme im internationalen Strafrecht (1977); Kudlich

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Ort der Tat | § 9

Altes Strafrecht für Neue Medien? Jura 2001 305; Langrock Der besondere Anwendungsbereich der Vorschriften über die Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates (1972); Lehle Der Erfolgsbegriff und die deutsche Strafrechtszuständigkeit im Internet (1999); Lohse Inhaltsverantwortung im Internet und ECommerce-Richtlinie, DStR 2000 1874; Lüttger Lockerung des Verfolgungszwangs bei Staatsschutzdelikten, JZ 1964 570; ders. Strafrechtsschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter, Festschrift Jescheck (1985) 121; D. Magnus Kinderwunschbehandlung im Ausland: Strafbarkeit beteiligter deutscher Ärzte nach internationalem Strafrecht (§ 9 StGB), NStZ 2015 57; Marberth-Kubicki Computer- und Internetstrafrecht, 2. Aufl. (2010); Martin Strafbarkeit grenzüberschreitender Umweltbeeinträchtigungen (1989); ders. Grenzüberschreitende Umweltbeeinträchtigungen im deutschen Strafrecht, ZRP 1992 19; Matthies Providerhaftung für Online-Inhalte (2004); Miller/Rackow Transnationale Täterschaft und Teilnahme – Beteiligungsdogmatik und Strafanwendungsrecht, ZStW 117 (2005) 379; Mitsch Mitwirkung am versuchten Schwangerschaftsabbruch (an) einer Nichtschwangeren im Ausland, Jura 1989 194; Morozinis Die Strafbarkeit der „Auschwitzlüge“ im Internet, GA 2011 475; Park Die Strafbarkeit von Internet-Providern wegen rechtswidriger Internet-Inhalte, GA 2001 23; Ringel Rechtsextremistische Propaganda aus dem Internet, CR 1997 302; Römer Verbreitungs- und Äußerungsdelikte im Internet (2000); Rotsch Der Handlungsort i.S.d. § 9 Abs. 1 StGB, ZIS 2010 168; Satzger Die Anwendung des deutschen Strafrechts auf grenzüberschreitende Gefährdungsdelikte, NStZ 1998 112; Schlüchter Zur teleologischen Reduktion im Rahmen des Territorialitätsprinzips, Festschrift Oehler (1985) 307; Schnorr von Carolsfeld Straftaten in Flugzeugen (1965); ders. Die mitbestrafte Nachtat im Internationalen Strafrecht, Festschrift Heinitz (1972) 765; Schröder Die Teilnahme im internationalen Strafrecht, ZStW 61 (1949) 57; Sieber Internationales Strafrecht im Internet, NJW 1999 2065; ders. Die Bekämpfung von Hass im Internet, ZRP 2001 97; Staubach Die Anwendung des ausländischen Strafrechts durch den inländischen Richter (1964); Stree Objektive Bedingung der Strafbarkeit, JuS 1965 465; Vec Internet, Internationalisierung und nationalstaatlicher Rechtsgüterschutz, NJW 2002 1535; Valerius Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts bei Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen im Internet, HRRS 2016 186; Weigend Strafrechtliche Pornographieverbote in Europa, ZUM 1994 133; Werkmeister/Steinbeck Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts bei grenzüberschreitender Cyberkriminalität, wistra 2015 209; Werle/Jeßberger Grundfälle zum Strafanwendungsrecht (1. Teil), JuS 2001 35; Wörner Einseitiges Strafanwendungsrecht und entgrenztes Internet? ZIS 2012 458; F. Zimmermann NSPropaganda im Internet, § 86a StGB und deutsches Strafanwendungsrecht, HRRS 2015 441. Vgl. ferner vor den Vorbemerkungen zu den §§ 3 bis 7.

Entstehungsgeschichte Absatz 1 der Vorschrift geht auf § 3 Abs. 3 zurück, der durch die GeltungsbereichsVO vom 6.5.1940 (RGBl. I S. 754) in das RStGB eingefügt wurde. § 9 wurde durch das 2. StrRG vom 4.7.1969 (BGBl. I S. 717) geschaffen. Er folgt wörtlich der Fassung des § 8 E 1962. Gesetzesmaterialien E 1962 § 8 Begr. S. 113, Niederschriften der Gr. Str. Kommission Bd. 4 S. 11, 18, 20, 28 ff, 126f, 418 ff; ferner § 8 Abs. 2 AE.

I.

II.

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Übersicht Bedeutung | 1 1. Ubiquitätstheorie | 3 2. Tatort und Tatzeit | 7 Inhalt | 9 1. Handlungsort a) Begehungsdelikte | 10 b) Unterlassungsdelikte | 19 2. Erfolgsort | 21 a) Verletzungsdelikte | 24 b) Gefährdungsdelikte | 27

Versuch | 36 Erfolgsqualifikationen und Delikte mit objektiver Bedingung der Strafbarkeit | 37 e) Delikte mit überschießender Innentendenz | 39 f) Transitdelikte | 40 Begehungsorte der Teilnahme | 42 a) Anstiftung und Beihilfe | 43 b) Versuch der Beteiligung | 44 c) d)

3.

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§ 9 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

III.

c) Anschlussdelikte | 45 d) Bezugsdelikte | 46 4. Akzessorietät der Teilnahme und Auslandstat | 47 Besonderheiten bei grenzüberschreitenden Distanzdelikten | 54 1. Rechtliche Bewertungseinheit (tatbestandliche Handlungseinheit) | 65 2. Sammelstraftaten | 67 3. Versuch | 68 4. Mittäterschaft | 69 5. Teilnahme | 70

IV.

V.

VI.

Besonderheiten bei Straftaten im Internet | 73 1. Handlungsort | 77 2. Erfolgsort | 86 Begehungsort und innere Tatseite 1. Rechtsnatur der Tatortregeln | 105 2. Bedeutung der Gesetzeskonkurrenz für den Tatort | 106 Prozessuales 1. Prozessuale Tateinheit bei Tatortmehrheit | 108 2. Opportunitätsprinzip | 109

I. Bedeutung 1 2

§ 9 regelt die Frage, wie der Begehungsort einer Tat rechtlich zu bestimmen ist.1 Mit der Festlegung des Begehungsortes verbindet sich eine zentrale Weichenstellung des Strafanwendungsrechts. Materiellrechtlich entscheidet die Lokalisierung der Tat im Inland (§ 3 Rdn. 24 ff) oder im Ausland (§ 5 Rdn. 41 ff) darüber, ob für die Frage der Geltung des deutschen Strafrechts § 3 oder aber §§ 4 bis 7 maßgeblich sind (vgl. auch Vor § 3 Rdn. 341 ff). Prozessual hängt davon ab, ob die Tat dem Verfolgungs- und Anklagezwang unterliegt (§ 152 Abs. 2 StPO) oder ob das Opportunitätsprinzip gilt (§ 153c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO; dazu Vor § 3 Rdn. 369 ff). Die Vorschrift ist ferner für den Gerichtsstand (§ 7 StPO) maßgebend.

1. Ubiquitätstheorie. § 9 folgt der Ubiquitätstheorie.2 Diese ist eine Synthese zweier in der Rechtsprechung3 entwickelter Theorien („Tätigkeitstheorie“ und „Erfolgstheorie“), die jeweils für sich keine befriedigenden Ergebnisse lieferten.4 Maßgebend sind nach § 9 nicht nur die Orte, an denen der Tatbeteiligte gehandelt hat (Handlungsorte), sondern auch die Orte, an denen der zum Tatbestand gehörende Erfolg eingetreten ist oder eintreten sollte (Erfolgsorte). Fallen Handlungs- und Erfolgsort räumlich auseinander (Distanzdelikt), hat die Tat mehrere Tatorte. Begründen lässt sich dieser denkbar weite Begriff des Begehungsortes damit, dass die Handlung als Verwirklichung des Tatvorsatzes und der Erfolg (als Beeinträchtigung des geschützten Rechtsgutes) eine Einheit bilden, die nicht ohne weiteres getrennt werden kann.5 Völkerrechtlich ist die Ubiquitätstheorie unbestritten (Vor § 3 Rdn. 242).6 Auf den Ort, an dem die Tat entdeckt oder Kenntnis von ihr erlangt wird, kommt es nicht an. In Ergänzung des § 3 Abs. 3 a.F. und in Anlehnung an die frühere Rechtsprechung7 4 regelt § 9 ausdrücklich auch den Begehungsort der Teilnahme (näher Rdn. 42 ff). Für den Teilnehmer kommen über die Begehungsorte der Haupttat hinaus als weitere Begehungsorte die Orte hinzu, an denen er gehandelt hat oder hätte handeln müssen, sowie der Ort, an dem seiner Vorstellung nach die Tat begangen werden sollte (Abs. 2 Satz 1). 3

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Zum Begriff der Begehung umfassend Lampe GA 2009 673. Vgl. zur Entwicklung der Vorschrift Oehler Rdn. 246 ff. RGSt 67 130, 138. BGHSt 44 52, 56; Hoyer SK Rdn. 2; Oehler Rdn. 241 ff. Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 3. Vgl. nur BGHSt 44 52, 56; de lege ferenda einschränkend Deiters ZRP 2003 359, 361. RG JW 1936 2655.

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Durch die Umsetzung der Ubiquitätstheorie bewirkt die Vorschrift eine erhebliche 5 Ausdehnung der deutschen Strafgewalt und des Geltungsbereichs des deutschen Strafrechts.8 Durch den weiten Begriff des Begehungsortes wird das deutsche Strafrecht über die §§ 4 bis 7 hinaus unter dem Gesichtspunkt des Gebietsgrundsatzes auf weitere Taten erstreckt, die auch einen räumlichen Bezug zum Ausland aufweisen. Solche grenzüberschreitenden Distanzdelikte werfen besondere Schwierigkeiten auf (Rdn. 54 ff). Zu beachten ist, dass § 9 für bestimmte Staatsschutzdelikte, nämlich für die Fort- 6 führung einer für verfassungswidrig erklärten Partei (§ 84), für den Verstoß gegen ein Vereinigungsverbot (§ 85) und für die Agententätigkeit zu Sabotagezwecken (§ 87), durch § 91a verdrängt wird. Solche Taten gelten als nur dort begangen, wo der Täter die tatbestandsmäßige Tätigkeit ausgeübt hat.9 Dagegen gilt die Ubiquitätstheorie auch im Ordnungswidrigkeitenrecht (§ 7 OWiG). 2. Tatort und Tatzeit. Die Vorschriften des § 8 über die Tatzeit und des § 9 über den 7 Tatort sind auf den ersten Blick schwer miteinander in Einklang zu bringen. Nach menschlicher Erfahrung sollte man annehmen, dass eine Tat mit Zeit und Raum untrennbar verbunden ist, ein Tatgeschehen also weder zu einer bestimmten Zeit ohne Tatort noch an einem bestimmten Ort außerhalb der Tatzeit stattfinden kann. Das Gesetz geht in den §§ 8 und 9 aber davon aus, dass sich ein und dieselbe Tat an einem Ort (Erfolgsort, § 9) im Rechtssinne vollenden kann, ohne notwendigerweise zu dieser Zeit auch im Sinne des § 8 begangen zu werden. Für diese nach dem ersten Eindruck unstimmige Regelung hat der Gesetzgeber indes 8 gute sachliche Gründe. Die Regelung des § 9 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1, nach der Tatort auch der Ort des tatsächlichen oder vorgestellten Erfolgseintritts ist, entspricht natürlicher Betrachtung und ist jedenfalls nicht willkürlich. Soweit die Vorschrift des § 8 bei der Bestimmung der Tatzeit hiervon abweicht, soll sie ersichtlich Erweiterungen und Verschärfungen der Strafbarkeit entgegenwirken, die sich ergeben könnten, wenn man den Begriff der Tatzeit im Einklang mit § 9 definierte (vgl. § 8 Rdn. 4). Diese Gesamtregelung hält sich im Rahmen gesetzgeberischen Ermessens. II. Inhalt Begehungsorte sind nach § 9 der Handlungsort (Rdn. 10 ff) und der Erfolgsort 9 (Rdn. 21 ff); für den Teilnehmer zusätzlich der Ort der Teilnahmehandlung sowie der Ort, an dem nach seiner Vorstellung die (Haupt-) Tat begangen werden sollte (Rdn. 42 ff). 1. Handlungsort a) Begehungsdelikte. Handlungsort (Abs. 1 erste Alternative) ist jeder Ort, an dem 10 der Täter eine auf die Tatbestandsverwirklichung gerichtete Tätigkeit entfaltet oder versucht.10 Es sind daher mehrere Handlungsorte möglich, wenn mehrere Tätigkeitsakte vorliegen (RGSt 50 218, 221), zum Beispiel bei rechtlichen Bewertungseinheiten, insbesondere bei tatbestandlichen Handlungseinheiten, die eine Vielzahl von natürlichen Handlungen zusammenfassen (so auch OLG Koblenz Beschl. v. 6.12.2010 – 2 Ws 480/10);

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8 Vgl. auch Oehler Rdn. 252; Schroeder NJW 1976 490. 9 Bedenken gegen diese Regelung bei Lüttger JR 1969 129; vgl. auch Oehler Rdn. 252 Fn. 39. 10 BGHSt 34 101, 106; BGH NJW 1975 1610, 1611 = NJW 1976 490 m. abl. Anm. Schroeder; RGSt 30 98, 99 f.

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früher (vgl. BGHSt 40 138) war dies insbesondere bei sog. Fortsetzungstaten von Bedeutung (siehe auch Rdn. 65).11 Vorbereitungshandlungen, soweit sie nicht selbstständige Tatbestände sind, begründen keinen Handlungsort, es sei denn, sie sind mittäterschaftliche Tatanteile, die anderen Tatbeteiligten zugerechnet werden (Rdn. 13).12 Entsprechendes gilt für nicht tatbestandsmäßige Handlungen, die über die Vollendung hinaus reichen, aber mit zur Tatbeendigung gehören. Sie begründen keinen Handlungsort, auch wenn sie noch zur Begehung des Delikts zählen, solange durch sie der Angriff auf das betroffene Rechtsgut andauert oder gar intensiviert und nicht lediglich eine Verdeckung der Tat bezweckt wird (OLG Düsseldorf MDR 1988 515).13 Alle Mittäter handeln im Inland, wenn nur einer von ihnen dort tätig wird.14 Dem mittelbaren Täter wird die Handlung des Tatwerkzeugs zugerechnet. Sein Handlungsort ist also sowohl der Ort des eigenen Tätigwerdens als auch der, an dem der Tatmittler handelt und die tatbestandsmäßigen Wirkungen herbeiführt (BGH wistra 1991 135).15 Anders als im Zusammenhang mit § 8 (Gribbohm LK11 § 8 Rdn. 7; vgl. aber auch § 8 Rdn. 9 f) scheiden Bedenken gegen eine Berücksichtigung des Wirkens des Tatmittlers hier von vornherein aus, weil § 9 bei der Festlegung des Tatorts – anders als § 8 bei der Festlegung der Tatzeit – nicht ausschließlich auf das Tun (oder Unterlassen) des Täters oder Teilnehmers abstellt, sondern auf die ganze Tat unter Einschluss auch des Taterfolgs. Insofern kommt es hier nicht darauf an, ob das Verhalten des Tatmittlers der Handlungs- oder der Erfolgsseite der Tat zugeordnet wird. Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 9 Abs. 1 kommt es für den Tatort der Haupttat nicht darauf an, wo ein Teilnehmer gehandelt hat.16 Die Regelung des § 9 Abs. 2 Satz 1, wonach der Ort der Haupttat (immer) auch Ort der Teilnahme ist (Rdn. 42), lässt sich also nicht im umgekehrten Sinne anwenden. Das ergibt sich auch aus dem Sinn und Zweck des § 9 Abs. 2 Satz 1, dessen Regelung der folgende, von der Rechtsprechung entwickelte und nur für die Teilnahme, nicht aber für die Haupttat zutreffende Gedanke zu Grunde liegt: Da die Beihilfe in einer Förderung der Haupttat bestehe, führe der Grundsatz, dass der Begehungsort einer strafbaren Handlung auch dort liege, wo ihr Erfolg eintritt, notwendigerweise dazu, den Begehungsort der Haupttat zugleich als solchen für die Beihilfe anzusehen (RGSt 74 55, 60). Das ist richtig und gilt auch für die Anstiftung. Nicht aber ist danach umgekehrt der Tatort der Teilnahme stets auch Tatort der Haupttat. Die Teilnahme lässt sich nicht, selbst nicht im weitesten Sinne, als „Taterfolg“ der Haupttat bezeichnen. Zur Regelung des § 8 besteht kein innerer Widerspruch; dies schon deshalb nicht, weil diese Vorschrift es aus rechtlich beachtlichen Gründen untersagt, bei der Bestimmung der Tatzeit den Erfolgseintritt überhaupt zu berücksichtigen (§ 8 Rdn. 3). Überdies

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11 RGSt 50 423, 425; 49 421, 425 ff. 12 BGH wistra 2011 335, 336; NStZ-RR 2009 197; BGHSt 39 88, 90 f = JR 1993 291 m. Anm. Küpper; RGSt 57 144, 145; OLG Koblenz Beschl v 16.8.2011 – 1 Ws 427/11 – Rdn. 7 ; OLG Karlsruhe NStZ-RR 1998 314; OLG Stuttgart NJW 1993 1406 m. Anm. Lampe; vgl. auch LG Regensburg Urt. v. 23.4.13 Rdn. 124 – 4 Ns 102 Js 1410/09; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 2; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 4; Fischer Rdn. 3. 13 Vgl. aber BGH NStZ 1997 286. 14 BGHSt 39 88, 90; BGH NJW 1999 2683, 2684; NStZ 1997 286; NStZ 1996 502; Ambos MK Rdn. 10; Satzger § 5 Rdn. 19; aA Hoyer SK Rdn. 5; Oehler Rdn. 361; krit. im Zusammenhang mit grenzüberschreitender Stammzellenforschung Valerius NStZ 2008 121, 123. 15 RGSt 67 130, 138; 23 155, 156 f; 13 337, 339 f; 10 420, 422 f; RG GA 56 (1909) 88; Böse NK Rdn. 5; aA Hoyer SK Rdn. 5. 16 Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 11.

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hat bei der für den Haupttäter maßgebenden Tatzeit auch das Handeln der Teilnehmer außer Betracht zu bleiben (§ 8 Rdn. 20). b) Unterlassungsdelikte. Bei ihnen ist Handlungsort der Ort, an dem der Täter 19 „hätte handeln müssen“ (Abs. 1 zweite Alternative). Begehungsorte in diesem Sinne sind also die Orte, an denen sich der Unterlassende während der Dauer seiner Handlung oder Erfolgsabwendungspflicht aufhält (Aufenthaltsort) und gebotsentsprechend handeln kann und muss,17 ferner die Orte, an die er sich hätte begeben können und müssen, um zu handeln (Orte einer gebotenen Handlung).18 Für den Fall, dass der Aufenthaltsort des Täters und der Ort einer gebotenen Hand- 20 lung auseinanderfallen, wird im Schrifttum zum Teil angenommen, dass maßgeblicher Begehungsort nur der Aufenthaltsort sei (so Hoyer SK Rdn. 4). Dieser Annahme ist zu widersprechen, weil der Ort, an dem der Täter die Pflicht zu handeln mit tatbestandsausschließender Wirkung direkt erfüllen kann, sich durch größere Tatnähe auszeichnet als der ihm im Geschehensablauf zeitlich vorgelagerte Aufenthaltsort. Auch ist die Annahme einer Tatortmehrheit dem Strafrecht durchaus geläufig (Rdn. 3). Im Einzelfall mag sogar zu erwägen sein, ob bei solcher Fallgestaltung der Aufenthaltsort für die Tatortbestimmung außer Betracht zu bleiben hat, weil er rechtlich noch dem Vorbereitungsstadium der Unterlassungstat zuzuordnen ist.19 2. Erfolgsort. Soweit Begehungsort der Ort des Eintritts eines tatbestandlich voraus- 21 gesetzten Erfolges ist, gelten für Begehungs- und Unterlassungsdelikte dieselben Regeln. Genauer als das bis 1975 geltende Recht spricht das Gesetz bei der Definition des Er- 22 folgsorts nicht bloß vom Eintreten des „Erfolg[es]“ (§ 3 Abs. 3 a.F.), sondern, der Auslegung der Rechtsprechung folgend (BGHSt 20 45, 51),20 von dem „zum Tatbestand gehörenden Erfolg“. Damit ist klargestellt, dass solche Tatwirkungen nicht tatortbegründend sind, die für die Verwirklichung des Tatbestands nicht oder nicht mehr erheblich sind und somit aus der Deliktsbeschreibung herausfallen. Dies betrifft etwa bei der Hehlerei eine zusätzliche Beeinträchtigung der Vermögensinteressen des von der Vortat betroffenen Eigentümers (KG NJW 2006 3016; OLG München StV 1991 504, 505)21 oder bei der Unterschlagung das Unterlassen einer geschuldeten Rückgabe nach Zueignung im Ausland (AG Bremen NStZ-RR 2005 87) oder den Eintritt eines Schadens (OLG Köln NStZ-RR 2009, 84). Bei der Untreue ist die Vornahme weiterer Verfügungen über den veruntreuten Betrag nach einem bereits eingetretenen Vermögensnachteil ebenfalls nicht erfolgsortbegründend (BGH NStZ-RR 2007 48, 50; OLG Celle Beschl. v. 5.6.2007 – 1 Ws 191193/07). Erfolgsort kann dagegen auch der Ort sein, an dem ein sog. Zwischenerfolg eintritt, etwa Irrtum und Verfügung beim Betrug.22 Die Frage, ob und wo die Tat einen Erfolgsort hat, ist je nach Deliktstyp unterschied- 23 lich zu beantworten:

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17 Vgl. LG Frankfurt NJW 1977 508, 509. 18 BVerfG NStZ-RR 2017 55, 56; Ambos MK Rdn. 14; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 5; Oehler Rdn. 256; enger Satzger § 5 Rdn. 15 f. 19 Diff. Rotsch ZIS 2010 168, 172, siehe dort auch für den Handlungsort im Falle mittäterschaftlichen Unterlassens. 20 RGSt 67 130, 138; 48 138, 140; 15 232, 233 ff; BayObLG NJW 1957 1327, 1328; OLG Köln NJW 1968 954; vgl. auch Endemann NJW 1966 2381. 21 Ambos MK Rdn. 16; aA für Eintritt des Vermögensschadens beim Betrug Jescheck/Weigend § 18 IV 2. b). 22 BGH Urt v 3.3.16 – 4 StR 496/15 – Rdn. 19 f; Beschl v 11.9.12 – 1 StR 154/12 –.

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a) Verletzungsdelikte. Nach allgemeiner Ansicht ist ein Verletzungsdelikt dort begangen, wo der Verletzungserfolg eingetreten ist.23 Bei bestimmten Delikten kann sich ergeben, dass der Verletzungserfolg notwendi25 gerweise und stets im Inland eintritt. So liegt etwa der Erfolgsort der Strafvereitelung (§ 258) stets im Inland, mit der Folge, dass die Strafvereitelung stets Inlandstat ist, für die das deutsche Strafrecht gilt (§§ 3, 9), selbst wenn der Täter die Ausführungshandlung allein im Ausland vornimmt (BGHSt 44 52, 56; vgl. auch BGHSt 45 97, 100); dabei soll es nach Ansicht des BGH unerheblich sein, dass der Gesetzgeber solche Taten der Strafvereitelung nicht ausdrücklich dem Schutzbereich des deutschen Rechts, etwa in § 5, unterstellt hat. Das KG (JR 1993 388) hat die Auffassung vertreten, § 201 sei gemäß Art. 315 Abs. 4 26 EGStGB auf die Überwachung von Telefongesprächen anwendbar, bei der Telefonleitungen auf dem Boden der früheren DDR „angezapft“ und Telefongespräche zwischen Gesprächspartnern in der DDR einerseits und in der Bundesrepublik andererseits betroffen wurden. Der BGH hat die Frage offengelassen (BGHSt 40 8, 10 f), aber zu Recht darauf hingewiesen, dass (tatbestandsmäßige) Tathandlung des § 201 nicht der Vertrauensbruch ist, sondern das Abhören und Aufnehmen des nichtöffentlich gesprochenen Wortes (vgl. BGHSt 20 45, 51). Ort dieser Handlung und zugleich dieses Erfolgs war allein die DDR.

b) Gefährdungsdelikte. Einigkeit besteht auch darüber, dass ein konkretes Gefährdungsdelikt einen Erfolgsort dort hat, wo es zur konkreten Gefahr gekommen ist.24 Ob auch abstrakte Gefährdungsdelikte, also solche (u.U. schlichten Tätigkeits-)25 28 Delikte, die keinen Gefahrenerfolg voraussetzen, einen Erfolgsort begründen können, wird unterschiedlich beurteilt. Praktische Bedeutung hat die Frage vor allem im Zusammenhang mit (grenzüberschreitenden) Umweltstraftaten,26 Sportwetten und Glücksspiel sowie mit Äußerungsdelikten und der Verbreitung von Pornografie im Internet (hierzu Rdn. 73 ff). Für den Sonderfall27 der sog. abstrakt-konkreten Gefährdungsdelikte28 hat die 29 Rechtsprechung (BGHSt 46 212 zu § 130;29 LG Regensburg Urteil v. 23.9.2013 – 4 Ns 102 Js 1410/09) zunächst die Auffassung vertreten, der Erfolgsort sei dort, „wo die konkrete Tat ihre Gefährlichkeit im Hinblick auf das im Tatbestand umschriebene Rechtsgut entfalten kann“30 (zust. für § 187 ThürOLG OLGSt 37 Nr. 3 zu § 9 StGB; aA, soweit es um die bloße Möglichkeit der Kenntnisnahme einer verleumderischen Äußerung im Internet geht, LG Stuttgart MMR 2015 347). Bei § 130 liege der zum Tatbestand gehörende Erfolg in der „Eignung zur Gefährdung des öffentlichen Friedens in Deutschland“. Konkret hat27

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23 BayObLG NJW 1957 1327, 1328; OLG Köln NJW 1968 954; Ambos MK Rdn. 27; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 2; Oehler Rdn. 257; Fischer Rdn. 4 f. 24 BGH NJW 1991 2498; Ambos MK Rdn. 19; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 2; Fischer Rdn. 4d. 25 Zur Einordnung des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln als reinem Tätigkeitsdelikt ohne Erfolgsort vgl. BGH Beschl v 31.3.2011 – 3 StR 400/10 – Rdn. 24 . 26 Hierzu Günther-Nicolay S. 371 ff; Hecker ZStW 115 (2003) 885 ff; Martin S. 110 ff. 27 Hierzu BGH NJW 1999 2129. 28 Zum Begriff Walter Vor § 13 Rdn. 66. 29 Dazu Heghmanns JA 2001 276; Hörnle NStZ 2001 309; Jeßberger JR 2001 432; Klengel CR 2001 243; Koch JuS 2002 123; Kudlich StV 2001 397; Lagodny JZ 2001 1198; Sieber ZRP 2001 97. 30 BGHSt 46 212, 221; einschränkend dahingehend, dass nur dort ein Erfolgsort anzunehmen sei, wo sich eine konkrete Gefahr für das im Tatbestand umschriebene Rechtsgut tatsächlich entfaltet hat und nicht dort, wo sich diese entfalten könne, Morozinis GA 2011 475, 481.

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te der BGH einen Erfolgsort in Deutschland im Fall der Errichtung einer Internetseite volksverhetzenden Inhalts von Australien aus angenommen. Dieser Auffassung ist der 3. Strafsenat in einer jüngeren Entscheidung entgegengetreten und hat ausgeführt, dass die Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens gerade keinen zum Tatbestand gehörenden Erfolg umschreibe und daher eine Inlandstat über § 9 Abs. 1 dritte und vierte Alternative nicht begründet werden könne. Unabhängig von der Frage, ob die Regelung nicht nur auf Erfolgsdelikte im Sinne der allgemeinen Deliktslehre abstelle, sei „jedenfalls an dem Ort, an dem […] die hervorgerufene abstrakte Gefahr in eine konkrete lediglich umschlagen kann, kein zum Tatbestand gehörender Erfolg eingetreten“; erforderlich sei vielmehr „eine von der tatbestandsmäßigen Handlung räumlich und/oder zeitlich abtrennbare Außenweltveränderung“ (BGH NStZ 2017 146, 147; zust. OLG Hamm NStZ-RR 2018 292, 293). Ob dies auch für sonstige abstrakte Gefährdungsdelikte gelten soll, also für solche, bei denen die Tathandlung nicht zur Herbeiführung einer konkreten Gefahr zumindest geeignet sein muss, hatte der BGH (BGHSt 46 212) zunächst offen gelassen.31 Nunmehr vertritt der BGH jedenfalls für das abstrakte Gefährdungsdelikt des § 86a ebenfalls die Ansicht, dass zumindest an dem Ort, an dem die hervorgerufene abstrakte Gefahr in eine konkrete Gefahr umschlägt oder umschlagen kann, kein zum Tatbestand gehörender Erfolg im Sinne des § 9 Abs. 1 eintrete und stellt auch für das abstrakte Gefährdungsdelikt auf das Erfordernis einer von der tatbestandsmäßigen Handlung räumlich und/oder zeitlich abtrennbaren Außenweltsveränderung ab.32 Entsprechendes hat der BGH zuletzt für Taten der Geldwäsche gem. § 261 festgestellt (BGH NJW 2018 2742, 2743). Im Schrifttum ist die Frage umstritten. Überwiegend wird in Übereinstimmung mit der neueren Rechtsprechung des BGH angenommen, dass es bei den abstrakten Gefährdungsdelikten keinen zum Tatbestand gehörenden Erfolg im Sinne des § 9 Abs. 1 gebe; Begehungsort eines abstrakten Gefährdungsdelikts sei allein der Ort der Handlung; wo die Gefahr, deren Vermeidung der Gesetzgeber mit der Strafvorschrift bezweckt, eintrete, sei unerheblich.33 Begründet wird dies damit, dass abstrakte Gefährdungsdelikte sich gerade dadurch auszeichneten, dass das Gesetz den tatsächlichen Eintritt einer Gefahr nicht voraussetze.34 Nach der Gegenansicht können dagegen auch abstrakte Gefährdungsdelikte einen Erfolgsort im Sinne des § 9 Abs. 1 haben; ein solcher sei überall dort anzunehmen, wo die abstrakte in eine konkrete Gefahr umschlagen könne, also im „gesamten Gefahrenkreis um die Gefahrenquelle“.35 Die Gegenansicht (Rdn. 32) ist überzeugend. Für sie spricht zunächst die Entstehungsgeschichte des § 9. Es findet sich nämlich kein Beleg für die Annahme, der Gesetzgeber habe mit der Formulierung des „zum Tatbestand gehörenden Erfolg[s]“ durch das 2. StrRG vom 4.7.1969 (BGBl. I S. 717) bezweckt, die seinerzeit herrschende Auffassung zum Begehungsort abstrakter Gefährdungsdelikte einzuschränken und den An-

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31 Krit. hierzu Heinrich FS Weber, S. 91, 98 und Koch GA 2002 708. 32 BGH NStZ 2015 81, 82 m. abl. Anm. Hecker JuS 2015 274; mit überwiegend zust. Anm. Zimmermann HRRS 2015 441. 33 So Barton/Gercke/Janssen wistra 2004 321, 323; Hilgendorf ZStW 113 (2001), 662 f; ders. NJW 1997 1876; Jakobs2 5. Abschn. Rdn. 21; Jescheck/Weigend § 18 IV 2. a); Lackner/Kühl/Heger Rdn. 2; Römer S. 126 f; Satzger NStZ 1998 115; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 6a; vgl. auch KG NJW 1999 3500, 3501 f; Bremer S. 116. 34 Hilgendorf ZStW 113 (2001) 662 f. 35 So Hecker ZStW 115 (2003) 885; ders. § 2 Rdn. 43; Heinrich GA 1999 75 f; Lehle S. 102; Martin S. 121; ders. ZRP 1992 19, 20; wohl auch Hoyer SK Rdn. 7; dagegen Ambos MK Rdn. 31; Sieber NJW 1999 2065, 2068.

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wendungsbereich des § 9 Abs. 1 auf Erfolgsdelikte zu begrenzen.36 Zum Zeitpunkt der Änderung des § 9 wurde aber ganz überwiegend angenommen, dass ein Erfolg bei abstrakten Gefährdungsdelikten an dem Ort eintrete, an dem aus einer abstrakt gefährlichen Handlung eine konkrete Gefahr entstehe.37 Zweck der Gesetzesänderung war allein die Klarstellung, dass der Eintritt des Erfolgs in enger Beziehung zum Straftatbestand zu sehen ist.38 Gestützt wird die hier vertretene Ansicht auch durch teleologische Erwägungen: Nach dem Grundgedanken des § 9 soll deutsches Strafrecht Anwendung finden, wenn es im Inland zur Schädigung eines Rechtsgutes oder zu Gefährdungen kommt, deren Vermeidung Zweck der jeweiligen Strafvorschrift ist (BGHSt 46 212, 220; 42 235, 242). Es lässt sich mit dieser Zweckbestimmung nicht vereinbaren, in den Fällen, in denen sich eine vom Tatbestand vorausgesetzte abstrakte Gefahr in einer konkreten Gefährdung oder gar einer Verletzung des Rechtsgutes im Inland niederschlägt, nur deshalb die Geltung des deutschen Strafrechts abzulehnen, weil der Gesetzgeber die Schwelle der Strafbarkeit unterhalb des Eintritts konkreter Gefahren angesetzt hat.39 Die ratio legis legt es daher nahe, das Merkmal „zum Tatbestand gehörender Erfolg“ im Sinne des § 9 losgelöst von dem Erfolgsbegriff im Sinne der allgemeinen Tatbestandslehre auszulegen (BGHSt 46 212, 220), der eine von der Handlung zeitlich und räumlich getrennte Verletzungs- oder Gefährdungswirkung erfordert.40 Der hier vertretenen Ansicht steht auch nicht der Gesetzeswortlaut entgegen.41 34 Zwar legt das Erfordernis eines „Erfolgs“ es sprachlich nahe, dass reine Tätigkeitsdelikte nicht erfasst werden sollen. Aber der Wortlaut des § 9 ist durchaus auch für die Auffassung offen, jedenfalls dort, wo die abstrakte Gefahr in eine konkrete umschlagen kann, einen Gefahrerfolg anzunehmen. Nicht durchgreifend ist auch der systematische Einwand, § 5 Nr. 10 sei auf Grundlage der hier vertretenen Ansicht überflüssig, weil bei den einschlägigen Delikten gegen die (deutsche) Rechtspflege dann stets ein Tatort im Inland begründet sei und deutsches Strafrecht mithin stets nach §§ 3, 9 gelte.42 Es ist nämlich durchaus möglich und angezeigt, § 5 Nr. 10 als Klarstellung zu begreifen. Im Übrigen behält § 5 Nr. 10 auch nach der hier vertretenen Ansicht einen eigenständigen Anwendungsbereich, indem auch Straftaten gegen die Rechtspflege erfasst werden, bei denen eine konkrete Gefahr nicht eingetreten ist. 35 Ist ein abstraktes Gefährdungsdelikt mit einer Erfolgsqualifikation verbunden (z.B. § 231 Abs. 1 Halbsatz 2), ist der Eintritt der qualifizierenden Folge Teil des Tatbestandes; damit ist auch der Ort, an dem die schwere Folge eintritt, Begehungsort im Sinne des § 9 Abs. 1 (vgl. auch Rdn. 37).43 36

c) Versuch. Ein (nur) vorgestellter Erfolg wird vornehmlich bei Versuchsakten praktisch, die nicht nur am Handlungsort, sondern auch überall dort begangen sind, wo

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36 Vgl. BTDrucks. V/4095 S. 7 i.V.m. BTDrucks. IV/650 S. 113 (§ 9 Abs. 1 „verdeutlicht das geltende Recht“); vgl. auch BGHSt 46 212, 223; Heinrich GA 1999 72, 77 m.w.N.; Sieber NJW 1999 2065, 2069; aA Cornils JZ 1999 369. 37 Vgl. etwa OLG Köln NJW 1968 954; Tröndle LK9 Vor § 3 Rdn. 51 m.w.N.; siehe ferner Heinrich GA 1999 72, 77. 38 Kielwein in Niederschriften über die Sitzung der Großen Strafrechtskommission IV, AT 38. bis 52. Sitzung 1958, S. 20. 39 So auch Heinrich GA 1999 72, 81. 40 Roxin AT I § 10 Rdn. 102. 41 So aber Koch GA 2002 707; Satzger NStZ 1998 116; Sieber NJW 1999 2065, 2068. 42 So aber Satzger § 5 Rdn. 27. 43 Satzger NStZ 1998 116.

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nach der Vorstellung des Versuchstäters tatbestandsmäßige Erfolge hätten eintreten sollen (§ 9 Abs. 1 vierte Alternative; BGHSt 44 52, 54). d) Erfolgsqualifikationen und Delikte mit objektiver Bedingung der Strafbar- 37 keit. Der „zum Tatbestand gehörende Erfolg“ (§ 9 Abs. 1) meint nicht nur Tatbestandsmerkmale im engeren Sinne, sondern auch andere im Tatbestand umschriebene, insbesondere strafschärfende Umstände,44 unabhängig davon, ob diese als Qualifikationsmerkmale oder als besonders schwere Fälle ausgestaltet sind. Auch objektive Bedingungen der Strafbarkeit sind zum Tatbestand gehörende Erfolge im Sinne des § 9, auch wenn sich der Vorsatz nicht auf sie erstrecken muss.45 So sind Tatorte eines Transportdiebstahls der Ort, an dem die Sache weggenommen 38 wird, sowie derjenige, an dem Schutzvorrichtungen (§ 243 Abs. 1 Nr. 2) gelockert oder entfernt werden. Beim Vollrausch (§ 323a) ist Tatort nicht nur der Ort des vorwerfbaren Sich-Berauschens, sondern auch der Ort der Rauschtat selbst (BGHSt 42 242).46 Nach dem Grundgedanken des § 9 soll deutsches Strafrecht – auch bei Vornahme der Tathandlung im Ausland – angewendet werden, sofern es im Inland zu einer Schädigung von Rechtsgütern oder zu Gefährdungen kommt, deren Vermeidung Zweck der Strafvorschrift ist (BGHSt 42 235, 242 f). Eine solche Gefährdung ergibt sich bei § 323a daraus, dass der Berauschte die Kontrolle über seine körperlichen und geistigen Kräfte verliert und sich oft in ihm wesensfremder Weise sozialschädlich verhält, indem er im Vollrausch eine rechtswidrige Tat begeht. Die Begriffsbildung der allgemeinen Tatbestandslehre und die Frage, was nach ihr unter dem Merkmal „zum Tatbestand gehörender Erfolg“ zu verstehen ist, ist dabei nicht maßgeblich.47 e) Delikte mit überschießender Innentendenz. Kein Tatort im Sinne des § 9 ist der 39 Ort, an dem bei Tatbeständen mit überschießender Innentendenz der erstrebte Erfolg eintritt und damit die Tat beendet wird. Keine Tatorte sind daher etwa die Orte, an denen beim Betrug (§ 263) der Vermögensvorteil tatsächlich erlangt oder bei einer falschen Verdächtigung (§ 164) das behördliche Verfahren eingeleitet wird (BayObLG NJW 1992 1248; OLG Koblenz NStZ 2011 95, 96).48 f) Transitdelikte. Dies sind Taten, bei denen das Mittel oder Werkzeug, dessen sich 40 der Täter bedient, mehrere Orte oder Rechtsgebiete durchläuft, so etwa bei Übersendung eines Sprengstoffpakets oder eines beleidigenden Briefes. Bei Transitdelikten können nach verbreiteter Meinung nur Tätigkeits- und Erfolgsorte als Tatorte in Betracht kommen, nicht jedoch die „Durchlauforte“, es sei denn, der Transit selbst begründete eine konkrete Gefährdung im Sinne eines tatbestandlichen Erfolges (Rdn. 27).49

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44 Oehler Rdn. 263. 45 BGHSt 42 235, 242; RGSt 43 83, 85; Ambos MK Rdn. 21; Oehler Rdn. 263; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 6c; Fischer Rdn. 4b; Hecker ZIS 2011 398; aA Satzger NStZ 1998 117; ders. § 5 Rdn. 27; ders. Jura 2006 111. 46 Jescheck/Weigend § 18 IV 2. b); Lackner/Kühl/Heger Rdn. 2; aA Stree JuS 1965 473 f; Schnorr von Carolsfeld FS Heinitz, S. 769. 47 BGHSt 42 235, 242. 48 Ambos MK Rdn. 20; Endemann NJW 1966 2383; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 2; Böse NK Rdn. 9; Sch/ Schröder/Eser/Weißer Rdn. 6; Fischer Rdn. 4a; aA OLG Stuttgart NJW 1974 914; Blei JA 1975 463; umstritten ist in der Rechtsprechung allerdings, ob erst der Zugang der Tatsachenbehauptung den Tatort einer falschen Verdächtigung begründet (bejahend LG Osnabrück NStZ-RR 2007 136; aA BayObLG NJW 1992 1248). 49 Ambos MK Rdn. 23; Hoyer SK Rdn. 7; Oehler Rdn. 267; Satzger § 5 Rdn. 33; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 6d.

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Die praktische Bedeutung dieser Einschränkung des Tatortbereichs dürfte aber gering sein, weil an den „Durchlauforten“ in der Regel gutgläubige Tatmittler in den Transport eingeschaltet sind, deren Tätigkeit dem (mittelbaren) Täter bei der Bestimmung des Handlungsortes zugerechnet wird (Rdn. 14).

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3. Begehungsorte der Teilnahme (§ 9 Abs. 2). Ort der Teilnahme (Anstiftung, Beihilfe) ist nicht nur der Ort, an dem die Haupttat begangen wird oder nach der Vorstellung des Täters begangen werden soll (vgl. Rdn. 36),50 sondern auch der Ort, an dem der Teilnehmer gehandelt hat oder – im Falle pflichtwidrigen Unterlassens – hätte handeln müssen (§ 9 Abs. 2). Weiterer Teilnahmeort ist der Ort, an dem die (Haupt-) Tat nach der Vorstellung des Teilnehmers begangen werden soll (Abs. 2 Satz 1 letzte Alternative). Diese weitgehende Festlegung des Begehungsortes hat insbesondere für Taten mit Auslandsberührung große Bedeutung; dies um so mehr, als § 9 Abs. 2 Satz 2 die Inlandsteilnahme an einer Auslandstat ohne Rücksicht auf das Tatortrecht dem deutschen Strafrecht unterstellt.51

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a) Anstiftung und Beihilfe. Eine Anstiftung ist demnach überall dort begangen, wo der Anstiftungsakt vorgenommen wird und wo er sich auswirkt, der Täter also seinen Tatentschluss fasst und ihn ausführt (RGSt 25 426).52 Ebenso ist die Beihilfe – außer an den Begehungsorten der Haupttat – dort begangen, wo der Gehilfe tätig wird oder im Falle des Unterlassens hätte tätig werden müssen und wo sich der Teilnahmeakt fördernd auswirkt.53

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b) Versuch der Beteiligung. Beim Versuch der Beteiligung (§ 30) ist ein Tatort dort, wo der Versuchsakt begangen wird und wo nach der Vorstellung des Teilnehmers das in Aussicht genommene Verbrechen verübt werden soll.54 Entsprechendes gilt für die Verabredung eines Verbrechens (§ 30 Abs. 2) auch, wenn das Verbrechen selbst ausgeführt wird.55 Dass die Verabredung als solche dann nicht bestraft werden kann, weil sie hinter der Ausführung der Tat zurücktritt, nimmt ihr nicht den Charakter einer tatortbegründenden Handlung. Der Umstand, dass die Verabredung nicht nur getroffen, sondern auch in die Tat umgesetzt wird, kann den einmal begründeten Tatort nicht wieder beseitigen. Die Tatausführung fügt ihm lediglich einen weiteren hinzu, nämlich den, an dem das verabredete Verbrechen begangen wird (BGH wistra 2011 335, 336; BGHSt 39 88, 89 f).56

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c) Anschlussdelikte. Die besonderen Vorschriften über den Tatort der Teilnahme (§ 9 Abs. 2) sind ohne Bedeutung für Anschlussdelikte (z.B. Begünstigung und Hehlerei) im Verhältnis zu ihren Vortaten (z.B. Diebstahl und Unterschlagung). Der Begehungsort der Folgedelikte ist selbstständig zu beurteilen.57 Wird eine Sache im Ausland gestohlen, so ist der bösgläubige Empfänger in Deutschland wegen Hehlerei strafbar (§§ 259, 3),

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50 BGHSt 20 89, 90; RGSt 56 59 f; krit. hierzu Oehler Rdn. 359. 51 Krit. hierzu Oehler Rdn. 360. 52 Satzger § 5 Rdn. 35; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 11. 53 RGSt 20 169, 170; 11 20, 23 f; RG JW 1936 2655. 54 Ambos MK Rdn. 22; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 3; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 11. 55 BGH NJW 1999 2683, 2684; jedenfalls auf den Ort abstellend, an dem nach Vorstellung des Täters der tatbestandsmäßige Erfolg eintreten soll, OLG Koblenz wistra 2012 39. 56 Umgekehrt wird auch durch eine Straftat, die als mitbestrafte Nachtat zurücktritt, ein Tatort begründet (OLG Koblenz Beschl. v. 6.12.2010 – 2 Ws 480/10). 57 Ambos MK Rdn. 18; Oehler Rdn. 264, von dem auch die nachfolgenden Beispiele stammen.

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vorausgesetzt, dass die Auslandstat nicht nur nach deutschem, sondern auch nach Tatortrecht mit Strafe bedroht ist, weil es anderenfalls an einer strafbaren Vortat fehlen würde. Die im Ausland begangene Hehlerei oder Begünstigung ist keine Inlandstat, auch wenn die Vortat in Deutschland verübt wird. d) Bezugsdelikte. Entsprechendes gilt bei Bezugsdelikten (§ 2 Rdn. 114). Wird ein 46 Mord im Ausland begangen und stirbt das Opfer dort, so liegt keine Inlandstat vor, selbst wenn die Tat geschieht, um in Deutschland „eine Straftat zu ermöglichen“ (§ 211 Abs. 2). 4. Akzessorietät der Teilnahme und Auslandstat (§ 9 Abs. 2 Satz 2). Für die im Ausland begangene Teilnahme an einer Inlandstat gelten die dargelegten Grundsätze (§ 9 Abs. 2 Satz 1). Nach § 9 Abs. 2 Satz 2 gilt, falls der Teilnehmer an einer Auslandstat im Inland gehandelt hat, für die Teilnahme das deutsche Strafrecht auch dann, wenn die im Ausland begangene (Haupt-) Tat nach dem Recht des Tatorts nicht mit Strafe bedroht ist. Die Vorschrift, deren Inhalt in der Rechtsprechung des RG schon vorweggenommen war (RG JW 1936 2655), gehört als Sondernorm sachlich (auch) zu den Bestimmungen über die strafbare Teilnahme.58 Strafbare Teilnahme ist grundsätzlich nur möglich an einer nach deutschem Recht mit Strafe bedrohten, vorsätzlich begangenen rechtswidrigen Tat eines anderen (§§ 26, 27 Abs. 1). Deren Strafbarkeit im Ausland genügt für sich allein nicht. Eine im Ausland verübte, dort mit Strafe bedrohte oder straffreie Vorsatztat kommt als taugliche Haupttat für Anstiftung und Beihilfe also prinzipiell nur in Betracht, wenn sie nach den Regeln des deutschen Strafanwendungsrechts ihrerseits dem deutschen Strafrecht unterfällt. § 9 Abs. 2 Satz 2 löst diese (limitierte) Akzessorietät der Teilnahme. Danach gilt für die Inlandsteilnahme sogar dann deutsches Recht, wenn die Auslandstat (als Haupttat) nach dem Recht des Tatorts nicht mit Strafe bedroht und deshalb auch von der Geltung des deutschen Rechts (vgl. § 7) ausgenommen ist.59 Die Strafbarkeit der Haupttat nach deutschem Recht ergibt sich in solchem Falle nicht etwa daraus, dass Tatort der Teilnahme das Inland ist (Rdn. 16). Jung (JZ 1979 325, 328) vertritt die Auffassung, § 9 Abs. 2 Satz 2 verzichte nicht auf das Akzessorietätserfordernis, sondern stelle nur klar, dass sich „die Rechtswidrigkeit der Haupttat“ nach deutschem Recht beurteile, wenn der Teilnehmer im Inland gehandelt hat.60 Gemeint ist damit anscheinend, dass auch die im Ausland begangene Haupttat für die rechtliche Bewertung der Teilnahme wie eine Inlandstat behandelt werden müsse. Gerade dies aber ist, da eine Fiktion, der Sache nach nichts anderes als ein begrenzter Verzicht auf das Erfordernis der limitierten Akzessorietät, es sei denn, man beschränkte die Anwendung des § 9 Abs. 2 Satz 2 auf Fälle, in denen die ausländische Haupttat nach deutschem Recht (§§ 4 bis 6) wirklich mit Strafe bedroht wäre. Eine solche Beschränkung ist jedoch ersichtlich nicht gewollt, weil sich unter dieser Voraussetzung die Strafbarkeit der Inlandsteilnahme schon nach den §§ 3, 26, 27 i.V.m. § 9 Abs. 2 Satz 1 ergeben würde, Satz 2 also überflüssig wäre. Hieraus (Rdn. 47 ff) ergeben sich weitere Folgerungen: Nach § 9 Abs. 2 Satz 2 gilt deutsches Strafrechts auch, wenn der Teilnehmer Ausländer ist und er sich auf deutschem Gebiet seinem Heimatrecht gemäß verhalten hat, während der ausländische

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58 Vgl. Jung JZ 1979 325, 327; Miller/Rackow ZStW 117 (2005) 379, 388. 59 Oehler Rdn. 360; vgl. auch Jung JZ 1979 325, 327; krit. Magnus NStZ 2015, 57, 62 ff; Zieher S. 39; für eine analoge Anwendung von § 23 Abs. 2 Miller/Rackow ZStW 117 (2005) 379, 405. 60 Krit. dazu Miller/Rackow ZStW 117 (2005) 379, 392.

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Haupttäter selbst bei einer Einreise nach Deutschland grundsätzlich nicht bestraft werden kann.61 Nach § 9 Abs. 2 Satz 2 ist es demnach beispielweise strafrechtlich erheblich, wenn jemand vom Inland aus einen Ausländer anstiftet, eine Doppelehe einzugehen (§ 171), obwohl solches Verhalten in dem betreffenden Lande nicht mit Strafe bedroht ist. Strafbar macht sich auch derjenige, der auf deutschem Boden dazu beiträgt, dass ein Sterbewilliger in die Niederlande verbracht wird, wo dortige Ärzte ihm im Einklang mit niederländischem Recht aktiv Sterbehilfe leisten.62 Auch im Bereich wirtschaftlicher Kooperationen ergeben sich Strafbarkeitsrisiken für die Beteiligten.63 Es liegt auf der Hand, dass der Gesetzgeber (ebenso wie der E 1962 und der AE) mit 52 der Regelung des § 9 Abs. 2 Satz 2 teilweise übers Ziel hinausgeschossen ist. Wie Hoyer (SK Rdn. 16) zutreffend hervorhebt, wurde selbst nach altem Recht unter der Herrschaft des aktiven Personalgrundsatzes (Vor § 3 Rdn. 276) auf die Inlandsteilnahme an einer Auslandstat § 3 Abs. 2 a.F. entsprechend mit der Wirkung angewandt, dass eine solche Teilnahme nicht strafbar war, wenn sie nach Tatortrecht straflos und wegen der besonderen Verhältnisse am Tatort – aus der Sicht der deutschen Rechtsordnung – kein strafwürdiges Unrecht war.64 Dieser Weg ist nach dem Wegfall des § 3 Abs. 2 a.F. versperrt. Nunmehr kann in Fällen einer Inlandsteilnahme an einer am ausländischen Tatort nicht mit Strafe bedrohten Tat nur verfahrensrechtlich geholfen werden (§ 153c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO). Kritisch zur Regelung des § 9 Abs. 2 Satz 2 auch Lemke NK2 Rdn. 28 f. Die Regelung des § 9 Abs. 2 Satz 2 ist wohl nur verständlich im Hinblick darauf, dass 53 die Grenzen zwischen Mittäterschaft und Teilnahme fließend sind, und ein im Inland handelnder Mittäter wegen seiner Mitwirkung an der am ausländischen Tatort straflosen Auslandstat zweifellos dem deutschen Strafrecht unterworfen wäre.65 Bedenken gegen die Gültigkeit der Norm bestehen ungeachtet der berechtigten kriminalpolitischen Kritik (Rdn. 52) aber nicht, auch nicht unter den völkerrechtlichen Gesichtspunkten der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des Auslands und des Willkürverbots. Denn es geht – auf der Grundlage des unangefochtenen Territorialitätsprinzips (Vor § 3 Rdn. 241 f) – um die Strafbarkeit von Inlandstaten, eben einer im Inland begangenen Teilnahme. III. Besonderheiten bei grenzüberschreitenden Distanzdelikten Die Festlegung des Begehungsortes auf Grundlage der Ubiquitätstheorie (Rdn. 3) kann zur Folge haben, dass von mehreren Begehungsorten einer im Inland, ein anderer im Ausland liegt. Bei solchen grenzüberschreitenden Distanzdelikten gilt das Folgende: Bei Straftaten mit Auslandsbezug ist zunächst festzustellen, ob nicht (auch) ein in55 ländischer Tatort gegeben ist und damit eine Inlandstat vorliegt. Die gleiche Tat kann sowohl Inlands- als auch Auslandstat sein (Ambos MK Rdn. 42). Ist im Inland ein Handlungsteil begangen oder ein (Teil-)Erfolg eingetreten oder beabsichtigt, so wird dadurch die Tat in jeder Hinsicht zur Inlandstat im Sinne des § 3. Die gesetzliche Regelung des Strafanwendungsrechts lässt nach den verwendeten Formulierungen nirgends erkennen, dass der Gesetzgeber die Möglichkeit eröffnen wollte, eine Tat, die teils im Inland, teils im Ausland begangen worden ist, rechtlich nur zum Teil dem deutschen Recht zu unterwerfen.

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Oehler Rdn. 360. Vgl. Magnus NStZ 2015, 57, 62 f sowie Miller/Rackow ZStW 117 (2005) 379, 390 mit weiteren Beispielen. Siehe hierzu umfassend Knaup S. 89 ff. Vgl. Oehler FS Mezger, S. 101 ff; Schröder ZStW 61 (1942) 116. Oehler Rdn. 361; vgl. auch Ambos MK Rdn. 41; Miller/Rackow ZStW 117 (2005) 379, 394.

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Die sachlichrechtliche Einheit der Handlung allein erzwingt dieses Ergebnis allerdings wohl nicht. Denn immerhin wäre es vorstellbar, die Gesamthandlung für die rechtliche Beurteilung prozessual aufzuspalten. So wäre es theoretisch denkbar, eine Inlandshandlung nur als Versuch zu bestrafen mit der Begründung, der im Ausland eingetretene Taterfolg dürfe dem Täter verfahrensrechtlich nicht zugerechnet werden. Doch kommt es hierauf nicht an, weil die §§ 3 ff nach wohl einhelliger Meinung stets die Tat als Ganzes betreffen. Die Tatsache, dass eine Tat (wenn auch nur) zum Teil im Inland begangen worden ist, bietet aus völkerrechtlicher Sicht (Vor § 3 Rdn. 242) eine hinreichende Grundlage dafür, sie unter dem Gesichtspunkt des Territorialitätsprinzips insgesamt dem deutschen Strafrecht zu unterstellen. Die Behandlung grenzüberschreitender Distanzdelikte lässt sich an den folgenden Beispielen verdeutlichen: Wer vom Ausland ins Inland schießt und den Gegner so schwer verletzt, dass er im Inland stirbt, hat eine Inlandstat begangen (vgl. BGHSt 40 48, 51 = NStZ 1994 330 mit abl. Anm. Jakobs; RGSt 11 22). Desgleichen, wer vom Ausland her verbotene Schriften verbreitet (RG GA 56 (1909) 88), wer von dort einen Erpresserbrief ins Inland schickt oder umgekehrt (RGSt 30 98, 99) und wer vom Inland aus einem ausländischen Opfer ein betrügerisches Angebot macht (vgl. RG HRR 1939 397). Deutsches Umweltstrafrecht kann nach den §§ 3, 9 bereits eingreifen, wenn eine im Ausland vorgenommene Handlung im Inland lediglich zu Gefährdungen führt, soweit sie einen tatbestandsmäßigen Erfolg bilden (vgl. auch Rdn. 28).66 Eine Auslandstat ist dagegen anzunehmen, wenn der ins Inland fallende Teil des Tatgeschehens nicht (mehr) zum Straftatbestand gehört. Ein im Ausland begangener Betrug wird nicht allein dadurch zur Inlandstat, dass der Täter den erstrebten Vorteil erst im Inland tatsächlich erlangt (Rdn. 22). Auch werden Veruntreuungen, die ein Verkaufsleiter einer ausländischen Tochtergesellschaft zu deren Nachteil im Rahmen seiner Auslandstätigkeit begeht, bei internationaler Verflechtung verschiedener Unternehmen nicht schon dadurch zu einer Inlandstat, dass sich die Verfehlungen bei wirtschaftlicher Betrachtung (mittelbar) auch zum Nachteil der im Inland ansässigen deutschen Muttergesellschaft auswirken, welche alle Anteile der Tochtergesellschaft hält und den Verlust trägt (vgl. OLG Koblenz wistra 1984 79, 80; Achenbach NStZ 1988 97). Der Schaden der Muttergesellschaft ist jedenfalls dann kein zum Tatbestand des § 266 gehörender Erfolg im Sinne des § 9, wenn der Verkaufsleiter nur zur rechtlich selbständigen Tochterfirma in einem Treueverhältnis steht (OLG Frankfurt NJW 1989 675, 676; Achenbach NStZ 1991 409, 410). Zur Frage des Begehungsortes von Taten, die mittels des Internet begangen werden, eingehend Rdn. 73 ff. Die Einordnung grenzüberschreitender Distanzdelikte als Inlandstaten nach den dargestellten Grundsätzen kann im Einzelfall fragwürdig sein. Dies zeigt sich vor allem dann, wenn die Staatsgrenze zugleich Strafbarkeitsgrenze ist, das strafbare Verhalten des „Täters“ also beispielsweise am ausländischen Handlungsort anders, nämlich als straflos, bewertet wird als am inländischen Erfolgsort. Vorgeschlagen wird in diesem Zusammenhang in Anlehnung an den Rechtsgedanken von § 3 Abs. 2 a.F., auf die Geltung des deutschen Strafrechts zu verzichten, wenn es am Ort des Erfolges oder der Haupttat wegen der dortigen besonderen Verhältnisse an einem strafwürdigen Unrecht fehle (Jakobs 5. Abschn. Rdn. 22).

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Gegen eine solche materiellrechtliche Lösung spricht indes, dass der Gesetzgeber durch die Formulierung von § 9 gerade zum Ausdruck gebracht hat, an der Regelung des § 3 Abs. 2 a.F. insoweit nicht mehr festhalten zu wollen. Hinzu kommt, dass die Staatsanwaltschaft nach § 153c Abs. 3 StPO von der Verfolgung einer Inlandstat, die vom Ausland aus verübt wurde, absehen kann, wenn der Verfolgung überwiegende öffentliche Interessen entgegenstehen (näher Rdn. 109 ff; Vor § 3 Rdn. 374). Hier bietet sich der Praxis ein ausreichender Ansatzpunkt, um problematische Ergebnisse verfahrensrechtlich zu korrigieren. Soweit Oehler (Rdn. 254) versucht, den Tatortbegriff bei Distanzdelikten mit der 64 subjektiven Tatseite zu verknüpfen, ist ihm nicht zu folgen. Seine Ausführungen unterscheiden in der Argumentation nicht deutlich zwischen dem von ihm aufgestellten Erfordernis einerseits, dass der Täter beim Territorialitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 241 f) die sein Handeln erfassende Norm (§ 9 Abs. 1) erkennen können müsse, und der Frage andererseits, ob sich der Vorsatz oder jedenfalls eine Tatfahrlässigkeit bei Distanzdelikten auch auf den Ort des Erfolgseintritts beziehen müsse, damit in diesem Bereich schuldunabhängiger Zufall bei der Bestimmung des Tatorts nach Möglichkeit ausscheide. 1. Rechtliche Bewertungseinheit (tatbestandliche Handlungseinheit). Bei mehraktigen Delikten, Dauerdelikten und sonstigen tatbestandlichen Handlungseinheiten, die mehrere natürliche Handlungen zu einer rechtlichen Bewertungseinheit zusammenfassen,67 wird ein Begehungsort am Ort jedes Teilakts begründet. So ist beim unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln eine Inlandstat an66 zunehmen, wenn nur ein Teilakt, z.B. der auf Absatz gerichtete Transport von Betäubungsmitteln,68 im Inland begangen ist (BGH NStZ 1986 415).69 Wer das Opfer im Ausland seiner Freiheit beraubt (§ 239) und die Freiheitsberaubung über die Grenze hinweg im Inland fortführt oder wer bei einer Vergewaltigung (§ 177) Gewalt im Inland anwendet, nach dem Grenzübertritt aufrechterhält und im Ausland den Geschlechtsverkehr vollzieht, begeht eine Inlandstat.70 Ebenso, wer eine Straftat im Ausland verübt, wenn lediglich eine objektive Bedingung der Strafbarkeit im Inland eintritt (Rdn. 37). Schließlich genügt es bei Dauerdelikten, dass der durch die fortdauernde Handlung bewirkte tatbestandlich vorausgesetzte Erfolg nur während eines Teils der Tatzeit im Inland eintritt.71 Ein Vater, der sein Kind im Ausland durch eine Unterlassungstat umkommen lässt, begeht allerdings nicht schon deswegen eine Inlandstat, weil seine Garanten- und Fürsorgepflicht nach deutschem Recht entstanden ist (Oehler Rdn. 256). 65

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2. Sammelstraftaten. Darunter versteht man gewerbs-, geschäfts- und gewohnheitsmäßig begangene Delikte. Sie werden seit RGSt 72 164 jeweils als Folge selbständiger Taten aufgefasst. Die Tatorte der einzelnen Akte eines solchen Kollektivdelikts liegen nur dort, wo sie jeweils begangen sind (vgl. auch Satzger § 5 Rdn. 22). Wer etwa in Deutschland und Österreich gewerbs- oder gewohnheitsmäßig wildert (§ 292 Abs. 2 Nr. 1), in Deutschland aber lediglich eine einzelne Tat begangen hat, kann wegen der in Österreich verübten Taten nur insoweit nach deutschem Strafrecht verurteilt werden, wenn das deutsche Strafrecht nach § 7 gilt (Oehler Rdn. 266).

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Näher die Erläuterungen Vor § 3 52 ff. BGH NStZ 2016 414, 415; NStZ 2007, 287. RGSt 71 286, 288; 50 423, 425; Oehler Rdn. 262. Oehler Rdn. 262; vgl. auch Satzger § 5 Rdn. 21; aA Schnorr von Carolsfeld FS Heinitz, S. 769. BGH Urteil v. 22.1.2015 – 3 StR 410/14.

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3. Versuch. Eine Inlandstat liegt vor, wenn jemand im Ausland einen Versuch be- 68 geht, dessen tatbestandsmäßiger Erfolg im Inland eintreten soll.72 Um eine Inlandstat handelt es sich auch, wenn der Versuch im Inland unternommen wird, der tatbestandsmäßige Erfolg indessen im Ausland eintritt.73 4. Mittäterschaft. Für alle Mittäter ist ein Tatort im Inland begründet, wenn nur ei- 69 ner von ihnen dort tätig wird (RGSt 57 144, 145). Das ergibt sich ohne weiteres aus der wechselseitigen Zurechnung aller Handlungsteile bei Mittäterschaft.74 5. Teilnahme. Zu erörtern sind hier nur Fälle des § 9 Abs. 2 Satz 1. Bei Satz 2 geht es 70 im Wesentlichen nicht um Tatortkonkurrenz, sondern um Fragen, die sich aus der Aufhebung der Akzessorietät der Teilnahme ergeben (Rdn. 49 ff). Liegt die Tätigkeit eines Gehilfen dem ganzen Verlauf nach im Ausland, die Tat aber, 71 zu der er Hilfe leistete, ganz oder teilweise im Inland, so ist auch die Beihilfe im Inland begangen (Rdn. 51) und deshalb insgesamt nach deutschem Recht strafbar, selbst wenn der Gehilfe Ausländer ist (vgl. RGSt 67 130, 138). Das Gleiche gilt, wenn die Haupttat lediglich nach der Vorstellung des Gehilfen im Inland verübt werden sollte (§ 9 Abs. 2 Satz 1 letzte Alternative). Diese Regelung kann zu fragwürdigen Ergebnissen führen, wenn die Vorstellung des 72 Teilnehmers darüber, wo der Erfolg eintreten oder die Tat begangen werden soll, von der entsprechenden Vorstellung des Täters abweicht. So kann es geschehen, dass auf eine Beihilfe zu einer Tat, die im Ausland versucht oder begangen wird, allein deshalb, weil ein Teilnehmer sie in seiner Vorstellung ins Inland verlegt, das deutsche Strafrecht anwendbar wird.75 Entsprechende Ergebnisse kommen bei einem im Ausland begangenen Versuch der Beteiligung (§ 30) vor, wenn der (erfolglose) Anstifter sich die Tat, zu der er einen anderen bestimmen will, als Inlandstat vorstellt. IV. Besonderheiten bei Straftaten im Internet Die Bestimmung des Begehungsortes von Straftaten, die unter Verwendung moder- 73 ner Kommunikationsmedien, insbesondere des Internet, begangen werden, wirft neuartige Fragen auf, die bislang nicht abschließend geklärt sind.76 Typische Erscheinungsformen der Internet-Kriminalität sind neben computerspezi- 74 fischen Straftaten (z.B. §§ 202a, 263a, 303a, 303b) solche Taten, bei denen der Täter das Internet als Kommunikationsmedium zur Vermittlung krimineller Inhalte ausnutzt. Aus strafanwendungsrechtlicher Sicht bereiten vor allem solche Inhaltsdelikte besondere Schwierigkeiten (siehe Rdn. 91 ff). Beispielhaft77 seien hier genannt: Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen (§ 86), Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§ 86a), öffentliche Aufforderung zu Straftaten (§ 111), Volksverhetzung (§ 130),78 Anleitung zu Straftaten (§ 130a), Gewaltdarstellung (§ 131), Billigung von Straftaten (§ 140 Nr. 2),79 Verbreitung pornografischer Schriften (§ 184), Verbreitung kinderpornografischer Schriften (§ 184b; siehe auch § 6 Nr. 6 sowie

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Satzger § 5 Rdn. 15; dagegen Oehler Rdn. 259. Vgl. BGH NJW 1975 1611 mit Anm. Schroeder NJW 1976 490. BGH NStZ 1996 502; Rotsch ZIS 2010 168, 172; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 10; aA Oehler Rdn. 361. Gegen die gesetzliche Regelung Oehler Rdn. 359. Siehe hierzu umfassend Dombrowski S. 16 ff. Vgl. auch die Beispiele bei Marberth-Kubicki S. 107 ff und Römer S. 41 ff. Hierzu BGHSt 46 212 sowie Rdn. 100. Hierzu AG Tiergarten MMR 1998 49.

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§ 6 Rdn. 86 ff) und Beleidigung (§ 185).80 Eine praktisch relevante Erscheinungsform der Internet-Kriminalität ist ferner die unerlaubte Veranstaltung von Glücksspielen (§ 284) im Internet durch ausländische Anbieter aus dem Ausland;81 den rechtlichen und praktischen Schwierigkeiten der Verfolgung solcher Taten hat der Gesetzgeber dadurch Rechnung getragen, dass durch das 6. StrRG in § 284 Abs. 4 ausdrücklich das Werben für ein Glücksspiel unter Strafe gestellt worden ist (BTDrucks. 13/9064 S. 20 f). 75 Zentraler Bezugspunkt des Strafanwendungsrechts ist die territoriale Souveränität. Gerade diese aber wird vom Internet überspielt, denn die Überschreitung nationaler Grenzen ist für dieses Medium wesenstypisch. Über das Internet (World Wide Web) verbreitete Inhalte lassen sich weltweit – und damit auch in Deutschland – abrufen; es ist technisch nicht möglich, den Abruf auf Nutzer aus bestimmten Staatsgebieten zu beschränken.82 Damit verliert auch das Territorialitätsprinzip (Vor § 3 Rdn. 241) seinen Bezugspunkt.83 Bei Straftaten, die sich der Erfassung in territorialen Kategorien entziehen, kann das Prinzip seine Funktion, die staatlichen Macht- und Souveränitätsbereiche anhand der Reichweite der Gebietshoheit voneinander abzugrenzen, nicht mehr erfüllen. Hieraus folgt, dass auch § 9, soweit sich aus ihm ergibt, ob eine Tat als Inlandstat dem Gebietsgrundsatz (§ 3) und damit der Geltung des deutschen Strafrechts unterliegt, in Fällen der Internet-Kriminalität nicht ohne weiteres herangezogen werden kann (näher Rdn. 91 ff). Auch wenn § 9 auf die strafanwendungsrechtlichen Fragen, welche die Internet76 Kriminalität aufwirft, nicht zugeschnitten ist, so gibt es doch keinen anderen Lösungsweg als die Interpretation des § 9 anhand der üblichen Auslegungsmethoden. Ausgangspunkt der Überlegungen ist die durch § 9 vorgegebene Unterscheidung von Handlungsort und Erfolgsort. Angesichts der universellen Reichweite des Mediums Internet ist allerdings gerade hier auf eine völkerrechtskonforme Anwendung und Auslegung der Norm zu achten (siehe auch § 6 Rdn. 25 ff sowie Vor § 3 Rdn. 30). 1. Handlungsort. Lässt sich ein Handlungsort im Inland feststellen, gilt deutsches Strafrecht gemäß §§ 3, 9 Abs. 1 erste Alternative auch für Straftaten, die mittels des Internet begangen werden. Handlungsort ist jeder Ort, an dem der Täter eine auf die Tatbestandsverwirklichung gerichtete Tätigkeit entfaltet oder versucht (Rdn. 10). Daraus ergibt sich für die Frage, ob der Tatort einer Internet-Straftat in Deutschland liegt, das Folgende: 78 Wer von Deutschland aus strafbare Inhalte ins Internet stellt, handelt im Inland und begeht eine Inlandstat.84 Maßgeblich ist allein, dass der Täter in Deutschland tätig wird; ob der Täter die Daten auf einen deutschen oder ausländischen Server übermittelt, ist unerheblich. Deutsches Strafrecht gilt ferner für den Vertreter (§ 14 Abs. 1) eines Diensteanbieters (Providers), der seinen Sitz in Deutschland hat und strafbare Inhalte über das Netz verbreitet.85 Auch in diesem Fall liegt der Handlungsort in Deutschland 77

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80 BGHSt 46 212. 81 Hierzu Barton/Gercke/Janssen wistra 2004 321; Klengel/Heckler CR 2001 243; vgl. speziell zur Veranstaltung von Sportwetten Lesch wistra 2005 241. Praktisch relevant ist die Frage, ob die Tat nach deutschem Recht strafbar ist, vor allem mit Blick auf § 1 UWG und den danach bestehenden Unterlassungsanspruch gegen den regelmäßig in Deutschland ansässigen Betreiber des Servers; hierzu OLG Hamburg Kommunikation und Recht 2000 138. 82 Hoeren NJW 1998 2849, 2850. 83 Siehe hierzu auch Wörner ZIS 2012 458. 84 Conradi/Schlömer NStZ 1996 368. 85 Siehe zur Unterscheidung von „Access-Provider“, „Network-Provider“, „Host-Provider“ und „Content-Provider“ Matthies Providerhaftung für Online-Inhalte (2004), S. 30 f. Für die Frage der

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unabhängig davon, ob sich der Server, der die jeweiligen Texte oder Bilder enthält, im In- oder Ausland befindet.86 Werden die Daten dagegen vom Ausland aus ins Internet gestellt, wird ein Handlungsort in Deutschland grundsätzlich nicht begründet.87 Handlungsort ist dann allein der Ort im Ausland, an dem die Person sich zum Zeitpunkt der Speicherung der Daten aufhält. Dies gilt auch, wenn – wie in der Regel – die Informationen durch Datenübertragung im Inland verfügbar gemacht werden (siehe zur Frage eines möglichen Erfolgsortes im Inland Rdn. 86 ff). Es macht ferner keinen Unterschied, ob der Server, auf dem der Täter vom Ausland aus die Daten speichert, sich im Ausland oder in Deutschland befindet. Nicht überzeugend ist daher die vereinzelt gebliebene Auffassung, wonach ein Handlungsort auch am Standort des Servers anzunehmen sei, auf dem der Täter die Daten ablegt.88 Denn dies hieße, die Geltung des deutschen Strafrechts von technischen Zufälligkeiten abhängig zu machen, die vom Nutzer in der Regel nicht beeinflusst werden können: An und über welchen Server Daten übermittelt werden, lässt sich im Regelfall nicht steuern.89 Im Fall der Rdn. 79 wird ein Handlungsort im Inland grundsätzlich auch nicht dadurch begründet, dass eine Wirkung des Verhaltens in Deutschland eintritt. Eine generelle Einbeziehung von Handlungswirkungen in den Handlungsbegriff würde die in § 9 angelegte Unterscheidung zwischen Handlung und Erfolg auflösen und ist deshalb abzulehnen (vgl. auch Heinrich FS Weber, S. 91, 104). Ergibt sich aus der gesetzlichen Unrechtsbeschreibung aber, dass auch bestimmte Wirkungen des Verhaltens als Bestandteil der Tathandlung zu betrachten sind, ist der Ort, an dem diese Wirkungen eintreten, für die Bestimmung des Handlungsortes im Sinne des § 9 Abs. 1 maßgeblich.90 Ein Beispiel hierfür bildet die Tathandlung des „Verbreitens“ (vgl. etwa §§ 86 Abs. 1, 130 Abs. 2 Nr. 1). „Verbreitet“ ist eine Schrift bzw. ein Datenspeicher (§ 11 Abs. 3) erst, wenn die Datei auf dem Rechner des Internetnutzers – sei es im (flüchtigen) Arbeitsspeicher oder auf einem (permanenten) Speichermedium – angekommen ist (BGHSt 47 55, 59 f; Steinmetz MK § 86 Rdn. 30). Auf Grundlage dieses vom BGH im Zusammenhang mit der Datenübertragung im Internet entwickelten „spezifischen Verbreitensbegriffs“ ist davon auszugehen, dass mit Ankunft der Datei auf dem Rechner eines Internetnutzers dort ein Handlungsort begründet wird. Bei anderen Tatbeständen sind dagegen die Wirkungen des Verhaltens nicht Teil der Tathandlung. Dies gilt etwa, soweit Strafvorschriften das „Zugänglichmachen“ einer Schrift voraussetzen (z.B. §§ 86 Abs. 1; 130 Abs. 2 Nrn. 1, 2; 184 Abs. 1 Nr. 2). Hier reicht zur Tatvollendung bereits die bloße Möglichkeit des Zugriffs (BGHSt 47 55; 46 212). Dass die Datei bereits auf dem Rechner eines Internetnutzers angekommen, d.h. gespeichert ist, ist nach der gesetzlichen Handlungsbeschreibung nicht erforderlich. Entsprechendes ergibt sich für das Merkmal des „öffentlichen Verwendens“ (z.B. § 86a Abs. 1

_____ strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Diensteanbieters sind §§ 7 ff des Telemediengesetzes vom 26.2.2007 (BGBl. I 179) zu beachten, vgl. zu der Vorgängerregelung (§§ 5, 8 Teledienstegesetz) Hilgendorf NStZ 2000 518; Park GA 2002 23; Sieber Verantwortlichkeit im Internet (1999). 86 Conradi/Schlömer NStZ 1996 368; Derksen NJW 1997 1880; ebenso Ambos MK Rdn. 26. 87 Fischer Rdn. 5c; vgl. auch Heinrich FS Weber, S. 91, 104. 88 So Cornils JZ 1999 396 f; ihr zustimmend Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 4 und ders. in Leipold (Hrsg.) Rechtsfragen des Internets (2002) S. 303, 318. 89 So zutr. Heinrich FS Weber, S. 91, 99; Hilgendorf/Valerius Rdn. 150. 90 Insoweit zutr. KG NJW 1999 3500, 3502; aA BGH NStZ 2015 81, 82.

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Nr. 1). Die Auffassung des KG (NJW 1999 3500, 3501 f),91 wonach ein inländischer Handlungsort beim öffentlichen Verwenden eines Kennzeichens verfassungswidriger Organisationen (§ 86a Abs. 1 Nr. 1; im konkreten Fall: Zeigen des „Hitlergrußes“ bei einem nach Deutschland übertragenen Fußballspiel in Polen) anzunehmen sei, wenn ein solches Kennzeichen vom Ausland aus im Wege grenzüberschreitender Fernsehübertragung im Inland wahrgenommen werden könne, ist daher im Schrifttum zu Recht auf Ablehnung gestoßen.92 Der Sache nach um eine Erweiterung des Begriffes des Handlungsortes93 handelt es 85 sich auch bei dem von Sieber (NJW 1999 2065, 2068 ff) entwickelten „Tathandlungserfolg“. Dabei soll es sich um einen eigenständigen, von demjenigen der allgemeinen Tatbestandslehre gelösten Erfolgsbegriff handeln, der auch jede vom Täter verursachte und ihm zurechenbare und im einschlägigen Tatbestand genannte Folge seiner Handlung umfasse (S. 2070). 2. Erfolgsort. Gem. § 9 Abs. 1 dritte Alternative ist die Tat auch an dem Ort begangen, an dem der zum Tatbestand gehörende Erfolg eingetreten ist (Rdn. 21 ff); liegt der Erfolgsort im Inland, gilt deutsches Strafrecht gem. §§ 3, 9. Die Frage, ob und inwieweit bei Internet-Straftaten ein Erfolgsort in diesem Sinne angenommen werden kann, ist nicht abschließend geklärt und im Einzelnen umstritten. Die Überlegungen lassen sich wie folgt strukturieren: Zunächst ist zu ermitteln, wel87 che der in Betracht kommenden Straftaten einen Erfolgsort im Sinne des § 9 Abs. 1 dritte Alternative haben können (hierzu Rdn. 88 ff). Auf der damit gewonnenen Basis ist zu klären, ob sich aus den Besonderheiten des zur Tatbegehung verwendeten Mediums die Notwendigkeit ergibt, den Anwendungsbereich des deutschen Strafrechts nach § 9 Abs. 1 dritte Alternative zu modifizieren (hierzu Rdn. 91 ff).

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a) Nach allgemeinen Grundsätzen ist ein Erfolgsort bei Erfolgsdelikten sowie bei konkreten Gefährdungsdelikten dort anzunehmen, wo der Verletzungserfolg bzw. die konkrete Gefährdung des geschützten Rechtsguts eintreten (Rdn. 24 ff);94 ist dies in Deutschland der Fall, ist die Tat Inlandstat gem. §§ 3, 9 Abs. 1 dritte Alternative. Danach macht sich nach deutschem Strafrecht strafbar, wer vom Ausland aus Computerviren versendet, durch die in Deutschland Daten gelöscht werden (§ 303a). Entsprechend gilt deutsches Strafrecht auch für einen Betrug (§ 263), der im Zusammenhang mit einem Auktionsgeschäft im Internet begangen wird, wenn die Vermögensschädigung in Deutschland eintritt. Nach hier vertretener Ansicht können aber auch abstrakte Gefährdungsdelikte ei89 nen Erfolgsort im Sinne des § 9 Abs. 1 dritte Alternative haben (näher, auch zur Gegenansicht, Rdn. 28 ff); ein solcher befindet sich überall dort, wo die konkrete Tat ihre Gefährlichkeit im Hinblick auf das im Tatbestand umschriebene Rechtsgut entfalten, wo also die abstrakte Gefahr in eine konkrete Gefahr umschlagen kann. Zahlreiche internet-typische Straftaten sind als abstrakte Gefährdungsdelikte ausge90 staltet. Dies gilt namentlich für Äußerungs- und Inhaltsdelikte (z.B. §§ 86, 111, 130, 130a, 184), bei denen der Täter das Internet zur Übermittlung von Informationen nutzt. Insofern ist der Streit um die Frage, ob abstrakte Gefährdungsdelikte einen Erfolgsort im Sin88

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Ähnlich Weigend ZUM 1994 133 für § 184; vgl. auch noch Werle/Jeßberger JuS 2001 35, 39. Vgl. Heinrich FS Weber, S. 91, 103 ff; Fischer Rdn. 6. So auch Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 7c. Hilgendorf/Valerius Rdn. 142.

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ne des § 9 Abs. 1 dritte Alternative haben können, bei Internet-Straftaten von besonderer Relevanz. b) Die Anwendung der allgemein zur Bestimmung des Begehungsortes entwickelten Grundsätze (Rdn. 88 f) auf Internet-Straftaten95 führt allerdings nicht zu überzeugenden Ergebnissen. So wäre ein Erfolgsort in Deutschland vielfach schon deshalb anzunehmen, weil die über das Internet aus dem Ausland übermittelten kriminellen Inhalte in Deutschland zu empfangen sind. Deutsches Strafrecht besäße unter dem Gesichtspunkt des Gebietsgrundsatzes (§ 3) faktisch universelle Geltung; eine vom deutschen Recht abweichende Rechtslage am ausländischen Handlungsort wäre unbeachtlich. Im Ergebnis liefe dies auf die Anwendung des Weltrechtspflegegrundsatzes auf InternetStraftaten hinaus und wäre aus völkerrechtlichen Gründen (vgl. Vor § 3 Rdn. 256 ff) nicht akzeptabel.96 Aber auch praktische Gründe sprechen gegen eine unbeschränkte Anwendung der in § 9 normierten Ubiquitätstheorie auf im Internet verübte Straftaten. So ließe sich der globale Geltungsanspruch des deutschen Strafrechts nur höchst selektiv durchsetzen. Zu befürchten stünde zudem eine Überforderung deutscher Strafverfolgungsbehörden, die nach dem Legalitätsprinzip in einer unüberschaubaren Zahl von Fällen Ermittlungen aufnehmen müssten (siehe aber § 153c Abs. 2 StPO).97 Schließlich stellte sich das Problem kollidierender Zuständigkeiten verschiedener Staaten (vgl. Vor § 3 Rdn. 45 ff).98 Auch bei konkreten Gefährdungsdelikten und Verletzungsdelikten kann die Annahme eines Erfolgsortes in Deutschland zu unsachgemäßen Ergebnissen führen. Dies gilt etwa dann, wenn ein auf einer Homepage abgespeicherter Text beleidigenden Inhalts zufällig von einem Internet-Nutzer in Deutschland gelesen wird (§ 185; vgl. auch BGHSt 46 212, 225; Hilgendorf ZStW 113 (2001) 650, 663). Nach dem Gesetzeswortlaut wäre hier ein Erfolgsort in Deutschland begründet. Im Ergebnis ist eine Einschränkung des Geltungsbereichs des deutschen Strafrechts, wie er sich für Internet-Straftaten bei Anwendung allgemeiner Grundsätze ergäbe, geboten. Im Schrifttum sind hierzu verschiedene Ansätze entwickelt worden. So soll der Anwendungsbereich des § 9 Abs. 1 dritte Alternative durch objektive Kriterien eingeschränkt werden. Als Orientierungspunkt dient § 7: Voraussetzung der Geltung des deutschen Strafrechts bei Internet-Straftaten soll zusätzlich zum Eintritt des Erfolgs in Deutschland sein, dass die Tat gegen einen Deutschen begangen worden ist, der Täter zur Zeit der Tat Deutscher war oder es nach der Tat geworden ist, oder dass der Täter zur Zeit der Tat Ausländer war und im Inland betroffen aber nicht ausgeliefert wird.99 Nach anderen Auffassungen soll deutsches Strafrecht nur anwendbar sein, wenn die Tat auch am Handlungsort mit Strafe bedroht ist (siehe allgemein zum Erfordernis einer lex loci § 7 Rdn. 17 ff).100 Vereinzelt wird angenommen, der Geltungsbereich des deutschen Strafrechts sei durch subjektive Kriterien einzuschränken: Deutsches Strafrecht sei nur anzuwenden,

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Umfassend Kappel S. 141 ff. So auch Hilgendorf ZStW 113 (2001) 650, 660. Vgl. Fischer Rdn. 5c. Cornils JZ 1999 395. Breuer MMR 1998 144; ähnlich Lagodny JZ 2001 1200; abl. Hilgendorf ZStW 113 (2001) 663 f. Kienle S. 173; dagegen Hilgendorf ZStW 113 (2001) 660, 665.

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wenn es dem Täter gerade darauf ankomme, dass die von ihm ins Internet eingespeisten Daten in Deutschland abgerufen würden.101 Sieber schlägt schließlich vor, einen Erfolgsort im Inland nur anzunehmen, wenn der Täter die Daten aus dem Ausland aktiv an den Empfänger ins Inland sendet (sog. „Push-Technologie“); dagegen soll ein Erfolgsort im Inland nicht begründet werden, wenn der Empfänger sich die Informationen selbstständig herunterlädt (sog. „PullTechnologie“).102 Der BGH hat zusätzlich zum Eintritt des Erfolgs im Inland einen „völkerrechtlich legitimierenden Anknüpfungspunkt“ verlangt (BGHSt 46 212, 224). Damit hat der 1. Strafsenat ein in anderem Zusammenhang entwickeltes (siehe § 6 Rdn. 27 ff) Erfordernis aufgegriffen, um den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts für Inlandstaten völkerrechtskonform auszurichten. In dem der Entscheidung zu Grunde liegenden Fall erblickte der BGH einen solchen Anknüpfungspunkt darin, dass die Tat nach § 130 Abs. 1 ein „gewichtiges inländisches Rechtsgut“ betreffe, das „zudem objektiv einen besonderen Bezug auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland“ aufweise; das Äußerungsdelikt des § 130 schütze „Teile der inländischen Wohnbevölkerung“; der Leugnungstatbestand habe zudem angesichts der Verbrechen unter dem Nationalsozialismus an den Juden einen besonderen Bezug zur Bundesrepublik (BGHSt 46 212, 224). Die Rechtsprechung des BGH weist in die richtige Richtung. Wie im Zusammenhang mit § 6 (vgl. § 6 Rdn. 35), so eignet sich auch hier das Erfordernis des völkerrechtlich legitimierenden Anknüpfungspunktes im Sinne eines Inlandsbezuges grundsätzlich zur Einschränkung des Anwendungsbereichs des deutschen Strafrechts;103 der Sache nach handelt es sich um eine Reduktion von § 9 Abs. 1, welche den Vorgaben des Völkerrechts Rechnung trägt (völkerrechtskonforme Reduktion). Ansatzpunkt für die völkerrechtskonforme Ausrichtung des Anwendungsbereichs von § 9 ist danach der Inlandsbezug der Tat.104 Ob ein solcher Inlandsbezug besteht, ist eine Frage des Einzelfalls. Einen Anhaltspunkt kann der Inhalt der über das Internet verfügbar gemachten Information geben. So begründet die Leugnung des nationalsozialistischen Völkermords an den europäischen Juden einen hinreichenden Inlandsbezug (zutr. BGHSt 46 212, 224), nicht aber allgemein die Verbreitung rassistischer oder volksverhetzender Äußerungen, die sich beispielsweise gegen eine in Südamerika lebende ethnische Gruppe richtet. Der Inlandsbezug kann sich aber auch aus der Form der Information ergeben; insoweit bildet die Verwendung der deutschen Sprache einen Anhaltspunkt. Schließlich ist die Geltung des deutschen Strafrechts dann völkerrechtlich unproblematisch, wenn die Voraussetzungen des aktiven Personalitätsprinzips (Vor § 3 Rdn. 251 ff), des passiven Personalitätsprinzips (Vor § 3 Rdn. 247 ff) oder des Staatsschutzprinzips (Vor § 3 Rdn. 244 ff) vorliegen; auf das Tatortrecht kommt es dabei – anders als bei § 7 – in diesen Fällen nicht an (siehe auch § 6 Rdn. 39 sowie Vor § 3 Rdn. 249, 251).

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101 Collardin CR 1995 629; dagegen Ambos MK Rdn. 30. 102 Sieber NJW 1999 2071; aufgegriffen bei Fischer Rdn. 8; dagegen Heinrich FS Weber, S. 91, 100; Hilgendorf ZStW 113 (2001) 660, 668. 103 Vgl. auch Ambos MK Rdn. 34; Hilgendorf ZStW 113 (2001) 660, 669; sowie Hörnle NStZ 2001 310 und Jeßberger JR 2001 429, 434. 104 Hilgendorf NJW 1997 1877; ders. ZStW 113 (2001) 660, 668 ff; Hörnle NStZ 2001 311; Jeßberger JR 2001 424; siehe auch Berberich S. 110; Hecker § 2 Rdn. 36; Lehle S. 147, 175; krit. Koch GA 2002 703, 710; Sieber NJW 1999 2068.

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Die dargestellten Rechtsprobleme lassen sich unter Rückgriff auf das Völkerrecht 103 letztlich akzeptabel lösen. Freilich ist der vielfach erhobene105 Ruf nach einem Einschreiten des Gesetzgebers verständlich. Zu bedenken ist dabei jedoch, dass der nationale Gesetzgeber im Alleingang nicht zu einer befriedigenden Lösung gelangen wird, sondern dass vielmehr nationale Lösungen in einen Zusammenhang internationaler Absprachen einzubetten sind. In diesem Zusammenhang zu erwähnen ist die Convention on Cybercrime des Eu- 104 roparates vom 23.11.2001 (Vor § 3 Rdn. 56), die am 1.7.2004 in Kraft getreten ist. Deutschland hat die Konvention gezeichnet, aber noch nicht ratifiziert. Die Konvention betrifft unter anderem die Verbreitung von Kinderpornografie im Internet und sieht entsprechende Pönalisierungspflichten vor. In Art. 22 verpflichtet sie die Vertragsstaaten zur Begründung eigener Gerichtsbarkeit u.a. dann, wenn die Tat im Inland begangen wird. Für den – typischen – Fall konkurrierender Strafgewalt enthält Art. 22 Abs. 5 eine Regelung, die die betroffenen Staaten dazu anhält, sich zu einigen, welcher von ihnen am besten in der Lage ist, die Strafverfolgung durchzuführen. V. Begehungsort und innere Tatseite 1. Rechtsnatur der Tatortregeln. Die Vorschriften über den Tatort gehören zur Re- 105 gelung des Geltungsbereichs des staatlichen Strafrechts und sind damit nicht objektive Bedingungen der Strafbarkeit,106 sondern Bestandteil des Unrechtstatbestandes (im Einzelnen Vor § 3 Rdn. 471 ff).107 Der Vorsatz muss sich demgemäß auch auf den Tatort erstrecken.108 Wer also irrtümlich meint, der Tatort liege nicht im Inland, handelt ohne Vorsatz im Blick auf die Strafbarkeit wegen einer Inlandstat. Für diese Auslegung spricht auch, dass § 9 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 festlegen, dass eine Tat auch dort begangen wird, wo der zum Tatbestand gehörende Erfolg nach der Vorstellung des Täters eintreten soll, und Tatort der Teilnahme auch dort ist, wo die Haupttat nach der Vorstellung des Teilnehmers begangen werden soll.109 2. Bedeutung der Gesetzeskonkurrenz für den Tatort. Ein aus Konkurrenzgrün- 106 den zurücktretendes Delikt verliert nicht seinen Charakter als Straftat und kann in bestimmten Grenzen weiterhin sachlichrechtliche Wirkungen entfalten, welche über die der „herrschenden“ Tat hinausreichen.110 Zu solchen sachlichrechtlichen Wirkungen gehört auch eine Tatortbegründung nach § 9. Die rechtliche Möglichkeit von Tatortmehrheit ist dem Gesetz geläufig (vgl. Rdn. 3). Man wird Oehler (Rdn. 260)111 daher nicht darin folgen können, dass die bei einem 107 Versuch im Ausland einen inländischen Tatort begründende Vorstellung des Täters

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105 So etwa Hilgendorf ZStW 113 (2001) 660, 674; Hörnle NStZ 2001 310; Jeßberger JR 2001 435; Weigend in Hohloch (Hrsg.) Recht und Internet (2001) S. 88. 106 So aber die auch hier bis zur Vorauflage (näher Vor § 3 Rdn. 471) vertr. hM, vgl. Ambos MK Rdn. 43; Jescheck/Weigend § 18 V; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 1; Miller/Rackow ZStW 117 (2005) 379, 414; vgl. Niewirth NJW 1967 768; Sch/Schröder/Eser/Weißer Rdn. 15. 107 Wie hier Böse NK Rdn. 23. 108 Ambos MK Rdn. 43; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 1; aA Neumann FS Müller-Dietz, S. 589, 591, 605 m.w.N. 109 Vgl. auch Böse MK Rdn. 23. 110 Vgl. Küpper JR 1993 294; zust. Ambos MK Rdn. 47; vgl. auch BGHSt 39 88, 89 f. sowie für den Fall (von durch einen einheitlichen Tatplan zu einer Tat im Rechtssinne zusammengefasste Akte) des wiederholten Gebrauchmachens einer verfälschten Urkunde OLG Koblenz BeckRS 2018 23511, Rdn. 18. 111 Vgl. auch OLG Karlsruhe NStZ 1987 371.

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(über den Ort des Erfolgseintritts im Inland) dann nicht mehr maßgebend sei, wenn die versuchte Tat im Ausland vollendet werde. Der Umstand, dass das versuchte Delikt aus Gründen der Gesetzeskonkurrenz hinter dem vollendeten zurücktritt, lässt den durch das konsumierte Delikt begründeten Tatort unberührt. VI. Prozessuales 108

1. Prozessuale Tateinheit bei Tatortmehrheit. Eine (im sachlichrechtlichen Sinne) einheitliche Handlung wird nicht dadurch in zwei selbständige prozessuale Taten aufgespalten, dass sie teils im Inland und teils im Ausland begangen wird (OLG Karlsruhe NStZ 1987 371; vgl. Rdn. 55).

109

2. Opportunitätsprinzip. Für die Verfolgung von Auslandstaten gilt das Opportunitätsprinzip (§ 153c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 erste Alternative StPO), desgleichen für die Verfolgung einer im Inland begangenen Teilnahme an einer Auslandstat (§ 153c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 zweite Alternative StPO). § 153c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO greift nur ein, wenn die Tat oder – bei Inlandsteilnah110 me – die Haupttat ausschließlich im Ausland begangen worden ist. Eine Anwendung dieser Vorschrift scheidet also aus, wenn bei Tatortmehrheit nach § 9 Abs. 1 Begehungsort der Tat oder Haupttat auch das Inland ist (Rdn. 55). Die Einstellungsmöglichkeit nach § 153c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO ist für die bezeichne111 ten Fälle der Inlandsteilnahme an einer Auslandstat von großer Bedeutung im Hinblick darauf, dass § 9 Abs. 2 Satz 2 den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts – über die Bestimmungen des § 9 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 hinaus – erheblich erweitert (Rdn. 49 ff).112 Es gibt Sachverhalte, bei denen sich unbillige Ergebnisse nur auf diesem verfahrensrechtlichen Wege vermeiden lassen (vgl. Rdn. 52). § 153c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO wirkt insoweit als Korrektiv gerade auch zu § 9 Abs. 2 Satz 2. Die Staatsanwaltschaft kann neben den genannten Fällen (Rdn. 100) ferner dann 112 von der Verfolgung einer Inlandstat, die vom Ausland aus verübt worden ist (vgl. zu grenzüberschreitenden Distanzdelikten auch Rdn. 54 ff), absehen, wenn die Durchführung eines Verfahrens die Gefahr eines schweren Nachteils für die Bundesrepublik herbeiführen würde oder der Verfolgung sonstige öffentliche Interessen entgegenstehen (§ 153c Abs. 3 StPO).

§ 10 Sondervorschriften für Jugendliche und Heranwachsende Erster Abschnitt. Das Strafgesetz Sondervorschriften für Jugendliche und Heranwachsende Werle/Jeßberger § 10 https://doi.org/10.1515/9783110300413-013

Für Taten von Jugendlichen und Heranwachsenden gilt dieses Gesetz nur, soweit im Jugendgerichtsgesetz nichts anderes bestimmt ist. Schrifttum Vgl. das allgemeine Literaturverzeichnis, Ziff. 7.

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Vgl. auch Miller/Rackow ZStW 117 (2005) 379, 388.

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Entstehungsgeschichte Die Vorschrift geht auf den – wörtlich übereinstimmenden – § 9 E 1962 (Begr. S. 114) zurück. Sie wurde durch das 2. StrRG (BGBl. I S. 717) in das StGB eingefügt. Eine sachlich übereinstimmende Vorschrift enthält der AE in § 9.

I. II.

Übersicht Bedeutung | 1 Inhalt 1. Geltung des StGB | 2 2. Andere Bestimmungen im JGG für Jugendliche | 3

3.

III.

Andere Bestimmungen im JGG für Heranwachsende | 7 Prozessuales | 8

I. Bedeutung der Vorschrift Die Vorschrift wiederholt für das StGB den in § 2 JGG niedergelegten Grundsatz, dass 1 das Jugendgerichtsgesetz für Taten von Jugendlichen und Heranwachsenden als eigenständiges Werk für das gesamte Jugendstrafrecht unter Einschluss der Jugendgerichtsverfassung und des Jugendstrafverfahrens gegenüber den Vorschriften des StGB den Vorrang hat. Die Einordnung des JGG als Sonderstrafrecht für junge Menschen wird damit bekräftigt.1 Das bedeutet, dass das JGG das allgemeine Strafrecht (und zwar die Normen des StGB und des Nebenstrafrechts) nicht nur dort ausschließt, wo es eine abweichende Regelung enthält und damit dem allgemeinen Strafrecht ausdrücklich widerspricht,2 sondern auch dort, wo das allgemeine Strafrecht zu einem nicht jugendgemäßen Ergebnis führen würde.3 II. Inhalt 1. Geltung des StGB. Die Vorschriften des Besonderen Teils des StGB (§§ 80 bis 2 358) gelten grundsätzlich auch für Jugendliche und Heranwachsende, soweit die Straftatbestände nicht ein bestimmtes Alter voraussetzen. 2. Andere Bestimmungen im JGG für Jugendliche. Jugendlicher ist, wer zur Zeit 3 der Tat (§ 8) schon 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist (§ 1 Abs. 2 JGG). Besondere Bestimmungen, die die allgemeinen Regeln des StGB verdrängen, finden sich im JGG vor allem mit Blick auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Jugendlichen und die Rechtsfolgen der Tat. Der Erste und der Zweite Abschnitt des Allgemeinen Teils des StGB (§§ 1 bis 37) 4 gelten auch für Taten von Jugendlichen; jedoch ist für die Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit unter dem Gesichtspunkt der Altersreife des Jugendlichen (§ 1 Abs. 2 JGG) allein § 3 JGG maßgebend. Hingegen bleiben die §§ 20, 21 von Bedeutung, wenn eine Schuldunfähigkeit oder verminderte Schuldfähigkeit auf andere als entwicklungs- und reifebedingte Umstände zurückzuführen ist.4 An die Stelle des Sanktionensystems des Dritten Abschnitts des Allgemeinen Teils 5 des StGB (§§ 38 bis 76b) tritt grundsätzlich das selbstständige System jugendgemäßer Reaktionsmittel des JGG (§§ 3 bis 32, 88, 89 bis 89b JGG) mit Erziehungsmaßregeln,

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Radtke MK Rdn. 1. Grethlein NJW 1957 1370. Brunner/Dölling JGG § 2 Rdn. 6; Radtke MK Rdn. 2. BGHSt 26 67, 68 ff = JR 1976 116 m. Anm. Brunner.

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Zuchtmitteln und Jugendstrafen. Doch ist es möglich, § 60 im Jugendstrafrecht anzuwenden und dabei auch von Erziehungsmaßregeln und Zuchtmitteln abzusehen (BayObLG NStZ 1991 584 = JR 1992 387 m. Anm. Brunner).5 Von den Maßregeln der Besserung und Sicherung dürfen gegen Jugendliche nur die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (BGHSt 26 67) und einer Entziehungsanstalt, die Führungsaufsicht und die Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 61 Nrn. 1, 2, 4 und 5) angeordnet werden (§ 7 JGG). Hingegen treten die Nebenfolgen des Verlustes der Amtsfähigkeit, der Wählbarkeit und des Stimmrechts (§ 45) weder als Rechtswirkungen der Strafe ein, noch können sie verhängt werden. Die Bekanntmachung der Verurteilung ist unzulässig (§ 6 JGG). Zulässig sind zum Beispiel der Verfall (§§ 73 ff), die Einziehung (§§ 74 ff), die Unbrauchbarmachung (§ 74d) sowie das Fahrverbot nach § 44 (vgl. § 76 Satz 1 JGG). Aus der Formulierung des § 7 JGG, wonach unter anderem die Entziehung der 6 Fahrerlaubnis angeordnet werden kann, darf entgegen der Auffassung des LG Oldenburg (bei Janiszewski NStZ 1985 112; 1988 543) nicht geschlossen werden, dass die Regelvorschrift des § 69 Abs. 2 für Jugendliche nicht gelte. § 7 JGG hat nur die Aufgabe, zu bestimmen, welche Maßregeln der Besserung und Sicherung überhaupt zulässig sind. Für die Voraussetzungen der Anordnung und ihre Ausführung sind deshalb die Vorschriften des allgemeinen Strafrechts maßgebend (Janiszewski NStZ 1985 112; 1988 543). Das schließt nicht aus, bei der Prüfung, ob von der Annahme eines Regelfalls nach § 69 Abs. 2 abgesehen werden kann, die besonderen Umstände des Einzelfalls auch bei Jugendlichen zu berücksichtigen. 7

3. Andere Bestimmungen im JGG für Heranwachsende. Heranwachsender ist, wer zur Zeit der Tat (§ 8) 18, aber noch nicht 21 Jahre alt ist (§ 1 Abs. 2 JGG). Bei Heranwachsenden ist nach § 105 JGG in jedem Einzelfall zu entscheiden, ob Jugendstrafrecht anzuwenden ist oder die allgemeinen Vorschriften maßgebend sind. Jugendstrafrecht gilt, wenn der Heranwachsende nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichsteht oder es sich um eine Jugendverfehlung handelt (§ 105 Abs. 1 JGG). Wird gegen einen Heranwachsenden das allgemeine Strafrecht angewendet, so kann an Stelle der lebenslangen Freiheitsstrafe auch auf eine zeitige von zehn bis 15 Jahren erkannt werden (§ 106 Abs. 1 JGG). Auch kann von der Anordnung des Verlusts der Fähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden und Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen (§ 45 Abs. 1), abgesehen werden. Unzulässig ist die Anordnung der Sicherungsverwahrung (§ 106 Abs. 2 JGG). III. Prozessuales

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Verhängt der Richter gegen einen Jugendlichen oder Heranwachsenden eine unzulässige Strafe oder Maßregel der Besserung oder Sicherung, so handelt es sich um einen sachlichrechtlichen Fehler, der in der Regel auf eine Revision zur Aufhebung des Strafoder Rechtsfolgenausspruchs führt. Doch kann im Einzelfall fraglich sein, ob der Angeklagte als Beschwerdeführer durch den Rechtsfehler beschwert ist, so etwa, wenn gegen einen Jugendlichen eine Geldstrafe festgesetzt wird, während er nach Jugendstrafrecht mit einer zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe hätte rechnen müssen.

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Einschränkend Bringewat NStZ 1992 315, 318.

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Vorbemerkungen | Vor §§ 11, 12

ZWEITER TITEL Sprachgebrauch Vorbemerkungen zu den §§ 11 und 12 Erster Abschnitt. Das Strafgesetz Vorbemerkungen Hilgendorf Vor §§ 11, 12 https://doi.org/10.1515/9783110300413-014

Schrifttum Achenbach „Tat“, „Straftat“, „Handlung“ und die Strafrechtsreform, MDR 1975 19; Herberger/Simon Wissenschaftstheorie für Juristen, 1980; Morscher Die wissenschaftliche Definition, 2017; Noll Zur Gesetzestechnik des Entwurfs eines Strafgesetzbuchs, JZ 1963 297; Pawlowski Begriffsbildung und Definition (1980); Röhl/Röhl Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. (2008); Schroeder Die Entwicklung der Gesetzgebungstechnik, in Vormbaum/Welp, Das Strafgesetzbuch. Supplementband 1: 130 Jahre Strafgesetzgebung – Eine Bilanz (2004), 381; Stratenwerth Die Definitionen im Allgemeinen Teil des Entwurfs, ZStW 76 (1964) 669.

Nach der Begründung des E 62 (S. 114), dem der besondere Titel über den Sprachge- 1 brauch weitgehend nachgebildet ist, verfolgen die §§ 11 f den Zweck, im Gesetz häufiger vorkommende Begriffe aus gesetzestechnischen Gründen und um einer einheitlichen Rechtsanwendung willen generell zu umschreiben. Er folgt insoweit allen früheren Entwürfen. § 11 enthält gesetzliche Definitionen und begriffliche Klarstellungen, § 12 regelt darüber hinaus die Einteilung der Straftaten. Das Gesetz regelt in diesem Titel den Sprachgebrauch aber nicht erschöpfend. Wei- 2 tere Begriffsbestimmungen finden sich im jeweiligen sachlichen Zusammenhang und gelten entweder nur für eine einzige Vorschrift (z.B. Definition des „Unfallbeteiligten“ in § 142 Abs. 5; der „Zahlungskarten“ in §§ 152a Abs. 4, 152b Abs. 4; der „Daten“ in § 202a Abs. 2; der „Kraftfahrzeuge“ in § 248b Abs. 4; der „technischen Aufzeichnung“ in § 268 Abs. 2; weitere Beispiele in § 32 Abs. 2, § 86 Abs. 2, § 86a Abs. 2, § 87 Abs. 2, § 211 Abs. 2, §§ 240 Abs. 2, 253 Abs. 2, § 264 Abs. 8 und 9 sowie § 265b Abs. 3), für einen Teilausschnitt des Gesetzes (z.B. § 93, § 108d, § 330d) oder für das gesamte Strafgesetzbuch (§ 22, §§ 25 bis 28, § 92, § 184 f). Gelegentlich macht das Gesetz durch einen Klammerhinweis deutlich, dass eine allgemeingültige Legaldefinition vorliegt, z.B. in § 14 Abs. 1 („besondere persönliche Merkmale“), § 25 Abs. 2 („Mittäter“), § 28 Abs. 1 („Teilnehmer“), § 28 Abs. 2 („Beteiligte“) und § 264 Abs. 1 („Subventionsgeber“) sowie zuletzt vermehrt bei den Sexualdelikten, namentlich in § 176 Abs. 1 („Kind“) und § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 („Vergewaltigung“). Definitionen sind Festsetzungen des Bedeutungsgehalts eines Ausdrucks (Nominal- 3 definitionen). Sie sind also nicht wahr oder falsch, sondern nur mehr oder weniger zweckmäßig (adäquat). Ihr Zweck ist nicht die Beschreibung einer Realität, sondern die Erleichterung des Sprachgebrauchs. Davon zu unterscheiden sind Worterklärungen (Explikationen), die lediglich einen bestimmten Bedeutungsgehalt, z.B. den allgemeinen Sprachgebrauch oder die Sprachverwendung in einer Fachgemeinschaft, klarstellen. Definitionen im ersteren Sinn werden auch „konstitutiv“ genannt, die Worterklärungen „deklaratorisch“. In der älteren Literatur wurde oft mit „Wesendefinitionen“ argumentiert, etwa indem behauptet wurde, aus dem Begriff „Handlung“ könnten Vorgaben für die Straftatlehre abgeleitet werden. Derartige Argumente gelten heute zu Recht als diskreditiert, da sie ein essentialistisches Begriffsverständnis offenbaren, welches mit den Ergebnissen der modernen Definitionslehre nicht vereinbar ist. Der Sache nach handelt es sich bei derartigen Argumenten in der Regel um den Versuch, aus nicht bewusst gemachten Nominaldefinitionen bindende Aussagen abzuleiten. Ein derartiges Vorgehen ist zirkulär und wissenschaftlich nicht tragfähig. 715 https://doi.org/10.1515/9783110300413-014

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§ 11 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

4

Der Gesetzgeber verbindet oft beide Formen, indem er einen bestimmten Sprachgebrauch expliziert und dann mittels einer (Nominal-)Definition festschreibt (Legaldefinition) – näher Röhl/Röhl in Allgemeine Rechtslehre, §§ 4 und 6. Auch in Rechtsprechung, Verwaltung und anderen Bereichen der Rechtsanwendung werden Explikationen und Definitionen verwendet. Vor allem die höchstrichterliche Rechtsprechung besitzt eine beträchtliche Definitionsmacht. Die gesetzlichen Definitionen in den §§ 11 und 12 sind jedoch auch für die höchstrichterliche Rechtsprechung verbindlich.

§ 11 Personen- und Sachbegriffe Erster Abschnitt. Das Strafgesetz Personen- und Sachbegriffe Hilgendorf § 11 https://doi.org/10.1515/9783110300413-015

(1) Im Sinne dieses Gesetzes ist Angehöriger: wer zu den folgenden Personen gehört: a) Verwandte und Verschwägerte gerader Linie, der Ehegatte, der Lebenspartner, der Verlobte, Geschwister, Ehegatten oder Lebenspartner der Geschwister, Geschwister der Ehegatten oder Lebenspartner, und zwar auch dann, wenn die Ehe oder die Lebenspartnerschaft, welche die Beziehung begründet hat, nicht mehr besteht oder wenn die Verwandtschaft oder Schwägerschaft erloschen ist, b) Pflegeeltern und Pflegekinder; 2. Amtsträger: wer nach deutschem Recht a) Beamter oder Richter ist, b) in einem sonstigen öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis steht oder c) sonst dazu bestellt ist, bei einer Behörde oder bei einer sonstigen Stelle oder in deren Auftrag Aufgaben der öffentlichen Verwaltung unbeschadet der zur Aufgabenerfüllung gewählten Organisationsform wahrzunehmen; 2a. Europäischer Amtsträger: wer a) Mitglied der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank, des Rechnungshofs oder eines Gerichts der Europäischen Union ist, b) Beamter oder sonstiger Bediensteter der Europäischen Union oder einer auf der Grundlage des Rechts der Europäischen Union geschaffenen Einrichtung ist oder c) mit der Wahrnehmung von Aufgaben der Europäischen Union oder von Aufgaben einer auf der Grundlage des Rechts der Europäischen Union geschaffenen Einrichtung beauftragt ist; 3. Richter: wer nach deutschem Recht Berufsrichter oder ehrenamtlicher Richter ist; 4. für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteter: wer, ohne Amtsträger zu sein, a) bei einer Behörde oder bei einer sonstigen Stelle, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt, oder b) bei einem Verband oder sonstigen Zusammenschluß, Betrieb oder Unternehmen, die für eine Behörde oder für eine sonstige Stelle Aufgaben der öffentlichen Verwaltung ausführen, beschäftigt oder für sie tätig und auf die gewissenhafte Erfüllung seiner Obliegenheiten auf Grund eines Gesetzes förmlich verpflichtet ist; 1.

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5.

rechtswidrige Tat: nur eine solche, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht; 6. Unternehmen einer Tat: deren Versuch und deren Vollendung; 7. Behörde: auch ein Gericht; 8. Maßnahmen: jede Maßregel der Besserung und Sicherung, die Einziehung und die Unbrauchbarmachung; 9. Entgelt: jede in einem Vermögensvorteil bestehende Gegenleistung. (2) Vorsätzlich im Sinne dieses Gesetzes ist eine Tat auch dann, wenn sie einen gesetzlichen Tatbestand verwirklicht, der hinsichtlich der Handlung Vorsatz voraussetzt, hinsichtlich einer dadurch verursachten besonderen Folge jedoch Fahrlässigkeit ausreichen läßt. (3) Den Schriften stehen Ton- und Bildträger, Datenspeicher, Abbildungen und andere Darstellungen in denjenigen Vorschriften gleich, die auf diesen Absatz verweisen.

Schrifttum Achenbach „Tat“, „Straftat“, „Handlung“ und die Strafrechtsreform, MDR 1975 19; Bach Strafbarkeit der Erteilung einer HU-Plakette i.S.v. § 29 StVZO durch einen Prüfingenieur für ein als verkehrsunsicher erkanntes Fahrzeug nach § 348 Abs. 1 StGB – Zugleich Anmerkung zu BGH, Beschl. v. 16.8.2018 – 1 StR 172/18, StraFo 2019 102; Becker Die Organe kommunaler Versorgungsunternehmen: Amtsträger oder Wettbewerber? StV 2006 263; Bruns Die Strafbarkeit des Versuchs eines untauglichen Subjekts, GA 1979 161; Burkhardt Das Unternehmensdelikt und seine Grenzen, JZ 1971 352; von Coelln Zur Bestimmtheit des strafrechtlichen Amtsträgerbegriffs, Festschrift I. Roxin (2012) 209; Cramer Das Strafensystem des StGB, JurA 1970 183; Dahs/Müssig Strafbarkeit kommunaler Mandatsträger als Amtsträger? Eine Zwischenbilanz, NStZ 2006 191; Dann Und immer ein Stück weiter – Die Reform des deutschen Korruptionsstrafrechts, NJW 2016 203; Deiters Zur Frage der Strafbarkeit von Gemeinderäten wegen Vorteilsannahme und Bestechlichkeit, NStZ 2003 453; Derksen Strafrechtliche Verantwortung für in internationalen Computernetzen verbreitete Daten mit strafbarem Inhalt, NJW 1997 1878; Dölling Die Neuregelung der Strafvorschriften gegen Korruption, ZStW 112 (2000) 334; Feinendegen Vorteilsannahme ohne Folgen. Freibrief für kommunale Mandatsträger durch den BGH? NJW 2006 2014; Gössel Dogmatische Überlegungen zur Teilnahme am erfolgsqualifizierten Delikt nach § 18 StGB, Festschrift Lange (1976) 219; Greier Vorläufiger Insolvenzverwalter als „Amtsträger“ im strafrechtlichen Sinne, jurisPR-StrafR 7/2019 Anm. 2; Gutfleisch Anmerkung zu dem Beschluss des BGH vom 16.8.2018 – 1 StR 172/18 (NZV 2019, 94-95) – Zur besonderen Beweiskraft einer am Fahrzeugkennzeichen angebrachten Prüfplakette, NZV 2019 95; Günther Der „Versuch“ des räuberischen Angriffs auf Kraftfahrer, JZ 1987 16; Härtung Der strafrechtliche Beamtenbegriff, DRpfl. 1939 70; Haft Freiberufler sind keine Amtsträger, NJW 1995 1113; ders. Absprachen bei öffentlichen Bauten und das Strafrecht, NJW 1996 238; Hartmann Zur Frage der Strafbarkeit der Gemeinderatsmitglieder, DVBl 1966 809; Hecker Strafrecht AT: Begriff des Amtsträgers – Vorteilsannahme durch den Angestellten einer AG bei der Vermarktung von Werbeflächen in öffentlichen Verkehrsmitteln, JuS 2019 75; Heinrich Der Amtsträgerbegriff im Strafrecht (2001); ders. Die Entwicklung des Begriffs des Amtsträgers, wistra 2016 471; Hochheiser Der Beamtenbegriff im deutschen Strafrecht (1929); Ipsen Mandatsträger als Amtsträger? NdsVBl 2006 321; Jessen Können Angehörige privatrechtlicher Versorgungsunternehmen strafrechtlich als Beamte zur Verantwortung gezogen werden? MDR 1962 526; Jutzi Genehmigung der Vorteilsannahme bei nicht in einem öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis stehenden Amtsträgern, NStZ 1991 105; Kaiser Statuswechsel: Umwandlung einer Lebenspartnerschaft in eine gleichgeschlechtliche Ehe, § 20a LPartG (§ 20a LPartG), FamRZ 2017 1985; Kaspar/Knauer Restriktives Normverständnis nach dem Korruptionsbekämpfungsgesetz, GA 2005 385; Korte Der Einsatz des Strafrechts zur Bekämpfung der internationalen Korruption,

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§ 11 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

wistra 1999 81; Kranz Der zukünftige eingetragene Lebenspartner als „Verlobter“ i.S.v. § 52 Abs. 1 Nr. 1 StPO und § 11 Abs. 1 Nr. 1 lit. a) StGB, StV 2004 518; Krey/Schneider Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombination nach geltendem und künftigem Recht, NJW 1970 640; Leimbrock Strafrechtliche Amtsträger (2009); Lenckner Privatisierung der Verwaltung und „Abwahl des Strafrechts“? ZStW 106 (1994) 502; Mitsch Das Unternehmensdelikt, Jura 2012 526; ders. Das unechte Unternehmensdelikt, JuS 2015 97; Müther Die verflixten Angehörigen. Legaldefinition und allgemeiner Sprachgebrauch am Beispiel des strafrechtlichen Angehörigenbegriffs (§ 11 StGB) JA 2004 375; Neupert Risiken und Nebenwirkungen: Sind niedergelassene Vertragsärzte Amtsträger im strafrechtlichen Sinne? NJW 2006 2811; Noak Teilfahrlässige Teilnahme an Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombinationen, JuS 2005 312; Nolte Das freie Mandat der Gemeindevertretungsmitglieder, DVBl 2005 870; Noltensmeier Public Private Partnership und Korruption (2009); Otto Amtsträgerbegriff innerhalb zivilrechtlich organisierter Daseinsvorsorge, Jura 1997 47; Paeffgen Amtsträgerbegriff und die Unabhängigkeit des Datenschutzbeauftragten, JZ 1997 178; Pelchen Verlöbnis und nichteheliche Lebensgemeinschaft als Zeugnisverweigerungsgründe im Strafprozeß, Festschrift Pfeiffer (1988) 287; Pelz Die Strafbarkeit von Online-Anbietern, wistra 1999 53; Petri Anforderungen an die „förmliche Verpflichtung“ i.S. des Art. 7 II Nr. 4 des 4. StrÄndG, NStZ 1991 471; Radtke Der strafrechtliche Amtsträgerbegriff und neue Kooperationsformen zwischen der öffentlichen Hand und Privaten (Public Private Partnership) im Bereich der Daseinsvorsorge, NStZ 2007 57; Ransiek Zur Amtsträgereigenschaft nach § 11 I Nr. 2c StGB, NStZ 1997 519; Rübenstahl Die Angehörigen kommunaler „Parlamente“ als Amtsträger (§ 11 Abs. 1 Nr. 2b StGB) und ihre Strafbarkeit nach den Bestechungsdelikten (§§ 331 ff StGB), HRRS 2006 23; Sauermann Der Versuch als „delictum sui generis“, StrafAbh. 227; Schramm Die Amtsträgereigenschaft eines freiberuflichen Planungsingenieurs, JuS 1999 333; Schröder Die Unternehmensdelikte, Festschrift Kern (1968) 754; ders. Zum Begriff des „Amtsträgers“, NJW 1984 2510; Sowoda Das „unechte Unternehmensdelikt“ – eine überflüssige Rechtsfigur, GA 1988 195; Stratenwerth Die Definition im Allgemeinen Teil des E 62, ZStW 76 (1964) 669; Taschke Die Strafbarkeit des Vertragsarztes bei der Verordnung von Rezepten, StV 2005 406; Tinkl Strafbarkeit von Bestechung nach dem EUBestG und dem IntBestG, wistra 2006 126; Tröndle Lohnfortzahlung bei Schwangerschaftsabbruch, NJW 1989 2990; Vassilaki Kommunikationsrechtliche, computer- und internetspezifische Entscheidungen der Strafgerichte, MMR 1999 525; Vogler Das neue Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen, NJW 1983 2114; Wagner Die Rechtsprechung zu den Straftaten im Amt seit 1975, JZ 1987 594; Walther Zur Anwendbarkeit der Vorschriften des strafrechtlichen Jugendmedienschutzes auf im Bildschirmtext verbreitete Mitteilungen, NStZ 1990 523; Weiser Die Amtsträgereigenschaft der Mitarbeiter von staatlich beauftragten privaten Planungsbüros, NJW 1994 968; Wiedemann Unanwendbarkeit des § 359 StGB auf Angestellte der als AG oder GmbH betriebenen Versorgungs- und Verkehrsgesellschaften der öffentlichen Hand, NJW 1965 852; Wolters Das Unternehmensdelikt (2001); Zeiler Einige Gedanken zum Begriff des Amtsträgers im Sinne des § 11 I Nr. 2c StGB, MDR 1996 439; Zieschang Das EU-Bestechungsgesetz und das Gesetz zur Bekämpfung internationaler Bestechung, NJW 1999 105.

Entstehungsgeschichte Seit dem Vorentwurf 1909 (§ 12) enthalten alle Entwürfe Vorschriften über den Sprachgebrauch. § 11 hat seine unmittelbaren Vorbilder in §§ 10, 11 E 62 und § 10 AE. Der Begriffskatalog der §§ 10, 11 E 62 war ursprünglich reichhaltiger. Das 2. StrRG vom 4.7.1969 (BGBl. I S. 717) hat den Katalog auf fünf Begriffe und zwei Begriffserstreckungen reduziert; dieses Gesetz wurde jedoch noch vor seinem Inkrafttreten (1.1.1975) durch Art. 18 II Nr. 5 EGStGB vom 2.3.1974 (BGBl. I S. 469) mit weiteren Begriffen und Gleichstellungen angereichert. § 11 Abs. 1 Nr. 1 (Begriff des Angehörigen) wurde durch Art. 6 Nr. 1 des Adoptionsgesetzes vom 2.7.1976 (BGBl. I S. 1749) neu gefasst. Mit Art. 14 § 16 des Kindschaftsrechtsreformgesetzes vom 16.12.1997 (BGBl. I S. 2942) erfolgte eine Anpassung an die veränderte zivilrechtliche Rechtslage. Durch Art. 3 § 32 Nr. 1 des Gesetzes zur Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften (Lebenspartnerschaften) vom 16.2.2001 (BGBl. I S. 266) erfolgte die Aufnahme der Lebenspartnerschaft, geändert durch Art. 5 Abs. 29 des Gesetzes zur Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsrechts vom 15.12.2004 (BGBl. I S. 3396) und Art. 14 des Gesetzes zur Umsetzung des GesetHilgendorf

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Personen- und Sachbegriffe | § 11

zes zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts vom 18.12.2018 (BGBl. I S. 2639). Absatz 1 Nr. 2 Buchst. c wurde durch Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Bekämpfung der Korruption vom 13.8.1997 (BGBl. I S. 2038) um den Zusatz „unbeschadet der zur Aufgabenerfüllung gewählten Organisationsform“ erweitert. Durch Art. 4 Nr. 1 des Gesetzes zur Regelung der Rahmenbedingungen für Informations- und Kommunikationsdienste (Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetz; IuKDG) vom 22.7.1997 (BGBl. I S. 1870) wurde in Absatz 3 mit Wirkung vom 1.8.1997 (Art. 11 IuKDG) das Wort „Datenspeicher“ eingefügt. Art. 1 Nr. 3 des Gesetzes zur Bekämpfung der Korruption vom 20.11.2015 (BGBl. I S. 2025) hat in § 11 Abs. 1 Nr. 2a den Begriff des „Europäischen Amtsträgers“ eingeführt. Zu jüngsten Reformbestrebungen s. Rdn. 127. Gesetzesmaterialien AE § 10 Abs. 1 Nrn. 1 bis 4; E 62 §§ 10, 11, Begr. BTDrucks. IV/650, S. 114 ff; Niederschriften d. GrStrafRKomm. Bd. 4 S. 14, 367, 409, 414, 417; Bd. 5 S. 120 ff, 134, 245 ff, 254, 256; Bd. 6 S. 33 ff, 78, 295, 302, 329; Bd. 7 S. 13 ff; Bd. 8 S. 170, 378, 562; Bd. 9 S. 388 ff, 568 ff; Bd. 10 S. 145, 282 ff, 258 ff, 268, 282 ff, 338 ff, 343 f, 354 ff, 470, 480; Bd. 12 S. 551, 573, 597; Bd. 13 S. 75, 307, 702; 1. Ber., BTDrucks. 7/1261 S. 4; 2. Bericht, BTDrucks. V/4095 S. 7; Prot. d. Sonderausschusses V/7 S. 237, 541, 835, 857, 883, 942, 995, 2442, 3128, 3254, 3282; E-EGStGB Art. 17 I Nr. 5a bb, Begr. S. 208 ff (BTDrucks. 7/550), 7/1261 S. 11; EGStGB v. 2.4.1974 (BGBl. I S. 469) Art. 18 II Nr. 5bb; Prot. d. Sonderausschusses VII/159; BTDrucks. 13/4899 S. 143 (Kindschaftsrechtsreformgesetz); BTDrucks. 13/5584 S. 9 und 12 (Gesetz zur Bekämpfung der Korruption); BTDrucks. 13/7385 S. 36 (IuKDG); BTDrucks. 13/10424 S. 12 f; BTDrucks. 13/10428 S. 9 ff; BTDrucks. 13/10768; BTDrucks. 14/3751 S. 62, 14/4550 S. 8 (Lebenspartnerschaftsgesetz); BTDrucks. 15/3445 S. 19, 15/4052 S. 30 (Gesetz zur Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsrechts); BTDrucks. 18/4350 S. 5 ff (Gesetz zur Bekämpfung der Korruption).

I. II.

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Übersicht Bedeutung der Vorschrift | 1 Inhalt der einzelnen Begriffe des Absatzes 1 1. Angehöriger (§ 11 Abs. 1 Nr. 1) a) Anwendungsbereich des Begriffs im Gesetz | 2 b) Auslegung des Begriffs | 3 c) Personengruppen Angehöriger aa) Verwandte in gerader Linie | 4 bb) Verschwägerte in gerader Linie | 8 cc) Ehegatten | 10 dd) Lebenspartner | 11 ee) Verlobte | 12 ff) Verwandte und Verschwägerte aus der Seitenlinie | 13 gg) Pflegeeltern und Pflegekinder | 15 d) Nahestehende Personen, die nicht Angehörige sind | 16

2.

Amtsträger (§ 11 Abs. 1 Nr. 2, 2a) a) Allgemeines | 19 b) Gruppen der Amtsträger | 21 aa) Beamte | 26 bb) Richter | 30 cc) Inhaber eines sonstigen öffentlich-rechtlichen Amtes | 31 dd) Bestellte für Aufgaben der öffentlichen Verwaltung | 33 Bestellung | 35 Behörde oder sonstige Stelle | 39 Aufgaben der öffentlichen Verwaltung | 42 Wahrnehmung solcher Aufgaben durch den Bestellten | 52 c) Beispiele | 53 d) Innere Tatseite | 59 e) Europäische Amtsträger | 60

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§ 11 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

Richter (§ 11 Abs. 1 Nr. 3) | 61 a) Gruppen von Richtern aa) Berufsrichter | 62 bb) Ehrenamtliche Richter | 63 b) Nicht zu den Richtern gehörende Personen | 64 4. Für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteter (§ 11 Abs. 1 Nr. 4) a) Allgemeines | 65 b) Voraussetzungen aa) Ausschluss der Amtsträgerschaft | 66 bb) Stellen der Beschäftigung oder Tätigkeit | 67 cc) Art der Stellung | 70 dd) Förmliche Verpflichtung | 71 c) Innere Tatseite | 74 5. Rechtswidrige Tat (§ 11 Abs. 1 Nr. 5) a) Bedeutung der Vorschrift | 75 b) Zum Inhalt im Einzelnen | 78 Unternehmen einer Tat (§ 11 Abs. 1 Nr. 6) | 81 a) Anwendungsbereich des Begriffs | 82 b) Folgerungen aus dem Begriff | 83 c) Das Problem der tätigen Reue | 85 3.

6.

d)

III.

IV.

Unechte Unternehmensdelikte | 87 7. Behörde (§ 11 Abs. 1 Nr. 7) a) Bedeutung der Vorschrift | 92 b) Inhalt des Begriffs „Behörde“ | 93 c) Gericht | 95 8. Maßnahme (§ 11 Abs. 1 Nr. 8) a) Bedeutung der Vorschrift | 97 b) Auslegung des Begriffs | 98 9. Entgelt (§ 11 Abs. 1 Nr. 9) a) Begriff | 100 b) Anwendungsbereich | 102 Der Vorsatzbegriff des Absatzes 2 | 104 1. Bedeutung der Vorschrift | 105 2. Folgerungen aus dem Vorsatzcharakter | 108 a) Teilnahme | 109 b) Versuch | 110 c) Weitere Bereiche | 114 Die Gleichstellungsklausel des Absatzes 3 1. Bedeutung der Vorschrift | 115 2. Der Inhalt der gleichgestellten Begriffe a) Schriften | 116 b) Tonträger | 117 c) Bildträger | 118 d) Datenspeicher | 121 e) Abbildungen | 124 f) Darstellung | 125 g) Reformbestrebungen | 127

I. Bedeutung der Vorschrift 1

Die Vorschrift hat nicht nur rechtstechnische Bedeutung (dazu BGH NStZ 1987 23), sondern dient der Sicherung und Verbesserung (straf-)gesetzlicher Bestimmtheit (Art. 103 Abs. 2 GG). Sie definiert eine Reihe von Personenbegriffen (Abs. 1 Nrn. 1 bis 4) und von Sachbegriffen (Abs. 1 Nrn. 5 bis 9). Sie stellt ferner in Absatz 2 klar, dass Taten, die eine vorsätzliche Begehung voraussetzen, aber eine fahrlässige Erfolgsverursachung genügen lassen (Mischtatbestände, Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombination), im Rechtssinne Vorsatzdelikte sind. Schließlich werden in Absatz 3 Ton- und Bildträger, Datenspeicher, Abbildungen und andere Darstellungen den Schriften gleichgestellt. Die einzelnen Begriffsbestimmungen stehen (mit Ausnahme der Nrn. 2 bis 4 des Absatzes 1) in keinem inneren Zusammenhang. Sie gehören sachlich zu den Vorschriften, welche die Begriffe verwenden. Obwohl die Begriffsbestimmungen nach dem Wortlaut („im Sinne dieses Gesetzes“) nur für das StGB Geltung beanspruchen, geht ihr Anwendungsbereich darüber hinaus. Er erstreckt sich auf das gesamte Strafrecht des Bundes und der Länder, wie sich aus Art. 1 EGStGB ergibt. Dazu gehört grundsätzlich auch das Nebenstrafrecht, das an zahlreichen Stellen (z.B. § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 12 BtMG, § 40 WStrG) auf den Begriffskatalog des § 11 verweist. Doch ist infolge der Verflechtung mit anderen Rechtsgebieten auf den jeweiligen Normzweck und den Normzusammenhang Bedacht zu nehHilgendorf

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Personen- und Sachbegriffe | § 11

men.1 Für die Auslegung nichtstrafrechtlicher Normen sind die Begriffsbestimmungen des § 11 nicht maßgebend. II. Inhalt der einzelnen Begriffe des Absatzes 1 1. Angehöriger (§ 11 Abs. 1 Nr. 1). Zur Entstehungsgeschichte: Niederschriften der GrStrafRKomm. Bd. 5 S. 124, 246, 248, 254, 256; Bd. 6 S. 329. a) Anwendungsbereich des Begriffs im Gesetz. Die Definition entspricht weitge- 2 hend dem § 52 Abs. 2 a.F. mit einigen Klarstellungen, die Art. 6 Nr. 1 des Adoptionsgesetzes vom 2.7.1976 (BGBl. I S. 1749) und die Auslegung der Vorschrift durch die Rechtsprechung gebracht haben. Außerdem wurde sie an die veränderte zivilrechtliche Lage – Gleichstellung nichtehelicher Kinder durch das Kindschaftsrechtsreformgesetz vom 16.12.1997 (BGBl. I S. 2942), Anerkennung der Lebenspartnerschaft durch das Lebenspartnerschaftsgesetz vom 16.2.2001 (BGBl. I S. 266) – angepasst. Die Fassung der Definition entstammt § 10 Nr. 3 E 62.2 Wo das Gesetz den Begriff des Angehörigen verwendet, geht es meistens um Privilegierungen des Täters. Sie sind rechtspolitisch unterschiedlich motiviert:3 Zum einen sind es Fälle, bei denen der Täter zugunsten eines Angehörigen tätig oder wegen einer vergleichbaren Konfliktlage privilegiert wird (§ 35 Abs. 1, § 139 Abs. 3 Satz 1, § 157 Abs. 1, § 213, § 258 Abs. 6); zum anderen handelt es sich um Taten gegen Angehörige, bei denen der Täter dadurch privilegiert wird, dass die Tat nicht von Amts wegen verfolgt wird, sondern ein Strafantrag des Geschädigten erforderlich ist (§ 247, auf den §§ 248c Abs. 3, 259 Abs. 2, 263 Abs. 4, 265a Abs. 3, 266 Abs. 2 verweisen; § 294). In diesen Fällen soll es von der freien Entschließung des mit dem Täter familiär oder häuslich eng verbundenen Geschädigten abhängen, ob ein Strafverfahren in Gang gesetzt wird. Bei der Frage einer (zugunsten des Täters) analogen Anwendung des Angehörigenbegriffs kann es von Bedeutung sein, ob der Täter zugunsten eines Angehörigen gehandelt hat oder ob sich die Tat gegen den Angehörigen richtet.4 Der Angehörigenbegriff wird auch im Zusammenhang mit dem Übergang des Strafantragsrechts beim Tod des Antragsberechtigten verwendet (§ 77 Abs. 2 Satz 3, § 77b Abs. 4, § 77d Abs. 2 Satz 2, § 165 Abs. 1 Satz 2 und 3, § 194 Abs. 1 und 2, § 205 Abs. 2, § 230 Abs. 1 Satz 2). b) Auslegung des Begriffs. Der Angehörigenbegriff des § 11 ist, obwohl er dem 3 Sprachgebrauch des BGB angepasst ist, grundsätzlich nach strafrechtlichen Auslegungskriterien anzuwenden. Dies entspricht herkömmlichem Recht.5 § 11 Abs. 1 Nr. 1 gilt nur, wo allgemein auf „Angehörige“ verwiesen wird, nicht dort, wo besondere Vorschriften (z.B. § 77 Abs. 2 Satz 1 und 2, § 173) aussprechen, welche Angehörigen gemeint sind. Für die Frage, ob ein Angehörigenverhältnis vorliegt, ist der Zeitpunkt der Tat (§ 8) maßgebend.6 Handelt der Täter in einer Notstandslage im Sinne des § 35, die durch eine Nötigungshandlung gegen einen Angehörigen herbeigeführt worden ist, so kommt es für die Angehörigeneigenschaft des Gefährdeten auf den Zeitpunkt der abgenötigten Tat an und nicht etwa auf den der Drohung. § 35 ist also nicht anwendbar, wenn z.B.

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1 Sch/Schröder/Hecker Rdn. 1. 2 Sie wurde durch Art. 18 Abs. 2 Nr. 5 Buchst. a EGStGB vom 2.3.1974 (BGBl. I S. 469) redaktionell dem NEhelG vom 19.8.1969 (BGBl. I S. 1243) angeglichen. Mit der Gleichstellung von ehelichen und nichtehelichen Kindern wurde dies überflüssig, vgl. Art. 14 § 16 KindRG; BTDrucks. 13/4899 S. 143. 3 Hierzu im Einzelnen Niederschriften Bd. 5 S. 119 ff, 123 ff; ferner Stratenwerth ZStW 76 (1964) 674. 4 Ebenso nun Radtke MK Rdn. 3, 13. 5 RGSt 34 418, 420 f; 48 198; BGHSt 7 245, 246. 6 Radtke MK Rdn. 4.

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§ 11 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

zwischen Drohung und abgenötigter Handlung das Verlöbnis aufgelöst worden ist.7 Das Angehörigenverhältnis ist im Übrigen stets ein gegenseitiges: Nicht nur der Bruder ist Angehöriger des Ehemannes seiner Schwester, sondern auch der Ehemann ist Angehöriger des Bruders seiner Ehefrau.8 c) Personengruppen Angehöriger aa) Verwandte in gerader Linie (§ 11 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a). Es sind Personen, deren eine von der anderen abstammt (§ 1589 Abs. 1 Satz 1 BGB) oder die kraft Gesetzes im Wege einer Volladoption (Annahme als Kind) in einem rechtlich gleichwertigen Verwandtschaftsverhältnis stehen (§§ 1741, 1754 Abs. 1 und 2 BGB). Verwandtschaft in gerader Linie ist auf- und absteigend zu verstehen und ohne Beschränkung nach Graden, d.h. der Zahl der die Verwandtschaft vermittelnden Geburten (§ 1589 Abs. 1 Satz 3 BGB). Nicht in § 11 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a erwähnt sind Verwandte der Seitenlinie (§ 1589 Abs. 1 Satz 2 BGB) wie vor allem Geschwisterkinder (Neffen und Nichten) und die Geschwister der Eltern (Onkel und Tanten).9 Von den Verwandten der Seitenlinie zählen – infolge ihrer ausdrücklichen Erwähnung im Gesetz – nur die Geschwister zu den Angehörigen im Sinne des materiellen Strafrechts (Rdn. 13f). Im Prozessrecht dagegen sind Verwandte in der Seitenlinie bis zum dritten Grade (sowie Verschwägerte in der Seitenlinie bis zum zweiten Grade) zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt (§ 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO). Für den Begriff der Verwandtschaft kommt es im Strafrecht – falls man von dem 5 durch Volladoption begründeten Verwandtschaftsverhältnis absieht10 – auf die blutsmäßige Abstammung an. Das entspricht herkömmlicher strafrechtlicher Auslegung (BGHSt 7 245) und wurde durch den Einschub „(und zwar auch dann …,) wenn die Beziehung durch eine nichteheliche Geburt vermittelt wird“ ausdrücklich klargestellt, obwohl es dessen nach Wegfall des § 1589 Abs. 2 BGB11 nicht mehr bedurft hätte. Die Klarstellung wurde durch das Kindschaftsrechtsreformgesetz vom 16.12.1997 (BGBl. I S. 2942) gestrichen, das die Unterscheidung zwischen nichtehelichen und ehelichen Kindern aufhob. Der nichteheliche Vater, der im Unterhaltsprozess des Kindes den Geschlechtsverkehr mit der Kindsmutter wahrheitswidrig bestreitet, kann demnach nur dann wegen Prozessbetrugs verfolgt werden, wenn das Kind als Geschädigter Strafantrag (§§ 247, 263 Abs. 4) gestellt hat (BGH NStZ 1985 407). Da die blutsmäßige Abstammung entscheidet, ist für das Strafrecht die Ehelichkeitsvermutung des § 1592 Nr. 1 BGB ohne Bedeutung.12 6 Für die Frage, ob ein Angehörigenverhältnis vorliegt, kommt es auf die Beurteilung des erkennenden Gerichts an (BGHSt 7 245, 246). Doch wird die Entscheidungsfreiheit des Strafrichters bei einem durch (eheliche und nichteheliche) Abstammung begründeten Angehörigenverhältnis insofern eingeschränkt, als Vaterschaftsanerkenntnisse (vgl. BGH NJW 1999 1632) und Statusurteile „für und gegen alle“ wirken. Zwar kann sich eine solche Inter-omnes-Wirkung nicht ohne weiteres auch auf den Strafrichter erstrecken. Die Faktizität der Bindung anderer kann er aber nicht außer Acht lassen. Bei

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7 Baldus LK9 § 52 Rdn. 27. 8 RG GA Bd. 51 47; Frank § 52 Anm. IV a.E. 9 E 62, Begr. BTDrucks. IV/650, S. 115; 2. Bericht, BTDrucks. V/4095 S. 7; zum früheren Recht RG JW 1935 3467. 10 Zu den unterschiedlichen Rechtsfolgen bei der Adoption Volljähriger und der Adoption Minderjähriger vgl. Radtke MK Rdn. 6. 11 § 1589 Abs. 2 BGB i.d.F. vor dem G vom 19.8.1969 (BGBl. I S. 1243): „Ein uneheliches Kind und dessen Vater gelten nicht als verwandt.“ 12 RG JW 1938 1315; Radtke MK Rdn. 5.

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Personen- und Sachbegriffe | § 11

§ 170 bejaht die Rechtsprechung (BGHSt 26 111, 113)13 eine Bindung des Strafrichters an Statusurteile. Immer bleibt zu beachten, dass letztlich strafrechtliche Auslegungskategorien maßgebend bleiben. Aus diesem Grunde kam es bei § 173 (Beischlaf zwischen Verwandten) nach h.M. von jeher auf die biologische Abstammung an und nicht etwa auf einen Statusakt im Sinne des § 1600d BGB.14 Durch die Neufassung des § 173 (Art. 6 Nr. 3 AdoptionsG vom 2.7.1976, BGBl. I S. 1749) wurde dies klargestellt. Die strafrechtliche Angehörigeneigenschaft dauert fort, wenn ein Verwandtschafts- 7 verhältnis dadurch erlischt, dass ein Kind angenommen (vgl. § 1755 BGB) oder eine Annahme als Kind wieder aufgehoben wird (§ 1764 Abs. 2 BGB).15 bb) Verschwägerte in gerader Linie (§ 11 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a). Verschwägert in 8 gerader Linie (§ 1590 Abs. 1, § 1589 Abs. 1 Satz 1 BGB) sind die in gerader Linie Verwandten des einen Ehegatten im Verhältnis zum anderen Ehegatten. Letzterer ist somit in gerader Linie verschwägert mit seinen Schwiegereltern und seinen Stiefkindern, die Verwandten seines Ehepartners mit ihm als Schwiegerkind oder Stiefvater bzw. -mutter. Verschwägert in diesem Sinne sind auch das nichteheliche Kind des einen Ehegatten mit dem anderen (vgl. bereits BGHSt 10 400) und der Ehegatte eines Adoptivkindes mit den Adoptiveltern (vgl. § 1754 BGB). Die Schwägerschaft wird durch eine formell gültige Ehe begründet. Nach § 11 Abs. 1 9 Nr. 1 Buchst. a a.E. überdauert das Angehörigenverhältnis die Auflösung der Ehe, durch die es begründet wurde (vgl. im Zivilrecht § 1590 Abs. 2 BGB; für das Strafrecht BGHSt 7 383, 385). Unerheblich ist, ob die Ehe durch den Tod des die Schwägerschaft vermittelnden Ehegatten, durch Scheidung oder durch Aufhebung der Ehe aufgelöst wird. Entsprechendes gilt beim strafrechtlichen Angehörigenbegriff im Falle der Aufhebung einer Lebenspartnerschaft nach § 15 LPartG16 sowie des Erlöschens von Verwandtschaftsverhältnissen bei der Annahme als Kind (§ 1755 BGB) und bei der Aufhebung einer solchen Annahme (§ 1764 Abs. 2 BGB). cc) Ehegatten (§ 11 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a). Es sind Personen, die miteinander in for- 10 mell gültiger Ehe leben (RGSt 60 246, 248). Eine „Nichtehe“ begründet kein Angehörigenverhältnis. Dass die Ehe aufhebbar (§§ 1313 ff BGB) ist, steht ihm aber nicht entgegen.17 In § 11 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a a.E. ist, abweichend von der früheren Rechtsprechung,18 klargestellt, dass das Angehörigenverhältnis fortdauert, wenn die Ehe, welche die Beziehung begründet hat, nicht mehr besteht.19 Das Gesetz nimmt auf die durch die Ehe begründeten nahen Beziehungen auch nach dem Wegfall des rechtlichen Bandes Rücksicht.20 Das Angehörigenverhältnis besteht daher nach der Scheidung oder der Aufhebung der Ehe weiter, und zwar nicht nur das Verhältnis der Ehegatten untereinander, sondern auch das Schwägerschaftsverhältnis (Rdn. 9).21 Dies gilt aber nur, wenn das Gesetz allgemein von Angehörigen spricht, nicht hingegen, wenn von „Ehegatten“ die Rede ist und sich aus dem Normzusammenhang ergibt, dass zum Zeitpunkt der Tat (Rdn. 3)

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13 Hierzu Heimann-Trosien JR 1976 235; OLG Stuttgart NJW 1973 2306; vgl. zu dieser Problematik allgemein Schwab NJW 1960 2169, 2173; Eggert MDR 1974 445. 14 Vgl. Eggert MDR 1974 445. 15 Radtke MK Rdn. 6; Fischer Rdn. 4. 16 Radtke MK Rdn. 9. 17 RGSt 56 427, 429; 60 246, 249; 61 197, 199; aA RG Rspr. 5 188 ff. 18 BGHSt 7 383; OLG Celle NJW 1958 471. 19 So schon für § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO BGHSt 9 37, 38 f. 20 E 62, Begr. BTDrucks. IV/650, S. 115. 21 Sch/Schröder/Hecker Rdn. 7; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 2; Saliger NK Rdn. 9; Fischer Rdn. 5.

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§ 11 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

eine bestehende Ehe vorausgesetzt wird (vgl. §§ 77 Abs. 2, 77d Abs. 2, § 181a Abs. 3).22 Personen, die nichtehelich zusammenleben, fallen nicht unter den Begriff der Ehegatten; sie können aber einander „nahestehende Personen“ im Sinne des § 35 Abs. 1 sein. 11

dd) Lebenspartner (§ 11 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a). Lebenspartnerschaft ist nur die eingetragene Lebenspartnerschaft im Sinne von § 1 Abs. 1 LPartG aF, d.h. eine gleichgeschlechtliche, in der gesetzlichen Form geschlossene, auf Lebenszeit angelegte eheähnliche Geschlechts- und Lebensgemeinschaft von zwei Personen.23 Sonstige Lebensgemeinschaften sind nicht erfasst.24 Die Lebenspartnerschaft ist verfassungskonform, sie verstößt nicht gegen Art. 6 Abs. 1 oder Art. 3 Abs. 1 GG (BVerfG NJW 2002 2543; NJW 2001 2457). Die Verwandten eines Lebenspartners gelten als mit dem anderen Lebenspartner verschwägert (§ 11 Abs. 2 LPartG). Seit 1.10.2017 können gleichgeschlechtliche Partner heiraten oder ihre bereits bestehende Lebenspartnerschaft in eine Ehe umwandeln.25 Sie sind dann Ehegatten (§ 1353 Abs. 1 Satz 1 BGB n.F.; Rdn. 10). Eine Pflicht zur Umwandlung einer Lebenspartnerschaft in eine Ehe besteht indes nicht (§ 20a LPartG). In diesem Fall besteht die Lebenspartnerschaft fort. Eine Neubegründung einer Lebenspartnerschaft ist allerdings nicht mehr möglich (§ 1 Satz 1 LPartG).26

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ee) Verlobte (§ 11 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a). Verlobt miteinander sind Personen, die einander ein ernstliches und unbedingtes Eheversprechen gegeben haben; auf die zivilrechtliche Gültigkeit kommt es nicht an (BGHSt 29 54, 57; BGH JZ 1989 256).27 Auch beschränkt Geschäftsfähige können, soweit sie die Bedeutung der Bindung richtig verstehen, ohne Einwilligung des gesetzlichen Vertreters verlobt sein (RGSt 38 242, 243).28 Ein Ehehindernis schließt strafrechtlich ein Verlöbnis nicht aus.29 Öffentlich braucht das Verlöbnis nicht bekannt gegeben zu sein;30 es muss aber beiderseits ernsthaft gemeint sein und darf im Übrigen nicht gegen ein Gesetz oder gegen die guten Sitten31 verstoßen. Daher begründet das Heiratsversprechen eines Heiratsschwindlers kein Verlöbnis (BGHSt 3 215; 29 54, 57; BGH JZ 1989 256), ebenso wenig – unbeschadet des § 116 BGB (RGZ 149 148) – das eines anderweitig Verlobten (RGSt 71 152, 154). In aller Regel fehlt es auch an einem wirksamen Verlöbnis, wenn der eine Partner noch verheiratet ist (BGH NJW 1984 135, 136 = JR 1984 339 mit Anm. Rudolphi; BayObLG NJW 1983 831 f).32 Etwas anderes kann gelten, wenn der verheiratete Partner ein Recht zur Scheidung hat und wenn er sie betreibt33 oder wenn der Ehemann der Partnerin vermisst ist und sie ehrlich

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22 E 62, Begr. BTDrucks. IV/650, S. 115; Fischer Rdn. 6. 23 Allgemein zur Lebenspartnerschaft Beck NJW 2001 1894; Braun ZRP 2001 14; Britz ZRP 2001 324; Kaiser JZ 2001 617; Sachs JR 2001 45. 24 Sch/Schröder/Hecker Rdn. 8; aA Müther JA 2004 375, 377 f. 25 BGBl. I S. 2787. 26 Art. 3 Abs. 3 des Gesetzes zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts, BGBl. I S. 2787. 27 RGSt 10 117 ff; 35 49, 52; 38 242, 244; RG DR 1941 2178; BGHSt 3 215, 216. 28 BGH LM § 222 Nr. 25; Sch/Schröder/Hecker Rdn. 9; Radtke MK Rdn. 12; Jescheck/Weigend § 44 I 3. 29 RGSt 40 420, 421 f. 30 Baldus LK9 § 52 Rdn. 34. 31 RGSt 35 49; 38 242. 32 RGSt 24 155, 157; 61 270; RG JW 1937 3302; Sch/Schröder/Hecker Rdn. 9; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 2; Saliger NK Rdn. 11; Radtke MK Rdn. 12; Fischer Rdn. 8a. 33 BGH VRS 36 20; LG Duisburg NJW 1950 714; Sch/Schröder/Hecker Rdn. 9; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 2; aA BayObLG NJW 1983 831 f = JR 1984 125 mit krit. Anm. Strätz; Radtke MK Rdn. 12; offen gelassen in RG DR 1943 86, 87; BGH NStZ 1983 564 m. Anm. Pelchen.

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an seinen Tod glaubt.34 Ein Verlöbnis im strafrechtlichen Sinne endet, wenn ein Partner den Heiratswillen nicht mehr hegt, mag er dies dem anderen Teil auch noch nicht mitgeteilt haben (BGH JZ 1989 256). Ebenso wie für die Begründung eines Verlöbnisses kommt es für seine Beendigung aus strafrechtlicher Sicht somit entscheidend auf die tatsächlichen Umstände an, nicht auf die Einhaltung zivilrechtlicher Formen.35 Ist ein Verlöbnis nicht erwiesen, aber möglich, so ist sachlich-rechtlich zugunsten des Angeklagten von einem Verlöbnis auszugehen (BayObLG NJW 1961 1222). Durch das Gesetz zur Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsrechts vom 15.12.2004 (BGBl. I S. 3396) wurde hinter dem Wort „Verlobte“ der Satzteil „auch im Sinne des Lebenspartnerschaftsgesetzes“ eingefügt. Damit war Angehöriger nach § 11 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a auch der Verlobte im Sinne des § 1 Abs. 4 LPartG aF.36 Weil eine Lebenspartnerschaft seit dem 1.10.2017 nicht mehr begründet werden kann, laufen solche Versprechen künftig leer. Deshalb wurde der entsprechende Passus in § 11 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a durch das Gesetz zur Umsetzung des Gesetzes zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts vom 18.12.2018 (BGBl. I S. 2639) wieder aufgehoben. § 20a LPartG, der bei bereits bestehender Lebenspartnerschaft für die Umwandlung in eine Ehe eine formgebundene Erklärung verlangt, spricht tendenziell gegen eine automatische Umdeutung eines Lebenspartnerschaftsversprechens in ein Eheverlöbnis.37 Der Zweck des Gesetzes, das die Stellung gleichgeschlechtlicher Paare stärken sollte, dürfte es allerdings zwingend gebieten, Personen, die sich vor dem 1.10.2017 eine Lebenspartnerschaft versprachen, weiterhin die Angehörigeneigenschaft zuzuschreiben. ff) Verwandte und Verschwägerte aus der Seitenlinie (§ 11 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a). 13 Zu den Angehörigen im strafrechtlichen Sinne gehören von den Verwandten aus der Seitenlinie nur die Geschwister. Entferntere Verwandtschaft in der Seitenlinie, wie zum Beispiel zwischen Onkel und Nichte, Vetter und Base, begründet kein Angehörigenverhältnis.38 Von den Verschwägerten aus der Seitenlinie sind Angehörige nur die Ehegatten bzw. Lebenspartner der Geschwister sowie die Geschwister der Ehegatten bzw. Lebenspartner (Schwäger und Schwägerinnen), nicht jedoch die Ehegatten oder Lebenspartner von Geschwistern untereinander39 (z.B. die Tochtermänner, sog. Schwippschwägerschaft). Auch bei den Geschwistern entscheidet die Blutsverwandtschaft. Es kommt nicht 14 darauf an, ob sie in materiell gültiger Ehe oder nichtehelich geboren sind, auch nicht, ob sie halb- oder vollbürtig sind (OLG Düsseldorf NJW 1958 394). Sie müssen aber mindestens einen gemeinsamen Elternteil haben.40 Bringen beide Ehegatten in ihre Ehe Kinder ein, so sind die („zusammengebrachten“) Kinder weder Geschwister noch verschwägert. Sie können aber als Pflegekinder des anderen Elternteils angesehen werden (s. Rdn. 15). Auch die Adoption schafft ein Geschwisterverhältnis zwischen leiblichen und adoptierten Kindern der Ehegatten (vgl. § 1754 BGB). Bei Auflösung der Ehe oder Aufhebung der Adoption (§ 1764 Abs. 2 BGB), die das Geschwisterverhältnis begründet, gelten die Ausführungen Rdn. 9.

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34 Baldus LK9 § 52 Rdn. 34. 35 RGSt 75 290; BGHSt 3 215, 216; OLG Koblenz NJW 1958 2027; Fischer Rdn. 8a; aA RGSt 71 154 f; OLG Kiel DStR 1937 63; Sch/Schröder/Hecker Rdn. 9; Radtke MK Rdn. 12. 36 So zuvor bereits Kranz StV 2004 518. 37 Kaiser FamRZ 2017 1985, 1995. 38 RG JW 1935 3467. Anders insoweit E 1936 § 86 Nr. 1; vgl. E 62, Begr. BTDrucks. IV/650, S. 115. Krit. auch Stratenwerth ZStW 76 (1964) 675; Sch/Schröder/Hecker Rdn. 5. 39 RGSt 15 78, 79 f; RG GA Bd. 1 51 47; Sch/Schröder/Hecker Rdn. 6. 40 Sch/Schröder/Hecker Rdn. 5; Radtke MK Rdn. 7.

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gg) Pflegeeltern und Pflegekinder (§ 11 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b). Gemeint ist ein Verhältnis, das dem zwischen Eltern und Kindern ähnlich und tatsächlich so ausgestaltet ist, dass es ebenso wie dieses ein dauerndes, sittlich gleichartiges Band zwischen den Verbundenen herstellt (Nachbildung der natürlichen Elternschaft).41 Auch Stiefeltern können in diesem Sinne Pflegeeltern sein (RGSt 41 198 ff). Das Verhältnis endet nicht notwendig mit der Volljährigkeit und Selbständigkeit des Kindes.42 Die häusliche Gemeinschaft als solche begründet noch kein Pflegeverhältnis; es kann sich aber aus ihr eines entwickeln, und zwar auch nach der Volljährigkeit. Ein Lehrverhältnis als solches begründet noch kein Pflegeverhältnis (RGSt 27 129, 132).

d) Nahestehende Personen, die nicht Angehörige sind. Die Aufzählung der Personengruppen in § 11 Abs. 1 Nr. 1 ist abschließend.43 Auch Personen, die in außerehelicher Lebensgemeinschaft ehegleich oder in Wohngemeinschaften zusammenleben, fallen nicht unter den Angehörigenbegriff (BGH NJW 1984 135, 136; BayObLG NJW 1986 202 f; OLG Braunschweig NStZ 1994 344 f).44 Hingegen bestimmt das österreichische Strafrecht in § 72 Abs. 2 öStGB:45 „Personen, die miteinander in Lebensgemeinschaft leben, werden wie Angehörige behandelt, Kinder und Enkel einer von ihnen werden wie Angehörige auch der anderen behandelt.“ 17 Im deutschen Strafrecht werden in besonderen Vorschriften neben den „Angehörigen“ dem Täter „nahestehende Personen“ (§ 35 Abs. 1) oder solche, die in „häuslicher Gemeinschaft“ leben (§ 247), ausdrücklich erwähnt. Früher wurde im Bereich des Antragserfordernisses eine Analogie zugunsten des Täters angenommen (vgl. § 1 Rdn. 286). Heute kann eine sinngemäße Anwendung des Angehörigenbegriffs auch auf Personen in Betracht kommen, die ehegleich zusammenleben.46 Nur auf diese Weise können im Einzelfall unangemessene Ergebnisse vermieden werden, auf die schon Stratenwerth ZStW 76 (1964) 675 hingewiesen hat. Eine allgemeine analoge Anwendung des Angehörigenbegriffs auf Partner nicht18 ehelicher Lebensgemeinschaften ist jedoch abzulehnen (OLG Braunschweig NStZ 1994 344 f; OLG Celle NJW 1997 1084).47 Auch häusliche Gemeinschaft begründet für sich allein keine Angehörigeneigenschaft, wie sich aus § 247 ergibt; dort unterscheidet das Gesetz zwischen Angehörigen und in häuslicher Gemeinschaft lebenden Personen (BayObLG JR 1987 37 mit insoweit abl. Anm. Krümpelmann/Hensel). 16

2. Amtsträger (§ 11 Abs. 1 Nr. 2, 2a) E 62 19

a) Allgemeines. Die Gesetzesdefinitionen des § 11 Abs. 1 Nrn. 2 bis 4 stehen miteinander in engem Zusammenhang. Sie sind an die Stelle des „strafrechtlichen Beamtenbegriffs“ nach § 359 a.F. sowie des Begriffs der „besonders Verpflichteten“ im Sinne des § 353b Abs. 2 a.F. und des § 1 BestechVO48 getreten. Die Festlegungen beziehen sich im

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41 RGSt 58 61; 70 324 f. 42 RGSt 13 148, 150 f; BayObLGSt 1 16; Sch/Schröder/Hecker Rdn. 12. 43 Fischer Rdn. 2. 44 Sch/Schröder/Hecker Rdn. 10; Radtke MK Rdn. 13; Fischer Rdn. 10. 45 Zum personenstandesrechtlich orientierten Angehörigenbegriff in Österreich Schwaighofer ÖJZ 2001 661. 46 Ähnlich Sch/Schröder/Hecker Rdn. 10. 47 Ebenso zu § 52 StPO Pelchen Pfeiffer-Festschrift (1988) S. 287, 294 f; aA Battes JZ 1988 957, 963. 48 VO gegen Bestechung und Geheimnisverrat nicht-beamteter Personen vom 3.5.1917/22.3.1943 (RGBl. I S. 351), aufgehoben durch Art. 287 Nr. 3 EGStGB vom 2.3.1974 (BGBl.I S. 469).

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Personen- und Sachbegriffe | § 11

Wesentlichen auf denselben Personenkreis wie früher, ermöglichen jedoch genauere Abgrenzungen.49 Die Rechtsprechung zum strafrechtlichen Beamtenbegriff (§ 359 a.F.), die früher für das gesamte Strafrecht maßgebend war (RGSt 29 15, 18), hat auch für das geltende Recht Bedeutung. Begriffsbestimmungen für den Amtsträger (§ 11 Abs. 1 Nr. 2), den Richter (§ 11 Abs. 1 Nr. 3) und den für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten (§ 11 Abs. 1 Nr. 4) enthielt bereits § 10 Nrn. 4 bis 7 E 62 (ebenso § 10 Abs. 1 Nrn. 1 bis 4 AE). § 11 i.d.F. des 2. StrRG verzichtete jedoch auf solche Definitionen im Hinblick auf die ihnen widerfahrene Kritik.50 Indessen ergab sich bei der Fassung der Vorschriften über die Verletzung von Privatgeheimnissen (§ 203), bei der Neufassung der Bestechungs- und Amtsdelikte (§§ 331 ff) und im Interesse der Bereinigung des Sprachgebrauchs und der Vereinheitlichung von über 100 besonderen Vorschriften51 eine Notwendigkeit für solche Begriffsbestimmungen, freilich in verbesserter Form, die den erhobenen Einwendungen Rechnung trug. Das Gesetz hat beim Amtsträgerbegriff – abweichend von § 10 Nr. 4 E 62 – auf die Unterscheidung zwischen hoheitlicher und fiskalischer Tätigkeit verzichtet, weil die Tatbestände, bei denen eine hoheitliche Tätigkeit der Amtsträger vorausgesetzt wird (z.B. § 113 f, § 120 Abs. 2, § 121 Abs. 1 Nr. 1, § 174b Abs. 1, § 258a Abs. 1, §§ 331 bis 334, § 339, § 340 Abs. 1, §§ 343 bis 345, § 348 Abs. 1, § 352 Abs. 1, § 353, § 357 Abs. 2), dies schon in ihrer Fassung zum Ausdruck bringen. Die Legaldefinitionen der Nummern 2 bis 4 gelten nicht nur für die von diesem Per- 20 sonenkreis begangenen Straftaten (§ 97b Abs. 2, § 120 Abs. 2, § 133 Abs. 3, § 174b Abs. 1, § 201 Abs. 3, § 203 Abs. 2, § 206 Abs. 4, § 258a Abs. 1, §§ 331 bis 334, § 339, § 340 Abs. 1, §§ 343 bis 345, § 348 Abs. 1, § 352 Abs. 1, § 353, § 353b, § 355, § 357 Abs. 2; vgl. auch die Regelbeispiele der § 240 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2, § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4, § 264 Abs. 2 Satz 2 Nrn. 2 und 3, § 266a Abs. 4 Satz 2 Nr. 5, § 267 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4), sondern auch für die gegen ihn gerichteten Delikte (§ 113 Abs. 1, § 114 Abs. 1, § 121 Abs. 1 Nr. 1, § 194 Abs. 3, § 230 Abs. 2). Die Begriffe spielen ferner in § 5 Nrn. 12 bis 15, § 77a, § 164 Abs. 1, § 202d Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 sowie in zahlreichen Vorschriften des Nebenstrafrechts eine Rolle, für das § 11 gleichermaßen gilt (Art. 1 EGStGB). b) Gruppen der Amtsträger. Amtsträger sind Personen, die in einem bestimmten 21 Dienst- oder Auftragsverhältnis zu einer öffentlichen Stelle stehen und deren Bestellung auf deutschem Recht beruht.52 Maßgebend ist also das innerhalb der Bundesrepublik geltende Bundes- und Landesrecht, so dass alle im Dienst des Bundes, der Länder, der Gemeinden, der Gemeindeverbände und der Körperschaften, Anstalten oder Stiftungen des öffentlichen Rechts tätigen Amtsträger erfasst sind.53 Ausländische Beamte sind grundsätzlich nicht Beamte in diesem Sinne. Etwas an- 22 deres gilt nur dann, wenn die Begründung ihrer Amtsträgereigenschaft auf deutschem Recht beruht. So kann ein Ausländer als Wahlkonsul deutscher Amtsträger sein (vgl. § 5 Nr. 13). Ausländische werden inländischen Amtsträgern indes zunehmend gleichgestellt. Dies gilt insbesondere im Bereich der Korruptionsdelikte. Insoweit wurden Amtsträger der Europäischen Gemeinschaften und von EU-Staaten bereits durch Art. 2 § 1 Abs. 1 EUBestG a.F. (Gesetz zu dem Protokoll vom 27. September 1996 zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften vom 10.9.1998;

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49 50 51 52 53

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Vgl. Göhler NJW 1974 831. Stratenwerth ZStW 76 (1964) 676 ff. Göhler NJW 1974 831. Sch/Schröder/Hecker Rdn. 14. BTDrucks. 7/550 S. 210.

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§ 11 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

EU-Bestechungsgesetz, BGBl. II S. 2340)54 den Amtsträgern und Richtern nach deutschem Recht gleichgestellt. Auf internationaler Ebene wurden durch Art. 2 § 1 IntBestG a.F. (Gesetz zur Bekämpfung internationaler Bestechung vom 10.9.1998; BGBl. II S. 2327) in Umsetzung des OECD-Übereinkommens über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr vom 17.12.1997 Richter, Amtsträger und Soldaten ausländischer Staaten und internationaler Organisationen unter bestimmten Voraussetzungen den deutschen Amtsträgern gleichgestellt. Durch das Gesetz zur Bekämpfung der Korruption vom 20.11.2015 (BGBl. I S. 2025) wurden die Regelungen zur Gleichstellung europäischer und internationaler Amtsträger in das StGB überführt und gegenüber den durch das selbe Gesetz aufgehobenen Art. 2 EuBestG, Art. 2 § 1 IntBestG inhaltlich ausgeweitet.55 So fallen etwa Europäische Amtsträger auch in den Anwendungsbereich der §§ 331, 333 und strafbar sind nun auch Zuwendungen für vergangene Diensthandlungen.56 Die Gleichstellung von europäischen Amtsträgern und Bediensteten ausländischer 23 Staaten oder internationaler Organisationen mit deutschen Amtsträgern reicht unterschiedlich weit. Der Begriff des „Europäischen Amtsträgers“ ist nun in § 11 Abs. 1 Nr. 2a StGB legaldefiniert. Bedeutung hat der Begriff nicht nur im Bereich der Korruptionsdelikte, sondern etwa auch in §§ 263, 264 StGB oder § 370 AO. Die besondere Gleichstellungsvorschrift des § 335a57 erklärt für bestimmte ausländische und internationale Bedienstete hingegen lediglich – und das im Einzelfall nach Straftatbeständen differenzierend – Vorschriften der §§ 331–335 in Bezug auf künftige Handlungen für anwendbar. Bedienstete anderer EU-Mitgliedsstaaten sind nicht Europäische Amtsträger i.S.d. § 11 Abs. 1 Nr. 2a, sondern unterfallen § 335a.58 Mitarbeiter der NATO, die bisher durch besondere Übereinkunft (Art. 7 Abs. 2 Nr. 10 des 4. StrÄndG) deutschen Amtsträgern gleichgestellt waren (BGH NStZ 1994 277), werden nun von § 335a Abs. 3 und gegebenenfalls Abs. 1 Nr. 2b und c erfasst. Die Bestechung ausländischer Parlamentarier wird im Zusammenhang mit dem internationalen geschäftlichen Verkehr durch Art. 2 § 2 IntBestG und in Hinblick auf mandatsbezogenes Handeln durch § 108e StGB unter Strafe gestellt, der auch die Bestechlichkeit erfasst. Amtsträger der früheren DDR können wegen „Alttaten“, die sie in dieser Eigen24 schaft begangen haben, nach der Wiedervereinigung aufgrund der entsprechenden einschlägigen Vorschriften der Bundesrepublik strafbar sein. Das ist insbesondere von Bedeutung in Fällen, in denen ihnen Rechtsbeugung (§ 339) vorgeworfen wird (BGHSt 40 30, 33 f; 40 169, 173 f; 40 272, 274 f; 41 247; 41 317).59 Dass Strafbarkeit so möglich ist, ergibt sich aus dem Sinn und Zweck der Übergangs25 regelung des Art. 315 Abs. 1 EGStGB. Der in dieser Vorschrift enthaltene Gesetzesbefehl, auf die unter der Geltung des StGB-DDR begangenen Taten § 2 anzuwenden, soll sicherstellen, dass dessen Anwendbarkeit nicht an der Verschiedenheit der Geltungsbereiche scheitert, welche die Strafrechtsnormen der DDR und der Bundesrepublik vor der Herstellung der Einheit Deutschlands hatten. Bei dem Vergleich einander entsprechender Normen des StGB-DDR und des StGB hat daher diese Verschiedenheit (anders als regelmäßig im internationalen Strafrecht) außer Betracht zu bleiben (BGHSt 40 30, 33 f).

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54 Zur Strafbarkeit wegen Bestechung nach dem EUBestG und dem IntBestG (dazu Rdn. 22) Tinkl wistra 2006 126. 55 Art. 1 Nr. 3, 19; Art. 2, 5 des Gesetzes zur Bekämpfung der Korruption. 56 Grützner ZIP 2016 253, 254. 57 Dazu Binnewies/Frank AG 2017 22, 23 f; Grützner ZIP 2016 253; Papathanasiou wistra 2016 175. 58 BTDrucks. 18/4350 S. 24; Saliger NK Rdn. 43b. 59 BGHR § 336 DDR-Recht 7 bis 8, 9, 10, 11 und 12 bis 17.

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Personen- und Sachbegriffe | § 11

aa) Beamte (§ 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a). Als Beamte sind – im Gegensatz zum frühe- 26 ren Recht – nur solche im staatsrechtlichen Sinne gemeint. Hierzu gehören Personen, die nach den beamtenrechtlichen Vorschriften durch eine dafür zuständige Stelle in ein Beamtenverhältnis berufen worden sind. Es handelt sich hierbei um ein vom Staat durch einen öffentlich-rechtlichen Akt begründetes Verhältnis, das für den Beamten eine Pflicht zu Diensten und Treue, für den Staat eine Schutz- und Unterhaltspflicht begründet (§§ 4, 60 ff BBG).60 Der Anstellung muss eine Willenseinigung zwischen der zuständigen Stelle und dem Anzustellenden vorausgehen. Es kommt somit nur eine freiwillige Begründung des Beamtenverhältnisses in Betracht.61 Im Hinblick auf diese Verwaltungsrechtsakzessorietät dürfte für die Annahme eines strafbegründenden oder strafschärfenden „faktischen Beamtenverhältnisses“ im Rahmen des § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a kein Raum sein. Was zur rechtswirksamen Anstellung und Ernennung eines Beamten gehört, be- 27 stimmt das jeweils maßgebende Bundes- und Landesrecht. In der Regel ist die Aushändigung einer Ernennungsurkunde zwingend vorgeschrieben. Die Ableistung des Diensteides ist dagegen nicht konstitutive Voraussetzung der Begründung des Beamtenverhältnisses. Dies ergibt sich aus §§ 10 Abs. 2, 32 Abs. 1 Nr. 1 BBG; 8 Abs. 2, 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BeamtStG. Trotz Nichtableistung des Diensteides ist somit der Handelnde bei Vorliegen der zwingenden Ernennungsvoraussetzungen Beamter.62 Ob der Beamte auf Lebenszeit, auf Zeit, Widerruf oder auf Probe angestellt wird (§ 6 BBG), ist strafrechtlich unerheblich. Es kommt auch nicht darauf an, ob es sich bei dem Amtsträger um einen unmittelbaren Bundes- oder Landesbeamten handelt oder um einen mittelbaren Beamten, der bei einer dem Staat nachgeordneten Gemeinde, einem Gemeindeverband, einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft, Anstalt oder Stiftung im Dienst steht (vgl. BGHSt 35 128 = JR 1989 30 mit Anm. Tenckhoff).63 Kirchenbeamte gehören nicht zu den mittelbaren Beamten in diesem Sinne, da die Kirchen dem Staate nicht nachgeordnet sind (BGHSt 37 191, 192; OLG Düsseldorf NJW 2001 85; OLG Karlsruhe Die Justiz 1989 15; vgl. dagegen RGSt 14 130). Ist ein Beamtenverhältnis im formellen Sinne gegeben, so kommt es nur darauf an, 28 dass dem Beamten die Tätigkeit als dienstliche Aufgabe zugewiesen ist, nicht darauf, welche Gattung von Dienstgeschäften ihm obliegt und für welchen Zweig der staatlichen Verwaltung er tätig ist.64 Es ist also gleichgültig, ob der Beamte rein mechanische Dienste leistet,65 ob seine Tätigkeit eine vorbereitende, begutachtende oder unterstützende ist,66 ob er in einem staatlichen Gewerbebetrieb beschäftigt ist,67 ob seine Dienste hoheitlicher Art sind oder ob er sie nach Art eines Geschäftsmannes oder Gewerbetreibenden zu erledigen hat.68 Amtsträger ist – als Beamter – also auch ein Lehrer an bayerischen Volksschulen während des Unterrichts (BayObLG NJW 1979 1371, 1372 = JR 1979 475 mit Anm. Vormbaum), ferner der Beamte einer Stadtverwaltung, der im Rahmen seiner Tätigkeit

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60 RGSt 39 232, 234; 51 113, 114; 52 348, 350; 60 139, 140; OGHSt 2 369, 370; BGHSt 2 119, 120. 61 BGHSt 12 108, 110 f; 25 204, 206 zum alten strafrechtlichen Beamtenbegriff des § 359 a.F., für den diese Frage freilich umstritten war; aA Radtke MK Rdn. 21. Saliger NK Rdn. 19 mit Fn. 118 ist der Meinung, BGH NStZ 2015, 451 (ehrenamtlicher Beigeordneter einer Stadt) zeige, dass Freiwilligkeit nicht erforderlich sei. Dies ist dem Urteil allerdings nicht zweifelsfrei zu entnehmen. 62 Radtke MK Rdn. 21; Saliger NK Rdn. 19. 63 RGSt 14 130 ff; 35 182; 41 326, 327 f; 55 142; 60 139 f; 62 337. 64 BGH NJW 2004 3129 m.w.N. 65 RGSt 32 259, 260; 51 55, 66. 66 RGSt 3 420, 421. 67 RGSt 14 345, 348; 24 83, 85. 68 RGSt 67 299, 300, 302; 68 69, 71.

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§ 11 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

über die Berechtigung zum Empfang von Sozialhilfe zu entscheiden hat; doch ist § 339 auf ihn nicht anwendbar (OLG Koblenz GA 1987 553, 554). Beamte verlieren ihre Eigenschaft nicht dadurch, dass sie im staatlichen Interesse an ein Privatunternehmen abgeordnet werden und dort Dienst leisten.69 Anders liegt es nur, wenn dem Beamten eine Tätigkeit übertragen ist, die völlig außerhalb des Aufgabenbereichs der Anstellungsbehörde liegt.70 Nach BGH NJW 2004 3129 f (zust. Krehl StV 2005 325, 326); NJW 2011 1374 (i.E. zust. Radtke NStZ 2011, 510) liegt eine Abordnung eines Beamten jedoch dann nicht vor, wenn er von seiner Dienstleistungspflicht beurlaubt und für das Privatunternehmen aufgrund eines privatrechtlichen Anstellungsvertrages tätig wird. Ein Bundesbahnbeamter, der im Zuge der Bahnreform (vgl. Rdn. 41) nicht gemäß Art. 143a Abs. 1 Satz 3 GG, § 12 Abs. 2 DBGrG der Deutschen Bahn AG zur Dienstleistung zugewiesen wurde, sondern sich gemäß § 12 Abs. 1 DBGrG unter Wegfall seiner Bezüge beurlauben ließ und bei der Deutschen Bahn AG aufgrund eines privatrechtlichen Anstellungsvertrages tätig wurde, ist daher kein Amtsträger nach § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a. Die vorläufige Amtsenthebung beseitigt die Beamteneigenschaft nicht.71 Der Ruhe29 standsbeamte ist nicht mehr Beamter im staatsrechtlichen Sinne und damit auch nicht mehr Amtsträger. Doch gibt es eine Reihe von Tatbeständen, die auch für Ruhestandsbeamte gelten (§ 203, § 353b, § 355). 30

bb) Richter (§ 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a). Sie sind zugleich Amtsträger im strafrechtlichen Sinne. Einzelheiten zum Richterbegriff des StGB siehe Rdn. 61 ff.

cc) Inhaber eines sonstigen öffentlich-rechtlichen Amtes (§ 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b). Es handelt sich um Amtsverhältnisse, die kein Beamtenverhältnis begründen, aber gleichwohl dem Bereich der vollziehenden Gewalt zuzuordnen sind. Zu der Gruppe der Amtsträger, die in einem solchen Verhältnis stehen, gehören die Minister der Bundesregierung72 und der Landesregierungen, die parlamentarischen Staatssekretäre,73 Parlamentspräsidenten,74 der Wehrbeauftragte des Bundestages,75 Vorsteher kommunaler Zweckverbände als Zusammenschluss von Gemeinden und Gemeindeverbänden, 76 nicht jedoch sonstige kommunale Mandatsträger, 77 ferner Notare und Notarassessoren (§§ 1, 7 Abs. 4 BNotO), nicht jedoch die bis zum 31.12.2017 amtierenden badischen Amtsnotare und württembergischen Bezirksnotare,78 die Beamte im staatsrechtlichen Sinne sind. Auch Inhaber von Ehrenämtern, deren Übernahme staatsbürgerliche Pflicht ist (z.B. Wahlvorsteher), gehören dazu.79 In keinem öffentlichen Amtsverhältnis im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b 32 stehen Abgeordnete, Kirchenbeamte (BGHSt 37 191, 193 f; OLG Düsseldorf NJW 2001 31

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69 Sch/Schröder/Hecker Rdn. 17; Radtke MK Rdn. 24. 70 RGSt 67 299, 303; RG JW 1934 2149; RG HRR 1940 874. 71 RGSt 72 233, 237; Radtke MK Rdn. 30; Sch/Schröder/Hecker Rdn. 16; Fischer Rdn. 14; einschränkend zu § 359 a.F. RGSt 63 433. 72 § 1 des Bundesministergesetzes i.d.F. vom 27.7.1971 (BGBl. I S. 1166). 73 § 1 Abs. 3 des G über die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre vom 24.7.1974 (BGBl. I S. 1538). 74 Paeffgen JZ 1997 178, 181; Fischer Rdn. 16. 75 § 15 Abs. 1 des G über den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages i.d.F. der Bek. vom 16.6.1982 (BGBl. I S. 677). 76 BGH NStZ 2004 564. 77 Vgl. §§ 115, 116 BNotO vom 13.2.1937 (BGBl. 1961 I 97). 78 BGH NJW 2006 2050, 2052 f; aA Rübenstahl HRRS 2006 23, 32 f. 79 Lackner/Kühl/Heger Rdn. 5; Saliger NK Rdn. 24; Radtke MK Rdn. 42; Fischer Rdn. 16; Sch/Schröder/ Hecker Rdn. 18; aA BGHSt 12 108, 110 f; 25 204, 206.

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Personen- und Sachbegriffe | § 11

85), Rechtsanwälte (vgl. § 2 BRAO), Vormünder, Testamentsvollstrecker, Insolvenzverwalter (denkbar ist aber § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c),80 ebenso Verwaltungslehrlinge und -praktikanten.81 Auch andere Berufsgruppen, die einer besonderen Ehrengerichtsbarkeit unterstehen, wie Ärzte und Apotheker, sind nicht etwa deswegen schon Amtsträger. Soldaten stehen in einem besonderen Dienstverhältnis. Sie werden in mancherlei Hinsicht den Amtsträgern gleichgestellt (§ 48 WStrG).82 dd) Bestellte für Aufgaben der öffentlichen Verwaltung (§ 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. 33 c). Durch diese Umschreibung beabsichtigte der Gesetzgeber, die Reichweite des Amtsträgerbegriffs auf den herkömmlichen strafrechtlichen Beamtenbegriff (§ 359 a.F.) auszudehnen.83 Allerdings kann die Kasuistik zu § 359 a.F. nicht ungeprüft übernommen werden, da sich wegen der verstärkten Nutzung privatrechtlicher Handlungsformen und privatrechtlicher Organisationsstrukturen in den letzten Jahrzehnten die Art und Weise der öffentlichen Aufgabenerfüllung stark gewandelt hat.84 Es kommt bei diesem Personenkreis nicht wie in Nummer 2 Buchst. a auf die formale Begründung eines Beamtenoder Richterverhältnisses (Rdn. 26) an, sondern darauf, dass der Betreffende befugtermaßen Aufgaben der öffentlichen Verwaltung tatsächlich wahrnimmt. Da es häufig vorkommt, dass mit einer solchen Tätigkeit auch Angestellte selbständig betraut sind, ist die Ausdehnung des Amtsträgerbegriffs auf diese Fälle unabweisbar. Dies macht eine eigenständige Definition der Amtsträgereigenschaft erforderlich. Da dabei die Gefahr besteht, dass auch Private in den Amtsträgerbegriff einbezogen werden, die im Vergleich zu den Amtsträgern nach Absatz 1 Nr. 2 Buchst. a und b staatliche Aufgaben nur in geringem Umfang wahrnehmen, ist eine einschränkende Auslegung erforderlich.85 Deren Konturen zu bestimmen dürfte dringlichste Aufgabe von Rechtswissenschaft und – Praxis geworden sein, ist § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c durch die zunehmende Privatisierung öffentlicher Aufgabenerfüllung in jüngerer Vergangenheit doch deutlich in den Mittelpunkt der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Amtsträgerbegriff gerückt. Dass diese als stets vorhersehbar und widerspruchsfrei gelten kann, darf in Zweifel gezogen werden.86 Amtsträger nach § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c ist, wer sonst dazu bestellt ist, bei einer 34 Behörde oder sonstigen Stelle oder in deren Auftrag Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrzunehmen. Die erforderliche Einschränkung kann also grundsätzlich über die Anforderungen an den Bestellungsakt oder durch die Anforderungen an die Wahrnehmung der Aufgaben der öffentlichen Verwaltung vorgenommen werden.87 Die Literatur stellt überwiegend auf die Art der Aufgabenwahrnehmung ab (sog. funktionale Betrachtungsweise),88 während der BGH (BGHSt 43 96) die Eingrenzung anhand des Bestellungsakts vornimmt (sog. organisatorische Betrachtungsweise). Welcher Weg vorzugs-

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80 So LG Nürnberg-Fürth wistra 2019 301 mit Anm. Greier jurisPR-StrafR 7/2019 Anm. 2; Radtke MK Rdn. 64; Brand DZWIR 2008, 318 und von der Meden/Solka ZIP 2017 941, 944 f. 81 BTDrucks. 7/1261 S. 4. 82 BGH NJW 2011 1979, 1980. 83 BTDrucks. 7/550 S. 208; Radtke MK Rdn. 44. Zum strafrechtlichen Beamtenbegriff Mösl LK9 § 359 Rdn. 13. 84 Radtke MK Rdn. 44. 85 Lenckner ZStW 106 (1994) 502, 530 ff; Sch/Schröder/Hecker Rdn. 19; Radtke MK Rdn. 45; Kaspar/Knauer GA 2005 385 f. 86 Saliger NK Rdn. 26; von Coelln Festschrift I. Roxin (2012) 209, 216, 224 f; Heinrich wistra 2016 471, 473; Zieschang StV 2009 74 ff. 87 Radtke MK Rdn. 45. 88 Lenckner ZStW 106 (1994) 502, 530 ff; Sch/Schröder/Hecker Rdn. 19 ff; Radtke MK Rdn. 45.

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§ 11 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

würdig ist, ist umstritten. Der Gesetzgeber hat zwar durch das Korruptionsbekämpfungsgesetz vom 13.8.1997 (BGBl. I S. 2038) klargestellt, dass das formale Kriterium der „zur Aufgabenerfüllung gewählten Organisationsform“ nicht entscheidend ist. Da diese Einfügung aber eine Reaktion auf eine Entscheidung des BGH speziell zur Daseinsvorsorge (BGHSt 38 199; vgl. dazu Rdn. 55) war, kann daraus nicht gefolgert werden, dass der Gesetzgeber sich generell für die funktionale Betrachtungsweise entschieden hätte.89 Auf die Art der Bestellung und ihre Dauer kommt es nicht an (BGH NJW 1952 191; 35 1981 757, 759). Öffentliche Aufgaben können auch einem im Privatdienst angestellten Organmitglied (so einem Mitglied und Vorsitzenden des Vorstands eines Kreditinstituts in der Rechtsform einer rechtsfähigen Anstalt des öffentlichen Rechts) in rechtsgeschäftlicher Form übertragen und in gleicher Weise wieder entzogen werden (BGH NJW 1981 757, 759). BGHSt 43 96, 105 (mit krit. Anm. Haft NStZ 1998 29; 46 310, 313) und das BayObLG (NJW 1996 268, 270) vertreten demgegenüber die Auffassung, dass für den Begriff des Amtsträgers nach § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c ein öffentlich-rechtlicher, wenn auch nicht notwendig förmlicher Bestellungsakt konstitutiv sei (vgl. OGHSt 2 369, 370; ausdrücklich gegen ein Formerfordernis auch BGH NStZ 2008 87, 88; NJW 2009 3248, 3249; NJW 2012 2530, 2532; NJW 2016 1398, 1399).90 Dieser Auffassung ist zuzustimmen.91 Doch ist sie zur Einschränkung des Amtsträgerbegriffs in der Praxis nicht geeignet, weil sie dem Einwand ausgesetzt ist, dass eine für ausreichend erachtete formlose öffentlichrechtliche Bestellung gerade auch in einer privatrechtlichen Übertragung von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung liegen kann. 36 Die Bestellung muss durch die zuständige Stelle geschehen (vgl. § 12 Abs. 1 BBG),92 die im Urteil näher zu bezeichnen ist.93 Ein festes Beschäftigungsverhältnis, eine förmliche Ernennung oder ein schriftlicher Vertrag sind im Übrigen nicht vorausgesetzt;94 dies selbst dann nicht, wenn im Falle der Anstellung eines Beamten die Aushändigung einer Ernennungsurkunde erforderlich wäre.95 Abweichend von § 11 Abs. 1 Nr. 4 (Rdn. 71) ist auch keine förmliche Verpflichtung erforderlich. Für den früheren strafrechtlichen Beamtenbegriff ließ die Rechtsprechung96 sogar eine stillschweigende Bestellung ausreichen. Dies wird auch für die neue Fassung überwiegend bejaht.97 Nach anderer Auffassung ist wegen der besonderen Warnfunktion des Bestellungsakts eine konkludente Bestellung nicht ausreichend.98 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass die Notwendigkeit einer Warnfunktion sich weder aus dem Schutzzweck der Amtsdelikte ableiten lässt noch dem Wortlaut der Vorschrift zu entnehmen ist.99 Es genügt jedoch für eine (solche) Bestellung nicht, dass die Behörde oder sonstige Stelle es einem Prüfling gestattet, in einem Verwaltungsverfahren im eigenen Interesse einen Dolmetscher hinzuzuziehen (BGHSt 42 230, 232). Ein Vorbehalt hindert nicht, dass der Angestellte Amtsträger wird.100

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89 Dölling ZStW 112 (2000) 334, 339 f. 90 AA OLG Stuttgart StV 2009 77 für den Fall, dass einer behördenexternen Person Aufgaben der öffentlichen Verwaltung nicht unmittelbar durch die beauftragende Behörde, sondern in einer Kette von Unterbeauftragungen übertragen werden. 91 Ebenso Haft NJW 1996 238. 92 OGHSt 2 369, 370; OGHBZ NJW 1950 435, 436; OLG Schleswig SchlHA 1949 297. 93 BGH LM § 359 a.F. Nr. 1. 94 BGHSt 8 273, 277; 43 96; RG JW 1931 367; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 6; Radtke MK Rdn. 100; Sch/Schröder/Hecker Rdn. 24. 95 RGSt 7 210, 212 ff; 43 361, 363. 96 RGSt 9 204, 210; RG JW 1935 2970. 97 Saliger NK Rdn. 28; Radtke MK Rdn. 101; Fischer Rdn. 20. 98 Dingeldey NStZ 1984 503, 504; Otto JR 1998 73, 74; Ransiek NStZ 1997 519, 524. 99 Radtke MK Rdn. 101. 100 Vgl. RG GA 40 (1892) 337.

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Ob die Bestellung hauptamtlich oder nebenamtlich, planmäßig oder nur vertretungsweise oder vorübergehend geschieht, ist unerheblich. Auch zur Ausbildung oder Probe Beschäftigte können im Sinne der Nummer 2 Buchst. c bestellt sein,101 selbst Minderjährige.102 Werden bei der Bestellung Rechts- oder Verwaltungsvorschriften im Innenverhältnis verletzt, so steht dies der Amtsträgereigenschaft nicht entgegen, auch nicht der Umstand, dass dem Täter die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter aberkannt war (RGSt 50 18, 19; BGH NJW 2009 3248, 3250). Danach müsste auch ein Beamter, dessen Ernennung nach § 13 Abs. 1 BBG nichtig ist, anders als bei Nummer 2 Buchst. a (Rdn. 26) jedenfalls aufgrund tatsächlicher Bestellung durch die sachlich zuständige Behörde oder Stelle Amtsträger gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c sein können. Allein die Erklärung einer Anstellungsbehörde, jemand sei Amtsträger, verschafft ihm diese Eigenschaft nicht.103 Der BGH verlangt darüber hinaus, dass die Bestellung zu einer Eingliederung in die 37 Behördenstruktur führen muss oder dass im Fall der Tätigkeit „im Auftrag“ einer Behörde oder sonstigen Stelle die Bestellung „zu einer über den einzelnen Auftrag hinausgehenden längerfristigen Tätigkeit führen“ muss.104 Begründet wird diese auch in der Literatur vertretene Ansicht105 im Wesentlichen mit der Warnfunktion des Bestellungsakts.106 Mit der Einschränkung auf längerfristige Tätigkeiten wird die Problematik jedoch nicht zufriedenstellend gelöst, da kein zwingender Grund ersichtlich ist, warum der nur einmal für eine Behörde Tätige von der Amtsträgereigenschaft ausgenommen werden soll.107 Die Bestellung setzt nicht notwendig voraus, dass der Betreffende die Tätigkeit frei- 38 willig übernommen hat. Insbesondere in Notzeiten muss eine Dienstverpflichtung die Amtsträgereigenschaft begründen können.108 Die herrschende Auffassung hat zum früheren strafrechtlichen Beamtenbegriff die Freiwilligkeit der Übernahme vorausgesetzt.109 Das war richtig insofern, als der Begriff auch Beamte im staatsrechtlichen Sinne umfasste. Heute spricht dagegen, dass § 48 WStrG auch nichtfreiwillig dienende Soldaten in bestimmten Fällen den Amtsträgern gleichstellt. Aus dem Begriff „bestellen“ in § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c lässt sich für das geltende Recht ein Freiwilligkeitserfordernis nicht entnehmen. Schließlich wird nicht vorausgesetzt, dass für die Wahrnehmung von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung eine Vergütung gezahlt wird.110 Zu den Behörden, bei denen oder in deren Auftrag der Bestellte Aufgaben wahrzu- 39 nehmen hat, gehören auch die Gerichte (§ 11 Abs. 1 Nr. 7); jedoch bezieht sich Nummer 2

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101 RG HRR 1933 1901; 1934 1174; DR 1939 1982; JW 1936 327; RGSt 72 362; zust. KG Berlin NStZ-RR 2008 198; Sch/Schröder/Hecker Rdn. 25. 102 RG HRR 1940 711; DR 1940 1520. 103 RGSt 31 293, 294. 104 BGHSt 43 96, 103 ff mit Bespr. Otto JR 1998 73; BGH NJW 1998 2373 mit krit. Anm. Ransiek NStZ 1998 564; BGH NJW 2004 693; 2008 3724, 3727; 2011 1374, 1377; 2016 1398, 1399; jüngst offen gelassen für den Sonderfall der Mitgliedschaft in einem Prüfungsausschuss eines Schießsportvereins zur Feststellung der waffenrechtlichen Sachkunde von BGH, Beschluss v. 10.1.2019 – 3 StR 635/17 Rn. 24 [juris] mit Anm. Rathgeber FD-StrafR 2019, 415719. 105 Fischer Rdn. 20. 106 BGHSt 43 96, 103 ff mit Bespr. Otto JR 1998 73; BGH NJW 1998 2373 mit krit. Anm. Ransiek NStZ 1998 564; BGH NJW 2001 3062; NJW 2004 693; NJW 2016 1398, 1399. 107 Kaspar/Knauer GA 2005 385, 386; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 6; Radtke MK Rdn. 103; Schramm JuS 1999 333, 335; Sch/Schröder/Hecker Rdn. 24. 108 OLG Kassel HESt 2 175, 179. 109 RGSt 29 15, 19; 39 232, 234; BGH MDR 1952 693; BGHSt 10 294, 297; 12 108, 111; 25 204, 206; offen gelassen in BGHSt 5 100, 104; für Notzeiten auch in BGHSt 12 108, 111; aA Mösl LK9 § 359 Rdn. 14. 110 Vgl. RGSt 29 230, 233; 34 234, 236; 52 348, 350; zustimmend OLG Karlsruhe BeckRS 2017, 100739.

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§ 11 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

Buchst. c insoweit nicht auf Rechtsprechungstätigkeit, sondern nur auf die Justizverwaltung.111 Sonstige Stellen sind, ohne Rücksicht auf die Organisationsform, alle Institutionen, die keine Behörden, rechtlich aber befugt sind, bei der Ausführung von Gesetzen und Erfüllung öffentlicher Aufgaben mitzuwirken (BGHSt 43 370, 376; NJW 2008 3724, 3725; StV 2019 42), namentlich Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts wie der Hessische Rundfunk,112 das Versorgungswerk der Rechtsanwälte,113 gesetzliche Krankenkassen, 114 Kassenärztliche Vereinigungen, 115 die ehemalige Treuhandanstalt 116 und die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), die die Bundesregierung bei der Erreichung ihrer entwicklungspolitischen Ziele unterstützen soll,117 ferner Stellen, die nur Teile einer Behörde im organisatorischen Sinne sind, sowie Vereinigungen, Ausschüsse oder Beiräte, die zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben berufen sind.118 Hierzu gehören etwa die Treuhandliegenschaftsgesellschaft mbH (TLG), eine Tochtergesellschaft der Treuhandanstalt,119 und ein Kreiskrankenhaus in Baden-Württemberg.120 Der öffentlich-rechtlichen Organisationsform der in Rede stehenden Stelle soll für das Vorliegen des Merkmals der „sonstigen Stelle“ (erhebliche) indizielle Bedeutung zukommen (BGH NJW 2009 3248, 3249; 2010 784, 786 m. insoweit abl. Anm. Stoffers und Heinrich JZ 2010 529, 530). Allein aus dem Status einer Organisation als Körperschaft des öffentlichen Rechts kann jedoch nicht zwingend gefolgert werden, dass sie öffentliche Aufgaben erfüllt (BGH NJW 2010 784, 786). So wurde zwar das Bayerische Rote Kreuz (BRK) zu einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erhoben, ohne dass ihm dadurch staatliche Aufgaben übertragen wurden. Das BRK ist daher keine sonstige Stelle im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c, der Geschäftsführer einer GmbH, deren einziger Gesellschafter das BRK ist, somit kein Amtsträger (BGHSt 46 310, 314). Dass auch privatrechtlich organisierte Rechtssubjekte als „sonstige Stellen“ in 40 Betracht kommen, ergibt sich bereits aus der in Absatz 1 Nr. 2 Buchst. c eingefügten Klarstellung über die Unerheblichkeit der gewählten Organisationsform. Voraussetzung ist, dass sie von einem Träger staatlicher Gewalt gegründet wurden, Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnehmen und, sofern es sich um eine juristische Person des Privatrechts handelt, zumindest eine (Mehrheits-) Beteiligung der öffentlichen Hand vorliegt.121 Ob darüber hinaus weitere Anforderungen erfüllt sein müssen, ist nicht abschließend geklärt. Die Rechtsprechung verlangt, dass das Unternehmen Merkmale aufweist, die die Gleichstellung mit Behörden sachlich rechtfertigen.122 Dies ist insbesondere zu bejahen, wenn die juristische Person des Privatrechts derart staatlicher Steuerung unterliegt, dass sie bei einer Gesamtbewertung der sie kennzeichnenden Merkmale als „verlängerter

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111 Sch/Schröder/Hecker Rdn. 23. 112 BGH NJW 2010 784, 786 m. Anm Stoffers und i.E. zust. Heinrich JZ 2010 529; aA Bernsmann Festschrift Herzberg (2008) 167; von Coelln Festschrift I. Roxin (2012) 209, 217 f. 113 BGH NJW 2009 3248, 3249 mit zust. Anm. Mehle (Eigenschaft als „Behörde“ vom BGH offengelassen); Radtke JR 2011 128. 114 BGH NJW 2012 2530, 2531. 115 KG wistra 2015 71, 76. 116 KG NStZ 1994 242. 117 BGHSt 43 370; aA noch OLG Frankfurt NStZ-RR 1997 263. 118 Lackner/Kühl/Heger Rdn. 8. 119 BGH NJW 2001 3062, 3063 f; KG NStZ 1994 242. 120 OLG Karlsruhe NJW 1983 352. 121 Radtke MK Rdn. 90. Weiter LG Köln (NJW 2004 2173), wonach die Beteiligung eines privaten Dritten als Mitgesellschafter grundsätzlich dazu führe, dass die betreffende Privatrechtsgesellschaft nicht behördenähnlich und somit keine „sonstige Stelle“ sei; offen gelassen von BGHSt 50 299, 305. 122 BGHSt 43 370, 377; 45 16, 19; NJW 2001 3062, 3063; 2008 3724, 3725; StV 2019 42; LG Köln NJW 2004 2173.

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Arm des Staates“ erscheint.123 Im Schrifttum wird dies ebenfalls vertreten,124 nach anderer Ansicht ist diese Anforderung jedoch überhöht.125 Jedenfalls birgt eine wertende Gesamtbetrachtung naturgemäß die Gefahr geringerer Vorhersehbarkeit der Einzelfallentscheidung.126 Als Kriterien der Gesamtbetrachtung soll etwa darauf abzustellen sein, ob die Stelle gewerblich tätig ist und mit anderen im Wettbewerb steht, ob im Gesellschaftsvertrag eine öffentliche Zwecksetzung festgeschrieben ist, ob sie im Eigentum der Öffentlichen Hand steht und ihre Tätigkeit aus öffentlichen Mitteln finanziert wird sowie in welchem Umfang staatliche Steuerungs- und Einflussnahmemöglichkeiten bestehen (BGH NJW 2008 3724, 3725; 2011 1374, 1375; StV 2019 42). Eine „sonstige Stelle“ soll etwa die Flughafen Berlin Brandenburg GmbH sein, die 41 als Hauptzweck die Errichtung des Großflughafens Berlin-Brandenburg verfolgt. Das wird damit begründet, dass sie Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnehme, die sich auf die Daseinsvorsorge erstreckten, die zwei Bundesländer und der Bund als Körperschaften des öffentlichen Rechts alleinige Gesellschafter der GmbH sind, die Finanzierung des Projektes aus Mitteln der öffentlichen Hand vorgenommen wird und die drei Gesellschafter über den Aufsichtsrat und die Gesellschafterversammlung intensiven Einfluss auf die Geschäftspolitik der GmbH nehmen (LG Cottbus, Urt. v. 28.11.2016 – 22 KLs 8/15 [juris] m. Anm. Weiler ZAP 2017 47). Keine „sonstige Stelle“ nach diesen Maßstäben ist dagegen mangels staatlicher Steuerung die Betreibergesellschaft der Flughäfen Frankfurt am Main und Frankfurt-Hahn Fraport AG, die für den Betrieb, die Unterhaltung und den Ausbau der Frankfurter Flughäfen für Zwecke der zivilen Luftfahrt verantwortlich ist. Angestellte der Bauabteilung der Fraport AG sind daher keine Amtsträger (BGHSt 45 16, 18 ff;127 offen gelassen von OLG Frankfurt NStZ 1997 263; skeptisch zu einer gesteigerten Bedeutung der Ausgestaltung der staatlichen Steuerungsmöglichkeit gerade durch gesellschaftsrechtliche Verankerung des Einflusses auf laufende Geschäfte und Einzelentscheidungen jüngst BGH StV 2019 42). Nach der Rechtsprechung des BGH ist auch die aus der Privatisierung der Bahn128 hervorgegangene Deutsche Bahn AG keine „sonstige Stelle“ (BGHSt 49 214 ff; i.E. zust. Krehl StV 2005 325, 326 f). Zwar besitze der Bund als Alleinaktionär der Deutschen Bahn AG gewisse Einflussmöglichkeiten, vornehmlich bei der Besetzung des Vorstandes und der Aufsichtsratsposten. Im Übrigen sei der Einfluss des Bundes jedoch gering. Insbesondere wurde auf den Abschluss eines Beherrschungsvertrages gemäß §§ 291 ff AktG verzichtet, der ein Weisungsrecht des Bundes gegenüber dem Vorstand (§ 308 Abs. 1 und 2 AktG) begründet hätte. So beschränke sich die Beteiligung des Bundes im Wesentlichen auf eine Planungs- und Finanzierungsmitwirkung für den Bereich des Neu- und Ausbaus von Strecken. Eine staatliche Lenkung des Gesamtunternehmens Deutsche Bahn AG könne daher nicht angenommen werden. Bejaht hat der BGH sie jedoch für eine 100%-Tochter der Deutschen Bahn AG,

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123 BGHSt 43 370, 377; 45 16, 19; 46 310, 312 f; NJW 2004 693; 2004 3129, 3130; NJW 2008 3724, 3725; NJW 2011 1374, 1375; 2012, 2530, 2532; StV 2019 42. BGH NJW 2010 784, 787 mit zust. Anm. Stoffers stellt klar, dass dieses Erfordernis für öffentlich-rechtlich organisierte Rechtssubjekte nicht gilt. 124 Haft NJW 1995 1113, 1114; Heinrich S. 384; Lenckner ZStW 106 (1994) 502, 515. 125 Radtke MK Rdn. 92. 126 Saliger NK Rdn. 41; Zieschang StV 2009 74, 76 will deshalb im Fall der privatrechtlichen Organisationsform nur Beliehene unter § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c subsumieren. 127 Zust. Kaspar/Knauer GA 2005 385, 388. 128 Vgl. G zur Neuordnung des Eisenbahnwesens (EisenbahnneuordnungsG; ENeuOG) vom 27.12.1993 (BGBl. I S. 2378) mit G zur Zusammenführung und Neugliederung der Bundeseisenbahnen (BEZNG, Art. 1 ENeuOG), G über die Gründung einer Deutsche Bahn Aktiengesellschaft (Deutsche Bahn GründungsG; DBGrG, Art. 2 ENeuOG), G über die Eisenbahnverkehrsverwaltung des Bundes (BEWG, Art. 3 ENeuOG), G zur Regionalisierung des öffentlichen Personennahverkehrs (RegionalisierungsG; RegG, Art. 4 ENeuOG) und Allgemeines EisenbahnG (AEG, Art. 5 ENeuOG).

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weil sie eine öffentliche Aufgabe erfüllte, im alleinigen mittelbaren Bundeseigentum stand, öffentlich finanziert wurde, sich aus dem Gesellschaftsvertrag eine öffentliche Zwecksetzung ergab und die Gesellschaft keinen Wettbewerb betrieb (BGH NJW 2008 3724 m. Anm. Rübenstahl; so i.E. auch NJW 2011 1374, 1377 m. zust. Anm. Radtke NStZ 2011 510; krit. Saliger NK Rdn. 41). Eine hinreichend konkrete staatliche Steuerung könne trotz Minderheitsbeteiligung der öffentlichen Hand im Aufsichtsrat möglich sein, weil ausreichende Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten weit im Vorfeld einer etwaigen Aufsichtsratsentscheidung bestünden (BGH NJW 2008 3724, 3726; skeptisch Zieschang StV 2009 74, 75). Nach BGHSt 50 299, 305 f (mit zust. Bespr. Saliger NJW 2006 3377, 3379 f = StV 2006 126 mit Anm. Noltensmeier; krit. Radke NStZ 2006 57 ff) sind privatrechtlich organisierte Unternehmen im Bereich der Daseinsvorsorge hingegen keine „sonstige Stellen“ im Sinne von § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c StGB, wenn ein Privater daran in einem Umfang beteiligt ist, dass er durch eine Sperrminorität wesentliche unternehmerische Entscheidungen mitbestimmen kann.129 Zu den „wesentlichen unternehmerischen Entscheidungen“ zählt BGHSt 50 299, 306 Entscheidungen über die Veräußerung eines Gesellschaftsanteils, die Änderung des Gesellschaftsvertrages, die Abberufung des Geschäftsführers, die Bestellung eines Prokuristen, über Investitionen und Darlehensaufnahme, den Abschluss und die Kündigung von Unternehmensverträgen, die Bestellung eines Abschlussprüfers und die Feststellung des Wirtschaftsplans. Der Bestellte muss Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrzunehmen haben. 42 Der Begriff der „öffentlichen Verwaltung“ wird unter anderem in Art. 130 Abs. 1 GG und in § 9 Abs. 2 Satz 3 OWiG verwendet. Im vorliegenden Zusammenhang ist er weit auszulegen und als Abgrenzung zur Gesetzgebung und zur Rechtsprechung zu begreifen.130 Damit sollen Tätigkeiten erfasst werden, die im Sinne der Rechtsprechung zu § 359 a.F.131 aus der Staatsgewalt abgeleitet sind und staatlichen Zwecken dienen. Zu den Aufgaben der öffentlichen Verwaltung gehört unbestritten die hoheitliche 43 Ausübung staatlicher Anordnungs- und Zwangsgewalt (Eingriffsverwaltung). Dies gilt auch dann, wenn Aufgaben der Eingriffsverwaltung auf einen sog. Beliehenen übertragen werden.132 Dabei ist gleichgültig, welchen Rechtsstatus der Beliehene innehat.133 Auch außerhalb der klassischen Eingriffsverwaltung ist der Private, dem hoheitsrechtliche Befugnisse übertragen werden, Amtsträger nach Absatz 1 Nr. 2 Buchst. c, da er öffentlich-rechtliche Befugnisse ausübt, die ausschließlich dem Staat zustehen.134 Zur öffentlichen Verwaltung gehört auch die sog. schlicht-hoheitliche Tätigkeit, die 44 dem Bereich der Daseinsvorsorge zugeordnet wird und dazu bestimmt ist, unmittelbar für die Daseinsvoraussetzungen der Allgemeinheit oder ihrer Glieder zu sorgen (BGHSt 12 89, 90; NJW 2004 693; 2008 3724; StV 2019 42).135 Da der Verwaltung dabei verschiedene Handlungsformen zur Verfügung stehen, ist entsprechend zu differenzieren: Unproblematisch ist die Fallgruppe, in der sich die Verwaltung öffentlich-rechtlicher Handlungsformen bedient. Bedient sie sich privatrechtlicher Handlungsformen, so ist dies, wie sich aus dem durch das Korruptionsbekämpfungsgesetz eingefügten Zusatz ergibt, grundsätzlich unschädlich (BGH NJW 2004 693; 2004 3129, 3130 f; aA noch BGHSt 38

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129 Vgl. auch EuGH NVwZ 2005 187, 190 zum Vergaberecht. 130 BTDrucks. 7/550 S. 209. 131 RGSt 39 232, 233; 51 65, 66; 60 139, 140 f; 67 299, 300; 70 234, 235; 72 289, 290; 73 29, 30; 75 396; RG JW 1935 2433; RG HRR 1940 1164; BGHSt 4 113, 117; 8 21, 22; 11 345, 349; 12 89. 132 BGHSt 38 199, 201; Kaspar/Knauer GA 2005 385, 387; Radtke MK Rdn. 53; Ransiek NStZ 1997 519, 521; Sch/Schröder/Hecker Rdn. 19. 133 Radtke MK Rdn. 53. 134 Radtke MK Rdn. 53. 135 Jutzi NStZ 1991 104 f und dort Fn. 8.

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199, 203). Ebenso wenig steht entgegen, dass die Verwaltung nicht nur Zwecke des Gemeinwohls verfolgt, sondern zugleich in Gewinnerzielungsabsicht handelt (BGH NJW 2004 3129, 3131; StV 2019 42).136 Allerdings ist zur Vermeidung einer Ausuferung des Amtsträgerbegriffs eine Einschränkung geboten (vgl. bereits Rdn. 33 ff). Privatpersonen sollen deshalb nur Amtsträger sein, wenn in Bezug auf das durch das Amtsdelikt geschützte Rechtsgut ein den anderen Gruppen von Amtsträgern vergleichbares Bedürfnis für die Anwendung der Amtsträgerdelikte besteht.137 Voraussetzung ist weiter, dass die Erfüllung der vom Staat übernommenen Aufgabe im Interesse der Allgemeinheit erfolgt, andernfalls liegt schon keine Daseinsvorsorge vor.138 Keine Aufgabe der öffentlichen Verwaltung liegt im Fall der materiellen Privatisierung vor, bei der sich der Staat gänzlich aus der Aufgabenerfüllung zurückzieht und diese auf einen privaten Leistungserbringer überträgt.139 Ein weiteres Teilgebiet staatlicher Tätigkeit ist die erwerbswirtschaftlich-fiskali- 45 sche Betätigung. Ob diese zu den Aufgaben öffentlicher Verwaltung gehört, ist umstritten. Es ist dabei eine genauere Betrachtung erforderlich, da sich die erwerbswirtschaftlichfiskalische Betätigung des Staates in die Gebiete „Beschaffungs- und Bedarfsverwaltung“ und „wirtschaftliche Betätigung des Staates“ unterteilt. Die Beschaffungs- und Bedarfsverwaltung, bei der der Staat als Nachfrager von Waren und Dienstleistungen auftritt, ist öffentliche Aufgabe, wenn sie dazu dient, die sachlichen Voraussetzungen für die Eingriffs- und Leistungsverwaltung zu schaffen, da diese unmittelbar abhängig ist vom Vorhandensein entsprechender Sach- und Personalmittel.140 Dabei ist nicht zwischen Personen zu differenzieren, die „bei“ einer Behörde oder einer sonstigen Stelle tätig sind, und denjenigen, die nur „im Auftrag“ einer Behörde oder sonstigen Stelle handeln.141 Denn es macht aus der Perspektive des Bürgers keinen Unterschied, ob die Störung in der Eingriffs- oder Leistungsverwaltung unmittelbar oder mittelbar durch die Behörde oder sonstige Stelle hervorgerufen wird.142 Die rein wirtschaftliche Betätigung des Staates außerhalb der Daseinsvorsorge 46 (vgl. Rdn. 44) und der Beschaffungsverwaltung ist keine Aufgabe der öffentlichen Verwaltung.143 Darunter sind solche Tätigkeiten zu verstehen, die allein dem Zwecke der Erhöhung staatlicher Einnahmen dienen. Zwar spricht das Gesetz von der „öffentlichen Verwaltung“ und nicht – wie § 10 Nr. 4 Buchst. b E 62 – von „hoheitsrechtlichen Aufgaben der vollziehenden Gewalt“. Nach der gesetzgeberischen Intention ist daher die erwerbswirtschaftliche Betätigung anders als bei § 359 a.F. vom Amtsträgerbegriff umfasst. Jedoch sollte andererseits mit der Neufassung der Amtsträgerbegriff nicht wesentlich verändert werden.144 Wegen dieser widersprüchlichen Aussagen kann die gesetzgeberische Intention nicht als Argument für die Einbeziehung der rein erwerbswirtschaftlichen Tätigkeit herangezogen werden.145 Da hier kein unmittelbares öffentliches Interesse ver-

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136 Fischer Rdn. 22. 137 Radtke MK Rdn. 58; Heinrich S. 453; Kaspar/Knauer GA 2005 385, 387 f; in diese Richtung auch KG NJW 2008 2132 für einen Busfahrer der Berliner Verkehrsbetriebe. 138 Ransiek NStZ 1997 519, 521; Radtke MK Rdn. 58. 139 BGH NJW 2004 3129, 3131; Radtke MK Rdn. 58; Ransiek NStZ 1997 519, 521. 140 Radtke MK Rdn. 75; in diese Richtung auch BGH NJW 2016 1398, 1399 für die Daseinsvorsorge. 141 Radtke MK Rdn. 76; Ransiek NStZ 1997 519, 522; Weiser NJW 1995 968, 970; aA Haft NJW 1995 1113, 1115; Heinrich S. 492; Kaspar/Knauer GA 2005 385, 389; Lenckner ZStW 106 (1994) 502, 528; Schramm JuS 1999 323, 326. 142 Radtke MK Rdn. 76. 143 Dingeldey NStZ 1984 503 f; Heinrich S. 489 f; Otto JR 1998 73, 74; Ransiek NStZ 1997 519, 522; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 9a; Radtke MK Rdn. 77. 144 BTDrucks. 7/550 S. 208. 145 Ebenso Lackner/Kühl/Heger Rdn. 9a; Radtke MK Rdn. 77.

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folgt wird, ist die rein wirtschaftliche Tätigkeit des Staates keine Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe.146 Dementsprechend ist die Verwaltung staatlichen Vermögens eine hoheitliche Tätigkeit, soweit es um Verwaltungsvermögen zum unmittelbaren Verwaltungsgebrauch geht (RGSt 74 251; BGHSt 2 119). Zweifelhaft ist die Beurteilung der Verwaltung von Finanzvermögen, dessen sich der Staat ganz oder hauptsächlich zur Gewinnung von Einnahmen vorwiegend auf privatrechtlichem Gebiet bedient. Insoweit ist eine Aufgabe der öffentlichen Verwaltung grundsätzlich nicht anzunehmen. Eine kommunale Wohnungsbaugesellschaft ist keine „sonstige“ Stelle, wenn sie in die Entscheidungszuständigkeiten über die Erteilung von Berechtigungsscheinen für sozial schwache Bürger nicht eingebunden ist, sondern lediglich wie andere Wettbewerber auf dem Markt Teile ihres Wohnungsbestandes für den Berechtigtenkreis zur Verfügung stellt (BGH NJW 2007 2932, 2934). Die Erhaltung und Bewirtschaftung staatlicher Forsten dürfte wegen ihrer Bedeutung für die Landeskultur dagegen wohl dem Bereich des Umweltschutzes und damit dem Gebiet der allgemeinen Daseinsvorsorge zuzuordnen sein (vgl. BGH NJW 1952 191). Andere staatliche Tätigkeiten werden von § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c nicht erfasst, insbesondere nicht die gesetzgeberische und parlamentarische Tätigkeit. Abgeordnete sind keine Amtsträger (BGHSt 5 100, 106). Dafür gibt es im Hinblick auf den besonderen Status der Abgeordneten im demokratischen Rechtsstaat gute Gründe. Man wird auch Funktionsträger der Parlamente nicht zu den Amtsträgern zu zählen haben.147 Das Gleiche gilt für Mitglieder kommunaler Volksvertretungen, da sie in Gemeinde- und Stadträten nicht im Rahmen eines Dienst- oder Auftragsverhältnisses tätig werden, sondern ihre öffentlichen Aufgaben in Ausübung ihres freien Mandates wahrnehmen (BGH NJW 2006 2050, 2053 mit zust. Bespr. Feinendegen NJW 2006 2014; mit zust. Bespr. Ipsen NdsVBl 2006 321; s. jetzt aber § 108e).148 Amtsträgereigenschaft nach Nummer 2 Buchst. c wird aber jedenfalls dann zu bejahen sein, wenn ein Gemeinderat als solcher oder als Vorsitzender eines Ausschusses unmittelbar mit konkreten Verwaltungsaufgaben betraut wird, die über seine Mandatstätigkeit in der kommunalen Volksvertretung und den zugehörigen Ausschüssen hinausgeht (BGH NJW 2006 2050, 2054 f; NStZ 2015 451 m. Anm. Becker). Unerheblich ist, dass er hierfür kein Entgelt, sondern nur eine Aufwandsentschädigung erhält.149 Zur öffentlichen Verwaltung gehört ebenso wenig die Rechtsprechung. Dies schließt aber nicht aus, dass es innerhalb der Rechtspflege Tätigkeiten gibt, die materiell der „öffentlichen Verwaltung“ angehören, z.B. die Beurkundungstätigkeit der Ortsgerichte in den Ländern Hessen und Rheinland-Pfalz.150 Rechtspfleger sind Beamte und fallen unter Nummer 2 Buchst. a. Militärische Tätigkeiten gehören nicht zur öffentlichen Verwaltung im Sinne der Nummer 2 Buchst. c, allerdings mit Ausnahme der Wehrverwaltung.151 Im Übrigen bestimmt § 48 WStrG, inwieweit Soldaten Amtsträger sind.152

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146 Radtke MK Rdn. 77. 147 Lackner/Kühl/Heger Rdn. 11. 148 OLG Stuttgart NJW 1966 679; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 11; Dahs/Müssig NStZ 2006 191 ff; Deiters NStZ 2003 453; Nolte DVBl 2005 870; aA OLG Braunschweig MDR 1950 629; LG Krefeld NJW 1994 2036 f; LG Köln NStZ-RR 2003 364; vgl. ferner OLG Celle NdsRpfl. 1962 156. 149 Lackner/Kühl/Heger Rdn. 11; vgl. auch Deiters NStZ 2003 453, 458. 150 BTDrucks. 7/550 S. 209. 151 Fischer Rdn. 23c. 152 BGH NJW 2011 1979, 1980.

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Geistliche und andere Religionsdiener sind nicht schon um dieser Stellung willen 51 Amtsträger (vgl. RGSt 47 49, 50), da sie keine Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrzunehmen haben. Sie können aber Amtsträger sein, wenn sie zugleich unmittelbar staatliche Bedienstete sind (z.B. Lehrer an öffentlichen Schulen)153 oder wenn die Erteilung von amtlichen Zeugnissen aus Kirchenbüchern in Betracht kommt.154 Amtsträger sind nach der früheren Rechtsprechung155 insbesondere Personen, die unter staatlicher Aufsicht Kirchenvermögen oder Kirchenstiftsvermögen verwalten (vgl. BGHSt 37 191, 195 ff). Doch liegen diese Voraussetzungen nicht mehr vor bei einem Beamten (Kirchenoberverwaltungsrat oder Kirchenamtsrat) der Evangelischen Landeskirche in Baden, der das ihr gewidmete Vermögen kirchlicher Stiftungen verwaltet (BGHSt 37 191, 196 ff; OLG Karlsruhe NJW 1989 238 ff; im gleichen Sinne schon RG HRR 1939 273). Handelt es sich um Aufgaben der öffentlichen Verwaltung, so setzt die Amtsträ- 52 gereigenschaft voraus, dass der Bestellte solche Aufgaben selbst wahrnehmen muss. Hierzu gehört eine gewisse selbständige und eigenverantwortliche, wenngleich nicht unbedingt eine gehobene oder schwierige Tätigkeit.156 Ausreichend konnte bereits die Tätigkeit eines Postfacharbeiters sein, insbesondere wenn er dem Postdienst eigentümliche Verrichtungen ausführte157 (zur Entwicklung im Hinblick auf die Privatisierung der Post siehe Rdn. 57). Rein mechanische oder nur untergeordnete Hilfstätigkeiten (z.B. Reinigungsarbeiten)158 begründen eine Amtsträgereigenschaft nicht.159 Ein Postfacharbeiter, der regelmäßig nur mit solchen Arbeiten betraut ist, wird nicht dadurch Amtsträger, dass er gelegentlich zu Arbeiten öffentlich-rechtlicher Art herangezogen wird (BGH GA 1953 49 = NJW 1953 1153 L). Auch Dienste als Kraftfahrer oder bloße Schreibarbeiten160 genügen für die Amtsträgereigenschaft nicht. Für solche Beschäftigte kommt jedoch, falls sie besonders verpflichtet sind, § 11 Abs. 1 Nr. 4 in Betracht. Fernschreibangestellte der Polizei können wegen des selbständigen Charakters dieser Tätigkeit im Polizeidienst als Amtsträger angesehen werden (BayObLG NJW 1953 1074). Ob die Wahrnehmung von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung nach außen als Verwaltungshandeln in Erscheinung tritt, ist unerheblich (RGSt 70 234, 235; RG DJ 1939 227). Auch eine bloß beratende Tätigkeit bei der Beschaffung und Verwaltung der für eine Universitätsklinik benötigten Lebensmittel (RGSt 74 251, 253) oder die aufgrund interner Aufgabenverteilung bestehende faktische Entscheidungsmacht eines Schulsekretärs darüber, welche Bestellungen realisiert oder Zulieferer beauftragt werden (BGH NJW 2016 1398) kann genügen. c) Beispiele. Amtsträger gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c sind: Vorstandsmitglie- 53 der der Westdeutschen Landesbank, und zwar auch dann, wenn sie nicht Aufgaben einer Staats- und Kommunalbank wahrnehmen, sondern im Geschäftsbankbereich tätig werden (BGHSt 31 264, 269 ff = JR 1983 462 mit insoweit zust. Anm. Geerds = NStZ 1984 501 mit Anm. Dingeldey; OLG Hamm NJW 1981 695); für öffentlich-rechtlich organisierte Sparkassen wird aufgrund zunehmender erwerbswirtschaftlicher Tätigkeit in jüngerer

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153 Sch/Schröder/Hecker Rdn. 23. 154 RG Rspr. 5 26. 155 BGHSt 8 273, 277; BGH LM § 359 (a.F.) Nr. 1; RGSt 57 23 f; 63 116, 119; 71 149 f; RG JW 1934 2070 mit Anm. Klee; 1935 1248, 1249; 1935 3391 f. 156 Zust. BGH NJW 2016 1398, 1399. 157 OLG Bremen NJW 1950 198 mit Anm. Döll. 158 RG JW 1931 62, 63. 159 Fischer Rdn. 23c; aA wohl Sch/Schröder/Hecker Rdn. 22. 160 RGSt 31 293, 294.

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Vergangenheit eine funktionsbezogene Unterscheidung diskutiert; 161 Mitarbeiter der Treuhandliegenschaftsgesellschaft mbH (TLG), einer Tochtergesellschaft der ehemaligen Treuhandanstalt, als Referatsleiter im Bereich Bautechnik (KG NStZ 1994 242); ein Privatarzt, den die Polizei um die Entnahme einer Blutprobe ersucht, bei den Handlungen, mit denen er dem Ersuchen nachkommt (OLG München NJW 1979 608 f); der Chefarzt eines Kreiskrankenhauses in Baden-Württemberg (OLG Karlsruhe NJW 1983 352) – doch wird er bei der Heilbehandlung eines Patienten nicht „während der Ausübung seines Dienstes“ oder „in Beziehung auf seinen Dienst“ als Amtsträger tätig (OLG Karlsruhe aaO 353); ein in einem Universitätskrankenhaus tätiger Oberarzt (HansOLG Hamburg StV 2001 277, 278); nicht aber ein niedergelassener, für die vertragsärztliche Versorgung zugelassener Arzt, weil die gesetzlichen Krankenkassen zwar „sonstige Stellen“ sind, im Verhältnis zwischen Vertragsarzt und Patient die persönliche Beziehung jedoch so sehr im Vordergrund steht, dass ein hoheitlicher Charakter der Erfüllung öffentlicher Aufgaben dahinter zurücktritt und der Arzt deshalb keine Aufgabe der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt (BGH NJW 2012 2530, 2532; zust. Hecker JuS 2012 852, 854 f; erfasst nun aber durch § 299a, b StGB); Mitarbeiter privater Ingenieur- und Planungsbüros, welche durch staatliche Baubehörden mit der Organisation von Bauvorhaben der öffentlichen Hand betraut sind (OLG Frankfurt NJW 1994 2242 [zw.];162 aA BayObLG NJW 1996 268, 270);163 ein Angestellter einer Kreisverwaltung, der im Tiefbauamt beschäftigt ist und dort Anträge auf Subventionierung von Bodenverbesserungsmaßnahmen zu prüfen hat (BGHSt 32 203, 204 = JR 1984 474 mit Anm. Otto); ein Ratsherr (gemeindliches oder städtisches Ratsmitglied) einer Gemeinde oder Stadt in Nordrhein-Westfalen (zw. LG Krefeld NJW 1994 2036, 2037); alle mit der Erledigung steuerlicher Angelegenheiten betrauten Bediensteten einer Finanzbehörde, also insbesondere Veranlagungssachbearbeiter und die entsprechenden Sachgebiets- und Dienststellenleiter;164 der Vorsitzende des Meisterprüfungsausschusses für das Fliesen-, Platten- und Mosaiklegerhandwerk einer Handwerkskammer (OLG Koblenz MDR 1993 1104); der Gerichtsvollzieher (OLG Düsseldorf NJW 1997 2124); die Angestellten der GTZ (BGHSt 43 370; vgl. Rdn. 39); TÜV-Sachverständige und Prüfingenieure (OLG Hamburg NStZ 2014 94, 95; BGH NZV 2019 94 mit Anm. Gutfleisch und Bach StraFo 2019 102); Mitglieder des Prüfungsausschusses eines Schießsportvereins zur Abnahme der Sachkundeprüfung im Rahmen waffenrechtlicher Erlaubnisverfahren, weil die Waffenbehörde bei der Entscheidung über die Erteilung der Erlaubnis an die positive Feststellung der Sachkunde durch den Verein gebunden ist (BGH, Beschluss v. 10.1.2019 – 3 StR 635/17 Rn. 24 [juris] mit Anm. Rathgeber FD-StrafR 2019, 415719); der nach § 17 Abs. 1 Nr. 3 BestattVO BW zur Ausstellung einer Bescheinigung über die Durchführung einer zweiten Leichenschau ermächtigte Arzt (OLG Karlsruhe medstra 2017 233 mit Anm. Zieschang medstra 2017 240). Auf dem Gebiet der Daseinsvorsorge sind Amtsträger gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 2 54 Buchst. c ein in einem öffentlich-rechtlichen Anstellungsverhältnis stehender Schulsekretär, der für das Bestell- und Zahlwesen einer Schule zuständig ist (BGH NJW 2016 1398); die Mitglieder der Ordnungsgruppe der Hamburger Hochbahn AG, eines privatwirtschaftlichen Unternehmens, das unter staatlicher Kontrolle durch den Betrieb von UBahnen und Buslinien auf dem Gebiet des Großstadtverkehrs Aufgaben der staatlichen

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161 Angedeutet bei BGH NJW 2010 361, 362 mit Anm. Popp JR 2011 216; Schalast/Safran/Sassenberg NJW 2008 1486. 162 Weiser NJW 1994 968, 972. 163 Haft NJW 1995 1113; 1996 238. 164 Weyand wistra 1988 180, 181.

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Daseinsvorsorge zu erfüllen hat (OLG Hamburg NJW 1984 624);165 der kaufmännische Vorstand einer Aktiengesellschaft, die im Alleinbesitz einer kreisfreien Stadt steht und auf deren Gebiet den öffentlichen Personennahverkehr allein betreibt (OLG Düsseldorf NStZ 2008 459); der für die Werbevermarktung zuständige Angestellte einer im städtischen Alleineigentum stehenden AG, die den öffentlichen Personennahverkehr bereitstellt (BGH StV 2019 42). Gleiches soll gelten für leitende Redakteure öffentlichrechtlicher Rundfunkanstalten, weil diese die unerlässliche Grundversorgung der Bevölkerung mit Rundfunkprogrammen sicherstellen (BGH NJW 2010 784, 786).166 Amtsträger ist auch ein freier Mitarbeiter der Flughafen Berlin Brandenburg GmbH, der faktisch wie ein leitender Angestellter in die Organisation der als „verlängerter Arm des Staates“ erscheinenden GmbH eingebunden ist (LG Cottbus, Urt. v. 28.11.2016 – 22 KLs 8/15 [juris]). Ebenso ist Amtsträger der Geschäftsführer einer kommunalen EnergieversorgungsGmbH, die sich in städtischem Alleinbesitz befindet (BGH NJW 2004 693 = JR 2005 27 mit zust. Anm. Ding). Das Bestehen eines Anschluss- und Benutzungszwanges für die Nutzer ist dabei zwar ein Indiz für die Wahrnehmung einer öffentlichen Aufgabe (BGHSt 38 199, 204; NJW 2004 693, 694 f),167 darf aber nicht als notwendige Voraussetzung angesehen werden. Nach früherer Rechtsprechung des BGH waren dagegen keine Amtsträger die Ge- 55 schäftsführer eines in der Rechtsform der GmbH geführten, auf dem Gebiet des sozialen Wohnungsbaus tätigen landeseigenen Unternehmens (zw. BGHSt 38 199, 203 f = JR 1992 471 mit abl. Anm. Ossenbühl; im gleichen Sinne OLG Frankfurt NStZ-RR 1997 263; LG Frankfurt NStZ-RR 1996 259). Zur berechtigten Kritik an dem Urteil 11. Auflage Rdn. 45. Die tragende Argumentation der Entscheidung, dass die Verwendung der privatrechtlichen Organisationsform durch eine öffentlich-rechtliche Körperschaft regelmäßig auch die Anwendung der Regeln für privatrechtliche Gesellschaften zur Folge hätte (BGHSt 38 199, 203), ist durch den durch das Korruptionsbekämpfungsgesetz vom 13.8.1997 (BGBl. I S. 2038) – auch als Reaktion auf die Entscheidung des BGH168 – eingefügten Zusatz „unbeschadet der zur Aufgabenerfüllung gewählten Organisationsform“ inzwischen jedoch überholt. Amtsträger sind nicht: V-Leute der Polizei, weil sie nicht selbst Aufgaben der öf- 56 fentlichen Verwaltung wahrzunehmen haben, sondern nur Informanten und Gehilfen der mit der Verbrechensbekämpfung betrauten Polizei sind (BGH NJW 1980 846, 847);169 Mitarbeiter einer medizinisch-psychologischen Begutachtungsstelle für Fahreignung, weil diese den Betroffenen lediglich bei der Erfüllung seiner Mitwirkungsobliegenheiten in einem Verwaltungsverfahren unterstützt und die Entscheidung über die Eignung des Betroffenen nach der Begutachtung der Fahrerlaubnisbehörde vorbehalten bleibt, sodass die Begutachtungsstelle nicht als „verlängerter Arm des Staates“ erscheint (BGH NStZ 2009 562, 563); ein allgemein vereidigter freiberuflich tätiger Dolmetscher, den eine Behörde oder Stelle wiederholt oder auch regelmäßig bei amtlichen Prüfungsverfahren zum Zweck der Verständigung mit dem Prüfling mitwirken lässt (BGHSt 42 230, 231 f). Der freiberufliche Bauingenieur, der von einer Gemeinde mit der Vorbereitung

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165 AA Schröder NJW 1984 2510 f; gegen eine Einordnung privater Verkehrsunternehmer als Amtsträger auch Becker StV 2006 263, 266 ff. 166 I.E. zust. Heinrich JZ 2010 529; aA Bernsmann Festschrift Herzberg (2008) 167; von Coelln Festschrift I. Roxin (2012) 209, 217 f. Zu daraus etwaig resultierenden Strafbarkeitsrisiken für den investigativen Journalismus nach §§ 203, 353b Libertus ZUM 2012 101. 167 Ebenso Krehl StV 2005 325, 327. 168 König JR 1997 397, 398; Wolters JuS 1998 1100, 1104. 169 AA Wagner JZ 1987 594, 595.

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einer öffentlichen Ausschreibung für Arbeiten an einem Klärwerk beauftragt wird, ist in Bezug auf diese Aufgabe kein Amtsträger nach Absatz 1 Nr. 2 Buchst. c (BGHSt 43 96). Die Privatisierung der Post170 hat sich erheblich auf den Umfang des Begriffs „Auf57 gaben der öffentlichen Verwaltung“ und damit auf die Beurteilung der Amtsträgereigenschaft von Bediensteten nach § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c (Rdn. 33 ff) ausgewirkt. Wenn und soweit die allgemeine Daseinsvorsorge ihrer Natur nach staatliche Aufgabe ist oder wenigstens sein kann (Rdn. 44), verlieren die Dienstleistungen des Post- und Telekommunikationswesens diesen Charakter zwar nicht allein dadurch, dass die sie betreibenden Unternehmen – auf neu geschaffener verfassungsrechtlicher Grundlage171 – in privatrechtliche Form überführt werden (vgl. BayObLG NStZ 1993 591, 592). Gleiches gilt für die Tätigkeit der Deutschen Bahn AG (BGH NJW 2004 3129, 3131); vgl. dazu aber Rdn. 41. Doch wird man dem Staat (als Gesetzgeber) ein gewisses Ermessen zubilligen müssen, sich solcher Aufgaben (gleichsam in Randbereichen) jedenfalls teilweise durch Übertragung auf Private zu entledigen (ähnlich BGH StV 2019 42), dies auch – wenn gewollt – mit strafrechtlichen Konsequenzen, weil es keinen Zwang zur besonderen Bestrafung bestimmter Lebensbereiche gibt. So steht das Recht, Dienstleistungen des Post- und Telekommunikationswesens zu erbringen, nicht nur den aus den Unternehmen der Deutschen Bundespost hervorgegangenen Aktiengesellschaften (der Deutschen Post AG, der Deutschen Postbank AG und der Deutschen Telekom AG, § 1 Abs. 2 PostUmwG) zu, sondern auch anderen privaten Anbietern (vgl. Art. 87f Abs. 2 Satz 1 GG). Insbesondere im Bereich der Telekommunikationsleistungen ist eine umfangreiche materielle Privatisierung erfolgt, so dass es insoweit bereits an einer öffentlichen Aufgabe mangelt.172 Gleiches gilt zunehmend für die Dienstleistungen im Postwesen mit Ausnahme noch der Briefbeförderung.173 Als hoheitliche Aufgabe des Bundes verbleibt lediglich die Regulierung der Telekommunikation (§ 2 Abs. 1 TKG) und des Postwesens (§ 2 Abs. 1 PostG). Zur Kasuistik zu § 359 a.F. vgl. 11. Auflage. Sie ist gegenwärtig insofern von Bedeu58 tung, als nach dem Willen des Gesetzgebers der Amtsträgerbegriff dem herkömmlichen strafrechtlichen Beamtenbegriff (§ 359 a.F.) entsprechen sollte.174 Das Ergebnis dieser Rechtsprechung lässt sich, soweit es um Beamte im nur strafrechtlichen, nicht staatsrechtlichen Sinne geht, wie folgt zusammenfassen: Ob für die Beamteneigenschaft wesentliche Dienstverrichtungen vorliegen, welche aus der Staatsgewalt abgeleitet sind und staatlichen Zwecken dienen, bestimmt sich grundsätzlich nach den Aufgaben der Behörde oder Stelle, bei denen sie wahrgenommen werden. In Bereichen, die erwerbswirtschaftlichen Charakter haben können, kommt es auf das Wesen der Aufgabe an, nicht auf die äußere Form, in der sie erfüllt wird. Insbesondere bei städtischen oder gemeindlichen Verkehrs- und Versorgungsunternehmen, welche der allgemeinen Da-

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170 Vgl. G zur Neuordnung des Postwesens und der Telekommunikation (PostneuordnungsG; PTNeuOG) vom 14.9.1994 (BGBl.I S. 2325), unter anderem mit G zur Umwandlung der Unternehmen der Deutschen Bundespost in die Rechtsform der Aktiengesellschaft (Postumwandlungsgesetz; PostUmwG, Art. 3 PTNeuOG), G über die Regulierung der Telekommunikation und des Postwesens (PTRegG, Art. 7 PTNeuOG), G zur Sicherstellung des Postwesens und der Telekommunikation (Post- und Telekommunikationssicherstellungsgesetz; PTSG, Art. 10 PTNeuOG), ferner das PostG vom 22.12.1997 (BGBl. I S. 3294). 171 Art. 87e Abs. 3 GG, eingefügt durch G vom 20.12.1993 (BGBl. I S. 2089); Art. 87 f Abs. 2 GG, eingefügt durch G vom 30.8.1994 (BGBl. I S. 2245). 172 Radtke MK Rdn. 60. 173 Krehl StV 2005 325, 326 f. 174 BTDrucks. 7/550 S. 208; Radtke MK Rdn. 44. Zum strafrechtlichen Beamtenbegriff Mösl LK9 § 359 Rdn. 13.

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seinsvorsorge dienen, ist es unerheblich, ob sie unmittelbarer Teil der Verwaltung sind oder von ihr in Form einer Gesellschaft des Privatrechts (GmbH, AG) betrieben werden. d) Innere Tatseite. In allen Fällen, in denen der gesetzliche Tatbestand Amtsträger- 59 eigenschaft voraussetzt, gehört es zum Vorsatz, dass der Täter die wesentlichen Tatsachen kennt, auf denen die Amtsträgereigenschaft beruht (BGHSt 8 321, 323).175 Das bedeutet nicht, dass er aus diesen Tatsachen auch die zutreffenden rechtlichen Schlüsse ziehen muss; er braucht daraus nicht zu folgern, dass er Amtsträger im Rechtssinne ist (BGHSt 8 321, 324).176 Allerdings muss er wissen, dass er in einem öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis steht oder Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt,177 dass der Betrieb, in dem er arbeitet, eine Betätigung der Staatsgewalt ist und dass er selbst in diesem Betrieb als durch eine zuständige Stelle Angestellter Tätigkeiten vorzunehmen hat, die gerade der Erfüllung dieser Aufgaben dienen und nicht nur allgemeine Hilfstätigkeiten sind (wie etwa die Reinigung von Räumen), die nicht im Zusammenhang mit den eigentlichen hoheitlichen Aufgaben stehen (so BGHSt 8 321, 323). Bedingter Vorsatz genügt.178 Bildet die Amtsträgereigenschaft einen Straferhöhungsgrund, so kann die Unkenntnis über die erhöhten Pflichten keinen Verbotsirrtum begründen, weil der Täter sich in diesem Fall über das Verbotensein selbst nicht irrt; wohl aber kann ein Verbotsirrtum bei echten Amtsdelikten gegeben sein (BGHSt 8 321, 324; in diese Richtung auch BGH NStZ 2007 211, 212). Hält sich der Täter, obwohl er den richtigen Sachverhalt kennt, rechtsirrtümlich für einen Amtsträger, so liegt ein bloßes Wahndelikt vor.179 e) Europäische Amtsträger (§ 11 Abs. 1 Nr. 2a). Die Definition des „Europäischen“ 60 Amtsträgers gründet auf Art. 2 § 1 EUBestG a.F. Erfasst sind neben den bisher durch Art. 2 § 1 Nr. 1b EUBestG a.F. den deutschen Richtern gleichgestellten Mitgliedern eines Gerichts der Europäischen Union diejenigen Personen, die nach Art. 2 § 1 Abs. 1 Nr. 2b, c, Abs. 2 EUBestG für die Anwendung der §§ 263, 264, 332, 334–336, 338 StGB; 370 AO den inländischen Amtsträgern gleichgestellt wurden.180 Amtsträger i.S.d. § 11 Abs. 1 Nr. 2a Buchst. a sind Mitglieder der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank, des Rechnungshofs und eines Gerichts der Europäischen Union. Gerichte der Europäischen Union sind der Gerichtshof der Europäischen Union, das Gericht der Europäischen Union und als Fachgericht bisher nur das Gericht für den öffentlichen Dienst der Union. § 11 Abs. 1 Nr. 2a Buchst. b bezieht die Beamten oder sonstigen Bediensteten der Europäischen Union oder einer auf der Grundlage des Rechts der Europäischen Union geschaffenen Einrichtung in den Kreis der Europäischen Amtsträger ein. Die Regelung knüpft unter terminologischer Abweichung an Art. 2 § 1 Abs. 1 Nr. 2b EUBestG an. So wird nicht mehr auf den Begriff des Gemeinschaftsbeamten, sondern den des Bediensteten abgestellt. Voraussetzung der Amtsträgerschaft ist eine wirksame Ernennung in ein Beamtenverhältnis bzw. ein wirksames Beschäftigungsverhältnis.181 Auf der Grundlage des Rechts

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175 BGH NJW 1960 253; RGSt 53 131; 57 366, 367; RG JW 1939 625; RG HRR 1942 828; OLG Frankfurt NJW 1953 1075, 1076 mit Anm. Schmidt-Leichner. 176 RG GA Bd. 59 348, 349; OLG Frankfurt NJW 1953 1075, 1076 mit Anm. Schmidt-Leichner; in diese Richtung wohl auch BGH NStZ 2013 168. 177 RGSt 74 105, 109; RG HRR 1937 1684; siehe auch BGH NJW 2009 3248, 3250; NJW 2010 784, 787, wo über Tatsachenkenntnis hinaus “Bedeutungskenntnis von der Funktion als Amtsträger” gefordert wird; skeptisch dazu wiederum BGH StV 2019 42. 178 BGH NStZ-RR 2013 168; RG HRR 1939 538; Mösl LK9 § 359 Rdn. 31. 179 OLG Schleswig SchlHA 1949 297. 180 BTDrucks. 18/4350 S. 18. 181 Radtke MK Rdn. 107.

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der Europäischen Union geschaffene Einrichtungen sind etwa Eurojust oder OLAF.182 Nach § 11 Abs. 1 Nr. 2a Buchst. c gelten auch mit der Wahrnehmung von Aufgaben der Europäischen Union oder von Aufgaben einer auf der Grundlage des Rechts der Europäischen Union geschaffenen Einrichtung beauftragte Personen als Europäische Amtsträger. Die Norm, die im EUBestG keinen Vorläufer hatte, ist Auffangtatbestand für Fälle, in denen Personen etwa im Rahmen von Werkverträgen beschäftigt werden und Bediensteten funktionell gleichstehen.183 Die Struktur der Vorschrift ähnelt § 11 Abs. 1 Nr. 2c StGB, sodass die dort an eine Beauftragung gestellten Anforderungen im Wesentlichen auf § 11 Abs. 1 Nr. 2a Buchst. c zu übertragen sein dürften.184 Keine Europäischen Amtsträger sind die Mitglieder des Europäischen Parlaments, des Europäischen Rates und des Rates.185 Abgeordnete des EU-Parlaments können sich allerdings wegen Bestechlichkeit nach § 108e Abs. 1, Abs. 3 Nr. 4 strafbar machen. 61

3. Richter (§ 11 Abs. 1 Nr. 3). Es sind Personen, die nach deutschem Recht Berufsrichter oder ehrenamtliche Richter sind. Die Richter gehören begrifflich zu den Amtsträgern (§ 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a). Der Begriff des Richters wird neben dem des Amtsträgers erwähnt, um die besondere verfassungsrechtliche Stellung der Richter zu kennzeichnen und um klarzustellen, dass – abweichend vom früheren Recht – auch ehrenamtliche Richter miteinbezogen sind. Der Begriff „Richter“ erfasst nur Personen, die nach deutschem Recht (Rdn. 21) eine Richterstellung innehaben. Das Gesetz meint also in diesem Zusammenhang nur die Träger der rechtsprechenden Gewalt im Sinne der Art. 92 ff GG. Der Begriff hat im Wesentlichen Bedeutung bei den Bestechungsdelikten und der Rechtsbeugung (§ 331 Abs. 2, § 332 Abs. 2, § 333 Abs. 2, § 334 Abs. 2, § 339; vgl. ferner § 77a Abs. 2). a) Gruppen von Richtern

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aa) Berufsrichter (§ 2 DRiG). Es sind dies Personen, die nach Bundes- oder Landesrecht in das Richteramt durch Aushändigung einer Ernennungsurkunde (§ 17 Abs. 1 DRiG) berufen worden sind. Hierzu gehören die Richter des Bundesverfassungsgerichts (§ 69 DRiG), die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit sowie die bei den Arbeits-, Sozial-, Verwaltungs-, Finanz- und Disziplinargerichten tätigen Berufsrichter; ebenso alle Richter auf Zeit (§ 11 DRiG), Richter auf Probe (§ 12 DRiG) und Richter kraft Auftrags (§ 14 DRiG). Rechtsreferendare in der Ausbildung sind keine Berufsrichter; sie können aber (vgl. § 10 GVG) Amtsträger nach § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c sein.

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bb) Ehrenamtliche Richter. Sie üben aufgrund eines Gesetzes und unter gesetzlich bestimmten Voraussetzungen eine vorübergehende unbesoldete Richtertätigkeit aus (§§ 44, 45 DRiG). Hierher gehören die Laienrichter, die in der Strafgerichtsbarkeit Schöffen, bei den Kammern für Handelssachen Handelsrichter und bei den übrigen Gerichtszweigen ehrenamtliche Richter heißen (§ 45a DRiG). Darunter fallen auch die Mitglieder der Anwaltsgerichtshöfe (§ 103 BRAO) und die (nicht-berufsrichterlichen) Beisitzer bei den verschiedenen Disziplinargerichten.186 Im früheren Recht waren ehrenamtliche Richter keine Beamten im strafrechtlichen Sinne.187

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182 183 184 185 186 187

Radtke MK Rdn. 107 m.w.N. BTDrucks. 18/4350 S. 19. Radtke MK Rdn. 108; Saliger NK Rdn. 43e. BTDrucks. 18/4350 S. 19. BTDrucks. 7/550 S. 210. BGHSt 5 100; BGH MDR 1952 693, 694.

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b) Nicht zu den Richtern gehörende Personen. Nicht zu den Richtern gehören – 64 abweichend von § 10 Nr. 5 Buchst. b E 62 – andere zur Wahrnehmung der rechtsprechenden Gewalt bei einem Gericht bestellte Personen, insbesondere Rechtspfleger. Das Gesetz hat sie im Hinblick auf die hohen Strafdrohungen für Richterdelikte aus dem Richterbegriff herausgenommen.188 Rechtspfleger sind aber Amtsträger (§ 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a). Ebenso gehören Schiedsrichter nicht zu den Richtern im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 3. Ihr richterlicher Auftrag hat eine rechtsgeschäftliche (§§ 1025 ff ZPO), keine hoheitliche Grundlage. Sie sind deshalb auch keine Amtsträger. Der E 62 hat den Begriff des Schiedsrichters definiert (§ 10 Nr. 6).189 Bei den Straftaten im Amt sind die Schiedsrichter den übrigen Richtern gleichgestellt (§ 331 Abs. 2, § 332 Abs. 2, § 333 Abs. 2, § 334 Abs. 2, § 337, § 339). 4. Für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteter (§ 11 Abs. 1 Nr. 4) a) Allgemeines. Zur Herkunft des Begriffs und zu seinem gesetzgeberischen Grund 65 siehe oben Rdn. 19 und E 62 Begr. S. 118. Das StGB verwendet den Begriff des für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten in § 5 Nrn. 12 bis 15, § 77a Abs. 1 und 3, § 97b Abs. 2 Satz 2, § 120 Abs. 2, § 133 Abs. 3, § 194 Abs. 3, § 201 Abs. 3, § 203 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 230 Abs. 2, §§ 331 bis 334, § 335a Abs. 3 Nr. 3; § 353b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und § 355 Abs. 2 Nr. 1. Das Gesetz über die förmliche Verpflichtung nichtbeamteter Personen (Verpflichtungsgesetz; VerpflG), eingeführt durch Art. 42 EGStGB vom 2.3.1974 (BGBl. I S. 469, 547), lautet in der Fassung des Gesetzes vom 15.8.1974 (BGBl. I S. 1942) auszugsweise wie folgt: §1 (1) Auf die gewissenhafte Erfüllung seiner Obliegenheiten soll verpflichtet werden, wer, ohne Amtsträger (§ 11 Abs. 1 Nr. 2 des Strafgesetzbuches) zu sein, 1. bei einer Behörde oder bei einer sonstigen Stelle, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt, beschäftigt oder für sie tätig ist, 2. bei einem Verband oder sonstigen Zusammenschluß, einem Betrieb oder Unternehmen, die für eine Behörde oder sonstige Stelle Aufgaben der öffentlichen Verwaltung ausführen, beschäftigt oder für sie tätig ist oder 3. als Sachverständiger öffentlich bestellt ist. (2) Die Verpflichtung wird mündlich vorgenommen. Dabei ist auf die strafrechtlichen Folgen einer Pflichtverletzung hinzuweisen. (3) Über die Verpflichtung wird eine Niederschrift aufgenommen, die der Verpflichtete mit unterzeichnet. Er erhält eine Abschrift der Niederschrift; davon kann abgesehen werden, wenn dies im Interesse der inneren oder äußeren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland geboten ist. (4) Welche Stelle für die Verpflichtung zuständig ist, bestimmt 1. in den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 und 2 bei Behörden oder sonstigen Stellen nach Bundesrecht die jeweils zuständige oberste Dienstaufsichtsbehörde oder, soweit eine Dienstaufsicht nicht besteht, die oberste Fachaufsichtsbehörde, 2. in allen übrigen Fällen diejenige Behörde, die von der Landesregierung durch Rechtsverordnung bestimmt wird.

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BTDrucks. 7/550 S. 210. Gegen eine gesetzliche Begriffsbestimmung Stratenwerth ZStW 76 (1964) 681; Noll JZ 1963 209.

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§ 11 | Erster Abschnitt. Das Strafgesetz

§2 (1) Wer, ohne Amtsträger zu sein, auf Grund des § 1 der Verordnung gegen Bestechung und Geheimnisverrat nichtbeamteter Personen in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. Mai 1943 (Reichsgesetzbl. I S. 351) förmlich verpflichtet worden ist, steht einem nach § 1 Verpflichteten gleich. (2) Wer, ohne Amtsträger zu sein, 1. als Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes nach einer tarifrechtlichen Regelung oder 2. auf Grund eines Gesetzes oder aus einem sonstigen Rechtsgrund zur gewissenhaften Erfüllung seiner Obliegenheiten verpflichtet worden ist, steht einem nach § 1 Verpflichteten gleich, wenn die Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 erfüllt sind.

b) Voraussetzungen 66

aa) Ausschluss der Amtsträgerschaft. Der besonders Verpflichtete darf im Allgemeinen nicht Amtsträger sein (Rdn. 21 ff). Damit scheiden nicht nur Beamte und Richter, sondern auch Angestellte und sonstige Bedienstete aus, die mit der Wahrnehmung von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung betraut (§ 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c) sind (Rdn. 33 ff). Es bleiben also für die Nummer 4 nur Personen, die unbeschadet ihrer Tätigkeit bei der öffentlichen Verwaltung keine öffentlichen Funktionen wahrzunehmen haben, also Kraftfahrer, Schreibkräfte, Bürokräfte, Boten, Reinigungskräfte und ähnliche Personengruppen,190 auch V-Leute der Strafverfolgungsbehörden (BGHSt 40 211, 213 = JR 1995 467 mit zust. Anm. Gollwitzer = JZ 1995 841 mit Anm. Sternberg-Lieben; BGH NJW 1980 846, 847) und Dolmetscher, wenn sie in einem Beschäftigungsverhältnis zu einer Behörde oder sonstigen Stelle stehen und ihre Übersetzungsleistungen einen Zusammenhang mit der Erfüllung öffentlicher Aufgaben aufweisen (BGHSt 42 230; Radtke MK Rdn. 121). Amtsträger können ausnahmsweise unter den Begriff der für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten fallen, wenn sie von ihrer Amtsstelle an einen Platz abgeordnet werden, an dem sie keine selbständigen Verwaltungsfunktionen ausüben, sondern nur untergeordnete Dienste zu verrichten haben. Gleiches ist bei einer neben- oder ehrenamtlichen Tätigkeit eines Amtsträgers für eine andere Stelle denkbar.191

bb) Stellen der Beschäftigung oder Tätigkeit. Zu den Behörden und sonstigen Stellen, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnehmen (§ 11 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a), gilt das zu Rdn. 39 Ausgeführte. Es können auch Stellen der Bundeswehrverwaltung dazugehören. Das Gesetz erwähnt ferner Verbände oder sonstige Zusammenschlüsse sowie Betriebe oder Unternehmen (§ 11 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b), die für Behörden und Stellen „gleichsam als deren verlängerter Arm“192 tätig werden. Diese Erweiterung folgt dem Vorbild des früheren § 1 Abs. 1 BestechVO. Nicht selten bedienen sich nämlich staatliche Stellen bei der Ausführung ihrer Aufgaben solcher Organisationen und Institutionen. Die dort Tätigen können Kenntnis von Privat- und Dienstgeheimnissen erhalten, so dass auch von dieser Seite die Gefahr eines Geheimnisverrats besteht. Es ist daher geboten, diesen Personenkreis ebenso zu behandeln wie den von Nummer 4 Buchst. a erfassten Kreis.193 Zu den Verbänden gehören die Zusammenschlüsse von natürlichen und juristi68 schen Personen zur Förderung gemeinsamer Interessen, insbesondere wirtschaftlicher, 67

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190 191 192 193

BTDrucks. 7/550 S. 210. Sch/Schröder/Hecker Rdn. 31. BTDrucks. 7/550 S. 211. BTDrucks. 7/550 S. 211.

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sozialer, kultureller oder politischer Art. Die Materialien nennen in diesem Zusammenhang die Marktgemeinschaften und ähnliche Vereinigungen, die innerhalb der Marktwirtschaft bestimmte Aufgaben und Befugnisse haben. Der Sammelbegriff der sonstigen Zusammenschlüsse erfasst z.B. beratende Ausschüsse und ähnliche Beiräte. Unter Betrieb ist ebenso wie in § 14 Abs. 2 eine nicht nur vorübergehende Zusammenfassung mehrerer Personen unter Einsatz von Sachmitteln in gewissem räumlichen Zusammenhang unter einer Leitung zur Erreichung eines bestimmten, nicht stets wirtschaftlichen Zwecks zu verstehen. Der Begriff umfasst nicht nur Fabrik- und Handwerksbetriebe, sondern auch Geschäfte, Büros, Agenturen und Praxen. Auf die rechtliche Form kommt es nicht an.194 Der Begriff des Unternehmens ist noch weiter. Er kann mehrere Betriebe umfassen. Beide Begriffe gehen bei § 11 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b weiter als bei § 5 Nr. 7. Das Gesetz hat Betriebe und Unternehmen mit aufgeführt, weil sie zur Durchführung von Verwaltungsaufgaben herangezogen werden können, etwa datenverarbeitende Betriebe zur Erfassung und Auswertung statistischer Unterlagen oder zur Ausstellung von massenhaft vorkommenden Bescheiden.195 In § 11 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b sind nur Zusammenschlüsse und Unternehmen ge- 69 meint, die für staatliche Stellen selbst Aufgaben der öffentlichen Verwaltung ausführen, nicht solche, die mit Tätigkeiten beauftragt sind, welche lediglich der Vorbereitung von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung dienen, etwa der Beschaffung von Sachmitteln.196 Hingegen enthält das Gesetz – abweichend vom früheren § 1 Abs. 1 BestechVO – keine Beschränkung auf den Bereich der „staatlichen Wirtschaftslenkung“. Die Reichweite der in Nummer 4 Buchst. b verwendeten Begriffe wird sachlich dadurch begrenzt, dass die bei diesen Stellen Tätigen nur nach förmlicher Verpflichtung erfasst werden. cc) Art der Stellung. Der Verpflichtete muss bei einer der in Nummer 4 Buchst. a 70 und b genannten Stellen beschäftigt oder für sie tätig sein. Beschäftigt ist er, wenn er dort in einem Dauerverhältnis, etwa als Bürokraft, Bote oder Raumpfleger, angestellt ist; für sie tätig ist er, wenn er nur vorübergehend für bestimmte Sachaufgaben, etwa als Gutachter oder Mitglied eines Beratungsgremiums, herangezogen wird. Nicht erfasst sind Handwerker, die bei einer Behörde Arbeiten verrichten, oder Firmen, die Behörden mit Sachmitteln beliefern.197 Soweit zum Begriff des für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten gehört, dass der Handelnde für eine Behörde, sonstige Stelle oder Organisation tätig ist, ist das Merkmal nur erfüllt, wenn sie ihm einen entsprechenden Auftrag erteilt hat (BGHSt 42 230). dd) Förmliche Verpflichtung. Maßgebend hierfür ist das Verpflichtungsgesetz 71 (Rdn. 65). Es löst § 1 BestechVO ab (BGH NJW 1980 846 f). Wer nach jener Verordnung bereits verpflichtet ist, steht einem nach dem Verpflichtungsgesetz Verpflichteten gleich (§ 2 Abs. 1 VerpflG). Eine weitere Gleichstellung enthält § 2 Abs. 2 VerpflG. Er betrifft Personen, die vor dem 1.1.1975 als Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes nach einer tarifrechtlichen Regelung (zum Beispiel durch ein Gelöbnis nach § 6 BAT) oder aufgrund eines Gesetzes oder aus sonstigem Rechtsgrunde (zum Beispiel nach einer Satzung) zur gewissenhaften Erfüllung ihrer Obliegenheiten verpflichtet worden sind. Die förmliche Verpflichtung, auf die es bei § 11 Abs. 1 Nr. 4 ankommt, meint nur eine solche, die sich

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Fischer § 14 Rdn. 8. BTDrucks. 7/550 S. 211. BTDrucks. 7/550 S. 211. Radtke MK Rdn. 124; Fischer Rdn. 25.

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auf die gewissenhafte Erfüllung der Obliegenheiten im öffentlichen Dienst bezieht. Es sind also Verpflichtungen, die nach § 1 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 VerpflG abgenommen werden. Solche Verpflichtungen kommen nicht etwa nur bei herausgehobenen Funktionen in Betracht, sondern auch bei untergeordneten Tätigkeiten. Die Eigenschaft als besonders Verpflichteter hängt davon ab, dass die Verpflichtung formgerecht vorgenommen wird. Die Formalisierung ist im Hinblick auf die strafrechtlichen Folgen der Verpflichtung aus rechtsstaatlichen Gründen geboten (BGH NJW 1980 846).198 Schwere Verstöße gegen die vorgeschriebenen Förmlichkeiten (§ 1 Abs. 2 und 3 VerpflG) haben die Nichtigkeit der Verpflichtung als Verwaltungsakt zur Folge (BGH NJW 1980 846). 72 Nach § 36 GewO öffentlich bestellte, aber freiberuflich und nicht für den öffentlichen Dienst tätige Sachverständige (§ 1 Abs. 1 Nr. 3 VerpflG) sind keine besonders Verpflichteten im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 4. Sie werden aber im Falle einer Verletzung von Privatgeheimnissen ebenso behandelt wie für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichtete (§ 203 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 2 und 5). Aus der Tatsache, dass § 203 Abs. 2 die öffentlich bestellten (und besonders verpflichteten) Sachverständigen (Nr. 5) und die für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten (Nr. 2) ausdrücklich auseinander hält, ergibt sich, dass die Verpflichtung eines öffentlich bestellten Sachverständigen nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 VerpflG nicht zugleich als Verpflichtung nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 VerpflG wirkt. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass öffentlich bestellte Sachverständige zugleich auch für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichtete sein können; es ist dann aber eine zusätzliche besondere Verpflichtung nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 VerpflG erforderlich. Das ist sinnvoll, weil beide Verpflichtungen einen unterschiedlichen Inhalt haben: die eine bezieht sich auf den öffentlichen Dienst, die andere auf die gewissenhafte freiberufliche Tätigkeit. 73 In § 11 Abs. 1 Nr. 4 hat das Gesetz die Verdeutlichung „nach deutschem Recht“ als entbehrlich weggelassen, weil in diesem Zusammenhang nur Verpflichtungen nach dem Verpflichtungsgesetz oder solche gemeint sein können, die ihnen nach dessen § 2 gleichgestellt sind.199 74

c) Innere Tatseite. Wo der Straftatbestand die Eigenschaft eines für den öffentlichen Dienst Verpflichteten voraussetzt, gehört es zum Vorsatz, dass der Täter die wesentlichen Tatsachen kennt, auf denen seine Eigenschaft als besonders Verpflichteter beruht. Es gilt entsprechend, was zu Rdn. 59 ausgeführt ist. 5. Rechtswidrige Tat (§ 11 Abs. 1 Nr. 5)

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a) Bedeutung der Vorschrift. Der E 62 hatte es darauf angelegt, durch begriffliche Klarheit und Präzision den Sprachgebrauch im gesamten Strafrecht zu vereinheitlichen und die Rechtsanwendung auf diese Weise zu vereinfachen. Er hat den Begriff „Straftat“ als „rechtswidrige und schuldhafte Handlung, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht“ (§ 11 Abs. 1 Nr. 1 E 62), definiert und den der „rechtswidrigen Tat“ als „rechtswidrige Handlung, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht, auch wenn sie nicht schuldhaft begangen ist“ (§ 11 Abs. 1 Nr. 2 E 62). Der Begriff „Tat“ hingegen sollte im technischen Sinne nur so gebraucht werden, dass darunter die (bloß) tatbestandsmäßige Handlung gemeint ist ohne Rücksicht auf Rechtswidrigkeit oder Schuld (E 62, Begr. BTDrucks. IV/650, S. 119). Diese Definitionen haben Kritik erfahren: Man hielt

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BTDrucks. 7/550 S. 211. E 62, Begr. BTDrucks. IV/650, S. 118; BTDrucks. 7/550 S. 211.

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sie zum einen für ungenau, irreführend, tautologisch und großenteils für überflüssig, zum anderen erschienen sie für Laien unverständlich.200 Die Kritik trifft nur zum Teil zu. Die Begriffe Handlung, Tatbestandsmäßigkeit, 76 Rechtswidrigkeit und Schuld, die in diesen Definitionen verwendet werden, sind allesamt umstritten. Eine gesetzliche Fixierung könnte deshalb eine (nicht beabsichtigte) Festlegung auf die eine oder andere Lehrmeinung in dieser oder jener Streitfrage bedeuten. Andererseits erscheint gerade bei so zentralen Begriffen eine uneinheitliche Terminologie wenig glücklich. Der Gesetzgeber hat unter dem Eindruck der erwähnten Kritik (Rdn. 76) bereits in 77 § 11 i.d.F. des 2. StrRG auf jegliche inhaltliche dogmatische Umschreibung der erwähnten Begriffe verzichtet.201 Doch hat die durch das 2. StrRG und das EGStGB veranlasste Neufassung des Gesetzestextes die Begriffe Tat, rechtswidrige Tat und Straftat im vorbezeichneten Sinne eingesetzt. Wie problematisch die unklare Terminologie ist, zeigt der Umstand, dass das Änderungsgesetz vom 15.8.1974202 eine durch den neuen Sprachgebrauch verursachte Ungereimtheit beseitigen musste: Erst im zweiten Bericht des Sonderausschusses zum EGStGB203 wurde erkannt, dass der in § 52 i.d.F. des 2. StrRG verwendete Begriff „Straftat“ in diesem Zusammenhang eine begriffliche Unmöglichkeit impliziert, weil dieselbe Straftat (im Sinne der Verwirklichung eines Straftatbestandes) nicht zugleich mehrere Strafgesetze verwirklichen kann.204 Das Änderungsgesetz hat daher in § 52 den Begriff „Straftat“ wieder durch den der Handlung ersetzt. b) Zum Inhalt im Einzelnen. Die Nummer 5 verzichtet darauf, die im Gesetz ver- 78 wendeten Begriffe „Straftat“ und „rechtswidrige Tat“ inhaltlich genau zu umschreiben.205 Sie begnügt sich mit der Klarstellung, dass dort, wo das StGB und das Nebenstrafrecht (Art. 1 EGStGB) den Begriff der rechtswidrigen Tat verwenden,206 nur eine solche gemeint ist, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht. Das bedeutet, dass lediglich zivilrechtlich oder öffentlich-rechtlich rechtswidrige Handlungen oder auch sonst norm- oder standeswidrige Verhaltensweisen vom Begriff der rechtswidrigen Tat nicht erfasst sind, auch nicht rechtswidrige Handlungen im Sinne des § 1 OWiG (vgl. BGHSt 28 93, 94 f; OLG Stuttgart NStZ 2016 155, 157). Diese Klarstellung war geboten, weil nur so sichergestellt wird, dass zum Beispiel der Tatbestand des § 145d nicht durch die Vortäuschung eines Disziplinarvergehens oder der des § 164 nicht durch die Bezichtigung einer Ordnungswidrigkeit erfüllt werden kann. Die gesetzestechnische Erläuterung dessen, was im Strafrecht der Terminus „rechtswidrige Tat“ bedeutet, kann nicht als Auslegungshilfe dafür dienen, was arbeits- und verwaltungsrechtlich unter einem nicht-rechtswidrigen Schwangerschaftsabbruch im Sinne eines Vorgangs zu verstehen ist, der mit der gesamten Rechtsordnung übereinstimmt.207

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200 Noll JZ 1963 299; Stratenwerth ZStW 76 (1964) 682. 201 Prot. V S. 237 f, 2442 f. 202 § 1 Nr. 1 des G zur Änderung des EGStGB vom 15.8.1974 (BGBl. I S. 1942). 203 2. Bericht vom 10.6.1974, BTDrucks. 7/2222 S. 5. 204 Achenbach MDR 1975 20. 205 BTDrucks. 7/550 S. 211; Göhler NJW 1974 825 Fn. 6. 206 Im StGB in § 12, § 26, § 27 Abs. 1, § 35 Abs. 1, § 63, § 64, § 66 Abs. 1, Abs. 3, § 67d Abs. 2, 6, § 67g Abs. 1, 2, § 69 Abs. 1, 2, § 70 Abs. 1, § 70a Abs. 1, § 70b Abs. 1, § 73 Abs. 1, § 73a Abs. 1, 2, § 73b Abs. 1, § 74d Abs. 1, § 76a Abs. 4, § 76b Abs. 1, § 111 Abs. 1, § 126 Abs. 2, § 130a Abs. 1, 2, § 138 Abs. 3, § 140, § 145d, § 164 Abs. 1, § 202d Abs. 1; § 218a Abs. 3, § 218b Abs. 2, § 219b Abs. 1, § 257 Abs. 1, § 258 Abs. 1, § 259 Abs. 1, § 261 Abs. 1, 5, 9, § 323a Abs. 1, § 357. 207 Tröndle NJW 1989 2990, 2991 gegen BAG NJW 1989 2347.

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§ 11 Abs. 1 Nr. 5 und einer Gesamtschau der Stellen, an denen der Begriff „rechtswidrige Tat“ – zum Teil in Gegenüberstellung zum Begriff „Straftat“ (vgl. z.B. §§ 25 bis 27, §§ 63, 64, § 323a) – verwendet wird,208 kann entnommen werden, dass dieser Begriff zugleich einen Ausschnitt der strafbaren Tat („Straftat“) kennzeichnet, und zwar im Sinne einer tatbestandsmäßig-rechtswidrigen, nicht aber notwendig schuldhaften Tat. Hierauf weist auch die Verwendung des Begriffs bei den § 12 und § 35 hin, wo jeweils Rechtswidrigkeit vorausgesetzt wird, im einen Fall aber eine schuldhafte Tat nicht notwendig, im anderen nicht möglich ist.209 Praktisch ist der Begriff der rechtswidrigen Tat nach Funktion und Inhalt mit dem der „mit Strafe bedrohten Handlung“ des früheren Rechts210 (§ 40 Abs. 3, § 42b, § 48, § 49, § 111, § 330a a.F.) identisch. Seine Ersetzung durch „Handeln ohne Schuld“ in § 74 Abs. 3 a.F. und § 101a Satz 3 durch Art. 18 II Nr. 40 EGStGB steht der dargelegten Interpretation nicht entgegen. Der Gesetzgeber wollte insoweit sachlich nichts ändern.211 Eine Ordnungswidrigkeit ist keine Straftat im Sinne des § 315 Abs. 3 Nr. 1b (BGHSt 28 93, 94 f). Eine rechtswidrige Tat liegt auch vor, wenn der Täter mit strafbefreiender Wirkung 80 vom Versuch zurückgetreten ist oder bei einem Antragsdelikt der zur Verfolgung erforderliche Strafantrag fehlt (BGHSt 31 132, 133). Im Übrigen ist der Nummer 5 für die Auslegung und den dogmatischen Standort strafrechtlicher Kernbegriffe (zum Beispiel der Tatbestandsmäßigkeit, der Rechtswidrigkeit und der Schuld) inhaltlich wenig zu entnehmen. Insbesondere die Begriffe „Tat“, „Straftat“ und „Handeln“ können je nach dem Norm- und Sinnzusammenhang unterschiedliche Bedeutung haben, die durch Auslegung zu ermitteln ist.212 Der BGH (BGHSt 27 168, 172) meint, als Tat im Sinne des Auslieferungsrechts „und damit auch dieser Bestimmung“ (§ 11 Abs. 1 Nr. 5) sei die Tat im prozessrechtlichen Sinne zu verstehen.213 81

6. Unternehmen einer Tat (§ 11 Abs. 1 Nr. 6). Der Begriff des „Unternehmens“ im Sinne der Nummer 6 geht auf die Tatbestandsfassungen der alten Hochverratsbestimmungen (§§ 81 ff) zurück. Sein Inhalt war umstritten.214 In einer Legaldefinition taucht er erstmals in § 87 i.d.F. des Gesetzes vom 24.4.1934 (RGBl. I S. 341) und dann (nach Wiedereinführung der Staatsschutztatbestände) i.d.F. des StrÄndG vom 30.8.1951 (BGBl. I S. 739) mit folgendem Wortlaut auf: „Unternehmen im Sinne des Strafgesetzbuchs ist die Vollendung und der Versuch.“ Das 8. StrÄndG vom 25.6.1968 (BGBl. I S. 741) hat ihn mit folgender Fassung als § 46a in das StGB eingestellt: „Unternehmen einer Tat im Sinne dieses Gesetzes ist deren Versuch und deren Vollendung.“ Die Definition des § 11 Abs. 1 Nr. 6 ist fassungsgleich bereits im E 62 (§ 11 Abs. 1 Nr. 3), im AE (§ 10 Abs. 1 Nr. 6) und im 2. StrRG (§ 11 Abs. 1 Nr. 2) enthalten.

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a) Anwendungsbereich des Begriffs. Den Begriff des Unternehmens einer Tat verwendet der Besondere Teil des StGB im Bereich der Staatsschutzverbrechen (§§ 81, 82, 89a), bei Verbreitungs- sowie Ein- und Ausfuhrtatbeständen (§ 130 Abs. 2 Nr. 3, § 131 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, § 184 Abs. 1 Nrn. 4, 8 und 9, § 184a Nr. 2, § 184b Abs. 1 Nrn. 2, 4, Abs. 3, § 184c Abs. 1 Nrn. 2, 4, Abs. 3, § 184d Abs. 2, § 275 Abs. 1, § 276 Abs. 1 Nr. 1), beim Herbei-

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208 Vgl. Fn. 206. 209 Ähnlich Sch/Schröder/Hecker Rdn. 41. 210 In das StGB gekommen durch G vom 24.11.1933 (RGBl. I S. 995) sowie die StrafrechtsangleichungsVO und DurchführungsVO vom 29.5.1943 (RGBl. I S. 339, 341). 211 BTDrucks. 7/550 S. 215. 212 Sch/Schröder/Hecker Rdn. 43. 213 Vgl. Vogler NJW 1983 2114, 2116. 214 Busch LK9 § 46a Rdn. 2.

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führen einer Explosion durch Kernenergie (§ 307 Abs. 1), beim Missbrauch ionisierender Strahlen (§ 309 Abs. 1 und 2), beim Angriff auf den Luft- und Seeverkehr (§ 316c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2) und bei der Konnivenz (§ 357). Der räuberische Angriff auf Kraftfahrer (§ 316a) ist seit dem 6. StrRG nicht mehr als Unternehmensdelikt ausgestaltet.215 Der Begriff ist auch für das Nebenstrafrecht maßgebend (Art. 1 EGStGB). b) Folgerungen aus dem Begriff. Vorbereitungshandlungen sind auch bei Un- 83 ternehmenstatbeständen nicht strafbar (BGHSt 15 198).216 Die Grundsätze, die zur Abgrenzung zwischen strafloser Vorbereitungshandlung und strafbarem Versuch entwickelt worden sind, gelten auch hier.217 Das berücksichtigt der BGH in der Entscheidung BGHSt 33 378, 381 (= NStZ 1986 551 mit insoweit abl. Anm. Geppert = JR 1986 427 mit Anm. Hentschel) nicht genügend, wenn er ohne Rücksicht auf die Umstände des Einzelfalls generell meint, bei § 316a a.F. sei der tatbestandsmäßige Angriff auf Leib, Leben oder Entschlussfreiheit des Führers eines Kraftfahrzeugs oder eines Mitfahrers bereits in dem Augenblick unternommen (und das Unternehmensdelikt damit rechtlich vollendet), in dem der Täter mit Angriffsvorsatz bei Fahrtantritt im Kraftwagen Platz nehme.218 Das kann zwar so sein, wenn etwa der Angriff gleich nach Fahrtbeginn stattfinden soll. Doch können der Fahrtbeginn und selbst ein Teil der Fahrt noch in das straflose Vorbereitungsstadium fallen, wenn mit dem Angriff, wie geplant, erst nach längerer Fahrt an im Voraus bestimmter Stelle begonnen werden soll (vgl. BGH NStZ 1994 340, 341). Bei Unternehmensdelikten trifft die Vollendungsstrafe auch den untauglichen Ver- 84 such der unternommenen Tat.219 Es wäre ungereimt, in Fällen, in denen es dem Gesetzgeber um eine Vorverlegung des Rechtsgüterschutzes geht, den untauglichen Versuch anders zu behandeln als sonst.220 Der Versuch eines Unternehmens ist nach herrschender Meinung begrifflich ausgeschlossen.221 Seine Anerkennung würde die Strafbarkeitsgrenze jedenfalls zu weit ins Vorfeld vorverlegen.222 Strafmilderung nach Versuchsgrundsätzen (§ 23 Abs. 2, § 49 Abs. 1) kommt nicht in Betracht. Es gilt der Strafrahmen, der für die Vollendung der Tat vorgesehen ist. Der Ausschluss der gesetzlichen Versuchsmilderung hindert es nicht, innerhalb des Strafrahmens zu berücksichtigen, dass zum Beispiel der räuberische Angriff auf den Kraftfahrer (§ 316a a.F.) über das Versuchsstadium nicht hinausgekommen ist.223 Die Vollendung des Unternehmensdelikts schließt einen strafbefreienden Rücktritt nach § 24 aus (BGHSt 15 198, 199).224 Dies folgt auch daraus, dass der Gesetzgeber bei bestimmten Unternehmensdelikten besondere, zum Teil tatbestandsbezogene Rücktrittsregelungen geschaffen hat (§ 83a, § 314a, § 320). c) Das Problem der tätigen Reue. Umstritten ist, ob diese besonderen Rücktritts- 85 regelungen auf andere Unternehmensdelikte entsprechend angewendet werden kön-

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215 Radtke MK Rdn. 134; Mitsch ZStW 111 (1999) 109 ff; ders. JA 1999 662. 216 RGSt 42 266, 277; 60 67, 68; 66 95, 97; BGHSt 5 280, 281. 217 BGH NJW 2017 2928, 2929; BGH StRR 2015 429; Jescheck/Weigend § 49 VIII 2; Radtke MK Rdn. 136; Sch/Schröder/Hecker Rdn. 46. 218 Vgl. Günther JZ 1987 16, 23, 28. 219 RGSt 39 321, 323 f; 56 225, 226; 72 80, 81; Jescheck/Weigend § 49 VIII 2; Sch/Schröder/Hecker Rdn. 47; Fischer Rdn. 28; einschränkend Burkhardt JZ 1971 355. 220 Vgl. Sch/Schröder/Hecker Rdn. 47. 221 Jescheck/Weigend § 49 VIII 2; Fischer Rdn. 28a; Wolters S. 142 ff; aA Burkhardt JZ 1971 355. 222 Jescheck/Weigend § 49 VIII 2; vgl. Lackner/Kühl/Heger Rdn. 19. 223 Sch/Schröder/Hecker Rdn. 48; Fischer Rdn. 28b. 224 Jescheck/Weigend § 49 VIII 2; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 19; Sch/Schröder/Hecker Rdn. 49; Fischer Rdn. 28a; aA Radtke MK Rdn. 139; Wolters S. 254 f.

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nen, bei denen eine solche Bestimmung fehlt. Eine Mindermeinung bejaht dies225 mit dem Hinweis, dass es sich hierbei um einen allgemeinen Gedanken handele. Mit Recht steht die überwiegende Meinung226 einer analogen Anwendung der besonderen Rücktrittsregelungen ablehnend gegenüber. BGHSt 15 198, 199 hat die entsprechende Anwendung des § 49a Abs. 3, 4 und des § 82 (jeweils alter Fassung) auf den früheren Unternehmenstatbestand des § 122 Abs. 2 a.F. zutreffend abgelehnt, weil die Rücktrittsregelungen sich auf (verselbständigte) Vorbereitungshandlungen bezögen, das Delikt des § 122 Abs. 2 aber zumindest eine Versuchshandlung impliziere. Aus demselben Grunde kann in diesem Zusammenhang die Entscheidung BGHSt 6 85 nicht angeführt werden, die eine analoge Anwendung des § 49a Abs. 3, 4 a.F. auf das selbständige Vorbereitungsdelikt des § 234a Abs. 3 zum Gegenstand hat. Im Übrigen wäre es eine unzulässige Korrektur des Gesetzes, bei echten Unternehmensdelikten, die keine Vorschrift über tätige Reue kennen, eine solche im Wege der Analogie zuzulassen. Man kann nicht davon ausgehen, dass der Gesetzgeber eine Rücktrittsregelung versehentlich unterlassen hätte.227 Eine planwidrige Gesetzeslücke, die durch Analogie zugunsten des Angeklagten geschlossen werden müsste, scheidet offensichtlich aus. Die Streitfrage hat – zumindest für die echten Unternehmensdelikte des StGB – nur 86 noch geringe praktische Bedeutung: Die Unternehmensdelikte mit besonders hohen Strafdrohungen haben Rücktrittsregelungen; für die Unternehmenstatbestände des § 184 Abs. 1 Nrn. 4, 8 und 9, deren Strafrahmen beim gesetzlichen Mindestmaß beginnen, liefe § 49 Abs. 2 ohnehin leer. Die analoge Anwendung der Vorschriften über tätige Reue ermöglichte allerdings ein Absehen von Strafe. Beim (verhältnismäßig seltenen) Unternehmensdelikt des § 357 lässt sich bezweifeln, ob rechts- und kriminalpolitische Gründe eine analoge Anwendung nahelegen. d) Unechte Unternehmensdelikte. Im Schrifttum ist im Anschluss an Schröder (Kern-Festschrift S. 464) die Deliktsgruppe der unechten Unternehmensdelikte herausgearbeitet worden. Es handelt sich bei ihnen um Tätigkeitsdelikte. Für sie besagt die Begriffserläuterung des § 11 Abs. 1 Nr. 6 unmittelbar nichts. Sie sind aus der Sicht des jeweiligen besonderen Tatbestandes zu interpretieren. Aus strukturellen Gemeinsamkeiten, die sie mit den gesetzlich geregelten echten Unternehmensdelikten haben mögen, lassen sich nicht ohne Weiteres weitreichende Folgerungen ziehen.228 Bei den unechten Unternehmensdelikten werden die Tathandlungen mit „finalen 88 Tätigkeitsworten“229 umschrieben, zum Beispiel mit „Auffordern“ in § 111, „Einwirken“ in § 125, „Vortäuschen“ in § 145d, „Verdächtigen“ in § 164, „Hilfeleisten“ in § 257, „DemWild-Nachstellen“ in § 292 und „Fischen“ in § 293 (OLG Frankfurt NJW 1984 812). Zu den unechten Unternehmensdelikten gehört seit dem 6. StrRG auch der räuberische Angriff auf Kraftfahrer (§ 316a).230 Diesen Tatbeständen ist gemeinsam, dass es dem Täter zwar um einen (tatbestandsmäßig nicht umschriebenen) Erfolg geht, das Gesetz aber für die Vollendung des Delikts ein Verhalten genügen lässt, welches auf diesen Erfolg gerichtet ist. Mag man in diesem Zusammenhang im Anschluss an Armin Kaufmann231 mit einer 87

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225 Jescheck/Weigend § 49 VIII 2; Schröder FS Kern, S. 462 f. 226 Fischer Rdn. 28a; Burkhardt JZ 1971 357 f. 227 So schon Busch LK9 § 46a Rdn. 7. 228 AA insoweit Bockelmann NJW 1951 622 f; Kaufmann Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte (1959) S. 230 ff; Waider GA 1962 176 ff; vgl. auch Sch/Schröder/Hecker Rdn. 50 ff. 229 v. Weber Grundriß des deutschen Strafrechts, 2. Aufl. (1948) S. 54; ders. Aufbau des Strafrechtssystems (1935) S. 9. 230 Radtke MK Rdn. 142. 231 A. Kaufmann Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte (1959) S. 230; Burkhardt JZ 1971 354.

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gewissen Berechtigung von „Versuchstatbeständen“ sprechen, so sollte doch nicht übersehen werden, dass bei ihnen besondere Schwierigkeiten bestehen würden, Vorbereitungs- und Ausführungshandlungen voneinander zu unterscheiden. Die Tathandlungen zeichnen sich bei den unechten Unternehmensdelikten (anders 89 als zum Beispiel bei § 316c) dadurch aus, dass das tatbestandsmäßige Verhalten auf eine gewisse Dauer angelegt ist und dass die Übergänge zwischen (noch) straffreiem und (schon) tatbestandsmäßigem Verhalten schwer feststellbar sind. In diesen Fällen hat der Gesetzgeber Gründe gesehen, die Strafbarkeitsgrenze nicht über die allgemeine Norm des § 22 zu bestimmen, sondern deutlich vor dem Zeitpunkt anzusetzen, bei dem die Strafbarkeit des Versuchs eines als Erfolgsdelikt ausgeformten Tatbestandes beginnen würde. Diesen Erwägungen trägt das OLG Frankfurt (NJW 1984 812) nicht genügend Rechnung, indem es Fischen im Sinne des § 293 erst annimmt, wenn sich der Täter auf dem Wasser aufhält oder sich die Fangvorrichtung im Wasser befindet. Die unechten Unternehmensdelikte stellen zwar Handlungen unter die Vollen- 90 dungsstrafe, ohne dass es auf die Erreichung des erstrebten (außertatbestandsmäßigen) Erfolgs ankäme. Stets müssen aber – auch im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 – alle objektiven Tatbestandsmerkmale erfüllt sein. Versuche am untauglichen Objekt oder eines untauglichen Subjekts fallen nicht unter die Strafbarkeit,232 wenn der Versuch des Delikts nicht strafbar ist. Wer hilft, eine Ware zu verstauen, von der er irrig meint, sie sei gestohlen, ist – nach einer allerdings umstrittenen Meinung – nicht wegen Begünstigung strafbar.233 Die Grundsätze der subjektiven Versuchslehre lassen sich auf die unechten Unternehmensdelikte nicht übertragen. Auch bei unechten Unternehmensdelikten ist – dies entgegen einer Mindermei- 91 nung234 – eine analoge Anwendung von Rücktrittsregelungen anderer Unternehmensdelikte nicht möglich. Denn die besonderen Rücktrittsvorschriften sind zum Teil auf die jeweiligen Tatbestände zugeschnitten (vgl. § 83a). Auch sind die unechten Unternehmensdelikte untereinander außerordentlich vielgestaltig; sie sind für eine einheitliche Beurteilung in der Frage der tätigen Reue oder für die Zuordnung zu einer bestimmten Rücktrittsvorschrift nicht geeignet.235 So hat die Entscheidung BGHSt 14 213, 217 bei unterlassener Hilfeleistung (§ 323c Abs. 1) den Grundgedanken der tätigen Reue für unanwendbar gehalten, „weil der Gesetzgeber eine solche Vergünstigung nur für bestimmte Straftatbestände aus besonderen kriminalpolitischen Erwägungen vorgesehen hat … und eine entsprechende Anwendung auf sonstige Straftaten zu kriminalpolitisch unerwünschten Ergebnissen führen würde“. 7. Behörde (§ 11 Abs. 1 Nr. 7) a) Bedeutung der Vorschrift. Die Nummer 7 enthält lediglich eine Klarstellung. De- 92 finiert ist weder der Begriff der Behörde noch der des Gerichts. Der E 62 enthielt einen solchen Gesetzeshinweis nicht. Das 2. StrRG hielt es für sachgemäß, eine Unklarheit, ob auch Gerichte Behörden seien, für das Strafrecht zu beseitigen.236 Freilich ist dies nie in Zweifel gezogen worden.237

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232 Burkhardt JZ 1971 355. 233 Vgl. BGHSt 4 221, 225; RGSt 58 13, 15; 76 122, 123; aA Bockelmann NJW 1951 622; A. Kaufmann Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte (1959) S. 233. 234 Burkhardt JZ 1971 352; Jescheck/Weigend § 49 VIII 2; Schröder FS Kern, S. 462 f, 467 f; auf den Einzelfall abstellend Saliger NK Rdn. 62. 235 Im Ergebnis ebenso schon Busch LK9 § 46a Rdn. 7. 236 BTDrucks. V/4095 S. 7. 237 Radtke MK Rdn. 152.

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b) Inhalt des Begriffs „Behörde“. Der Begriff der Behörde hat keine scharfen Konturen. Er gehört dem Staats- und Verwaltungsrecht an. Seine verwaltungsrechtliche Abgrenzung ist für das Strafrecht nicht in jeder Hinsicht relevant, zumal das, was strafrechtlich unter „Behörde“ zu verstehen ist, sich maßgeblich nach dem Zweck der Norm richtet und das Gesetz verschiedentlich, um behördenähnliche Instanzen zu erfassen, im Zusammenhang mit dem Begriff der Behörde oder des Gerichts (ergänzend) von „sonstigen Stellen“ bzw. „anderen Stellen“ spricht (z.B. § 5 Nr. 10, § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c, Nr. 4, § 56c Abs. 2 Nr. 2, § 145d, § 153, § 154, § 158 Abs. 3, § 164, § 194 Abs. 3, § 203 Abs. 2 Satz 2, § 264 Abs. 1 Nr. 1, § 353b Abs. 4 Satz 2 Nr. 2). In Anlehnung an RGSt 18 246, 249 f ist eine Behörde ein Organ der Staatsgewalt, das dazu berufen ist, unter öffentlicher Gewalt für die Erreichung der Zwecke des Staates oder der von ihr geförderten Zwecke tätig zu sein, gleichviel, ob das Organ unmittelbar vom Staate oder von einer dem Staate untergeordneten Körperschaft bestellt ist, sofern die Angelegenheiten zugleich in den Bereich der bezeichneten Zwecke fallen; dabei ist es für den Begriff der Behörde nicht wesentlich, ob die ihr übertragenen Befugnisse Ausübung hoheitlicher Gewalt sind oder nicht. Diese Definition wurde vom BGH zunächst von den Zivilsenaten,238 dann auch von den Strafsenaten (BGH MDR 1964 68, 69) und der übrigen Rechtsprechung (BayObLG NStZ 1993 591, 592)239 sowie vom Schrifttum in vereinfachter Fassung anerkannt.240 Eine kollegiale Besetzung wird nicht vorausgesetzt; gleichgültig ist auch, ob eine einzelne Person die staatlichen Befugnisse wahrnimmt oder eine kollegial oder monokratisch organisierte Personengesamtheit.241 Kasuistik. Die Rechtsprechung zählt zu den Behörden: Gemeinden, Gemeindever94 bände und ihre Organe (RGSt 40 161, 162; RG GA Bd. 37 425; RG Rspr. 4 135; OLG Frankfurt NJW 1964 1682), Fakultäten und Fachbereiche der Universitäten (RGSt 17 208, 210; 75 112, 114), Gerichtskassen (RG Rspr. 10 23), die Bundesdruckerei (vgl. RGSt 19 264), eine staatliche Oberförsterei (RGSt 41 442, 443), Industrie- und Handelskammern (RGSt 52 198, 200), Handwerkskammern (LG Tübingen MDR 1960 780), Präsidenten der Rechtsanwaltskammern (RGSt 47 394, 395; RG JW 1936 1604), die Verwaltung einer Stadtsparkasse, öffentliche Sparkassen (BGHSt 19 19, 21; RGSt 6 247, 249; 39 391; s. aber oben Rdn. 53), Träger der Sozialversicherung, Krankenkassen und Berufsgenossenschaften (RGSt 76 105, 107; 76 209, 211)242 und den Wehrbeauftragten des Bundestages (Art. 45b GG). Keine Behörden in diesem Sinne sind kirchliche Dienststellen (vgl. RGSt 47 49, 50). 95

c) Gericht. Unter einem Gericht ist jedes Organ der rechtsprechenden Gewalt der Bundesrepublik Deutschland zu verstehen. Zur Gleichstellung von Richtern, die nicht nach deutschem Recht ernannt werden s. Rdn. 22. Gerichte galten schon früher als Behörden,243 und zwar auch die Ehrengerichte für Rechtsanwälte (RGSt 47 394, 395; RG JW 1936 1604). Unter Gericht im Sinne der Nummer 7 ist auch ein Spruchgremium eines Gerichts zu verstehen, desgleichen der Einzelrichter. Wie weit der Begriff des Gerichts reicht, kann vom Normzweck abhängen.244 So lassen sich zur Frage der Beleidigungsfähigkeit Disziplinar- und Ehrengerichte sowie gerichtsgleiche Schiedsstellen als Gerichte ansehen, ebenso als „Behörden“ im Sinne des § 164. Was bei den Aussagedelikten zu den Gerichten gehört, hängt davon ab, ob sie zuständig sind, Eide abzunehmen (vgl.

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238 BGHZ 3 110, 116 f; 25 186, 188 f; hiergegen Martens NJW 1964 852; Haueisen NJW 1964 867. 239 OLG Frankfurt NJW 1964 1682; vgl. RGSt 33 383, 385; 54 149, 150. 240 Sch/Schröder/Hecker Rdn. 55; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 20; Fischer Rdn. 29. 241 Herdegen LK9 § 164 Rdn. 20. 242 Vgl. auch Sch/Schröder/Hecker Rdn. 56; Haueisen NJW 1964 867; Martens NJW 1964 852; aA BGHZ 25 168, 193. 243 RGSt 19 260, 262 f. 244 Sch/Schröder/Hecker Rdn. 57.

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OLG Hamburg NJW 1953 476). Ein Schiedsgericht, das keine hoheitliche Grundlage hat, ist jedenfalls kein Gericht im Sinne der Nummer 7. Soweit im Gesetz der Begriff der Behörde adjektivisch („behördlich“) verwendet wird 96 (vgl. § 164), bezieht er auch das Beiwort „gerichtlich“ mit ein.245 Mit behördlichen Verfahren im Sinne des § 164 sind vor allem auch strafgerichtliche gemeint. 8. Maßnahme (§ 11 Abs. 1 Nr. 8) a) Bedeutung der Vorschrift. Der Begriff der Maßnahme erläutert nicht, sondern 97 führt aus gesetzestechnischen Gründen, um Verweisungen zu erleichtern, eine Sammelbezeichnung ein, und zwar für die Maßregeln der Besserung und Sicherung des StGB (§§ 61 ff), die Einziehung (§§ 73 ff) und die Unbrauchbarmachung (§ 74d). Dieser Sammelbegriff wird lediglich246 bei den Konkurrenzen (§ 52 Abs. 4, § 55 Abs. 2), der Verjährung (§ 78 Abs. 1, § 79) und den Tatbeständen der § 258, § 258a, § 344 und § 345 verwendet. b) Auslegung des Begriffs. Der Sammelbegriff „Maßnahme“ ist ein verweisungstech- 98 nisches Hilfsmittel247 und deshalb strikt auszulegen. Andere als die ausdrücklich genannten Rechtsfolgen können in den Begriff nicht einbezogen werden.248 So sind keine Maßnahmen im Sinne der Nummer 8: die Erteilung von Auflagen und Weisungen (§ 56b, § 56c) und die Unterstellung unter Bewährungshilfe (§ 56d) bei der Strafaussetzung zur Bewährung, ferner Maßnahmen und Nebenfolgen des Nebenstrafrechts wie Verbot der Tierhaltung (§ 20 TierSchG),249 Abführung des Mehrerlöses (§§ 8 bis 10 WiStrG)250 und Entziehung des Jagdscheines (§ 41 BJagdG).251 In § 344 Abs. 2 Satz 2 und § 345 Abs. 3 Satz 2 werden neben den Maßnahmen im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 8 weitere Verfahren und Sanktionen besonders genannt, auf die sich unzulässige Verfolgungs- und Vollstreckungsmaßnahmen beziehen können. Im Rahmen der Straf- und Maßregelvereitelung der § 258, § 258a ist eine ähnliche Erstreckung unterblieben, so dass nach diesen Vorschriften die Vereitelung der Verhängung oder Vollstreckung eines Jugendarrests nicht strafbar ist; denn die verschiedenen Formen des Jugendarrests sind weder Strafe noch Maßnahme im Sinne der Nummer 8. Der Begriff „Maßnahme“ ist nur dort im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 8 zu verstehen, wo 99 der Gesetzestext ausdrücklich auf diese Bestimmung verweist oder wo sich aus dem Zusammenhang ergibt, dass der Begriff technisch gemeint ist, zum Beispiel bei § 258 Abs. 5. Ist hingegen von „behördlichen Maßnahmen“ die Rede wie in § 164, so gilt hierfür § 11 Abs. 1 Nr. 8 nicht. 9. Entgelt (§ 11 Abs. 1 Nr. 9) a) Begriff. Die Nummer 9 schränkt den Begriff „Entgelt“ – § 11 Abs. 1 Nr. 6 E 62 fol- 100 gend, aber in Abweichung zu den Entwürfen 1922 bis 1936 – auf die in einem Vermögensvorteil liegende Gegenleistung ein. Immaterielle Vorteile oder Gunsterweisungen,

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245 Sch/Schröder/Hecker Rdn. 58. 246 Vgl. aber Stratenwerth ZStW 76 (1964) 688. 247 Sch/Schröder/Hecker Rdn. 59. 248 BGH NStZ-RR 2011 42, 43; Sch/Schröder/Hecker Rdn. 60; Fischer Rdn. 30. 249 TierschutzG vom 24.7.1972 (BGBl. I S. 1277) i.d.F. der Bek. vom 18.5.2006 (BGBl. I S. 1206), zuletzt geändert durch G vom 17.12.2018 (BGBl. I S. 2586). 250 WirtschaftsstrafG 1954 vom 9.7.1954 (BGBl. I S. 175) i.d.F. der Bek. vom 3.6.1975 (BGBl. I S. 1313); letztes ÄndG vom 18.12.2018 (BGBl. I S. 2648). 251 BundesjagdG vom 29.11.1952 (BGBl. I S. 780) i.d.F. der Bek. vom 29.9.1976 (BGBl. I S. 2849), zuletzt geändert durch G vom 14.11.2018 (BGBl. I S. 1850).

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etwa geschlechtliche Hingabe, sind kein Entgelt in diesem Sinne. Der Begriff ist also enger als der des Vorteils, der insbesondere bei den Bestechungsdelikten (§§ 331 ff) vorkommt. Er dient dazu, die Fälle zu kennzeichnen, bei denen nach dem Gesetz allgemeine Vorteile nicht genügen, sondern als Gegenleistung Vermögensvorteile vorausgesetzt werden (E 62, Begr. BTDrucks. IV/650, S. 120). Dem Entgeltbegriff ist neben seiner Beschränkung auf wirtschaftliche Vorteile ein 101 synallagmatischer Charakter eigentümlich: Er hat etwas zum Gegenstand, das für etwas gegeben (§ 203 Abs. 6) oder verlangt (§ 184 Abs. 1 Nr. 7; BGH MDR 1995 1090) oder als Gegenleistung für eine andere Leistung vorenthalten wird (§ 265a). Nicht erforderlich ist, dass mit dem Entgelt eine Bereicherung oder ein Gewinn erstrebt oder gar erreicht wird. Es kommt lediglich darauf an, ob das „Entgelt“ im Zusammenhang mit der Tat erlangt oder vorenthalten wird. Unerheblich sind eigene Aufwendungen des Täters oder Ersatzansprüche seines Opfers.252 b) Anwendungsbereich. Der Begriff des Entgelts wird im StGB nur in wenigen Fällen verwendet, und zwar als Tatbestandsmerkmal in § 182 Abs. 2, § 184 Abs. 1 Nr. 7, § 201a Abs. 3, § 232a Abs. 6, § 236 Abs. 1, 2 und § 265a Abs. 1 sowie im Sinne einer tatbestandlichen Strafschärfungsvoraussetzung in § 180 Abs. 2, § 203 Abs. 6, § 235 Abs. 4 Nr. 2 und § 271 Abs. 3. Doch gilt er auch im Nebenstrafrecht, sofern das Gesetz ihn verwendet (Art. 1 EGStGB). Wird er nur zur Auslegung anderer Begriffe herangezogen, zum Beispiel beim 103 Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (§ 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG), so ist die Rechtsprechung nicht gehindert, den Entgeltbegriff im jeweiligen Zusammenhang anders zu verstehen, etwa in dem Sinne, dass Entgeltlichkeit der Überlassung von Betäubungsmitteln auch in der Forderung oder Gewährung geschlechtlicher Hingabe liegen kann (vgl. BGH NJW 1980 1344, 1345; NStZ 1997 89, 90).

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III. Der Vorsatzbegriff des Absatzes 2 104

Das Gesetz kennt schon seit Längerem Tatbestände, bei denen zur inneren Tatseite eine Kombination von Vorsatz und Fahrlässigkeit ausreicht, obwohl sie als Vorsatztaten gelten. Den sog. erfolgsqualifizierten Delikten (§ 56 a.F., § 18) wurde die Fahrlässigkeitskomponente durch das 3. StrÄndG vom 4.8.1953 (BGBl. I S. 735) allgemein beigegeben, um sie mit den Grundsätzen des Schuldstrafrechts in Einklang zu bringen. Aus den Materialien zum 2. Straßenverkehrssicherungsgesetz vom 26.11.1964 (BGBl. I S. 921), das im Anschluss an den E 62 im Bereich des Verkehrsrechts eine Reihe Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombinationen brachte, ergibt sich,253 dass der Gesetzgeber dabei den Vorsatzcharakter solcher Tatbestände im Auge hatte. Hieran sollten bei der Teilnahme, dem Versuch, dem Fortsetzungszusammenhang, aber auch beim Widerruf der Strafaussetzung und beim Rückfall rechtliche Folgerungen geknüpft werden. Gleichwohl haben der BGH (MDR 1967 229 mit Anm. Janiszewski) und ein Teil des Schrifttums254 solche Tatbestände noch als Fahrlässigkeitsdelikte angesehen. Nach anderer Auffassung wurde jedoch die Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombination als Vorsatzdelikt anerkannt. 255 Dem ist mit der Klarstellung in § 11 Abs. 2 der Gesetzgeber gefolgt.

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252 Sch/Schröder/Hecker Rdn. 65; Fischer Rdn. 31. 253 Janiszewski MDR 1967 229; E 62 § 340, Begr. BTDrucks. IV/650, S. 518. 254 Cramer JurA 1970 196; Krey/Schneider NJW 1970 640; Schroeder LK9 § 109b Rdn. 12, § 56 Rdn. 6, 48. 255 Janiszewski MDR 1967 229; Ruth LK9 § 315c Rdn. 63, 66; Sch/Schröder17 § 315 Rdn. 23a, § 315c Rdn. 36b; unentschieden BGHSt 22 67, 71.

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1. Bedeutung der Vorschrift. Die von § 11 Abs. 2 erfassten Vorsatz-Fahrlässigkeits- 105 Kombinationen unterscheiden sich von den herkömmlichen erfolgsqualifizierten Delikten dadurch, dass der vorsätzliche Handlungsteil in der Regel zwar einen Normverstoß enthält und insofern rechtswidrig ist, nicht aber schon einen Straftatbestand erfüllt, und dass die Strafbarkeit erst durch die tatbestandsmäßige Folge, nämlich die fahrlässige Herbeiführung einer konkreten Gefährdung eintritt. Das Gesetz kennt solche VorsatzFahrlässigkeits-Kombinationen zum Beispiel bei den Staatsschutzdelikten (§ 97 Abs. 1 und 2, § 109e Abs. 5, § 109g Abs. 4), bei den gemeingefährlichen Straftaten (§ 306d Abs. 1, § 306f Abs. 3, § 307 Abs. 2, § 308 Abs. 5, § 312 Abs. 6 Nr. 1, § 315 Abs. 5, § 315a Abs. 3 Nr. 1, § 315b Abs. 4, § 315c Abs. 3 Nr. 1, § 315d Abs. 4, § 318 Abs. 6 Nr. 1, § 319 Abs. 3), im Umweltstrafrecht (§ 330a Abs. 4) sowie bei Verletzung des Dienstgeheimnisses (§ 353b Abs. 1 Satz 2). § 315d Abs. 4 fällt nicht reibungslos unter die beschriebene Kategorie von Mischtatbeständen, da er mittelbar auf dem abstrakten Gefährdungsdelikt des Abs. 1 aufbaut. Gegen die Zulässigkeit dieser Konstruktion bestehen keine durchgreifenden Beden- 106 ken. Der Gesetzgeber hält sich damit im Rahmen des Ermessens, das er bei strafrechtlichen Regelungen hat. Ist ein Delikt eine Vorsatztat, so erstreckt sich der Vorsatz in der Regel allerdings sowohl auf die tatbestandsmäßige Handlung als auch auf den dadurch verursachten Erfolg (§ 15). Dies muss jedoch nicht notwendig so sein. Der Straftatbestand kann auch so ausgestaltet sein, dass die Strafbarkeit der vorsätz- 107 lichen Handlung vom Eintritt einer Folge abhängt, die bloße Bedingung der Strafbarkeit ist, so bei der Beteiligung an einer Schlägerei (§ 231)256 und beim vorsätzlichen Vollrausch (§ 323a Abs. 1).257 Eine solche Bedingung hat den Zweck, den Umfang des strafbaren Verhaltens auf gefährliche Fälle zu beschränken. Entsprechendes gilt, wenn das Gesetz die Strafbarkeit einer vorsätzlichen Handlung an die Voraussetzung knüpft, dass ein dadurch fahrlässig verursachter Erfolg (insbesondere in Form einer konkreten Gefährdung) hinzukommt.258 Im Schrifttum wird im Hinblick auf die (nach allem zulässige) gesetzgeberische Entscheidung des § 11 Abs. 2 die Streitfrage (Rdn. 104) – unbeschadet gewisser dogmatischer Vorbehalte259 – für geklärt und die abweichende Meinung für überholt angesehen.260 2. Folgerungen aus dem Vorsatzcharakter. Die Einstufung als Vorsatztat führt bei 108 den bezeichneten Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombinationen zu folgenden (beabsichtigten) Konsequenzen: a) Teilnahme. Sie ist rechtlich möglich (OLG Stuttgart MDR 1976 335).261 Wer also 109 einen alkoholisierten Kraftfahrer in der Absicht bestärkt zu fahren, kann sich wegen Beihilfe zur Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315c Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a, Abs. 3 Nr. 1) strafbar machen, wenn der Kraftfahrer eine solche Tat begeht und er – der Teilnehmer – im Hinblick auf die Gefährdung auch selbst fahrlässig gehandelt hat (OLG Stuttgart MDR 1976 335).262 Soweit es sich um das Fahrlässigkeitserfordernis beim Teilnehmer handelt, entspricht diese Auffassung der Regelung, die § 18 für erfolgsqualifizierte Delikte trifft.

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256 Fischer § 231 Rdn. 5. 257 Fischer § 323a Rdn. 17. 258 Eingehend zur Gesamtproblematik Tröndle LK10 Rdn. 97 bis 98. 259 Vgl. Sch/Schröder/Eser27 Rdn. 74. 260 Jescheck/Weigend § 54 III 1. 261 Jescheck/Weigend § 54 III 1; Rengier Erfolgsqualifizierte Delikte (1986), S. 249 ff; Sch/Schröder/Hecker Rdn. 68; Fischer Rdn. 32; aA Maurach/Gössel/Zipf 43/117. 262 AA Noak JuS 2005 312: Vorsatz auch bezüglich der Gefährdung.

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b) Versuch. Auch er ist in den Fällen der Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombination grundsätzlich möglich. Seine Strafbarkeit setzt, da es sich mit Ausnahme von § 307 Abs. 2 (dazu Rdn. 112 a.E.) um Vergehen handelt, freilich voraus, dass das Gesetz dies ausdrücklich bestimmt (§ 23 Abs. 1). Das ist nur bei § 353b der Fall (dazu Rdn. 111 ff),263 während alle übrigen Mischtatbestände, insbesondere die §§ 315 bis 315d, durch ihre Fassung und den Standort der Versuchsklausel deutlich machen, dass sich die Strafbarkeit des Versuchs auf den Mischtatbestand nicht bezieht, sondern nur auf die vollvorsätzliche Begehungsweise.264 Die Annahme, der „kombinierte vorsätzlich-fahrlässige Versuch“ des § 353b Abs. 1 111 Satz 2 sei nach Absatz 3 mit Strafe bedroht, begegnet im Hinblick auf § 11 Abs. 2 zwar keinen grundsätzlichen Bedenken, gleichwohl aber gewissen Vorbehalten, die eine Einschränkung zur Folge haben sollten. Wenn die Tat trotz erfolgsbezogener Fahrlässigkeit kraft Gesetzes insgesamt (d.h. 112 unter Einschluss des Erfolges) als vorsätzlich gilt, kann man § 22 nicht für unanwendbar halten mit der Begründung, die Vorschrift erfordere Vorsatz hinsichtlich aller strafbegründenden Tatbestandsmerkmale. Doch ist zu berücksichtigen: Wenn die fahrlässige Erfolgsverursachung bei der Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombination den Zweck hat, die Strafbarkeit vorsätzlichen Handelns auf Fälle zu beschränken, die sich durch den Eintritt eines Erfolgs als gefährlich erweisen (Rdn. 107), dann muss dies für den Versuch der Handlung nicht minder gelten als für deren Vollendung. Deshalb muss in diesem Bereich auch die Strafbarkeit des Handlungsversuchs davon abhängen, dass er im konkreten Fall dazu geeignet ist, den fahrlässigen Erfolg (bei § 353b Abs. 1 also die Gefährdung wichtiger öffentlicher Interessen) tatsächlich herbeizuführen. Die bloße Möglichkeit des Erfolgseintritts reicht dafür – ebenso wie bei der vollendeten Handlung – nicht aus. Insoweit scheidet also die Annahme eines untauglichen Versuchs aus. Bei § 307 Abs. 2 scheidet eine Versuchsstrafbarkeit aus, weil diese Vorschrift voraussetzt, dass die konkrete Rechtsgutsgefahr ihre Ursache in einer Explosion, d.h. im Erfolg des Vorsatzteils hat.265 Für Strafbarkeit des Versuchs nach § 353b Abs. 3 ohne Einschränkung sind Hoyer SK 113 § 353b Rdn. 9 und Fischer § 353b Rdn. 26. Sch/Schröder/Perron/Hecker § 353b Rdn. 22 stimmen im Ergebnis mit der hier vertretenen Ansicht überein. Die hier vertretene Auffassung ist mit § 11 Abs. 2 vereinbar. Die Vorschrift besagt nur, dass sich der Vorsatzcharakter bei der Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombination allein nach dem Handlungsteil der Tat richtet.

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c) Weitere Bereiche. Fälle der Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombination können als Vorsatztaten den Widerruf des Straferlasses (§ 56g Abs. 2) begründen oder eine Voraussetzung für die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (§ 66) oder für die Einziehung (§§ 73 ff) bilden. Die Frage, ob Fortsetzungszusammenhang in Betracht kommt (vgl. BGHSt 22 67, 71), hat sich nach der Entscheidung BGHSt 40 138 wohl auch für diesen Bereich praktisch erledigt. Zu jüngsten Reformbestrebungen s. Rdn. 127. IV. Die Gleichstellungsklausel des Absatzes 3

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1. Bedeutung der Vorschrift. Absatz 3 bringt eine gesetzestechnische Vereinfachung, keine Begriffsdefinition. Die Vorschrift geht auf § 11 Abs. 3 E 62 und auf § 10

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263 Sch/Schröder/Hecker Rdn. 69; Sch/Schröder/Lenckner/Perron/Hecker § 353b Rdn. 22; aA Krey/ Schneider NJW 1970 644. 264 Sch/Schröder/Hecker Rdn. 69. 265 Radtke MK Rdn. 163.

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Abs. 2 AE zurück. Sie bestimmt, dass mit dem Rechtsbegriff „Schriften“ zugleich auch Ton- und Bildträger, Datenspeicher, Abbildungen und andere Darstellungen gemeint sind, falls Vorschriften auf § 11 Abs. 3 verweisen. Das ist bei § 74d Abs. 1, 3 und 4 der Fall und im Besonderen Teil bei den Staatsschutzdelikten (§ 80a, § 86 Abs. 2, § 86a Abs. 1 Nr. 1, § 90 Abs. 1, § 90a Abs. 1, § 90b Abs. 1, § 91 Abs. 1 Nr. 1), bei der öffentlichen Aufforderung zu Straftaten (§ 111 Abs. 1), bei den Straftaten gegen die öffentliche Ordnung (§ 130 Abs. 2 Nr. 1, 3, Abs. 5, § 130a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, § 131 Abs. 1 Nr. 1, 3, § 140 Nr. 2), bei der falschen Verdächtigung (§ 165 Abs. 1 Satz 1), bei Religionsdelikten (§ 166 Abs. 1, 2), bei den Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§ 176 Abs. 4 Nr. 3, § 176a Abs. 3), vor allem bei den Pornographiedelikten (§ 184 Abs. 1, § 184a, § 184b Abs. 1, § 184c Abs. 1) sowie bei den Beleidigungstatbeständen (§ 186, § 187, § 188 Abs. 1, § 194 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 2, § 200 Abs. 1) und bei der Werbung für Schwangerschaftsabbrüche (§ 219a Abs. 1). Zu jüngsten Reformbestrebungen s. Rdn. 127. 2. Der Inhalt der gleichgestellten Begriffe a) Schriften. Es sind Gedankenäußerungen durch Buchstaben, Bilder oder andere 116 stoffliche Zeichen (RGSt 47 223, 224; BGHSt 13 375, 376), die für Auge oder Tastsinn wahrnehmbar sind und die Vorstellung eines Sinnzusammenhangs vermitteln. Es kommt also nicht darauf an, welcher Art die Zeichen (Schriftzeichen) sind. Auch Noten, Zahlen, Chiffren, Stenogramme, Blindenschrift sowie Kombinationen von Schriften und sonstigen stofflichen Zeichen fallen darunter. Unerheblich ist, ob sie mit der Hand, mit der Schreibmaschine, durch Druck oder andere Vervielfältigungsmittel hergestellt sind, ob sie für jedermann oder nur mit Hilfe besonderer Kenntnisse oder Informationen wahrnehmbar sind (Abkürzungen, Kurzschrift, Geheimschrift, Blindenschrift) oder mit Hilfe technischer Vorrichtungen (Vergrößerungs- oder Projektionsgeräte).266 Schriften sind daher etwa Kurznachrichten per SMS oder Whatsapp-Nachrichten.267 An sich ist ebenso bedeutungslos, ob es sich um Einzelstücke, Ur- oder Abschriften handelt, ob sie unterschrieben sind oder nicht,268 wenn es auch nach dem Zusammenhang der einzelnen Tatbestände in der Regel auf Schriften ankommt, die zur Vervielfältigung oder anderweitigen Verbreitung bestimmt sind. Wer nur an oder für einen einzelnen Empfänger schreibt, stellt keine Schrift im Sinne des § 11 Abs. 3 her (BGHSt 13 375, 376). Wo das Gesetz (vornehmlich) Einzelstücke meint, spricht es von einem „Schriftstück“ (§ 202). Die Auffassung der Begründung zum E 62 (S. 121), wonach der Begriff „Schriften“ im Sinne des § 11 Abs. 3 ebenso zu verstehen sei wie der in der Urkundendefinition (§ 303 Abs. 3 E 62) vorgesehene Begriff der „Schrift“, steht mit der Rechtsprechung (BGHSt 13 375, 376) also nur insoweit im Einklang, als beiden Begriffen die Vorstellung einer Verkörperung und damit Gegenständlichkeit von Gedankenerklärungen zugrunde liegt. Im Übrigen sind im Bereich der Urkundendelikte mit den Schriften auch Stücke gemeint, die nicht zur Vervielfältigung und Verbreitung bestimmt sind. b) Tonträger. Es sind Sachen, die technisch gespeichert bestimmte Tonfolgen ent- 117 halten, die durch Hilfsmittel dem Ohr wahrnehmbar gemacht werden können.269 Dabei handelte es sich ursprünglich vor allem um Walzen, Schallplatten (RGSt 47 223, 224 f; 47 404, 405 ff; OLG Düsseldorf NJW 1967 1142, 1143) und Tonbänder, heute sind es insbe-

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Sch/Schröder/Hecker Rdn. 72. OLG Hamm MMR 2016 425; Saliger NK Rdn. 75. Schäfer LK9 § 41 Rdn. 11. Schäfer LK9 § 41 Rdn. 12; Sch/Schröder/Hecker Rdn. 75; Fischer Rdn. 35.

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sondere die elektronisch lesbaren, binär codierten Daten- bzw. Informationsträger wie CDs.270 c) Bildträger. Es sind Sachen, die technisch gespeicherte Bilder oder Bildfolgen enthalten, welche durch Hilfsmittel dem Auge wahrnehmbar gemacht werden können, z.B. Magnetbänder oder -platten für Video-Recorder oder ähnliche Kassetten für privates Fernsehen.271 Erfasst ist auch die Kombination von Bild- und Tonträgern, heutzutage insbesondere im Format der DVD. Umstritten war, ob die Gleichstellungsklausel des § 11 Abs. 3 dazu führt, dass § 184 119 Abs. 1, der auf die Vorschrift des § 11 Abs. 3 verweist und in Nummer 3 „Leihbüchereien“ erwähnt, sich auch auf gewerbliche Unternehmen zur Vermietung von Ton- und Filmmaterial erstreckt. BGHSt 27 52 hat diese Frage verneint.272 Doch hat das BVerfG (NStZ 1982 285) einen Verstoß gegen das Analogieverbot (Art. 103 Abs. 2 GG) nicht darin gesehen, dass die gewerbliche Versendung pornographischer Filme zum Zwecke der Vermietung auf dem Weg über § 11 Abs. 3 dem Tatbestandsmerkmal des Überlassens pornographischer Schriften im Versandhandel (§ 184 Abs. 1 Nr. 3) zugeordnet wird. Die Bestimmung des § 184 Abs. 1 Nr. 3a, die durch Gesetz vom 25.2.1985 (BGBl. I S. 425) eingefügt worden ist, hat die streitige Auslegungsfrage durch eine Sonderregelung geklärt. 120 Der Fall (Rdn. 119) zeigt, dass die Begriffserweiterung des § 11 Abs. 3 – Bildträger werden als „Schriften“ bezeichnet – nicht notwendig zur Erweiterung des Inhalts anderer fest umrissener Begriffe in einzelnen Tatbeständen führt. Ein gewerbliches Unternehmen zur Vermietung von Videos im Versandwege ist nach allgemeinem Sprachgebrauch eben keine „Leihbücherei“. Doch wird man „Fernwirkungen“ des § 11 Abs. 3 auf die Auslegung anderer als der darin genannten Tatbestandsmerkmale auch nicht grundsätzlich ausschließen können (vgl. OLG Karlsruhe MDR 1976 947). Ähnliche Auslegungsprobleme ergeben sich im Zusammenhang mit § 11 Abs. 2 (Deliktsversuch bei Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombination, Rdn. 110 ff). 118

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d) Datenspeicher. Der Begriff wurde durch das Informations- und Kommunikationsdienstegesetz (IuKDG) vom 22.7.1997 (BGBl. I S. 1870) eingefügt (zum Schriftenbegriff in der modernen Informations- und Kommunikationstechnologie Hilgendorf/ Valerius Computer- und Internetstrafrecht, 2012, Rdn. 269 ff). Datenspeicher sind alle elektronischen, elektromagnetischen, optischen, chemischen oder auf sonstige Weise erfolgenden Aufzeichnungen von gedankliche Inhalte verkörpernden Daten, die durch technische Geräte für den Menschen wahrnehmbar gemacht werden können.273 Grund für die Gleichstellung mit den Schriften ist, dass sie in vergleichbarer Weise zur Wiedergabe rechtswidriger Inhalte verwendet werden können. Aufgrund der Gleichstellung mit den übrigen Darstellungen muss die Speicherung der Daten von gewisser Dauer sein.274 An die Dauerhaftigkeit dürfen jedoch keine überzogenen Anforderungen gestellt werden. Es genügt die vorübergehende Ablage in Arbeitsspeichern, nicht dagegen die ganz kurzzeitige Ablage in Zwischenspeichern.275 Für die Möglichkeit der Wahrnehmung genügt

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270 Radtke MK Rdn. 170. 271 Sch/Schröder/Hecker Rdn. 76; LG Duisburg NStZ 1987 367. 272 Ebenso OLG Stuttgart NJW 1976 1109; Laufhütte JZ 1974 48; aA OLG Karlsruhe MDR 1976 947; NJW 1974 2015, 2017. 273 BTDrucks. 13/7385 S. 36; Radtke MK Rdn. 172. 274 BTDrucks. 13/7385 S. 36; Radtke MK Rdn. 172. 275 BTDrucks. 13/7385 S. 36; OLG Hamburg NJW 2010 1893, 1894; Radtke MK Rdn. 172; Sch/Schröder/ Hecker Rdn. 77; Fischer Rdn. 36.

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auch die nur kurzzeitige Sichtbarmachung mittels Bildschirm.276 Datenspeicher sind beispielsweise Festplatten (auch von Smartphones),277 Magnetbänder, Floppy-Disks, CDROMs und die internen Speicher einer EDV-Anlage.278 Echtzeitübertragungen im Internet oder Fernsehen und Hörfunk, bei denen keine Speicherung erfolgt, werden vom Begriff des Datenträgers nicht erfasst (s. aber Rdn. 127).279 Das Merkmal des Verbreitens, das in der Mehrzahl der einschlägigen Delikte ent- 122 halten ist, ist jedoch nur erfüllt bei der Weitergabe der Substanz des die relevante Information enthaltenden Mediums.280 Mit der Einfügung des Datenspeichers in Absatz 3 wurde diese Problematik nicht gelöst. Erforderlich wäre nämlich die Weitergabe des die Daten enthaltenden Datenträgers,281 was jedoch in der Praxis nicht geschieht. Allerdings kann regelmäßig auf die Tatvariante des Zugänglichmachens zurückgegriffen werden, für die bereits die Kenntnisnahme der betreffenden Informationen genügt, ohne dass es zu einer Weitergabe des diese beherbergenden Mediums kommen muss (s. ferner Rdn. 127).282 Die im Btx-Verfahren verwendeten Datenträger, auf denen die abgerufenen Infor- 123 mationen gespeichert werden, unterfallen dem Begriff des Datenspeichers. Die bisher diskutierte Frage, ob es sich hier um Schriften bzw. Darstellungen handelt,283 ist daher hinfällig geworden. e) Abbildungen. Es handelt sich um unmittelbar durch Auge oder Tastsinn wahr- 124 nehmbare nachbildende Wiedergaben der Außenwelt in Fläche und Raum, z.B. Zeichnungen, Gemälde, insbesondere aber auch Fotos, Dias, Filmstreifen (RGSt 39 183; 46 390, 392).284 Zu den Abbildungen im Sinne des § 11 Abs. 3 gehört auch das Hakenkreuz (als Kennzeichen gemäß § 86a Abs. 1), wenn es auf Nachbildungen (Modellen) von Flugzeugen der ehemaligen Luftwaffe verwendet wird (BGHSt 28 395, 397). f) Darstellung. Das Gesetz verwendet diesen Begriff als Oberbegriff für Schriften, 125 Ton- und Bildträger, Datenspeicher und Abbildungen. Dieser Begriff umfasst somit alle sinnlich wahrnehmbaren Formen der Vergegenständlichung eines Hergangs oder eines Gedankens zur Übermittlung einer Vorstellung (RGSt 47 404, 408; RG GA Bd. 57 400), wie z.B. Plastiken und Handstickereien,285 aber auch Kennzeichen im Sinne des § 86a. Der Begriff der Darstellung wird im Zusammenhang mit dem Begriff der technischen 126 Aufzeichnung in § 268 Abs. 2 in einem anderen, tatbestandsbezogen engeren Sinne gebraucht.286 Überhaupt hat § 11 Abs. 3 nur Bedeutung, wo der Begriff der „Schriften“ ausdrücklich mit dem Klammerhinweis verwendet wird. Ohne Bedeutung ist die Gleichstellungsvorschrift, wo das Gesetz von ähnlichen Begriffen spricht, die Schriften zum Gegenstand haben, z.B. von Schriftstücken (§ 133, § 202), oder im Bereich der Urkunden-

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276 Radtke MK Rdn. 172. 277 BGH NStZ-RR 2015 139. 278 OLG Hamburg NJW 2010 1893, 1894; Radtke MK Rdn. 172. 279 Hilgendorf/Valerius Computer- und Internetstrafrecht (2012) Rdn. 173. 280 Radtke MK Rdn. 173; OLG Frankfurt NStZ 1999 356, 358 mit Anm. Rückert; BayObLG NJW 2000 2911; Eckstein ZStW 117 (2005) 107, 116; weitergehend BGH NJW 2001 3558; krit. Hilgendorf/Valerius Computerund Internetstrafrecht (2012) Rdn. 301 ff; Fischer Rdn. 36a. 281 Radtke MK Rdn. 173; OLG Frankfurt NStZ 1999 356, 358; BayObLG NJW 2000 2911. 282 Hilgendorf/Valerius Computer- und Internetstrafrecht (2012) Rdn. 301. 283 Vgl. dazu Gribbohm LK11 Rdn. 122 ff. 284 Schäfer LK9 § 41 Rdn. 13; Sch/Schröder/Hecker Rdn. 74. 285 Schäfer LK9 § 41 Rdn. 14. 286 Vgl. Tröndle LK10 § 268 Rdn. 10 ff.

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delikte von Urkunden, technischen Aufzeichnungen, Büchern, Registern und Ausweispapieren (§ 267, § 268, § 271, § 281). 127

g) Reformbestrebungen. Ein Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz aus dem Herbst 2019 sieht eine umfassende Modernisierung des § 11 Abs. 3 vor. Bezugspunkt der Vorschrift sollen künftig zuvorderst „Inhalte“ sein. Wenn auf § 11 Abs. 3 verwiesen wird, sollen dabei auch solche Inhalte erfasst werden, die „unabhängig von einer Speicherung mittels Informations- oder Kommunikationstechnik übertragen werden“. Durch die Fortentwicklung zu einem Inhaltsbegriff soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass strafbare Inhalte heutzutage in erster Linie digital und dabei insbesondere über das Internet verbreitet werden. Da der jeweilige Inhalt als solcher und nicht das Trägermedium die Strafwürdigkeit des jeweiligen Verhaltens begründe, soll es auch nicht mehr auf eine etwaige Speicherung des übertragenen Inhalts beim Empfänger ankommen. Erfasst würden schon durch § 11 Abs. 3 also z.B. auch Echtzeitübertragungen.

§ 12 Verbrechen und Vergehen Erster Abschnitt. Das Strafgesetz Verbrechen und Vergehen Hilgendorf § 12 https://doi.org/10.1515/9783110300413-016

(1) Verbrechen sind rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht sind. (2) Vergehen sind rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit einer geringeren Freiheitsstrafe oder die mit Geldstrafe bedroht sind. (3) Schärfungen oder Milderungen, die nach den Vorschriften des Allgemeinen Teils oder für besonders schwere oder minder schwere Fälle vorgesehen sind, bleiben für die Einteilung außer Betracht.

Schrifttum Calliess Die Rechtsnatur der „besonders schweren Fälle“ und Regelbeispiele im Strafrecht, JZ 1975 112; ders. Der Rechtscharakter der Regelbeispiele im Strafrecht, NJW 1998 929; Dohna Die gesetzliche Strafzumessung, MoKrimBiol. 1943 138; Dreher Zur Systematik allgemeiner Strafzumessungsgründe, GA 1953 129; Engisch Die neuere Rechtsprechung zur Trichotomie der Straftaten, SJZ 1948 660; ders. Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit (1968); Furtner Der „schwere“, „besonders schwere“ und „minder schwere Fall“ im Strafrecht, JR 1969 11; Gutzke Die Behandlung der „besonders schweren Fälle“, insbesondere bei Übertretungen, NJW 1956 580; Hassemer Theorie und Soziologie des Verbrechens (1973); Hildebrand Straftaten und Verfehlungen im neuen Strafrecht der DDR, JOR 1968 I S. 7; Jescheck Die Entwicklung des Verbrechensbegriffs in Deutschland seit Beling im Vergleich mit der österreichischen Lehre, ZStW 73 (1961) 179; Krümpelmann Die Bagatelldelikte (1966); Lampe Strafphilosophie (1999); Lange Probleme des § 1 StGB, MDR 1948 310; Langer Das Sonderverbrechen (1972); Lesch Der Verbrechensbegriff (1999); Lyon Der Verbrechensbegriff in der Strafrechtswissenschaft der DDR (1960); Maurach Zur Entwicklung des materiellen Verbrechensbegriffs im sowjetischen Strafrecht, ROW 1957 137; Nüse Zur Frage der Dreiteilung der Straftaten, JR 1949 5; Radbruch Die gesetzliche Strafänderung, VDA III 189; Rosenberg Die Dreiteilung der strafbaren Handlungen, ZStW 24 (1904) 1; Schmidt/Weber Straftaten und Verfehlungen, NJ 1967 110; G. Schwarz Der Verbrechensbegriff in den jüngsten Bundesstrafgesetzen, NJW 1953 1617; Sessar Zum Verbrechensbegriff, Festschrift Kaiser (1998) 427; Spendel Zum Begriff des Verbrechens, Festschrift Küper (2007) 597; Stöckl Ist durch die Neufassung des § 1 StGB durch das 1. StrRG (bzw. § 12 des 2. StrRG) der Theorienstreit über die Dreiteilung der Straftaten beendet? GA 1971 236; Wähle Zur strafrechtlichen Problematik „besonders schwerer Fälle“, GA 1969 161; Zipf Kriminologischer und strafrechtlicher Verbrechensbegriff, MDR 1969 889.

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Entstehungsgeschichte Vorläufer des § 12 war § 1 der Ursprungsfassung des RStGB. Diese Vorschrift wurde geändert durch die VO über Vermögensstrafen und Bußen (GeldstrVO) vom 6.2.1924 (RGBl. I S. 44), durch das 3. StrÄndG vom 4.8.1953 (BGBl. I S. 735), das 2. StraßVerkSichG vom 26.11.1964 (BGBl. I S. 921) und durch das 1. StrRG vom 25.6.1969 (BGBl. I S. 645). Der Allgemeine Teil i.d.F. des 2. StrRG vom 4.7.1969 (BGBl. I S. 717) hat den bis dahin in § 1 geregelten Sachgegenstand in der neueren Fassung in § 12 eingestellt. Absatz 3 dieser Fassung wurde vor ihrem Inkrafttreten durch Art. 18 II Nr. 6 EGStGB vom 2.3.1974 (BGBl. I S. 469) abermals geändert. Die Vorschrift ist seit 1.1.1975 in Kraft. § 1 RStGB teilte die Straftaten in Verbrechen, Vergehen und Übertretungen ein. Die Dreiteilung (Trichotomie) geht auf das französische Recht der Revolutionszeit (Code pénal von 1791 und 1810) zurück, in dem nach der angedrohten Höchststrafe zwischen crimes (Verbrechen), délits (Vergehen) und contraventions (Übertretungen) unterschieden und danach vor allem die Gerichtszuständigkeit bestimmt wurde. So gehörten die crimes vor die cours d’assises (Schwurgerichte), die délits vor die tribunaux correctionnels (Strafkammern) und die contraventions vor die tribunaux de police (Einzelrichter). Die Dreiteilung des französischen Strafrechts kam über das bayerische StGB 1813 und über das preußische StGB in das RStGB von 1871.1 Mit dem Inkrafttreten des 2. StrRG am 1.1.1975 (Art. 326 Abs. 1 EGStGB) sind die Übertretungen weggefallen, nachdem sie schon zuvor zunehmend durch Ordnungswidrigkeiten verdrängt worden waren und an Bedeutung eingebüßt hatten. An die Stelle der Dreiteilung der Straftaten (Trichotomie) ist eine Zweiteilung (Dichotomie) getreten. Gesetzesmaterialien E 1962 § 12, Begr. S. 121 f, BTDrucks. IV/650; Niederschriften der GrStrafRKomm. Bd. 1 S. 67 ff, 112, 129, 333 ff; Bd. 4 S. 289 ff, 308 ff, 398 ff, 540 ff; Bd. 5 S. 11, 29; Bd. 12 S. 552, 573; § 11 AE; § 12 i.d.F. des 2. StrRG vom 4.7.1969 (BGBl. I S. 717); 2. Bericht, BTDrucks. V/4095 S. 7; Art. 18 II Nr. 6 EGStGB; BTDrucks. 7/550 S. 208 ff; BTDrucks. 7/1232 S. 13; 1. Bericht, BTDrucks. 7/1261 S. 4.

I. II.

Übersicht Bedeutung der Vorschrift | 1 Deliktsgruppen 1. Verbrechen a) Der Verbrechensbegriff des § 12 Abs. 1 | 5 b) Abgrenzung von anderen Verbrechensbegriffen | 6 2. Vergehen | 9 3. Zur Unterscheidung beider Deliktsgruppen a) Maßstab | 10 b) Methode | 11

Folgerungen im Einzelnen | 17 a) Besonders schwere Fälle | 18 b) Minder schwere Fälle | 22 c) Qualifikations- und Privilegierungstatbestände | 24 d) Andere eigenständige Straftaten | 25 Übertretungen | 29 Ordnungswidrigkeiten | 30

4.

III. IV.

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Hinweise auf das ausländische Recht bei Heinitz MatStrRRef. I S. 55.

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I. Bedeutung der Vorschrift Die Vorschrift unterteilt die Straftaten in Verbrechen und Vergehen, grenzt sie nach dem Mindestmaß der angedrohten Freiheitsstrafe und der Strafart ab und bestimmt ausdrücklich, dass es für die Einteilung auf die Regelstrafdrohung ankommt und nicht auf deren Abwandlung. Die Zweiteilung hat – wie früher die Dreiteilung – in erster Linie gesetzestechnische Bedeutung, weil sie die Systematik des Gesetzes erleichtert sowie die Fassung der Tatbestände und die Bestimmung der Gerichtszuständigkeit vereinfacht.2 Im sachlichen Recht ist sie von Bedeutung für die Strafbarkeit des Versuchs (§ 23 2 Abs. 1) und des Versuchs der Beteiligung (§§ 30, 31 Abs. 1), für den Verlust der Amtsfähigkeit, der Wählbarkeit und des Stimmrechts (§ 45 Abs. 1), für die (nachträgliche und vorbehaltene) Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (§ 66 Abs. 3 Satz 1, § 66a Abs. 2 Nr. 1, § 66b), die Dauer der Führungsaufsicht (§ 68c Abs. 3 S. 1 Nr. 2 Buchst. b), für die Tatbestände der Androhung eines Verbrechens oder Vergehens (§ 126 Abs. 1 Nrn. 4, 6 und 7), die Nichtanzeige bestimmter geplanter Straftaten gegen die persönliche Freiheit (§ 138 Abs. 1 Nr. 6), die Bedrohung (§ 241) und die Geldwäsche (§ 261 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1). 3 Auch im Verfahrensrecht ergeben sich Rechtsfolgen aus der Zweiteilung, so beim Einsatz verdeckter Ermittler (§ 110a Abs. 1 StPO), ferner bei der molekulargenetischen Reihenuntersuchung (§ 81h Abs. 1 StPO), beim Zeugnisverweigerungsrecht von Presseund Rundfunkmitarbeitern (§ 53 Abs. 2 Satz 2 StPO), bei der notwendigen Verteidigung (§ 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO), bei der Einstellung wegen Geringfügigkeit und unter Auflagen und Weisungen (§§ 153, 153a StPO) bzw. wegen Nötigung oder Erpressung des Opfers (§ 154c Abs. 2 StPO), bei der Zulässigkeit des Strafbefehlsverfahrens (§ 407 StPO), bei der Wiederaufnahme eines Verfahrens, das durch einen rechtskräftigen Strafbefehl abgeschlossen ist (§ 373a Abs. 1 StPO) und bei der Bestellung eines Rechtsanwalts für den Nebenkläger (§ 397a Abs. 1 StPO). In letztem Fall ist ausreichend, dass die angeklagte Tat zum Zeitpunkt des Verfahrens ein Verbrechen darstellt, nicht notwendigerweise dagegen bereits zum Zeitpunkt ihrer Begehung (BGH NJW 1999 1647). Die Zweiteilung ist schließlich – wie schon die Trichotomie – für die sachliche Zuständigkeit der Gerichte (§ 74 Abs. 1 GVG) von Bedeutung, ferner für die Auslegung des § 1 Abs. 2 Nr. 2 OEG (BSG NStZRR 1996 225). § 12 bestimmt zusammen mit § 1 OWiG auch die Abgrenzung zwischen Straftaten und Ordnungswidrigkeiten.3 Sachlich unterscheiden sich Verbrechen und Vergehen grundsätzlich durch das 4 größere Gewicht voneinander, das den Verbrechen zukommt.4 Doch trägt die Einführung der Sonderstrafrahmen für besonders schwere und minder schwere Fälle dazu bei, diesen Unterschied zu verwischen (vgl. auch BGH NStZ 2006 393). In dieselbe Richtung wirkt die Einführung der einheitlichen Freiheitsstrafe, die an die Stelle von Zuchthaus-, Gefängnis- und Haftstrafe getreten ist.5 Die Gesamtentwicklung, welche die Bedeutung der Zweiteilung im Vergleich zur früheren Dreiteilung mindert, kommt zugleich prozessual darin zum Ausdruck, dass für die Zuständigkeit des Amtsgerichts und dort des Strafrichters nicht mehr allgemein an die Unterscheidung zwischen Verbrechen und Vergehen angeknüpft wird (§§ 24, 25 GVG). Entsprechendes gilt für die Vorschriften über die Anordnung und Fortdauer der Untersuchungshaft (§§ 112 ff StPO). 1

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2 3 4 5

BGH NStZ 2006 393. Fischer Rdn. 3. Vgl. auch Fischer Rdn. 2. Eingehend zu diesem Problemkreis Tröndle LK10 Rdn. 6.

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II. Deliktsgruppen 1. Verbrechen a) Der Verbrechensbegriff des § 12 Abs. 1. § 12 Abs. 1 handelt vom Verbrechen in 5 seiner Abgrenzung vom Vergehen als Straftat mit grundsätzlich geringerem Unwertgehalt. Verbrechen sind danach (nur) rechtswidrige Taten (§ 11 Abs. 1 Nr. 5), die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht sind. Das Gesetz belässt es auch nach der Abschaffung der Zuchthausstrafe durch das 1. StrRG bei der Untergrenze der Strafdrohung von einem Jahr. Von einer Erhöhung des Mindestmaßes auf zwei (so § 12 Abs. 1 E 1962) oder sogar fünf Jahre (so § 11 Abs. 1 AE) wurde abgesehen, damit nicht Bereiche der schweren Kriminalität aus dem Verbrechensbegriff herausfallen.6 Nebenstrafen und Nebenfolgen sind auf die Deliktseinteilung ohne Einfluss. b) Abgrenzung von anderen Verbrechensbegriffen. Der Verbrechensbegriff des 6 § 12 Abs. 1 ist von anderen zu unterscheiden. Der Ausdruck „Verbrechen“ wird oft als Synonym für strafbare Handlung, für Straf- 7 tat oder für Delikt verwendet. Nach dem materiellen (normativen oder strafrechtlichen) Verbrechensbegriff sind unter Verbrechen menschliche Verhaltensweisen zu verstehen, die die Rechtsordnung mit Kriminalstrafe bedroht, weil sie als strafwürdiges und strafbedürftiges Unrecht angesehen werden.7 Die Kriminologie kennt keinen einheitlichen Verbrechensbegriff.8 Ihre Vertreter lehnen sich zum Teil eng an den (strafrechtlichen) materiellen Verbrechensbegriff an und bilden innerhalb der Kriminologie einen juristischen (strafrechtlichen) Verbrechensbegriff (Mezger, Geerds).9 Andere definieren den Begriff soziologisch, indem sie die Antisozialität des Verbrechens (Mergen, Mannheim),10 die Sozialgefährlichkeit oder die Sozialschädlichkeit eines Verhaltens (Kaiser)11 oder die Unverträglichkeit eines solchen sozialschädlichen Verhaltens (Zipf)12 hervorheben. Wiederum andere verwenden einen juristisch-soziologischen Verbrechensbegriff (Würtenberger)13 oder begreifen das Verbrechen als „Verhalten, Tun oder Unterlassen, das im gesellschaftlichen und individuellen Kriminalisierungsprozeß durch Interaktion erfolgreich als kriminell benannt wird“ (Schneider).14 All diese Begriffe (Rdn. 7) haben für die Anwendung des § 12 Abs. 1 keine Bedeutung. 8 Auch im Völkerstrafrecht gibt es keinen einheitlichen Sprachgebrauch. Es hängt von den Umständen im Einzelfall ab, ob Taten, die in völkerrechtlichen Verträgen als „Verbrechen“ bezeichnet werden, nur solche im Sinne des § 12 Abs. 1 sind (vgl. BGHSt 28 110, 115). 2. Vergehen. Nach Absatz 2 sind Vergehen rechtswidrige Taten (§ 11 Abs. 1 Nr. 5), 9 die im Mindestmaß mit einer Freiheitsstrafe von weniger als einem Jahr oder mit Geld-

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6 1. Bericht, BTDrucks. V/4094 S. 4. 7 Jescheck/Weigend § 7 I 1; Leferenz FS Gallas, S. 65. 8 Göppinger Kriminologie 4. Aufl. (1980) S. 5. 9 Mezger Kriminologie (1951) S. 4; Geerds Die Kriminalität als soziale und als wissenschaftliche Problematik (1965) S. 7. 10 Mergen Kriminologie 3. Aufl. (1995) S. 21 f; Mannheim Vergleichende Kriminologie (1974) Bd. I S. 80 f. 11 Kaiser Verkehrsdelinquenz und Generalprävention (1970) S. 112 ff. 12 Zipf MDR 1969 890. 13 Würtenberger Die geistige Situation der deutschen Strafrechtswissenschaft (1957) S. 39. 14 Schneider Kriminologie (1987) S. 75.

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strafe bedroht sind. Es sind dies – ohne dass es einer weiteren Umschreibung bedurft hätte – alle rechtswidrigen Taten, die keine Verbrechen sind. 3. Zur Unterscheidung beider Deliktsgruppen 10

a) Maßstab. Unterscheidungskriterium sind Art und Mindestmaß der angedrohten Strafe. Mit Freiheitsstrafe im Sinne der Absätze 1 und 2 ist die einheitliche und einzige freiheitsentziehende Strafe des StGB gemeint (§ 38). Die Vorschrift über die Deliktseinteilung des § 12 ist auch für das Jugendstrafrecht maßgebend (§ 4 JGG), unbeschadet der Tatsache, dass sich die Rechtsfolgen einer Jugendstraftat nach den Vorschriften des Jugendgerichtsgesetzes (§§ 5 ff JGG) richten (§ 18 Abs. 1 Satz 3 JGG).15 § 12 gilt ferner für das Wehrstrafrecht (§ 3 Abs. 1 WStG). Die besondere militärische Strafart des Strafarrests (§ 9 WStG), die zu den Kriminalstrafen gehört, hat auf die Deliktseinteilung keinen Einfluss. Strafarrest kann im konkreten Fall auch bei Verbrechen in Betracht kommen, wenn wegen gesetzlicher Milderungsgründe (§ 49) eine Freiheitsstrafe von höchstens sechs Monaten möglich ist (vgl. § 12 WStG).

b) Methode. Dass für die Unterscheidung zwischen Verbrechen und Vergehen eine abstrakte Betrachtungsweise maßgebend ist, ergibt sich aus § 12 Abs. 3. Danach haben Schärfungen und Milderungen nach den Bestimmungen des Allgemeinen Teils (§ 13 Abs. 2, § 17 Satz 2, § 21, § 23 Abs. 2 und 3, § 27 Abs. 2 Satz 2, § 28 Abs. 1 und 2, § 30 Abs. 1 Satz 2, § 35, § 46a) oder für besonders schwere oder minder schwere Fälle außer Betracht zu bleiben. Insofern richtet sich die Unterscheidung also nicht nach den besonderen Umständen des Einzelfalles. 12 Zu den für die Deliktseinteilung unbeachtlichen Schärfungen und Milderungen, die nach den Vorschriften des Allgemeinen Teils vorgesehen sind, gehören auch die Fälle, in denen der Richter auf Grund einer Anordnung im Besonderen Teil die Strafe gemäß § 49 Abs. 2 nach seinem Ermessen mildern darf. Unter besonders schweren und minder schweren Fällen sind nach einer im Schrift13 tum verwendeten Definition unbenannte Strafänderungsgründe zu verstehen, bei denen das Gesetz die Voraussetzungen der Modifizierung nicht oder jedenfalls nicht abschließend bestimmt. In diese Gruppe können also auch genau umschriebene (und insofern „benannte“) Strafänderungsgründe fallen (wie etwa die erste Alternative des § 213),16 wenn das Gesetz zum Ausdruck bringt, dass es sie nur als Beispiel eines besonders schweren oder minder schweren Falles wertet. Schärfungen und Milderungen nach den Vorschriften des Besonderen Teils sind 14 bei der Deliktseinteilung zu berücksichtigen, falls sie (wie zum Beispiel qualifizierte Straftatbestände) nicht zu den besonders schweren oder minder schweren Fällen (im technischen Sinne, Rdn. 13) gehören. So ist der in der qualifizierten Form des § 356 Abs. 2 begangene Parteiverrat ein Verbrechen,17 ohne dass es darauf ankäme, ob es sich hierbei um einen selbständigen Straftatbestand oder um einen benannten Strafschärfungsgrund handelt (BGH StV 1988 388).18 11

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15 BGHSt 8 78, 79. 16 Allerdings hat sich die Frage, ob es sich hier um ein Verbrechen oder Vergehen handelt, inzwischen erledigt, da mit dem 6. StrRG vom 26.1.1998 (BGBl. I S. 164) die Mindeststrafe des § 213 auf ein Jahr erhöht wurde. 17 Fischer § 356 Rdn. 15. 18 Sch/Schröder/Hecker Rdn. 12.

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Aus allem folgt, dass unter rechtswidriger Tat im Sinne des § 12 nicht eine be- 15 stimmte Einzeltat zu verstehen ist, sondern der durch sie verwirklichte gesetzliche Tatbestand mit seiner regelmäßigen Strafdrohung. Diese sog. abstrakte Betrachtungsweise dient der Rechtssicherheit. Nur sie genügt dem Gebot gesetzlicher Bestimmtheit der Strafbarkeit (vgl. BGHSt 2 393, 395). Sie hatte sich – auf der Grundlage des jeweils geltenden Rechts und der sich daraus ergebenden Modifikationen (vgl. § 1 i.d.F. der Bek. vom 23.8.1953, BGBl. I S. 1083) – in der Rechtsprechung19 und im Schrifttum20 seit langem durchgesetzt. 1969 wurde sie vom Gesetzgeber in § 1 Abs. 4 i.d.F. des 1. StrRG bestätigt, der § 12 Abs. 3 vorausging. Durch die gesetzliche Neuregelung haben andere Einteilungsmethoden, die früher 16 eine gewisse Rolle spielten, ihre Bedeutung verloren. Ihnen ging es darum, namentlich bei Strafrahmenänderungen für besonders schwere und minder schwere Fälle und bei allgemeinen, tatbestandlich nicht abgegrenzten Strafschärfungen und Strafmilderungen zu differenzierteren Einteilungen zu kommen. Die sog. konkrete Betrachtungsweise wollte es von der im einzelnen Fall verwirkten Strafe abhängen lassen, welcher Deliktsart die Tat zuzuweisen ist.21 Die spezialisierenden (konkreteren, differenzierenden, individualisierenden) Betrachtungsweisen gingen von der abstrakten (generalisierenden) Methode aus.22 Deren Schwächen wollten sie aber dadurch vermeiden, dass sie bei der Deliktseinteilung auch bestimmte Strafänderungsgründe mitberücksichtigten, die im konkreten Fall anwendbar waren.23 Diese Betrachtungsweisen haben nur noch historisches Interesse.24 4. Folgerungen im Einzelnen. Aus der abstrakten Betrachtungsweise, wie sie 17 Absatz 3 vorschreibt, ergibt sich, dass Änderungen des Regelstrafrahmens nur dann für die Bestimmung der Deliktsart von Bedeutung sind, wenn sie an einen abgewandelten Straftatbestand (insbesondere einen Qualifikations- oder Privilegierungstatbestand) anknüpfen, d.h. an eigenständige Delikte oder an (abschließend) benannte Strafänderungsgründe des besonderen Teils außerhalb der besonders schweren oder minder schweren Fälle. Auch die Verwendung von Regelbeispielen zur Konkretisierung von besonders schweren oder minder schweren Fällen führt nicht zur Umschreibung selbständiger (abgewandelter) Tatbestände, obgleich die besonders bzw. minder schweren Fälle dadurch, deutlich über bloße Zumessungsregeln hinausgehend, den Qualifikationsbzw. Privilegierungstatbeständen stark angenähert werden. a) Besonders schwere Fälle. Die Kategorie der „schweren Fälle“, die das StGB bis 18 zum 1.1.1975 in den § 153, § 243, § 267 Abs. 3, § 268 Abs. 5 und § 348 Abs. 4 kannte, hat das EGStGB vom 2.3.1974 (BGBl. I S. 469) beseitigt oder in „besonders schwere Fälle“ umgewandelt. Da das Gesetz seit dem 1. StrRG (§ 1 Abs. 4 a.F.) allgemein die besonders schweren Fälle für die Deliktseinteilung außer Betracht lässt (vgl. BGHSt 23 254, 256), kommt es nicht darauf an, ob sie völlig „unbenannt“ (z.B. § 102 Abs. 1, § 106 Abs. 3, § 107 Abs. 1,

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19 BGHSt 2 181; 2 393, 394; 3 47 f; 4 226, 227 f; 8 78, 79 f. 20 Nachweise bei Jagusch LK8 § 1 Anm. 3. 21 KG HRR 1935 550; KG DRiZ 1947 99 mit Anm. Niethammer, OLG Frankfurt HESt. 1 1 = SJZ 1946 231 mit Anm. Engisch. 22 Eine Aufzählung der einzelnen Spielarten bei Stöckl GA 1971 237. 23 Engisch SJZ 1948 660, 663; ders. JZ 1954 44; Gutzke NJW 1956 580, 581; Kohlrausch/Lange43 § 1 Anm. VI. 24 Einzelnachweise zum früheren Meinungsstand bei Jagusch LK8 § 1 Anm. 4.

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§ 108 Abs. 1, § 109e Abs. 4, § 176 Abs. 3, § 212 Abs. 2) oder durch „Regelfälle“ oder „zwingende Beispielsfälle“ (nicht abschließend) benannt und erläutert sind.25 Ist ein benannter Regelfall gegeben („ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel 19 vor, wenn …“), so hat der Richter einen Wertmaßstab für einen besonders schweren Fall, ohne dass er hierdurch zur Annahme eines solchen gezwungen wäre, wenn die umschriebenen Voraussetzungen vorliegen (§ 94 Abs. 2, § 99 Abs. 2, § 100 Abs. 2, § 100a Abs. 4, § 113 Abs. 2, § 121 Abs. 3, § 125a, § 129 Abs. 5, § 177 Abs. 6, § 184i Abs. 2, 218 Abs. 2, § 240 Abs. 4, § 243 Abs. 1, § 253 Abs. 4, § 261 Abs. 4, § 263 Abs. 3, § 264 Abs. 2, § 265e, 266a Abs. 4, § 267 Abs. 3, § 283a, § 283d Abs. 3, § 291 Abs. 2, § 292 Abs. 2, § 300, § 303b Abs. 4, § 316b Abs. 3, § 330 Abs. 1, § 335 Abs. 2). Gibt das Gesetz bei einem besonders schweren Fall zwingende Beispielsfälle an 20 („… oder liegt sonst ein besonders schwerer Fall vor …“; § 241a Abs. 4),26 so bleibt der Regelstrafrahmen für den Deliktscharakter selbst dann maßgebend, falls ein solcher Beispielsfall verwirklicht und der Richter an den höheren Strafrahmen gebunden ist (BGHSt 20 184, 185 f).27 Die zum § 129 Abs. 2 a.F. ergangene abweichende Entscheidung BGHSt 8 167, 168 (ablehnend Kleinknecht MDR 1956 50) ist aufgegeben (BGHSt 11 233, 240 f), ebenso wie die zu § 241a Abs. 4 ergangene Entscheidung BGHSt 20 140 durch BGHSt 20 184 und BGH MDR 1967 682 überholt ist. 21 Die abweichende Meinung Drehers28 ist nach der ausdrücklichen Bestimmung des § 12 Abs. 3 (und des früheren § 1 Abs. 4 i.d.F. des 1. StrRG) mit dem Gesetz schwerlich vereinbar. Zwar ist ihm zuzugeben, dass sich der zwingende Beispielsfall als solcher von einem Qualifikationstatbestand nicht unterscheidet. Er dient aber zugleich als Beispiel für unbenannte besonders schwere Fälle. Der ausgeformte Beispielsfall ist insoweit „offen“ (vgl. Rdn. 13). Es sollten besonders schwere Fälle eines Tatbestandes, die nach der Wertung des Gesetzes keinen Unrechtsunterschied aufweisen, nicht in einem Falle Verbrechen und im anderen Vergehen sein.29 22

b) Minder schwere Fälle. In der Rechtsfigur der minder schweren Fälle hat das geltende Recht die früheren unbenannten Strafmilderungsgründe der besonders leichten Fälle,30 der leichten Fälle31 und der mildernden Umstände zusammengefasst (BGHSt 26 97 = JR 1976 24 mit Anm. Zipf). Aus den Materialien32 ergibt sich, dass der Gesetzgeber dem Rechtsbegriff der minder schweren Fälle die Funktion der früheren „mildernden Umstände“ und der „besonders leichten Fälle“ zuweisen wollte. Auch beim minder schweren Fall hat der herabgesetzte Strafrahmen keinen Einfluss auf den Deliktstypus. So war der minder schwere Fall des Totschlags nach § 213 a.F. auch dann ein Verbrechen, wenn die umschriebenen Voraussetzungen der ersten Alternative des § 213 erfüllt waren und der Richter nicht mehr die Wahl zwischen der Regelstrafdrohung und dem

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25 Hierzu Wessels FS Maurach, S. 296; Calliess NJW 1998 929. 26 Ebenso bei § 292 Abs. 2 a.F. „insbesondere wenn …“. 27 Auch RGSt 69 49, 53; Saliger NK Rdn. 9; Schröder JR 1965 308; Fischer Rdn. 11. Kritisch Stöckl GA 1971 241. 28 JZ 1965 455. 29 Im Ergebnis wie hier Lackner/Kühl/Heger Rdn. 4; Radtke MK Rdn. 17; Schröder JR 1965 308; Kohlrausch/Lange StGB 43. Aufl. (1961) § 241a Anm. VI. 30 Vgl. § 175 Abs. 2 i.d.F. vor dem 1. StrRG vom 25.6.1969 (BGBl. I S. 645). 31 Diese Kategorie wurde durch G vom 12.8.1968 (BGBl. I S. 953) beseitigt. 32 Begründung zum EGStGB, BTDrucks. 7/550 S. 211, 212; ferner BTDrucks. 7/1232 S. 13; Horstkotte FS Dreher (1977) S. 267.

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herabgesetzten Strafrahmen hatte.33 Insoweit gilt sinngemäß, was zu den zwingenden besonders schweren Fällen ausgeführt worden ist (Rdn. 20, 21). Unverständlich erscheint daher die durch das 37. StrÄndG vom 11.2.2005 (BGBl. I S. 23 239) in § 126 Abs. 1 Nr. 4, § 138 Abs. 1 Nr. 6 a.F. eingefügte Einschränkung „jeweils soweit es sich um Verbrechen handelt“ in Bezug auf die § 232 Abs. 3 bis 5 a.F. und § 233 Abs. 3 a.F. Nachdem es sich bei der Qualifikation des § 232 Abs. 3 a.F. bereits nach zutreffender Ansicht des Gesetzgebers um ein Verbrechen handelte (BTDrucks. 15/4048 S. 13) und gleiches für den selbständigen Tatbestand des Abs. 4 zu gelten hat, liegt die Annahme nahe, dass sich der Gesetzgeber mit seinem Einschub auf die minder schweren Fälle des Abs. 5 a.F. beziehen wollte (Schroeder GA 2005 307 f). Wegen § 12 Abs. 3 war dieser Hinweis aber überflüssig und somit lediglich als (ungewollte?) Klarstellung zu betrachten. Schroeder erblickt darin dagegen eine entsprechende Ergänzung des § 12 Abs. 3 (GA 2005 308). Der Gesetzesbegründung zu §§ 126, 138 nF ist nicht zu entnehmen, dass dem Gesetzgeber diese Problematik bei der Neufassung im Jahr 2016 bewusst gewesen ist, s. BTDrucksache 18/9095, S. 23 (Novellierung der §§ 126, 138 als „Folgeänderung“). c) Qualifikations- und Privilegierungstatbestände. Es sind selbständige Unterar- 24 ten eines bestimmten Grundtatbestandes. Das Gesetz knüpft an ihr Vorliegen Strafschärfungen oder Strafmilderungen. Der Richter hat nicht die Wahl zwischen verschiedenen Strafrahmen, sondern er hat die selbständige Strafdrohung34 anzuwenden, wenn der ihr zugeordnete Tatbestand verwirklicht ist. Daher werden zum Beispiel eine Freiheitsberaubung unter den Voraussetzungen der Absätze 3 und 4 des § 239 und ein gefährlicher Eingriff in den Bahn-, Schiffs- und Luftverkehr unter denen des Absatzes 3 des § 315 zu Verbrechen. Das Herbeiführen einer sachgefährdenden Überschwemmung wurde dagegen nach § 313 Abs. 2 a.F.35 zum Vergehen, wenn es dem Täter nur um den Schutz seines Eigentums ging. Auch qualifizierende täterbezogene Merkmale, z.B. Gewerbs- und Gewohnheitsmäßigkeit (BGHSt 4 226, 228) oder Gewinnsucht, sind für die Deliktseinteilung erheblich, sofern für diese Erscheinungsformen ein besonderer Strafrahmen vorgesehen ist, der eine andere Deliktsart begründet, wie es früher bei der gewerbsmäßigen Hehlerei der Fall war.36 d) Andere eigenständige Straftaten. § 12 Abs. 3 gilt ebenso wenig für andere ei- 25 genständige Straftaten. Hierunter fallen Tatbestände, die neben Elementen eines Grundtatbestandes weitere Merkmale aufweisen, denen das Delikt seinen besonderen Charakter verdankt. Gegenüber dem Grundtatbestand liegt ein wesensverwandtes Delikt mit eigenem Gehalt, rechtlichem Eigenleben und besonderem Wirkungsbereich vor, ein „rechtliches Einheitsgefüge neuen Wertranges“.37 Ein Schulbeispiel hierfür bildet der Raub (§ 249) im Verhältnis zu Nötigung (§ 240) und Diebstahl (§ 242). Bei verselbständigten Tatformen (Vorbereitung oder Versuch eines Delikts oder 26 Teilnahme daran) ist für die Deliktseinteilung derjenige Strafrahmen maßgebend, der für die zur Täterschaft erhobene verselbständigte Form gilt, so etwa bei § 99 Abs. 1 Nr. 1, der auch Beihilfehandlungen mit erfasst (BGHSt 24 369, 377 f), sowie bei den §§ 257, 258 und

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33 RGSt 14 298, 303; BGHSt 4 226, 228; 8 78, 79 f. Mit dem 6. StrRG vom 26.1.1998 (BGBl. I S. 164) wurde die Mindeststrafe des § 213 auf ein Jahr erhöht, so dass sich die Frage, ob es sich um ein Vergehen oder Verbrechen handelt, erledigt hat. 34 RGSt 60 111, 116; 75 237, 240; vgl. BGHSt 4 226, 228. 35 Geändert durch das 6. StrRG vom 26.1.1998 (BGBl. I S. 164). 36 Vgl. § 260 i.d.F. des 3. StrÄndG vom 4.8.1953 (BGBl. I S. 735). 37 Nagler ZAkDR 1940 365; Mezger LK8 Einl. Anh. 3 Anm. II 1, S. 44.

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259. Bei der öffentlichen Aufforderung zu Straftaten nach § 111 Abs. 1 und bei der Verleitung eines Untergebenen zu einer Straftat (§ 357) hängt die Deliktsnatur allein wegen der Verweisungstechnik im Ergebnis von der Bezugstat ab. Die erfolglose öffentliche Aufforderung zu Straftaten (§ 111 Abs. 2) ist jedoch Vergehen. Auch der Vollrausch (§ 323a) ist ohne Rücksicht auf die Rechtsnatur der Rauschtat stets Vergehen.38 Der Versuch der Beteiligung an einem Verbrechen (§ 30) bleibt trotz obligatorischer Strafmilderung immer Verbrechen (§ 12 Abs. 3). Bisweilen ist streitig, ob eine Norm einen eigenständigen Tatbestand oder einen 27 benannten Strafänderungsgrund (außerhalb des Allgemeinen Teils und außerhalb der Gruppe der besonders schweren oder minder schweren Fälle) enthält (vgl. Rdn. 13, 14). Doch hängt die Einteilung der Straftaten in Verbrechen und Vergehen von der Beantwortung dieser Frage nicht ab (BGH StV 1988 388). 28 Streitig kann bei Annahme eines eigenständigen Tatbestands darüber hinaus sein, ob es sich um einen engeren, vorrangigen Spezialtatbestand handelt39 oder um eine Privilegierung gegenüber einem bestimmten Grunddelikt, die – bei Hinzutreten qualifizierender Umstände – einem schweren Delikt weichen muss. So besteht kein Zweifel, dass – wie § 216 Abs. 2 zeigt – die Tötung auf Verlangen (im Gegensatz zu Mord und Totschlag) ein Vergehen ist. Ist § 216 ein Spezialtatbestand, so bleibt, wenn seine Voraussetzungen erfüllt sind, die Tat unter allen Umständen Vergehen. Bildet er dagegen eine Privilegierung nur im Verhältnis zu § 212, so würde er von § 211 verdrängt, wenn Mordmerkmale vorliegen.40 Doch sind dies Fragen der Gesetzeskonkurrenz, die der Anwendung des § 12 Abs. 3 vorgelagert sind. Auf sie ist deshalb hier nicht weiter einzugehen. III. Übertretungen 29

Das Gesetz kennt sie seit dem Inkrafttreten des 2. StrRG am 1.1.1975 nicht mehr. Sie haben schon zuvor – insbesondere seit dem 2. Straßenverkehrssicherungsgesetz vom 26.11.1964 (BGBl. I S. 921),41 durch das die Verkehrsübertretungen in Verkehrsordnungswidrigkeiten umgestellt worden waren – ihre praktische Bedeutung weitgehend eingebüßt. Das EGStGB vom 2.3.1974 (BGBl. I S. 469)42 hat sämtliche Übertretungstatbestände sowohl im früheren 29. Abschnitt des StGB als auch im Nebenstrafrecht beseitigt. Sie wurden entweder ersatzlos gestrichen oder in Ordnungswidrigkeiten bzw. selten in Vergehenstatbestände umgewandelt. Einzelheiten hierzu finden sich bei Tröndle LK10 Rdn. 27 ff. IV. Ordnungswidrigkeiten

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Von den Straftaten (Verbrechen und Vergehen) im Sinne des § 12 sind die Ordnungswidrigkeiten zu unterscheiden. Man versteht darunter formell tatbestandsmäßige, rechtswidrige und vorwerfbare Handlungen, die mit Geldbuße bedroht sind (§ 1 Abs. 1 OWiG). Mischtatbestände, die bestimmte Handlungen mit Strafe oder Geldbuße bedrohen und bei denen die Verfolgungsbehörde im Einzelfall entscheidet, mit welcher der beiden wesensverschiedenen Sanktionen die Handlung zu ahnden ist, kennt das gelten-

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38 39 40 41 42

RGSt 70 42; vgl. OLG Hamm MDR 1966 347. Vgl. RGSt 53 293, 294; BGHSt 2 258, 259 f; 13 162, 165. Zur Problematik Jähnke LK10 § 216 Rdn. 2. Gesetzesmaterialien, BTDrucks. V/1319 S. 90, V/2600, 2601. Zur Beseitigung der Übertretungstatbestände im Einzelnen 2. Bericht, BTDrucks. V/4095 S. 47.

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Vorbemerkungen | Vor §§ 13 ff

de Recht kaum noch.43 In den seit dem OWiG vom 24.5.1968 (BGBl. I S. 481) erlassenen Vorschriften sind Straftaten und Ordnungswidrigkeiten scharf getrennt. Der Sache nach erschöpfen sich Ordnungswidrigkeiten nicht in Fällen reinen Verwaltungsungehorsams; es gibt unter ihnen auch abstrakte Gefährdungstatbestände (z.B. § 24a StVG). Es ist deshalb nicht richtig, Ordnungswidrigkeiten von vornherein von einem ethischen Unwerturteil freizustellen (vgl. BGHSt 11 263, 264). Im Vergleich zur Straftat weist die Ordnungswidrigkeit einen geringeren Unrechtsgehalt auf. Ordnungswidrigkeiten sind mit Geldbuße von mindestens fünf Euro und höchstens 31 1000 Euro bedroht (§ 17 Abs. 1 OWiG), soweit besondere Gesetze nichts anderes bestimmen. Bei geringfügigen Ordnungswidrigkeiten kann eine Verwarnung erteilt und ein Verwarnungsgeld von fünf bis 55 Euro erhoben werden (§ 56 OWiG). Geldbußen können im Gegensatz zu Kriminalstrafen auch gegen juristische Personen, nichtrechtsfähige Vereine und Personenhandelsgesellschaften festgesetzt werden (§ 30 OWiG). Für die Ordnungswidrigkeiten gibt es ein besonderes Verfahren, das von den Verwaltungsbehörden geführt wird (§§ 35 ff OWiG). Gegen den Bußgeldbescheid der Verwaltungsbehörde hat der Betroffene den Einspruch, über den das Amtsgericht entscheidet (§§ 67 ff OWiG). Gegen die Entscheidung des Amtsgerichts ist unter bestimmten Voraussetzungen die Rechtsbeschwerde an das Oberlandesgericht zulässig (§§ 79 ff OWiG). Schwierigkeiten bereitete die Einordnung des sog. Strafgeldes, dessen Einführung 32 zu Beginn der 14. Wahlperiode Ende 1998 erwogen wurde. Zur Bekämpfung der Massenkriminalität im Bagatellbereich (vor allem beim Ladendiebstahl) sollten Polizeibeamte die Möglichkeit erhalten, in gesetzlich bestimmten Fällen dem Täter ein Strafgeld aufzuerlegen und einzuziehen.44 Dagegen hat Weßlau zu Recht vorgetragen, dass ein solches Vorhaben aus verfassungsrechtlichen Gründen zunächst erforderte, die betreffenden Bagatelldelikte aus dem Kriminalstrafrecht zu entfernen, insoweit also eine Entkriminalisierung vorzunehmen.45

ZWEITER ABSCHNITT Die Tat Zweiter Abschnitt. Die Tat Vorbemerkungen Hilgendorf/Walter Vor §§ 13 ff https://doi.org/10.1515/9783110300413-017

ERSTER TITEL Grundlagen der Strafbarkeit Vorbemerkungen zu den §§ 13 ff Schrifttum Ambos Stand und Zukunft der Strafrechtsvergleichung, RW 2017 247; Anastasopoulou Deliktstypen zum Schutz kollektiver Rechtsgüter (2005); Appel Verfassung und Strafe (1998); ders. Rechtsgüterschutz durch Strafrecht? KritV 1999 278; Baumgarten Der Aufbau der Verbrechenslehre (1913); Beling Die Lehre vom Verbrechen (1906); Binding Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1: Normen und Strafgesetze, 1. Aufl. (1872) Bd. 4: Die Fahrlässigkeit (1919/20) (zit.: Binding Normen I, IV); Bloy Die dogmatische Bedeutung der Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe (1976); Bottke Das Straftaterfordernis der Rechtsgutsverletzung, Festschrift Lampe (2003) 463; Brammsen Tun oder Unterlassen? Die Bestimmung

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43 Im Gegensatz zum früheren Recht, vgl. § 1 Abs. 3, § 31 OWiG vom 25.3.1952 (BGBl. I S. 177); zu den echten und unechten Mischtatbeständen des geltenden Rechts vgl. Göhler OWiG, 17. Aufl. (2017) Vor § 1 Rdn. 33 ff. 44 Däubler-Gmelin ZRP 1999 81, 83. 45 Weßlau DRiZ 1999 225, 231 ff. Ebenso kritisch Sprenger/Fischer DRiZ 2000 111, 112.

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Hilgendorf/Walter

Vor §§ 13 ff | Zweiter Abschnitt. Die Tat

der strafrechtlichen Verhaltensformen, GA 2002 193; Braum Vom Schuldprinzip im nach-präventiven Strafrecht, KritV 2003 22; Burgstaller Das Fahrlässigkeitsdelikt im Strafrecht (1974); Degener „Die Lehre vom Schutzzweck der Norm“ und die strafgesetzlichen Erfolgsdelikte (2001); Dencker Kausalität und Gesamttat (1996); Deutscher/Körner Die strafrechtliche Produktverantwortung von Mitgliedern kollegialer Geschäftsleitungsorgane, wistra 1996 327; Diel Das Regreßverbot als allgemeine Tatbestandsgrenze im Strafrecht (1997); zu Dohna Der Aufbau der Verbrechenslehre, 2. Aufl. (1941); Dölling Anmerkung zu OLG Zweibrücken, JR 1994 520; Engisch Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände (1931); Eckstein Besitz als Straftat (2001); Engländer Kausalitätsprobleme beim unechten Unterlassungsdelikt – BGH NStZ 2000, 414, JuS 2001 958; ders. Selbsttötung in „mittelbarer Täterschaft“, Jura 2004 234; ders. Revitalisierung der materiellen Rechtsgutslehre durch das Verfassungsrecht? ZStW 127 (2015) 616; Erb Rechtmäßiges Alternativverhalten und seine Auswirkungen auf die Erfolgszurechnung im Strafrecht (1991); ders. Die Zurechnung von Erfolgen im Strafrecht, JuS 1994 449; Fiolka Das Rechtsgut (2006); Fortun Die behördliche Genehmigung im strafrechtlichen Deliktsaufbau (1998); Frisch Faszinierendes, Berechtigtes und Problematisches der Lehre von der objektiven Zurechnung des Erfolges, Festschrift Roxin (2001) 213; ders. Strafe, Straftat und Straftatsystem im Wandel, GA 2015 65; ders. Strafwürdigkeit, Strafbedürftigkeit und Straftatsystem, GA 2017 364; ders. Erfolgsgeschichte und Kritik der objektiven Zurechnungslehre – zugleich ein Beitrag zur Revisionsbedürftigkeit des Straftatsystems –, GA 2018 553; Gärditz Demokratizität des Strafrechts und Ultima Ratio-Grundsatz, JZ 2016 641; Gallas Zum gegenwärtigen Stand der Lehre vom Verbrechen, ZStW 67 (1955) 1; Geisler Zur Vereinbarkeit objektiver Bedingungen der Strafbarkeit mit dem Schuldprinzip (1998); Gimbernat Das rechtmäßige Alternativverhalten, GA 2018 65 (Teil I), 127 (Teil II); Goeckenjan Revision der Lehre von der objektiven Zurechnung (2017); Grünewald Selbstgefährdung und einverständliche Fremdgefährdung, GA 2012 364; Günther Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß (1983); Haas Die Bedeutung hypothetischer Kausalverläufe für die Tat und ihre strafrechtliche Würdigung, GA 2015 86; Haft Der doppelte Irrtum im Strafrecht, JuS 1980 430, 588 und 659; Hardtung Der Irrtum über die Schuld im Lichte des § 35 StGB, ZStW 108 (1996) 26; Hassemer Theorie und Soziologie des Verbrechens (1973) (zit.: Hassemer Theorie); ders. 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Vorsätzliche und fahrlässige Tötung bei ernstlichem Sterbebegehren des Opfers, NStZ 2004 1; Herzberg/Hardtung Grundfälle zur Abgrenzung von Tatumstandsirrtum und Verbotsirrtum, JuS 1999 1073; Hilgendorf Fragen der Kausalität bei Gremienentscheidungen am Beispiel des Lederspray-Urteils, NStZ 1994 561; ders. Zur Lehre vom „Erfolg in seiner konkreten Gestalt“, GA 1995 515; Hirsch Das Schuldprinzip und seine Funktion im Strafrecht, ZStW 106 (1994) 746; ders. Die aktuelle Diskussion über den Rechtsgutbegriff, Festschrift Spinellis (2001) 425; Hölzel Gibt es „Tätigkeitsdelikte“? (2016); Hörnle Grob anstößiges Verhalten (2005); Hübner Die Entwicklung der objektiven Zurechnung (2004); Jakobs Der strafrechtliche Handlungsbegriff (1992) (zit.: Jakobs Handlungsbegriff); ders. Strafrechtliche Haftung durch Mitwirkung an Abstimmungen, Festschrift Miyazawa (1995) 419; Chr. Jäger Willensfreiheit, Kausalität und Determination. Stirbt das moderne Schuldstrafrecht durch die morderne Hirnforschung? GA 2013 3; Jescheck Neue Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik in rechtsvergleichender Sicht, ZStW 98 (1986) 1; ders. Entwicklung, Aufgaben und Methoden der Strafrechtsvergleichung (1955) (zit.: Jescheck Strafrechtsvergleichung); ders./Kaiser (Hrsg.) Die Vergleichung als Methode der Strafrechtswissenschaft und der Kriminologie (1980) (zu diesem Tagungsband zusammenfassend Dörken ZStW 91 [1979] 835); Jung Wertende (Straf-)Rechtsvergleichung. Betrachtungen über einen elastischen Begriff, GA 2005 2; ders. Grundfragen der Strafrechtsvergleichung, JuS 1998 1; Armin Kaufmann Zum Stande der Lehre vom personalen Unrecht, Festschrift Welzel (1974) 393; Arthur Kaufmann Das Schuldprinzip, 2. Aufl. (1976) (zit.: Arthur Kaufmann Schuldprinzip); Klimsch Die dogmatische Behandlung des Irrtums über Entschuldigungsgründe unter Berücksichtigung der Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe (1993); Chr. Knauer Die Kollegialentscheidung im Strafrecht (2001); F. Knauer Zur Wiederkehr der Sozialadäquanz im Strafrecht – Renaissance

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Vorbemerkungen | Vor §§ 13 ff

einer überholten Rechtsfigur oder dogmatische Kategorie der Zukunft? ZStW 126 (2014) 844; Koriath Grundlagen strafrechtlicher Zurechnung (1994); ders. Zum Streit um den Begriff des Rechtsguts, GA 1999 561; Kreis Die verbrechenssystematische Einordnung der EG-Grundfreiheiten (2008); Kudlich Die Relevanz der Rechtsgutstheorie im modernen Verfassungsstaat, ZStW 127 (2015) 635; Kuhlen Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nichtvorsatzausschließendem Irrtum (1987); Kühl Der Zusammenhang von Strafe und Strafrecht, Festschrift Dölling (2003) 439; ders. Die ethisch-moralischen Grundlagen des Strafrechts, ZStW 116 (2004) 870; Kühne Strafrechtliche Produkthaftung in Deutschland, NJW 1997 1951; Küpper Grenzen der normativierenden Strafrechtsdogmatik (1990); ders. Der Täter als „Werkzeug“ des Opfers? – BGH NJW 2003, 2326, und OLG Nürnberg NJW 2003, 454, JuS 2004 757; Lagodny Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996); Lampe Gedanken zum materiellen Straftatbegriff, Festschrift Schmitt (1992) 77; Lesch Der Verbrechensbegriff (1999); von der Linde Rechtfertigung und Entschuldigung im Strafrecht? (1988); M.E. Mayer Der Allgemeine Teil des deutschen Strafrechts (1915) (zit.: M.E. Mayer AT); Mir Puig Objektive Rechtswidrigkeit und Normwidrigkeit im Strafrecht, ZStW 108 (1996) 759; Mitsch Opfer und Schuldurteil, in Fischer/Hoven (Hrsg.), Schuld (2017) 303; Müller-Dietz Hirnforschung und Schuld, GA 2006 338; Murmann Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht (2005); Naucke Wissenschaftliches Strafrechtssystem und positives Strafrecht, GA 1998 263; Otto Risikoerhöhungsprinzip statt Kausalitätsgrundsatz als Zurechnungskriterium bei Erfolgsdelikten, NJW 1980 417; ders. 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Festschrift Roxin (2001) 287; Rath Das subjektive Rechtfertigungselement (2002); Rehr-Zimmermann Die Struktur des Unrechts in der Gegenwart der Strafrechtsdogmatik (1994); Rinck Der zweistufige Deliktsaufbau (2000); Roxin Pflichtwidrigkeit und Erfolg bei fahrlässigen Delikten, ZStW 74(1962) 411; ders. Offene Tatbestände und Rechtspflichtmerkmale, 2. Aufl. (1970) (zit.: Roxin Offene Tatbestände); ders. Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 2. Aufl. (1973) (zit.: Roxin Kriminalpolitik); ders. Die Abgrenzung von strafloser Suizidteilnahme, strafbarem Tötungsdelikt und gerechtfertigter Euthanasie, Festschrift GA (1993) 177; ders. Vorzüge und Defizite des Finalismus, Festschrift Androulakis (2003) 575; ders. Das strafrechtliche Unrecht im Spannungsfeld von Rechtsgüterschutz und individueller Freiheit, ZStW 116 (2004) 929; ders. Der Streit um die einverständliche Fremdgefährdung, GA 2012 655; Röh Die kausale Erklärung überbedingter Erfolge im Strafrecht (1995); Rudolphi Vorhersehbarkeit und Schutzzweck der Norm in der strafrechtlichen Fahrlässigkeitslehre, JuS 1969 549; Samson Hypothetische Kausalverläufe im Strafrecht (1972); Satzger Die Europäisierung des Strafrechts (2001) (zit.: Satzger Europäisierung); Schaal Strafrechtliche Verantwortlichkeit bei Gremienentscheidungen in Unternehmen (2001); Schaffstein Handlungsunwert, Erfolgsunwert und Rechtfertigung bei den Fahrlässigkeitsdelikten, Festschrift Welzel (1974) 557; Schlehofer Vorsatz und Tatabweichung (1996); Schlüchter Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale im Strafrecht (1983); Schmid Das Verhältnis von Tatbestand und Rechtswidrigkeit aus rechtstheoretischer Sicht (2002); Schmoller Fremdes Fehlverhalten im Kausalverlauf, Festschrift Triffterer (1996) 223; Hendrik Schneider Kann die Einübung in Normanerkennung die Strafrechtsdogmatik leiten? Eine Kritik des strafrechtlichen Funktionalismus (2004); Schroeder Das Strafgesetzbuch als Straffreistellungsgesetzbuch, Festschrift Eser (2005) 181; Schroth Vorsatz und Irrtum (1998); Schünemann (Hrsg.) Grundfragen des modernen Strafrechtssystems (1984) (zit.: Schünemann Grundfragen); ders. Kritische Anmerkungen zur geistigen Situation der deutschen Strafrechtswissenschaft, GA 1995 201; ders. Über die objektive Zurechnung, GA 1999 207; Schwegler Der Subsumtionsirrtum (1995); Silva Sánchez Probleme der Zurechnung bei impulsivem Handeln, JRE 2 (1994) 505; Sofos Mehrfachkausalität beim Tun und Unterlassen (1999); Sowada Zur strafrechtlichen Zurechenbarkeit von durch einen Primärtäter ausgelösten Retterunfällen, JZ 1994 663; Spendel Der Begriff des Unrechts im Verbrechenssystem, Festschrift Weber (2004) 3; ders. Zur Dogmatik der unechten Unterlassungsdelikte, JZ 1973 137; Struensee Verursachungsvorsatz und Wahnkausalität, ZStW 102 (1990) 21; Suárez González Zur Strafbarkeit von Kollegialorganen des Unternehmens, in Schünemann/Suárez S. 49; Swoboda Die Lehre vom Rechtsgut und ihre Alternativen, ZStW 122 (2010) 24; Tiedemann Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht

773

Walter

Vor §§ 13 ff | Zweiter Abschnitt. Die Tat

(1969) (zit.: Tiedemann Tatbestandsfunktionen); ders. Die Anfängerübung im Strafrecht, 4. Aufl. (1999) (zit.: Tiedemann Anfängerübung); ders. Vom Nutzen der Rechtsvergleichung für das Wirtschaftsstrafrecht – Kurze Bemerkungen zum „Corpus Juris“ und zu den „Europa-Delikten“, in Niggli/Queloz (Hrsg.) Strafjustiz und Rechtsstaat: Symposium zum 60. Geburtstag von Franz Riklin und José Hurtado Pozo (2003) 69; Toepel Kausalität und Rechtswidrigkeitszusammenhang beim fahrlässigen Erfolgsdelikt (1992); Ulsenheimer Erfolgsrelevante und erfolgsneutrale Pflichtverletzungen im Rahmen der Fahrlässigkeitsdelikte, JZ 1969 364; Vogel Norm und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten (1993); Volk Kausalität im Strafrecht, NStZ 1996 105; T. Walter § 298 StGB und die Lehre von den Deliktstypen, GA 2001 131; ders. Positive und negative Erfolgsdelikte – Handeln und Unterlassen, ZStW 116 (2004) 555; ders. Hirnforschung und Schuldbegriff, Festschrift Schroeder (2006) 131; ders. Der Kern des Strafrechts (2006) (zit.: T. Walter Kern des Strafrechts); ders. Einführung in das internationale Strafrecht, JuS 2006 870 und 967; ders. Die Beweislast im Strafprozeß, JZ 2006 340; ders. Die Lehre von der „einverständlichen Fremdgefährdung“ und ihre Schwächen – eine Verteidigung der Rechtsprechung, NStZ 2013 673; ders. Das Märchen von den Tätigkeitsdelikten, Festschrift Beulke (2015) 327; Weigend Selbst schuld? Zur Zurechnung von Tatfolgen, an deren Entstehung der Verletzte mitgewirkt hat, Festschrift Rengier (2018) 135; Weißer Kausalitäts- und Täterschaftsprobleme bei der strafrechtlichen Würdigung pflichtwidriger Kollegialentscheidungen (1996); Welzel Studien zum System des Strafrechts, ZStW 58 (1939) 490; Wolter Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem (1981); Wolter/Freund (Hrsg.) Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß im gesamten Strafrechtssystem (1996) (dazu Naucke GA 1998 263); Würtenberger Die geistige Situation der deutschen Strafrechtswissenschaft, 2. Aufl. (1959); Zaczyk Strafrechtliches Unrecht und die Selbstverantwortung des Verletzten (1993); Zieschang Die Gefährdungsdelikte (1998).

Zweiter Abschnitt. Die Tat Vorbemerkungen Walter Vor §§ 13 ff I.

II.

Übersicht Inhalt und Zweck der allgemeinen Verbrechenslehre 1. Grundaufgabe der allgemeinen Verbrechenslehre | 1 2. Grundzüge der allgemeinen Verbrechenslehre a) Der herrschende Verbrechensbegriff | 2 b) Das Verhältnis des Strafrechts zum sonstigen Recht | 4 3. Funktionale Verbrechenslehren | 7 4. Das Rechtsgut a) Aufgaben des Rechtsgutbegriffs | 8 b) Rechtsgut und Angriffsobjekt | 13 c) Das Verbrechen als Pflichtverletzung | 15 5. Das Strafrecht und die Bestimmungsnormen a) Bewertungsnormen und Bestimmungsnormen | 17 b) Rein subjektive Unrechtslehre? | 18 c) Handlungs- und Erfolgsunrecht oder -unwert | 19 6. Viktimodogmatik? | 20 Die geschichtliche Entwicklung der allgemeinen Verbrechenslehre

Walter

Überblick | 21 Der klassische Verbrechensbegriff | 22 3. Der neoklassische Verbrechensbegriff | 23 4. Der Finalismus | 24 5. Die gegenwärtig h.L. | 26 6. Funktionaler und postfinalistischer Verbrechensbegriff | 27 Die Handlung 1. Gegner eines vortatbestandlichen Handlungsbegriffs | 28 2. Der vortatbestandliche Handlungsbegriff a) Die Handlungslehren im Überblick | 29 b) Der natürliche Handlungsbegriff als vorzugswürdige Lösung | 30 3. Einzelfälle a) Noch-Handlungen | 37 b) Nicht-Handlungen | 38 4. Das Verhältnis des Handlungsbegriffs zu Vorsatz und Schuld | 39 Der Tatbestand 1. Tatbestandsbegriffe | 40 2. Aufgabe und Aufbau des Tatbestandes a) Der Tatbestand als Typus | 41 b) Normative und deskriptive Merkmale? | 42 1. 2.

III.

IV.

774

Vorbemerkungen | Vor §§ 13 ff

c)

3.

4.

775

Tatbestandsausschlüsse aa) Die Wortwahl des Gesetzes | 43 bb) Zwei Arten von Tatbestandsausschlüssen | 45 cc) Tatbestandsausschlüsse und Strafausschließungsgründe | 46 dd) Die verwaltungsrechtliche Erlaubnis | 51 d) „Gesamttatbewertende Merkmale“? | 55 Deliktstypen a) Allgemein- und Sonderdelikte, Pflicht- und Herrschaftsdelikte, eigenhändige Delikte | 58 b) Zustands- und Dauerdelikte | 62 c) Tätigkeits- und Erfolgsdelikte | 63 d) Gefährdungs- und Verletzungsdelikte; konkrete und abstrakte Gefährdungsdelikte; potentielle Gefährdungsdelikte; Kumulationsdelikte | 65 e) Unternehmensdelikte | 69 f) Vergehen und Verbrechen | 70 g) Unselbständige Abwandlungen und eigenständige Delikte | 71 Die Ursächlichkeit des Verhaltens (Kausalität) a) Kausalität als objektiver Tatbestand | 72 b) Der Maßstab der Kausalität (Kausalitätslehren) | 73 c) Scheinprobleme und Probleme mit konsolidierter Lösung | 75 d) Problemfälle aa) Die „konkrete Gestalt“ des Erfolges und Begleitumstände | 79 bb) Naturwissenschaftliche Zweifel | 80 cc) Gremienbeschlüsse | 82 e) Die Ursächlichkeit des Unterlassens aa) h.M. und Risikoerhöhungslehre | 86 bb) Der Erfolg in seiner „konkreten Gestalt“ | 87 cc) Mehrere Handlungspflichtige müssten zusammenwirken | 88

5.

V.

Die Lehre von der objektiven Zurechnung | 89 a) Unerlaubt riskantes Verhalten | 90 aa) Sozialadäquanz? | 91 bb) Erlaubtes Risiko und Vertrauensgrundsatz | 92 cc) Risikominderung? | 93 dd) Äußerlich verkehrsgerechtes Verhalten | 94 b) Verwirklichung der Gefahr aa) Atypischer Kausalverlauf | 95 bb) Fehlender Rechtswidrigkeitszusammenhang (1) Schutzbereich der Verhaltensnorm | 96 (2) Rechtmäßiges Alternativverhalten | 99 cc) Eingreifen Dritter und Verantwortungsprinzip (1) Fallgestaltungen | 103 (2) Ausnahmen vom Verantwortungsprinzip | 105 dd) Eigenverantwortliche Selbstgefährdung und -schädigung (1) Grenzen der Eigenverantwortung | 112 (2) Ausnahmen vom Eigenverantwortungsprinzip | 114 ee) Einverständliche Fremdgefährdung? (1) Die Lehre Roxins und die h.M. | 122 (2) Die Abgrenzung von Selbst- und Fremdgefährdung (-schädigung) und ihre Bedeutung | 123 6. Der subjektive Tatbestand und die personale Unrechtslehre | 137 Die Rechtswidrigkeit 1. Formelle und materielle Rechtswidrigkeit (Unrecht) | 144 2. Der Begriff der rechtswidrigen Tat (§ 11 Abs. 1 Nr. 5) | 145 3. Der objektive Unrechtsbegriff | 146 4. Rechtfertigungsgründe | 147 a) Die Wirkung der Rechtfertigungsgründe | 148

Walter

Vor §§ 13 ff | Zweiter Abschnitt. Die Tat

b)

Tatbestandsbindung und Quellen der Rechtfertigungsgründe | 152 c) Der subjektive Erlaubnistatbestand | 155 d) Rechtfertigungsgründe als negative Tatbestandsmerkmale | 158 VI. Die Schuld 1. Der Schuldgrundsatz | 159 2. Der Schuldbegriff | 163 a) Der normative Schuldbegriff (h.M.) | 164 aa) Der Kern des normativen Schuldbegriffs | 165 bb) Normative Erweiterungen | 166 cc) Normative Einschränkungen, insbesondere Entschuldigungsgründe | 167 b) Der funktionale Schuldbegriff aa) Jakobs | 172 bb) Roxin | 174 3. Besondere Schuldelemente? a) „Spezielle Schuldmerkmale“? | 176 b) „Gesinnungsmerkmale“? | 179 c) Zur Doppelstellung des Vorsatzes | 180 VII. Regelungen jenseits von Unrecht und Schuld 1. Objektive Bedingungen der Strafbarkeit a) Allgemeines nach h.M. | 181 b) Kritik | 183

c)

Zur prozessualen Doppelwirkung | 184 d) Die Wortwahl des Gesetzes | 185 2. Strafausschließungsgründe a) Allgemeines nach h.M. | 186 b) Kritik | 188 c) Beispiele nach h.M. und abweichende Stimmen | 189 3. Strafaufhebungsgründe a) Beispiele nach h.M. und abweichende Stimmen | 191 b) Kritik | 193 4. Postfinalistisches Modell: Opportunitätsregeln a) Zwei Arten von Opportunitätsregeln | 194 b) Nachsichtsregeln | 196 c) Rechtsfolgen entlastender Opportunitätsregeln | 197 d) Die Irrtumsdogmatik der Opportunitätsregeln | 198 5. Regelungen außerhalb des Verbrechenssystems? a) § 8 TMG | 199 b) Unmittelbar wirkendes EU-Recht | 200 VIII. Rechtsvergleichung 1. Bedeutung | 202 2. Tradition | 204 3. Methodik | 205 4. Schrifttum | 210

I. Inhalt und Zweck der allgemeinen Verbrechenslehre 1

1. Die allgemeine Lehre vom Verbrechen ist Kern und Grundlage der Strafrechtsdogmatik. Sie versucht, das Verbrechen in einem allgemeinen begrifflichen Modell zu erfassen, das heißt in kategorienstiftenden Oberbegriffen. Zum tatsächlichen Geschehen – dem Schuss auf das Opfer und so fort – hat sie in etwa ein Verhältnis wie das Atommodell zum Atom. Im Unterschied zu den Atommodellen hat das Verbrechensmodell allerdings nicht Vorgefundenes zu erklären, sondern das von Menschenhand und Menschengeist geschaffene (und veränderbare) geltende Recht. Ziel ist die Lehr-, Lern- und Handhabbarkeit des materiellen Strafrechts. Dabei ist die allgemeine Verbrechenslehre zwar kein Prüfungsschema, hat aber mit einem solchen Schema Gemeinsamkeiten, denn sie achtet bei der Kategorienbildung auch auf Vorrangverhältnisse. So lässt sich ein Rechtssatz in der herrschenden Verbrechenslehre nur dann als Entschuldigungsregel einordnen, wenn feststeht, dass er weder ein Tatbestandsausschluss noch eine Rechtfertigung ist. Nichtsdestoweniger können in einer Prüfungsfolge Rechtssätze aus ein und derselben Kategorie an unterschiedlicher Stelle Bedeutung gewinnen. Zum Beispiel gehören sowohl §§ 18 ff GVG als auch die Vorschriften zu Strafanträgen in die gemeinsame Kategorie des Prozessrechts, sind aber bei der strafrechtlichen Würdigung eines Falles im herkömmlichen Prüfungsschema an ganz unterschiedlicher Stelle zu untersuchen. Walter

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Vorbemerkungen | Vor §§ 13 ff

2. a) Der herrschende Verbrechensbegriff ist je nach Zählweise drei-, vier- oder 2 fünfgliedrig. Eine Straftat ist danach erstens eine Handlung, die zweitens einen Tatbestand erfüllt und drittens rechtswidrig sowie viertens schuldhaft ist.1 Die Regelungen jenseits von Unrecht und Schuld bleiben dabei ausgeklammert, bilden aber im herrschenden System sehr wohl eine eigene Kategorie und sind als materielles Recht auch für das Ob der Strafbarkeit von Belang. Für das Recht der Ordnungswidrigkeiten hat § 1 OWiG diese Einteilung in einer Legaldefinition übernommen. Im Strafgesetzbuch gibt es zwar keine vergleichbare Vorschrift, doch geht aus der Begrifflichkeit des Allgemeinen Teils hervor, dass dessen Schöpfern das gleiche System vorschwebte (näher Jescheck LK11 Rdn. 3). In der Auseinandersetzung um die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen (Rdn. 158) bezeichnet man das herrschende System meist als dreistufiges (aus Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld), dem in besagter Lehre ein zweistufiges aus Unrecht und Schuld gegenübersteht. Der Wortlaut des Gesetzes spiegelt also das viergliedrige System, zwingt es der 3 Dogmatik aber nicht auf. Zwar darf nach heute herrschender, zutreffender Ansicht auch der Wortlaut von Vorschriften des Allgemeinen Teils nicht zum Nachteil der Rechtsunterworfenen überschritten werden. 2 Und Unterschiede in der Kategorisierung eines Rechtssatzes können für ihn von Nachteil sein; etwa nimmt es ihm in der Regel den Schutz des Rückwirkungsverbotes, wenn eine Regelung dem Prozessrecht zugeschlagen wird statt dem materiellen Recht. Doch zum einen ist der Nachteil im Sinne der Wortlautschranke immer nur der Schritt von der Straffreiheit in die Strafbarkeit und kann diese Schranke daher zum Beispiel nicht verhindern, eine Vorschrift als Strafausschließungsgrund einzustufen, obwohl deren Text von Entschuldigung spricht (vgl. Roxin AT I § 19 Rdn. 8 zu § 35). Zum anderen sind die Begriffe des Gesetzes auslegungsfähig und sagt etwa ein Wort wie „rechtswidrig“ zunächst noch nichts dazu, ob und in welchem Maße diese Rechtswidrigkeit ein subjektives Element enthält, das heißt bestimmte Kenntnisse oder Absichten des Täters voraussetzt. Auch Formulierungen, die nach ihrem Wortlaut Tatbestandsausschlüsse nahelegen, sind einer abweichenden verbrechenssystematischen Einordnung zugänglich (Rdn. 52). Insgesamt und schlussendlich lässt sich das Gesetz daher trotz einer Vorprägung als verbrechenssystematisch neutral beschreiben. b) Für die allgemeine Verbrechenslehre wichtig ist das Verhältnis des Strafrechts 4 zum sonstigen Recht, genauer das Verhältnis der strafrechtlichen Verbots- und Erlaubnissätze zu denen des übrigen Rechts. Am weitesten reichen in der menschlichen Gesell-

_____

1 BGHSt 1 131, 132; RGSt 61 242, 247; Jescheck LK11 Rdn. 4 m.w.N.; krit. Naucke GA 1998 263, 266 ff. 2 BGHSt 42 158, 161 = JuS 1997 178 m. Bspr. Martin (weitere Anm./Bspr.: Anders GA 2000 64; Beineke JuS 1997 1151; Jäger NStZ 1998 161; Küper JZ 1997 229; Sonnen JA 1997 184); BGHSt 42 235, 241 f = StV 1997 21 m. Anm. Neumann (weitere Anm./Bspr.: Ambos NJW 1997 2296; Gottwald JA 1998 343; ders. DAR 1997 302; Hardtung NZV 1997 97; Hirsch JR 1997 391; Horn StV 1997 264; Hruschka JZ 1997 22; Klump DRiZ 1997 77; Martin JuS 1997 377; Mutzbauer JA 1997 97; Otto Jura 1999 217; Satzger NStZ 1998 112; Spendel JR 1997 133; Wolff NJW 1997 2032); BGHSt 39 1, 27 f = StV 1993 9 m. Anm. Günther (weitere Anm./Bspr.: Adomeit NJW 1993 2914; Amelung JuS 1993 637; Bartmann NZWehrR 2000 244; Bohnert DtZ 1993 167; Dannecker Jura 1994 585; Fiedler JZ 1993 206; Herrmann NStZ 1993 118; Jung JuS 1993 601; König JR 1993 207; Ott NJW 1993 337; Quambusch Kriminalistik 1994 74; Rautenberg/Burges DtZ 1993 71; Schroeder JR 1993 45; Solbach JA 1993 90; Spendel RuP 1993 61; Starck JZ 2001 1102; Wilms/Ziemske ZRP 1994 170); Dannecker LK § 1 Rdn. 300 ff; Hirsch LK11 Vor § 32 Rdn. 37 ff; Jescheck/Weigend § 31 III 3 (S. 328); Maurach/Zipf § 8 Rdn. 41; Rinck S. 454 ff; Schmid S. 101; Sch/Schröder/Eser/Hecker § 1 Rdn. 27; Tiedemann Tatbestandsfunktionen, S. 201. Wohl auch Stratenwerth/Kuhlen § 3 Rdn. 26. Anders die früher h.M.: RGSt 56 161, 168; Hardwig ZStW 78 (1966) 1, 8; Mezger Strafrecht, S. 85; Sch/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vor § 32 Rdn. 25; Tröndle LK10 § 1 Rdn. 38.

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Vor §§ 13 ff | Zweiter Abschnitt. Die Tat

schaft die Verbote und Lizenzen des Sittlichen, von der höchsten Moral bis hin zu einfachen Regeln der Höflichkeit. Nur ein Teil dieser Normen bekommt im Recht Gestalt. Insgesamt wird die normierte Fläche an dieser Stelle also schmaler, mögen die einzelnen Normen auch wesentlich detailreicher sein. Das Recht ist ein Überbau des Sittlichen. Dies aber nur dort, wo die Sitte so stabil ist, dass sie die Belastung durch das Recht trägt (gesellschaftlich erträglich macht). Das Recht ist eine Belastung, weil es mit Zwang durchgesetzt werden kann. Ihn erträgt die Gesellschaft nur, wo sie mit seinen Voraussetzungen in besonderem Maße einverstanden ist. Wiederum nur ein Ausschnitt der rechtlichen Verbote wird auch Strafrecht. Ausgeschlossen ist es daher, dass etwas strafbar, aber im Übrigen rechtmäßig wäre. Das nennt man die Akzessorietät des Strafrechts und macht es zu einer sekundären Rechtsordnung.3 Umgekehrt jedoch kann etwas außerstrafrechtlich rechtswidrig sein, ohne strafrechtswidrig zu sein, nämlich ohne dass es einen Straftatbestand gäbe. Das ist der „fragmentarische Charakter“ des Strafrechts (Binding Lehrbuch I S. 20). Er verdankt sich dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der „Ultima ratio“-Funktion des Strafrechts (BVerfGE 39 1, 47). — Das Strafgesetzbuch meint mit dem Begriff der Rechtswidrigkeit in der Regel einen Verstoß gegen irgendeine Rechtsnorm, nicht notwendig gegen eine des Strafrechts. So ist es zum Beispiel in § 32. Anders aber in § 240 Abs. 2, wo nur die Strafrechtswidrigkeit gemeint ist. Und daher mag es sein, dass eine Gewaltanwendung nach dem Maßstab des § 240 Abs. 2 noch nicht rechtswidrig (verwerflich) ist, dass sie aber gleichwohl als rechtswidriger Angriff im Sinne von § 32 zur Notwehr berechtigt. Entsprechendes gilt für die Regelungen in § 237 Abs. 1 Satz 2 und § 253 Abs. 2, die derjenigen in § 240 Abs. 2 gleichen. Allerdings wirken der Strafgesetzgeber und die Strafrechtsprechung keineswegs 5 in dem Sinne rein reaktiv, dass sie stets warten müssten, bis ihnen das sonstige Recht – Gesetz oder Rechtsprechung – die Grundlage für akzessorische Normen liefert. Vielmehr können der Strafgesetzgeber und die Strafrechtsprechung in eigener Regie auf anderen Rechtsgebieten Verbote erzeugen, die dort vormals unbekannt gewesen sind, denn „die Verhaltensnorm kann auch mit der Sanktionsnorm zu einem Deliktstatbestand zusammengefasst werden“ (Appel KritV 1999 278, 307). Erhielte zum Beispiel der Betrugstatbestand den inhaltlich sehr vernünftigen Passus: „Wer eine vertraglich geschuldete Leistung anbietet, versichert schlüssig, das Angebotene sei vertragsgemäß“, und behauptete jemand, das Zivilrecht sehe dies anders, dann könnte ihm der Gesetzgeber entgegnen: jetzt nicht mehr. Grenzen findet diese Wirkmacht, soweit es den Gesetzgeber betrifft, erst in den Regeln über die Zuständigkeit in der Gesetzgebung (Art. 70 ff GG). Etwa kann der Bundesgesetzgeber nicht durch Strafrecht Pflichten im Schulrecht erzeugen, für das die Länder zuständig sind, zum Beispiel eine Meldepflicht des Schulleiters gegenüber der Schulbehörde. Ferner darf der Strafgesetzgeber keine Normwidersprüche schaffen. Er darf kein Verhalten unter Strafe stellen, von dem ein anderes Bundesgesetz sagt, es gehe in Ordnung. Die außerstrafrechtliche Wirkmacht der Strafrechtsprechung hat ihre Grenzen nur in den gesetzlichen Vorschriften zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung (insbesondere § 121 Abs. 2, § 132 Abs. 2 bis 4 GVG; zu einem älteren Beispiel Voraufl. Rdn. 5). 6 Akzessorietät und fragmentarischer Charakter des Strafrechts legen es nahe, dass sich entlastende Rechtssätze des Strafrechts gegen belastende Rechtssätze ebenfalls und allein des Strafrechts richten. Denn der Strafgesetzgeber darf zwar in andere Rechtsgebiete hineinwirken – siehe Rdn. 5 –, hat dazu aber kaum einen Grund. Es gibt auch keine Notwendigkeit dieser Art. Indessen wirken bestimmte entlastende Rechtssätze des

_____ 3

Appel KritV 1999 278, 306 f; Freund MK Rdn. 46; Frisch NStZ 2016, 16, 17; Gärditz JZ 2016 641, 642.

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Vorbemerkungen | Vor §§ 13 ff

Strafrechts nach herrschender Ansicht sehr wohl auch außerhalb des Strafrechts, und zwar die Rechtfertigungsgründe (Rdn. 148 f). 3. Ein Großteil der Lehre verlangt, das Verbrechenssystem funktional zu gestalten.4 7 Darunter ist eine Begriffsbildung zu verstehen, die sich am Zweck der Strafe orientiert. Dieser Zweck ist nach den bislang vertretenen funktionalen Verbrechenslehren die Prävention, also das Verhindern jener Delikte, die mit Strafe sind (positive und negative Generalprävention, Spezialprävention). Zwar leuchtet es ein, den Kreis des Strafbaren in Abhängigkeit davon zu ziehen, was Strafen bewirken sollen (anders die Voraufl.). Allerdings begibt sich dann in einen Begründungszirkel, wer meint, Strafen dienten der Verhinderung neuer Delikte von der Art der unter Strafe gestellten Tat. Denn dieser Strafzweck setzt voraus, dass bereits bekannt ist, welche Handlungen unter Strafe stehen – schließlich soll die Verhinderung just solcher Handlungen der Strafzweck sein. In der allgemeinen Verbrechenslehre geht es aber gerade darum, diese Handlungen genauer zu definieren. Ein weiterer Einwand gegen die bisherigen präventiv-funktionalen Bestrebungen ist deren Gleichgültigkeit gegenüber den realen Wirkungen einer Strafe. Wer etwa den Schuldbegriff, also die Voraussetzungen der Schuld, nach den Erfordernissen der positiven Generalprävention bestimmen will, muss sich dafür interessieren, was eine solche Bestärkung des Normvertrauens bewirkt und was ihr schadet. Von derartigen kriminologisch-empirischen Bemühungen zeichnen sich die Vertreter präventivfunktionaler Verbrechenslehren indes frei. Es gehe nicht um empirisch belegbare Forderungen eines Strafzwecks, sondern um eine normative Betrachtung. Sie führt jedoch entweder erneut in Begründungszirkel: Was macht die Schuld aus? Was die Prävention verlangt. Was verlangt die Prävention? Was das Gesetz der Schuld voraussetzt. Oder: Wann ist eine Entlastung gemäß § 35 möglich? Wenn eine Bestrafung generalpräventiv entbehrlich ist. Wann ist sie das? Soweit § 35 dies bestimmt (T. Walter Kern des Strafrechts, S. 113 f, 140 f). Oder sie führt zu extemporierend und laienlogisch behaupteten Folgerungen: diesen oder jenen Fall werte die Öffentlichkeit als weniger tragisch, weswegen keine Strafe nötig sei, in jenem anderen Fall könne auf sie jedoch nicht verzichtet werden und so fort (aaO S. 140 f, 146 f, 152, 157). Hauptvertreter einer präventivfunktionalen Verbrechenslehre sind Jakobs und Roxin. Zu den wichtigsten Folgerungen aus ihren Lehren Rdn. 172 ff. — Größere Aussicht auf eine stimmige funktionale Verbrechenslehre besteht, wenn man den Strafzweck darin erkennt, den Gerechtigkeitsintuitionen der Bürger zu entsprechen, das heißt gemäß diesen Intuitionen für einen gerechten Schuldausgleich zu sorgen – was nichts anderes ist als gerechte Vergeltung (zu diesem Strafzweck zusammenfassend T. Walter Strafe und Vergeltung – Rehabilitation und Grenzen eines Prinzips [2016]). Der Entwurf einer solchen retributiv-funktionalen Verbrechenslehre steht noch aus. In ihr käme es zum Beispiel für übergesetzliche Entschuldigungsgründe nicht darauf an, was Dogmatik, Rechtsphilosophie oder sonstige metarechtliche Erwägungen vermeintlich gebieten, sondern darauf, wann eine klare Mehrheit der Rechtsunterworfenen nachhaltig Verständnis dafür hat, dass jemand eine Forderung des Rechts missachtet – und aus diesem Grund gegenüber dem Täter kein nennenswertes Vergeltungsbedürfnis entwickelt.

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4 Da Costa Andrade in Schünemann/de Figueiredo Dias S. 121 ff; Freund MK Rdn. 2, 27; Frisch GA 2015 65, 75 ff, 81; Jakobs AT 17/18 f m. Fn. 45b; Kuhlen S. 320; Lackner JZ 1978 210, 211; Lesch S. 1 ff, 175, 277; von der Linde S. 159 ff; Pawlik S. 17 u.ö.; Roxin AT I § 7 Rdn. 26 ff; Schmidhäuser AT 6/2 ff; Schünemann GA 2006 378, 380 f; Wolter S. 21 f; krit. Jescheck LK11 Rdn. 23; Sch/Schröder/Eisele Rdn. 22; Hendrik Schneider S. 14 f u.ö.

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Vor §§ 13 ff | Zweiter Abschnitt. Die Tat

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4. a) Ein wichtiger Baustein der Verbrechenslehre ist der Begriff des Rechtsguts, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch Birnbaum Eingang in die Dogmengeschichte fand und dem später vor allem Binding – nach einem Wort Armin Kaufmanns – das „Bürgerrecht“ in der Strafrechtslehre verschafft hat.5 Ihm werden folgende Aufgaben zugedacht: – Er soll die Berechtigung (Legitimation) eines Tatbestandes belegen oder nachweisen, dass sie fehlt. Mit anderen Worten soll es nur Tatbestände geben dürfen, die ein Rechtsgut gegen eine Gefährdung oder Verletzung (seiner Äußerungen) schützen statt lediglich eine Ideologie, eine Moralvorstellung, ein Tabu oder nicht billigenswerte Partikularinteressen (systemkritische oder Legitimierungsfunktion).6 – Er soll die Auslegung leiten. Es sollen in der Auslegung nur Handlungen strafbar werden, die sich gegen das betroffene Rechtsgut richten (auslegungsleitende Funktion).7 – Er soll den Besonderen Teil und das Nebenstrafrecht ordnen, indem dort Tatbestände zusammengefasst werden – in Gesetzen, Gesetzesabschnitten oder -titeln –, die das gleiche Rechtsgut schützen (Systematisierungsfunktion).8 – Er soll in der Konkurrenzenlehre die Reichweite der Idealkonkurrenz (mit-)bestimmen in Abgrenzung zur Gesetzeskonkurrenz, indem Idealkonkurrenz zwischen Tatbeständen anzunehmen ist, die unterschiedliche Rechtsgüter schützen (konkurrenzdogmatische Funktion).9 – Er soll zwischen Rechtsgütern des Einzelnen und solchen der Allgemeinheit unterscheiden (Rdn. 13) und so festlegen, bei welchen Tatbeständen eine rechtfertigende Einwilligung möglich ist (nur bei denen zum Schutze von Individualrechtsgütern, Einwilligungsfunktion).10

9

Gegenüber der Legitimierungsfunktion vertritt ein Teil des Schrifttums zu Recht ein abweichendes Konzept und geht davon aus, dass es sich um eine kriminalpolitische Frage handele, für die allein die Verfassung rechtliche Maßstäbe vorgebe, und zwar

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5 Binding Normen I, S. 187 ff; Birnbaum Über das Erfordernis einer Verletzung zum Begriffe des Verbrechens, mit besonderer Berücksichtigung auf den Begriff der Ehrenkränkung, Archiv des Criminalrechts (N. F.) 15 (1834) 149; Armin Kaufmann Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie (1954) S. 69. Näher Amelung Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft (1972) S. 15 ff, 38 ff, 43 ff; Hefendehl Kollektive Rechtsgüter, S. 9 ff; Neubacher Jura 2000 514 f; Pawlik S. 127 ff; Sina Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs „Rechtsgut“ (1962) S. 14 ff. Weitere Nachweise bei Bottke FS Lampe, S. 463 Fn. 1; Koriath GA 1999 561 Fn. 2. 6 Freund MK Rdn. 38, 40, 45 ff, 135; Hassemer ZRP 1997 316, 320; Hassemer/Neumann NK Vor § 1 Rdn. 62, 108 ff; Hefendehl Kollektive Rechtsgüter, S. 24 und öfter (der indes unter engen Voraussetzungen auch „rechtsgutslose“ Delikte als „Verhaltensdelikte“ anerkennt, etwa § 172, aaO S. 52 ff); H. Jäger FS SchülerSpringorum, S. 229, 234; Kudlich ZStW 127 (2015) 635, 650, 653 (Rechtsgutdogma als Vorgabe für die verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprüfung); Kühl ZStW 116 (2004) 870, 886; Lampe FS Schmitt, S. 77, 84; Roxin ZStW 116 (2004) 929, 932; ders. AT I § 2 Rdn. 1 ff; ders. GA 2013 433 ff; Spendel FS Weber, S. 3; ausführliche Dokumentation der h.L. bei Appel KritV 1999 278, 281 ff; Hörnle S. 1 ff, 11 ff (die dieses Konzept aber ablehnen, s. im Text); für die Lehre ab 1945 Müssig Schutz abstrakter Rechtsgüter und abstrakter Rechtsgüterschutz (1994) S. 24 ff; krit. Jakobs AT 2/22 ff; ders. FS Saito, S. 17, 19 f, 31 ff; Koriath GA 1999 561, 576 ff; Köhler AT S. 24 f; weitere Nachweise zu krit. Stimmen im Text. Aus amerikanischer Sicht Dübbers ZStW 117 (2005) 485 ff. 7 Grundlegend Schwinge Teleologische Begriffsbildung im Strafrecht (1930) S. 22 und öfter; heute etwa Freund MK Rdn. 45; Hirsch FS Spinellis, S. 425, 436 ff; Jescheck/Weigend § 26 I 3a (S. 258 f); Kudlich ZStW 127 (2015) 635, 638, f; Roxin AT I § 2 Rdn. 4 f; krit. Koriath GA 1999 561, 574 ff. Vgl. Rehr-Zimmermann S. 86 ff. 8 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 2 Rdn. 11; Bottke FS Lampe, S. 463, 487; Jescheck/Weigend § 26 I 3b (S. 259); Kudlich ZStW 127 (2015) 635, 637 f; Roxin ZStW 116 (2004) 929; ders. AT I § 2 Rdn. 4. 9 BGHSt 28 11, 15; 31 380 f; Fischer Vor § 52 Rdn. 39; vgl. T. Walter JA 2005 468, 470. 10 Hassemer/Neumann NK Vor § 1 Rdn. 126; Hassemer Theorie, S. 83 f; Jescheck/Weigend § 26 I 3c (S. 259); Sch/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vor § 32 Rdn. 36.

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sowohl inhaltlich durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch formal durch die Anforderungen an das Gesetzgebungsverfahren.11 Das ist auch die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts in seinem Inzest-Beschluss – allerdings in casu mit einem Ergebnis, das nicht überzeugt (BVerfGE 120 224, 241 ff). Zu kämpfen hat die Legitimierungsfunktion des Rechtsgutbegriffs vor allem damit, dass sich für einen beliebigen Straftatbestand mit gewissen Formulierungskünsten praktisch immer (irgend-)ein Rechtsgut benennen lässt (Hörnle S. 467, von Engländer ZStW 127 [2015] 616, 620 so genannter formeller Rechtsgutsbegriff) und es keinen vorab und grenzgenau definierten Güterkatalog gibt, an dem man die Straftatbestände lediglich zu messen bräuchte. Auch die Werteordnung der Verfassung ist in dieser Hinsicht wenig ergiebig.12 Selbst die Konstruktion von „Vertrauensrechtsgütern“, etwa als Vertrauen in die Echtheit von Zahlungsmitteln (§ 146 ff), ist nur begrenzt möglich und schon dem Grunde nach hochumstritten (pro Hefendehl GA 2007 1, 11 ff; contra Anastasopoulou S. 177 f; Roxin AT I § 2 Rdn. 83 f). Es wird daher gleichsam eine doppelte Legitimitätsprüfung erforderlich: des Tatbestandes am Rechtsgüterbestand und des Rechtsgüterbestandes an übergeordneten Kriterien, die nur der Verfassung oder noch höherrangigem Naturrecht zu entnehmen sind („materieller Rechtsgutsbegriff“, Engländer ZStW 127 [2015] 616, 620). Und in diesem zweiten Schritt kommen sich die Befürworter der klassischen Legitimierungsfunktion und ihre oben genannten Kritiker wieder sehr nahe. Allerdings ist es dabei nicht damit getan, in der Verfassung nur überhaupt den Wert nachzuweisen, den ein Tatbestand schützen soll. Denn unstreitig verdient nicht alles, was die Verfassung an dieser oder jener Stelle als Wert anerkennt, eine strafrechtliche Flankierung, und stehen Verfassungswerte in der Regel mit anderen Verfassungswerten in einem Kollisionsverhältnis, das der Verfassungstext selbst nicht auflöst und das auch nach (wie immer beschaffenen) strafrechtlichen Maßstäben nicht aufzulösen ist (Appel KritV 1999 278, 295 f). Soweit die Verteidiger einer Legitimierungsfunktion des Rechtsgutsbegriffs meinen, dieser Begriff sei lediglich die Summe verfassungsrechtlicher Überlegungen zur Strafgesetzgebung, also gewissermaßen – in Abwandlung eines Wortes von Honig – das vom Verfassungsrecht der Strafgesetzgebung Vorgegebene „in seiner kürzesten Formel“, handelt es sich lediglich um eine These, deren Wahrheit wieder nur am Verfassungsrecht gemessen werden könnte; und nicht etwa umgekehrt. Mit anderen Worten wären in der Sache keine neuen Erkenntnisse gewonnen (Engländer ZStW 127 [2015] 616, 625 ff m. zahlr. Nachw.; das Originalzitat von Honig in ders. Die Einwilligung des Verletzten, S. 94). Nicht überzeugend ist ferner die These, die legitimatorischen Anforderungen des Rechtsgutsdogmas seien ungeschriebenes Verfassungsrecht (zutr. Engländer ZStW 127 [2015] 616, 627 ff; für ein solches Konzept exemplarisch und aus portugiesischer Sicht Figueiredo Dias GA 2014 203 ff).

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11 Appel Verfassung und Strafe (1998) S. 206 f, 354 f, 390; Gärditz JZ 2016 641 ff; Lagodny Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996) S. 144, 538; Maas NStZ 2015 305, 306 f; Stuckenberg GA 2011 653, 658 u.ö.; zusammenfassend Appel KritV 1999 278, 282 ff, 306 ff. Ähnlich Hirsch FS Spinellis, S. 425, 434 ff, 445 (Ultima-ratio-Funktion als Legitimationsmaßstab); Paulduro Die Verfassungsgemäßheit von Strafrechtsnormen, insbesondere des Strafgesetzbuches im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (1992) S. 109, 117 ff, 432 (Unterscheidung von Individual- und Gemeinrechtsgütern als Anhaltspunkt für die verfassungsrechtliche Prüfung der Verhältnismäßigkeit); Stächelin Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat (1998) S. 163 (Übermaßverbot als Legitimationsmaßstab, Rechtsgutbegriff als Mittel zur Klassifikation). Krit. gegenüber der Legitimierungsfunktion des Rechtsgutsbegriff auch Frisch NStZ 2016 16, 22 f; Swoboda ZStW 122 (2010) 24, 37. Vgl. schon Hassemer Theorie, S. 153; Tiedemann Tatbestandsfunktionen, S. 165 ff. 12 Eser FS Mestmäcker, S. 1005, 1019; Hefendehl Kollektive Rechtsgüter, S. 42 ff; Lagodny S. 145 ff; Maas NStZ 2015 305, 306; aA Bottke FS Lampe, S. 463, 488 f.

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Soweit man dem Begriff des Rechtsguts eine Legitimierungsfunktion zugesteht, wird damit zugleich die Möglichkeit eines materiellen Verbrechensbegriffes behauptet.13 Im materiellen Sinne sind dann nämlich alle, aber auch nur Rechtsgutsverletzungen oder -gefährdungen Verbrechen, unabhängig davon, ob das positive Recht sie formell mit einem Straftatbestand erfasst. Das ist aus den gleichen Gründen abzulehnen wie die Legitimierungsfunktion des Rechtsgutbegriffs. 11 Dogmengeschichtlich besonders hervorgetreten ist der Begriff des Rechtsgutes bislang vor allem in dem Versuch der nationalsozialistischen Strafrechtslehre, das Konzept des Verbrechens als Rechtsgutverletzung zu ersetzen durch den Gedanken der Pflichtverletzung (Rdn. 15), sowie in der Reformdiskussion der späten sechziger und frühen siebziger Jahre, als man das Sexualstrafrecht um eine Reihe von Tatbeständen mit der Begründung bereinigte, sie schützten lediglich Moralvorstellungen, aber keine Rechtsgüter (Roxin AT I § 2 Rdn. 17 ff). Vielfach diskutiert wurde über Rechtsgüter ferner im Zuge des Auf- und Ausbaus des Wirtschaftsstrafrechts und anderen Nebenstrafrechts sowie angesichts der verstärkten Neigung des Gesetzgebers, kollektive Interessen, etwa den Wettbewerb (§§ 298 ff) und den Leistungssport (§§ 265c, d StGB, § 4 AntiDopG), in Straftatbestände münden zu lassen; bevorzugt in sogenannte Vorfeldtatbestände in Form abstrakter Gefährdungsdelikte (Rdn. 65). Der Inzest-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts hat diese Diskussionen allerdings deutlich leiser werden lassen (BVerfGE 120 224, 241 ff). Gegenüber der auslegungsleitenden Funktion ist die Gefahr eines Begründungs12 zirkels zu bedenken zu geben, denn für die Bestimmung des Rechtsgutes ist die Reichweite des Tatbestandes entscheidend: Welches Rechtsgut ein Tatbestand schützen soll, lässt sich erst sagen, wenn man weiß, welche Handlungen und Erfolge er erfasst. In den kritischen Fällen der Auslegung, dem Grenzbereich der Tatbestände, geht es dementsprechend oft zugleich um das Rechtsgut, etwa für § 303 hinsichtlich der reinen Funktionseinbuße oder für § 263 hinsichtlich des Schadens bei schlussendlich ausgeglichenem Vermögenssaldo. 13

b) Das Rechtsgut lässt sich definieren als rechtlich geschützter ideeller Wert der Sozialordnung;14 als ein Gut, das für das menschliche Zusammenleben wichtig ist und daher Aufnahme in den Schutzbereich der Rechtsordnung gefunden hat (Jescheck LK11 Rdn. 6, dort aber „unentbehrlich“ statt „wichtig“). Es ist mithin mehr als die „Abbreviatur des Zweckgedankens“ (Grünhut FG Frank, S. 1, 8) eines Straftatbestandes. Ist jenes Gut wie beispielsweise das Eigentum dem Einzelnen zugeordnet, spricht man von einem Individual- oder Einzelrechtsgut. Handelt es sich um ein Gut der Allgemeinheit, so bei der Rechtspflege oder der Umwelt, spricht man von einem Kollektiv-, Universal- oder Gemeinrechtsgut (eingehend Hefendehl Kollektive Rechtsgüter, S. 237 ff; ders. GA 2002 21, 25 ff). Auch Gemeinrechtsgüter nützen im Ergebnis dem Einzelnen und sind kein Selbstzweck (Freund MK Rdn. 49). Im Schrifttum spricht man daher mit Blick auf die Gemeinrechtsgüter des Wirtschaftsstrafrechts auch von „‘Zwischenrechtsgütern‘, die zwischen den werthaften Interessen des Individuums und obersten, einer Strafbewehrung meist nicht fähigen Gemeinwohlinteressen angesiedelt und mit relativer Selbständigkeit aus-

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13 Vgl. Appel KritV 1999 278, 280 f; Kühl ZStW 116 (2004) 870, 885; Lampe FS Schmitt, S. 77, 80 ff, der diesem Begriff aber nur negative Bedeutung zuerkennt im Sinne von Mindestbedingungen eines legitimen Straftatbestandes. 14 Jescheck LK11 Rdn. 6; vergleichbar Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 2 Rdn. 7, 10; aA Hefendehl GA 2002 21, 23, der „ideell“ aber als Gegenbegriff zu „real“ versteht. Weitere Nachweise zu Definitionen des Rechtsgutes bei Appel KritV 1999 278, 283; Hirsch FS Spinellis, S. 425, 437. Vgl. auch Rehr-Zimmermann S. 82 f („Mehrheit von Normen“).

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gestattet sind“ (grundlegend Tiedemann Tatbestandsfunktionen, S. 119 f; heute ders. Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 176 mit dem wörtlichen Zitat und weiterem Nachw.). Abzugrenzen ist der Begriff des Rechtsgutes von dem des Handlungs- oder (besser) 14 Angriffsobjektes.15 Das Rechtsgut ist etwas Abstraktes, ein ideeller Wert (aA Hefendehl GA 2002 21, 23). In dieser Form ist das Rechtsgut gegen Verletzungen immun. Wird eine Sache zerstört, bleibt der Wert „Eigentum“ als solcher bestehen. Daran änderte sich nichts, selbst wenn sämtliche Sachen zerstört würden. Der ideelle Wert äußert sich aber auch in der gesellschaftlichen Wirklichkeit und ist mit diesen Äußerungen (Objektivationen) deren Teil. Verfolgt man diese Linie bis zu ihrem Ende, haben solche Äußerungen körperliche Gestalt und sind Menschen, Tiere und Sachen, das heißt Materie. Diese Materie ist aber nur selten dasjenige, dessen Gefährdung oder Beschädigung ein Delikt ausmacht. Bei einem Diebstahl bleibt die Sache stofflich unangetastet; vielmehr verletzt der Dieb die Möglichkeit des Berechtigten, mit der Sache nach Belieben zu verfahren (das zugrunde liegende Eigentumsrecht besteht bekanntlich ungeschmälert fort). Bei einem Hausfriedensbruch bleiben Haus oder Wohnung stofflich unversehrt; der Eindringling verletzt wiederum die Möglichkeit des Berechtigten, über seine häusliche Sphäre frei zu verfügen. Bei der Erregung öffentlichen Ärgernisses (§ 183a) bleibt der Zeuge der sexuellen Handlungen körperlich unangetastet, aber der Täter verletzt dessen Wertgefühl. Und noch die klassische Sachbeschädigung, Paradigma stofflichen Schadens, kommt ohne einen solchen aus, nämlich in den Fällen tatbestandlicher Funktionseinbußen (Luftablassen aus Autoreifen und Ähnliches, vergleiche nur BGHSt 13 207 ff). Ebenso die Körperverletzung in den Fällen, die eine körperliche Misshandlung sind, aber keine Gesundheitsschädigung (vom „Wangenstreich“ bis zur Lärmbelästigung, siehe etwa Sch/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben § 223 Rdn. 4). Auch die Delikte zum Schutze des Vermögens setzen keinen stofflichen Schaden voraus. Wer täuschungsbedingt eine Summe Geldes überweist, verliert einen Anspruch (gegen seine Bank), aber stofflich bleibt alles beim Alten, sogar in der Zuordnung der stofflichen Güter. Dieser Befund wirft die Frage auf, wo in der Sphäre des Nichtstofflichen die Grenze zu ziehen sei zwischen dem Begriff des Rechtsguts und dem seiner Angriffsobjekte. Die einzig trennscharfe Antwort verlangt, das Rechtsgut auf den ideellen Wert zu beschränken (so schon Sch/Schröder/Eisele Rdn. 9). Dann klingt es zwar verzerrt, von einem Rechtsgüterschutz zu sprechen, da diese Güter unverletzlich sind. Aber das ist erstens eine Redensart, die ohnehin nur zu den herkömmlichen präventiven Straftheorien passt. Zweitens ist sie selbst für diese Straftheorien zu verkraften, solange klar bleibt, worum es dann auf dem Boden der herkömmlichen präventiven Straftheorien geht: um die Achtung des ideellen Gutes und um den Schutz seiner Äußerungen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. — Der Begriff des Angriffsobjekts ist bei der Abgrenzung von Gefährdungs- und Verletzungsdelikten von Bedeutung (Rdn. 65). c) Üblicherweise betrachtet man das Verbrechen nicht nur als Rechtsgutsverletzung, 15 sondern auch als Pflichtverletzung.16 Besonders betont haben diesen Gesichtspunkt die nationalsozialistische Strafrechtslehre17 sowie Welzel (FS Kohlrausch, S. 107 ff), der den

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15 Näher Suhr JA 1990 303 ff; T. Walter GA 2001 131, 134 ff. Dazu auch Koriath GA 1999 561, 573 f; Schmidhäuser AT 5/25 ff. 16 BGHSt 2 364, 368; Jescheck LK11 Rdn. 9 ff; Lampe FS Schmitt, S. 77, 81; Otto ZStW 87 (1975) 539, 558; Pawlik S. 82 ff; Sch/Schröder/Eisele Rdn. 8; Tiedemann Tatbestandsfunktionen, S. 126 ff; Wessels/Beulke/ Satzger Rdn. 29; krit. Hefendehl Kollektive Rechtsgüter, S. 48 ff; ders. GA 2002 21, 23. 17 Dahm Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 95 (1935) 283, 286 ff; Gallas FS Gleispach, S. 50 ff (der allerdings eine diffuse Verbindung mit der Rechtsgutlehre versuchte); Schaffstein DStR (N.F.) 1935 97,

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nationalsozialistischen Lehren übrigens nicht nur in den Ergebnissen nahe stand (kennzeichnende wörtliche Zitate bei Spendel FS Weber, S. 3, 10 f; ausführlich Stopp Hans Welzel und der Nationalsozialismus, 2018). Der Gesichtspunkt der Pflichtverletzung muss die Lehre von der Rechtsgutsverletzung jedoch nicht verdrängen, sondern kann sie ergänzen und ist jedenfalls nichts spezifisch Nationalsozialistisches (Fiolka S. 511 ff; Pawlik S. 97 in Fn. 522 m.w.N.). Inhaltlich geht es dann um wenig mehr als die unideologische Forderung, dass ein Verbrechen neben einer objektiven Gefährdung oder Verletzung auch die Ge- oder Verbotswidrigkeit des auslösenden Verhaltens bedingt (Spendel FS Weber, S. 3, 6). Allerdings unterscheiden sich die Konzepte im theoretischen Ansatz: Die Rechtsgutlehre propagiert einen vorpositiv-materiellen Begriff des Verbrechens (Rdn. 10), die Lehre von der Pflichtverletzung einen positiven und formellen Verbrechensbegriff; ein Verbrechen kann danach nur sein, was der Gesetzgeber auch ausdrücklich mit Strafe belegt. Da der Gesetzgeber aber nach unserer Verfassung nicht beliebig Strafdrohungen aussprechen und vollstrecken kann, ist der formelle Verbrechensbegriff unter der Geltung des Grundgesetzes automatisch auch ein materieller Begriff und in dieser Form einem gesetzesgelösten rein materiellen Verbrechensbegriff vorzuziehen. Angesichts der Unsicherheiten und Schwächen, mit denen der Begriff des Rechtsgu16 tes belastet ist, vor allem in seiner Legitimierungs- und in seiner auslegungsleitenden Funktion, kann er in der kriminalpolitischen wie in der dogmatischen Diskussion nur die Rolle eines rhetorischen Topos spielen. Dabei ist das Beiwort „rhetorisch“ jedoch nicht abwertend gemeint. 17

5. a) Die Normen des Strafrechts sind Bestimmungs- und Bewertungsnormen.18 Dass sie Bewertungsnormen (und Sanktionsnormen) sind, ist ohne Weiteres ersichtlich: Schuldspruch und Strafe missbilligen das angeklagte Verhalten. Wenn aber eine solche Bewertung feststeht, ist ebenso klar, dass die Rechtsunterworfenen die fraglichen Handlungen unterlassen mögen, weswegen die strafrechtlichen Normen zugleich Bestimmungsnormen sind (Verhaltensnormen, Imperative). Allerdings sind sie dabei rechtstheoretisch stets nur eine akzessorische Wiederholung vorstrafrechtlicher Normen (Rdn. 4 f). Adressat dieser Normen ist der rechtsunterworfene Bürger, während sich die Bewertungsnormen an den Richter wenden, der die Bewertung auszusprechen hat. Zweifelhaft ist es, einen weiteren Unterschied darin zu sehen, dass die Bestimmungsnormen nur für den Handlungsunwert bedeutsam seien, während die Bewertungsnormen auch den Erfolgsunwert des Verhaltens in den Blick nähmen (so aber Jescheck LK11 Rdn. 43). Denn das verbotene Verhalten ist nur mit Blick auf den Erfolg verboten; das Verbot lässt sich nur mit Blick auf diesen Erfolg formulieren, Gleiches gilt für die Schuld (zu den sogenannten Tätigkeitsdelikten Rdn. 63).

18

b) Verabsolutiert wird das Dogma von den Bestimmungsnormen von jener Minderheit, die eine rein subjektive Unrechtslehre vertritt.19 Da nur Handlungen verboten

_____ 105. Zu diesen Lehren aufschlussreich Spendel FS Weber, S. 3, 6 ff. Siehe auch Hirsch FS Spinellis, S. 425, 428. 18 Haffke in Schünemann/de Figueiredo Dias S. 89 ff; Jescheck LK11 Rdn. 43; Jescheck/Weigend § 24 II 1 ff (S. 256 ff); Roxin AT I § 10 Rdn. 93; Sch/Schröder/Eisele Rdn. 48; Tiedemann Tatbestandsfunktionen, S. 194 f. 19 Horn Konkrete Gefährdungsdelikte (1973) S. 78 ff; Armin Kaufmann FS Welzel, S. 393, 403, 410 f; Zielinski Handlungs- und Erfolgsunwert im Unrechtsbegriff (1973) S. 121 ff, 206 ff; sympathisierend Freund MK Rdn. 300 ff, der aber Art und Ausmaß der Verhaltensfolgen gleichwohl berücksichtigen will (Fn. 20). Weitere Nachweise bei Jescheck LK11 Fn. 45. Siehe dazu auch Lüderssen FS Bockelmann, S. 181 ff. Krit.

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sein könnten – und keine Erfolge oder Zustände – und da es häufig Zufall sei, ob eine Handlung einen Erfolg bewirke, sei der Erfolg aus dem Unrecht auszuklammern. Der Täter eines beendeten, aber erfolglosen Versuches begehe in demselben Maße Unrecht wie der erfolgreiche Täter. Ebenso, wenn zwei Personen eine Sorgfaltspflicht verletzten, aber dies nur in einem Fall weitere schädliche Folgen habe. Die tatbestandlichen Erfolge seien daher lediglich objektive Bedingungen der Strafbarkeit und dürften weder bei der Strafzumessung eine Rolle spielen noch bei der Entscheidung darüber, ob der Strafvollzug zur Bewährung auszusetzen sei. Das ist jedoch abzulehnen. Man mag mit guten Gründen dafürhalten, dass Unrecht neben einem „natürlichen“ Vorsatz subjektive Voraussetzungen habe in Form von Unrechtsbewusstsein und Steuerungsfähigkeit (Mir Puig ZStW 108 [1996] 759, 761, 775; T. Walter Kern des Strafrechts, S. 81 ff). Das heißt aber nicht, dass es sich in ihnen auch erschöpfen müsste oder auch nur erschöpfen könnte. Vielmehr ist unstreitig, dass etwas Objektives hinzutreten muss – sonst hätte man ein Gedankenstrafrecht. Wenn aber Objektives hinzutreten muss, so sagt das Erfordernis des Subjektiven wiederum nicht, wie viel an Objektivem nötig ist. Gewiss ist ein Strafrecht theoretisch denkbar, das Fahrlässigkeit ohne Rücksicht auf den Erfolg bestraft und Versuch und Vollendung gleich behandelt. Aber das ist weder erforderlich noch erstrebenswert noch praktisch durchzuhalten. Will man wie die besagte Lehre ein solches Strafrecht praktikabel machen, indem man den Erfolg als objektive Strafbarkeitsbedingung behandelt, implodiert das System. Denn objektive Strafbarkeitsbedingungen sind dem Vorsatz und der Fahrlässigkeit entzogen, und was sollen dann die zu bestrafende Fahrlässigkeit sein und der Versuch, wenn ihnen der Gegenstand fehlt? Und es entspricht allgemeinem Rechtsempfinden, die Schwere eines Rechtsbruches auch danach zu bewerten, welche Leiden und Schäden er bewirkt.20 Überdies sorgt die Lehre von der objektiven Zurechnung dafür, dass Verhalten und Erfolg nicht nur ursächlich miteinander verbunden sind, sondern der Erfolg gerade dem Pflichtwidrigen des Verhaltens entspringt (Rdn. 89 ff). Von einer Haftung für „Zufall“ kann demnach keine Rede sein. c) Dogmatisch kaum ergiebig sind die Begriffspaare Handlungs- und Erfolgsun- 19 wert sowie Handlungs- und Erfolgsunrecht. Richtig ist, dass jedes Delikt eine Verhaltensseite aufweist und einen Erfolg, den das Verhalten hervorbringen muss. Das gilt entgegen herrschender Ansicht auch bei sogenannten Tätigkeitsdelikten (Rdn. 63). Doch ist „Unrecht“ ein Prädikat, das streng genommen nur einem Verhalten zu verleihen ist und nicht einem verhaltensgelösten Erfolg (Rdn. 146). Und in der Rechtswissenschaft ist es zweifelhaft, außerhalb der Kategorien von Recht und Unrecht noch in den Kategorien von Wert und Unwert zu denken. 6. Mit der herrschenden Meinung sind sogenannte viktimodogmatische Ein- 20 schränkungen einzelner Merkmale der Tat, vor allem des Tatbestandes abzulehnen.21 Sie sind darauf gerichtet, die Strafbarkeit zu verhindern, wenn sich das Opfer durch zu-

_____ schon Mylonopoulos Über das Verhältnis von Handlungs- und Erfolgsunwert im Strafrecht (1981); Paeffgen S. 107 ff; Rehr-Zimmermann S. 25; Roxin ZStW 116 (2004) 929, 938 ff; Samson FS Grünwald, S. 585, 595 ff. 20 Freund MK Rdn. 84, 304; Frisch Zurechnung, S. 516; Sch/Schröder/Eisele Rdn. 59; Stratenwerth/Kuhlen § 2 Rdn. 34, § 15 Rdn. 60; Würtenberger S. 51. 21 Freund MK Rdn. 426; Günther FS Lenckner, S. 68, 76 ff, der umgekehrt die Schutzbedürftigkeit des Opfers als unrechtsbegründend oder -steigernd berücksichtigen will; Hillenkamp Vorsatztat und Opferverhalten (1981); Jescheck LK11 Rdn. 52; Lagodny S. 358.

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mutbare Aufmerksamkeit und Vorsichtsmaßnahmen leicht hätte schützen können.22 Das jedoch wirkt dem Zweck des Strafrechts, Vertrauen zu schaffen, entgegen, indem es zu Misstrauen und allgemeiner Belagertenmentalität verpflichtet. Endpunkt wäre beispielsweise die Vorstellung – die man in Ansätzen tatsächlich antrifft –, man habe ein Recht, ein Fahrrad zu stehlen, das der Eigentümer nicht angeschlossen hat. Da es dem Täter durchaus zumutbar ist, die Tat zu unterlassen, bedarf es keiner weiteren Überlegungen dazu, was man dem Opfer hätte zumuten können. Dessen Mitverschulden lässt sich darüber hinaus ohne Weiteres bei der Strafzumessung und bei Entscheidungen zu den §§ 153 f StPO berücksichtigen. So verfährt die Praxis auch. II. Die geschichtliche Entwicklung der allgemeinen Verbrechenslehre 21

1. Der moderne Verbrechensbegriff ist als Ergebnis der dogmatischen Arbeit von mehr als 160 Jahren aus den Beiträgen zahlreicher Gelehrter entstanden.23 Im Anschluss an Rudolf v. Jhering haben v. Liszt (1881), Beling (1906) und Graf zu Dohna (1905) die Rechtswidrigkeit als allgemeines objektives Verbrechensmerkmal in den Deliktsaufbau eingeführt. Die Anfänge eines besonderen Schuldbegriffs gehen auf Adolf Merkel (1889) zurück, der als erster Vorsatz und Fahrlässigkeit unter dem Oberbegriff der pflichtwidrigen Willensbestimmung vereinigte. Der noch heute herrschende normative Schuldbegriff (Vorwerfbarkeit des verbotenen Verhaltens) wurde von Frank (1907) begründet. Ein besonderer Handlungsbegriff als Grundlage der Verbrechenslehre ist schon von Berner eingeführt worden (1857). Erst zuletzt hat Beling das Merkmal der Tatbestandsmäßigkeit der strafbaren Handlung besonders betont (1906).

22

2. Grundlage des klassischen Systems der Verbrechenslehre war der Handlungsbegriff, der bei v. Liszt, Beling und Radbruch nach der natürlichen Anschauung definiert wurde als willensgetragener Einsatz von Körperkraft (Rdn. 30 ff). Ließ sich danach eine Handlung bejahen, musste ihre Tatbestandsmäßigkeit geprüft werden. Als Tatbestand wurde die rein äußerliche, noch völlig wertfreie Beschreibung eines bestimmten Geschehens im Besonderen Teil angesehen. Erst die Prüfung der Rechtswidrigkeit dieses Geschehens sollte das eigentliche Werturteil über die Tat erbringen, wobei die Rechtswidrigkeit rein formal als Widerspruch gegenüber dem Recht angesehen und rein objektiv begründet wurde, und zwar mit dem unabhängig von der geistig-seelischen Beteiligung des Täters verlaufenden äußeren Geschehen. Objektive und subjektive Tatseite wurden also scharf voneinander geschieden. Die Tatbestandsmäßigkeit wurde als die objektivdeskriptive, die Rechtswidrigkeit als die objektiv-normative Seite der Tat betrachtet. Der Schuldbegriff des klassischen Verbrechensaufbaus vereinigte demgegenüber alle geistigen und seelischen Vorgänge in der Person des Täters. Die Zurechnungsfähigkeit wurde als „Schuldvoraussetzung“ aufgefasst, Vorsatz und Fahrlässigkeit verstand man als „Schuldformen“ oder „Schuldarten“, der strafrechtliche Notstand wurde als „Schuldausschließungsgrund“ angesehen. Man beschränkte sich darauf, die einzelnen Faktoren

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22 Amelung GA 1977 1, 6 ff; Hassemer Produktverantwortung, S. 81; Schünemann FS Faller, S. 357, 363 ff; ders. in Schünemann/Dübber Die Stellung des Opfers im Strafrechtssystem (2000) S. 1 m.w.N. Sympathisierend Mitsch in Fischer/Hoven S. 305 ff. Nachweise auch bei Lackner/Kühl/Heger Rdn. 4a, die eine vermittelnde Stellung einnehmen („Vorsicht geboten“). 23 Näher Achenbach Historische und dogmatische Grundlagen der strafrechtssystematischen Schuldlehre (1974); Frisch GA 2015 65 ff; Gallas ZStW 67 (1955) 1 ff; Jescheck/Weigend § 22; Pawlik FS Paeffgen, S. 14 ff; Roxin AT I § 7 Rdn. 12 ff; Schmidhäuser AT 7/1 ff; Schünemann in ders. Grundfragen, S. 1, 18 ff; Tiedemann Tatbestandsfunktionen, S. 79 ff.

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unter dem Stichwort des „Subjektiven“ von den objektiven Momenten zu scheiden (psychologischer Schuldbegriff).24 3. Der klassische Verbrechensbegriff nach dem System v. Liszts und Belings durchlief 23 bald einen tiefgreifenden Umbildungsprozess, in dem man die rein formale Trennung von objektiven und subjektiven Merkmalen im Verbrechensbegriff aufgab und eine Ausrichtung an den Zwecken des Strafrechts und den ihm immanenten Wertvorstellungen vornahm (neoklassische Verbrechenslehre). Der Handlungsbegriff, der mit seinen schlichten wirklichkeitsbezogenen Merkmalen am wenigsten in ein wertbezogenes Strafrechtssystem zu passen schien, wurde durch den Begriff des „menschlichen Verhaltens“ abgeschwächt und zum Teil durch den Begriff der „Tatbestandsverwirklichung“ ersetzt (Radbruch). Aber auch alle anderen Verbrechensmerkmale wurden durch den Umbildungsprozess inhaltlich umgestaltet (Hegler, M. E. Mayer, Frank, Mezger, Grünhut, Eb. Schmidt, E. Wolf). Die Rechtswidrigkeit fasste man jetzt nicht mehr nur formell als Zuwiderhandlung auf, sondern materiell als Sozialschädlichkeit, wodurch das Unrecht nach der Schwere der Interessenverletzung abstufbar und die Existenz übergesetzlicher Rechtfertigungsgründe erklärlich wurde (zum übergesetzlichen Notstand RGSt 61 242). Die rein deskriptive und wertfreie Auffassung des Tatbestandes wurde durch einen Hinweis auf subjektive Tatbestandsmerkmale überwunden. Der Tatbestand wandelte sich damit zum Unrechtstatbestand im Sinne des Inbegriffs aller für die betreffende Deliktsart typischen objektiven und subjektiven Merkmale der Rechtswidrigkeit. Auch der Schuldbegriff änderte sich in dem Umbildungsprozess inhaltlich (Frank). Die Schuld wurde nicht mehr nur als die Addition der subjektiven Merkmale der Tat angesehen, sondern als die dem Tatentschluss oder der Sorgfaltsverletzung zugrunde liegende fehlerhafte Willensbildung – die dem Täter zum Vorwurf gemacht werden kann, wenn keine geistigseelischen Störungen oder außergewöhnlichen äußeren Umstände vorliegen, die ihn zu entlasten vermögen (normativer Schuldbegriff, näher Rdn. 164 ff). 4. Der Verbrechensbegriff des Finalismus, der seit dem Beginn der 30er Jahre des 24 letzten Jahrhunderts vor allem durch Welzel ausgearbeitet worden ist – allerdings zum Teil ohne Bezug auf seine Vordenker25 –, brachte mit der Verlegung des Vorsatzes in den Tatbestand, der Begründung der personalen Unrechtslehre, der Neuordnung der Irrtumslehre und der Umgliederung der Fahrlässigkeit Strukturveränderungen im Strafrechtssystem, der sich die Lehrdarstellungen angeschlossen haben. Auch in dem mit der deutschen Dogmatik verbundenen Ausland war der Einfluss der neueren deutschen Lehre bedeutend (Jescheck ZStW 98 [1986] 1, 10 ff). Ausgangspunkt dieser Lehre war der final verstandene Handlungsbegriff, der zwar von der heute herrschenden Lehre aufgegeben wurde, aber nach Welzels Ansicht für den Umbau der Verbrechenslehre bestimmend sein musste.26 Menschliches Handeln ist danach nicht bloßes Bewirken einer Außenweltveränderung, sondern „Ausübung von Zwecktätigkeit“. Die finale Steuerung der Handlung vollzieht sich in drei Stufen: der geistigen Vorwegnahme des Ziels, der Auswahl und Be-

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24 Dieser klassische Verbrechensbegriff herrschte in Österreich noch bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts, zur Dogmengeschichte Moos Der Verbrechensbegriff in Österreich im 18. und 19. Jahrhundert (1968); Jescheck ZStW 103 (1991) 999, 1003 f. 25 Spendel FS Tröndle, S. 89, 93; Stopp Hans Welzel und der Nationalsozialismus (2018) S. 83. Zusammenfassende Deutung des eigenen Wirkens in Welzel JuS 1966 421 ff. 26 Eingehend zum Finalismus Bacigalupo FS Eser, S. 61 ff; Hübner S. 73 ff; Koriath Zurechnung, S. 334 ff; Roxin FS Androulakis, S. 575 ff; zur finalistischen Straftatlehre aus Sicht des Schmidhäuserschen Systems Röttger Unrechtsbegründung und Unrechtsausschluß nach den finalistischen Straftatlehren und nach einer materialen Konzeption (1993).

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reitstellung der erforderlichen Handlungsmittel und der Durchführung der Handlung in der realen Welt. Die Finalität der tatbestandsmäßigen Handlung wurde mit dem Vorsatz gleichgesetzt. Der Vorsatz wurde damit zum Teilstück des Tatbestandes, weil es dessen Aufgabe sei, die Handlung des Täters in allen für die strafrechtliche Bewertung wesentlichen Merkmalen zu kennzeichnen. Daraus ergaben sich an drei Schlüsselstellen grundlegende Veränderungen im Verbrechensaufbau: Das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit scheidet aus dem Vorsatz aus und wird zum zentralen Bestandteil des Schuldbegriffs; die Irrtumsfälle gliedern sich dementsprechend in Tatbestandsirrtum (jetzt § 16) und Verbotsirrtum (jetzt § 17); Anstiftung und Beihilfe kommen nur bei vorsätzlicher Haupttat in Betracht (jetzt §§ 26, 27). Die Verlegung des Vorsatzes aus der Schuld in den Tatbestand führte ferner zu einer Neukonzeption des Begriffs der materiellen Rechtswidrigkeit: Der Vorsatz und die anderen subjektiven Tatbestandselemente (z.B. die Zueignungsabsicht beim Diebstahl) bilden danach als die „personalen Unrechtselemente“ der Tat zusammen mit den objektiven Handlungsmerkmalen das „Handlungsunrecht“ des gesetzlichen Tatbestandes, während die Verletzung oder Gefährdung des durch den Tatbestand geschützten Angriffsobjekts das „Erfolgsunrecht“ darstellt (vgl. Rdn. 19). Die personalen Unrechtselemente ergeben zusammen die Basis der „personalen Unrechtslehre“. — Entsprechend der Neuordnung des Aufbaus der Vorsatztat wurde auch der Begriff der Fahrlässigkeit umgestaltet, und zwar so, dass die Fahrlässigkeitstat nunmehr eine sowohl im Unrechtstatbestand als auch in der Schuld eigenständige, von der Vorsatztat zu unterscheidende Form der strafbaren Handlung ist. Die Fahrlässigkeit gewinnt dadurch eine Doppelstellung im Verbrechensaufbau. Als Teilstück des Unrechtstatbestandes besteht die Fahrlässigkeit in der Verletzung der objektiv erforderlichen Sorgfalt bei objektiver Voraussehbarkeit des tatbestandsmäßigen Erfolges. Als Bestandteil der Schuld liegt die Fahrlässigkeit in der persönlichen Verantwortlichkeit des Täters für den tatbestandsmäßigen Erfolg mit Rücksicht auf die Vorwerfbarkeit des Mangels an Sorgfalt und Voraussicht, die zu diesem Erfolg geführt haben. 25 Der finale Handlungsbegriff hat sich nur in einem Teil der deutschsprachigen Strafrechtslehre durchgesetzt (insbesondere Maurach, Hirsch, Stratenwerth). Die der finalen Lehre entsprechende Umbildung des Verbrechensbegriffs jedoch wird in der gegenwärtigen Dogmatik weitgehend als berechtigt angesehen und unabhängig von dem umstrittenen Handlungsbegriff selbständig begründet. Auch auf die Rechtsprechung hat das neue System Einfluss gehabt. So hat der Große Senat des BGH für Strafsachen das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit als Schuldmerkmal anerkannt und durch die Behandlung des Verbotsirrtums die Einführung des § 17 vorbereitet (BGHSt 2 194). Der 5. Senat hat den Vorsatz als Bestandteil des Tatbestandes angesehen (BGHSt 4 76, 78). Das Urteil des 2. Senats über das Vorsatzerfordernis bei der Haupttat (BGHSt 9 370, 378 ff) war eine Vorstufe für die Einführung der §§ 26, 27, und der Große Senat für Zivilsachen bestimmte bei den fahrlässigen Delikten das Handlungsunrecht durch die Sorgfaltspflichtverletzung (BGHZ 24 21). 26

5. Die gegenwärtig herrschende Lehre legt einen Verbrechensaufbau zugrunde, der die überlieferten Positionen des neo-klassischen Systems mit den wesentlichen Ergebnissen des Finalismus zu verknüpfen sucht. Den Grundlinien jener Synthese entspricht die Gliederung dieser Kommentierung: Der Handlungsbegriff tritt in seiner dogmatischen Bedeutung in den Hintergrund. Der Tatbestand ist Träger des typischen Strafwürdigkeitsgehalts der jeweiligen Deliktsart, er ist zugleich Unrechts- und Schuldtypus (Rdn. 41). Zwischen den objektiven Tatbestand als äußeren Erfolg und die Handlung schiebt sich eine umfangreiche, fein ziselierte und in vielen Einzelheiten umstrittene Lehre von der objektiven Zurechnung (Rdn. 89 ff). Die Rechtfertigungsgründe stehen Walter

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den Tatbeständen als selbständige Erlaubnissätze gegenüber, die allerdings wie negative Tatbestandsmerkmale wirken. Der Vorsatz hat nach verbreiteter Lehre eine Doppelstellung (Rdn. 137 ff): Er gehört als Typus-Merkmal zum subjektiven Unrechtstatbestand und als Ausdruck rechtsfeindlicher Gesinnung zur Schuld. Bei der Fahrlässigkeit gehört die Verletzung der objektiv gebotenen Sorgfalt zum Unrechtstatbestand, die Nichterfüllung der Sorgfaltspflicht trotz subjektiver Fähigkeit, ihr zu genügen, zur Schuld. Schuld bedeutet Vorwerfbarkeit der Tat mit Rücksicht auf die dadurch betätigte, rechtlich missbilligte Gesinnung. Der materielle Gehalt der Schuld besteht in der Verletzung des Achtungsanspruchs des durch die Tat betroffenen Rechtsguts. 6. Die wichtigste verbrechenssystematische Strömung (zeitlich) nach dem Finalis- 27 mus ist der Funktionalismus. Er verlangt, sämtliche Begriffe der Verbrechenslehre vom Strafzweck her zu bestimmen (Rdn. 7 mit Nachweisen). Das betrifft vor allem die Schuld (Rdn. 172 ff mit Nachweisen). Trotz vieler Anhänger ist der Funktionalismus keine herrschende Lehre geworden. Auf die Rechtsprechung hat er als systematischer Entwurf überhaupt keinen Einfluss gehabt, wiewohl sie seinem Spiritus Rector, Roxin, in zahlreichen dogmatischen Einzelfragen gefolgt ist. Ursache dieser praktischen Bedeutungslosigkeit dürfte unter anderem sein, dass die bislang vertretenen funktionalen Verbrechenslehren auf die herkömmlichen präventiven Straftheorien abstellen (positive und negative Generalprävention, Spezialprävention) und dass sich aus diesen Theorien schon aus logischen Gründen nichts für die Verbrechenslehre ableiten lässt: weil die Verbrechenslehre dazu dient, den Kreis des strafbaren Verhaltens zu definieren, und man diesen Kreis bereits kennen muss, wenn es bei präventiven Überlegungen darum geht, wodurch sich strafbarem Verhalten vorbeugen lasse. Hinzu kommt, dass die Rechtsprechung – auch das Bundesverfassungsgericht – den Hauptzweck der Strafe seit jeher und zutreffend in einem gerechten Schuldausgleich erkennt, das heißt in gerechter Vergeltung.27 Denn zu dieser Straftheorie passt die herrschende Verbrechenslehre besser als das, was die präventiv-funktionalen Lehren bislang zu bieten haben (Frisch GA 2015 65, 73 f). — Weitere neuere Systementwürfe sind die personale Straftatlehre von Frisch (zuletzt GA 2018 553, 561 ff, 571 ff) und Freund (MK Vor § 13 Rdn. 24 ff, 127 ff) und meine postfinalistische Verbrechenslehre (T. Walter Kern des Strafrechts, S. 1, 196 ff). Die personale Straftatlehre betont, dass man das tatbestandsmäßige Verhalten gedanklich von dem dadurch verursachten Erfolgssachverhalt zu trennen habe. Während letzterer rein objektiv-äußerlich zu beschreiben sei, lasse sich ein tatbestandsmäßiges Verhalten nur unter Rückgriff auf subjektive Momente definieren. Stets müsse bereits im Zeitpunkt dieses Verhaltens feststehen, dass es verboten, da pflichtwidrig sei. — Die postfinalistische Verbrechenslehre fasst Unrecht und Schuld zu einer Kategorie zusammen, in der Irrtümer nach einer einheitlichen Regelung zu behandeln sind, das heißt ohne zwischen den Bezugspunkten des Irrtums (Tatbestand oder Verbot?) zu unterscheiden. Unterschieden wird dann freilich für die Rechtsfolgen danach, wie vorwerfbar der Irrtum ist. In einer zweiten Kategorie, den Opportunitätsregeln, finden sich alle strafbarkeitseinschränkenden oder -begründenden Vorschriften des materiellen Rechts, die Unrecht und Schuld unberührt lassen. Dazu zählen auch die herkömmlich so genannten Entschuldigungsgründe. Für Irrtümer in dieser Kategorie gilt dann unter bestimmten Voraussetzungen § 35 Abs. 2 (Rdn. 194 ff).

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27 BVerfGE 128 326, 374 (dort sogar „gerechte Vergeltung“); 95 96, 140; 39 1, 57 (auch dort wieder „Vergeltung“); 22 125, 132 (auch dort „Vergeltung“); BVerfG StV 2013 353 Rdn. 55; BGHSt 24 132, 134; verkannt von Frisch GA 2015 65, 70 f, der einen Unterschied zwischen der Vergeltungs- und der Schuldausgleichsidee behauptet – um dann deren inhaltlichen Gleichlauf zu rügen.

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III. Die Handlung 28

1. Die herrschende Meinung benutzt einen vortatbestandlichen Handlungsbegriff als „eine didaktisch nützliche Deliktseingangsstufe“ in die Verbrechenslehre (Jakobs Handlungsbegriff, S. 13, der das allerdings kritisiert, s. sogleich). Ein Teil des Schrifttums lehnt einen solchen Begriff als überflüssig ab.28 Als Repräsentant dieser Ansicht argumentiert Herzberg: Ein vortatbestandlicher Handlungsbegriff nehme lediglich vorweg, was eigentlich eine tatbestandsinterne Wertung sei. Bewegungen im Schlaf habe man durchaus als Handlungen zu betrachten; lediglich fehle die Fahrlässigkeit. Zwar trifft es zu, dass in diesem Fall die Fahrlässigkeit fehlt. Es fehlen auch Rechtswidrigkeit und Schuld. Aber das erlaubt es weiterhin, einen vorgelagerten Handlungsbegriff zu entwerfen und schon dessen Bedingungen zu verneinen. Auch ist der Begriff der Fahrlässigkeit weder genauer als jener der Handlung noch ließen sich ihm die maßgebenden Wertungen eher entnehmen. — Jakobs setzt die Handlung gleich mit einem „Sich-schuldigMachen“ (Handlungsbegriff, S. 44). Sie müsse „das ganze Programm des Strafrechts“ enthalten. Das ist schon der Standpunkt der Hegelianer des vorletzten Jahrhunderts gewesen (Abegg, Berner, Köstlin, Hälschner) und findet auch heute noch Anhänger (Freund MK Rdn. 138; Pawlik S. 297 u.ö.). Dieser Karrieresprung des Handlungsbegriffs von einer Vorüberlegung zum Deliktsinbegriff mag für die Rechtsphilosophie von Nutzen sein. In der Dogmatik führt er zu nichts, weil er den Zuwachs an Übersichtlichkeit zunichte macht, den die negative Funktion eines vortatbestandlichen Handlungsbegriffs (s. sogleich) bewirkt.29

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2. a) Die Ausformung des Handlungsbegriffes ist seit Jahrzehnten in einem fruchtlosen Streit. Die Handlungslehren im Überblick (eingehend Jescheck LK11 Rdn. 26 ff; T. Walter Kern des Strafrechts, S. 25 ff): Nach der natürlichen Handlungslehre (irreführend auch als „kausale“ Handlungslehre bezeichnet) ist die Handlung „ein vom Willen getragenes menschliches Verhalten“.30 Nach der finalen Handlungslehre ist die Handlung das Ausüben einer „Zwecktätigkeit“ (Welzel Strafrecht, S. 33). Diese Wortschöpfung soll dafür stehen, „dass der Mensch auf Grund seines Kausalwissens die möglichen Folgen seines Tätigwerdens in bestimmtem Umfange voraussehen, sich darum verschiedenartige Ziele setzen und sein Tätigwerden auf diese Zielerreichung hin planvoll lenken kann“ (aaO). Die soziale Handlungslehre31 versteht die Handlung als „das vom menschlichen Willen beherrschte oder beherrschbare sozialerhebliche Verhalten“ (Wessels/ Beulke/Satzger Rdn. 144) oder schlicht als „sozialerhebliches menschliches Verhalten“ (Jescheck LK11 Rdn. 32). Sie ergänzt folglich den Willen des natürlichen Handlungsbe-

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28 Stellvertretend Herzberg GA 1996 1, 5 ff. Weitere Nachweise zu dieser Ansicht bei Roxin AT I § 8 Rdn. 42 Fn. 94. 29 Ablehnend schon Puppe NK Rdn. 50; Roxin AT I § 8 Rdn. 7 Fn. 9; Schild GA 1995 101, 117 ff; Sch/Schröder/Eisele Rdn. 36; Schünemann GA 1995 201, 220. 30 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 9 Rdn. 3; ganz ähnlich heute auch Fischer Rdn. 3 („jedes menschliche Verhalten“); Bernd Heinrich FS Weber, S. 91 ff, 108 („gewillkürte Körperbewegung“). Für die klassische Lehre Beling S. 17 („ein vom Willen getragenes menschliches Verhalten“); v. Liszt Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 22. Aufl. (1919) S. 116 („Verursachung oder Nichthinderung einer Veränderung [eines Erfolges] der Außenwelt durch willkürliches Verhalten“); Radbruch Der Handlungsbegriff und seine Bedeutung für das Strafrechtssystem (1904) S. 129 („durch einen bewußten Willensakt verursachte körperliche Bewegung“). 31 Begründet von Eb. Schmidt (Der Arzt im Strafrecht [1939] S. 78 ff und v. Liszt/Schmidt AT S. 153 f; eingehend später ders. FS Engisch, S. 339 ff), im Anschluss an ihn unter anderen vertreten von Engisch FS Kohlrausch, S. 141, 164; Jescheck und Beulke (s. im Text); Jescheck/Weigend § 23 VI 1 ff (S. 222 ff).

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griffs um die Sozialerheblichkeit. Exponierter Vertreter eines personalen Handlungsbegriffes ist Roxin (AT I § 8 Rdn. 44 ff mit Nachweisen zu nahestehenden Auffassungen). Ihm zufolge ist die Handlung eine „Persönlichkeitsäußerung“. Persönlichkeitsäußerung sei, „was sich einem Menschen als seelisch-geistiges (sic) Aktionszentrum zuordnen lässt“. Einen negativen Handlungsbegriff vertreten Herzberg und Jakobs.32 Sie verstehen die Handlung als Nichtvermeidung eines vermeidbaren deliktischen Erfolges. Herzberg verlangt noch eine Garantenstellung, findet sie aber beim gewöhnlichen Begehungsdelikt bereits durch die deliktische Körperbewegung begründet, in der sich ein „potentieller Gefahrenherd“ aktualisiere. Einzig Delikte wie §§ 138, 323c begründeten Handlungspflichten für jedermann, sanktionierten also keine Garantenpflichten und seien dem negativen Handlungsbegriff mithin entzogen (Herzberg S. 176). Jakobs begreift die Vermeidbarkeit zudem als individuelle Fahrlässigkeit, sodass schon nicht handelt, wer infolge geistiger oder körperlicher Mängel – etwa als alter Mensch – unfähig ist, die erforderliche Sorgfalt aufzubringen. — Für die Ergebnisse (was ist noch eine Handlung, was nicht?) sind die theoretischen Unterschiede kaum von Belang. Die Ergebnisse stimmen entweder überein, oder die Unterschiede sind nicht entlang der theoretischen Fronten angesiedelt, sondern haben andere Gründe. Zudem sind die Problemfälle für alle Theorien die gleichen. Einzige Besonderheit der sozialen Handlungslehre könnte sein, dass sie dem sogenannten irrealen (abergläubischen) Versuch schon die Handlungsqualität bestritte, vielleicht auch noch dem grob unverständigen Versuch. Aber das tut sie gar nicht. Soweit das Schrifttum indirekte oder passive Sterbehilfe aufgrund des „sozialen Sinngehaltes“ des Tuns aus den Tatbeständen der §§ 212, 216 herausbringen will,33 soll das dem fraglichen Verhalten nicht die Handlungsqualität, sondern lediglich die tatbestandliche Qualität nehmen. Dabei besteht die Gefahr, den Handlungsbegriff zu überfordern und eine teleologische Reduktion oder gar eine Rechtfertigung aus ungeschriebenem Recht methodisch zu verschleiern. b) Vor diesem Hintergrund steht nichts entgegen, den Handlungsbegriff zu verwen- 30 den, der methodisch am günstigsten ist und den auch die Praxis zugrunde legt. Das ist der natürliche Handlungsbegriff: Handlung als willensgetragenes menschliches Verhalten. Verhalten ist der Oberbegriff für ein äußeres Tun oder Unterlassen (für diesen Oberbegriff etwa schon Fischer Rdn. 3; Freund MK Rdn. 3). Es schließt bloße Gedanken aus gemäß dem althergebrachten und unstreitigen Grundsatz „cogitationis poenam nemo patitur“ (Dig. 48, 19, 18). Ein Tun ist der Einsatz von Körperkraft (Fischer Rdn. 3). Es muss keine große Kraft sein, manches Mal reicht ein Knopfdruck. Ferner muss die Körperkraft keine Körperbewegung bewirken. Sie kann auch dazu dienen, dass sich der eigene Körper unter einer Last oder trotz der Befreiungsversuche eines Festgehaltenen nicht bewegt. Dass nur menschliches Verhalten in Frage kommt, schließt Akte juristischer Personen aus. Zwar hat der Bundesgerichtshof in seiner Lederspray-Entscheidung BGHSt 37 106, 114 ff von einem Handeln „des Unternehmens“ gesprochen und erkennen einige darin eine „unternehmensbezogene Sicht der Handlung“ (so Kuhlen WiVerw 1991 183, 243 f; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 445 m.w.N.). Doch ist zweifelhaft, ob der BGH tatsächlich etwas zum Handlungsbegriff der allgemeinen Verbrechenslehre hat beitragen wollen. Zudem bleibt eine dogmatische Handlungsfähigkeit juristischer Perso-

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32 Herzberg S. 156 ff, 177 (dazu später selbstkritisch in GA 1996 1, 9 ff); Jakobs AT 6/24 ff. Wie Herzberg, aber auf psychoanalytischer Basis, Behrendt Die Unterlassung im Strafrecht (1979) S. 132. 33 Jähnke LK11 Vor § 211 Rdn. 17; Schick in: Bernat (Hrsg.) Ethik an der Grenze zwischen Leben und Tod (1993) S. 123, 138; weitere Nachweise bei Wessels/Hettinger/Engländer Rdn. 37.

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nen so lange ohne Belang, wie anerkannt ist, dass sie jedenfalls nicht schuldfähig sind. Sollte das deutsche Strafrecht die Strafbarkeit juristischer Personen einführen, wäre entweder der Handlungsbegriff zu ändern – und dies in allen Theorien (zur rechtspolitischen Diskussion Weigend LK Einl. Rdn. 91; Schünemann LK12 Vor § 25 Rdn. 20 ff; rechtsvergleichend und historisch Tiedemann FS Hurtado-Pozo, S. 495 ff). Oder man wählte auch begrifflich ein reines Zurechnungsmodell, beließe es folglich dabei, dass juristische Personen nicht handeln können, und begründete die Haftung wie in § 30 OWiG mit den Handlungen ihrer Repräsentanten. Dass man übrigens Gedanken nicht als Handlungen ansieht, ist in einer Welt zweifelhaft geworden, in der man mit technischen Mitteln Hirnströme und somatische Folgen der Hirntätigkeit messen und weiterverwerten kann. Erinnert sei an ein Experiment der Hirnforschung, bei dem den Probanden Elektroden in die Schädeldecke gepflanzt wurden, um das sogenannte elektrostatische Bereitschaftspotential abzuleiten, das sich vor einer Handbewegung bildet. An die Elektroden war ein Diaprojektor gekoppelt, in dem das Bereitschaftspotential einen Bildwechsel auslöste, noch kurz bevor die Probanden einen Schalter drückten, mit dem sie den Bildwechsel manuell auslösen wollten (aber tatsächlich nicht auslösen konnten, weil der Schalter gar nicht angeschlossen war; näher und zur Bedeutung für die Diskussion um die Willensfreiheit T. Walter FS Schroeder, S. 131, 136 ff). Erinnert sei ferner daran, dass es bereits gelungen ist, Schlaganfallpatienten „Roboterhände“ („Hand-Exoskelette“) anzulegen, die von der Hirntätigkeit der Patienten gesteuert werden. Vorstellbar wäre etwa auch die Befragung einer Person, die an einen sogenannten Lügendetektor (Polygraphen) angeschlossen und fähig ist, durch Konzentration auf bestimmte Vorstellungen einen Ausschlag des Detektors wahrheitswidrig auszulösen oder zu verhindern (und dadurch einen anderen dazu bringt, eine nachteilige Vermögensverfügung vorzunehmen oder einen Anspruch nicht weiter zu verfolgen). — Zu den segensreichen Folgen eines natürlichen Handlungsbegriffs für das Internationale Strafrecht und dessen §§ 3, 9 Bernd Heinrich FS Weber, S. 91 ff (der diese Handlungslehre mit der ebenso zutreffenden Einsicht verbindet, dass auch abstrakte und „potentielle“ Gefährdungsdelikte Erfolgsdelikte sind, Rdn. 63 f). Die üblichen Einwände gegen eine natürliche Handlungslehre verfangen nicht. 31 Deren erster lautet, die Reduktion des Handlungsbegriffs auf naturalistische Teilelemente des Geschehens verfehle das der deliktischen Erscheinung Wesentliche.34 Das ist zwar richtig; in der Tat geht der natürliche Handlungsbegriff an dem vorbei, was das Wesen des Delikts ausmacht. Dies jedoch ist bei einem vortatbestandlichen Begriff selbstverständlich, da er von den deliktswesentlichen Kategorien des Tatbestandes, der Rechtswidrigkeit und vor allem der Schuld absehen muss. Besonders hält man dem natürlichen Handlungsbegriff vor, er werde den Äußerungsdelikten nicht gerecht, namentlich nicht der Beleidigung (Jescheck/Weigend § 22 III 2a [S. 205]). Bei ihr gehe es nicht um physiologische und physikalische Erscheinungen, sondern um den missachtenden Sinn der Äußerung. Das ist zwar wieder richtig, berührt aber wieder nicht den Handlungsbegriff. Denn dieser Begriff ist nicht dazu da, denjenigen Aspekt des Verhaltens in den Vordergrund zu rücken, der im menschlichen Zusammenleben die größte Rolle spielt. Vielmehr soll er lediglich das Menschenwerk vom sonstigen Geschehen trennen. Die Frage nach der sozialen Erheblichkeit, als Beleidigung oder sonstwie, ist viel zu schwierig, als dass man schon vom Handlungsbegriff eine Antwort verlangen dürfte. Es ist auch selbst bei einer Beleidigung nicht verkehrt, wenn man sub specie Handlung nur fragt, ob der Täter willentlich Körperkraft eingesetzt habe. Ist ihm mit vis absoluta die Hand geführt wor-

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Roxin AT I § 8 Rdn. 16; Sch/Schröder/Eisele Rdn. 27; ähnlich Stratenwerth/Kuhlen § 6 Rdn. 5.

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den, um eine vorgefertigte beleidigende E-Mail abzuschicken (ein Tastendruck), oder muss er während eines Festessens krankheitsbedingt erbrechen, so ist das zu verneinen und hat der Handlungsbegriff seine Funktion erfüllt. Nimmt der Täter in dem Beispiel des Festessens zuvor ein Brechmittel ein, ist die Barriere des Handlungsbegriffes überwunden und mag man weiter prüfen, vor allem den Vorsatz. Der Anknüpfungspunkt dieser Prüfung – Einnahme des Brechmittels – wird freilich nicht klarer, wenn man meint, die Aufgabe laute ausschließlich, den Sinn einer Äußerung zu ermitteln. Weiter bemängelt man, der natürliche Handlungsbegriff versage bei der Unterlas- 32 sung.35 Deren Wirklichkeit werde erst durch Rechtspflichten erzeugt und habe nichts mit Körperkraft zu tun. Das trifft zu. Doch wer erkannt hat, dass die Unterlassung äußerlich gerade das Gegenteil der Handlung ist, den wird das weder erstaunen, noch wird er es als Mangel eines Handlungsbegriffs empfinden. Im Gegenteil ist die Unterlassung also, wenn sie äußerlich – und eben nur äußerlich – nichts mit der Handlung zu tun hat, auf den richtigen Punkt gebracht. Und keine Handlungslehre bezieht jene Rechtspflichten, aufgrund deren eine Unterlassung rechtserheblich wird, vollen Umfanges in die Begriffsbildung ein. Sofern von „sozialer Erheblichkeit“ die Rede ist, bedeutet das stets nur einen schwachen Abglanz rechtlicher Handlungspflichten und befreit nicht davon, diese Pflichten später im Einzelnen zu untersuchen. Nur fragt sich dann, warum sie beim Handlungsbegriff überhaupt eine Rolle spielen sollen. Es geht gar nichts verloren, wenn einem natürlichen Handlungsbegriff ein natürlicher Unterlassungsbegriff gegenübersteht. Dann unterlässt, wer willentlich darauf verzichtet, Körperkraft einzusetzen. Das Attribut „willentlich“ filtert wiederum das menschliche Verhalten aus dem sonstigen Geschehen aus. Und das Kriterium, ob Körperkraft eingesetzt werde, trennt die Handlung von der Unterlassung. Insgesamt ergibt das eine übersichtliche Gleichung, die für ihre Zwecke völlig ausreicht. Wem sie zu primitiv erscheint, der denke daran, wie die wohl herrschende Lehre das Tun vom Unterlassen abgrenzt, nämlich auch über das Kriterium der Körperkraft („Energieeinsatz“, dazu T. Walter ZStW 116 [2004] 555, 566 ff). Es geht auch fehl, den natürlichen Handlungsbegriff deshalb an der Unterlassung scheitern zu lassen, weil Willkürlichkeit eine Muskel- oder Nervenanspannung erfordere und eine solche bei der Unterlassung in der Regel nicht nachweisbar sei (so aber Roxin AT I § 8 Rdn. 13). Mitnichten erfordert Willkürlichkeit eine Muskel- oder Nervenanspannung. Vielmehr geht der Wille des Unterlassenden dahin, Muskeln und Nerven nicht anzuspannen; „Wille“ erneut in dem Sinne einer Mindestbeteiligung des Intellekts (Silva Sánchez JRE 2 [1994] 505, 517 [„minimaler Bewußtseinsgrad“]). Weiterhin meint man, ein natürlicher Handlungsbegriff sei jedenfalls nicht in der 33 Lage, die unbewusst fahrlässige Unterlassung einzubeziehen (Brammsen GA 2002 193, 200; Roxin AT I § 8 Rdn. 13). Bei ihr fehle es sowohl an der Nerven- und Muskelanspannung als auch am Willen, denn ein Vergessen sei nicht einmal ein Gedanke. Allerdings ist das Vergessen nicht einmal ein Gedanke. Freilich ist das pflichtvergessene Verhalten sehr wohl eine Handlung, und dies unkompliziert auch nach dem natürlichen Handlungsbegriff und ohne Rücksicht darauf, ob der Täter handelt oder unterlässt. Denn der Wille, dessen es für dieses Verhalten bedarf, ist nicht gleich dem Vorsatz. Und das Vergessen, um das es geht, ist nicht die Abwesenheit eines jeden Gedankens; der Täter wird schließlich nicht bewusstlos. Das Vergessen bezieht sich allein auf ein Sorgfaltserfordernis und die Möglichkeit des deliktischen Erfolges. Im übrigen ist das Bewusstsein des Täters ohne Abstriche tauglich, seinem Verhalten strafrechtliche Bedeutung zu geben.

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35 Jescheck/Weigend § 22 III 2a (S. 205); Köhler AT S. 125; Roxin AT I § 8 Rdn. 13; Sch/Schröder/Eisele Rdn. 27; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 135.

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Welzel hat dem natürlichen Handlungsbegriff entgegengehalten, er sei unfähig, den Versuch zu erfassen (Strafrecht, S. 41). Der Versuch sei nur als abzielende Handlung zu beschreiben, nicht als schlichte Betätigung eines im Übrigen planlosen Willens. Das ist richtig, aber kein Argument gegen den natürlichen Handlungsbegriff. Denn so wenig der Handlungsbegriff alles enthalten müsste, was ein Delikt ausmacht, so wenig alles, was ein versuchtes Delikt ausmacht. Was der natürliche Handlungsbegriff verlangt, den gewillkürten Einsatz von Körperkraft, das braucht auch der Versuch (und heißt dort „unmittelbares Ansetzen“). Was aber darüber hinausgeht, verweist der natürliche Handlungsbegriff in den Vorsatz, beim Versuch: Tatentschluss. Dort ist es ganz zufriedenstellend aufgehoben. — Außerdem soll der natürliche Handlungsbegriff in Schwierigkeiten geraten, „wenn er zu sehr auf den bewußten Willensanstoß abhebt“, weil das die Abgrenzung von Handlung und Nichthandlung bei Spontanreaktionen, automatisierten Handlungen und Affekt- und Trunkenheitstaten beeinträchtige (Roxin AT I § 8 Rdn. 12). Allerdings geriete der natürliche Handlungsbegriff in Schwierigkeiten, wenn er „zu sehr“ das Bewusste betonte; definitionsgemäß darf man nichts „zu sehr“. Es stimmt aber nicht, dass der natürliche Handlungsbegriff bei den besagten Phänomenen ein Zuviel an bewusster Willensbetätigung verlangte, s. Rdn. 37 f. Brammsen macht geltend, wenn man willensgesteuertes Verhalten verlange, seien 35 epileptische Bewegungen keine Handlungen, und dann fehle es an einer Voraussetzung mittelbarer Täterschaft, wenn jemand einen Epileptiker in ein Museum nötige (§ 35), wissend, dass ein Anfall bevorstehe, und wenn der Epileptiker dann in seinem Anfall Ausstellungsstücke zerstöre (GA 2002 193, 200). Das ist zwar nach herrschender Meinung richtig – obwohl der Wortlaut des § 25 Abs. 1, 2. Alternative den Fall ohne Weiteres erfasst. Schwierigkeiten macht es aber nicht. Der Hintermann ist unmittelbarer Täter, denn er bewirkt objektiv zurechenbar, vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft den deliktischen Erfolg, ganz so, als stieße er einen anderen in eine Schaufensterscheibe. Auch Besitzdelikte wie § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG sind kein Argument gegen einen natür36 lichen Handlungsbegriff. Der unerlaubte Besitz zum Beispiel von Betäubungsmitteln ist nämlich nicht etwa eine Handlung oder Tätigkeit ohne den Einsatz von Körperkraft, sondern lediglich ein deliktischer Erfolg in Form eines Zustandes der Sachherrschaft, also der Möglichkeit, auf die Sache einzuwirken (Ambos FS Yamanaka, S. 223, 231; Eckstein Besitz als Straftat, S. 227 ff, 264 f). Strafbar macht sich, wer diesen Zustand schuldhaft durch den bewussten Einsatz von Körperkraft herbeiführt oder entgegen einer Handlungspflicht schuldhaft nicht beseitigt (wobei die Handlungspflicht im Regelfall mit der Begründung des Besitzes zusammenfällt und dann nur die Frage bleibt, ob der Besitzer von seiner Sachherrschaft weiß oder fahrlässig nicht weiß; gegen die Konzeption der Besitz- als Verhaltensdelikte Ambos und Eckstein aaO). Mit den Besitzdelikten hat sich auch BVerfG NJW 1994 2412 f befasst, wo deren Verfassungsmäßigkeit im Ergebnis zutreffend bejaht wird, allerdings mit ungenauen Bemerkungen zum strafrechtlichen Handlungsbegriff („Körperbewegung“) und zur Deliktsstruktur der Besitzdelikte (Besitz als Tat statt als Taterfolg). Demgegenüber hält Lagodny S. 318 ff Besitzdelikte für verfassungswidrig, soweit sie kein Verhalten voraussetzen. Man kann und muss sie aber so auslegen, dass sie dies stets tun, siehe oben. — Noch immer erhoben wird der Vorwurf, der natürliche Handlungsbegriff sei uferlos und erkläre auch das Zeugen des Mörders zur Tötungshandlung (zum Beispiel von Sch/Schröder/Eisele Rdn. 27). Zur Handlung erklärt er es in der Tat, und das ist auch richtig. Jedoch sind die Eltern dadurch nicht wegen Mordes verantwortlich, denn außer der Kausalität fehlt alles, was eine Handlung deliktisch macht. 37

3. a) Das wichtigste Kriterium des natürlichen Handlungsbegriffes ist das Willensgetragene des Verhaltens. Dieses Merkmal ist auch die Schleuse, um den psychologischen Walter

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und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zum menschlichen Verhalten Geltung zu verschaffen. Nach ihnen lassen sich auf dem Boden des natürlichen Handlungsbegriffes die folgenden Grenzfälle mit der herrschenden Meinung36 noch als Handlung begreifen: – Die Spontan- und die Schreckreaktion („Kurzschlusshandlung“).37 Die Grenze zu den reflexgleichen (Nicht-)Handlungen (Rdn. 38 zweiter Spiegelstrich) kann im Einzelfall unscharf sein und ist dann auch eine Frage erfahrungswissenschaftlicher Erkenntnisse (Freund MK Rdn. 143; Silva Sánchez JRE 2 [1994] 505, 514 ff). – Automatisierte Handlungen, die wie das Kuppeln, Schalten und Lenken beim Autofahren fest eingeübt sind und die man ablaufen lässt, ohne lange Erwägungen anzustellen (Jescheck LK11 Rdn. 41). Zum Teil liest man, solche Handlungen geschähen unbewusst.38 Doch das stimmt eben nur, wenn man das Bewusstsein sehr eng versteht, und dazu besteht keine Verpflichtung, auch nicht für einen natürlichen Handlungsbegriff. Vielmehr lässt sich gut sagen, jemand gehe oder schreibe bewusst, auch wenn er nicht bei jedem Schritt und jedem Buchstaben überlegt, wie er die Füße zu setzen oder den Stift zu führen habe. – Handlungen im Affekt, da er das Bewusstsein keineswegs ausschaltet, sondern lediglich trübt.39 Bei höhergradigen Trieb- oder Wutaffekten (Aggressionsentladung) kommen §§ 20, 21 in Betracht. – Der Rausch, sei es durch Alkohol, sei es durch eine andere Droge. Allerdings hat das nach herrschender Auffassung Grenzen: Die sinnlose Trunkenheit kann Handlungen ausschließen, wenn der Wille sie nicht mehr beherrscht.40 So fehlt die Handlung, wenn ein sinnlos Trunkener gegen eine Vase torkelt, die zerbricht (anders Roxin AT I § 8 Rdn. 70). Unterhalb sinnloser Trunkenheit kommen immerhin §§ 20, 21 in Betracht.





b) Folgende Phänomene sind nach herrschender Meinung keine Handlungen:41 38 Physiologische Vorgänge aus dem sensitiv-somatischen Bereich, die ohne Mitwirkung der Geisteskräfte des Menschen ablaufen, etwa Erbrechen und Krämpfe einschließlich der epileptischen.42 (Einige betrachten Epilepsie erst als einen Fall des § 20 [Brammsen GA 2002 193, 200].) Reflexe im engeren Sinne wie das Zucken nach einem Stromschlag (Jescheck LK11 Rdn. 37). Auch das Schließen der Augen bei starker Blendung oder vor einem sich nähernden Gegenstand zählt hierher, ebenso die primäre (erste unwillkürliche) Bewegung nach einem Insektenstich (Silva Sánchez JRE 2 [1994] 505, 507) oder vergleichbaren Verletzungen.

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36 Siehe neben den Nachweisen im Folgenden zusammenfassend Sch/Schröder/Eisele Rdn. 37 ff; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 143. 37 OLG Hamm NJW 1975 657 f (Abwehrbewegung gegenüber Insekt); Silva Sánchez JRE 2 (1994) 505, 508 ff mit illustrem Fallmaterial aus der spanischen Rechtsprechung (z.B. Abwehrbewegung nach Griff in die Geschlechtsteile); Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 143. 38 Roxin AT I § 8 Rdn. 68; Spiegel DAR 1968 283, 285. Für eine einzelfallbezogene Würdigung Freund MK Rdn. 144. 39 OLG Hamburg JR 1950 408 f; Krümpelmann FS Welzel, S. 327 ff. 40 Freund MK Rdn. 142; Jescheck LK11 Rdn. 37; Maurach/Zipf § 16 Rdn. 19; Sch/Schröder/Eisele Rdn. 39. Zur Rechtsprechung Schewe Reflexbewegung, Handlung, Vorsatz (1972) S. 40 ff. 41 Siehe neben den Nachweisen im Folgenden zusammenfassend Freund MK Rdn. 139 ff; Sch/Schröder/ Eisele Rdn. 38 ff; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 142, 144 f. 42 Freund MK Rdn. 139; Jescheck LK11 Rdn. 36; Roxin AT I § 8 Rdn. 65; Sch/Schröder/Eisele Rdn. 39; Silva Sánchez JRE 2 (1994) 505, 507; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 145.

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Bewegungen in der Bewusstlosigkeit, insbesondere im Schlaf, in der Ohnmacht, in tiefer Hypnose43 oder Narkose oder im Zustand des Schlafwandelns (Somnambulismus) (Jescheck LK11 Rdn. 37). Umstritten ist posthypnotisches Verhalten. Richtigerweise hat es Handlungsqualität, da der Handelnde einen aktuellen eigenen Verhaltenswunsch entwickelt und hypnotische Befehle auch nicht schrankenlos ausführt, sondern nur, soweit sie mit seiner Wesensart vereinbar sind („Charakterschranke“).44 Ein Verhalten unter unwiderstehlicher Gewalt (vis absoluta).

4. Da alles, was die menschlichen Bewusstseinskräfte angreift, auch den Vorsatz oder gemäß § 20 die Schuld ausschließen kann, hat der Handlungsbegriff im herrschenden Verbrechensmodell systematische Berührungspunkte mit dem subjektiven Tatbestand und der Schuld (Mir Puig ZStW 106 [1996] 759, 778). Das bedeutet für die Praxis vor allem, bei physischen und psychischen Befunden gemäß § 20 zunächst einmal die Handlungsqualität des Verhaltens und den Vorsatz ernsthaft auf den Prüfstand zu stellen, etwa bei Taten in hochgradigem Affekt oder schwerer Geisteskrankheit (BGH bei Holtz MDR 1994 127). Ob man solche Befunde schon die Handlung im Sinne des Strafrechts beseitigen lässt oder erst Vorsatz oder Schuld, kann auch Folgen für die Ergebnisse haben (Silva Sánchez JRE 2 [1994] 505, 520 ff). Denn wenn bereits eine Handlung fehlt, liegt keine rechtswidrige Tat vor (§ 11 Abs. 1 Nr. 5) und scheiden folglich Maßregeln der Besserung und Sicherung aus. In der herrschenden Dogmatik ist dann auch mittelbare Täterschaft ausgeschlossen. Ferner verlangen viele für einen Angriff, der zur Notwehr berechtigt, dass der Angreifer mindestens im Sinne des Strafrechts handele.45 IV. Der Tatbestand

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1. Das Wort „Tatbestand“ wurde wohl zuerst von Ernst Ferdinand Klein im strafrechtlichen Schrifttum gebraucht (Hall Die Lehre vom Corpus Delicti [1933] S. 128). In Verbindung mit ihm sind mittlerweile so viele Begriffe zu verzeichnen, dass sich eine Aufstellung mit kurzen Erläuterungen lohnt: – Gesetzlicher (Straf-)Tatbestand ist der Wortlaut einer Strafvorschrift des Besonderen Teils oder des Nebenstrafrechts. Manchmal bleibt dieser Wortlaut hinter dem Tatbestand im Sinne der allgemeinen Verbrechenslehre zurück, das ist der Fall eines ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals, etwa dem der Vermögensverfügung beim Betrug (§ 263). Manchmal hat dieser Wortlaut aber auch Teile, die man (oder ein Teil des Schrifttums) auf andere Ebenen des Verbrechensaufbaus schiebt, zur Rechtswidrigkeit (etwa „rechtswidrig“ in § 303 und „unbefugt“ in § 324),46 zur Schuld (so jedenfalls die Lehre von den speziellen Schuldmerkmalen [Rdn. 176 ff], zum Beispiel für die niedrigen Beweggründe in § 211) oder zu den Strafausschließungsgründen

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43 Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 145. Nach Sch/Schröder/Eisele Rdn. 39 werden hypnotische Zustände „meist erst als Bewusstseinsstörung iS des § 20 angesehen“. 44 Vgl. demgegenüber Jescheck LK11 Rdn. 39; wie hier schon Roxin AT I § 8 Rdn. 72 m.w.N. 45 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 17 Rdn. 5; Erb MK § 32 Rdn. 55 f; Gropp AT § 5 Rdn. 128; Jakobs AT 12/16; Jescheck/Weigend § 32 II 1a (S. 338); Marxen Die „sozialethischen“ Einschränkungen des Notwehrrechts (1979) S. 61; Otto FS Würtenberger, S. 129, 141; Schmidhäuser AT 6/65; früher Günther SK § 32 Rdn. 25 f; aA Lackner/Kühl/Kühl § 32 Rdn. 2; Spendel LK11 § 32 Rdn. 27 f (Ausnahme vis absoluta); wohl auch Fischer § 32 Rdn. 5 m.w.N.; früher Herzog NK2 § 32 Rdn. 6 f (Ausnahme vis absoluta). 46 Steindorf LK11 § 324 Rdn. 73; Tiedemann in Kimminich u.a. (Hrsg.), Handwörterbuch des Umweltrechts, Bd. 2, 2. Aufl. (1994), Art. Umweltstrafrecht, unter III 2 (h.M.).

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oder deren Kehrseite, den objektiven Strafbarkeitsbedingungen (so die Erweislichkeit oder Nichterweislichkeit der Tatsache in § 186). Tatbestand im Sinne der allgemeinen Verbrechenslehre ist die Summe der Merkmale, die ein bestimmtes strafrechtliches Verbot oder Gebot begründen, den Vorsatz eingeschlossen, aber noch ohne Rücksicht auf Rechtfertigungsgründe. Unrechtstatbestand heißt das Gleiche wie Tatbestand im Sinne der allgemeinen Verbrechenslehre. Straftatbestand heißt der gesetzliche (Straf-)Tatbestand oder der Tatbestand im Sinne der allgemeinen Verbrechenslehre. Objektiver Tatbestand ist die Gesamtheit derjenigen Merkmale des Tatbestandes, deren Subsumtionsstoff außerhalb der Täterpsyche zu finden ist. Das sind alle äußeren Tatsachen und innere (psychische) Tatsachen bei anderen Personen. Soweit im Folgenden nur vom „Tatbestand“ die Rede ist, meint dies den objektiven Tatbestand im Sinne der allgemeinen Verbrechenslehre. Gegen die Isolierung eines objektiven oder subjektiven Tatbestandes Freund MK Rdn. 24 f, 184, 187. Subjektiver Tatbestand ist die Gesamtheit derjenigen Merkmale des Tatbestandes, deren Subsumtionsstoff in der Täterpsyche zu finden ist. Das ist neben besonderen Absichten und Einstellungen vor allem der Vorsatz. Erlaubnistatbestand ist die Gesamtheit der objektiven Umstände, die einen Rechtfertigungsgrund ergeben. Deren subjektive Seite nennt man „subjektives Rechtfertigungselement“, während die näher liegende Bezeichnung als „subjektiver Erlaubnistatbestand“ unüblich ist. Gesamtunrechtstatbestand ist die Zusammenfassung des Unrechtstatbestandes mit der Rechtswidrigkeit. Er liegt also vor, wenn Rechtfertigungsgründe fehlen. Einige reservieren diesen Begriff allerdings der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen (so Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 181 ff). Schuldtatbestand ist bei Jescheck/Weigend § 42 I 1 [S. 496] und Jescheck LK11 Rdn. 81 (in Verbindung mit dem Inhaltsverzeichnis) die Bezeichnung für sogenannte deliktstypische oder auch spezielle Schuldmerkmale (zu ihnen Rdn. 176 ff). Systemtatbestand ist ein Begriff, den einige dem Garantietatbestand und dem Irrtumstatbestand gegenüberstellen.47 Der Systemtatbestand ist das Gleiche wie der Tatbestand im Sinne der allgemeinen Verbrechenslehre. Der Garantietatbestand soll alle Umstände umfassen, die dem Nullum-crimen-Satz unterliegen (der Begriff stammt von Lang-Hinrichsen JR 1952 302, 307). Das können neben Schuld- und Strafausschließungsgründen auch Prozessvoraussetzungen sein. Der Irrtumstatbestand soll sich zusammensetzen aus dem objektiven Tatbestand und dem (objektiven) Erlaubnistatbestand, was in der Sache die eingeschränkte Schuldtheorie zum Erlaubnistatbestandsirrtum bedeutet. Irrtumstatbestand s. bei Systemtatbestand. Garantietatbestand s. bei Systemtatbestand. Tatbestand im weiteren Sinne nennen manche den Garantietatbestand (so Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 175). Tatbestand im engeren Sinne nennen Stratenwerth/Kuhlen § 7 Rdn. 7 ff den Unrechtstatbestand.

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47 Roxin AT I § 10 Rdn. 1 ff und § 12 Rdn. 119; Tiedemann Tatbestandsfunktionen, S. 172 (Garantietatbestand als Gegenstand des Art. 103 Abs. 2 GG), 200 ff (Beschränkung des Garantietatbestandes auf die unrechtsvertypende Handlungsbeschreibung unter Ausschluss anderer materiellrechtlicher Strafbarkeitsvoraussetzungen); teils auch Sch/Schröder/Eisele Rdn. 43/44. Zum Garantietatbestand auch Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 175.

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2. a) Die Aufgabe des Tatbestandes besteht darin, Unrecht zu vertypen. Das ist allerdings lediglich im Sinne einer methodischen – dann auch: didaktischen – Regelhaftigkeit zu verstehen. Der Tatbestand gibt nicht mehr vor als einen frühen gedanklichen Schritt bei der Anwendung des materiellen Strafrechts. Er ist damit losgelöst von statistischen Betrachtungen. Das ist im Grundsatz anerkannt. Jedoch tauchen statistische Überlegungen in der herrschenden Dogmatik gleichwohl versteckt auf, wenn es darum geht, bestimmte entlastende Regelungen, namentlich zu einer verwaltungsrechtlichen Erlaubnis, entweder als Ausschlüsse des Tatbestandes oder als Rechtfertigung einzuordnen (Rdn. 53). Denn dann will man das fragliche Verhalten zunächst „für sich“ betrachten – ohne Rücksicht auf eine Erlaubnis – und überlegen, ob es so betrachtet erwünscht oder wenigstens sozialadäquat sei. Und hinter dem Kriterium der Sozialadäquanz verbirgt sich kaum etwas anderes als die Üblichkeit, und das heißt eben auch Häufigkeit des Verhaltens. Solche Überlegungen sind jedoch verfehlt; für die Unterscheidung von Tatbestandsausschlüssen und Rechtfertigungsgründen sind andere Erwägungen ausreichend, aber auch erforderlich (aaO). Und mag es auch im Kernstrafrecht einige wenige bildhafte Unrechtstypen geben im Sinne eines „Übels-Urbildes“, etwa die Freiheitsberaubung – der Gesetzgeber unterliegt keinem wie auch immer gearteten Typenzwang, wenn er einen Tatbestand formuliert. Denn der entscheidende Sprung eines Verhaltens ist nicht der in die Tatbestandsmäßigkeit, sondern der in die Rechtswidrigkeit. Mit anderen Worten und nach zutreffender herrschender Ansicht ist der Tatbestand keine eigene Wertungsstufe.48 Entgegen Roxin49 hat er auch keine besondere generalpräventive Bedeutung. Weder kennen die Rechtsgenossen das Strafrecht im Wortlaut noch kümmert es sie im Einzelfall, ob ihnen ein mangelnder Tatbestand oder ein Rechtfertigungsgrund die Strafbarkeit erspart. Die Ge- und Verbote der Rechtsordnung, auch der strafbewehrten, sind ihnen vielleicht im Ergebnis vertraut, aber nicht in dessen dogmatischer Herleitung.

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b) Die herrschende Meinung unterscheidet normative und deskriptive Tatbestandsmerkmale.50 Deskriptive Merkmale beschrieben Gegenstände der realen Welt, zum Beispiel „Fahrrad“ (§ 248b). Normative Merkmale zielten auf etwas ab, das überhaupt nur unter der Voraussetzung einer Norm gedacht werden könne, zum Beispiel die „gesetzliche Unterhaltspflicht“ (§ 170). Diese Unterscheidung ist verfehlt und führt nicht weiter.51 Einerseits bezeichnen sämtliche Rechtsbegriffe Gegenstände der realen (und keiner irrealen) Welt, die freilich nicht körperlich zu sein brauchen. Andererseits haben sämtliche Rechtsbegriffe eine juristische Definition, die zwar von vorjuristischen Definitionen beeinflusst sein mag, sich mit ihnen aber nicht deckt und jedenfalls nicht decken muss. Auch das Kriterium (etwa bei Jescheck/Weigend § 26 IV 1 [S. 269 f]), dass nur deskriptive Merkmale einem Beweis zugänglich seien, hilft nicht weiter, da die Umstände eines Sachverhaltes stets dem Beweis zugänglich sind und jeder Rechtsbegriff nur von den Umständen des Sachverhaltes ausgefüllt werden kann: Ob ein Schriftstück einen Aussteller erkennen lässt und mithin eine Urkunde ist, ergibt im Normalfall die Einnah-

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48 Frisch Vorsatz und Risiko, S. 244 f; Pawlik S. 209 ff; Perron S. 53, 223; Rinck S. 89 f, 470; Sch/Schröder/Eisele Rdn. 17, 19, 45; Schünemann GA 1985 341, 349; Wolter S. 143 f; in der Sache auch Schlehofer S. 69. 49 AT I § 10 Rdn. 19 ff (anders noch in Offene Tatbestände, S. 174 ff); dagegen schon Rinck S. 462 f. 50 Jescheck/Weigend § 26 IV (S. 269 f); Joecks MK § 16 Rdn. 70; Kindhäuser GA 1990 407, 409; Roxin AT I § 10 Rdn. 57; Schmidhäuser AT 8/10; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 188 ff. „Entdeckt“ hat die normativen Merkmale M. E. Mayer AT S. 182 ff. 51 Ausführlich T. Walter Kern des Strafrechts, S. 219 ff. Krit. schon viele, etwa Gössel GA 2006 279, 281; Herzberg/Hardtung JuS 1999 1073; Schmid S. 27; früher bereits E. Wolf Festgabe RG V, S. 44, 54 ff.

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me eines Augenscheins. Auch Rechtliches kommt als Sachverhalt in Frage, denn auch Normen und Rechtsverhältnisse sind dem Beweis zugänglich (vgl. § 293 ZPO). Dass es im Rahmen eines solchen Beweises zu einem „non liquet“ kommen mag, weil unterschiedliche Lösungen vertretbar sind, unterscheidet rechtliche Verhältnisse nicht grundsätzlich von anderen Beweisgegenständen. Dementsprechend nimmt es nicht wunder, dass auch vermeintlich deskriptive Merkmale gelegentlich eine Auslegung erfordern und im Sachverhalt schwer zu ermitteln sind.52 c) aa) Der Tatbestand stanzt aus der vorstrafrechtlichen Normenwelt einen Teil her- 43 aus, indem er entweder positiv bestimmte Umstände verlangt („dies“) oder negativ die Abwesenheit bestimmter anderer Umstände voraussetzt („ohne das“). Auch hierbei leitet die methodische Regelhaftigkeit die Formulierung; sprachliche Erwägungen treten hinzu. Allerdings ist für die negativen Formulierungen des Gesetzes (oder richterrechtlicher Zusätze) meist im Streit, ob sie verbrechenssystematisch tatsächlich den Tatbestand ausschließen oder nicht anderen Kategorien angehören, das heißt Rechtfertigungs- oder Strafausschließungsgründe sind oder gar prozessuale Regelungen. Vor allem gilt das für Formulierungen, welche die Abwesenheit einer verwaltungsrechtlichen oder sonstigen Erlaubnis verlangen. Auch positive Formulierungen enthalten natürlich insofern Tatbestandsausschlüsse, als alle nicht bezeichneten Umstände tatbestandslos bleiben. So schließt die Formulierung „ein Kraftfahrzeug oder ein Fahrrad“ in § 248b alle anderen Sachen als Tatobjekte eines Gebrauchsdiebstahls aus. Die ausdrücklichen Tatbestandsausschlüsse haben redaktionell äußerstenfalls die 44 Form einer gesetzlichen Quasi-Fiktion: In diesem und jenem Fall sei der Tatbestand nicht erfüllt – der aber dem Wortlaut nach klar vorliegt. So in § 218a Abs. 1, der behauptet, dass eine Schwangerschaft nicht abbreche, wer sie unter den Voraussetzungen des § 218a Abs. 1 abbreche. In einer milderen Formulierung heißt es, der Tatbestand „gelte nicht“, wenn bestimmte Ausnahmen vorlägen, so etwa zu lesen in § 86 Abs. 3.53 Eine dritte Formulierung bietet § 109f Abs. 1 Satz 2: Von der Strafdrohung des Satzes 1 sei „ausgenommen“ eine zur Unterrichtung der Öffentlichkeit im Rahmen üblicher Presse- und Funkberichterstattung ausgeübte Tätigkeit.54 Eine vierte Wortlautvariante zeigt § 129 Abs. 2, der bestimmt, Absatz 1 sei in drei Fällen „nicht anzuwenden“.55 Allerdings verbergen sich hinter den genannten Wörtern und Wendungen zuweilen Rechtfertigungsgründe. Etwa bestimmt § 184b Abs. 5, der Tatbestand der Absätze 2 und 4 „gelte nicht“, obwohl der Handelnde „ausschließlich der Erfüllung rechtmäßiger […] Pflichten“ dient, also gerechtfertigt ist (Schroeder FS Eser, S. 181, 184). Ein Tatbestandsausschluss ist demnach nie allein redaktionell zu erkennen. Wenn die fragliche Regelung auch außerstrafrechtlich wirkt, ist sie (deswegen) ein Rechtfertigungsgrund (Rdn. 148). (Umgekehrt gilt das grundsätzlich nicht. Wenn das Strafgesetz „nicht rechtswidrig“ sagt, wirkt dies

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52 Jescheck/Weigend § 15 I 4 (S. 130); Roxin AT I § 10 Rdn. 11, 59; Tiedemann Anfängerübung, S. 119; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 191. 53 Jedenfalls die ganz h.M. deutet das als Tatbestandsausschluss, s. nur Sch/Schröder/Sternberg-Lieben § 86 Rdn. 17 m.w.N. Gleich lauten § 131 Abs. 3 und § 184 Abs. 2 Satz 2; für die Natur als Tatbestandsausschlüsse Sch/Schröder/Sternberg-Lieben § 131 Rdn. 15/16; Sch/Schröder/Lenckner/Eisele § 184 Rdn. 40. 54 Für die Natur als Tatbestandsausschluss Lackner/Kühl/Kühl § 109 f Rdn. 5; Sch/Schröder/Eser § 109 f Rdn. 6 (h.M.). 55 Für die Natur als Tatbestandsausschluss Sch/Schröder/Sternberg-Lieben § 129 Rdn. 8 (h.M.). Gleich lauten etwa § 131 Abs. 4, § 180 Abs. 1 Satz 2, § 184 Abs. 2 Satz 1; für die Natur als Tatbestandsausschlüsse Sch/Schröder/Sternberg-Lieben § 131 Rdn. 15/16, Sch/Schröder/Lenckner/Eisele § 180 Rdn. 12 und § 184 Rdn. 20.

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dem Wortlaut nach in der gesamten Rechtsordnung und ist nicht ohne Weiteres nur als Ausschluss des Tatbestandes zu behandeln.) 45

bb) Inhaltlich kann ein Tatbestandsausschluss zwei ganz unterschiedliche Bedeutungen haben. Er kann entweder nur das Strafrecht beschränken, wo das Verhalten im Übrigen rechtswidrig bleibt (Tatbestandsausschluss trotz Unrechts). Dann ist er Ausdruck des fragmentarischen Charakters des Strafrechts. Beispiele sind die De-minimisKlausel in § 129 Abs. 3 Nr. 2, das „Erzieherprivileg“ (vergleiche Fn. 54 und T. Walter Kern des Strafrechts, S. 165 f) in § 131 Abs. 3, § 180 Abs. 1 Satz 2 und § 184 Abs. 2 Satz 1 sowie § 218a Abs. 1 (Abtreibung nach Beratung). Der Tatbestandsausschluss kann aber auch für die Grenze von Recht und Unrecht stehen statt nur für die Grenze zwischen Unrecht und strafbarem Unrecht. So im Falle des Parteienprivilegs in § 129 Abs. 3 Nr. 1. Dort ist das tatbestandslose Verhalten schon außerstrafrechtlich nicht rechtswidrig, folglich rechtmäßig, auch wenn dies keine Leistung der strafrechtlichen Norm ist und auch wenn das Verhalten sittlich bedenklich bleiben mag. Weitere Beispiele: Schon im JuSchG steht (§ 15 Abs. 1 Nr. 4), vom Verbot gewerblicher Vermietung jugendgefährdender Trägermedien seien „ausgenommen“ Ladengeschäfte, „die Kindern und Jugendlichen nicht zugänglich sind und von ihnen nicht eingesehen werden können“. Folglich steht die entsprechende Vorschrift im StGB (§ 184 Abs. 1 Nr. 3a) für fehlendes Unrecht. Ebenso bei § 109 f Abs. 1 Satz 2. Vom Verbot des Nachrichtensammelns „ausgenommen“ wird dort „eine zur Unterrichtung der Öffentlichkeit im Rahmen der üblichen Presse- und Funkberichterstattung ausgeübte Tätigkeit“. Die übliche Presse- und Funkberichterstattung ist aber rechtmäßig (auch wenn es faktisch üblich sein mag, hin und wieder Rechtswidriges zu veröffentlichen). Genauso ist es mit dem Verhalten gemäß § 86 Abs. 3 und § 131 Abs. 2.56

cc) Die Ratio eines Tatbestandsmangels wechselt von Tatbestand zu Tatbestand. Etwa sparen § 120 und § 258 die Tat zu eigenen Gunsten aus, weil man, schlicht gesprochen, Verständnis hat, wenn jemand versucht, seine Bestrafung abzuwenden. § 248b will die Strafbarkeit des Gebrauchsdiebstahls auf besonders wichtige Fahrzeuge beschränken und ist so Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips. Vergleichbar sind die Tatbestandsrestriktionen in § 218a Abs. 1, § 153 und § 171; auch die Beschränkung vieler Tatbestände auf vorsätzliches Handeln (§ 15) gehört hierher. Ausfluss des Subsidiaritätsprinzips sind ferner De-minimis-Klauseln, die den Tatbestand um Bagatellen erleichtern, etwa § 129 Abs. 2 Nr. 2. Die pädagogische Freiheit schützen soll das „Erzieherprivileg“ in § 131 Abs. 3, § 180 Abs. 1 Satz 2 und § 184 Abs. 2 Satz 1. Verfassungsrechtlich motiviert ist das Parteienprivileg des § 129 Abs. 3 Nr. 1. Erwägungen ähnlich dem § 193, also zur Wahrnehmung berechtigter Interessen, tragen die Tatbestandsausschlüsse in § 86 Abs. 3, § 109f Abs. 1 Satz 2 und § 131 Abs. 2. Dass sich Tatbestände zum Schutze der Gemeinrechtsgüter auf deutsche Interessen beschränken, hängt mit außenpolitischen/völkerrechtlichen Rücksichten zusammen. Es sind also ganz unterschiedliche Erwägungen, die hinter den Restriktionen der Tatbestände stehen. 47 Die Erwägungen, die hinter den Tatbestandsausschlüssen stehen, sind mit denen hinter den Strafausschließungsgründen vergleichbar bis identisch, sofern der Tatbestandsausschluss lediglich die Grenze von Unrecht und strafbarem Unrecht markiert. Unverkennbar ist das bei den Bagatellvorschriften, die sich hier wie dort finden; man

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56 Für die Natur als Tatbestandsausschlüsse Sch/Schröder/Sternberg-Lieben § 131 Rdn. 15, 16; Sch/Schröder/Sternberg-Lieben § 86 Rdn. 17 (jeweils h.M.).

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vergleiche den Strafausschließungsgrund des § 326 Abs. 6 (unerlaubter Umgang mit geringen Mengen gefährlicher Abfälle ohne Gefahr für die Umwelt) mit dem Tatbestandsausschluss des § 129 Abs. 3 Nr. 2 (Bildung einer kriminellen Vereinigung, „wenn die Begehung von Straftaten nur ein Zweck oder eine Tätigkeit von untergeordneter Bedeutung ist“). Auch das Verfassungsrecht spielt in beiden Normengruppen eine Rolle, so in § 129 Abs. 3 Nr. 1 (Parteienprivileg – Tatbestandsausschluss) und § 36 (Indemnität – Strafausschließungsgrund), ebenso wie der Gedanke, dass man mit mancher menschlicher Schwäche Einsehen haben müsse, wenn jemand etwa Angehörige begünstigt (§ 258 Abs. 6 – Strafausschließungsgrund) oder sich selbst (§§ 120, 258, dort zwar als Tatbestandsmängel im Umkehrschluss, aber der Unterschied zum ausdrücklichen Tatbestandsmangel = Tatbestandsausschluss ist rein redaktionell). Überhaupt finden Erwägungen zur Subsidiarität des Strafrechts sowohl in Tatbestandsausschlüssen Ausdruck (§ 218a Abs. 1) als auch in Strafausschließungsgründen (§ 218a Abs. 4 Satz 1). Außenpolitische und völkerrechtliche Rücksichten können gleichfalls an beiden Stellen auftauchen, im Internationalen Strafrecht als Tatbestandsgrenzen (deutsches Schutzgut?), in § 104a aber als objektive Strafbarkeitsbedingung (Gegenseitigkeit verbürgt?), und objektive Strafbarkeitsbedingungen sind lediglich formal umgekehrte (sachliche) Strafausschließungsgründe. Für die Einteilung einer Regelung als Tatbestandsausschluss oder Strafausschlie- 48 ßungsgrund kann demnach im herrschenden Verbrechensmodell nicht die Natur des geregelten Sachverhaltes maßgeblich sein. Vielmehr hat man einen Blick auf die Folgen zu werfen. Er ergibt für den Tatbestandsausschluss, dass §§ 16, 22 anwendbar sind, also eine milde (§ 16) und eine harte (§ 22) Irrtumsnorm, und dass es von ihm, dem Tatbestandsausschluss abhängt, ob eine Teilnahme möglich ist (§§ 26, 27). Der Strafausschließungsgrund ist jedenfalls dem Regime der § 16, §§ 22f entzogen, oft sogar gänzlich irrtumsresistent: Wenn der Täter des § 326 irrig meint, die Abfälle seien nur eine geringe Menge und ungefährlich, nützt ihm das nichts, aber wenn er eine tatsächlich geringe und ungefährliche Menge für beachtlich und gefährlich hält, schadet ihm das auch nicht, er bleibt straflos. (Zum Meinungsstand betreffend Irrtümer über Strafausschließungsgründe T. Walter Kern des Strafrechts, S. 350 ff.) Für Anstiftung und Beihilfe spielen Strafausschließungsgründe keine Rolle, zumindest nicht die persönlichen. Allerdings hat es Grenzen, die Systemkategorien nach den Folgen zu wählen. Dem 49 Strafgesetzgeber verwehren diese Grenzen, bloß einen Strafausschließungsgrund zu schaffen, wo schon das Unrecht fehlt. Es fehlt zum einen, wenn das fragliche Verhalten selbst außerstrafrechtlich höchstens sittliche Normen berührt. So wäre es unmöglich, bei der einfachen Sachbeschädigung nur einen Strafausschluss vorzusehen, wenn die Sache im Alleineigentum des Täters steht oder herrenlos ist. In diesen Fällen gibt es kein Unrecht. Für den Strafgesetzgeber kann das Unrecht aber auch daran scheitern, dass ein Verhalten zwar rechtlich zu beanstanden ist, aber keine Kriminalstrafdrohung erzwingt, sodass sie als subsidiär zurücktreten muss. Indes hängt dies weniger an einer ontologischen Feststellung denn an einer kriminalpolitischen Entscheidung. Für bereits geltendes Recht bietet die Lehre vom Rechtsgut (Rdn. 8 ff) eine begrenzte 50 Entscheidungshilfe. Ist ein Tatbestandsmangel rechtsgutneutral, könnte man das fragliche Verhalten auch im Strafrecht als Unrecht einstufen. Um zu prüfen, ob ein Tatbestandsmangel rechtsgutneutral ist, füllt man ihn gedanklich auf und überlegt, ob das die Bestimmung des Rechtsgutes änderte. Denkt man sich beispielsweise § 248b erstreckt auf sämtliche Fahrzeuge oder gar sämtliche Sachen, ließe dies das Rechtsgut unberührt (Gebrauchsrecht oder Eigentum, siehe nur Sch/Schröder/Eser/Bosch § 248b Rdn. 1). Die Beschränkung auf Kraftfahrzeuge und Fahrräder könnte also auch die Form eines Strafausschließungsgrundes haben, was man in diesem Fall redaktionell positiv, das heißt 801

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als objektive Strafbarkeitsbedingung formulieren würde. Vergleichbar sind die Beschränkungen des § 264 auf Wirtschaftssubventionen, des § 171 auf Opfer, die unter 16 Jahre alt sind, der §§ 120, 153 f, 258, soweit sie nur die Tat zugunsten anderer erfassen, sowie des § 218 auf Taten ohne vorherige Beratung (§ 218a Abs. 1); weitere Beispiele bei Schlehofer S. 104. Natürlich sind solche Überlegungen mit aller Unsicherheit und Fragwürdigkeit belastet, die der auslegungsleitenden Funktion des Rechtsgutbegriffs anhaften (Rdn. 12). Fehlt das Unrecht insgesamt oder fehlt immerhin strafwürdiges Unrecht, hat der Ge51 setzgeber mindestens einen Tatbestandsausschluss zu schaffen. Fehlt das Unrecht insgesamt, ist auch an eine Rechtfertigung zu denken. Mit ihr sollte sich der Strafgesetzgeber aber zurückhalten, denn sie wirkt in Rechtsgebiete, in denen er womöglich nicht wirken will. Darf man das fragliche Verhalten indes auch im Strafrecht als Unrecht, das heißt als besonders verwerfliches Unrecht einstufen, steht es in dem Ermessen des Gesetzgebers, ob er einen Tatbestandsausschluss schafft oder einen Strafausschließungsgrund. Zum Tatbestandsausschluss aufwerten könnte der Gesetzgeber zum Beispiel § 326 Abs. 6. Als weiteres Beispiel § 36, denn § 185 könnte gut lauten: „Die Beleidigung wird […] bestraft. Die Beleidigung ist eine Äußerung von Miss- oder Nichtachtung, es sei denn, jemand äußert sich als Mitglied des Bundestages (und so weiter).“ Jakobs versteht § 36 schon de lege lata in diesem Sinne, das heißt als Tatbestandsmangel (AT 10/15f). Auch die „kleine Fristenlösung“ des § 218a Abs. 4 Satz 1 könnte wie Abs. 1 den Tatbestand ausschließen, ohne dass sich – außer bei Irrtümern – etwas änderte.57 Für die Entscheidung zwischen Tatbestandsausschluss und Strafausschließungs52 grund sollte für den Gesetzgeber ermessensleitend die Überlegung sein, was bei einem Irrtum des Handelnden gelten soll. Hat sich der Gesetzgeber zwischen Tatbestandsausschluss und Strafausschließungsgrund entschieden, sollte er seine Wahl unmissverständlich zum Ausdruck bringen und „bleibt straffrei“ sagen, wenn er einen Strafausschließungsgrund will (Rdn. 188), und eine der oben Rdn. 44 genannten Wendungen benutzen, wenn es ein Tatbestandsausschluss sein soll; vorzugswürdig sind Wendungen nach Art des „ausgenommen“, etwa noch „ohne dass“ oder „es sei denn“. Dem Interpreten des Strafgesetzes setzt der Wille des Gesetzgebers Grenzen, der dem des Interpreten im Regelfall vorgeht. Deshalb ist zum Beispiel § 326 Abs. 6 zwingend als Strafausschließungsgrund zu behandeln (vergleiche BT-Drs. 8/3633, S. 29). Der Wortlaut des Gesetzes hingegen ist in dieser Frage keine Grenze. Zum einen betrifft Art. 103 Abs. 2 GG nur das Ob der Strafbarkeit und kümmert sich nicht um die verbrechenssystematische Kategorie, in der sie durch eine entlastende Bestimmung ausgeschlossen wird. Zum zweiten kann es zwar auch für das Ob der Strafbarkeit eine Rolle spielen, dass man eine entlastende Bestimmung erst als Strafausschließungsgrund einordnet statt als Ausschluss des Tatbestandes; denn die irrige Annahme einschlägiger entlastender Umstände ist bei einer Klassifizierung als Strafausschließungsgrund prinzipiell ohne Belang, lässt die Strafbarkeit also unberührt, während sie bei einer Klassifizierung als Tatbestandsausschluss gemäß § 16 den Vorsatz beseitigt (wobei es sich gleich bleibt, ob man dies auf § 16 Abs. 1 [analog] oder Abs. 2 stützt). Doch der Wortlaut des Gesetzes legt sich bei grammatisch-lexikalisch scharfer Betrachtung verbrechenssystematisch nicht fest (Rdn. 3). Wenn eine Strafnorm sagt, dass mit X bestraft werde, wer Y tue, und wenn dann ein zweiter Absatz anfügt, dies „gelte nicht“, sei „nicht anzuwenden“ oder davon sei Folgendes „ausgenommen“, so lässt das dem Wortsinn nach offen, woran die Strafbar-

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57 Übersehen von BVerfGE 88 203, 279 (zweites Abtreibungsurteil); zutr. schon Sch/Schröder/Eser § 218a Rdn. 14.

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keit scheitert. Selbst die Formulierung in § 218a („Tatbestand des § 218 nicht erfüllt“) ist noch so auszulegen, dass mit „Tatbestand“ die Summe aller materiellrechtlichen Voraussetzungen der Strafbarkeit gemeint sei, denn auch in § 218 steht schon die Rechtsfolge des „wird bestraft“, die unstreitig mehr bedingt als den Tatbestand im Sinne der allgemeinen Verbrechenslehre. Allerdings verhindert in diesem Fall der eindeutig kundgetane Wille des Gesetzgebers, den § 218a anders zu verstehen denn als Tatbestandsausschluss. dd) Einige Tatbestände insbesondere des Nebenstrafrechts setzen der Strafbarkeit 53 voraus, dass der Täter ohne eine verwaltungsrechtliche Erlaubnis handelt. Dann fragt sich, ob diese Erlaubnis nur den (Straf-)Tatbestand beschneidet oder als Rechtfertigung wirkt. Dies hängt nach h.M. davon ab, ob das Verhalten an sich erwünscht oder mindestens sozialverträglich ist (Tatbestandsausschluss) oder selbst mit einer Erlaubnis Ausnahmecharakter hat und eine Interessenabwägung erfordert (Rechtfertigung). Das entspricht der verwaltungsrechtlichen Unterscheidung zwischen dem präventiven Verbot mit Erlaubnisvorbehalt und dem repressiven Verbot mit Befreiungsvorbehalt.58 Als Beispiele für mindestens sozialverträgliches Verhalten dienen das Führen eines Kraftfahrzeugs (ohne Erlaubnis strafbar nach § 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG) und der Betrieb einer kerntechnischen Anlage (ohne Erlaubnis strafbar nach § 327 Abs. 1 Nr. 1), als Gegenbeispiele dienen der Umgang mit Betäubungsmitteln59 (ohne Erlaubnis strafbar nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG) und die Arbeit mit Krankheitserregern (ohne Erlaubnis strafbar nach § 75 Abs. 1 Nr. 3 Infektionsschutzgesetz [IfSG60]); weitere Beispiele bei Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 382 f. Diese h.M. muss sich die Kritik gefallen lassen, dass der Tatbestand keine eigene Wertungsstufe verkörpert (Rdn. 41) und dass es daher fehlschlagen muss, ihm hinsichtlich verwaltungsrechtlicher Erlaubnisse gleichwohl eine solche Wertungsfunktion zu unterschieben: Inwiefern fehlt der soziale Nutzen, wenn ein Arzt Betäubungsmittel verwendet? Inwiefern fehlt der soziale Nutzen, wenn ein Labor mit Krankheitserregern Versuche durchführt, um ein Medikament zu entwickeln? Solche Handlungen mögen gefährlich sein, aber das gilt auch für den Betrieb kerntechnischer Anlagen. Und mit Betäubungsmitteln mag jemand bei unsachgemäßer Verwendung Unheil anrichten können, aber das gilt auch für Kraftfahrzeuge. Für Einzelfälle gesteht man die Abgrenzungsschwierigkeiten auch ein,61 und zum Beispiel ist es heillos umstritten, ob die Erlaubnis für § 284 (Unerlaubtes Veranstalten eines Glücksspiels) den Tatbestand ausschließe oder rechtfertige (die wohl herrschende Meinung nimmt einen Tatbestandsausschluss an).62 Dieses Beispiel bietet zugleich eine Anschauung dafür, wie sich die skiz-

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58 Für die h.M. grundlegend Goldmann Die behördliche Genehmigung als Rechtfertigungsgrund, Diss. Freiburg i.Br. 1967, S. 93 ff, 128; jetzt BayObLGSt. 1993 32, 38; 1992 11, 14; OLG Celle NStZ 2005 412 Rdn. 3 f (zu § 11 OWiG); Fortun S. 35 ff; Rönnau LK Vor § 32 Rdn. 274 ff; Jescheck/Weigend § 33 VI (S. 368 f); Roxin AT I § 10 Rdn. 32; Sch/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vor § 32 Rdn. 61; Stratenwerth/Kuhlen § 9 Rdn. 136; Tiedemann NJW 1981 945, 947; ders. Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 382 f; in der Sache auch Rengier ZStW 101 (1989) 874, 878 ff; leicht modifiziert Jakobs AT 16/29; aA Heghmanns Grundzüge einer Dogmatik der Straftatbestände zum Schutz von Verwaltungsrecht oder Verwaltungshandeln (2000) S. 174 ff, 190, 353 f (durchweg Tatbestandsausschluss; ebenso der Gesetzgeber des OWiG 1968 bei Wendungen wie „ohne die erforderliche Erlaubnis“, s. BR-Drs. 420/66, S. 46); Welzel MDR 1952 584, 585 (durchweg Rechtfertigungsgrund). 59 Vordergründig aA BGH NStZ 1996 338, 339, s. im Text. 60 Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen vom 20.7.2000, BGBl. 2000 I 1045. 61 Siehe etwa Fortun, Lenckner/Sternberg-Lieben und Stratenwerth/Kuhlen (wie Fn. 57). 62 von Krehl LK12 § 284 Rdn. 22; Lackner/Kühl/Heger § 284 Rdn. 12; Sch/Schröder/Heine/Hecker § 284 Rdn. 23; Schroth S. 63; Fischer § 284 Rdn. 13; aA BVerfGE 28 119, 148; Jescheck/Weigend § 33 VI 1 (S. 368).

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zierten Unsicherheiten in der Irrtumsdogmatik potenzieren (näher T. Walter Kern des Strafrechts, S. 269 ff). Sie knüpft nämlich auch insofern an den Unterschied von tatbestandsausschließender und rechtfertigender Genehmigung an, als der Irrtum über das Genehmigungserfordernis nach herrschender Auffassung ein Tatbestandsirrtum ist, wenn die Genehmigung den Tatbestand ausgeschlossen hätte, und ein Verbotsirrtum, wenn sie eine Rechtfertigung gewesen wäre. Man ist sich dieser Parallele zur allgemeinen Verbrechenslehre aber nicht durchgehend bewusst und stuft etwa für § 284 die behördliche Erlaubnis zunächst als negatives Tatbestandsmerkmal ein, siehe oben, was dieselben Autoren und die herrschende Meinung aber nicht hindert, den Irrtum über das Erlaubniserfordernis nach § 17 zu behandeln.63 Ebenso erklärt BGH NStZ 1996 338, 339 für §§ 29, 29a BtMG zunächst – und entgegen der herrschenden allgemeinen Lehre – das Fehlen einer Erlaubnis, mit Betäubungsmitteln umzugehen, zum Tatbestandsmerkmal, hält dann aber den Irrtum, keiner Erlaubnis zu bedürfen, für einen Verbotsirrtum. Das entspricht zwar im Ergebnis wieder der herrschenden Meinung, aber nicht in der Herleitung. Und so schwankt die Abgrenzung aus der allgemeinen Verbrechenslehre in der Irrtumsdogmatik nicht nur ebenso haltlos, sondern auch noch asynchron weiter. Allerdings lässt sich die verwaltungsrechtliche Erlaubnis nicht beliebig als Tatbe54 standsausschluss oder Rechtfertigung klassifizieren. Ein Rechtfertigungsgrund kann nur sein, was die Rechtswidrigkeit insgesamt beseitigt (Rdn. 148). Reicht eine verwaltungsrechtliche Erlaubnis demnach nicht in alle Rechtsgebiete – bezogen auf artgleiche Verbotstatbestände (Rdn. 152) –, so ist sie kein Rechtfertigungsgrund. 55

d) Im Schrifttum verbreitet ist die Ansicht, es gebe „gesamttatbewertende Merkmale“, namentlich die Verwerflichkeit in §§ 237, 240, 253.64 Nachdem man diese Kategorie entdeckt hatte, wurden ihr in rascher Folge neue Beispiele zugeordnet, und zwar – die unerlaubte Risikoschaffung im objektiven Tatbestand der Vorsatzdelikte,65 – die Verletzung einer Garantenpflicht nach § 13,66 – die Zumutbarkeit des Handelns bei den Unterlassungsdelikten (Sch/Schröder/Stree/ Bosch Rdn. 155), – verunglimpfen (§ 90) (Roxin AT I § 12 Rdn. 121), – der Missbrauch von Notrufen gemäß § 145 (Roxin AT I § 10 Rdn. 47), – der beschimpfende Unfug (§ 168) (Roxin AT I § 12 Rdn. 121), – die sexuellen Handlungen in §§ 174 ff (Herdegen FS BGH 25, S. 195, 201), – grausam und heimtückisch (§ 211) (Roxin AT I § 12 Rdn. 121), – die Rechtswidrigkeit der erstrebten Bereicherung (§ 263) (Schwegler S. 154; Gleiches muss dann bei § 242 für die Rechtswidrigkeit der erstrebten Zueignung gelten),

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63 Wie Fn. 61: Heine/Hecker (Rdn. 31); Lackner/Kühl/Heger (Rdn. 13); Fischer (Rdn. 25); ebenso Lesch JA 1996 346. 64 Hardtung ZStW 108 (1996) 26, 28; Herdegen FS BGH 25, S. 195, 200 f; Jescheck/Weigend § 25 II 2 (S. 248); Lange Zum Bewertungsirrtum über die Rechtswidrigkeit des Angriffs bei der Notwehr (1994) S. 38; Puppe GA 1990 145, 170 ff; Roxin AT I § 10 Rdn. 45 ff, § 12 Rdn. 105; Rönnau LK Vor § 32 Rdn. 14, 40; Schlüchter S. 179; dies. JuS 1993 14, 18; Sch/Schröder/Sternberg-Lieben/Schuster § 15 Rdn. 22; Sch/Schröder/Eisele Rdn. 66; Schroth S. 23; Schwegler S. 73 f; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 354; weitere Nachweise bei Heidingsfelder Der umgekehrte Subsumtionsirrtum (1991) S. 23 Fn. 4 und im Folgenden; aA Kuhlen S. 427 Fn. 44; krit. auch Baumann FS Welzel, S. 533, 535; Herzberg GA 1993 439, 450 Fn. 26; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 414. 65 Hardtung ZStW 108 (1996) 26, 28 Fn. 13 m.w.N.; Herzberg/Hardtung JuS 1999 1073, 1076. 66 Herzberg/Hardtung JuS 1999 1073, 1076; Puppe GA 1990 145, 170; Sch/Schröder/SternbergLieben/Schuster § 15 Rdn. 22.

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die Pflichtwidrigkeit des Treunehmers bei der Untreue (§ 266)67 und des Anwalts beim Parteiverrat (§ 356) (Roxin AT I § 12 Rdn. 113), die Rechtswidrigkeit der Absprache in § 298 (Wettbewerbsbeschränkende Absprachen bei Ausschreibungen) (früher Rudolphi SK § 298 Rdn. 8, 11; i. Erg., aber mit anderer Begründung [„Blankettcharakter“] jetzt auch Rogall SK § 298 Rdn. 25), die Unlauterkeit der Bevorzugung in § 299 (Bestechlichkeit und Bestechung im geschäftlichen Verkehr) (früher Rudolphi SK § 299 Rdn. 10; ; i. Erg., aber mit anderer Begründung [„teilaspektbewertendes Merkmal“] jetzt auch Rogall SK § 299 Rdn. 72 f), grob verkehrswidrig in § 315c,68 der Verstoß gegen die allgemein anerkannten Regeln der Technik in § 319 (Puppe GA 1990 145, 171), unbefugt in § 324 (Schünemann wistra 1986 235, 245) und folglich wohl auch – zumindest im Grundsatz – in allen anderen Tatbeständen, ohne vernünftigen Grund in § 17 Tierschutzgesetz (Rönnau LK Vor § 32 Rdn. 14, 40; Sch/Schröder/Eisele Rdn. 66).

Für ein gewöhnliches Tatbestandsmerkmal seien diese Merkmale zu normativ; an- 56 dererseits verliere der Tatbestand ohne sie seine unrechtstypische Kontur. Die Lösung sei, dem Tatbestand nur die Umstände zuzuschlagen, aus denen die Gesamtbewertung folge, die Bewertung selbst jedoch auf der Ebene der Rechtswidrigkeit vorzunehmen (grundlegend Roxin Offene Tatbestände, S. 135 ff). Auch die Merkmale eines Erlaubnissatzes können nach dieser Lehre gesamttatbewertend sein (vgl. T. Walter Kern des Strafrechts, S. 337 ff). Die Lehre von den gesamttatbewertenden Merkmalen ist aber mindestens überflüssig. Sie ist sogar verfehlt, soweit sie eine verbrechenssystematische Besonderheit suggeriert, die es nicht gibt. Ein Merkmal wie die Verwerflichkeit hat gegenüber anderen Tatbestandsmerkmalen allein und höchstens zwei sprachliche Besonderheiten. Einmal die sprachliche Verklammerung von Tatbestand und Rechtfertigung: An der Verwerflichkeit kann es sowohl fehlen, weil ein Rechtfertigungsgrund eingreift, als auch weil es keine Tatumstände gibt, welche die Verwerflichkeit positiv begründeten. Die zweite sprachliche Besonderheit ist die Weite des Begriffs. Unzutreffend ist die Annahme Puppes (GA 1990 145, 170 ff), normative und gesamttatbewertende Merkmale unterschieden sich darin, dass die normativen Merkmale nur ein „Teilstück des Sachverhalts“ beschrieben, das gesamttatbewertende Merkmal hingegen die ganze Tat bewerte. Erstens gibt es keinen qualitativen Unterschied zwischen dem Bewerten und dem Beschreiben. Beide Male geht es darum, einem Sachverhalt (Gegenstand) einen Begriff (Zeichen) zuzuordnen. Lediglich ist die Regel, nach der das geschieht (Begriffsgesetz), bei einem weiten Begriff weniger genau. Zum Zweiten bezieht sich diese Zuordnung auch bei den vorgeblich gesamttatbewertenden Merkmalen oft nicht auf die Tat als ungeordnete Gesamtheit. Sonst müsste es schon bei § 240 heißen: „Die Tat ist rechtswidrig, wenn sich der Täter verwerflich verhält.“ Tatsächlich bezieht sich § 240 Abs. 2 nur auf einen besonderen Gesichtspunkt, und zwar das Verhältnis von Mittel und Zweck. Noch deutlicher ist diese Spezialisierung des Bezuges bei „grob verkehrswidrig“ (kein Bezug auf die Merkmale des Straßenverkehrs und der Gefährdung eines anderen Menschen oder einer fremden Sache) und „sexuelle Handlung“ (kein Bezug auf Identität und Eigenschaften des Opfers und des Täters). In einem solchen Sinne gesamttatbewertend sind aber einer-

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Puppe GA 1990 145, 171; Schünemann LK12 § 266 Rdn. 193 f. Kühl AT § 5 Rdn. 97; Puppe GA 1990 145, 171; Sch/Schröder/Sternberg-Lieben/Schuster § 15 Rdn. 22.

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seits alle tatbestandlichen Attribute des Täterverhaltens, die verbleiben, wenn man die tatbestandliche Situation (Personen, Zeit, Ort …) vernachlässigt. Andererseits lassen sich derartige Attribute gar nicht von der tatbestandlichen Situation im Übrigen abgrenzen, denn sie hängen von dieser Situation ab. So kann eine „Behandlung“ nur lebensgefährdend sein, wenn ein lebender anderer Mensch zugegen ist, und apropos dieses Beispiels ist schon zu fragen, wieso in § 315c das grob Verkehrswidrige des Verhaltens eher die Gesamttat bewerten soll als die Gefährdung eines Menschen oder einer wertvollen Sache. Mindestens überflüssig ist die Lehre von den gesamttatbewertenden Merkmalen, 57 weil es ersichtlich nur um den Irrtum geht und das gewünschte Ergebnis auch ohne jene Lehre auskommt. Das gewünschte Ergebnis lautet zum Beispiel für § 240, dass es § 16 unterfalle, wenn der Täter die Umstände verkenne, aus denen das Urteil „verwerflich“ folge, und dass (höchstens) § 17 anwendbar sei, wenn der Täter jene Umstände vor Augen habe, aber gleichwohl meine, sein Tun sei nicht verwerflich (statt aller Rönnau LK Vor § 32 Rdn. 41). Zu diesem Ergebnis gelangt aber auch, wer das Merkmal „verwerflich“ – und jedes sonst vorgeblich gesamttatbewertende Merkmal – als (konkludentes) Blankett begreift und der herrschenden (wenngleich unsachgerechten) Ansicht folgt, die blankettausfüllende Norm und der Blanketttatbestand seien „zusammenzulesen“. Denn dann unterfällt nur noch der Subsumtionsstoff des vermeintlich gesamttatbewertenden Merkmals dem Vorsatzerfordernis und befindet sich lediglich in einem Subsumtionsirrtum, wer diesen Umständen irrig das Prädikat jenes Merkmals verweigert (vgl. T. Walter Kern des Strafrechts, S. 105 ff). 58

3. Die Tatbestände qualifiziert man üblicherweise nach einer Reihe von Deliktstypen.

a) So unterscheidet die herrschende Ansicht Allgemein- und Sonderdelikte sowie eigenhändige Delikte. Normalerweise ist es dem Gesetz einerlei, wer den Tatbestand erfüllt. Es heißt dann schlicht: „Wer dies und das tut … wird bestraft“, etwa in § 223. Sonderdelikte knüpfen die Strafbarkeit daran, dass der Täter eine besondere Eigenschaft hat. Eine wichtige Kategorie innerhalb der Sonderdelikte sind die Amtsdelikte, deren Täter ein Amtsträger sein muss (§ 11 Abs. 1 Nr. 2). Bei ihnen unterscheidet man noch die eigentlichen Amtsdelikte, die es überhaupt nur für Amtsträger gibt, und die uneigentlichen Amtsdelikte, die mit milderer Strafe auch für jedermann begehbar sind, etwa § 340 (Körperverletzung im Amt). Diese Unterscheidung trifft man entsprechend für alle Sonderdelikte. Man spricht dann allerdings nicht von eigentlichen oder uneigentlichen, sondern von echten und unechten Sonderdelikten; die eigentlichen Amtsdelikte sind also echte Sonderdelikte. Wichtige Normen des Allgemeinen Teils zu den Sonderdelikten sind § 14 und § 28. Der § 14 regelt die sogenannte Vertreterhaftung und überträgt für die Zwecke des Strafrechts eine besondere Eigenschaft des Vertretenen auf den Vertreter. § 28 regelt unter anderem die Strafbarkeit in dem Fall, dass an einem Sonderdelikt mehrere als Täter oder Teilnehmer beteiligt sind. 59 Die Unterscheidung zwischen Allgemein- und Sonderdelikt ist allerdings problematisch, weil eine sonderdeliktische Eigenschaft für sich genommen noch keine (Sonder-) Pflicht begründet, sondern deren Entstehung davon abhängt, dass gewisse weitere Umstände hinzutreten (zust. Rotsch ZIS 2014 579, 588). Solange einem Beamten kein Schmiergeld angeboten wird und er auch keine Gelegenheit hat, eines zu fordern, ist es ohne Belang, dass er unbestechlich zu sein hat. Dies bleibt abstrakt und wird daher im eigentlichen Sinne keine Pflicht, da eine Pflicht die Möglichkeit bedingt, sie zu verletzen. Und so gesehen begründen auch die Allgemeindelikte „Sonder“pflichten: Sie verpflichWalter

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ten nur den, der in die tatbestandsmäßige Situation gerät. Daher liegt es in der Natur der Sache, dass zwischen den klaren Allgemeindelikten und den klaren Sonderdelikten nicht nur Tatbestände existieren, deren Qualität als echtes Sonderdelikt im Streit ist, etwa § 14269 und §§ 153 ff,70 sondern auch solche, die vielleicht formal Allgemeindelikte sind („Wer dies und das tut …“), aber aufgrund ihrer Merkmale doch nur einen begrenzten Täterkreis haben. So die Verkehrsdelikte, deren Primärnormen sich nur an Fahrzeugführer richten (§ 316), und zahlreiche Tatbestände des Wirtschaftsstrafrechts, die bei sachgerechter Auslegung nur durch unternehmerisches Führungspersonal zu verwirklichen sind oder durch Personen an ähnlich herausgehobener Stelle. Beispielsweise kann einen Kapitalanlagebetrug (§ 264a) bei sachgerechter Auslegung nur begehen, wer den Inhalt des trügerischen Prospekts entweder maßgeblich beeinflusst hat oder ihn sich nach außen verantwortlich zu eigen macht, und scheiden Personen aus, die lediglich – wenn auch mit Vorsatz – anderweitig an der Herstellung und Verbreitung des Prospekts mitgewirkt haben, etwa als Sekretärin (näher Tiedemann/Vogel LK12 § 264a Rdn. 101 ff). An den Unterschied von Allgemein- und Sonderdelikten knüpft Roxins Lehre von 60 den Pflichtdelikten und den Herrschaftsdelikten an.71 Er versteht unter den Pflichtdelikten jene Sonderdelikte, die auf außerstrafrechtlichen Sonderpflichten beruhen. Da das Strafrecht eine streng akzessorische Rechtsordnung ist (Rdn. 4), sind das bei Lichte betrachtet alle Sonderdelikte. Bedeutung gewinnen sie in Roxins Lehre für die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme. Sie ist nach Roxin dergestalt normativ vorzunehmen, dass jeder Sonderpflichtige Täter ist, ganz gleich, ob er unterlässt oder mehr oder weniger handelt. Dem lässt sich insoweit zustimmen, wie die einschlägigen Sonderpflichten Garantenpflichten sind. Denn es wäre widersprüchlich, das täterschaftliche Unterlassen eines Garanten zur Teilnahme herabzustufen, sobald er den Erfolg sogar aktiv fördert (wenn auch nur in bescheidenem, gehilfen- oder anstiftergleichem Umfang; zu einem Beispiel T. Walter ZStW 116 [2004] 555, 574). Anders natürlich aus Sicht derer, denen zufolge ein unterlassender Garant neben einem Begehungstäter stets oder als Sicherungsgarant nur Teilnehmer sein kann (zu diesem Streit Roxin AT II § 31 Rdn. 125 ff). Sowohl innerhalb der Allgemein- als auch innerhalb der Sonderdelikte gibt es nach 61 herrschender Ansicht sogenannte eigenhändige Delikte.72 Bei ihnen könne nur Täter sein, wer die Tathandlung eigenhändig vornehme, das heißt persönlich und unmittelbar. Gängige Beispiele sind § 173 (Beischlaf zwischen Verwandten), die Aussagedelikte (§§ 153 ff), der Vollrausch (§ 323a), die Rechtsbeugung (§ 339) und Verkehrsdelikte, die das Führen eines Fahrzeugs voraussetzen (§§ 315c, 316, § 21 StVG). Wer nicht unmittelbar-persönlich tätig wird, soll höchstens Anstifter oder Gehilfe sein. Auch soll bei diesen Delikten mittelbare Täterschaft ausgeschlossen sein. Beides ist eigentlich nicht einzusehen. Vielmehr verdankt sich die Kategorie der eigenhändigen Delikte einer gegenständlich-reduzierten Betrachtung, die weder der Wortlaut noch der Sinn noch die Systematik des Gesetzes verlangt. Wer vom Beifahrersitz eines Fahrzeuges aus den Fahrer

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69 Vgl. Lackner/Kühl/Kühl § 142 Rdn. 39 m.w.N. Die h.M. nimmt ein Sonderdelikt für „Unfallbeteiligte“ an (für die h.M. Fischer § 142 Rdn. 14). 70 Vgl. Fischer Vor § 153 Rdn. 2 m.w.N. Der Meinungsstand ist ausgeglichen; Fischer neigt dazu („wohl zutr.“), die Aussagedelikte als Allgemeindelikte anzusehen. 71 Begründet in TuT, 1. Aufl. (1963) S. 352 ff; jetzt AT I § 10 Rdn. 129 ff; zustimmend Jakobs Die strafrechtliche Zurechnung von Tun und Unterlassen, in: Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge G 344 (1996) S. 33 ff; ders. 7/70 f, 21/3 ff (Jakobs verwendet die Begriffe einer institutionellen Zuständigkeit [Pflichtdelikte] und einer organisatorischen Zuständigkeit [Herrschaftsdelikte]); Tiedemann Tatbestandsfunktionen, S. 110. 72 BGH StraFo 2007 475 (zu § 315c); Jescheck LK11 Rdn. 50; Jescheck/Weigend § 26 II 6 (S. 266); Kindhäuser LPK Rdn. 258; Roxin AT I § 20 Rdn. 62; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 55.

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mit vorgehaltener Waffe oder durch eine Lüge („rechts ist frei!“) zu einer Fahrhandlung bringt – Lenkeinschlag, Bremsen, Gasgeben und dergleichen –, der führt das Fahrzeug durch einen anderen nicht weniger als jemand, der es zum Anrollen bringt, indem er die Handbremse löst (vgl. schon AG Cottbus DAR 2003 476 m. Anm. König S. 448 und Anm. Joerden BA 40 104 zu einem Fahrlehrer auf dem Beifahrersitz). Das Schweizer Bundesgericht hat die Eigenhändigkeitsdoktrin daher für die Verkehrsdelikte bereits zu Recht aufgegeben (BGE 126 IV 84; näher Gerhold/Kuhne ZStW 124 [2012] 943 ff; ebenso Freund GA 2014 137, 142 ff). Sie ist aber auch bei anderen Delikten fehl am Platz, und die Sexualdelikte bilden dabei keine Ausnahme (monografisch Habenicht Die Beteiligung an sexuellen Gewalttaten [2009]): Wer seine Schwester mit vorgehaltener Waffe, doch sonst vollkommen passiv nötigt, mit und an ihm Handlungen vorzunehmen, die zu einem Beischlaferfolg führen (Eindringen des männlichen Gliedes in das weibliche Geschlechtsorgan, statt aller Lackner/Kühl/Kühl § 173 Rdn. 3), ist zwar auch unmittelbar persönlich Teil des Geschehens, handelt aber ausschließlich in Form einer Nötigung und vollendet den tatbestandsmäßigen Erfolg wieder durch einen anderen. Entsprechendes gilt bei den Aussagedelikten für Drohungen und Täuschungen gegenüber einem Zeugen. § 160 (Verleiten zur Falschaussage) wird bei dieser Betrachtung nicht überflüssig, denn es ist bei den Aussagedelikten nicht ein archaisches Erfordernis der Eigenhändigkeit, das dann einer Haftung nach § 153 in mittelbarer Täterschaft entgegensteht, sondern das Erfordernis, dass der Täter eine bestimmte Rolle in einem Verfahren haben muss und Adressat einer ausdrücklichen amtlichen Ermahnung zur Wahrheit zu sein hat; mit Bezug hierauf mag man die Aussagedelikte als Sonderdelikte bezeichnen (vgl. Rdn. 59). 62

b) Die herrschende Meinung unterscheidet ferner Delikte, bei denen der Täter einen Zustand lediglich herbeiführe (Zustandsdelikte), und solche, bei denen er diesen Zustand auch eine Zeit lang willentlich aufrechterhalte (Dauerdelikte).73 Beispiele für Dauerdelikte sind nach dieser herrschenden Ansicht der Hausfriedensbruch nach § 123 Abs. 1 Alternative 2, die Freiheitsberaubung nach § 239 sowie Besitzdelikte, etwa der unerlaubte Besitz von Betäubungsmitteln (§ 29 Abs. 1 Nr. 3, § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG). Diese Unterscheidung ist aber zweifelhaft, weil sie unter Umständen ein Unterlassen – der Beseitigung des Zustandes – umdeutet in ein Tun („Aufrechterhalten“): Wer einen anderen einsperrt und die Tür erst nach zwei Tagen wieder öffnet, hat einmal gehandelt, nämlich den Schlüssel herumgedreht, und es sodann lediglich unterlassen, die Wirkungen seines Tuns zu beseitigen. Ebenso verhält es sich mit jemandem, der in den Besitz von Betäubungsmitteln gelangt und es sodann unterlässt, ihn zu beenden. Und ein solches Verhaltensmuster lässt sich auch für Delikte nachzeichnen, die man als Zustandsdelikte betrachtet: Wenn jemand eine Sache beschädigt, handelt er zunächst und unterlässt es dann bis auf Weiteres, den missbilligten Zustand (die Beschädigung) zu reparieren, der folglich andauert. Für die Körperverletzung, unstreitig ein Zustandsdelikt, lässt sich sogar unschwer ein Fall denken, der zu der Rede vom Aufrechterhalten eines Zustandes viel besser passt: Wer einen anderen würgt, schafft den Zustand einer körperlichen Misshandlung (Gewürgt-Werden) und erhält ihn solange aufrecht, bis er seinen Griff wieder lockert. Auch die dogmatische Folge des Prädikates „Dauerdelikt“ rechtfertigt kaum diese Deliktskategorie. Die Folge ist nämlich, dass ein Dauerdelikt zwar mit dem Eintritt des Zustandes vollendet ist, beendet aber erst, wenn der Zustand aufhört; der Zeitpunkt der Beendigung spielt etwa für den Beginn der Verjährungsfrist eine Rolle

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73 Jescheck LK11 Rdn. 50; Kindhäuser LPK Rdn. 259; Roxin AT I § 10 Rdn. 105; Sch/Schröder/SternbergLieben/Bosch Vor § 52 Rdn. 81 ff; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 45 ff.

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(§ 78a, zu weiteren Auswirkungen Sch/Schröder/Eser/Bosch Vor § 22 Rdn. 10 f und Sch/Schröder/Eser/Hecker § 2 Rdn. 8 ff, 12). Es gibt aber unstreitig auch andere Delikte, deren Beendigungszeitpunkt von dem der Vollendung abweicht. Man könnte also sinnvoller auf diesen Unterschied abstellen statt auf den unvollständig-unlogischen der Delikts„dauer“. c) Eine weitere Unterscheidung trifft die herrschende Meinung zwischen sogenann- 63 ten Tätigkeits- und den Erfolgsdelikten.74 Bei Erfolgsdelikten gebe es neben der Tathandlung eine „raum-zeitlich unterscheidbare Außenwirkung“, so beim Betrug neben der Täuschung den Schaden. Bei Tätigkeitsdelikten fielen Tathandlung und Vollendung zusammen, etwa bei der Trunkenheit im Verkehr (§ 316; Tathandlung ist dort das Führen eines Fahrzeugs). Diese Lehre trifft nicht zu und ist durchweg schädlich. In Wahrheit folgen alle Delikte dem Muster Handlung – Kausalverlauf – Vollendung (Erfolg). Lediglich mag die Kausalkette das eine Mal sinnfällig lang sein und das andere Mal kurz; doch hat das nicht unbedingt mit dem gesetzlichen Tatbestand zu tun. Im Schrifttum hat diese Einsicht bereits erfreulich an Boden gewonnen.75, 76 Zum Besitz als Taterfolg Rdn. 36, 62. Die Erfolge, die das Gesetz als Vollendung verlangt, lassen sich weiter unterteilen in 64 positive und negative Erfolge. Bei positiven Erfolgen tritt etwas ein oder geschieht, etwa eine Sachbeschädigung, bei negativen bleibt etwas aus, etwa eine Hilfeleistung. Ausführlich dazu sowie zu der andersartigen Unterscheidung von Begehungs- und Unterlassungsdelikten T. Walter ZStW 116 (2004) 555 ff. d) Gefährdungs- und Verletzungsdelikte unterscheidet man in Abhängigkeit der 65 Wirkung auf das Angriffsobjekt (zu diesem Begriff Rdn. 14). Muss das Angriffsobjekt wie etwa beim Totschlag oder bei der Sachbeschädigung verletzt werden, handelt es sich um ein Verletzungsdelikt; wenn eine Gefährdung reicht, um ein Gefährdungsdelikt, beispielsweise in § 315c. Unter den Gefährdungsdelikten unterscheidet man konkrete und abstrakte (krit. Zieschang S. 20, 50 ff). Konkrete Gefährdungsdelikte setzen voraus, dass eine Gefahr tatsächlich eintritt. Das Gesetz spricht dann stets ausdrücklich davon, dass der Täter jemanden „gefährdet“ oder „in Gefahr bringt“. Da diese Gefahr ein Erfolg ist, handelt es sich (unstreitig) um Erfolgsdelikte. Beispiele sind neben § 315c die Aussetzung (§ 221), Gefährliche Eingriffe in den Straßenverkehr (§ 315b) und die schwere Brandstiftung nach § 306a Abs. 2. Abstrakte Gefährdungsdelikte sind demgegenüber eigentlich keine Gefährdungsdelikte, da sie auf eine tatsächliche Gefahr verzichten. Ihren Namen verdanken sie den Erwägungen des Gesetzgebers, der bei diesen Delikten davon ausgegangen ist, das vertatbestandlichte Verhalten werde die Schutzobjekte im Regelfall oder wenigstens (allzu) häufig auch konkret gefährden. Zu diesen Delikten zählt man die Aussagetatbestände (§§ 153 ff), weil es für sie ohne Belang bleibt, ob der Richter die falsche Aussage glaubt oder gar durch sie veranlasst eine falsche Entscheidung trifft. Andere Beispiele sind herrschender Meinung gemäß § 145d (Vortäuschen einer Straftat), § 264

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74 Jescheck/Weigend § 26 II 1a, b (S. 260, 263); Kindhäuser LPK Rdn. 252; Roxin AT I § 10 Rdn. 102 ff; Sch/Schröder/Eisele Rdn. 130; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 36 ff. 75 Monografisch Hölzel Gibt es „Tätigkeitsdelikte“? (2016); ausführlich schon Rotsch „Einheitstäterschaft“ statt Tatherrschaft (2009) 209 ff, 432 ff; ders. ZIS 2014 579, 583 ff; T. Walter Kern des Strafrechts, S. 16 ff; ders. FS Beulke, S. 327 ff; ders. GA 2001 131, 141. 76 Zu weiteren Fällen, in denen die Rechtsprechung eine schlichte „Tätigkeit“ angenommen hat, BGHSt 43 1, 5 = NStZ 1997 487 m. Anm. Rudolphi; Paeffgen JR 1999 89; Popp Jura 1999 577; Schlüchter/Duttge/Klumpe JZ 1997 995.

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(Subventionsbetrug) und § 316 (Trunkenheit im Verkehr). Kritisch dazu Zieschang S. 101 ff, 380 ff, der de lege ferenda eine Ausgestaltung als „potentielle Gefährdungsdelikte“ oder „konkrete Gefährlichkeitsdelikte“ verlangt, vgl. Rdn. 66 und Anastasopoulou S. 105 ff. Einige unterscheiden innerhalb der abstrakten Gefährdungsdelikte noch einmal so66 genannte potentielle Gefährdungsdelikte (Fischer Rdn. 19, auch „abstrakt-konkrete“ Gefährdungsdelikte genannt oder, wieder mit leicht abgeschwächter Bedeutung, „konkrete Gefährlichkeitsdelikte“, vgl. Zieschang S. 66 ff). Sie zeichneten sich dadurch aus, dass sie immerhin besonders geeignet sein müssten, eine konkrete Gefahr auszulösen. Hauptbeispiele sind denn auch Tatbestände, in denen ausdrücklich von einer Schädigungseignung die Rede ist, etwa in den §§ 324 ff. Der Kreis dieser Delikte ist allerdings recht umstritten, und sie spielen allenfalls insofern eine Sonderrolle, als sich der Bundesgerichtshof bei ihnen einmal von der gängigen, aber falschen Annahme distanziert hat, dass abstrakte Gefährdungsdelikte stets oder in der Regel „Tätigkeitsdelikte“ seien (BGHSt 46 212, 220 ff [Auschwitz-Lüge im Internet]).77 Denn in diesen Zusammenhang bringt man die Unterscheidung zwischen konkreten und abstrakten Gefährdungsdelikten mitunter.78 Er ist aber selbst dann nicht vorhanden, wenn man unterstellt, es gäbe „Tätigkeitsdelikte“. Denn die Einteilung in Verletzungs- und Gefährdungsdelikte fragt, wie die Tat auf das Angriffsobjekt wirke. Hingegen interessiert sich die Einteilung in Erfolgs- und Tätigkeitsdelikte für die Ereignisstruktur – unabhängig davon, ob das Angriffsobjekt in Mitleidenschaft gezogen wird oder nicht. Beides ist beliebig kombinierbar (Anastasopoulou S. 72 f unter Berufung auf T. Walter GA 2001 131, 140). So lässt sich gut sagen, das Herstellen einer unechten Urkunde führe zwar zu einem Erfolg, eben der unechten Urkunde, aber für sich genommen noch nicht zu einer Verletzung (wie immer man das Angriffsobjekt für § 267 beschreiben mag); § 267 sei mithin in dieser Alternative ein Erfolgs- und abstraktes Gefährdungsdelikt. Auch bei Äußerungs- oder Verbreitungstatbeständen, etwa § 130 Abs. 2, die man oft als abstrakte Gefährdungsdelikte betrachtet, lässt sich gut zwischen dem Äußerungs- oder Verbreitungserfolg und der Handlung unterscheiden, die ihn herbeiführt. Bei den Äußerungstatbeständen ist besonders darauf zu achten, dass sie erst vollendet sind (dass der Äußerungserfolg erst eingetreten ist), wenn die fragliche Aussage für andere mindestens wahrnehmbar wird; zum Teil verlangt man sogar, dass andere die Äußerung tatsächlich wahrnehmen oder gar inhaltlich verstehen (vgl. T. Walter JuS 2006 870, 872 f). 67 Weitere Unsicherheit trägt in die Abgrenzung von abstrakten Gefährdungsdelikten und Verletzungsdelikten hinein, dass oft schwer zwischen Rechtsgut, Angriffsobjekt und Handlungsgegenständen zu unterscheiden ist (vgl. Rdn. 14). Meist wird schon gar nicht zwischen Angriffsobjekt und Handlungsgegenständen (oder -objekten) differenziert, was die Sache noch schwieriger macht. Der Unterschied besteht darin, dass sich die Handlungen des Täters zwar immer auf stoffliche Materie auswirken – auf einen menschlichen oder tierischen Körper oder auf Sachen –, dass diese stoffliche Materie aber oft nur ein Mittel ist, um ein unkörperliches Etwas anzugreifen. Selbst bei der Sachbeschädigung ist es in Extremfällen nicht erforderlich, dass die Sachsubstanz leidet, da es genü-

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77 BGHSt 46 212, 220 ff = NStZ 2001 305 m. Anm. Hörnle; weitere Anm./Bspr.: Clauß MMR 2001 232; Gercke ZUM 2002 283; Heghmanns JA 2001 276; Jeßberger JR 2001 432; Klengel/Heckler CR 2001 243; Koch JuS 2002 123; Kudlich StV 2001 397; Lagodny JZ 2001 1198; Roggan KJ 2001 337; Schulte KJ 2001 341; Vassilaki CR 2001 262; Vec NJW 2002 1535. 78 So bei Jescheck/Weigend § 26 II 2 (S. 264); Satzger § 5 Rdn. 25; Sch/Schröder/Eisele Rdn. 130; Fischer Rdn. 19. Zum Teil auch Kindhäuser LPK Rdn. 267: abstrakte Gefährdungsdelikte als Tätigkeitsdelikte oder als Delikte, deren Erfolg keine „Rechtsgutsverletzung“ sei.

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gen kann, dass die Sachfunktion beeinträchtigt wird. Beim Diebstahl geht es zwar um eine Sache, doch kann der Täter deren stoffliche Substanz unangetastet lassen, etwa bei einem kostbaren Ring. Auch das Eigentumsrecht des Bestohlenen nimmt keinen Schaden. Was verletzt wird, ist die unkörperliche Möglichkeit des Bestohlenen, die Sache zu nutzen. Erst recht hat die Ehrverletzung bei einer Beleidigung nichts mit Stofflichem zu tun, obgleich es natürlich auch bei diesem Delikt stoffliche Handlungsobjekte gibt, etwa das Blatt Papier, auf das der Täter seine Beleidigung schreibt. Ein Teil der Lehre geht davon aus, es gebe besondere Kumulationsdelikte.79 Darun- 68 ter will man Delikte verstehen, die weder eine abstrakte oder konkrete Gefährdung noch eine Verletzung des Angriffsobjekts voraussetzten, sondern in Handlungen beständen, die erst in großer Zahl zu einer solchen Gefährdung oder Verletzung führten. Als Beispiel wird unter anderen § 324 genannt (Gewässerverunreinigung). Bei diesem Tatbestand handelt es sich jedoch um ein gewöhnliches Verletzungsdelikt, dessen einzige Besonderheit darin besteht, dass die Angriffsobjekte sehr groß sein können – Flüsse, Seen – und dass dann eine kleinere Verunreinigung etwa durch Küchenabfälle (Beispiel von Kuhlen) unterhalb der allgemeinen Erheblichkeitsschwelle bleibt (minima non curat praetor) und aus diesem Grund den Tatbestand nicht erfüllt. Auch im Übrigen leidet die Lehre von den Kumulationsdelikten unter der Fehlvorstellung, dass Verletzungs- und Gefährdungsdelikte gegen Gemeinrechtsgüter eine völlige Vernichtung oder existenzielle Gefährdung einzelner oder gar sämtlicher Angriffsobjekte voraussetzten. Dies ist aber ungeachtet des Rechtsgutes bei keinem Verletzungs- oder Gefährdungsdelikt nötig. Die Lehre von den Kumulationsdelikten verdient daher keine Zustimmung (T. Walter GA 2001 131, 137 ff). e) Unternehmensdelikte zeichnet aus, dass bei ihnen Versuch und Vollendung 69 gleichermaßen unter Strafe stehen (§ 11 Abs. 1 Nr. 6). Die allgemeinen Regeln zum Versuch sind ausgeschlossen: Weder ist eine Strafmilderung nach § 23 Abs. 2 möglich noch ein Rücktritt gemäß § 24. Die typische, wenngleich nicht einzige Formulierung eines Unternehmensdeliktes lautet „wer es unternimmt [dies und das zu tun]“. Beispiele bieten §§ 81, 82 sowie §§ 1, 3, 4, 7 des Embryonenschutzgesetzes (ESchG). f) Praktisch und theoretisch wichtig ist die Unterscheidung zwischen Vergehen und 70 Verbrechen, die § 12 vornimmt. Geschichtlich stammt diese Zweiteilung (Dichotomie) aus dem französischen Recht (dort „crimes et délits“) und ist ursprünglich – wie in Frankreich – sogar eine Dreiteilung gewesen mit der untersten Stufe der Übertretungen, die es in Frankreich noch immer als „contraventions“ gibt. § 12 stellt auf die Höhe der Strafdrohung ab: Verbrechen sind Taten, für die das Gesetz mindestens ein Jahr Freiheitsstrafe androht; alle anderen Delikte sind Vergehen. Es kommt auf den abstrakt angedrohten Strafrahmen an. Nach § 12 Abs. 3 bleiben Schärfungen und Milderungen nach dem Allgemeinen Teil ebenso außer Betracht wie solche, die der Besondere Teil für besonders schwere oder minder schwere Fälle vorsieht. Zu dieser Regelung finden sich in den Lehrbüchern oft recht komplizierte Ausführungen. Im Ergebnis ist sie aber auf dem Boden der ganz herrschenden Meinung einfach: Außer Betracht bleiben sämtliche Vorschriften des Allgemeinen Teils sowie all jene Vorschriften des Besonderen Teils – und nur sie –, in denen ausdrücklich von „besonders schweren“ oder „minder schweren“ Fällen die Rede ist, beispielsweise in § 213 und § 243. Wenn darüber hinaus in Lehrbü-

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79 Hefendehl GA 2002 21, 27; Kuhlen ZStW 105 (1993) 697, 716; ders. GA 1986 389, 399 ff; Wohlers Deliktstypen des Präventionsrechts – zur Dogmatik „moderner“ Gefährdungsdelikte (2000) S. 318 ff.

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chern von „tatbestandlichen Abwandlungen“, „eigenem Deliktstypus“ und Ähnlichem gesprochen wird, so trägt das nichts Neues bei und schafft nur die Gefahr einer Verwechslung, die unbedingt zu vermeiden ist, nämlich mit der völlig andersartigen Unterscheidung zwischen § 28 Abs. 1 und Abs. 2 (sogleich Rdn. 71). 71

g) Ist im Besonderen Teil oder im Nebenstrafrecht ein Tatbestand eine Lex specialis zu einem anderen, so unterscheidet die herrschende Dogmatik zwischen unselbständigen Abwandlungen und eigenständigen Delikten (delicta sui generis, Jescheck LK11 Rdn. 51). Unselbständige Abwandlungen seien Privilegierungen oder Qualifizierungen, etwa §§ 247, 244 im Verhältnis zu § 242. Eigenständige Delikte seien zwar im geschützten Rechtsgut und in der Handlungsbeschreibung mit der Lex generalis (oder anderen Tatbeständen) verwandt, wiesen aber nicht die charakteristische Beziehung zu einem Grundtatbestand auf. So sei der Raub gegenüber der Nötigung und dem Diebstahl ein eigenständiges Delikt (obwohl er methodisch auch im engeren Sinne eine Lex specialis ist). Bedeutung hat die Unterscheidung zwischen unselbständigen Abwandlungen und eigenständigen Delikten für § 28. Sind es nämlich besondere persönliche Merkmale, die eine Lex specialis ausmachen, so gilt für sie Absatz 2, wenn man die Abwandlung für unselbständig hält, und Absatz 1, wenn man sie als eigenständiges Delikt betrachtet. Eine solche typenmäßig erfühlte, Lex-specialis-Verhältnisse überlagernde Einteilung ist aber abzulehnen. Sie ist erstens ungenau bis beliebig, wie nicht zuletzt die Rechtsprechung zum Verhältnis von § 212 und § 211 eindrücklich zeigt. Zweitens ist sie unnötig, da mit der Lex-specialis-Regel für § 28 ein trennscharfes Kriterium zur Verfügung steht.

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4. a) Bei den Erfolgsdelikten, das heißt bei sämtlichen Delikten (Rdn. 63) muss die Handlung für den Erfolg ursächlich sein (Kausalität). Diese Verknüpfung ist nach zutreffender herrschender Ansicht Teil des objektiven Tatbestandes.80 Hinsichtlich objektiver Bedingungen der Strafbarkeit ist sie zum Teil entbehrlich, so bei § 283 Abs. 6 und § 283d Abs. 4. Welche objektiven Bedingungen der Strafbarkeit noch hierher gehören, ist eine Frage des Besonderen Teils. Grundsätzlich wird man Ursächlichkeit verlangen müssen, wenn die Bedingung Zeichen der besonderen Gefährlichkeit der Tat sein soll.

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b) Welcher Maßstab bestimmt, ob eine Handlung einen Erfolg verursacht habe, ist seit jeher im Streit. Durchgesetzt hatte sich zunächst die Äquivalenztheorie,81 die in der Rechtsprechung82 weiterhin Verwendung findet und nach der jede Handlung für einen Erfolg ursächlich ist, deren Ausfall den Erfolg vereitelt hätte, sogenannte Conditio-sinequa-non-Formel. Vor allem das Schrifttum stellt dabei auf den Erfolg „in seiner konkreten Gestalt“ ab (Rdn. 76). Schwierigkeiten der Conditio-Formel in Fällen alternativer Kausalität und hypothetischer Ersatzursachen (Rdn. 76) haben dazu geführt, dass man sie mehrfach ergänzte oder abwandelte; schon das Abstellen auf den Erfolg in seiner konkreten Gestalt ist eine solche Ergänzung (um hypothetische Ersatzursachen unbeachtlich zu machen). Einige Abwandlungen firmieren unter neuen Namen, so die

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80 Jescheck LK11 Rdn. 53; Kindhäuser LPK Rdn. 66; Roxin AT I § 11 f. Rdn. 1; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 37. 81 Wohl erstmals bei Glaser Abhandlungen aus dem österreichischen Strafrecht, Band 1 (1858) S. 298; ausgearbeitet durch v. Buri in mehreren Werken, namentlich in: Die Causalität und ihre strafrechtlichen Beziehungen (1885). 82 BGHSt 1 332, 333 f; 31 96, 98; 45 270, 294 f; 49 1, 3 = JR 2004 427 m. Anm. Pollähne (weitere Anm.: Puppe NStZ 2004 554; Roxin StV 2004 485; Saliger JZ 2004 977; Vahle Kriminalistik 2004 85); BGH NJW 2000 443, 448; RGSt 1 373, 374 f; OLG Stuttgart Die Justiz 1994 410, 411.

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Adäquanztheorie83 und die Relevanztheorie.84 Ein Teil der Lehre vertritt eine Theorie der gesetzmäßigen Bedingung,85 von Puppe86 abgewandelt zu einer „Lehre von der hinreichenden Mindest(Minimal-)bedingung“. Ihr zufolge ist eine Handlung für den Erfolg ursächlich, wenn sich der Erfolg anhand von Naturgesetzen auf die Handlung zurückführen lässt. Ein anderer Teil der Lehre wendet die Äquivalenztheorie derart abgewandelt an, dass sich die Ergebnisse mit denen der Theorie der gesetzmäßigen Bedingung treffen; oder man wendet kumulativ beide Formeln an (vergleiche jeweils Kühl AT § 4 Rdn. 8 mit Nachweisen) oder kombiniert sie (so Frisch Zurechnung, S. 522f). Die Rechtsprechung ist wie gesagt bei der Äquivalenztheorie geblieben, verbindet mit ihr allerdings Erwägungen, die das Schrifttum zur objektiven Zurechnung zieht (Rdn. 89 ff).87 Die Schwäche der Äquivalenztheorie sieht das Schrifttum darin, dass sie mit der 74 Conditio-Formel das Wissen um die Ursächlichkeit schon voraussetze. Das tue die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung zwar auch, sie habe aber den Vorteil, diese Schwäche nicht zu verdecken und immerhin den Maßstab anzugeben, an dem die Ursächlichkeit zu messen sei (Roxin AT I § 11 Rdn. 12 ff). Indes hat auch die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung einen Fehler, und zwar den, nur naturgesetzliche Veränderungen zu erklären (dieser Mangel findet sich auch unabhängig von der Theorie der gesetzmäßigen Bedingung).88 Denn oft geht es im Strafrecht um psychische Änderungen: bei der Anstiftung um einen Tatentschluss, beim Betrug um einen Irrtum, bei der Erregung öffentlichen Ärgernisses (§ 183a) um das Wertgefühl eines Zeugen der sexuellen Handlungen. Derartige Änderungen folgen keinem Naturgesetz, sondern den Launen menschlicher Willensund Gefühlsbildung. Und für die psychisch vermittelte Ursächlichkeit lassen sich gesetzmäßige Bedingungen nicht einmal in Grundzügen nennen (geschweige denn nachweisen).89 Geht man von der Entscheidungsfreiheit des Menschen aus, kann sich daran auch bei weiteren Fortschritten der Hirnforschung nichts ändern (Müller-Dietz GA 2006 338 ff; T. Walter FS Schroeder, S. 131 ff). Daher verfehlt die Formel von der gesetzmäßigen Bedingung die psychische Kausalität (Sch/Schröder/Eisele Rdn. 75b). Gegen die Adäquanz- und die Relevanztheorie spricht, dass sie für die nackte Ursächlichkeit Wertungen heranziehen, die sich sinnvoller mit anderen Gesichtspunkten zu dem Begriff der objektiven Zurechnung zusammenfassen lassen (Rdn. 89 ff). Deswegen ist im Ergebnis der Äquivalenztheorie beizupflichten. Inhaltlich ist damit allerdings noch nichts gewonnen. c) Zunächst gibt es für die Äquivalenztheorie einige Scheinprobleme und Problem- 75 fälle mit konsolidierter Lösung. So bei der Mitursächlichkeit (kumulative Kausalität), das heißt der Ursächlichkeit eines Umstandes, der den Erfolg nur im Zusammenwirken

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83 Sie geht zurück auf v. Kries ZStW 9 (1889) 528 ff; dazu Hübner S. 126 ff. Später vertreten von den Zivilsenaten des Reichsgerichts (etwa RGZ 78 270, 272, allerdings ohne den Begriff „Adäquanz“), des Bundesgerichtshofes (BGHZ 137 11, 19) und einem Teil der Strafrechtslehre, vgl. Jescheck LK11 Rdn. 62 m. zahlr. Nachw. 84 Begründet von Mezger Strafecht, S. 122; vgl. Jescheck LK11 Rdn. 63 m.w.N.; heute nicht mehr vertreten. 85 Begründet von Engisch Kausalität, S. 21, 87; heute Erb JuS 1994 449, 452; Hilgendorf NStZ 1994 561, 564 f (ohne die Beschränkung auf Naturgesetze); Jescheck LK11 Rdn. 56; Jescheck/Weigend § 28 II 4 (S. 283); Roxin AT I § 11 Rdn. 15; Sch/Schröder/Eisele Rdn. 75b; Stratenwerth/Kuhlen § 8 Rdn. 19; Volk NStZ 1996 106, 109; wohl auch Kühl AT § 4 Rdn. 22 ff. Früher auch Freund MK1 Rdn. 313 (kritischer jetzt Freund MK3 Rdn. 334); Rudolphi SK Vor § 1 Rdn. 41. 86 NK Rdn. 103 f; zust. Sofos S. 198; abl. Dencker S. 110 ff. 87 Beispiele sind BGHSt 11 1, 7 (Radfahrer-Fall); 21 59, 61 (Zahnarzt-Fall); 32 262, 263 ff (HeroinspritzenFall). 88 Etwa Kühl AT § 4 Rdn. 6, 23 m.w.N.; Schroth S. 95. 89 Brammsen GA 2002 193, 204 Fn. 80 m.w.N.; Otto AT § 6 Rdn. 37 ff.

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mit anderen Umständen auslöst (Fischer Rdn. 32). Da nichts monokausal verursacht wird, ist das nicht ein Sonder-, sondern der Grundfall der Kausalität. Anerkannt ist ferner, dass sogenannte hypothetische Ersatzursachen die Ursäch76 lichkeit einer tatsächlich ursächlichen Handlung nicht beseitigen.90 Die Ursächlichkeit einer KZ-Einweisung für den Tod des Häftlings entfällt also nicht, wenn sonst ein anderer das Opfer eingewiesen hätte (BGHSt 2 20, 24). Die ursprüngliche Fassung der ConditioFormel hat in solchen Fällen die Ursächlichkeit verneint: Der Todeserfolg wäre auch eingetreten, wenn der Täter nicht gehandelt hätte. Um dieses Ergebnis zu vermeiden, stellt man heute in der Formel häufig ab auf den Erfolg „in seiner konkreten Gestalt“ (wegbereitend Engisch Kausalität, S. 1 ff).91 Sie wird durch die Täterhandlung oft gegenüber dem hypothetischen Geschehen verändert; in dem KZ-Beispiel hätten andere das Opfer erst später in das Konzentrationslager eingewiesen. Jedoch hilft das nicht immer, etwa wenn in diesem Beispiel die Einweisung durch andere zur gleichen Zeit (oder nicht ausschließbar zur gleichen Zeit) zum Tod des Opfers geführt hätte. Engisch hat das weitere Beispiel gebildet, dass der Täter einem anderen einen Stock reicht, mit dem der andere das Opfer verprügelt, und hätte nicht der Täter den Stock gereicht, dann ein Dritter (Kausalität, S. 15 ff). Auf die „konkrete Gestalt“ des Erfolges wäre dies wiederum ohne Einfluss. Gleiches gilt für den Abbruch rettender Kausalverläufe: Ob der A oder (hypothetisch) der B einen Retter niederschlägt – der Tod des Opfers bleibt derselbe. Gegen den Topos der „konkreten Gestalt“ Puppe GA 1994 297, 300 ff. Sie normativiert den Kausalbegriff: Ursächlich sei nur, wer die Dinge zum Nachteil des Rechtsgutes ändere. Wer dem Bestohlenen vor der Tat die Diebesbeute verkauft habe, sei nicht kausal für den Diebstahl; wer den Täter eines Amtsdeliktes zum Beamten ernannt habe, sei nicht kausal für das Amtsdelikt. Gegen Puppe nimmt Roxin Stellung (AT I § 11 Rdn. 22 m.w.N.). Vgl. Rdn. 79. Bei sogenannter alternativer Kausalität hält man die Handlung gleichfalls für ur77 sächlich, obwohl die Conditio-Formel in ihrer Ursprungsfassung wiederum das Gegenteil ergibt.92 Schulfall sind die Täter, die dem Opfer unabhängig voneinander eine je tödliche Dosis Gift in ein Getränk mischen. Allerdings macht Roxin zu Recht darauf aufmerksam (AT I § 11 Rdn. 25), dass die Täter jeweils nur ursächlich sind, wenn feststeht, dass beide Giftquanten in der tödlichen biochemischen Reaktion wirksam geworden sind. Bleibt es möglich, dass die Moleküle des einen Giftquantums nicht an dem Prozess beteiligt gewesen sind, der zum Tode geführt hat, kann dieser Täter nur wegen Versuchs strafbar sein. Dann nämlich wird sein Giftquantum zur hypothetischen Reserveursache. Ist umgekehrt gewiss, dass Anteile beider Giftquanten wirksam geworden sind, handelt es sich um einen Fall gewöhnlicher Mitursächlichkeit (Freund MK Rdn. 337). So in BGHSt 39

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90 BGH NJW 2000 443, 448; Freund MK Rdn. 336; Frisch Zurechnung, S. 563 ff; Kindhäuser LPK Rdn. 81; ders. AT § 10 Rdn. 20; Kühl AT § 4 Rdn. 12, 16, 18, 24; Jäger SK Vor § 1 Rdn. 72. 91 BGHSt 10 369, 370; OGHSt 1 229, 232; OLG Düsseldorf OLGSt. 6 (1993) 13, 14; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 10 Rdn. 33 ff; Erb JuS 1994 449, 450 ff; Kindhäuser LPK Rdn. 80; Maurach/Zipf § 18 Rdn. 54; Roxin AT I § 11 Rdn. 21; für die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung früher auch Rudolphi SK8 Vor § 1 Rdn. 44; Samson S. 30 ff; Sch/Schröder/Eisele Rdn. 75b; Toepel JuS 1994 1009 f; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 218; krit. Dencker S. 96 ff, 109; Hilgendorf GA 1995 515, 519 ff m.w.N. zur h.M. in Fn. 4; Chr. Knauer S. 90 ff; Puppe NK Rdn. 62 ff; ihr zust. Frisch Zurechnung, S. 552 Fn. 154; Sofos S. 73. Aus der Rspr. abw. OLG Stuttgart Die Justiz 1994 410, 411, wo die Ursächlichkeit aber aus Gründen verneint wird, die nach h.L. erst die objektive Zurechnung ausschließen. 92 Sch/SchröderEisele Rdn. 82; zum Teil nennt man diese Fallgruppe „kumulative“, „Mehrfach-“ oder „Doppelkausalität“ (für das Erste etwa Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 10 Rdn. 22; Stratenwerth/Kuhlen § 8 Rdn. 19, für das Zweite Kühl AT § 4 Rdn. 20b, für das Dritte Jäger SK Vor § 1 Rdn. 62); Kindhäuser AT § 10 Rdn. 31; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 222.

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195:93 Zwei Schüsse führen zu Verletzungen, die jeweils schon für sich genommen tödlich wären; das Opfer stirbt „an den vielfachen, durch die beiden Schüsse entstandenen Organverletzungen“ (Hervorhebung nicht im Original; vergleichbar BGH NStZ 1994 539). Genau besehen steht der Schulfall alternativer Kausalität also gar nicht für etwas Besonderes und erfordert demnach auch keine Sonderregel. Um mit der Conditio-Formel gleichfalls zu richtigen Ergebnissen zu kommen, hat man sie erweitert:94 Von zwei Handlungen seien beide ursächlich, wenn sie zwar je für sich, aber nicht zusammen hinwegzudenken seien, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele. Zunächst ist das falsch, denn so wird auch jede hypothetische Reserveursache ursächlich; mit der tatsächlichen Ursache zusammengefasst lässt sie sich nicht hinwegdenken, ohne dass der Erfolg entfiele. Richtig wird die Erweiterung aber, wenn man sie statt auf beliebige auf zeitgleich wirkende Handlungen bezieht. Als abbrechende Ursächlichkeit oder überholende Kausalität bezeichnet man Fälle 78 wie jenes Beispiel, das Reiners in seiner „Stilkunst“ (1. Aufl. 1944) für gelungenen Humor anführt: Eine Aufführung des Don Carlos; fünfter Akt, der Tod des Marquis von Posa. Der Schauspieler spricht Posas letzte Worte, gerichtet an Don Carlos: „Das Königreich ist Dein Beruf. Für Dich zu sterben ist der meinige!“ Jetzt soll der tödliche Schuss fallen. Er fällt aber nicht. Da weiß sich der Schauspieler nicht anders zu helfen, schlägt sich an die Brust und ruft: „Ich spür’s, ich bin vergiftet!“ In diesem Moment fällt der Schuss. Posa verdreht die Augen: „Auch das noch!“ und sinkt zusammen. Wäre es historisch tatsächlich so geschehen, fehlte nach herrschender Ansicht eine Ursächlichkeit des Giftes für den Tod.95 Hier soll also das bereits wirkende Gift nur ein unbeachtlicher Begleitumstand des Erfolges sein (Rdn. 79) und keine (erhebliche) Facette seiner konkreten Gestalt. Anders, wenn der Vergiftete ohne das Gift hätte fliehen oder sich verstecken können (Kindhäuser LPK Rdn. 84) oder wenn ihm dies zumindest leichter gefallen wäre. Daher ist in den sogenannten Dolus-generalis-Fällen die Ersthandlung in der Regel für die Zweithandlung ursächlich (BGH NStZ 2016 721, 722 m.w.N.; aA Dehne-Niemann/Marinitsch ZStW 129 [2017] 650, 668 ff). d) Tatsächliche dogmatische Probleme bereiten folgende Fälle:

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aa) Der Handelnde verändert allein die „konkrete Gestalt“ des Erfolges. Sie hat drei kennzeichnende Größen (Parameter): Ort, Zeit sowie Art und Weise (Modus; aA Erb JuS 1994 449, 452). Wirkt eine Handlung auf die Zeit des Erfolges, so beschleunigt oder verzögert sie ihn. Beschleunigt sie ihn, ist sie unproblematisch ursächlich. Verzögert sie ihn, kommt es darauf an. Bewirkt sie tatsächlich nichts anderes als eine Verzögerung, sperren sich Sprach- und Rechtsgefühl dagegen, sie ursächlich zu nennen. Ursächlich wären sonst auch die Leibwächter für den Tod ihres Schützlings, wenn sie dessen Mörder immerhin eine Minute lang aufhielten. Das gilt entgegen Roxin, der das Verhalten eines Arztes auch dann für todesursächlich hält, wenn es den Tod des Patienten hinausschiebt (AT I § 11 Rdn. 21). Ändert sich dadurch die Art des Todes – zum Beispiel Herzinfarkt statt Blutvergiftung –, hat der Arzt den Tod nicht nur verzögert und mag man wieder sagen, er sei für diesen Tod ursächlich geworden. Ändert eine Handlung den Ort des

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93 BGHSt 39 195= JZ 1993 1065 m. Anm. Rogall; weitere Anm./Bspr.: Murmann/Rath NStZ 1994 215; Toepel JuS 1994 1009; Wolter JR 1994 468. 94 Zuerst wohl Welzel Strafrecht, S. 45. Heute etwa Kindhäuser LPK Rdn. 89. Weitere Nachweise (auch zur Kritik) bei Kühl AT § 4 Rdn. 19. 95 Vgl. BGHSt 4 360, 362; RGSt 69 44, 47 (zum Prozessbetrug); BGH NStZ 1989 431; Kindhäuser LPK Rdn. 84; Kühl AT § 4 Rdn. 33; Roxin AT I § 11 Rdn. 30; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 237.

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Geschehens, kommt es wieder darauf an, ob das auch den Modus beeinflusst. Falls nicht, sperren sich Sprach- und Rechtsgefühl erneut, eine solche reine Ortsveränderung als Ursache des Deliktserfolges zu bezeichnen (so schon Jakobs AT 7/14 ff; Sch/Schröder/ Eisele Rdn. 79). Beispielsweise ist der Pilot nicht ursächlich für den Tod eines Passagiers, der an einem Gift zugrunde geht, auch wenn der Pilot dafür sorgt, dass der Passagier währenddessen einige hundert Kilometer zurücklegt. Die Schwierigkeit besteht also darin, Handlungen, die den Erfolgsmodus berühren, von unbeachtlichen Begleitumständen zu unterscheiden.96 Den Erfolgsmodus berührt alles, was Art oder Ausmaß jener Umstände ändert, die man erwähnen muss, um unter den gesetzlichen Tatbestand zu subsumieren: die Tiefe einer Wunde (§§ 223, 212), der Wortlaut irreführender Angaben (§ 16 UWG), die Menge eingeleiteter Abwässer (§ 324), Größe und Zusammensetzung des Personenkreises, an den sich der Anlagebetrüger wendet (§ 264a). Unbeachtliche Begleitumstände sind die verbleibende Kulisse und Requisite des Delikts: die redaktionellen Artikel der Zeitung, die eine irreführende Annonce enthält (§ 16 UWG); Wandfarbe und Temperatur des Zimmers, in dem ein beleidigendes Schreiben verfasst oder gelesen wird; die Bemalung der Vase, die der Täter zerstört (Beispiel von Engisch Kausalität, S. 9 f). Selbstverständlich gibt es Grenzfälle: Jemand schärft die Klinge des Mörders, die deswegen aber nicht messbar leichter oder tiefer eindringt; ein Angestellter betankt ein Auto seiner überschuldeten Firma, wechselt das Öl und fährt den Wagen durch die Waschstraße, bevor ein anderer das Auto ins nahe Ausland schafft (§ 283 Abs. 1 Nr. 1 [Bankrott]; das Auto wäre auch ohne Auftanken, mit dem alten Öl und ungewaschen ins Ausland gekommen). Ob solche Grenzfälle dazu berechtigen, die Figur der konkreten Gestalt insgesamt zu verwerfen (Puppe), ist zweifelhaft. Zum einen kann die Lehre von der objektiven Zurechnung großzügige Kausalurteile entschärfen. Zum anderen ist das Normativieren, das sonst erforderlich wird, auch nichts anderes als ein Stück dessen, was herkömmlich objektive Zurechnung heißt (so schon Roxin AT I § 11 Rdn. 19). 80

bb) Ein unausweichlicher Problemfall auch und gerade der Praxis sind naturwissenschaftliche Zweifel, ob oder wie eine Handlung gewirkt habe. Für das Wie hat BGHSt 37 106, 111 ff (Lederspray-Fall)97 entschieden, dass es unaufgeklärt bleiben dürfe, sofern andere Ursachen auszuschließen seien.98 Das ist als Grundsatz richtig. Allerdings machen es die heiklen Fälle gerade schwer, genau genommen unmöglich, andere Ursachen auszuschließen (Samson StV 1991 182, 183). Im Holzschutzmittel-Fall BGHSt 41 206 ff99 beschäftigt sich der Bundesgerichtshof mit Zweifeln zum Ob einer Ursächlichkeit.

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96 Hilgendorf GA 1995 515, 519 ff; Jakobs AT 7/16; Kühl AT § 4 Rdn. 25; Rudolphi SK8 Vor § 1 Rdn. 44; Sch/Schröder/Eisele Rdn. 79; abl. Jäger SK Vor § 1 Rdn. 71. 97 BGHSt 37 106, 111 = JZ 1992 253 m. Anm. Hirte; weitere Anm./Bspr.: Armbrüster JR 1993 317; Beulke/Bachmann JuS 1992 737; Böse wistra 2005 41; Brammsen GA 1993 97; ders. Jura 1991 533; Braum KritV 1994 179; Deutscher/Körner wistra 1996 292; Göhler wistra 1991 207; Grunewald ZHR 157 451; Harms VersR 1994 300; Hassemer JuS 1991 253; Hilgendorf GA 1995 515; ders. NStZ 1993 10; ders. NStZ 1994 561; Hoyer GA 1996 160; Kaiser/Tausendfreund VW 1991 1079; Kassebohm/Malorny BB 1994 1361; Kienle NVwZ 1996 871; Kuhlen NStZ 1990 566; ders. WiVerw 1991 183; Kurzawa VW 1991 1079; Langkeit WiB 1995 1016; Marxen EWiR 1990 1017; Meier NJW 1992 3193; Molitoris PHI (Produkthaftpflicht international) 2000 33; Otto WiB 1995 929; Puppe JR 1992 30; Rotsch wistra 1999 321; Samson StV 1991 182; Schmidt-Salzer NJW 1990 2966; ders. PHI 1990 234; Sieg PHI 2003 134; Weimar GmbHR 1994 82. 98 Zust. Jescheck/Weigend § 28 II 4 (S. 283); Kuhlen JZ 1994 1142, 1145; Kühl AT § 4 Rdn. 6a; Otto AT § 6 Rdn. 36; Roxin AT I § 11 Rdn. 17; abl. Hassemer Produktverantwortung, S. 27 ff; Kühne NJW 1997 1951, 1953; Puppe NK Rdn. 84. 99 BGHSt 41 206 = JZ 1996 315 m. Anm. Puppe; weitere Anm./Bspr.: Deutscher/Körner wistra 1996 292; dies. wistra 1996 327; Hamm StV 1997 159; Hoyer GA 1996 160; Langkeit WiB 1995 1016; Molitoris PHI (Produkthaftpflicht international) 1997 225; Otto WiB 1995 929; Schmidt-Salzer NJW 1996 1; Schulz JA 1996

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Solche Zweifel könne der Richter überwinden, indem er andere Ursachen zwar nicht vollständig erörtere, aber in einer „Gesamtbewertung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und anderer Indiztatsachen“ ausschließe (aaO S. 216). Die Literatur lehnt das überwiegend ab.100 In der Tat ist wohl das Ziel verständlich, die Ursächlichkeit auch in Fällen anzunehmen wie denen der Holzschutzmittel- oder der Contergan-Entscheidung (LG Aachen JZ 1971 507 ff), in denen sie sich aufdrängt, ohne jedoch mit aktuellen Erkenntnissen und Methoden erklärlich zu sein. Aber mit einer unvollständigen Gesamtbewertung ist das nicht zu machen. Problematisch ist auch, welchen Wert (natur-)wissenschaftliche Minderheits- 81 meinungen haben. Auf eine solche hatte sich zum Beispiel die Staatsanwaltschaft Frankfurt a.M. gestützt, als sie gegen den gesamten Vorstand der Degussa AG ein Ermittlungsverfahren einleitete wegen Körperverletzung durch In-Verkehr-Bringen von dentalem Amalgam (näher Tiedemann FS Hirsch, S. 765 ff). Der Bundesgerichtshof und Puppe sind der Ansicht, ein Gericht könne auch einer solchen Meinung folgen, sofern es sich mit den Gegenargumenten befasse.101 Nach herrschender Lehre darf ein Gericht nur Zusammenhänge voraussetzen, an denen kein wissenschaftlich ernst zu nehmender Zweifel besteht.102 Die Auffassung des Bundesgerichtshofes und Puppes hat für sich, dass es dem Gericht möglich sein muss, auch naturwissenschaftlich umstrittene Fragen zu entscheiden. Das folgt schon daraus, dass es in den Naturwissenschaften häufig neben einer festen Mehrheitsmeinung exotische Gegenstimmen gibt und dass die Gerichte unmöglich eine jede solche Gegenstimme ein Non-liquet bewirken lassen können. Die herrschende Lehre sagt genau besehen gleichfalls, dass sich ein Gericht in naturwissenschaftlichen Streitfragen entscheiden dürfe, denn nicht „ernst zu nehmende“ Zweifel soll es nicht beachten müssen: Einem Zweifel die Ernstlichkeit abzusprechen bedingt bereits, naturwissenschaftlich Stellung zu nehmen. Daher gehen die Auffassungen allenfalls dort auseinander, wo es um das Maß der Sicherheit geht, das man für eine naturwissenschaftliche Erkenntnis vorauszusetzen hat. In diesem Punkt gilt alles, aber auch nicht mehr, was zur freien Beweiswürdigung gemäß § 261 StPO anerkannt ist. Danach kann es noch nicht ausschlaggebend sein, dass ein naturwissenschaftlicher Streit überhaupt existiert, mögen dessen Parteien auch gleich gewichtig sein. Vielmehr darf sich das Gericht von einer Partei überzeugen lassen, wenn es sich dabei nur die Mühe macht, die § 261 StPO erfordert. Die Unsicherheit, die objektiv bleibt, ist dann nicht größer, als wenn das Gericht einer von zwei entgegengesetzten Zeugenaussagen glaubt oder einem von zwei entgegengesetzten Gutachten zur Schuldfähigkeit des Angeklagten. cc) Bemerkenswert einig ist selbst das Schrifttum, dass die Stimme in einem Gre- 82 mienbeschluss für diesen Beschluss auch ursächlich ist, wenn er ohne jene Stimme zustande gekommen wäre.103 Der Bundesgerichtshof meint, auf die Ursächlichkeit des

_____ 185; Volk NStZ 1996 105. Zu dem verwandten Amalgam- und dem spanischen „Colza“-Fall Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 339 f. 100 Kühne NJW 1997 1951, 1953; Roxin AT I § 11 Rdn. 18 m.w.N.; Sch/Schröder/Lenckner/Eisele27 Rdn. 75; Volk NStZ 1996 106, 109; dem BGH zust. Deutscher/Körner wistra 1996 292, 297, die das Problem allein für ein solches der Beweiswürdigung halten; Jäger SK Vor § 1 Rdn. 67. 101 BGHSt 41 206, 215 m. Bspr. Volk NStZ 1996 106; Puppe NK Rdn. 87 ff. 102 Maurach/Zipf § 18 Rdn. 39; Roxin AT I § 11 Rdn. 16; Sch/Schröder/Eisele Rdn. 75a; Struensee ZStW 102 (1990) 21, 24. 103 Freund MK Rdn. 346; Hilgendorf NStZ 1994 561, 565; Jäger SK Rdn. 89; Jakobs FS Miyazawa, S. 419, 424 ff; Kindhäuser LPK Rdn. 95; Kühl AT § 4 Rdn. 20b, 27a; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 11; Roxin AT I § 11 Rdn. 19; Röh S. 178 ff; Schaal S. 97 f, 260; Sch/Schröder/Eisele Rdn. 83a; aA wohl nur Nettesheim BayVBl. 1989 161, 165, und früher schon für die richterliche Abstimmung Seebode Das Verbrechen der

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Einzelnen komme es nicht an, weil die Abstimmenden Mittäter seien (BGHSt 37 106, 107 ff, 129 ff104 [Lederspray-Fall]; BGH NJW 1995 2933, 2934).105, 106 Einige halten das für einen Zirkelschluss, da Mittäter nur sein könne, wer einen ursächlichen Tatbeitrag erbringe.107 Aber das stimmt lediglich in dem Sinne, dass der gemeinsame Tatentschluss conditio sine qua non sein muss für die Handlung des Einzelnen; nicht jedoch muss die einzelne Handlung conditio sine qua non sein für den tatbestandsmäßigen Erfolg (Hilgendorf NStZ 1994 561, 563; Chr. Knauer S. 151f, 219; Weißer S. 104). Ein Bandenmitglied kann auch dann Mittäter eines Diebstahls sein, wenn sich seine Aufgabe darauf beschränkt, die Beute abzutransportieren und zu verwerten und obwohl das für die Wegnahme nicht kausal wird. Und Cäsar hatte 23 Mörder, selbst wenn nur der zweite Dolchstich tödlich war (wie man annimmt, s. Grant Caesar – Genie, Diktator, Gentleman [1970] S. 260). Wenn also die Mitglieder eines Gremiums ausdrücklich oder schlüssig übereinkommen, in bestimmter Weise zu stimmen, und wenn dieses Übereinkommen das Abstimmungsverhalten (mit-)motiviert, dann sind die Gremienmitglieder Mittäter, ganz gleich, ob sie offen abstimmen oder geheim, nacheinander oder gemeinsam (Schaal S. 192; Suárez González in Schünemann/Suárez S. 49, 54 f). Das gilt auch, wenn sich ein Gremienmitglied absprachegemäß der Stimme enthält (BGH JZ 2006 560 m. Anm. Vogel/Hocke, insoweit in BGHSt 50 331 ff nicht abgedruckt [Mannesmann-Fall]). Wird offen und nacheinander abgestimmt, ist nach Schaal S. 194 f auch noch sogenannte sukzessive Mittäterschaft möglich (zu ihr allgemein Roxin AT II § 25 Rdn. 219 ff). Zu gleichen Ergebnissen gelangt Chr. Knauer S. 161 f, der eine „nonverbale Kommunikation im Ausführungsstadium“, soll heißen: während der Abstimmung genügen lässt. Fehlt ein gemeinsamer Tatentschluss, so sind die Stimmen nicht wechselseitig zu83 rechenbar und ist die Ursächlichkeit jeder einzelnen Stimme darzutun. Das gelingt nicht. Zwar ist dem Abstimmenden in der Regel ein Vorwurf zu machen, weil er nicht versucht, die anderen umzustimmen, weil er den Vorgang später nicht anzeigt und auch sonst keine Bemühungen unternimmt, den tatbestandsmäßigen Erfolg zu verhindern, und weil er sich durch seine Stimme mit dem Unrecht solidarisch erklärt. Und dieser Vorwurf ist in der Regel auch strafrechtlicher Natur, und zwar als unechtes Unterlassungsdelikt, als unterlassene Hilfeleistung oder als psychische Beihilfe für die später mit der Ausführung Betrauten oder gar als deren Anstiftung (soweit diese Personen vom Ergebnis der Abstimmung erfahren; zum Beispiel, weil sie selbst an ihr teilnehmen). Doch zumindest in einer geheimen Abstimmung ist die einzelne Stimme nicht ursächlich für den Beschluss, wenn sich die Stimme als Gegenstimme denken ließe, ohne dass der Beschluss anders ausfiele. Die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung versagt in diesem Fall, weil das Gremium seine Beschlüsse nicht naturgesetzlich fasst, sondern nach einer Geschäftsordnung und Wahlregeln, die bestimmte Mehrheiten (und so weiter) vorschreiben (aA Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 10 Rdn. 32). Nach diesen Wahlregeln ist die einzelne Stimme solange keine notwendige Bedingung des Beschlusses, wie Einstimmigkeit entbehrlich und das Gremium überhaupt beschlussfähig ist. Ein Vergleich mit der kumu-

_____ Rechtsbeugung (1969) S. 114; abl. auf dem Boden herkömmlicher Kausalitätsmaßstäbe auch Dencker S. 47 ff, der das Ergebnis aber für richtig hält und mit seinem Konzept der „Gesamttat“ (teils de lege ferenda) halten will (S. 248 ff; krit. dazu Chr. Knauer S. 171 ff). 104 BGHSt 37 106 = JZ 1992 253 m. Anm. Hirte; weitere Anm./Bspr.: vgl. Fn. 96. 105 BGH NJW 1995 2933 = StV 1996 73 m. Anm. Fezer; weitere Anm./Bspr.: Langkeit WiB 1995 1016; Samson StV 1996 93; Schmidt-Salzer NJW 1996 1. 106 Zust. Chr. Knauer S. 157 ff; Neudecker Die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Mitglieder von Kollegialorganen (1995) S. 277f; Weißer S. 100 ff, 243. 107 Kindhäuser LPK Rdn. 97; Sofos S. 156 f. Früher auch Puppe NK1 Rdn. 107; Roxin AT I3 § 11 Rdn. 19.

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lativen Kausalität (Rdn. 75) hilft entgegen Stimmen im Schrifttum108 nicht weiter. Geben zwei Täter dem Opfer unabhängig voneinander Gift in die Mahlzeit, das jeweils nur zusammen mit dem Gift des anderen tödlich wirkt, so werden die Moleküle beider Giftquanten in dem tödlichen biochemischen Prozess wirksam und sind nicht wegzudenken, ohne dass der Erfolg entfiele. Anders die Stimme, die für einen Beschluss ohne Belang geblieben ist. Sie ist wie ein drittes Quantum Gift, dessen Moleküle mit Sicherheit unwirksam geblieben sind oder allenfalls vielleicht gewirkt haben. In beiden Versionen entfällt die Ursächlichkeit zumindest in dubio pro reo. Auch ein Vergleich mit der alternativen Kausalität hilft entgegen Schaal S. 98 und Kindhäuser AT § 10 Rdn. 41 nicht weiter. Denn wie Rdn. 77 ausgeführt ist diese Kausalität entweder gewöhnliche Mitursächlichkeit (kumulative Kausalität), die hier wie gesagt ausscheidet, oder keine Ursächlichkeit. Keine Abhilfe schafft es schließlich, auf den Erfolg in seiner konkreten Gestalt abzustellen und die Ursächlichkeit aller Einzelstimmen damit zu begründen, ohne die einzelne Stimme habe der Erfolg eine andere Gestalt.109 Denn der Erfolg ist nicht die Abstimmung, sondern besteht in deren tatbestandsmäßigen Konsequenzen, etwa im Lederspray-Fall in den Gesundheitsschäden der Kunden. Auf diese Schäden ist es ohne Einfluss, wie viele Stimmen den Beschluss getragen haben. Die Lehre vom Erfolg in seiner konkreten Gestalt ist keine Lehre vom Kausalverlauf in seiner konkreten Gestalt.110 Tatbestandsmäßig sind die überflüssigen Einzelstimmen aber womöglich als Ver- 84 such. Bei einer verdeckten Abstimmung betrifft das alle Abstimmenden: Sofern sie nicht wissen, wie die anderen stimmen, haben sie bedingten Vorsatz, dass es auf ihre Stimme ankommt. Stimmen die Gremienmitglieder offen und nacheinander, gilt das mindestens für die Erststimmenden bis zu der Stimme, mit der die Mehrheit erreicht ist. Darüber hinaus kommt bei offener Abstimmung sukzessive Mittäterschaft in Betracht (Rdn. 82). Kein Ausweg ist das Abstellen auf Mittäterschaft auf den ersten Blick bei Fahrläs- 85 sigkeitsdelikten, für die nach herrschender Ansicht Mittäterschaft ausgeschlossen ist (BGH VRS 18 416 ff; Jescheck/Weigend § 63 I 3a [S. 676 f]; für die Gegenansicht stellvertretend und bezogen auf Kollegialentscheidungen Chr. Knauer S. 181 ff m.w.N.). Die Fahrlässigkeit bezieht sich in den fraglichen Fällen nicht auf die Mitwirkung an einem Gremienbeschluss, sondern auf den Erfolg, zu dem es durch die Ausführung des Beschlusses kommt. Auch ohne Rückgriff auf eine Zurechnung kraft Mittäterschaft ist dann eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tat möglich, wenn das Verhalten des in Frage stehenden Gremienmitgliedes vor oder bei der Abstimmung auf das Verhalten der anderen eingewirkt hat, namentlich indem es andere Gremienmitglieder zu ihrem Abstimmungsentschluss erst gebracht oder sie in diesem Beschluss bestärkt hat („psychische Beihilfe“). Das ist auch wechselseitig möglich. Jedoch verlangt eine Verurteilung personengenaue Feststellungen hierzu unter Beachtung des Zweifelssatzes. Der pauschale Vorwurf einer Teilnahme an der Abstimmung genügte dem Erfordernis individueller Ursächlichkeit nicht, und dieses Erfordernis ist außerhalb der Beteiligungsregeln unumgänglich. — Zum Unterlassen der Initiative zu einem Gremienbeschluss Rdn. 88.

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108 Baumann/Weber/Mitsch11 § 14 Rdn. 37; Roxin AT I § 11 Rdn. 19; krit. schon Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 10 Rdn. 32; Kindhäuser LPK Rdn. 96. 109 So aber Jäger SK Rdn. 89; Kühl AT § 4 Rdn. 15; Weber BayVerwBl. 1989 166, 196; krit. schon Hilgendorf NStZ 1994 561, 566 f, allerdings mit anderer Begründung als hier. 110 Anders viele: Jakobs AT 7/18; Roxin AT I § 11 Rdn. 21; Rudolphi SK8 Vor § 1 Rdn. 45; Welzel Strafrecht, S. 43.

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e) aa) Zum Teil meint man, ein Unterlassen werde für einen Erfolg nie im eigentlichen Sinne kausal.111 Ein Nichts könne nichts bewirken. Doch herrscht Einigkeit, dass zwischen einem Unterlassen und einem Erfolg mindestens eine juristische Quasikausalität bestehen kann.112 Dem Unterlassenden muss eine Handlung „physisch-real“ möglich sein, die den Erfolg verhinderte. Die Wahrscheinlichkeit der hypothetischen Verhinderung muss nach herrschender Meinung an Sicherheit grenzen.113 (Für den subjektiven Tatbestand lässt das die Möglichkeit bedingten Vorsatzes bestehen, nämlich, nach der herrschenden Formel, in Form des billigenden Inkaufnehmens einer solchen Wahrscheinlichkeit, BGH NStZ 2000 414 m. Bspr. Engländer JuS 2001 958 und gegen BGH JZ 1973 173, 174.) Dass man lediglich von einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit spricht, setzt die Anforderungen gegenüber der Ursächlichkeit aktiven Tuns nicht zurück, sondern beschreibt das übliche Maß der Gewissheit, die man im Rahmen der richterlichen Überzeugungsbildung im Prozess verlangt (BGHSt 37 106, 127; krit. Engländer aaO S. 960). Die Risikoerhöhungslehre lässt es hingegen ausreichen, wenn der Erfolg dadurch wahrscheinlicher wird, dass der Täter unterlässt (oft irreführend „Risikoverringerungslehre“ genannt).114 Sie ist mit den Einwänden der herrschenden Meinung abzulehnen, dass sie den In-dubio-Satz unzulässig einschränkt und Verletzungs- in Gefährdungsdelikte umdeutet (ausführlich Prittwitz S. 327 ff, 385 f). — Dass die Überlegungen zur Ursächlichkeit des Unterlassens eine Hypothese verlangen, ist kein Wesensunterschied zu den Begehungsdelikten. Auch dort lautet die Testfrage, was geschehen wäre, hätte sich der Täter anders verhalten (nämlich unterlassen). Zwar setzt allein die Handlung eine physische Kausalkette in Gang. Doch diese Kette kann noch vor dem Erfolg abreißen, und zwar beim Abbruch rettender Kausalverläufe (zur unumstrittenen Ursächlichkeit in diesen Fällen Kühl AT § 4 Rdn. 26; Roxin AT I § 11 Rdn. 33 f). Mit dem Abbruch des rettenden Verlaufes entspricht die Kausalitäts-Hypothese beim Begehungsdelikt derjenigen beim Unterlassungsdelikt.

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bb) Nach wohl herrschender Meinung ist in die Conditio-Formel beim Unterlassen nicht der Erfolg in seiner konkreten Gestalt einzusetzen, sondern in seiner abstrakten Beschreibung durch den Tatbestand.115 Hintergrund ist die Sorge, andernfalls selbst dann zu einer Strafbarkeit zu kommen, wenn die fragliche Handlung wahrscheinlich nur die eine Erfolgsart durch eine andere ersetzt haben würde. Das Schrifttum hält das erst für eine Frage der objektiven Zurechnung.116

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111 Jakobs AT 7/25 f und 29/15 ff; Jescheck/Weigend § 59 III 2 (S. 618); Armin Kaufmann Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte (1959) S. 61; Sch/Schröder/Stree/Bosch § 13 Rdn. 61; aA Hilgendorf NStZ 1994 561, 564; Puppe ZStW 92 (1980) 863, 895 ff. Weitere Nachweise bei Engländer JuS 2001 958 Fn. 16; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 12; Sofos S. 201 Fn. 681. 112 BGHSt 48 77, 92 ff = JZ 2003 575 m. Anm Ranft (weitere Anm./Bspr.: Arnold StraFo 2003 109; Dreher JuS 2004 17; Hefendehl GA 2004 575; Chr. Knauer NJW 2003 3101); LG Saarbrücken NStZ-RR 2006 75, 76; Dencker S. 46; Kühl AT § 18 Rdn. 35; Fischer Rdn. 39. Weitere Nachweise bei Engländer JuS 2001 958 Fn. 16. 113 BGHSt 43 381, 397 m. Anm. Gribbohm NStZ 1998 572; BGHSt 37 106, 126 (Lederspray-Fall) (vgl. Fn. 96); BGHSt 7 211, 214; OLG Düsseldorf OLGSt. 6 (1993) 13, 14 = StV 1993 477, 478; LG Saarbrücken NStZRR 2006 75, 76; Freund MK Rdn. 311 (Ablehnung von Risikoerhöhungslehren „jeglicher Spielart“); Frisch Zurechnung, S. 553 ff; Jakobs AT 19/20; Jescheck/Weigend § 59 III 3 f (S. 618 ff); Lackner/Kühl/Heger Rdn. 12; Sch/Schröder/Stree/Bosch § 13 Rdn. 61; Fischer Rdn. 39; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 1000, 1002. Weitere Nachweise bei Engländer JuS 2001 958 Fn. 18 f. 114 Brammsen MDR 1989 123, 126 f; Otto AT § 9 Rdn. 99; ders. Jura 2001 275, 276 f; Puppe FS Roxin, S. 287, 301 ff für indeterminierte Prozesse; Roxin AT II § 31 Rdn. 54; Rudolphi SK Rdn. 16; Stratenwerth/Kuhlen § 13 Rdn. 54. 115 BGHSt 37 106, 126 (Lederspray-Fall) (vgl. Fn. 96); BGH JZ 1973 173 (Fensterwurf-Fall) m. Anm. Spendel. 116 Spendel JZ 1973 137, 140; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 1001.

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Vorbemerkungen | Vor §§ 13 ff

cc) Der Bundesgerichtshof hat im Politbüro-Fall (BGHSt 48 77) seine Ansicht aus der 88 Entscheidung im Lederspray-Fall bestätigt, dass eine Unterlassung für den Erfolg auch dann ursächlich sei, wenn die fragliche Handlung für sich genommen nichts bewirkt hätte, weil andere Handlungspflichtige untätig geblieben wären und eine Rettung nur im Zusammenwirken mit ihnen möglich gewesen sein würde.117 Das Schrifttum ist überwiegend der gleichen Ansicht.118 In der Politbüro-Entscheidung des Bundesgerichtshofes geht es wie in der des Lederspray-Falles um einen Gremienbeschluss, und zwar der Mitglieder des SED-Politbüros, die allesamt keine Initiative ergriffen hatten, um die Befehle der DDRGrenztruppen und die Grenzanlagen humaner zu machen und so Leib und Leben sogenannter Republikflüchtlinge zu schonen. Die Angeklagten hatten sich darauf berufen, dass sie mit solchen Initiativen auf den Widerstand der anderen Mitglieder des Politbüros gestoßen und von ihnen überstimmt worden wären. Der Bundesgerichtshof hingegen meint, bei der Kausalitätsfrage sei ein rechtmäßiges Verhalten der anderen zu unterstellen, sonst könne sich jeder mit der Pflichtwidrigkeit des anderen entlasten. Das ist kriminalpolitisch verständlich, aber dogmatisch unzutreffend. Zu dem gewünschten Ergebnis (Strafbarkeit aller Gremienmitglieder) kommt man nur, wenn die Unterlassenden Mittäter sind, das heißt wenn sie sich ausdrücklich oder schlüssig auf ein gemeinsames Unterlassen geeinigt hatten (vgl. schon Vogel S. 286 f). Im übrigen ist lediglich – aber immerhin – eine Strafbarkeit wegen Versuches oder gemäß § 138 oder § 323c in Betracht zu ziehen. Zunächst ist allerdings in der Beweisaufnahme sehr sorgfältig zu prüfen, inwieweit die vermeintliche Aussichtslosigkeit einer Initiative objektiv und subjektiv tatsächlich bestand. 5. Die Lehre von der objektiven Zurechnung ergänzt die Kausalitätslehre und 89 schränkt die Weite der dort herrschenden Äquivalenztheorie normativ ein.119 Dadurch trägt sie auch den Bedenken Rechnung, die eine rein subjektive Unrechtslehre (Rdn. 18) dagegen erhebt, dass sich der Eintritt eines „zufälligen“ Erfolges auf die Strafbarkeit auswirkt. Problematisch wird die objektive Zurechnung meist nur bei Fahrlässigkeitsdelikten. Sie kann aber auch bei Vorsatzdelikten Schwierigkeiten machen. Ob jeweils dieselben Zurechnungsmaßstäbe gelten, ist umstritten.120 Die Rechtsprechung hat noch bis vor rund zwanzig Jahren sowohl bei den Vorsatz- wie bei den Fahrlässigkeitsdelikten eine „klassische“ Lösung bevorzugt und die Ursächlichkeit, den Vorsatz oder, bei Fahrlässigkeitsdelikten, die objektive Vorhersehbarkeit problematisiert.121 Mittlerweile hat sie sich aber deutlich auf die Lehre zu bewegt.122 Umgekehrt gibt es im Schrifttum (wenige)

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117 BGHSt 48 77, 92 ff = JZ 2003 575 m. Anm. Ranft; weitere Anm./Bspr.: Arnold StraFo 2003 109; S. Dreher JuS 2004 17; Chr. Knauer NJW 2003 3101; s. auch Hefendehl GA 2004 575. 118 Deutscher/Körner wistra 1996 327, 333 f; Hilgendorf NStZ 1994 561, 565 f; Jakobs FS Miyazawa, S. 419, 430 ff; Kindhäuser LPK Rdn. 98 f m.w.N.; Chr. Knauer S. 201 ff; Röh S. 197; Sofos S. 263; Suárez González in Schünemann/Suárez S. 49, 57. 119 Zu ihrer Geschichte Frisch GA 2018 553, 554 ff; Goeckenjan S. 63 ff; Hübner S. 29 ff; Schünemann GA 1999 207, 208 ff. 120 Pro Roxin GedS Armin Kaufmann, S. 237 ff. Contra Schünemann GA 1999 207, 219 ff. 121 BGHSt 38, 32 ff (Rauschgiftkurier-Fall) = JR 1992, 113 m. Anm. Graul (weitere Anm./Bspr.: Eschenbach Jura 1992 637; Hassemer JuS 1992 262; Sonnen JA 1992 127); BGHSt 21 59 ff (Zahnarzt-Fall); 14 193 ff (Jauchegruben-Fall); 11 1 ff (Radfahrer-Fall); 7 325 ff (Blutrausch-Fall); BayObLGSt. 1994 29, 31 (vgl. Fn. 141); OLG Stuttgart Die Justiz 1994 410, 411; OLG Düsseldorf OLGSt. 6 (1993) 13, 14. 122 BGH NJW 2006 522, 528 m. Anm. Ransiek S. 814 (Mannesmann-Fall, insoweit in BGHSt 50 331 nicht abgedr.; dort ist von den „herkömmlichen und allgemein anerkannten Regeln etwa über die objektive Zurechnung“ die Rede, und dies sogar mit Blick auf das Vorsatzdelikt des § 266; weitere Anm./Bspr.: Alwart JZ 2006 546; Bauer/Arnold DB 2006 546; Fleischer DB 2006 542; Hoffmann-Becking NZG 2006 127; Hohn wistra 2006 161; J. Jahn ZIP 2006 738; Kort DStR 2006 799 und NZG 2006 131; Krause StV 2006 307; Peltzer ZIP 2006 205; Reiner/Geuter EWiR 2006 187; Rönnau NStZ 2006 218; Säcker BB 2006 897; Spindler ZIP 2006 349; Spindler/Kasten WuB [Entscheidungssammlung zum Wirtschafts- und Bankrecht] IX § 266

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Stimmen, die eine gesonderte Lehre von der objektiven Zurechnung ablehnen; zum Teil insgesamt, zum Teil beschränkt auf Vorsatzdelikte.123 — Die objektive Zurechnung vollzieht sich in einem zweistufigen Grundmuster.124 Auf der ersten Stufe ist festzustellen, dass jemand ein unerlaubtes Risiko schafft, auf der zweiten, dass sich eben dieses Risiko verwirklicht. Dagegen lässt sich begrifflich einwenden, dass die erste dieser beiden Stufen nicht die Zurechnung eines Erfolges betreffe, sondern die Qualität eines Verhaltens – als Vorbedingung einer solchen Zurechnung (Frisch GA 2018 553, 561 ff). Das ist allerdings für sich betrachtet nur die (wenn auch berechtigte) Rüge eines falschen Etiketts, nicht die eines falschen Inhalts. — Die Fallgruppen innerhalb der Zurechnungslehre überschneiden sich mehrfach, und die Einteilung variiert bei den einzelnen Autoren. 90

a) Schaffen eines unerlaubtes Risikos heißt Verletzen einer Verhaltensnorm, sei sie geschrieben wie die Verkehrsregeln in der Straßenverkehrsordnung (StVO) oder ungeschrieben wie die Regeln der ärztlichen Kunst. Das Verhalten muss das Risiko, das heißt die Gefahr eines Erfolgseintritts hervorrufen. Den Sorgfaltsmaßstab bestimmt die herrschende Lehre objektiv ex ante unter Berücksichtigung etwaigen Sonderwissens des Täters.125 Dies bedeutet, dass solche Gefahren außer Betracht bleiben, die für einen gewissenhaften Dritten ex ante nicht erkennbar sind und auch vom Täter nicht erkannt werden. Ein Beispiel wäre die Materialermüdung in den Bremsscheiben eines Kraftfahrzeugs, die weder vom Fahrer noch bei einer TÜV-Untersuchung festgestellt werden kann, aber später – nach einem Unfall – von einem Sachverständigen diagnostiziert wird. Ein weiteres Beispiel bietet der Lederspray-Fall BGHSt 37 106, in dem der Hersteller des Sprays bei dessen Markteinführung alle Sorgfaltsregeln beachtet, aber gleichwohl ein objektiv gefährliches Produkt in den Verkehr gebracht hatte. Der Bundesgerichtshof ließ das allerdings ausreichen, um die Markteinführung des Sprays als pflichtwidriges Verhalten zu betrachten (BGHSt 37 106, 115 f; dass dies in einem anderen dogmatischen Zusammenhang stand – der Frage einer Ingerenz wegen pflichtwidrigen Vorverhaltens –, ist hier ohne Belang). Dies bedeutet, dass der Bundesgerichtshof die Frage der Sorgfaltswidrigkeit nicht objektiv ex ante, sondern objektiv ex post beurteilt hat. Und das ist auch richtig (so schon T. Walter Kern des Strafrechts, S. 40 ff). Die Richtigkeit des Expost-Maßstabes erschließt sich, wenn man die Vorsatzprobe macht: Wäre es ein Vorsatzdelikt gewesen, wenn der Täter die Gefährlichkeit seines Tuns gekannt und in den Dienst eines deliktischen Plans gestellt hätte? Ist diese Frage zu bejahen – wie in den beiden oben angeführten Beispielen –, hat man das Verhalten als unerlaubt riskant, das heißt als objektiv pflichtwidrig zu betrachten. Denn andernfalls scheiterte die objektive

_____ StGB 1.06; Steiner Kreditwesen 2006 109; Vahle Kriminalistik 2006 125; Vogel/Hocke JZ 2006 568); BGH NJW 2000 2754, 2757 = NStZ 2001 188 m. Anm. Altenhain; BayObLGSt. 1998 97, 102; 1996 96, 97. 123 Baumann/Weber/Mitsch11 § 14 Rdn. 100; Hirsch FS Köln, S. 399, 403 ff; ders. FS Lenckner, S. 119 ff (mit dem Zugeständnis vereinzelter inhaltlicher Richtigkeit bei den Fahrlässigkeitsdelikten, deren Dogmatik diese Lösungen aber auch ohne die Lehre von der objektiven Zurechnung erlaube; konzilianter in FS Lampe, S. 515, 523); Armin Kaufmann FS Jescheck, S. 251 ff; Küpper Grenzen, S. 91 ff; Schroeder LK11 § 16 Rdn. 25 ff; Struensee ZStW 102 (1990) 21, 26; Zieschang AT Rdn. 86; zusammenfassend und gegen diese Kritiker Frisch FS Roxin, S. 213, 219 ff. 124 Siehe nur Mitsch JZ 2018 1035, 1036; Roxin AT I § 11 Rdn. 47; krit. zur herrschenden Fallverteilung zwischen erster und zweiter Stufe Frisch Zurechnung, S. 35 ff und öfter; ders. FS Roxin, S. 213, 231 ff; ihm folgend Freund MK Rdn. 352 ff; Wolter in Gimbernat/Schünemann/Wolter S. 3, 11; dagegen Schünemann GA 1999 207, 216 („Scheinproblem“). 125 Frisch FS Roxin, S. 213, 230; Roxin AT I § 24 Rdn. 61; Schmoller FS Kühl, S. 433, 453; Sch/Schröder/ Sternberg-Lieben/Schuster § 15 Rdn. 138 ff; Wolter in Gimbernat/Schünemann/Wolter S. 3, 22 f; weitere Nachweise bei Burkhardt in Wolter/Freund S. 99 Fn. 27; zum Teil aA Jakobs AT 7/49 ff; Pawlik S. 343.

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Zurechnung und mit ihr auch die Haftung für Vorsatz. Anders nur, wenn man für Vorsatzdelikte einen anderen Zurechnungsmaßstab verwendete (objektiv ex post) als für Fahrlässigkeitstaten (objektiv ex ante). Das jedoch widerspräche der herrschenden Grundidee, für Fahrlässigkeits- und Vorsatzdelikte eine einheitliche Zurechnungslehre zu entwerfen. Und es widerspräche der Idee einer objektiven Zurechnung, da der Sorgfaltsmaßstab dann insofern subjektiviert würde, als es um die Möglichkeiten einer bestimmten Person ginge; wenn auch nur um die einer erdachten Maßfigur (sorgfältiger Dritter; für eine solche Subjektivierung des objektiven Tatbestands Frisch GA 2018 553, 566 ff). Eine Strafbarkeit ex ante unerkennbar gefährlichen Tuns scheidet natürlich im Ergebnis aus. Sie scheitert aber nicht an objektiven, sondern an subjektiven Voraussetzungen, das heißt beim Fahrlässigkeitsdelikt am Fehlen der individuellen Voraussehbarkeit und beim Vorsatzdelikt, weil der Vorsatz fehlt. Ob man diese subjektiven Voraussetzungen beim Fahrlässigkeitsdelikt noch zum äußeren/objektiven Tatbestand rechnet oder erst zur Fahrlässigkeitsschuld, ist erneut eine Etikettierungs- und keine Sachfrage. Begrifflich sauberer ist die Einordnung bei der Fahrlässigkeitsschuld. — Ausschlüsse unerlaubt riskanten Verhaltens sind unter folgenden Gesichtspunkten möglich: aa) Sozialadäquat im engeren Sinne sind geringfügige Handlungen: das Neujahrs- 91 geschenk an den Briefträger (keine Vorteilsannahme, § 331), herabsetzende Äußerungen im Familienkreis (keine Beleidigung, § 185), Glücksspiele mit kleinsten Einsätzen (keine unerlaubte Veranstaltung eines Glücksspiels, § 284) und die Infektion anderer mit leichten Erkältungskrankheiten bei üblichem sozialen Kontakt (BGHSt 36 1, 16 f). Der Begriff der sozialen Adäquanz geht auf Welzel zurück (ZStW 58 [1939] 491, 516; zur Dogmengeschichte Cancio Meliá GA 1995 179 ff und F. Knauer ZStW 126 [2014] 844, 846 ff m. zahlr. Beispielen; zur Rechtsprechung, auch der Zivilgerichte, Rönnau LK Vor § 32 Rdn. 49 f). Abzugrenzen ist er von dem Begriff des „erlaubten Risikos“ (dogmengeschichtlich Prittwitz S. 291 ff; für die Dogmatik heute Roxin AT I § 10 Rdn. 38 ff, dem dieser Text folgt). Ganz überwiegend und zutreffend meint man, die Sozialadäquanz schließe den Tatbestand aus.126 Früher indes nahmen einige127 einen Rechtfertigungsgrund an oder einen Schuldausschluss (Roeder Schuld und Irrtum im Justiz- und Verwaltungsstrafrecht [1938] S. 94). Das ist für die Fälle geringfügiger Handlungen schon deshalb verfehlt, weil sie sich bereits bei der Definition des tatbestandsmäßigen Erfolges erledigen.128 Dann wird auch die objektive Zurechnung nicht mehr erheblich. Dass beispielsweise herabsetzende Äußerungen über Dritte im Familienkreis nicht unter § 185 fallen, ist eine Antwort auf die Frage, was unter einer Beleidigung zu verstehen sei. Anerkannt sind derartige Geringfügigkeitsfilter auch in den Definitionen der körperlichen Misshandlung (§ 223) und der Freiheitsberaubung (§ 239): Unerhebliche Beeinträchtigungen kommen jeweils

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126 OLG München NStZ 1985 549, 550 = JZ 1985 1005 m. Anm. Otto (weitere Anm./Bspr.: Eckert EWiR 1985 963; Hassemer JuS 1986 70; Huff NJW 1986 902; Küpper NStZ 1988 60; Labsch NJW 1986 104; Marxen EWiR 1993 395; Offermann JA 1985 601); Jescheck/Weigend § 25 IV 1 (S. 252); Lackner/Kühl/Kühl Vor § 32 Rdn. 29; Roxin AT I § 10 Rdn. 36; Rönnau LK Vor § 32 Rdn. 48; Sch/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vor § 32 Rdn. 107a; Stratenwerth/Kuhlen § 8 Rdn. 30 ff; aA Wolter in Gimbernat/Schünemann/Wolter S. 3 f, 8 f: „Systemstufe […], die vor dem objektiven Unrechtstatbestand liegt“ (Hervorhebung original). 127 OLG Neustadt NJW 1963 1633 f; Engisch Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht (1930) S. 344; Schmidhäuser AT 9/26; für berufsgerechtes Verhalten auch Tiedemann Jura 1981 24, 29 f. 128 Jescheck LK11 Rdn. 49; Roxin AT I § 10 Rdn. 41; ders. FS Androulakis, S. 575, 587; im Ergebnis auch Freund MK Rdn. 159 f („Selbständige Bedeutung […] kommt der Sozialadäquanz […] nicht zu“); Rönnau LK Vor § 32 Rdn. 52 im Anschluss an Roxin.

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nicht in Betracht. Zum Teil schließt schon das Gesetz solche Fälle aus dem Tatbestand aus (§ 184 f, § 129 Abs. 2 Nr. 2, § 303b und andere). — Unter dem Stichwort der Sozialadäquanz löst man häufig auch den Lehrbuchfall, dass jemand einen anderen überredet, in einem Gewitter spazieren zu gehen, weil er hofft, den anderen werde der Blitz treffen, was tatsächlich geschieht.129 Allerdings hat man sich den anderen zunächst als unmündiges Kind zu denken, weil sonst schon seine Selbstverantwortung jede Haftung ausschließt (Rdn. 112 ff). Als Nächstes fragt sich, ob das Kind in dem Gewitter in eine nennenswerte Gefahr gerät. Denkbar ist das vielleicht bei einem besonders starken Gewitter und einem Spaziergang auf freiem Feld. Falls ja, steht der Vorsatzhaftung nichts entgegen.130 Falls nein, bleibt ein grob unverständiger Versuch in Verbindung mit einem Unglück. Sozialadäquanz spielt keine eigenständige Rolle. 92

bb) Fälle erlaubten Risikos sind die Teilnahme am Schienen-, Straßen- und Flugverkehr, sofern alle erforderlichen Genehmigungen vorliegen, der genehmigte Betrieb von Industrieanlagen und vergleichbare Aktivitäten131 sowie der Ausschank von Alkohol in den Grenzen, die das Gaststättengesetz zieht (kein Ausschank an erkennbar Betrunkene, § 20 Nr. 2 GaststättenG, BGHSt 19 152, 154 [„sozial üblich“]). Hingegen bleiben Verletzungen im Rahmen sportlicher Wettkämpfe und ähnlicher Veranstaltungen straffrei, weil und soweit die Teilnehmer ihrer Gefährdung vollverantwortlich zustimmen (Rdn. 112 ff). Nur ein Unterfall des erlaubten Risikos ist der Vertrauensgrundsatz: Ein Verkehrsteilnehmer, der sich selbst sorgfaltsgerecht verhält (krit. Roxin AT I § 24 Rdn. 24), darf darauf vertrauen, dass die anderen ein Gleiches tun, es sei denn das Gegenteil liegt nahe.132 Das tut es vor allem bei alten Menschen, bei Kindern und bei Verkehrsteilnehmern, die erkennen lassen, dass sie sich regelwidrig verhalten werden. Auch das Prädikat „erlaubtes Risiko“ schließt den Tatbestand aus (Rönnau LK Vor § 32 Rdn. 58; aA offenbar Kindhäuser GA 1994 197, 198 f, 229, der zwar eine Sorgfaltswidrigkeit verneint, aber den objektiven Tatbestand ausdrücklich unberührt sieht; Prittwitz S. 319 erwägt eine Klassifizierung als Rechtfertigung).

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cc) Fällt ein Dritter dem Täter in den Arm, sodass dessen Hieb nur die Schulter des Opfers trifft statt dessen Kopf, so mindert er Gefahr und Schaden für die Gesundheit des Opfers. Obwohl er für die Verletzung in ihrer konkreten Gestalt kausal wird, rechnet man sie ihm aufgrund der Risikominderung nicht zu.133 Diesem Fall vergleichen lässt sich jener, dass jemand eine Gefahr wiederum ablenkt, deren Folgen aber nicht mindert, sondern nur gegen gleichartige und gleichschwere Folgen eintauscht. Im Ausgangsfall

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129 Etwa bei Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 257; ähnlich Erb JuS 1994 449, 453 („erlaubtes Risiko“); Roxin ZStW 116 (2004) 929, 934 f (kein objektiver Tatbestand da „kein rechtlich relevantes Risiko“); Wolter in Gimbernat/Schünemann/Wolter S. 3, 5, 8 („fehlende Gefahrerhöhung“ und keine Handlung im Sinne des Strafrechts). 130 So im Ergebnis schon Frisch Zurechnung, S. 127; ähnlich, aber mit weiterer, nicht überzeugender Einschränkung Goeckenjan S. 193; gegen sie – hinsichtlich jener Einschränkung – schon Mitsch JZ 2018 1035, 1036. 131 Jescheck LK11 Rdn. 49 („Sozialadäquanz“); Rönnau LK Vor § 32 Rdn. 54; eingehend Goeckenjan S. 208 ff; Prittwitz S. 267 ff. 132 OLG Frankfurt JR 1994 77, 78 m. Anm. Lampe; Erb JuS 1994 449, 453; Roxin AT I § 24 Rdn. 21; im Ergebnis auch Frisch Zurechnung, S. 186 ff. 133 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 10 Rdn. 74 ff; Jäger SK Vor § 1 Rdn. 101; Kindhäuser LPK Rdn. 114; Lee Objektive Zurechnung des Erfolgs bei bloßer Risikominderung oder Risikomodifikation (2001) S. 139 f; Roxin AT I § 11 Rdn. 53; Sch/Schröder/Eisele Rdn. 94; Stratenwerth/Kuhlen § 8 Rdn. 28; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 285; Wolter in Gimbernat/Schünemann/Wolter S. 3, 4 f.

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Vorbemerkungen | Vor §§ 13 ff

treffe der Hieb statt der linken die rechte Schulter; einschlägig ist auch Samsons Lehrfall (S. 98), dass ein Erdrutsch zwei Gleise verschüttet und der Täter eine Weiche umstellt, weswegen ein Triebwagen statt auf dem einen Gleis auf dem anderen gegen das Geröll fährt. Die Lehre von der Risikominderung ist allerdings verfehlt, da die Straflosigkeit in den besagten Fällen in Wahrheit ausschließlich aus einer tatsächlichen oder mutmaßlichen Einwilligung des Opfers folgt.134 Denn sollte es einmal an ihr fehlen, ist nicht zu sehen, warum der Täter straflos bleiben müsste. So, wenn das Opfer in dem Schulbeispiel mit einem Schlag auf den Kopf, aber auch nur mit einem solchen Schlag einverstanden ist. Etwa hat es eine Wette abgeschlossen oder möchte herausfinden, wie viel äußere Belastung sein Kopf aushält, ohne dass es bewusstlos wird. Die Einwilligung ist dann wohl trotz § 228 wirksam – aber nur für den Schlagenden und nur bezüglich eines Schlages auf den Kopf. Lenkt jemand im Wissen hierum den Schlag auf die Schulter, die sich das Opfer schmerzfrei halten will: Wieso soll das straflos sein? Gegen eine Verortung in der Zurechnungslehre spricht auch, dass es unmöglich ist, zwischen einer Risikominderung und einem Risikowechsel zu unterscheiden. Die Lehre von der objektiven Zurechnung ist aber auf diese Unterscheidung angewiesen, wenn sie die Risikominderung erfassen soll. Denn anders als eine solche Minderung soll der Risikowechsel die Zurechnung ohne Rücksicht darauf bestehen lassen, ob der Schaden im Ergebnis geringer ist oder gleich schwer. Das übliche Kontrastbeispiel ist das des Vaters, der sein Kind nicht der Gefahr des Flammentodes aussetzt, sondern der einer Sturzverletzung, indem er es von dem Balkon des brennenden Hauses wirft (Kindhäuser LPK Rdn. 115; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 287). Dieser Fall erledige sich höchstens nach Notstandsregeln. Doch ist ein Risikowechsel schon fraglich, wenn es auch unter dem Balkon brennt und diese Flammen lediglich weniger gefährlich sind oder wenn der Vater sein Kind rechts von dem Balkon werfen kann oder links und es rechts nach zwei Metern auf einen Schuppen fiele und links nach vier Metern auf die Straße – wählt der Vater jeweils zwischen zwei Risiken oder zwischen zwei Quantitäten desselben Risikos? Ist die Antwort dieselbe, wenn ein anderes Kind aus einem oberen Stockwerk in Richtung Straße stürzt und es der Vater im Sturz so anstößt, dass es auf den Schuppen fällt? Es gibt kein trennscharfes Mittel, um das qualitativ andere vom quantitativ anderen Risiko zu unterscheiden. dd) Verkehrsgerechtes Verhalten verletzt per definitionem keine Verhaltensnorm. 94 Die herrschende Meinung nimmt aber an, dass rein äußerlich verkehrsgerechtes Verhalten dies tue, wenn der Handelnde die Absicht verfolge, andere zu schädigen (Nachweise in Fn. 130 und 131). Aus der Rechtsprechung einschlägig sind erstens die Fälle, dass jemand im Straßenverkehr die formalen Regeln der StVO (zur Höchstgeschwindigkeit und so fort) beachtet, aber bewusst die Unaufmerksamkeit oder Fahrfehler anderer ausnutzt, um einen Unfall herbeizuführen und mit dem Versicherer des Unfallgegners vorteilhaft abrechnen zu können.135 Zweitens ist an die Fälle zu denken, dass jemand Angebotsschreiben verschickt, die wie Rechnungen aufgemacht sind, in der Hoffnung, der Adressat werde von einer Rechnung ausgehen und den ausgewiesenen Betrag über-

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134 Maiwald FS Miyazawa, S. 465, 466 ff, 479; Rengier AT § 13 Rdn. 58; Schroeder FS Schünemann, S. 151, 160 f m.w.N. zur Gegenansicht. Für eine Lösung durch Rechtfertigung auch Goeckenjan S. 268; Köhler AT S. 148; Küpper Grenzen, S. 93 ff. 135 BGH NJW 1999 3132, 3133 = StV 2000 22 m. Anm. Kudlich; Bspr. von Freund JuS 2000 754; Kopp JA 2000 365; König JA 2000 777. Dem BGH zust. König aaO; Lackner/Kühl/Heger § 315b Rdn. 4; Fischer § 315b Rdn. 10; i. Erg. auch Freund aaO und MK Rdn. 185 ff, der es aber für ausgeschlossen hält, das Verkehrsgerechte eines Verhaltens allein für dessen äußere Seite zu beurteilen.

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weisen („Betrug durch wahre Erklärungen“).136 — Zwar ist es richtig, dass ein innerer Tatbestand, zumal eine Absicht, über die Strafbarkeit eines Verhaltens entscheiden kann; und zwar beim Versuch, bei dem es neben einer wie auch immer gearteten Handlung im Sinne des Strafrechts ausschließlich auf die Vorstellung des Täters ankommt. In den hier einschlägigen Fällen nimmt man aber vorschnell ein äußerlich verkehrsgerechtes Verhalten an. In den Fällen zum Betrug dürfte das bereits die herrschende Ansicht sein, die nämlich von einer konkludenten Täuschung ausgeht, mithin von einem (auch) äußeren kommunikativen Sorgfaltsmangel. Entsprechendes gilt für die StraßenverkehrsFälle. Wer zum Beispiel abrupt bremst, ohne dass ihm plötzlich und unerwartet ein Hindernis in den Weg geraten wäre (etwa ein spielendes Kind), verstößt auch äußerlich gegen § 1 Abs. 2 StVO und verhält sich also auch äußerlich nicht verkehrsgerecht. Dies gilt selbst dann, wenn der Bremsende kurzentschlossen abbiegen will und daher nicht grundlos bremst. Denn wer an einer bestimmten Stelle abbiegen möchte, hat sich das zeitig zu überlegen und so zu fahren, dass kein abruptes Bremsen erforderlich wird. Dass Auffahrenden ebenfalls ein Verschulden zur Last liegt, weil sie den Sicherheitsabstand unterschritten haben, ändert daran nichts. 95

b) Gerade die geschaffene Gefahr muss sich verwirklichen. In der Sache geht es in allen Fallgruppen, die man unter diesem Gesichtspunkt erörtert, um die Frage, ob die verletzte Verhaltensnorm noch den Zweck habe, einen schädlichen Verlauf von der Art jenes Verlaufes zu verhindern, der sich ereignet hat (grundlegend Rudolphi JuS 1969 549 ff; heute T. Walter NStZ 2013 673, 674; Nachw. zum spanischsprachigen Schrifttum bei Sánchez Lázaro ZStW 126 277, 284; ablehnend Degener S. 48 ff, 511 ff). Diese Frage zum Schutzzweck der verletzten Verhaltensnorm taucht zwar in den gängigen Darstellungen der Zurechnungslehre nur als Überschrift einer einzigen Fallgruppe auf. Tatsächlich beherrscht sie aber alle Ausführungen zur Gefahrverwirklichung und liegen sämtliche Fälle, für die man diese Gefahrverwirklichung ablehnt, außerhalb des Schutzbereiches der verletzten Verhaltensnorm (und umgekehrt). — An der Gefahrverwirklichung fehlt es nach herrschender Ansicht in den folgenden Fallgruppen: aa) Man lehnt die Zurechnung ab, wenn der Erfolgseintritt außerhalb jeder Lebenserfahrung liegt oder sich lediglich das allgemeine Lebensrisiko verwirklicht (atypischer Kausalverlauf).137 Häufig behandelt man diese Fälle (auch) unter der Überschrift „fehlender Normzweckzusammenhang“ oder ohne besonderen Zusatz als „fehlende Risikoverwirklichung“. Die Rechtsprechung hat für die fraglichen Gestaltungen früher die Fahrlässigkeit (Voraussehbarkeit) verneint.138 In den Schulfällen verletzt der Täter das Opfer mit Tötungsvorsatz, und das Opfer kommt erst bei einem Brand im Krankenhaus zu Tode, dem es auch unverletzt – etwa als Besucher – nicht entkommen wäre,139 oder das Opfer stirbt, weil der Krankenwagen einen gewöhnlichen Unfall erleidet, das heißt einen Unfall, der nicht auf die rasante Fahrweise oder die Inanspruchnahme von Son-

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136 BGHSt 47 1, 5 = JR 2002 75 m. Anm. Loos; Krack JZ 2002 610 (weitere Anm./Bspr.: Baier JA 2002 364; Franke DB 2001 1603; Geisler NStZ 2002 86; Martin JuS 2001 1031; Pawlik StV 2003 297; Rose wistra 2002 13; Vahle Kriminalistik 2001 556); BGH NStZ-RR 2004 110 = StV 2004 535 m. Anm. Hendrik Schneider; Anm. Baier JA 2004 513. Dem BGH zust. Loos aaO; Kindhäuser LPK § 263 Rdn. 62; Fischer § 263 Rdn. 28 m.w.N. 137 Jescheck/Weigend § 28 IV 3 (S. 288); Roxin AT I § 11 Rdn. 69; Stratenwerth/Kuhlen § 15 Rdn. 17 (zur Fahrlässigkeit); Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 289; abl. Frisch Zurechnung, S. 455 ff. 138 Vgl. BGHSt 31 96, 101; 12 75, 77; BGH GA 1960 111, 112. 139 Frisch Zurechnung, S. 388 ff; Roxin AT I § 11 Rdn. 45; Sch/Schröder/Eisele Rdn. 95; Wolter in Gimbernat/Schünemann/Wolter S. 3, 6.

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derrechten (§ 35 Abs. 1 StVO) zurückzuführen ist.140 Beispiele aus der Praxis sind der Infarkttod eines Autofahrers, den der Täter rücksichtslos überholt (OLG Stuttgart NJW 1959 2320, 2321, vgl. Rdn. 96), ein Bremsenversagen bei einem erst vier Monate alten Auto (BGH VRS 27 348, 349) und der Tod eines Kindes durch einen Grippevirus aus einer Klinik, in die es wegen einer Vitaminvergiftung eingeliefert wird (OLG Köln NJW 1956 1848). Noch nicht jenseits aller Lebenserfahrung soll es in Schulfällen liegen, wenn der Täter das Opfer von einer Brücke wirft, das Opfer aber nicht ertrinkt, sondern sich an einem Brückenpfeiler den Schädel zerschmettert, oder wenn das Opfer an einer Wundinfektion stirbt statt an der Wunde (Roxin AT I § 11 Rdn. 70). In der Rechtsprechung ist es etwa der Tod eines Bluters, den ein Steinwurf nur leicht verletzt hatte (RGSt 54 349, 351; im Ergebnis zust. Frisch Zurechnung, S. 405 ff; aA Rengier AT § 13 Rdn. 72); der Tod durch eine Lungenembolie nach einem Messerstich (BGH bei Dallinger MDR 1976 15 f); die Verletzung eines Menschen im Straßenverkehr, wenn Alkohol zusammen mit niedrigem Blutdruck eine Bewusstseinsstörung auslöst (BayObLG NJW 1969 1583, 1584). Überschneiden können sich die atypischen Kausalverläufe mit der Fallgruppe des Eingreifens Dritter (Rdn. 103 ff). Zum Beispiel wird man es als atypischen Verlauf ansehen dürfen, wenn ein Dritter dem Rauschgiftkurier das Rauschgift stiehlt und selbst einführt (BGHSt 38 32 ff [Fn. 118]). Überschneidungen gibt es ferner – wie angedeutet – mit den Fällen fehlenden Rechtswidrigkeitszusammenhanges. bb) Die Fallgruppe des fehlenden Rechtswidrigkeitszusammenhanges nennt 96 Puppe anschaulicher Fälle von fehlender „Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung“ (etwa in FS Roxin, S. 287, 288; zur Dogmengeschichte Degener S. 14 ff). Man unterscheidet zwei Untergruppen: (1) Zum einen mag besonders deutlich der Schutzbereich der verletzten Verhaltensnorm überschritten sein. Ein Beispiel aus dem Straßenverkehr ist der bekannte Radleuchten-Fall RGSt. 63 392 ff: Es ist nicht der Sinn des Beleuchtungsgebotes für Fahrräder, die Landschaft auszuleuchten, damit andere Verkehrsteilnehmer besser sehen können oder von Dritten besser gesehen werden (das Reichsgericht verneinte die Rechtswidrigkeit). Ebenso wenig ist es der Sinn einer Geschwindigkeitsbeschränkung, dafür zu sorgen, dass Verkehrsteilnehmer erst zu bestimmten Zeiten an bestimmte Orte gelangen (BGHSt 33 61, 64; OLG Düsseldorf VRS 88 268, 269; Erb JuS 1994 449, 454) oder durch verringerte Geschwindigkeit andere Verkehrsteilnehmer am Schnellfahren hindern (OLG Stuttgart Die Justiz 1994 410, 412); vielmehr sollen sie dem Fahrer während des Fahrens hinreichende Reaktionszeiten sichern, einer Schleudergefahr vorbeugen u.s.w. Ferner ist es nach Wolter in Gimbernat/Schünemann/Wolter S. 3, 6 nicht Sinn der StVO-Regeln, einen Herzinfarkt zu verhindern, den ein anderer Verkehrsteilnehmer aus Aufregung darüber erleidet, dass jemand diese Regeln verletzt, etwa durch falsches Überholen. Zu einem weiteren Straßenverkehrs-Beispiel aus der spanischen Rechtsprechung Gimbernat GA 2018 127, 134. Bei einer ärztlichen Heilbehandlung ist es nie der Sinn einer Untersuchung oder vorbereitenden Behandlung, den Tod oder eine Gesundheitsschädigung des Patienten lediglich um jene Zeit hinauszuzögern, welche die Untersuchung oder Behandlung in Anspruch nimmt (Erb JuS 1994 449, 454; Puppe FS Roxin, S. 287, 300). Daher bleibt ein Arzt nach h.M. straflos, wenn er zwar pflichtwidrig eine solche Untersuchung oder Vorbehandlung unterlässt, der Patient aber durch den späte-

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140 Schmoller FS Triffterer, S. 223, 256 (dort als Fall der Sozialadäquanz); Sch/Schröder/Eisele Rdn. 95 (dort als Fall fehlender Risikoverwirklichung).

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ren Eingriff möglicherweise auch Schaden genommen hätte, wenn die Untersuchung oder Vorbehandlung vorausgegangen wäre (BGHSt 21 59, 61 [Zahnarzt-Fall]; BGH JR 1994 514 m. Anm. Puppe; i. Erg. auch Haas GA 2015 86, 93). Die Risikoerhöhungslehre lässt es indes hinreichen, dass die Untersuchung oder Vorbehandlung die Wahrscheinlichkeit des schädigenden Verlaufes gesenkt hätte (Puppe aaO S. 515 ff). Auch Schockschäden Angehöriger, wenn sie von der schweren Verletzung oder 97 vom Tode des Opfers erfahren, liegen nach herrschender Meinung außerhalb des Schutzbereichs der Normen, die das Opfer schützen sollten.141 Man könnte diese Fälle aber auch als atypischen Kausalverlauf behandeln. Den Schockschäden gleich zu behandeln sind nach herrschender Lehre Spätfol98 gen.142 Etwa verliert das Opfer einer fahrlässigen Körperverletzung ein Bein; Jahre, nachdem der Täter verurteilt ist, kommt das Opfer zu Tode, weil es aufgrund seiner Behinderung unglücklich stürzt. Das Ganze ist aber kaum ein Problem der objektiven Zurechnung. Tritt die Spätfolge erst nach dem Prozess ein, dann ist in dem Prozess nicht wegen des Tötungsdeliktes zu verurteilen, weil der Erfolg fehlt, und nach dem Prozess nicht, weil die Strafklage verbraucht ist (Art. 103 Abs. 3 GG, vergleiche Frisch Zurechnung, S. 501 ff). Tritt die Folge aber vor der Verurteilung ein, ist sie zuzurechnen, sofern nicht ein anderer Gesichtspunkt die Zurechnung ausschließt (aA Frisch Zurechnung, S. 506). Schlichter Zeitablauf ist kein derartiger Gesichtspunkt, und wenn man die Folge zeitlich näher an das Verhalten heranrückt, sind für die diskutierten Fälle auch keine anderen Ausschlüsse der Zurechnung erkennbar. Beispielsweise zerschmettert bei einem Schiffsuntergang ein Matrose dem anderen den Arm, als er ohne Rücksicht auf nachfolgende Kameraden eine schwere Luke zufallen lässt. Dem anderen gelingt es einarmig nicht schnell genug, auf den steilen Leitern an Oberdeck zu kommen, und er ertrinkt. Das ist eine fahrlässige Tötung. 99

(2) Die zweite Fallgruppe fehlenden Rechtswidrigkeitszusammenhanges firmiert unter dem Schlagwort rechtmäßiges Alternativverhalten. Man lehnt die Zurechnung ab, wenn der Erfolg in gleicher Weise auch bei sorgfaltsgerechtem Verhalten des Täters eingetreten wäre. Erstmals dürfte diesen Gesichtspunkt das Reichsgericht in seinem Apotheker-Urteil RGSt 15 151, 154 herausgestellt haben, freilich bei unrichtiger Einstufung des Verhaltens als Unterlassung und Erörterung von deren Ursächlichkeit. Wichtigstes Lehrbeispiel aus dem Straßenverkehr ist der Radfahrer-Fall BGHSt 11 1 ff: Das Opfer, ein Radfahrer, wird mit zu geringem Seitenabstand von einem Lkw überholt und gerät aufgrund einer alkoholbedingten Kurzschlussreaktion unter die Räder. Wenn diese Reaktion so stark war, dass sich der Unfall auch bei korrektem Seitenabstand ereignet hätte, lehnt man die Zurechung ab (der Bundesgerichtshof verneinte wie das Reichsgericht die Kausalität).143 Entsprechend OLG Düsseldorf VRS 88 268, 269: Ein Lkw überholt mit

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141 Roxin AT I § 24 Rdn. 44; Wolter in Gimbernat/Schünemann/Wolter S. 3, 6; im Ergebnis auch Frisch Zurechnung, S. 135, 398 ff (es sei denn, der Täter hat konkrete Anhaltspunkte für eine schockanfällige Konstitution des [zweiten] Opfers). 142 Roxin AT I § 24 Rdn. 45; Jäger SK Vor § 1 Rdn. 137; Sch/Schröder/Sternberg-Lieben/Schuster § 15 Rdn. 162; Wolter in Gimbernat/Schünemann/Wolter S. 3, 6; im Ergebnis auch Frisch Zurechnung, S. 495 ff. 143 Im Anschluss an BGHSt 11 1: BGHSt 24 31, 34 = JR 1971 247 m. Anm. Möhl; Bspr. Hofmann VersR 1971 1103; BGHSt 33 61, 63; BayObLGSt 1994 29, 31 (vgl. Fn. 142); OLG Düsseldorf VRS 88 268, 269; OLG Stuttgart Die Justiz 1994 410, 411 f; OLG Frankfurt JR 1994 77, 78 m. Anm. Lampe; i. Erg. auch Erb S. 146 ff (fehlende „normative Korrespondenz“ zwischen Schutzanspruch und Verhaltensnorm, da letztere in casu ungeeignet gewesen sei, Ereignisse von der Art des eingetretenen zu verhindern); ders. JuS 1994 449, 455 f; Gimbernat GA 2018 127, 131 (und zwar als Vertreter der Risikoerhöhungslehre, zu ihr sogleich im Text);

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überhöhter Geschwindigkeit (aber ausreichend Seitenabstand) einen Mofa-Fahrer, der den Lkw nicht bemerkt, nach links abbiegt und überrollt wird; der Lkw-Fahrer hätte auch mit korrekter Geschwindigkeit nicht rechtzeitig bremsen können und das Mofa erfasst. Für die Hypothese rechtmäßigen Verhaltens kommt es auf den Zeitpunkt der „kritischen Verkehrslage“ an.144 Im Radfahrer-Fall war das der Augenblick der Schreckreaktion des Radfahrers. In dem Fall des OLG Düsseldorf kam es auf den Beginn des Abbiegens des Mofa-Fahrers an und damit auf den Zeitpunkt, ab dem der Lkw hätte bremsen müssen: Für diesen Zeitpunkt war eine korrekte Geschwindigkeit zu unterstellen und zu prüfen, ob sie dem Lkw-Fahrer bei gewöhnlicher Reaktionszeit erlaubt haben würde, rechtzeitig zu bremsen. Das Geschehen davor war unbeachtlich – obwohl der Unfall natürlich vermieden worden wäre, wenn der Lkw schon früher langsamer gefahren wäre und das Mofa so vor dessen Abbiegen gar nicht erreicht hätte. Denn diese Alternative lag außerhalb des Schutzbereiches der Geschwindigkeitsbegrenzungen (Rdn. 96). Noch innerhalb dieses Schutzbereiches liegt freilich die Alternative, dass der Angefahrene bei einer hypothetisch längeren Bremsphase des Täters nach Eintritt der kritischen Situation den Kollisionsort durch seine Eigenbewegung bereits verlassen haben würde (BGHSt 33 61, 65).145 Besteht die Pflichtwidrigkeit darin, trotz Trunkenheit am Straßenverkehr teilzu- 100 nehmen, so bildet die Rechtsprechung als Hypothese rechtmäßigen Verhaltens für §§ 230, 222 nicht den Fall nüchternen Fahrens, sondern überlegt, was geschehen wäre, wenn der Betrunkene mit verringerter, der Trunkenheit angepasster Geschwindigkeit gefahren wäre. Für § 315c Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a hingegen bildet sie die Hypothese einer Fahrt in nüchternem Zustand.146 Das Schrifttum lehnt ersteres zu Recht ab (stellvertretend Puppe in ihrer Anmerkung NStZ 1997 389 ff). Rechtmäßig ist die Trunkenheitsfahrt nun einmal auch mit noch so geringer Geschwindigkeit nicht, und das hat auch seinen guten Grund: Gefahren für andere entstehen nicht nur wegen langsamerer Reaktionszeiten, sondern auch deshalb, weil die Wahrnehmung des Betrunkenen ebenso eingeschränkt ist wie seine allgemeine Fähigkeit, die Lage zutreffend einzuschätzen und angemessen auf sie zu reagieren. Der Radfahrer-Fall wird dadurch komplizierter, dass das Opfer nur „mit hoher 101 Wahrscheinlichkeit“ auch bei korrektem Seitenabstand unter die Räder gekommen wäre. Die heute herrschende Meinung („Vermeidbarkeitstheorie“) behandelt diese Gestaltung genauso wie eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit – und begnügt sich für den Ausschluss der Zurechnung sogar mit der schlichten Möglichkeit, dass es auch bei pflichtgemäßem Verhalten zu dem Erfolg gekommen wäre.147 Hierfür wird allerdings zu Recht eine realistische Möglichkeit verlangt, nicht bloß eine rein theoretische (wohl verkannt von Gimbernat GA 2018 65, 75). Mit anderen Worten legt man den gleichen Maß-

_____ Haas GA 2015 86, 97 f; krit. Röh S. 21 ff; abl. Nießen Die Berücksichtigung rechtmäßigen Alternativverhaltens beim fahrlässig begangenen Erfolgsdelikt, Diss. Münster 1994, S. 173, 177 f, 219 ff. 144 BGHSt 33 61, 63 = JZ 1985 293 m. Anm. Puppe (weitere Anm./Bspr.: Ebert JR 1985 356; Hassemer JuS 1985 733; Peters JR 1992 50; Streng NJW 1985 2809); OLG Düsseldorf VRS 88 268, 269; OLG Stuttgart Die Justiz 1994 410, 411; OLG Frankfurt JR 1994 77, 78 f m. Anm. Lampe. 145 = JZ 1985 293 m. Anm. Puppe; weitere Bspr.: Ebert JR 1985 356; Hassemer JuS 1985, 733; Peters JR 1992 50; Streng NJW 1985 2809. 146 BGHSt 24 31, 35 ff (vgl. Fn. 139); BayObLGSt 1994 29, 31 f m.w.N. = NStZ 1997 388 m. Anm. Puppe; Anm. Schmid BA 32 (1995) 330. 147 BGHSt 11 1, 7; BGH JR 1994 514 f m. Anm. Puppe; s. ferner die Nachweise zur Rspr. in Fn. 138; Dencker JuS 1980 210, 212; Jäger SK Vor § 1 Rdn. 119; Krümpelmann GA 1984 491, 492; Puppe JuS 1982 660, 665; Samson S. 47; Sch/Schröder/Sternberg-Lieben/Schuster § 15 Rdn. 177 f; Toepel S. 133; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 961.

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stab an, der im Strafverfahren für die Frage gilt, ob ein Sachverhalt als festgestellt betrachtet werden dürfe oder an ihm noch ein vernünftiger Zweifel (dubium) bestehe. Anderer Ansicht ist die Risikoerhöhungslehre.148 Sie lässt es hinreichen, wenn der Täter das Erfolgsrisiko immerhin deutlich erhöht hat. Das ist genauso abzulehnen wie hinsichtlich der Ursächlichkeit des Unterlassens (Rdn. 86). Umstritten ist innerhalb der Risikoerhöhungslehre der Fall, dass zweifelhaft bleibt, ob der Täter das Risiko tatsächlich erhöht habe.149 Ganz minderheitlich ist sogar schon vertreten worden, dass die Zurechnung selbst dann zu bejahen sei, wenn der Täter den Erfolg zweifellos auch bei rechtmäßigem Verhalten herbeigeführt hätte (Degener S. 472 ff). 102 Die weite Formel vom rechtmäßigen Alternativverhalten birgt die Gefahr, bei sogenannter alternativer Kausalität oder hypothetischen Ersatzursachen (Rdn. 76) die Zurechnung zu Unrecht zu verneinen. Auch wenn der Erfolg bei rechtmäßigem Alternativverhalten ebenfalls eingetreten wäre, bleibt die Zurechnung nämlich bestehen, falls nur ein Dritter den Erfolg herbeigeführt hätte (BGHSt 30 228, 231 f150 [Massenkarambolagen-Fall]; Haas GA 2015 86, 94; Kindhäuser LPK Rdn. 108). Das gilt auch, wenn der Dritte rechtmäßig gehandelt hätte, Schulfall nach Kindhäuser LPK Rdn. 108: Jemand tötet einen kranken Hund (§ 303), den dessen Eigentümer einschläfern lassen wollte. Da sich der Täter also nicht auf einen „Ersatztäter“ berufen kann, bleibt die Zurechnung auch bei alternativer Kausalität bestehen. Handlungen Dritter steht andere täterunabhängige Ersatzkausalität gleich, etwa ein Naturereignis (Kindhäuser LPK Rdn. 108; Sch/Schröder/ Eisele Rdn. 98; Stratenwerth/Kuhlen § 8 Rdn. 42). Das Opfer darf dem deliktischen Zugriff nicht deshalb preisgegeben werden, weil es ohnehin verloren ist. Das sichert die Zurechnung in sämtlichen Fällen einer hypothetischen Ersatzursache. Der Radfahrer-Fall gehört nicht dazu, weil es bei ihm stets um dieselbe Ursache des Überholens geht. Ein Gegenbeispiel ist BGHSt 49 1 ff:151 Ein Arzt gewährt in einer geschlossenen Anstalt einem Patienten pflichtwidrig Ausgang, den der Patient zu einem Delikt nutzt. Es lässt die Zurechnung unberührt, dass sich der Patient möglicherweise auch selbst befreit hätte. — Dass die Zurechnung scheitert, wenn der Täter den Erfolg auch durch ein rechtmäßig gedachtes Tun herbeigeführt hätte, ist unabhängig davon, ob er das fragliche Sorgfaltserfordernis mit Blick auf den Erfolg fahrlässig oder vorsätzlich verletzt hat. Folglich scheitert die Zurechnung auch in dem Beispiel, dass ein Arzt ein Narkotikum überdosiert, um den Patienten zu töten, und ihn auch tatsächlich tötet – jedoch auch getötet hätte, wenn das Narkotikum korrekt dosiert worden wäre, und zwar aufgrund einer ex ante unerkennbaren Überempfindlichkeit des Patienten (Beispiel von Erb S. 267 in Fn. 71; aA Haas GA 2015 86, 99 f). Denn auch in diesem Fall liegt der Erfolg außerhalb des Schutzbereichs der schuldhaft verletzten Sorgfaltspflicht („Man darf ein Narkotikum nicht überdosieren!“), weil die Beachtung dieser Sorgfaltspflicht den Erfolg nicht hätte verhindern können. Und dass der Erfolg innerhalb des Schutzbereichs einer anderen Verhaltensanforderung liegt („Man darf ein Narkotikum nicht bei Überempfindlichen

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148 Grundlegend Roxin ZStW 74 (1962) 411, 422, 431 f. Heute Gimbernat GA 2018 65 ff, 127 ff (allerdings für den Radfahrer-Fall das Ergebnis der h. M. befürwortend); Jescheck/Weigend § 55 II 2b aa (S. 585); Puppe FS Roxin, 287, 301 ff für indeterminierte Prozesse; Roxin AT I § 11 Rdn. 90; Schünemann GA 1999 207, 226 f; i. Erg. auch Erb S. 172 ff; ders. JuS 1994 449, 456. Wohl auch Jordan GA 1997 349, 361 ff, 364, der das Problem aber als eines der Strafzumessung (bis hin zur Straflosigkeit) betrachtet. 149 Für die Zurechnung auch dann Roxin AT I § 11 Rdn. 96; dagegen Gimbernat GA 2018 127, 131; Burgstaller S. 143; Rudolphi8 SK Vor § 1 Rdn. 69. 150 BGHSt 30 228, 231 = JR 1983 30 m. Anm. Kühl; weitere Anm./Bspr.: Puppe JuS 1982 660; Ranft NJW 1984 1425. 151 BGHSt 49 1 = JR 2004 427 m. Anm. Pollähne; weitere Anm.: Puppe NStZ 2004 554; Roxin StV 2004 485; Saliger JZ 2004 977; Vahle Kriminalistik 2004 85.

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anwenden!“), bleibt außer Betracht, weil diese Verhaltensanforderung schuldlos missachtet wurde. Es ist dann eine rein sprachliche Frage, ob man statt von einer Verhaltensanforderung erneut von einer „Sorgfaltspflicht“ oder „objektiven Sorgfaltspflicht“ spricht. Das Verhalten des Arztes bleibt selbstverständlich als Versuch strafbar. Unrichtig ist folglich die These, dass der Gesichtspunkt des rechtmäßigen Alternativverhaltens bei Vorsatzdelikten keine Rolle spiele, da bei ihnen stets schon der Vorsatz die Pflichtwidrigkeit des Verhaltens ausmache (so aber Haas GA 2015 86, 100). Vielmehr muss der Vorsatz zur objektiven Pflichtwidrigkeit des Verhaltens und zur objektiven Zurechenbarkeit des Erfolges hinzutreten und begründet sonst nur einen (untauglichen) Versuch. cc) Im Grundsatz soll ein deliktisches Eingreifen Dritter die Zurechnung ausschlie- 103 ßen. Denn grundsätzlich sei jeder nur für eigene Fehlleistungen verantwortlich und ende diese Verantwortung dort, wo die Verantwortung anderer beginne (Verantwortungsprinzip).152 Dieser Nachfahre der Frankschen, heute kaum noch vertretenen Lehre vom Regressverbot153 kennt aber zahlreiche Ausnahmen. (1) Zunächst hat man sich die Bandbreite der Fallgestaltungen vor Augen zu halten. 104 Sie ordnet sich in vier Varianten. In der Ersten folgt dem Delikt des Vortäters eine fahrlässige Tat, und der Vortäter handelt in Bezug auf die Zweittat ebenfalls fahrlässig (doppelte Fahrlässigkeit). Ein wichtiges Beispiel sind ärztliche Kunstfehler, wenn der Vortäter – wie üblich – insoweit ohne Vorsatz ist. Einschlägig ist auch BGHSt 4 360 ff: Einem Lkw fehlt die Heckbeleuchtung. Polizisten halten ihn an, legen hinter dem Lkw eine rote Taschenlampe auf die Straße, um andere Fahrzeuge vor dem Hindernis zu warnen, ermahnen den Fahrer und fordern ihn auf, zur nächsten Tankstelle zu fahren. Die Polizisten wollen mit ihrem Streifenwagen hinterherfahren, um den Lkw zu sichern. Noch bevor dies geschieht, nehmen die Polizisten die Taschenlampe wieder an sich. Ein anderer Lastwagen fährt auf den unbeleuchteten Lkw auf, der Beifahrer stirbt. Ein vergleichbarer Schulfall ist der des Messerstechers ohne Tötungsvorsatz, dessen Opfer auf dem Weg ins Krankenhaus zu Tode kommt, weil ein Taxifahrer einen Fahrfehler macht (Otto GedS Schlüchter, S. 77, 83 m.w.N.). — Die zweite Variante ist eine vorsätzliche Anschlusstat, bezüglich deren der Vortäter fahrlässig handelt (Fahrlässigkeit in Bezug auf eine vorsätzliche Anschlusstat). Zum Beispiel verwahrt jemand ungesichert Waffen oder Betäubungsmittel, die ein anderer stiehlt und damit Dritte verletzt. Oder ein Arzt bewilligt einem inhaftierten Sexualtäter Ausgänge auf dem ungesicherten Klinikgelände, obschon er vorhersehen muss, dass der Sexualtäter diese Ausgänge nutzen wird, um das Klinikgelände zu verlassen und eine Vergewaltigung zu verüben (LG Göttingen NStZ 1985 410 f).154 — Die dritte Variante ist ungewöhnlicher und lässt sich beschreiben als Vorsatz in Bezug auf eine fahrlässige Folgetat. Ein Beispiel ist der Schulfall, dass ein Fahrgast eine Taxifahrt in einem Fahrzeug antritt, von dem er weiß, dass die Reifen vollkommen abge-

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152 OLG Rostock NStZ 2001 199, 200; Diel S. 375 u.ö.; Otto FS Lampe, S. 491, 498 f; Stratenwerth/Kuhlen § 15 Rdn. 65, 70; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 276. 153 Zu ihr Diel S. 29 ff; Ling Die Unterbrechung des Kausalzusammenhangs durch willentliches Dazwischentreten eines Dritten (1996) S. 101 ff; Roxin FS Tröndle, S. 177 f. Für ein umfassendes Regressverbot heute noch OLG Rostock (Fn. 147) und Diel S. 375 ff. 154 Vgl. auch BGHSt 38 32 ff (Rauschgiftkurier-Fall) (Fn. 118); BGH NStZ 2002 253 f (Eisenstangen-Fall) = JR 2002 385 m. Anm. Sternberg-Lieben (weitere Anm./Bspr.: Baier JA 2002 631; Schnabl NZV 2005 281); BGH NStZ 2001 29 ff (Pflegemutter-Fall) = StV 2001 453 m. Anm. Hörnle; BGH NStZ 1992 333 ff (Gummihammer-Fall) = JR 1992 510 m. Anm. Puppe (weitere Anm./Bspr.: Dencker NStZ 1992 311; Joerden NStZ 1993 268; Pütz JA 1993 285); BGH NJW 1966 1823 ff (Bratpfannen-Fall); BGH bei Dallinger MDR 1956 526 (Gnadenschuss-Fall); RGSt 61 318 ff (Brandstiftungs-Fall).

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fahren sind. Wie vorhergesehen kommt das Taxi auf nasser Fahrbahn ins Schleudern und erfasst einen Passanten (Otto GedS Schlüchter, S. 77, 83 m.w.N.). Als vierte Variante bleibt der doppelte Vorsatz; der Ersttäter hat also Vorsatz in Bezug auf vorsätzliches Anschlussverhalten. Die wichtigsten Beispiele sind Anstiftung, Beihilfe und Mittäterschaft. In Betracht kommt auch mittelbare Täterschaft, soweit man sie bei volldeliktisch handelndem „Werkzeug“ zulässt, zum Beispiel in „organisatorischen Machtapparaten“ (vgl. BGHSt 48 331, 342 f; einschränkend Tiedemann/T. Walter Jura 2002 708, 713). (2) Es gibt wie gesagt zahlreiche Ausnahmen vom Verantwortungsprinzip. Die gesetzlichen Ausnahmen sind sämtlich Fälle der vierten Variante: Anstifter, Gehilfe und Mittäter haften in der Regel für vollverantwortliches Verhalten Dritter; der mittelbare Täter tut dies mitunter. Ferner rechnet die wohl herrschende Meinung dem Ersttäter leichte und mittlere ärztliche Kunstfehler zu.155 Die Rechtsprechung hat den Ersttäter auch in BGHSt 4 360, 363 und RGSt 61 318, 320 für das Auffahren auf den Lkw beziehungsweise die Brandlegung haftbar gemacht (dem RG zust. OLG Stuttgart NStZ 1997 190, 191 = JR 1997 517 m. Anm. Gössel). Diese Entscheidungen lehnt das Schrifttum allerdings überwiegend ab.156 Eine Zurechnung der Zweittat kommt ferner in Betracht, wenn der Ersttäter gefährliche Sachen – Gift, Waffen, Tiere, Maschinen – mangelhaft verwahrt.157 Es fragt sich, ob diese Kasuistik nach allgemeinen Regeln zu ordnen ist. Die tradi106 tionelle Lösung der Rechtsprechung fragt nach der Vorhersehbarkeit der Zweithandlung.158 Das ist aber nicht nur ein ungenauer, sondern vor allem anormativer Maßstab, der schlecht das normative Verantwortungsprinzip begrenzen kann (Frisch Zurechnung, S. 231 ff; Sch/Schröder/Eisele Rdn. 101j). Roxin schlägt für die doppelte Fahrlässigkeit vor, auf die Verantwortungsbereiche der Beteiligten abzustellen (AT I § 11 Rdn. 137 ff). BGHSt 4 360, 363 sei falsch: Wenn die Polizei einmal die Kontrolle eines Geschehens übernehme, falle es von da an in ihren Verantwortungsbereich und seien ihre Fehler anderen nicht zurechenbar. Das passt aber erstens nicht dazu, wie Roxin ärztliche Kunstfehler einordnet (AT I § 11 Rdn. 142 f). Sie seien dem Ersttäter nämlich zuzurechnen, wenn der 105

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155 Burgstaller S. 117 ff; Otto NJW 1980, 417, 422; ders. GedS Schlüchter, S. 77, 93 f; Rengier Erfolgsqualifizierte Delikte und verwandte Erscheinungsformen (1986) S. 164 f; Schmoller FS Triffterer, S. 223, 227 ff (es sei denn, das Ärzteverschulden erschöpft sich „in einer bloßen Nichtabwendung der […] Gefahr“); Sch/Schröder/Eisele Rdn. 102b; Wolter S. 347; wohl auch BGH bei Dallinger MDR 1976 16; OLG Celle NJW 1958 271 f. 156 Jescheck/Weigend § 55 I 2b (S. 579) (gegen beide Entscheidungen); Kindhäuser LPK Rdn. 150 (gegen BGHSt 4 360); Roxin AT I § 11 Rdn. 137 (gegen BGHSt 4 360) und § 24 Rdn. 33 (gegen RGSt 61 318); Schroeder LK11 § 16 Rdn. 24 (allgemein zu pflichtwidrigem Unterlassen medizinischen Personals, der Polizei und so fort, besonders zu ärztlichen Kunstfehlern und BGHSt 4 360). Vergleiche zu RGSt 61 318 aber auch Frisch Zurechnung, S. 375 ff (zustimmend); Sch/Schröder/ Eisele Rdn. 102a; Otto GedS Schlüchter, S. 77, 94; ders. FS Lampe, S. 491, 507: Zurechnung, wenn ein Bauunternehmer verbotswidrig leicht brennbares Material verbaut. 157 OLG Köln NStZ-RR 2002 304 für einen gefährlichen Hund und mit der richtigen Einschränkung, dass es am Pflichtwidrigkeitszusammenhang fehlt, wenn der Hundehalter dem Dritten das Tier auch bewusst hätte überlassen dürfen; OLG Stuttgart NStZ 1997 190 = JR 1997 517 m. Anm. Gössel für Kraftfahrzeuge; Freund MK Rdn. 410, 413 für Schusswaffen; Frisch Zurechnung, S. 247 ff; Jescheck/Weigend § 54 IV 1 (S. 573); Otto GedS Schlüchter, S. 77, 94; ders. FS Lampe, S. 491, 500 f, 507; Roxin AT I § 24 Rdn. 33; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 277 für Kernbrennstoffe. 158 BayObLG NJW 2003 371, 373 = JR 2003 428 m. Anm. Freund/Klapp; BayObLG NJW 1998 3580 („Jason“-Fall) m. Anm. Vahle DVP 1999 345; OLG Stuttgart NStZ 1997 190 f (vgl. Fn. 152); siehe auch die Nachweise Rdn. 103, insbesondere in Fn. 149; ebenso Jescheck/Weigend § 54 IV 2 (S. 573 f); Kindhäuser LPK Rdn. 143, 149.

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Arzt kein „neues“ Risiko begründe – zum Beispiel gefährlich schneide oder ein gefährliches Medikament gebe –, sondern wenn sein Fehler dem bestehenden Risiko gewissermaßen freie Bahn lasse, beispielsweise in einer wirkungslosen Behandlung bestehe.159 Eben dies tun die Polizisten in BGHSt 4 360 ff, und betreffend die Verantwortungsbereiche nehmen sich polizeiliche und ärztliche Maßnahmen nichts. So wenig der Lkw-Fahrer der Polizei hineinzureden hat, so wenig der Messerstecher dem Klinikpersonal. Die Lehre von den Verantwortungsbereichen ist aber zweitens schon grundsätzlich zweifelhaft, weil die Frage nun gerade dahin geht, wie weit die Verantwortung des Ersttäters reiche. Die wohl herrschende Meinung zum ärztlichen Kunstfehler (Fn. 150) besagt, sie 107 reiche nur bis zu einer mittleren Fahrlässigkeit des Arztes, nicht bis zu grober Fahrlässigkeit oder Vorsatz. Das lässt sich aber nur schwer auf die Fälle übertragen, dass jemand sorglos Waffen oder andere gefährliche Sachen verwahrt, die ein Dritter für Vorsatztaten missbraucht. Denn in diesen Fällen könnte der Verwahrer für die Anschlusstat keine wie auch immer geartete Verantwortung tragen – ein zweifelhaftes Ergebnis. Auch die Lehre von Frisch (Fn. 154) und Roxin zum ärztlichen Kunstfehler führt nicht weiter (ablehnend schon Sch/Schröder/Eisele Rdn. 102a). Danach zu fragen, ob das zweite Verhalten einem Risiko freie Bahn lasse, das bereits bestehe, oder ein neues Risiko setze, verengt den Sachverhalt unzulässig. Wenn der Täter das Opfer mit einem Stich in die Brust verletzt, dann schafft er nicht nur das Risiko, das Opfer könnte an dieser Wunde sterben, sondern erhöht zugleich und praktisch den Möglichkeitsgrad dafür, dass Ärztepfusch das Opfer tötet. Hiergegen macht Roxin vergeblich geltend, selbst harmlose Verletzungen könnten durch eine Fehlbehandlung zum Tode führen, und wenn man die Todesgefahr schon deswegen zurechnen wolle, so müsste man es prinzipiell für fahrlässig halten, Ärzte zuzuziehen (AT I § 11 Rdn. 142). Wenn es einem Arzt gelingt, eine harmlose Verletzung so verheerend falsch zu behandeln, dass der Patient stirbt, so ist das ein Musterbeispiel für grobes Verschulden. Nach der herrschenden Meinung ist in einem solchen Fall nicht zuzurechnen. Entgegen Frisch und Roxin leuchtet es auch schwerlich ein, die Verantwortung davon abhängen zu lassen, ob ein Arzt zum Beispiel ein kontraindiziertes Medikament gibt („neues“ Risiko) oder ein wirkungsloses („altes“ Risiko). Beide Male hat man es mit einem Drittverschulden zu tun, das den Erfolg (mit)verursacht, und beide Male hat der Ersttäter dieses Verschulden in gleicher Weise ermöglicht, das heißt ein Risiko gesetzt, das sich verwirklicht. Dass der Arzt das eine Mal im Ergebnis unterlässt – nämlich wirksam zu behandeln –, ist belanglos, denn seine Stellung als Garant gleicht das aktivem Verschulden an. Es gibt keinen Grund, die Fälle unterschiedlich zu behandeln. Wenig hilfreich ist ferner die Lehre, die Zweithandlung sei zuzurechnen, wenn sie 108 der Ersthandlung als typisches Risiko anhafte (so aber Otto AT § 6 Rdn. 58; Wessels/ Beulke/Satzger Rdn. 277 f). Denn das ist nur eine Frage nach der Wahrscheinlichkeit (Adäquanz), und die allein begründet noch keine Verantwortung. Der gleiche Einwand trifft die Lehre Roxins, dass bei Fahrlässigkeit in Bezug auf eine vorsätzliche Anschlusstat zuzurechnen sei, wenn der Vorsatztäter sich erkennbar tatgeneigt gezeigt habe.160 Die Neigung des einen begründet noch keine Verantwortung des anderen. Nach einem wei-

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159 Ebenso Frisch Zurechnung, S. 426 ff (der aber auch neu begründete Risiken zurechnet, wenn es ex ante eine deutliche Gefahr gegeben hat, dass solche Risiken begründet werden); Schmoller FS Triffterer, S. 223, 227 ff (der auch neu begründete Gefahren zurechnet, wenn dem Arzt nur leichtes oder mittleres Verschulden zur Last liegt). 160 AT I § 24 Rdn. 28 ff; ebenso Frisch Zurechnung, S. 266 ff; Schmoller FS Triffterer, S. 223, 239 ff (mit Ausnahme „sozialadäquater“ Ersthandlungen, insbesondere sogenannter neutraler Beihilfehandlungen); Schroeder LK11 § 16 Rdn. 184 (der allerdings vorschnell Tatgeneigtheit des Dritten und Erkennbarkeit seiner Tat gleichsetzt); gegen diese Lehre schon Sch/Schröder/Eisele Rdn. 101j.

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teren Ansatz im Schrifttum ist die Zweithandlung zuzurechnen, wenn der Ersttäter eine Pflicht verletzt, die gerade dazu dient, Delikte Dritter zu verhindern, etwa die Pflicht, gefährliche Sachen – Gift, Waffen – sicher zu verwahren (Schünemann GA 1999 207, 224 und die Nachweise in Fn. 151, siehe zum Beispiel für Waffen § 42 Abs. 1 WaffenG, für Betäubungsmittel § 15 BtMG und für Kernbrennstoffe § 5 Abs. 5 AtomG). Das ist einleuchtend, kann aber nur eine Ableitung aus der Gesamtlösung sein. 109 Diese Lösung ist allgemeiner zu formulieren und hat von dem Gesetz auszugehen. Das gibt mit seinen Regeln zur Beteiligung zu erkennen, dass fremder Vorsatz (Fallvarianten 2 und 4) die Strafbarkeit des Ersthandelnden im Grundsatz ausschließt. Denn sonst wären Mittäter auch ohne § 25 Abs. 2 Täter, wären mittelbare Täter auch bei jedem volldeliktisch handelnden „Werkzeug“ Täter und wären Anstifter und Gehilfen ebenfalls Täter – jeweils unterstellt, dass sie eine genaue Vorstellung vom weiteren Verlauf hätten. Daraus folgt für die Fahrlässigkeit in Bezug auf eine vorsätzliche Anschlusstat, dass die Zurechnung mindestens im Grundsatz ausgeschlossen ist. Allerdings sind mit der herrschenden Meinung Ausnahmen zu machen. Beispiele sind der Apotheker oder der Waffenbesitzer, der Gift bzw. eine Waffe ungesichert verwahrt, und der Arzt, der einem inhaftierten Sexualtäter fahrlässig einen Ausgang ermöglicht, bei dem der Sexualtäter eine Vergewaltigung verübt. In diesen Fällen verletzt das Erstverhalten nämlich eine Garantenpflicht; darauf hat schon Frisch abgestellt (Zurechnung, S. 243 ff, 253 f, 263, 352 ff). Hierzu passt die Lehre, zurechenbar sei das Drittverhalten, wenn der Täter eine Pflicht verletze, die gerade Delikte Dritter verhindern solle (Rdn. 108): Wer solche Pflichten hat, ist Sicherungsgarant. Garanten sind die Ersttäter auch im Pflegemutter- und im Bratpfannen-Fall (Fn. 148), und zwar kraft enger Lebensgemeinschaft (Stieftochter gegenüber Stiefvater, Pflegekind gegenüber anderem Pflegekind). Auch der Vermieter einer feuergefährlichen Wohnung ist wohl Sicherungsgarant in Bezug auf die erhöhte Feuergefahr, sodass sich RGSt 61 318, 320 wenigstens vertreten lässt. Keine Garanten waren die Täter hingegen in dem Gummihammer- und dem Eisenstangen-Fall (Fn. 148). Daher fügt es sich der hier vorgeschlagenen Lösung ein, dass im Eisenstangen-Fall nur wegen Versuchs verurteilt wurde (jener Angeklagte, der an der tödlichen Zweithandlung keinen Anteil gehabt hatte; der andere war natürlich einer vollendeten Tat schuldig). Die Verurteilung wegen vollendeter Tat im Gummihammer-Fall indes steht dieser Lösung entgegen (gegen diese Verurteilung schon Otto FS Lampe, S. 491, 502). Für die doppelte Fahrlässigkeit ist aus dem Gesetz aber nichts zu folgern; dass auch 110 die Fahrlässigkeit Dritter die Täterschaft eines Ersthandelnden grundsätzlich ausschließen solle, lässt sich ihm nicht entnehmen. Allerdings sind auch bei dieser Gestaltung die allgemeinen Voraussetzungen der Fahrlässigkeitshaftung zu beachten. Der Ersthandelnde muss das Geschehen bis hin zur Vollendung objektiv wahrscheinlicher gemacht haben, und es muss ihm (subjektiv) vorhersehbar gewesen sein. Darüber hinaus ist es sicher vertretbar, mit der herrschenden Meinung zum ärztlichen Kunstfehler besonders schwere Drittfahrlässigkeit die Zurechnung unterbrechen zu lassen. Freilich passt es dazu schlecht, wenn der Fahrfehler eines Taxifahrers des Opfers die Zurechnung schon bei einfacher Fahrlässigkeit ausschließen soll.161 Schließlich wird man in einem ErstRecht-Schluss lehren müssen, dass der Erfolg zuzurechnen ist – selbst bei schwerer Drittfahrlässigkeit –, wenn der Ersttäter eine Garantenpflicht verletzt; denn das überbrückt selbst vorsätzliches Drittverschulden. Daher ist BGHSt 4 360, 363 richtig: Der Lkw-Fahrer ist Garant für die Verkehrssicherheit seines Fahrzeugs. Wenn ihm die Polizei

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161 So aber Puppe Erfolgszurechnung, S. 103 f; offenbar zust. Otto GedS Schlüchter, S. 77, 83; ders. FS Lampe, S. 491, 507.

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seine Aufgabe kurzfristig abnimmt, mag er für diesen Zeitraum dankbar sein, aber eine Entpflichtung – gar eine endgültige – ist damit nicht verbunden. Und es ist nicht zu sehen, was sich ändern sollte, wenn die Polizisten die Hilfe ihrerseits pflichtwidrig beenden. Auch in RGSt 34 91 ff (Theater-Fall) verletzt der Theatergast seine Sicherungsgarantenpflicht aus (heute) § 42 Abs. 1 WaffenG, wenn er an der Theater-Garderobe einen geladenen Revolver in seinem Mantel lässt und ein anderer mit dem Revolver fahrlässig jemanden tötet. Hat der Ersthandelnde Vorsatz in Bezug auf eine fahrlässige Folgetat, so scheitert 111 eine Vorsatzhaftung für den Enderfolg im Grundsatz daran, dass unser Gesetz eine Vorsatzhaftung für fremdes Verschulden grundsätzlich nur bei fremdem Vorsatz kennt (Anstiftung, Beihilfe, Mittäterschaft). Die Ausnahmen sind die mittelbare Täterschaft bei fahrlässigem Werkzeug und die Unterlassungstäterschaft angesichts fahrlässiger Delikte Dritter. Es fragt sich, ob diese Ausnahmen praeter legem zu erweitern sind. Zur Veranschaulichung ließen sich allerdings, soweit ersichtlich, derzeit nur etwas verkrampfte Lehrbuchbeispiele bilden. Im Ergebnis spricht einiges dafür, denjenigen wegen vorsätzlicher Vollendung haften zu lassen, der die Fahrlässigkeit Dritter nicht nur objektiv hinreichend wahrscheinlich macht, sondern geradezu einkalkuliert. Das gilt auch für den Schulfall des Fahrgastes, der ein Taxi mit völlig abgefahrenen Reifen besteigt und hofft, es werde auf nasser Fahrbahn zu einem Unfall mit Personenschaden kommen. Dass dies einen Verantwortungsbereich unbillig ausdehnte, ist nicht ohne Weiteres einzusehen. Denn der Fahrgast mag ohne Schaden ein anderes Taxi wählen, und so es nur dies eine Taxi gibt und er einen triftigen Grund hat, es auch in Anspruch zu nehmen, wird ihm eine Rechtfertigung zur Seite stehen und soll er den Fahrer zumindest auf den Zustand der Reifen hinweisen und zur Vorsicht mahnen. dd) (1) Als Grundsatz gilt, dass tatbestandslos handelt, wer vollverantwortlich eige- 112 ne Rechtsgüter angreift, sei es mit Schädigungsvorsatz (eigenverantwortliche Selbstschädigung) oder ohne ihn – aber mit Vorsatz hinsichtlich einer Eigengefährdung, die sich dann in einem Unglück verwirklicht (eigenverantwortliche Selbstgefährdung). Man mag das Selbstverantwortungsprinzip nennen. Wenn selbstschädigendes Verhalten strafbar ist, dann nur soweit zugleich fremde Rechtsgüter angegriffen werden, etwa in § 109 (Wehrpflichtentziehung durch Verstümmelung). Da vollverantwortlich selbstschädigendes Verhalten als solches tatbestandslos ist, bleibt es im Grundsatz auch tatbestandslos, an einem solchen Verhalten teilzunehmen, es also zu veranlassen oder zu unterstützen. Für das vorsätzliche Veranlassen oder Unterstützen folgt das aus §§ 26, 27, die eine tatbestandsmäßige Haupttat voraussetzen. Daraus schließt man, fahrlässiges Veranlassen oder Unterstützen müsse erst recht tatbestandslos sein.162 Das ist zwar logisch unzutreffend, aber im Ergebnis einsichtig. Logisch ist es unzutreffend, weil die Haftung jeweils eine andere ist (Frisch Zurechnung, S. 159). Die Haftung wegen Anstiftung oder Beihilfe ist härter als die wegen Fahrlässigkeit. Der Anstifter ist ebenso strafbar wie der Vorsatztäter, und der Gehilfe sieht sich auch mit der Milderung aus § 27 Abs. 2, § 49 Abs. 1 in der Regel einer härteren Strafdrohung gegenüber als der Fahrlässigkeitstäter. Dass nun bei Vorsatz eine harte Haftung ausgeschlossen ist, erlaubt nicht den Schluss, bei Fahrlässigkeit müsse auch eine mildere Haftung ausgeschlossen sein. Richtig wäre der Erst-Recht-Schluss nur, wenn jeweils dieselbe Haftung in Frage stände.

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162 BGHSt 32 262, 264 (Heroinspritzen-Fall) = NStZ 1984 410 m. Anm. Roxin (weitere Anm./Bspr.: Dach NStZ 1985 24; Herzberg JA 1985 265; Horn JR 1984 513; Kienapfel JZ 1984 751; Stree JuS 1985 179); BGHSt 24, 342 (Dienstwaffen-Fall) (zum Selbstmord); Schroeder LK11 § 15 Rdn. 9 und § 16 Rdn. 181, 183; Sch/Schröder/Sternberg-Lieben/Schuster § 15 Rdn. 165; Vogel Juristische Methodik (1998) S. 121.

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Dessen ungeachtet ist das Ergebnis einsichtig, dass im Grundsatz auch tatbestandslos handelt, wer fahrlässig eine fremde Selbstschädigung veranlasst oder unterstützt. Voraussetzung ist lediglich, dass sich der andere vollverantwortlich schädigt.163 Fraglich ist allerdings, was die eigene Verantwortlichkeit ausschließt. Nach minder113 heitlich vertretener Ansicht tut dies ein Zustand gemäß §§ 20, 35 StGB, § 3 JGG (Exkulpationslösung, Roxin AT II § 25 Rdn. 144; Zaczyk Selbstverantwortung, S. 36f [es sei denn das Opfer überblickt trotz seines Zustandes die Folgen]); nach herrschender Lehre tut dies ein Zustand, der die Fähigkeit beseitigt, wirksam einzuwilligen, oder ein Willensmangel, der eine Einwilligung unwirksam machte (Einwilligungslösung).164 Frisch vertritt die Einwilligungslösung dergestalt, dass eine Verantwortlichkeit entfällt, sobald das Opfer entweder die Gefahr nur unvollständig übersieht oder außerstande ist, sich seinem Gefahrenbewusstsein gemäß zu motivieren (Zurechnung, S. 168 f). Jescheck/Weigend165 schließen die Eigenverantwortung schon aus bei einem Angetrunkenen, der aber noch voll zurechnungsfähig ist, und nach Roxin reicht es beim ungeschützten Geschlechtsverkehr mit einem HIV-Infizierten sogar aus, dass der Infizierte den anderen „bedrängt“ (wohl im Sinne von „überredet“, AT I § 11 Rdn. 133; dass der Fall dort zu Unrecht als Fremdgefährdung firmiert, ändert nichts, denn auch für diese Fälle stellt sich die Frage, ob der Geschädigte eigenverantwortlich handele). In Zivilsachen lässt der BGH den Erstverursacher solange haften, wie die Reaktion des sich selbst Schädigenden „nicht als ungewöhnlich oder gänzlich unangemessen“ anzusehen ist (BGH [Z] BGHR BGB § 249 Zurechnungszusammenhang 24 [= ZfS 2002 329 m. Anm. Diehl; Anm. Krauss JA 2003 3]). Vorzugswürdig ist eine Verbindungslösung (Kindhäuser LPK Rdn. 123 ff; T. Walter NStZ 2013 673, 677; ähnlich Frisch, s. oben). Die Entscheidung des Opfers gegen sich selbst sollte man für unfrei halten, wenn sie an einem Willensmangel leidet, insbesondere ohne volle Risikokenntnis gefasst wird, oder das Opfer aufgrund eines geistigen Ausnahmezustandes unfähig ist, sich verantwortlich zu motivieren. Es bleibt dann die Folgefrage, ob jedweder Irrtum einen Willensmangel ausmache oder nur ein rechtsgutbezogener. Das ist mit der wohl herrschenden Meinung in dem erstgenannten Sinne zu entscheiden.166 — Nach OLG Karlsruhe VRS 92 110, 113 bleibt die Zurechnung auch bestehen, wenn der Täter fahrlässig vorgibt, überlegenes Sachwissen zu haben, und wenn sich das Opfer erkennbar nur im Vertrauen auf die tatsächlich unrichtige Auskunft einer Gefährdung aussetzt. Das stimmt im Ergebnis, verfeinert die Dogmatik aber nicht. In

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163 BGHSt 32 262, 263 ff (Heroinspritzen-Fall) (Fn. 157); 36 1, 17; Lackner/Kühl/Kühl Vor § 211 Rdn. 12; Otto GedS Schlüchter, S. 77, 93; Roxin AT I § 11 Rdn. 110; Sch/Schröder/Sternberg-Lieben/Schuster § 15 Rdn. 165; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 964; aA noch BGHSt 7 112 ff (Motorradwettfahrt-Fall); 17 359 ff (Pocken-Fall). 164 Freund MK Rdn. 421; Frisch Zurechnung, S. 166 ff (näher im Text); Lackner/Kühl/Kühl Vor § 211 Rdn. 12; Otto FS Lampe, S. 491, 502 Fn. 33; Sch/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vor § 32 Rdn. 52a; Sowada JZ 1994 663; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 267 („zumindest bei einer Gefährdung oder Preisgabe des eigenen Lebens“); wohl auch BayObLG NJW 2003 371, 372 (überlegenes Sachwissen des Täters schließt Eigenverantwortlichkeit aus) = JR 2003, 428 m. Anm. Freund/Klapp. 165 § 54 IV 3 (S. 574) unter Berufung auf BGHSt 7 112 ff (Motorradwettfahrt-Fall); dagegen zu Recht Roxin AT I § 11 Rdn. 108 m.w.N. 166 Für diese Ansicht BGH GA 1986 508 f (vorgetäuschter Doppelselbstmord); LG Berlin ZJJ 2010 78 (Wetttrinken-Fall); Amelung GA 1999 182, 198 f; Eisele BT 1 Rdn. 185; Otto Jura 1987 246, 257; T. Walter NStZ 2013 673, 677. Ebenso die wohl herrschende Meinung zu der analogen Frage bei der rechtfertigenden Einwilligung: BGHSt 16 309, 310 f (mit Ausnahme der Bagatellbehandlung durch einen nur vermeintlichen Arzt); Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 15 Rdn. 140; Hirsch LK11 Vor § 32 Rdn. 119; Rönnau LK Vor § 32 Rdn. 199; aA Sch/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben § 223 Rdn. 39; Sch/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vor § 32 Rdn. 46; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 559.

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diesem Fall liegt schlicht ein Willensmangel des Opfers vor, der die Eigenverantwortlichkeit ausschließt (das Opfer überblickt die Gefahr nicht). (2) Die erste der Ausnahmen vom Eigenverantwortungsprinzip macht ein Teil der 114 Rechtsprechung167 und des Schrifttums,168 dem zufolge eine Garantenstellung des Veranlassers oder Unterstützers die Zurechnung fremder Selbstschädigung ermöglicht. In BGH JR 1979 429 verschreibt ein Arzt seinem Patienten im Rahmen einer Entziehungskur ein Suchtmittel; der Patient spritzt sich eigenverantwortlich eine Überdosis und stirbt. Ein anderer Teil der Rechtsprechung169 und des Schrifttums170 wendet sich dagegen, einen solchen Tod dem Arzt zuzurechnen, denn dessen Garantenpflicht ende, wo die Eigenverantwortung des Patienten beginne. Das ist richtig und zudem anerkannt, wenn ein Ehegatte dem anderen hilft, sich zu töten. Mindestens bis zu dem Zeitpunkt, in dem der Suizident die Kontrolle über das Geschehen verliert, ist derartige Hilfe unstreitig tatbestandslos – trotz der Stellung als Beschützergarant. Eine abweichende Lösung ist einzig zu erwägen, wenn der Geschädigte zwar noch voll verantwortlich ist, aber seelisch labil, und wenn der andere gerade die Pflicht hat, den Gefahren vorzubeugen, die sich aus der seelischen Labilität ergeben. Das ist unter anderem vorstellbar zwischen einem Psychotherapeuten und seinem Patienten. Auch außerhalb der Beziehung zwischen Arzt und Patient sind Garantenpflichten denkbar, deren Zweck auch und gerade dahin geht, fremde eigenverantwortliche Selbstgefährdungen zu verhindern. In dieser Hinsicht vertretbar LG Saarbrücken NStZ-RR 2006 75 f: Der Hausmeister einer Schule und der zuständige Bezirksbauleiter unterlassen es, ein Geländer auf einem Flachdach der Schule zu kontrollieren. Jugendliche betreten das Dach unbefugt, lehnen sich an das Geländer und stürzen, als es wegen Durchrostung bricht, dreieinhalb Meter in die Tiefe; die Durchrostung wäre „bei sorgfältiger Nachschau ohne weiteres zu erkennen gewesen“. Allerdings ist einerseits fraglich, ob es sich tatsächlich um eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung handelte, denn den Jugendlichen war ein konkretes Absturzrisiko kaum bewusst, und ob das allgemeine Wissen, unbefugt auf dem Dach zu sein, ein solches Bewusstsein ersetzt, ist zweifelhaft. Andererseits ist grundsätzlich zweifelhaft, ob ortsgebundene Sorgfaltspflichten auch zugunsten derer bestehen, die sich bewusst unerlaubt und gegen den Willen des Hausrechtsinhabers an diesen Ort begeben. Denn das liefe darauf hinaus, dass man in seiner Wohnung baulich auch für das leibliche Wohl etwaiger Einbrecher zu sorgen hätte. Dergleichen kann nur in engsten Grenzen Sinn einer Sicherungspflicht sein. Der Fall des LG Saarbrücken mag noch innerhalb dieser Grenzen liegen. Eine weitere Ausnahme vom Eigenverantwortungsprinzip macht die herrschende 115 Meinung für die Delikte des Betäubungsmittelgesetzes, denn Schutzgut jener Tatbestände sei in erster Linie die Volksgesundheit und kein Individualrechtsgut des Geschädigten.171 Daran ist jedenfalls der Grundgedanke richtig: Einen Tatbestand, der (auch) ein

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167 BGH JR 1979 429 m. Anm. Hirsch. 168 Jescheck/Weigend § 54 VI 3 (S. 574); dagegen Frisch Zurechnung, S. 179, der dem BGH-Urteil aus Fn. 161 aber im Ergebnis zustimmt (S. 197 Fn. 157). 169 BayObLG NStZ 1995, 188, 89 f; OLG Zweibrücken NStZ 1995 89 f = JR 1995 304 m. Anm. Horn; Anm. Körner MedR 1995 332. 170 Roxin AT I § 11 Rdn. 111. 171 BGHSt 37 179, 181 f = NStZ 1991 392 m. Anm. Beulke/Schröder (weitere Anm./Bspr.: Hassemer JuS 1991 515; Hohmann MDR 1991 1117; Köhler MDR 1992 739; Nestler-Tremel StV 1992 273; Rudolphi JZ 1991 572; Sonnen JA 1991, 278); BGHSt 46 279, 289 = JZ 2002 150 m. Anm. Sternberg-Lieben; Bspr. Heuchemer JA 2001 627; Jescheck/Weigend § 28 IV 4 (S. 288 Fn. 43 a.E.) und § 54 IV 3 (S. 574); Puppe NK Rdn. 188 f; mit Bedenken Sch/Schröder/Eisele Rdn. 101a („wenn überhaupt […] nicht verallgemeinerungsfähige ‚positiv-

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Gemeinrechtsgut schützt, kann die Zustimmung eines Individuums nicht ausschließen oder rechtfertigen – ganz gleich, welchen verbrechenssystematischen Namen sie trägt. Das gilt auch für § 21 Abs. 1 Nr. 2 StVG (der Halter eines Kraftfahrzeugs lässt zu, dass jemand ohne Fahrerlaubnis das Fahrzeug führt). Denn diese Vorschrift soll nicht den Fahrzeugführer vor sich selbst schützen, sondern andere Verkehrsteilnehmer vor einem gefährlichen Fahrzeugführer. §§ 230, 222 kommen aber zu seinem Nachteil (seitens des Halters) bei eigenverantwortlicher Fahrt nicht zur Anwendung (BayObLGSt. 1996 96, 98). Auch für den Verbrechenstatbestand des § 30 Abs. 1 Nr. 3 BtMG (leichtfertige Todesverursachung durch BtM-Abgabe) hat BGHSt 46 279, 287 ff entschieden, dass er individualschützend wirke und daher durch die freie Zustimmung des zu Tode Kommenden ausgeschlossen werde (aA Kindhäuser LPK Rdn. 132, 134 m.w.N., der das abweichende Ergebnis auch auf § 222 übertragen will). 116 Die dritte Ausnahme sind sogenannte Retterschäden: Dritte versuchen, die Gefahren abzuwehren, die der Täter geschaffen hat, und kommen dabei zu Schaden. Die Gefahren können fremden Rechtsgütern drohen, dann geht es meist um ein deliktisches Vorverhalten. Oder jemand verunglückt und gerät selbst in Gefahr. Bei freiwilligen Helfern (Privaten) rechnet die herrschende Meinung deren Schäden dem Täter zu, wenn die Helfer mit „einsichtigem Motiv“ handeln und ihre Bemühungen nicht von vornherein sinnlos oder mit unverhältnismäßigen Gefahren verbunden sind.172 Eine Gegenmeinung verweigert die Zurechnung.173 Bei pflichtigen Rettern wie Polizisten oder Feuerwehrleuten rechnet die herrschende Lehre stets zu,174 während eine Gegenmeinung die Zurechnung auch in diesem Fall ablehnt (Burgstaller S. 112 ff; Roxin AT I § 11 Rdn. 139). Die herrschende Meinung argumentiert betreffend freiwillige Helfer, dass deren 117 Einsatz, wenn er gelinge, den Täter entlaste; also sei es nur billig, ihn auch für einen Fehlschlag der Rettung zur Verantwortung zu ziehen. Für die pflichtigen Retter führt man ergänzend ins Feld, dass sie keine freie, eigenverantwortliche Entscheidung träfen. Gegen das erste Argument lässt sich halten, dass der Umkehrschluss nicht trägt (Roxin AT I § 11 Rdn. 117): Wenn bei erfolgreicher Rettung der Erfolg und damit das Delikt fehlt, bedeutet dies noch nicht, dass der Erfolg, wenn er eintritt, automatisch auch zurechenbar ist. Vielmehr braucht es einen positiven Grund, um das Selbstverantwortungsprinzip an dieser Stelle zu überwinden. Einen solchen Grund liefern zunächst unstreitig die „privaten“ Hilfspflichten aus § 323c und einer eventuellen Garantenstellung, etwa als Ehegatte des Opfers. Sie reichen zwar nur bis an die Schwelle des Zumutbaren (in § 323c nach herrschender Meinung Tatbestandsmerkmal, im Unterlassungsdelikt nach § 13 Voraussetzung der Schuld). Doch soweit die Hilfe eigentlich unzumutbar ist oder kein Unglücksfall vorliegt, wird ein Rettungsversuch oft schon ganz unvernünftig und unver-

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rechtliche Entscheidung des Gesetzgebers‘“); vorsichtig auch Otto GedS Schlüchter, S. 77, 93 („kommt in Betracht“, „könnte“); krit. Köhler MDR 1992 739 ff; Roxin AT I § 11 Rdn. 112. 172 BGHSt 39 322 ff = NStZ 1994, 83 m. Anm. Alwart (weitere Anm./Bspr.: Amelung NStZ 1994 338; Bernsmann/Zieschang JuS 1995 775; Derksen NJW 1995 240; Günther StV 1995 78; Meindl JA 1994 100; Sowada JZ 1994 663); Freund MK Rdn. 422, 425; Frisch Zurechnung, S. 481 ff; Kindhäuser LPK Rdn. 155 f; Rudolphi SK Vor § 1 Rdn. 80 f; Schroeder LK Burgstaller S. 115; Otto NJW 1980 417, 422; Roxin AT I § 11 Rdn. 115 ff; Schünemann GA 1999 207, 223. § 16 Rdn. 182; Sowada aaO S. 664 ff. Ohne ausdrückliche Beschränkung auf vernünftige und verhältnismäßige Handlungen Jescheck/Weigend § 28 IV 4 (S. 288); Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 279 ff. Beschränkt auf Retter, denen die Hilfe eine „Menschenpflicht“ ist, Sch/Schröder/Eisele Rdn. 101c ff. 173 Burgstaller S. 115; Otto NJW 1980 417, 422; Roxin AT I § 11 Rdn. 115 ff; Schünemann GA 1999 207, 223. 174 Freund MK Rdn. 422 ff; Frisch Zurechnung, S. 480 ff (bei „einigermaßen erhöhtem konkretem Risiko“, S. 488); Jescheck/Weigend § 28 IV 4 (S. 288); Kindhäuser LPK Rdn. 157; Rudolphi SK Vor § 1 Rdn. 80 f; Schroeder LK11 § 16 Rdn. 182; Sch/Schröder/Eisele Rdn. 101c ff.; Sowada JZ 1994 663, 664 ff; Wolter S. 344 f. In der Sache und in der Tendenz („mag zutreffen“) schon BGHSt 9 359 f (Pocken-Fall).

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hältnismäßig sein. Die wirklich streitigen Fälle sind also eher ungewöhnlich. Und noch in diesen Fällen kommt die minderheitlich vertretene Ansicht der herrschenden Meinung entgegen, soweit sie Handlungen für unfrei (nicht eigenverantwortlich) hält, die der Dritte in einer Situation nach § 35 vornimmt, also bei gegenwärtiger Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit eines Angehörigen oder einer nahestehenden Person.175 Für die verbleibenden (Ausnahme-)Fälle verdient die herrschende Meinung den Vorzug. Jemandem, der sich gesellschaftlich erwünscht verhält und dem dabei etwas zustößt, lässt sich nicht ohne Weiteres sagen, er habe seine Schäden selbst zu verantworten. Es liegt nichts Unbilliges darin, dass der Retter dem Täter gleichsam ungefragt strafrechtliche Folgen aufbürdet, denn natürlich haftet der Täter am Ende nur für Folgen, die voraussehbar gewesen sind, und dass sich der Täter umgekehrt darauf verlassen dürfte, überobligatorische Rettungsversuche würden ausbleiben, wird niemand behaupten. Wenn Frisch darauf hinweist, man müsse denjenigen strafrechtlich schützen, der gesellschaftlich Erwünschtes tue (Zurechnung, S. 485), dann mag Roxin fragen, was das für ein Schutz sei: Als könne die Bestrafung zum Beispiel eines selbstverschuldet Verunglückten diesen im Nachhinein bestimmen, zugunsten des Retters sorgfältiger zu sein als in eigener Sache – ein Verhalten, das „man realistischerweise nicht erwarten konnte“ (AT I § 11 Rdn. 115 in Fußnote 253). Aber dieser Einwand kehrt sich sofort gegen die gesamte strafrechtliche Fahrlässigkeitshaftung. Immer kommt der „Schutz“ des Strafrechts für ein gegenwärtiges Opfer zu spät. Nie nehmen die Sorgfaltserfordernisse darauf Bedacht, ob man etwas womöglich von diesem oder jenem schludrigen Menschen „realistischerweise nicht erwarten konnte“; die Sorgfaltserfordernisse haben zum Maßstab, was man normativ erwarten will. Auf der anderen Seite ist es lebensfremd zu unterstellen, ein gewissenhafter Retter werde sich nur belastet fühlen durch das Bewusstsein, einen selbstverschuldet Verunglückten mit den Rettungsversuchen in die Gefahr zu bringen, strafbar zu werden (so aber Roxin aaO). Solche Gedanken macht sich kein Retter. Schließlich noch ist es zu verkraften, dass die herrschende Meinung einen Beurteilungsspielraum eröffnet, indem sie verlangt, die Rettungsbemühungen müssten halbwegs vernünftig und verhältnismäßig sein. Derartige Spielräume sind oft unvermeidlich, und Konflikte mit dem Bestimmtheitsgrundsatz mildern sich, wenn man Zweifelsfälle zugunsten des Täters entscheidet, ihm also nur eindeutig vernünftige und verhältnismäßige Rettungshandlungen anlastet. Die pflichtigen Rettungshandlungen betreffend gilt all das erst recht. Auch hier 118 klänge es befremdlich, den Retter als soziale Lichtgestalt auf die eigene freie Entscheidung für sein Amt zu verweisen (so aber Roxin AT I § 11 Rdn. 139). Außerdem hat schon Frisch darauf aufmerksam gemacht, dass es Rettungspflichtige geben kann, die ihre Pflicht keineswegs freiwillig übernommen haben, etwa Wehrpflichtige gegenüber ihren Kameraden (Zurechnung, S. 475 f). Auch Roxins „kriminalpolitische“ Erwägungen greifen nicht durch. Kein fahrlässiger Brandstifter verzichtet darauf, die Feuerwehr zu rufen, nur weil er sich sorgt, auch noch für deren Schäden einstehen zu müssen. Sollte je ein fahrlässiger Brandstifter überhaupt auf die Idee verfallen, die Feuerwehr zu rufen, wird er kaum daran denken, dass ein Feuerwehrmann verunglücken könnte. Und wenn er selbst das noch tut, wird er vielleicht die einschlägige Strafrechtsdogmatik gar nicht kennen. Und falls doch, kennt er womöglich auch die zivil- und öffentlichrechtliche Folge des Feuerwehreinsatzes, nämlich seine Kostenpflicht, und wird sich von dieser Aussicht möglicherweise viel eher abhalten lassen als von der vagen Gefahr, dass ein Feu-

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So etwa Roxin AT I § 11 Rdn. 117; für die h.M. Frisch Zurechnung, S. 481 ff.

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erwehrmann verunglückt. Doch sind das alles lebensferne Gedankenspiele. Ebenso ist es mit der zweiten Erwägung Roxins, ein Wanderer, der sich in den Bergen verstiegen habe, könnte davor zurückschrecken, die Bergwacht zu rufen, wenn er fürchten müsste, wegen deren möglicher Unfälle strafbar zu werden, und könnte deshalb einen Abstieg wagen, der ihn überfordert. Ein Wanderer in Bergnot denkt gewöhnlich nicht an mögliche Unfälle der Bergwacht. Allerdings ist in solchen Fällen von Verunglückten und im Unterschied zu deliktischem Vorverhalten zu überlegen, die Strafbarkeit wegen voraussehbarer Unfälle der Retter zu beschränken auf Leichtfertigkeit (in Bezug auf Unfälle der Retter). Dies aber nicht wegen des Verantwortungsprinzips, sondern weil es beim Bergsteigen und dergleichen besonders fernliegt, an Unfälle etwaiger Retter zu denken – mögen sie auch prinzipiell voraussehbar sein – und weil sich die Fahrlässigkeit im Übrigen ausschließlich gegen die eigene Person richtet. Um seine Ansicht zu stützen, dass dem Ersthandelnden Unfälle pflichtiger Retter 119 nicht zuzurechnen seien, gibt Roxin sonstiges pflichtiges Anschlussverhalten zu bedenken, im Besonderen Schäden der Strafverfolgungsorgane (AT I § 11 Rdn. 140). Wenn ein Dieb strafbar sei wegen jedes Unfalles, den Polizisten erlitten, die ihn verfolgten, dann müsste er sich stellen, um dieses Strafbarkeitsrisiko zu vermeiden, und das sei „kaum vereinbar“ mit dem Grundsatz, dass niemand an der eigenen Bestrafung mitwirken müsse (Nemo-tenetur-Grundsatz). Es ist damit aber recht gut vereinbar (Sch/Schröder/Sternberg-Lieben/Schuster § 15 Rdn. 186; i.Erg. auch Wolter in Gimbernat/Schünemann/Wolter S. 3, 6 mit der Ausnahme der „leichtsinnigen […] und halsbrecherischen Verfolgung“). Der Straftäter hat zwar keine Pflicht, sich zu stellen, aber er hat auch nicht dergestalt ein Recht zu fliehen, dass alles, was er mit oder gelegentlich dieser Flucht anrichtet, straflos sein müsste. Wohl kann niemand, der sich der Strafverfolgung entzieht, wegen Strafvereitelung bestraft werden. Andere Delikte kommen indes in Betracht. Das versteht sich von selbst für Delikte gelegentlich der Flucht, etwa den Diebstahl eines Fluchtwagens. Es gilt aber auch für Delikte, deren tatbestandsmäßiges Verhalten die Flucht selbst ist. Wenn zum Beispiel ein Delinquent bei der Verhaftung auf frischer Tat den Ausweis einer anderen, ähnlich aussehenden Person vorzeigt und unter diesen Personalien in Untersuchungshaft kommt und wenn er dann flieht mit der Folge, die er voraussieht, dass man nach dem anderen fahndet und diesen Unschuldigen festnimmt, so kann das eine eventualvorsätzliche Freiheitsberaubung in mittelbarer Täterschaft sein durch ein Werkzeug im Erlaubnistatbestandsirrtum. Es ist wie mit den Aussagen des Beschuldigten in eigener Sache: Er hat keine Pflicht auszusagen, aber er hat auch kein Recht zu lügen, und dass die Lüge straflos bleibt, gilt nur für die Tatbestände der Strafvereitelung und für die Aussagedelikte; wegen Verleumdung (§ 187) oder falscher Verdächtigung (§ 164) kann sich der Beschuldigte durchaus strafbar machen. Und so kann sich trotz Nemo-tenetur-Prinzips auch der fliehende Dieb wegen fahrlässiger Körperverletzung strafbar machen, wenn seine Verfolger verunglücken. Er kann sich übrigens auch wegen Totschlages strafbar machen: Man denke sich einen Fliehenden, der bestimmte Gefahren seines Fluchtweges kennt, sie deshalb vermeiden kann, aber hofft, seine Verfolger, denen die Gefahren unbekannt sind, möchten in ihnen umkommen. So, wenn nach der „Wende“ 1989 ein ehemaliger Grenzsoldat der DDR über ein Gebiet floh, von dem er wusste, dass und wo es noch vermint war, und wenn sein Verfolger auf eine Mine trat. Schäden aufgrund pflichtiger Anschlusshandlungen sind dem Ersthandelnden folglich stets zuzurechnen. Auch in Zivilsachen lässt der BGH den Verfolgten haften, wenn verfolgende Polizisten zu Schaden kommen (BGHZ 132 164, 166 = JZ 1996 1178 m. Anm. Teichmann). Schäden freiwilliger privater Verfolger sind dem Fliehenden nach herrschender Ansicht zuzurechnen, wenn der Täter die Verfolger vorhersehbar und nachvollziehbar zur Verfolgung „herausgefordert“ hat, diese ein einsichtiges Motiv haWalter

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ben, insbesondere Ersatzansprüche sichern wollen, und nicht gänzlich unvernünftig (waghalsig) handeln (BGHZ 132 164, 166). Problematisch für die Zurechnung ist das Nachtatverhalten des Opfers. Nach herr- 120 schender Lehre ist ein Erfolg nicht zuzurechnen, der eintritt, weil sich das Opfer nach der Tat einer ärztlichen Behandlung oder sonstigen Hilfe widersetzt.176 Voraussetzung ist das Wissen des Opfers um die Gefahr, die es dabei läuft, das heißt mindestens grobe Fahrlässigkeit gegenüber sich selbst. Die Rechtsprechung hingegen rechnet auch solche selbstverschuldeten Erfolge zu, wenn sie noch vorhersehbar waren, das heißt nicht außerhalb aller Lebenserfahrung liegen. Beispiele sind ein Opfer, das entgegen ärztlichem Rat keine postoperative Physiotherapie sowie neuro- und handchirurgische Untersuchungen durchführen lässt und dadurch seine Hand gebrauchsunfähig macht (BGH NJW 2017, 1763 m. krit. Anm. Grünwald; zust. Weigend FS Rengier, S. 135, 141 f), ein alkoholkrankes Opfer, das es trotz dringender Warnungen ablehnt, sich stationär behandeln zu lassen, weil es weiterhin an Alkohol kommen will (BGH NStZ 1994 394), sowie ein Opfer, das sich weigert, eine Operation durchführen zu lassen, weil sie mit einem Todesrisiko von 5–15% verbunden wäre (OLG Celle StV 2002 366 f m. Anm. Walther; zust. Kindhäuser LPK Rdn. 151; Weigend FS Rengier, S. 135, 142). Möglicherweise widersprechen zumindest die beiden letztgenannten Entscheidungen der herrschenden Lehre jedoch nicht, und zwar dann, wenn die Alkoholkrankheit und das Operationsrisiko die Eigenverantwortlichkeit des Opfers ausgeschlossen hatten (vgl. Rdn. 113). Jedenfalls verdient die herrschende Lehre Zustimmung. Man wird sie allgemeiner so formulieren dürfen, dass ein Opfer die Zurechnung ausschließt, wenn es nach der Tat bewusst Obliegenheiten verletzt (frei verantwortetes Verschulden gegen sich selbst). Das deckt auch den Fall, dass ein Opfer vollverantwortlich Behandlungsfehler verursacht, zum Beispiel durch falsche Angaben zu früheren Krankheiten oder dazu, welche Medikamente es gegenwärtig einnehme. Das Geschehen entspricht dann einer eigenverantwortlichen Selbstschädigung. Nicht zu überzeugen vermag die apodiktische Gegenthese des Bundesgerichtshofes, die herrschende Lehre widerspreche „jeglichem Gerechtigkeitsempfinden“, da sie das Opfer dazu verpflichte, die Gefahren schmerzhafter Nachbehandlungen und weiterer Operationen auf sich zu nehmen (BGH NJW 2017, 1763 Rdn. 17; zust. Weigend FS Rengier, S. 135, 139). Denn die herrschende Lehre verpflichtet das Opfer zu gar nichts, weder de iure noch de facto. Das Opfer kann dieser Lehre gemäß völlig frei entscheiden, ob es eine weitere ärztliche Versorgung wünscht, und wenn es dies nicht tut, sind die einzigen negativen Folgen, die es zu tragen hat, jene, die ihm der Arzt im Aufklärungsgespräch beschreibt. Alles andere betrifft allein die Frage, wie hart der Täter zu bestrafen sei und welche Tatfolgen man ihm als sein Werk zurechnen könne. Und nicht als sein Werk zuzurechnen sind ihm Folgen, die auf grober Unvernunft oder gar auf einem Vorsatz des Opfers beruhen. — Zu Unrecht macht Frisch eine Ausnahme, wenn das Opfer vollverantwortlich einen Behandlungsfehler verursacht und dieser Fehler eine Entwicklung fördert, die schon in der Erstverletzung angelegt war (Zurechnung, S. 450 ff). Es ist hier ebenso unsachgerecht wie unter dem Aspekt des Eingreifens Dritter, zwischen der wirkungslosen Fehlbehandlung einer bestehenden Verletzung und der Fehlbehandlung zu unterscheiden, die eine weitere Verletzung bewirkt. Für die rechtliche Würdigung kann es nicht auf diesen ganz naturalistischen Unterschied ankommen, sondern allein darauf, dass sich das Opfer in beiden Fällen sehenden Auges selbst in die Gefahr begibt.

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176 Burgstaller S. 122; Frisch Zurechnung, S. 448; Jescheck/Weigend § 28 IV 4 (S. 288); Kindhäuser LPK Rdn. 151; Otto FS Lampe, S. 491, 509 f; Rengier AT § 13 Rdn. 85; Roxin AT I § 11 Rdn. 118; Schmoller FS Triffterer; S. 223, 249 ff; Sch/Schröder/Eisele Rdn. 102; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 275; Wolter S. 346.

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Zweifel erheben sich, sofern das unvernünftige Verhalten des Opfers einem Gewissenszwang gehorcht, den der Täter kennen muss oder sogar kennt und einkalkuliert. Es verletze etwa der Täter einen Zeugen Jehovas nicht tödlich, aber so, dass dieser eine Bluttransfusion braucht. Der Täter weiß, dass sein Opfer diese Transfusion aus Glaubensgründen zurückweisen muss, und hat eine stille Freude daran zu sehen, wie sich der Zeuge Jehovas durch seine religiöse Konsequenz selbst zugrunde richtet. Doch solange diese Entscheidung frei verantwortet bleibt, ist sein Tod keinem anderen zuzurechnen (aA Weigend FS Rengier, S. 135, 143).

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ee) (1) Eine Erweiterung des Selbstverantwortungsprinzips ist auch die Lehre Roxins von der einverständlichen Fremdgefährdung, die der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung gleichstehen soll, wenn beide Teile die Gefahr voll überblicken, sich in dem Erfolg auch nur diese Gefahr verwirklicht und der Täter auch nicht aus anderen Gründen eine größere Verantwortung trage; was insbesondere der Fall sei, wenn er das Opfer „bedrängt“ oder zur Zustimmung „gedrängt“ habe (grundlegend Roxin FS Lackner, S. 241 ff; heute ders. AT I § 11 Rdn. 121 ff, 123; GA 2012 655 ff). Roxins Lehre hat mittlerweile einige Gefolgschaft gefunden.177 Es geht um Sachverhalte wie den des Memel-Falles RGSt 57 172 ff: Der angeklagte Fährmann hatte bei Hochwasser der Memel und stürmischem Wetter auf „unausgesetztes Drängen“ zweier Fahrgäste eine Überfahrt gewagt, bei welcher der Kahn trotz richtiger Führung sank und die beiden Fahrgäste ertranken („erwachsene und verständige Männer, die das Gefährliche der beabsichtigten Fahrt vollständig und in genau demselben Maße wie der Angeklagte übersahen“). Oder jemand lässt sich von einem betrunkenen Autofahrer oder einem Raser mitnehmen und kommt dann bei einem Unfall zu Schaden. Eingehend erörtert hat man unter diesem Gesichtspunkt auch den ungeschützten Geschlechtsverkehr mit einem HIV-Infizierten (vgl. Lackner/Kühl/Kühl Vor § 211 Rdn. 12a m.w.N.). Der klassische Weg, die einverständliche Fremdgefährdung zu behandeln, ist sie als rechtfertigende Einwilligung in eine Fahrlässigkeitstat aufzufassen. Dieser Weg wird von der herrschenden Meinung noch immer und zu Recht beschritten.178 Die Einwilligung braucht sich dann nur auf die Gefährdung zu beziehen, nicht auf den Erfolg; von ihm hofft das Opfer in aller Regel, er möge ausbleiben. Von der Roxinschen Lehre unterscheidet sich dieser Weg zum einen dadurch, dass er das Korrektiv des § 228 berücksichtigen muss; mindestens die sittenwidrige Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit bleibt also außer Betracht. (Nach richtiger Ansicht gilt § 228 auch für die Lebensgefährdung; Rdn. 129.) Zum anderen muss es dieser Weg als Erlaubnistatbestandsirrtum begreifen, wenn beide Teile die Gefahren nicht voll übersehen, die das bewilligte Verhalten mit sich bringt. Zum Beispiel steigt das Opfer zu einem Fahrer in das Auto, der vergessen hat, sein Epilepsie-Medikament einzunehmen. Objektiv scheitert die Einwilligung, weil sie beim fahrlässigen Delikt voraussetzt, dass der Einwilligende die Gefährlichkeit des Geschehens voll überblickt, das heißt die reale Möglichkeit des Erfolges erkennt (volle Risikokenntnis, Sch/Schröder/Lenckner/Stern-

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177 Geppert Jura 2001 559, 565; Hammer JuS 1998 785, 788; Hellmann FS Roxin, 271 ff, 280; Jakobs AT 7/120; Schünemann JA 1975 715, 722. 178 BGHSt 53 55 Rdn. 26 ff (Beschleunigungstest-Fall); 40 341, 347 = BA 32 (1995) 290 m. Anm. Kaatsch; Anm. Foerster/Winckler NStZ 1995 344; OLG Zweibrücken JR 1994 518, 519 f m. Anm. Dölling (wo allerdings für die Wirksamkeit der Einwilligung die Kriterien herangezogen werden, die Roxin für den Zurechnungsausschluss wegen einverständlicher Fremdgefährdung nennt); Dölling aaO (S. 521); Grünewald GA 2012 364, 367, 371 ff; Hirsch LK11 Vor 32 Rdn. 95, 107; Jescheck/Weigend § 56 II 3 (S. 590); Kindhäuser LPK Rdn. 224; Schroeder LK11 § 16 Rdn. 180 m.w.N.; T. Walter NStZ 2013 673, 677 ff; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 274.

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berg-Lieben Vor § 32 Rdn. 105). Der Täter meint aber irrig, der andere sei sich aller erheblichen Umstände bewusst. Wie Roxin diese Gestaltung bewältigt, ist nicht ganz klar; jedenfalls kann er keinen Erlaubnistatbestandsirrtum annehmen. — Das vielfach variierte Hauptargument gegen die herrschende Meinung lautet, eine Einwilligung müsse sich stets auch auf den Erfolg beziehen: Der Betroffene müsse mit der Schädigung seiner Güter einverstanden sein und sie billigen. Daran fehle es in den Fahrlässigkeitsfällen. Dieses Argument ist aber falsch. Selbst bei Vorsatzdelikten muss sich die Einwilligung schon deshalb nie wirklich auf den Schaden beziehen, weil der zum Zeitpunkt der Einwilligung noch in der Zukunft liegt. Vielmehr bezieht sich die Einwilligung auf ein Verhalten, von dem der Einwilligende erkennt, dass es den Schaden herbeiführen könnte, und von dem er weiß, dass der Handelnde Schädigungsvorsatz hat. Der Einwilligende muss aber nie sicher annehmen, dass ihn die Handlung schädigen werde, und er muss eine solche Schädigung auch keineswegs erstrebenswert oder auch nur vernünftig finden. Zu einem Beispiel, das dies verdeutlicht, T. Walter NStZ 2013 673, 677. Gegen Roxins Lehre spricht zum einen die Vagheit des Verantwortungskriteriums, mit dem er die Zurechnung doch wieder bejahen will, wenn der Täter den Zustimmenden ge- oder bedrängt habe. Und zum anderen spricht gegen seine Lehre, dass sie das Stoppschild des § 228 umfährt – das zwar verfassungswidrig unbestimmt formuliert worden ist, aber in der Sache seine Berechtigung hat (näher unten Rdn. 128; T. Walter NStZ 2013 673, 678 ff): (2) Den Unterschied zwischen Selbst- und Fremdgefährdung sowie Selbst- und 123 Fremdschädigung betont das Schrifttum auch und gerade, wenn die Autoren es ablehnen, diese Erscheinungen (teilweise) gleich zu behandeln. Bei den Körperverletzungsdelikten ist die Abgrenzung von Selbst- und Fremdschädigung erheblich, weil § 228 nur für die Fremdschädigung gilt. Das ist inkonsequent, aber kriminalpolitisch vernünftig. Inkonsequent, weil es ebenso gut anstößig sein kann, sich daran zu beteiligen, wie ein anderer den eigenen Körper misshandelt; vor allem, wenn der andere zwar vollverantwortlich handelt, aber seelisch anfällig ist. Die kriminalpolitische Vernunft leitet sich daraus ab, dass es überhaupt fragwürdig erscheint, die Sittenwidrigkeit zum Merkmal eines Straftatbestandes zu machen, dass aber eben dies in § 228 im Ergebnis geschehen ist und dass Regelungen dieser Art also Zurückhaltung verlangen, vom Gesetzgeber wie vom Interpreten. Für die Tötungsdelikte ist wegen § 216 zwischen der Fremd- und der Selbstschädi- 124 gung abzugrenzen, weil nach dieser Vorschrift die vorsätzliche Fremdtötung stets strafbar ist – wenn auch mit milderer Strafe –, während die Selbsttötung stets straflos bleibt. § 216 wird allerdings oft in einem Sinne verstanden, den diese Vorschrift zumindest heute nicht mehr haben kann. In dem Sinne nämlich, dass sie den Rechtsgedanken in sich trage, einem Menschen sei sein Leben nicht verfügbar. Das eigene Leben ist dem Menschen aber rechtlich sehr wohl verfügbar (eingehend und rechtsphilosophisch beleuchtend Murmann S. 159 ff, 307 ff, 316): Der Versuch, sich das Leben zu nehmen, bleibt straflos, und straflos bleibt auch jede Bitte an andere, sie möchten es unternehmen, den Bittenden zu töten (keine Anstiftung zu § 216, sondern straflose „notwendige Teilnahme“, Sch/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben § 216 Rdn. 18). Auch bleibt es jedem unbenommen, lebenserhaltende Maßnahmen abzulehnen, etwa eine Operation oder künstliche Ernährung. Zwar mag man gegenüber dem Suizid das ethische Bedenken erheben, der Mensch habe kein Recht, sich etwas zu nehmen, das er sich nicht selbst gegeben habe, und kein Recht, sich aus der Verantwortung in der Gemeinschaft zu stehlen, ganz zu schweigen von der Verantwortung für Angehörige, Kinder zumal. Und es leitet der Bundesgerichtshof aus diesem Bedenken wohl noch immer auch ein rechtliches Verbot 843

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des Suizids ab (BGHSt 6 147, 153; 46 279, 285).179 Doch abgesehen davon, dass es lebenspraktisch wenig sinnvoll ist, einem Suizidenten nach missglücktem Selbstmordversuch Vorwürfe zu machen statt ihm zu helfen, ist es erstens in einer säkularisierten, pluralistischen Gesellschaft ausgeschlossen, jene ethischen Bedenken zum Rechtssatz zu erheben (statt vieler Kühl JRE 11 [2003] 221, 222; Zaczyk Selbstverantwortung, S. 26, 63). Zweitens lässt sich ein solcher Rechtssatz in rein strafrechtlichen Normen nicht finden. § 216 hat vielmehr zunächst die Aufgabe, die Unantastbarkeit fremden Lebens bedingungslos zu machen (etwas schief so genanntes Tabuargument, vgl. Murmann S. 517 ff mit Nachweisen). Die Vorschrift perfektioniert so den Grundsatz, dass es außer in Notwehr stets verboten ist, andere zu töten (allenfalls ergeht Gnade vor Recht, § 35). Außerdem hat § 216 einen kriminalpolitischen Hintergrund. Er trägt einmal dem Umstand Rechnung, dass die meisten Bestrebungen in Richtung Selbstmord Appellcharakter haben, also im Grunde nicht den Tod wollen, sondern Zuwendung. Schaltet der Appellsuizident aber einen anderen in seine Bemühungen ein, dann hat er es typischerweise schwerer, den Ablauf so zu gestalten, dass man ihn noch rechtzeitig findet, und es ist ihm typischerweise auch erschwert, in letzter Sekunde abzubrechen. Zweitens baut § 216 der Einlassung vor, der Getötete, der sich nicht mehr äußern kann, habe es so gewollt (sogenanntes Beweis- oder Missbrauchsargument, vgl. Murmann S. 523 ff mit Nachweisen). Die ethische Aufgabe des § 216 und auch sein kriminalpolitischer Hintergrund 125 sträuben sich aber dagegen, sie zu verabsolutieren. Selbst die vorsätzliche, und zwar die eventualvorsätzliche Tötung eines anderen ist in bestimmten Fällen unstreitig zulässig, sofern der Getötete zustimmt. Man denke sich einen Krebskranken, der noch rund drei Monate zu leben hat, wenn er nicht operiert wird. Allerdings wissen Arzt und Patient, dass die Operation lebensgefährlich ist und das Leben des Krebskranken womöglich auch sofort beendet. Tut sie das, ist der Arzt aber nicht strafbar, sofern er nur kunstgerecht operiert hat (vgl. BGH JR 1994 514 m. Anm. Puppe). Sein bedingter Vorsatz ändert daran nichts (den ihm auch die herrschende Meinung nicht absprechen kann: Er sieht den tödlichen Ausgang als möglich voraus und findet sich um des erstrebten Zieles willen mit dieser Möglichkeit ab). Erst recht ist der Arzt straflos, wenn er nicht erkennt, dass der Patient in der Operation den Tod finden kann (der Patient muss freilich von Dritten aufgeklärt worden sein). § 216 gilt für den Arzt in keinem Fall. Zwar lässt dieser Tatbestand bedingten Vorsatz genügen (Fischer § 216 Rdn. 11). Es ist aber nicht ein Todeswille des Patienten, der den Arzt zu handeln bestimmt, sondern es sind der Lebenswille des Patienten und die ärztliche Hilfspflicht. Und es ist offenbar indiskutabel, das Ergebnis ändern zu wollen aufgrund eines vermeintlich in § 216 enthaltenen Rechtsgedankens. Vielmehr zeigt schon dieses Beispiel, dass sich aus § 216 nicht ableiten lässt, es sei stets wirkungslos, wenn jemand darin einwillige, sich von einem anderen das Leben gefährden zu lassen – selbst wenn der andere bedingten Vorsatz hat und erst recht bei Fahrlässigkeit. Es gibt eben Fälle, in denen es sinnvoll ist, sich das Leben gefährden zu lassen, weil die Alternative, es nicht zu tun, ein noch größeres Übel wäre, vor allem eine noch größere Lebensgefahr mit sich brächte. Die Fälle der Selbst- und Fremdgefährdung zeichnet aus, dass der Schaden ex ante 126 sowohl objektiv als auch aus der Sicht des Handelnden lediglich eine Möglichkeit ist und keine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit. Ferner fehlt dem Gefährdenden in der Regel der Schädigungsvorsatz (Otto FS Tröndle, S. 157, 169 f, der aber dieses Kriterium verabsolutiert und es auch nur für die Abgrenzung von Fremdgefährdung und -schädigung verwendet). Es geht also meist um Fahrlässigkeitsdelikte. Für die Ergebnisse

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BGH 46 279 = JZ 2002 150 m. Anm. Sternberg-Lieben; Bspr. Heuchemer JA 2001 627.

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kommt es nicht darauf an, ob eine Fremd- oder Selbstgefährdung oder eine Fremd- oder Selbstschädigung vorliegt (Murmann S. 379 ff, 433). Die Fahrlässigkeit kann bei der Fremdgefährdung zwei Bezugspunkte haben. Der erste ist der Eintritt des tatbestandlichen Außenerfolges (Erfolgsfahrlässigkeit), der zweite das Fehlen einer vollverantwortlichen Zustimmung (ein Fall der Irrtumsfahrlässigkeit; zu diesen Begriffen näher T. Walter Kern des Strafrechts, S. 173 ff). Für die erste Alternative diene als ein Beispiel abseits von §§ 216, 228 ein Landarbeiter, der den Bauern im Hochsommer in der Scheune fragt, ob er einen Ventilator anschließen dürfe. Der Bauer sieht, dass der Ventilator ein brüchiges Kabel hat, und erkennt, dass dies zu einem Kurzschluss und einem Feuer führen kann, stimmt aber dennoch zu, weil es ihm ganz recht ist, wenn die Scheune abbrennt; er hat sie gut versichert. Als Bauer und Landarbeiter die Scheune in einer Pause verlassen, kommt es zu einem Kurzschluss und einem Feuer, das die Scheune zerstört. Der Landarbeiter hatte an einen solchen Verlauf nicht gedacht. Das ist die eigentliche und einzige Konstellation einer einverständlichen Fremdgefährdung: volles Gefahrenbewusstsein des Gefährdeten, später Geschädigten („Eventualvorsatz“; freilich geht es um eigene Güter), und kein Vorsatz, sondern Erfolgsfahrlässigkeit des Gefährdenden und späteren Schädigers. Für diesen Fall besagt Roxins Lehre (Rdn. 122), dass dem Landarbeiter der Erfolg aus § 306 Abs. 1 Nrn. 1, 3 und 6 nicht zuzurechnen ist, so dass er sich trotz seiner Fahrlässigkeit nicht nach § 306d (Fahrlässige Brandstiftung) strafbar macht. Die herrschende Meinung kommt zu demselben Ergebnis, da sie eine Einwilligung in das fahrlässige Verhalten annimmt, die wirksam ist, weil es nach zutreffender herrschender Ansicht180 um ein Individualrechtsgut geht (Eigentum) und der Bauer die Gefahr voll überblickt. Fremd- und Selbstgefährdung stehen sich gleich. Fehlt dem Bauern das Bewusstsein der Gefahr, kommt für den Landarbeiter, Vorher- 127 sehbarkeit vorausgesetzt, eine fahrlässige Tat zumindest in Betracht, und zwar in zwei Spielarten. Einmal mag er zwar erkennen, wie brüchig das Kabel ist und dass dies eine Brandgefahr bedeutet, aber vorschnell meinen, der Bauer erkenne das auch. Dann handelt der Landarbeiter zwar nicht erfolgsfahrlässig; bezüglich des äußeren Erfolges hat er bedingten Vorsatz. Aber er irrt fahrlässig darüber, dass der Bauer vollverantwortlich zustimme (Irrtumsfahrlässigkeit). Für Roxin ist das ein Tatbestandsirrtum, nämlich der Irrtum über einen Umstand, der die objektive Zurechnung begründet. Da der Landarbeiter fahrlässig handelt, haftet er nach § 306d (§ 16 Abs. 1 Satz 2). Mit der Einwilligungslösung kommt man zu einem Erlaubnistatbestandsirrtum: Der Landarbeiter nimmt an, der Bauer sei sich der Gefahr bewusst, und dieser Sachverhalt bedeutete, läge er vor, eine wirksame Einwilligung. Das Ergebnis entspricht erneut der Lehre Roxins, aber Fremd- und Selbstgefährdung stehen sich nicht gleich (weil bei der Fremdgefährdung eine Strafe wegen fahrlässiger Tat möglich ist). – Die zweite Möglichkeit besteht darin, dass der Landarbeiter wie der Bauer schon die Brüchigkeit des Kabels und die Brandgefahr verkennt (beidseitige Fahrlässigkeit). Dann fällt ihm eine Erfolgsfahrlässigkeit zur Last und automatisch auch ein fahrlässiger Irrtum darauf bezogen, dass eine vollverantwortliche Zustimmung des Bauern fehlt. Die herrschende Meinung kommt erneut zur Haftung wegen Fahrlässigkeit; sei es, dass sie wegen der Erfolgsfahrlässigkeit einen Tatbestandsirrtum annimmt, wegen der Irrtumsfahrlässigkeit einen Erlaubnistatbestandsirrtum oder eine Koppelung der beiden. Für die Lehre Roxins ist das Ergebnis nicht ganz so klar. Denn auch im Falle beidseitiger Fahrlässigkeit überblicken Gefährdeter und Ge-

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180 Kreß JR 2001 315, 316 ff; Radtke ZStW 110 (1998) 848, 861; Fischer § 306 Rdn. 1 mit Nachweisen zu Stimmen, die den angeblich (auch) gemeingefährlichen Charakter der Tat betonen (der sich im Wortlaut nicht niederschlägt); abl. Wolff JR 2002 94, 96. Zum Grundtatbestand der Brandstiftungsdelikte siehe Sch/Schröder/Heine/Bosch § 306 Rdn. 1; Lackner/Kühl/Heger § 306 Rdn. 2.

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fährdender die Gefahr in gleichem Maße, nämlich unvollständig oder gar nicht. Und man mag fragen, wieso der Landarbeiter in den Angelegenheiten des Bauern eine größere Sorgfalt an den Tag legen sollte als dieser selbst. Drittens ist kein großer Unterschied festzustellen je nachdem, ob der Landarbeiter den Ventilator aufstellt oder der Bauer (auf Bitten des Landarbeiters); insoweit ist es wie mit dem Anwalt, der eine Akte eigenhändig in den Reißwolf gibt oder durch eine Sekretärin. Daher kommt die Lehre Roxins dem sachgerechten Ergebnis – Straflosigkeit – an dieser Stelle näher. (Ob Roxin dieses Ergebnis verträte, ist ungewiss, denn grundsätzlich verlangt er volle Gefahrenkenntnis des Gefährdeten.) Die Einwilligungslösung könnte das gleiche Ergebnis erzielen, wenn sie es ausreichen ließe, dass der Gefährdete die Umstände kenne, aus denen die Gefahr erwachse, und nicht verlangte, dass er auch die Gefahr selbst erkannt haben müsse (wenn sie also keine volle Risikokenntnis verlangte). Fremd- und Selbstgefährdung stehen sich dann bei beidseitiger Fahrlässigkeit gleich, was sachgerecht ist. Bei der einverständlichen Fremdgefährdung der körperlichen Unversehrtheit 128 eines anderen ist § 228 zu beachten. Für die herrschende Meinung folgt dies daraus, dass sie für fahrlässige Taten eine Einwilligung zulässt (Fn. 172) und dann auch § 228 beachtet (Kindhäuser LPK Rdn. 224; Sch/Schröder/Stree/Sternberg-Lieben § 228 Rdn. 11; T. Walter NStZ 2012 673, 679 f). Dessen Stellung im Gesetz – nach der vorsätzlichen, aber vor der fahrlässigen Körperverletzung – spricht zwar dagegen, aber der Wortlaut erfasst auch die fahrlässige Tat, und Gleiches gilt für die Ratio, dass der körperlichen Unversehrtheit anderer eine gewisse Grundachtung und Pietät geschuldet ist. Diese Wertentscheidung des Gesetzes darf auch Roxins Lehre nicht übergehen, selbst wenn er der Ansicht ist (AT I § 11 Rdn. 121), eine Einwilligung könne die fahrlässige Tat nicht rechtfertigen, weil sie sich nicht auf den Erfolg beziehe und der Erfolg aber zum Unrecht gehöre (hiergegen T. Walter NStZ 2013 673, 677 f). Mithin ist bei fahrlässigen Körperverletzungsdelikten die einverständliche Fremdgefährdung der Selbstgefährdung nicht ohne Weiteres gleichzustellen. Nur wer die körperliche Unversehrtheit eines anderen gefährdet – und nicht die eigene –, ist an § 228 gebunden. Bei der einverständlichen Fremdgefährdung des Lebens eines anderen könnte 129 § 216 zu beachten sein. Und in der Tat meint man zum Teil, dass es ein Rechtsgedanke dieser Vorschrift verbiete, eine wirksame Einwilligung in die Gefährdung des eigenen Lebens zuzulassen.181 Das verkennt aber die Ratio des § 216 (Rdn. 124 f).182 Vielmehr hat schon das Reichsgericht im Memel-Fall erkannt, dass es grundvernünftig sein kann, das eigene Leben von anderen sogar bedingt vorsätzlich gefährden zu lassen, dann nämlich, wenn damit Chancen verbunden sind, die das Risiko überwiegen. Doch damit fällt die Lebensgefährdung in den Anforderungen an ihre Zulässigkeit nicht gleich hinter die Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit zurück; das wäre absurd. Demzufolge gilt auch für die Gefährdung fremden Lebens § 228.183 Es geht mit den Worten Lenckners (Fn. 177) darum, das sinnvolle Risiko abzugrenzen von dem „frivolen Spiel mit fremdem Leben“, das heißt der sittenwidrigen Tat, zum Beispiel einer Variante Russischen Roulet-

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181 BGHSt 7 112, 114; 4 88, 93; BayObLG NJW 1957 1245, 1246 = JZ 1958 93 m. Anm. Kern; Jescheck/Weigend § 56 II 3 (S. 590); Roxin AT I § 11 Rdn. 121. 182 Mindestens im Ergebnis so schon BGH JR 1994 514 m. Anm. Puppe; OLG Zweibrücken JR 1994 518, 519 f m. Anm. Dölling; Hirsch LK11 Vor § 32 Rdn. 95; Schaffstein FS Welzel, S. 557, 570 ff; Sch/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vor § 32 Rdn. 104; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 972. Weitere Nachweise bei Stratenwerth/Kuhlen § 15 Rdn. 36. 183 So im Ergebnis schon BGHSt 53 55 Rdn. 29; Hirsch LK11 Vor § 32 Rdn. 95; zweifelnd OLG Zweibrücken JR 1994 518, 519; abl. Dölling in seiner Anmerkung zu diesem Urteil aaO S. 520 f; jetzt auch Sch/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vor § 32 Rdn. 104a.

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tes, in der nicht das Opfer, sondern ein anderer Spieler den Abzug betätigt (vergleichbar der Beschleunigungstest-Fall BGHSt 53 55 und der Auto-Surfer-Fall OLG Düsseldorf NStZRR 1997 325, 327, der allerdings im Ergebnis nur eine fahrlässige Körperverletzung betrifft). Das leuchtet auch systematisch ein. Wie das Töten eine spezielle, nämlich die stärkste Form der Körperverletzung ist (genauer: der Gesundheitsschädigung), so ist § 216 Lex specialis zu § 228, des Inhalts, dass vorsätzliches Töten aufgrund eines Tötungsverlangens stets sittenwidrig ist (vgl. schon Dölling JR 1994 520, 521: „strukturell ähnliche Erwägungen“; ob diese Wertung überzeugt, mag dahinstehen). Wo § 216 nicht anzuwenden ist, weil seine besondere Voraussetzung, die Vorsatztat aufgrund eines Tötungsverlangens, fehlt, bleibt die Lex generalis § 228. Damit ist aber bei der fahrlässigen Tötung wie bei der fahrlässigen Körperverletzung die einverständliche Fremdgefährdung der Selbstgefährdung nicht gleichzustellen (aA Frisch Zurechnung, S. 116 f, 150, der die Hintergründe der §§ 216, 228 zu Unrecht ausblendet). Die Gefährdung fremden Lebens ist nur im Rahmen der guten Sitten erlaubt; wer das eigene Leben gefährdet, unterliegt keiner Beschränkung. Damit ist mindestens für die Körperverletzungs- und Tötungsdelikte eine Grenze 130 sowohl zwischen Fremd- und Selbstschädigung als auch zwischen Fremd- und Selbstgefährdung zu ziehen (aber auch bei anderen Delikten kann diese Unterscheidung von Bedeutung sein, siehe den ersten Fall Rdn. 127). Insoweit problematisch sind aus der Rechtsprechung die Fälle, dass ein HIV-Infizierter geschlechtlich mit einem Gesunden verkehrt und sich beide an dem Geschehen in Kenntnis der Infektion und in gleicher Weise (aktiv) beteiligen. Gleiches gilt für den Gisela-Fall BGHSt 19 135: Ein Paar will gemeinsam Selbstmord begehen, schließt einen Schlauch an den Auspuff eines Autos, leitet die Abgase ins Wageninnere, setzt sich in den Wagen, und der Mann startet den Motor und tritt das Gaspedal durch. Die Frau könnte, bevor sie das Bewusstsein verliert und später stirbt, jederzeit aussteigen. Weitere problematische Beispiele: Ein Gelähmter lässt sich von einem Helfer mit dem Löffel Gift eingeben, das er schluckt; jemand hält absprachegemäß den Abzug eines Maschinengewehrs gezogen, und ein Todeswilliger läuft in die Schussbahn (entsprechend das Beispiel von Herzberg JA 1985 131, 137: jemand fährt absprachegemäß langsam mit einem Lkw an, und ein Todeswilliger wirft sich unter die Räder); ein Radfahrer hält sich an der Schlaufe einer Lkw-Plane an dem Lkw fest und gerät, als die Schlaufe reißt, unter die Räder (ganz ähnlich der „Anhänge-Fall“ BayObLG JR 1978 296 m. Anm. Kienapfel und der Skateboard-Fall BayObLG NZV 1989 80 m. Anm. Molketin). — Die herrschende Meinung vertritt für § 216 gleichsam eine Theorie der letzten Entscheidung: Bleibe dem, der seinen Tod wolle, nach der abschließenden Handlung des anderen noch die freie Entscheidung über Leben und Tod („Gefährdungsherrschaft“, „Handlungsherrschaft“), sei das eine Selbsttötung.184 Ob das „der Sache nach die Trennungslinie zwischen Täterschaft und Teilnahme“ ist – so BGHSt 53 55 Rdn. 22,

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184 BGHSt 19 135, 139 f (Gisela-Fall) mit der Modifizierung für den einseitig fehlgeschlagenen Doppelselbstmord, dass es nicht auf das tatsächliche Geschehen ankomme, sondern auf den Gesamtplan – was nicht einzusehen ist (für den Sachverhalt der Entscheidung war zweifelhaft geblieben, ob der überlebende Angeklagte oder die zu Tode gekommene Gisela zuerst bewusstlos geworden war; war es der Angeklagte, so hätte Gisela nach dessen abschließender Handlung und einzig während deren fortdauernden Erfolges [Standgas] noch frei über ihren Tod entschieden, da sie das Auto jederzeit verlassen konnte, und diese Möglichkeit hätte der BGH in der Konsequenz seines Ausgangspunktes in dubio pro reo annehmen müssen, statt sie entgegen diesem Ausgangspunkt als unbeachtliche Zufälligkeit abzutun; s. auch Murmann S. 361: Fremdtötung nur, wenn Gisela vor dem Angeklagten bewusstlos geworden war; vgl. Rdn. 132); BGH NStZ 2011 341 Rdn. 8, 10 (MDMA-Fall [„psycholytische Sitzung“]); OLG Nürnberg NJW 2003 454 f; Engländer JZ 2003 747; Roxin Festschrift GA, S. 177 ff; ders. TuT, S. 571; H. Schneider MK § 216 Rdn. 52; Sch/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben § 216 Rdn. 11.

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49 34, 39 und Jähnke LK11 § 216 Rdn. 11 –, mag dahinstehen. Jedenfalls sollen nach diesem Grundsatz Selbst- und Fremdgefährdung auch jenseits von § 216 zu unterscheiden sein.185 Das führt dazu, dass immer dann eine Selbstgefährdung angenommen wird, wenn die letzte aktive erfolgskausale Handlung vom Opfer stammt, also die letzte aktive Handlung vor dem Erreichen des „point of no return“. Folglich gelangt man mit diesem Abgrenzungskriterium zum Beispiel zu einer Fremdgefährdung, wenn sich das Opfer in oder an einem Fahrzeug (mit-)fahren lässt (BGHSt 53 55 [Beschleunigungstest-Fall]; OLG Düsseldorf NStZ-RR 1997 325 [Auto-Surfen]), und zu einer Selbstgefährdung, wenn es schädliche Getränke oder Rauschmittel zu sich nimmt (BGH NStZ 2011 341 [MDMA-Fall]; 2009 504 [Heroin-Kokain-Fall]; 1986 266 [Obstschnaps-Fall]; näher T. Walter NStZ 2013 673, 675 f). Dieser Abgrenzungsmodus ist auch grundsätzlich in Ordnung. Lediglich übersieht die Rechtsprechung in ihren Begründungen manchmal, dass eine Selbstgefährdung keineswegs automatisch auch eine zurechnungsausschließende eigenverantwortliche Selbstgefährdung sein muss (näher T. Walter NStZ 2013 673, 675 ff). Die Theorie der letzten Entscheidung hat aber die große Schwäche, dass sie ganz 131 auf sukzessiv-arbeitsteiliges Verhalten zugeschnitten ist; etwa lässt sich in dem Giftlöffel-Beispiel feststellen, dass der Gelähmte noch schlucken und also letztinstanzlich über seinen Tod entscheiden muss. In den wirklich schwierigen Fällen geht es aber nicht um sukzessiv-arbeitsteiliges, sondern um gemeinschaftliches Handeln. Das heißt zur Schädigung kommt es nur, weil zeitgleich beide Teile vollverantwortlich handeln, ohne dass die Verantwortlichkeit des Helfers länger dauerte als die des Geschädigten, und zwar so lange, bis sie den „point of no return“ erreichen. So in dem Maschinengewehr-Beispiel; dort muss der eine vollverantwortlich schießen und der andere zugleich vollverantwortlich in die Schussbahn laufen, ohne dass die Verantwortung des Schießenden die des Erschossenen überdauerte. Ebenso in dem Lkw-Beispiel: Der Fahrer muss vollverantwortlich fahren, der andere muss sich zugleich vollverantwortlich festhalten, und die Handlung des Lkw-Fahrers dauert nicht länger als die des Radfahrers. Das Gleiche ist schließlich bei dem Geschlechtsverkehr des HIV-Infizierten festzustellen; dann jedenfalls, wenn die sexuelle Aktivität nicht ausschließlich bei nur einem der Partner liegt. In solchen Fällen ist die herrschende Lehre unanwendbar und bedarf es einer anderen Abgrenzungsformel. Der Ausweg geht dahin, immer dann eine Selbstgefährdung anzunehmen, wenn der 132 Gefährdete bis zum „point of no return“ vollverantwortlich bleibt und durch einen Abbruch eigenen aktiven Tuns den Erfolg verhindern könnte. Danach sind die Fälle gemeinschaftlichen Handelns eine Selbstgefährdung oder -schädigung. Mindestens in den Ergebnissen, oft auch in der Begründung entspricht das der ganz herrschenden Meinung.186 Eine Fremdgefährdung oder -schädigung bleibt sukzessiv-arbeitsteiliges Handeln, wenn die letzte aktive Handlung vor dem „point of no return“ nicht von dem Opfer vorgenommen wird. So, wenn jemand einem Todeswilligen die Pistole an die Schläfe setzt, ihn in die Schlinge hängt oder ihm Gift spritzt (und zwar ungeachtet dessen, ob

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185 BGHSt 53 55 Rdn. 22 ff; Jähnke LK11 § 216 Rdn. 11 („ganz ähnlich“); Grünewald GA 2012 364, 369 (Selbstgefährdung, wenn der Gefährdete „das unmittelbar schädigende Risikogeschehen bis zuletzt allein gestaltet“); Lackner/Kühl/Kühl § 228 Rdn. 2b in Verbindung mit Vor § 211 Rdn. 12; Sch/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben § 216 Rdn. 11a; im Grundsatz auch Sch/Schröder/Lenckner/SternbergLieben Vor § 32 Rdn. 52a, 107. BGH NJW 2003 2326, 2327 macht hiervon eine Ausnahme für den Fall, dass der Getötete den anderen über die Gefährlichkeit von dessen Handlung täuscht, dazu Rdn. 134. 186 Kindhäuser LPK Rdn. 122, 216 ff; wohl auch Sch/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vor § 32 Rdn. 52a, 107 (für „quasi-mittäterschaftliches“ Handeln); für die „Anhänge-Fälle“ (Radfahrer an Lkw/Pkw, Skateboard-Fahrer an Kraftrad) BayObLG NZV 1989 80; Kienapfel JR 1978 297 f; Murmann S. 389 Fn. 280; aA BayObLG JR 1978 296. Siehe auch die Nachweise in Fn. 192 zu den HIV-Fällen.

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das Opfer hernach noch die Möglichkeit hat, sich ein Gegengift verabreichen zu lassen).187 Ebenso, wenn in dem Gisela-Fall BGHSt 19 135 bei dem versuchten Doppelselbstmord eines Paares der Mann das Gaspedal tritt, was Abgase in das Wageninnere leitet, und zwar selbst wenn er noch vor der Frau bewusstlos wird und der Motor lediglich mit Standgas weiterläuft, währenddessen die Frau das Auto jederzeit verlassen könnte. Denn die Frau kann sich nach seiner letzten aktiven Handlung darauf beschränken, untätig zu bleiben (i. Erg. so schon der BGH aaO, vgl. in Fn. 178). Ihr weiteres Atmen – und damit Einatmen der Abgase – ist keine eigene aktive Handlung der eben beschriebenen Art, da es in der entscheidenden Phase des Geschehens nur noch als Reflex auftritt und damit keine Handlung im Sinne des Strafrechts mehr ist. Demgegenüber lehrt ein Teil des Schrifttums, der Geschlechtsverkehr des HIV- 133 Infizierten sei stets eine Fremdgefährdung.188 Die Gefahr, so Roxin, gehe ausschließlich von dem Infizierten aus, und es verhalte sich nicht anders, als wenn sich jemand Rauschgift spritzen lasse. Doch das ist spätestens falsch, wenn der gesunde Partner, namentlich der heterosexuelle Mann, allein aktiv ist und der infizierte Partner, namentlich die heterosexuelle Frau, ganz passiv bleibt, also es lediglich unterlässt, sich zu wehren. Soll jetzt sie, die Unterlassende, diejenige sein, die den Mann, den einzig Tätigen, gefährdet? Wo der Mann doch in diesem Beispiel weder von dem Handeln der Frau abhängig ist noch von ihrem Willen? Ebenso gut könnte man jemandem, der die Hand ins Feuer legt, sagen, das sei eine Fremdschädigung durch das Feuer. Richtig ist im Normalfall beidseitiger sexueller Aktivität das Gegenteil. Das folgt aus der Abgrenzungsformel oben und ist auch herrschende Meinung.189 Ein Sonderproblem ist der sogenannte Selbstmord in mittelbarer Täterschaft, bei 134 dem der Suizident einen anderen zu der Tötungshandlung bestimmt, die der andere aber nicht als solche erkennt. Er nimmt sie dann also ohne Tötungsvorsatz vor, so dass auch nur § 222 in Frage steht. OLG Nürnberg NJW 2003 454, 455 sieht § 222 als erfüllt an seitens einer Frau, der ihr Mann – die Ehe ist zerrüttet – nach einer Auseinandersetzung eine Pistole reicht und die sich mit ihrem Mann davon überzeugt, dass keine Patrone im Magazin ist, woraufhin sie dann gemäß einer Aufforderung des Mannes die Pistole an dessen Schläfe setzt und ebenfalls auf seine Aufforderung hin abdrückt und ihn dadurch tötet, weil die Waffe bereits durchgeladen war und sich folglich eine Patrone schon im Patronenfach befand.190 Im Müllcontainer-Fall entscheidet BGH NJW 2003 2326, 2327 im Ergebnis ebenso hinsichtlich eines Pflegers, der einen schwer bewegungs- und atembehinderten Schützling auf dessen Wunsch und um dessen behauptete sexuelle Phantasien zu verwirklichen in Plastiksäcke gehüllt in einen Müllcontainer hebt, in den Müll gleiten lässt und erst zurückkommt, als der Behinderte bereits unter anderem Müll erstickt ist; der Behinderte hatte auch behauptet, dass er dies mehrmals mit sich habe machen lassen und dass man ihn nach einigen Stunden unversehrt bergen werde (zust. Herzberg NStZ 2004 1, 7; Küpper JuS 2004 757, 759 f; das Ergebnis abl. Engländer Jura 2004 234, 237 f). Allerdings führt der Bundesgerichtshof zugleich aus, eine Selbsttötung

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187 AA Murmann S. 366; Roxin Festschrift GA, S. 177, 185. 188 Frisch JuS 1990 362, 371; Hellmann FS Roxin, 271, 273; Murmann S. 411, 427 ff; Roxin AT I § 11 Rdn. 133. 189 BayObLG NStZ 1990 81, 82 = JR 1990 473 m. Anm. Dölling (weitere Bspr. Solbach JA 1990 31; Hugger JuS 1990 972); LG Kempten NJW 1989 2068, 2069 ff; Bruns NJW 1987 2281, 2282; Herzog/Nestler-Tremel StV 1987 360, 366; Prittwitz JA 1988 427, 432 f; Sch/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vor § 32 Rdn. 107; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 274; Zaczyk Selbstverantwortung, S. 58 f. 190 Zust. Herzberg Jura 2004 670, 671 f; ders. NStZ 2004 1, 2; Küpper JuS 2004 757, 759 f; abl. Engländer JZ 2003 747 f (Anm.); ders. Jura 2004 234, 237.

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würde vorgelegen haben (an der mitzuwirken straflos geblieben wäre), wenn „der Lebensmüde den Angeklagten über das zum Tode führende Geschehen getäuscht und ihn mit Hilfe des hervorgerufenen Irrtums zum Werkzeug gegen sich selbst gemacht hätte“ (aaO; insoweit zust. Engländer aaO). Es ist schon zweifelhaft, dies für den entschiedenen Sachverhalt mit dem Hinweis abzulehnen, der Pfleger habe bewusst „im Widerspruch zu jedem medizinischen Alltagswissen“ gehandelt und den Behinderten sehenden Auges größter Lebensgefahr ausgesetzt. Denn hinsichtlich wichtiger gefahrenerheblicher Umstände irrte der Pfleger täuschungsbedingt (Todeswille des Behinderten, mehrfache Erprobung des Vorgehens, spätere Hilfe von Dritten; s. schon Engländer aaO). Zweitens passt die Hypothese zur Selbsttötung kraft Täuschung schwer zu der Entscheidung des OLG Nürnberg, auf die sich aber der Bundesgerichtshof mit einem „vgl.“ beruft. Drittens passt jene Hypothese nicht zu dem weiteren Leitsatz der Entscheidung: „Wer infolge einer Täuschung durch das Opfer vorsatzlos aktive Sterbehilfe leistet, nimmt nicht an einer tatbestandslosen Selbstgefährdung teil“ (Hervorhebung nicht im Original). In beiden Fällen hat man es sowohl nach „der Theorie der letzten Entscheidung“ als 135 auch nach der hier vorgeschlagenen Lösung (Rdn. 132) mit einer Fremdtötung zu tun (ebenso Küpper JuS 2004 757, 758 [„Tatherrschaft bei den Angekl.“]; Murmann S. 364; aA Engländer Jura 2004 234, 236). Für den Schuss ist das offensichtlich, und auch der Schwerbehinderte hat nach Abschluss der Handlungen des Pflegers keine Möglichkeit mehr, sich aus eigener Kraft zu retten oder auf sich aufmerksam zu machen, und es liegt kein Fall gemeinschaftlichen Handelns vor. Dieses Ergebnis, dass jeweils eine Fremdtötung vorliegt, lässt sich nicht unter Berufung auf § 25 Absatz 1 Alternative 2 in eine Selbsttötung verwandeln (so aber Engländer aaO). Zwar beherrschen in beiden Fällen die Opfer insofern das Geschehen, als sie den Handelnden täuschen. Das führt aber nicht dazu, dass man den Handelnden als Roboter zu betrachten hätte, der für sein Tun überhaupt nicht mehr, das heißt auch nicht mehr wegen Fahrlässigkeit zur Verantwortung gezogen werden könnte. So auch bei mittelbarer Täterschaft im Drei-Personen-Verhältnis: Die Ärztin, die einen unaufmerksamen Krankenpfleger durch Täuschung dazu bringt, einem Patienten Gift zu spritzen, ist mittelbare Täterin eines Vorsatzdelikts; und der Krankenpfleger ist unmittelbarer Täter einer Fahrlässigkeitstat. Da es sich in den beiden oben angeführten Fällen um Fremdtötungen handelt, wäre § 216 einschlägig, wenn die Akteure vorsätzlich und aufgrund ernsten Verlangens der Suizidenten gehandelt hätten. Fraglich ist, ob dessen rechtspolitische Entscheidung auf die fahrlässige Tat übertragbar ist mit dem Ergebnis, dass § 222 jeweils erfüllt und die opferbestimmte Motivation nur bei der Strafzumessung mildernd zu berücksichtigen wäre. Das ist mit dem OLG Nürnberg und dem Ergebnis der BGH-Entscheidung zu bejahen. Dies durchweg, das heißt ohne die hypothetische Ausnahme, die der Bundesgerichtshof in seinen Gründen macht. § 216 soll sicherstellen, dass die Rechtsgenossen fremdes Leben auch dann als unverletzlich betrachten, wenn der andere nicht mehr leben will (Rdn. 124), und es wäre kaum einzusehen, wenn diese Forderung nur gegen vorsätzliche Missachtung geschützt wäre und nicht auch gegen fahrlässige. Auch die beweisorientierte Erwägung, die hinter § 216 steht (aaO), hat bei fahrlässigem Verhalten Gültigkeit, da sich der Tote in diesem Fall ebenso wenig zu dem tatsächlichen Geschehen äußern kann und neben der Aussage des Täters andere Beweismittel in der Regel fehlen. Schließlich besteht auch der dritte Daseinsgrund des § 216 bei fahrlässiger Tat unverändert fort, dass nämlich das Opfer bei einer Fremdtötung geringere Chancen hat, nach einem Sinneswandel im Angesicht des Todes das Geschehen anzuhalten (aaO). Wenn ein Todeswilliger einen anderen so geschickt über das Tödliche der erbetenen Handlung täuscht, dass der andere keinen Grund zum Argwohn hat, so ist § 222 zwar ausgeschlossen. Dies aber nicht, weil eine Selbsttötung vorläge, sondern weil dann die Fahrlässigkeit fehlt. Walter

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Von der zulässigen einverständlichen Fremdgefährdung menschlichen Lebens etwa 136 bei einer riskanten Operation (Rdn. 125) unterscheidet sich der Selbstmord in mittelbarer Täterschaft dreifach: Die Erfolgswahrscheinlichkeit grenzt objektiv ex ante an Sicherheit, das Opfer ist sich dessen bewusst, und es fehlt – abgesehen vom Selbstbestimmungsrecht des Opfers – ein triftiges Argument, das sich für die einschlägigen Fälle der Grundentscheidung des § 216 (Unantastbarkeit fremden Lebens) entgegenhalten ließe (im Falle der riskanten Operation: die langfristige Überlebenschance des Patienten). — Zu der Gestaltung, dass ein Garant es fahrlässig unterlässt, Taten nach (unproblematisch) § 216 zu verhindern, Roxin FS Schreiber, S. 399 ff, der die Strafbarkeit verneint; gegen ihn Herzberg NStZ 2004 1, 8. 6. Zum Tatbestand rechnet die herrschende Lehre seit Welzel191 auch einen subjekti- 137 ven Tatbestand in Form besonderer Absichten des Täters, anderer geistiger oder seelischer Merkmale und vor allem in Form des Vorsatzes.192 In Bezug auf den Vorsatz ist die Rechtsprechung zwar zumindest früher terminologisch und theoretisch abgewichen,193 doch ohne Wirkung auf die Ergebnisse (allgemeine Einschätzung, Herzberg FS BGH 50, S. 51, 52 f; Kindhäuser AT § 13 Rdn. 4; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 205). Die herrschende Lehre hat ihren Grund in der Überzeugung, dass der Vorsatz schon zum Unrecht gehöre und nicht erst zur Schuld: Wenn der Vorsatz zum Unrecht gehört, muss er zum Tatbestand gehören. Dass der Vorsatz zum Unrecht gehört, ist Teil von Welzels personaler Unrechtsleh- 138 re (nach der neben dem Vorsatz noch besondere Eigenschaften des Täters bei den Sonderdelikten zur personalen Seite des Unrechts zu zählen sind, Jescheck LK11 Rdn. 44). Für die Zugehörigkeit eines subjektiven Tatbestandes zum Unrecht führt man drei Argumente an. Zum einen entscheide vielfach erst eine Absicht des Täters, ob er überhaupt Unrecht verwirkliche. In allgemeiner Form hat das schon zu Dohna behauptet (S. 19): Ein Stich ins Fleisch habe eine andere Bedeutung je nachdem er verletzen solle oder heilen. Ein und dieselbe Manipulation könne einwandfreie ärztliche Untersuchung sein oder eine strafbare unzüchtige Handlung. Das stimmt aber nicht. Wenn der Arzt eine schmerzhafte Rückenmarksspritze setzt, aber mit Einwilligung, kunstgerecht und indiziert, dann ist es gleichgültig, ob er das tut, weil er helfen möchte oder weil er sich an den Schmerzen des Patienten weidet; das ganze ist eine Heilbehandlung und kein Delikt. Wenn ein Frauenarzt kunstgerecht untersucht, mit Einwilligung und indiziert, dann ist es gleichgültig, ob ihn das erregt oder nicht; er erfüllt seine ärztliche Pflicht und keinen Tatbestand. Und wenn ein Arzt vorhat, bei einer Operation tiefer zu schneiden als nötig oder den Patienten verbluten zu lassen, dann ist das erst mit dem Millimeter keine Heilbehandlung mehr und tatbestandsmäßig, der tiefer ist als nötig, oder in dem Moment, in dem der Arzt etwas unterlässt, wozu ihn die Lex artis verpflichtet. Umgekehrt stimmt es nicht, dass sexuelle Handlungen nach §§ 174 ff schon begrifflich „von einer subjektivwollüstigen Tendenz getragen“ sein müssten.194 Das geht schon daraus hervor, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern (jetzt §§ 176 ff) auch darin bestehen kann, die Kinder

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191 ZStW 58 (1939) 490, 507; JuS 1966 421 ff; Strafrecht, S. 61 f. 192 Haft JuS 1980 588, 589; Joecks MK § 16 Rdn. 5; Roxin AT I § 10 Rdn. 62 ff; Stratenwerth/Kuhlen § 8 Rdn. 57; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 199 ff; weitere Nachweise bei Sch/Schröder/Eisele Rdn. 52 f; aA Spendel FS Bockelmann, S. 245, 252; ders. FS Tröndle, S. 89, 100, 104 ff (der Vorsatz sei zwar Teil des subjektiven Tatbestandes, dieser umfasse aber auch das tatsächliche oder potentielle Unrechtsbewusstsein und sei erst nach dem Unrecht zu prüfen). 193 BGHSt 39 100, 103 = JR 1994 37 m. Anm. Welp; BGH StV 1997 8, 9; BGH NStZ 1994 483, 484. 194 So aber Roxin AT I § 10 Rdn. 8; ähnlich Stratenwerth/Kuhlen § 8 Rdn. 54 („Bewußtsein des sexuellen Bezuges“).

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unter falschen Behauptungen zu sexuellen Handlungen zu bringen und dass diese Kinder sich dann oft eines sexuellen Bezuges ihres Tuns nicht bewusst sind geschweige denn wollüstig handeln (vgl. etwa BGH NStZ 2006 394 Rdn. 1–3: Veranlassung eines Kindes, die Geschlechtsteile in objektiv aufreizender Weise für ein Foto zu entblößen). Bezogen auf bestimmte Delikte findet sich das Absichts-Argument auch in der aktu139 ell herrschenden Lehre. Jene Delikte sind einmal die Absichtsdelikte, stellvertretend der Diebstahl.195 Für sie ist offensichtlich, dass sie ein subjektives Element bedingen, dem ein objektiver Gegenstand fehlt. Dieses subjektive Element kann auch nicht reine Schuld sein ohne Unrechts-Pendant, denn Schuld muss sich mit jedem ihrer Quanten auf Unrecht beziehen (zur verfehlten Lehre von den speziellen Schuldmerkmalen Rdn. 176 f). Wenn man daher mit dem herrschenden Verbrechensmodell Unrecht und Schuld kategorisch trennt, muss die Absicht schon zum Unrecht gehören. Allerdings fragt sich, ob man wirklich so kategorisch trennen muss oder auch nur kann (näher T. Walter Kern des Strafrechts, S. 83 ff, 116 f). Außerdem beruft man sich auf Delikte mit sogenannten finalen Tätigkeitswör140 tern, das sind Tätigkeitswörter, die Vorsatz implizieren, etwa „vorspiegeln“ in § 263, „dem Wilde nachstellen“ in § 292 oder „verfälschen“ in § 267.196 Jedoch verklammern diese Wörter das Objektive mit dem Subjektiven bloß sprachlich. Sachlich bleibt beides sauber geschieden, und die nur sprachliche Verklammerung ist verbrechenssystematisch ohne Belang. Löst man die sprachliche Klammer, zerfällt das „Vorspiegeln“ zum Beispiel in das Äußere eines unrichtigen Anlageprospekts und in das Innere der Kenntnis des Täters von der Unrichtigkeit. Das „Verfälschen“ teilt sich zum Beispiel in das Äußere eines Praktikanten, der auf Weisung des zuständigen Beamten im Grundbuch einen Fehler berichtigt, nachdem die Eintragung abgeschlossen ist und ohne die Berichtigung als solche auszuweisen, und in das Innere der Kenntnis des Praktikanten davon, dass er das Grundbuch vor sich hat, dass die Eintragung abgeschlossen ist und dass nach diesem Zeitpunkt verdeckte Änderungen unzulässig sind, selbst wenn sie einen Fehler beseitigen (für die h.M. Lackner/Kühl/Heger § 267 Rdn. 21 m.w.N.). In finalen Tätigkeitswörtern können sich auch Absichtsdelikte verbergen, so bei der Jagdwilderei (§ 292) in der Fügung „dem Wilde nachstellen“. Löst man die sprachliche Klammer des „Nachstellens“, zerfällt der Begriff in das Äußere zum Beispiel einer Person, die mit geladener Waffe einen Forst durchstreift, und in das Innere der Kenntnis der Person hiervon sowie der besonderen Absicht, Wild zu erlegen. Weil die finalen Tätigkeitswörter lediglich sprachlich verklammern, stimmt es auch nicht, dass sie es unmöglich machten, objektiven und subjektiven Tatbestand restlos zu trennen.197 Vielmehr ist es in der Sache problemlos durchzuhalten, dass der subjektive Tatbestand die Vorstellungswelt des Täters ist und der objektive Tatbestand alles, was außerhalb dieser Vorstellungswelt liegt, also alle äußeren Tatsachen und inneren Tatsachen anderer. Den zweiten Beweis dafür, dass der Vorsatz zum Unrecht gehöre, sieht man darin, 141 dass er den Unrechtstyp bestimme.198 Es mache schon für diesen Typ einen entscheidenden Unterschied aus, ob eine Handlung vorsätzlich oder nur fahrlässig zum Erfolg

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195 Vgl. Jescheck/Weigend § 22 III 2b (S. 206); Roxin AT I § 10 Rdn. 8, 66, 70; Sch/Schröder/Eisele Rdn. 54. Allgemein zu den Absichtsdelikten Schroeder FS Lenckner, S. 333 ff; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 197. 196 Roxin AT I § 10 Rdn. 8, 53, 65; Sch/Schröder/Eisele Rdn. 54; Stratenwerth/Kuhlen § 8 Rdn. 45, 54; Welzel Strafrecht, S. 36, 60; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 199. 197 So aber Jescheck/Weigend § 27 I 1; Roxin AT I § 10 Rdn. 53; Sch/Schröder/Eisele Rdn. 62. 198 Haft JuS 1980 588, 589; Roxin AT I § 10 Rdn. 9, 63, 70; ders. Kriminalpolitik, S. 21 f; Sch/Schröder/Eisele Rdn. 54; Tiedemann Anfängerübung, S. 115, 120; wohl auch Stratenwerth/Kuhlen § 8 Rdn. 64 („elementarer Unterschied“).

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führe. Das ist ein Zirkelschluss. Ob der Vorsatz den Unrechtstyp berührt, lässt sich erst sagen, wenn feststeht, was zum Unrecht gehört – worum es gerade geht. Ebenso gut ließe sich sagen, der Vorsatz ändere den Verbrechenstyp, für den auch die Schuldform eine Rolle spiele. Ähnlich verhält es sich mit dem dritten Argument der personalen Unrechtslehre, 142 dem Versuch; dort gehöre der Vorsatz zum Unrecht, und dann könne es beim vollendeten Delikt nicht anders sein.199 Das ist wiederum folgerichtig, wenn man mit dem herrschenden Verbrechensmodell Unrecht und Schuld kategorial trennt. Aber es gibt keinen zwingenden Grund, dies zu tun. Und wenn man sie in einer Kategorie zusammenfasst, erledigt sich automatisch jede Frage nach einer personalen (Nur-)Unrechtslehre. Nach einem Teil der Lehre gibt es subjektiv gefasste Merkmale, die kein Teil des sub- 143 jektiven Tatbestandes sind, sondern sogenannte spezielle Schuldmerkmale. Die Lehre von diesen Merkmalen ist abzulehnen, näher Rdn. 176 f. V. Die Rechtswidrigkeit 1. Die formelle Rechtswidrigkeit bezeichnet im herrschenden Sprachgebrauch 144 nicht dasselbe wie das Unrecht.200 Das Unrecht oder auch die materielle Rechtswidrigkeit steht für das unrechte Verhalten selbst und lässt sich nach Art und Schwere abstufen. Die (formelle) Rechtswidrigkeit steht als einheitliches Prädikat für einen Verstoß gegen die Rechtsordnung, ganz gleich gegen welche ihrer Normen. Beide bedingen sich; das Unrecht ist stets rechtswidrig, und dies Prädikat kann auch nur an etwas haften, das Unrecht ist. Daher spielt der Unterschied kaum eine Rolle. Erheblich wird er für § 17. Dort fragt sich, ob die Formulierung der „Einsicht, Unrecht zu tun“, wörtlich zu nehmen sei oder ob sie soviel bedeute wie die Einsicht, rechtswidrig zu handeln. Die Antwort der herrschenden Meinung ist uneinheitlich. Einerseits hält man das Unrechtsbewusstsein für teilbar und versteht § 17 also wörtlich;201 denn nur das Unrecht im engeren Sinne lässt sich der Art nach auffächern, und das gilt automatisch auch für das zugehörige Bewusstsein. Andererseits meint vor allem die Rechtsprechung,202 das Unrechtsbewusstsein bezüglich des Grunddelikts begründe Unrechtsbewusstsein auch bezüglich einer Qualifikation. In der Schwere abstufbar soll das Unrecht im Unrechtsbewusstsein nach § 17 demzufolge nicht sein; das wird aber vom Schrifttum stark bestritten.203 2. Die Rechtswidrigkeit entfaltet ihre Bedeutung im geltenden Recht in dem Begriff 145 der rechtswidrigen Tat. Eine solche Tat ist nach dem Wortlaut des Gesetzes Voraussetzung von Anstiftung und Beihilfe (§§ 26, 27), von Maßnahmen (§ 11 Abs. 1 Nr. 8), das heißt von Maßregeln (§§ 61 ff), Einziehung und Unbrauchbarmachung (§§ 73 ff), von An-

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199 Frisch in Eser (et al.), Rechtfertigung und Entschuldigung III S. 217, 266; Haft JuS 1980 588, 589; Roxin AT § 10 Rdn. 64; ders. Kriminalpolitik, S. 21 f; Sch/Schröder/Eisele Rdn. 54; Tiedemann Anfängerübung, S. 115, 120; Welzel Strafrecht, S. 60; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 199. Im Ergebnis auch Herzberg FS BGH 50, S. 51, 58. 200 Hirsch LK11 Vor § 32 Rdn. 11; Jescheck/Weigend § 24 I 1 (S. 233); Arthur Kaufmann FS Lackner, S. 185, 187 f; ders. Die Parallelwertung in der Laiensphäre (1982) S. 8 ff; Lackner/Kühl/Kühl Rdn. 18; Perron S. 54 Fn. 54; Roxin AT I § 14 Rdn. 3; Sch/Schröder/Eisele Vor § 13 Rdn. 51. 201 BGHSt 22 314, 318; Neumann FS BGH 50, S. 83, 97; Roxin AT I § 21 Rdn. 16; Tiedemann Tatbestandsfunktionen, S. 303. Näher T. Walter Kern des Strafrechts, S. 306 f m.w.N. 202 BGHSt 42 123, 130; 15 377, 383; 10 35, 42; 8 321, 324; ebenso Neumann FS BGH 50, S. 83, 98 f, wenn die Qualifikation das Unrecht nur quantitativ steigere; zust. Sch/Schröder/Sternberg-Lieben/Schuster § 17 Rdn. 8. 203 Joecks MK § 17 Rdn. 17 f; Maurach/Zipf § 38 Rdn. 41; Roxin AT I § 21 Rdn. 17; Rudolphi SK § 17 Rdn. 8 f.

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schlussdelikten (§§ 257 ff: Begünstigung, Strafvereitelung, Hehlerei, Datenhehlerei, Geldwäsche) und ist Voraussetzung einer Strafbarkeit wegen Vollrausches nach § 323a. Das Gesetz definiert den Begriff der rechtswidrigen Tat in § 11 Abs. 1 Nr. 5. Danach muss sie den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklichen. Das ist lediglich eine Mindest- und Teildefinition. Weiter wollte der Gesetzgeber nicht gehen, um jede verbrechenssystematische Festlegung zu vermeiden (BT-Drs. 7/550, S. 211). Die herrschende Meinung, vor allem die Praxis nutzt diese Freiheit, um den Begriff der rechtswidrigen Tat im Gesetz weiter zu verstehen als in der allgemeinen Lehre vom Verbrechen, indem sie für ihn auf den Vorsatz verzichtet (Fischer § 63 Rdn. 7, § 64 Rdn. 13; weitere Nachw. bei T. Walter Kern des Strafrechts, S. 210). Das erleichtert das Verhängen von Maßnahmen und die Bestrafung wegen Vollrausches, wenn als Anlass- beziehungsweise Rauschtat nur ein Vorsatzdelikt in Betracht kommt, aber eine Geisteskrankheit beziehungsweise der Rausch des Täters zweifelhaft macht, ob er zu der geistigen Leistung des Vorsatzes überhaupt in der Lage gewesen sei. Für die Teilnahme indes bestimmen §§ 26, 27 ausdrücklich, dass die rechtswidrige (Haupt-)Tat auch eine vorsätzliche sein muss. Für die Anschlussdelikte kommen zwar durchweg auch Fahrlässigkeitstaten in Frage. Soweit jedoch ein Vorsatzdelikt in Rede steht, verlangt man überwiegend, dass der Vortäter auch tatsächlich mit Vorsatz gehandelt hat (Lackner/Kühl/Kühl § 259 Rdn. 4; Sch/Schröder/Stree/Hecker § 259 Rdn. 19; je m.w.N.). Unter dem Strich ist das Verständnis des Begriffes der rechtswidrigen Tat also von Praktikabilitätserwägungen geprägt, uneinheitlich und ohne festen Bezug zur allgemeinen Verbrechenslehre. Zu einem Gegenkonzept T. Walter Kern des Strafrechts, S. 207 ff. 146

3. Vom Unrecht hat sich die herrschende Dogmatik einen objektiven Begriff gemacht. Ahnherr dieser Entwicklung war Rudolf von Jhering mit seinem Werk „Das Schuldmoment im römischen Privatrecht“ (1867), dessen Gedanken sich die Strafrechtsdogmatik alsbald zu eigen machte.204 Der objektive Unrechtsbegriff bedeutet zunächst, dass logisch betrachtet das Unrecht der Schuld vorausgehen und von ihr unabhängig sein muss.205 Außerdem werden Unrecht und Rechtswidrigkeit ganz unabhängig von menschlichem Verhalten und menschlichem Vermögen, wie folgendes Zitat von Mezger Strafrecht, S. 164 zur Unrechtsbewertung prägnant belegt: „Gegenstand dieser rechtlichen Bewertung kann alles sein: das Verhalten handlungsfähiger und handlungsunfähiger, schuldfähiger und schuldunfähiger Menschen, das Verhalten anderer Lebewesen, Ereignisse und Zustände der Umwelt […]. Insbesondere gibt es auch rechtmäßige und rechtswidrige Zustände.“ Zu verständigen Ansprechpartnern des Rechts werden auf diesem Wege auch die Insassen einer geschlossenen Anstalt und die freie Natur. Ein solches begriffliches Konzept kann kaum überzeugen. Überzeugender wäre es, das Prädikat von Unrecht und Rechtswidrigkeit dem Verhalten zurechnungs- und steuerungsfähiger Menschen vorzubehalten. Und noch besser wäre es, auch das Unrechtsbewusstsein in den Unrechtsbegriff einzubeziehen (näher T. Walter Kern des Strafrechts, S. 81 ff, 201 ff; für eine Zusammenfassung der Kategorien von Unrecht und Schuld auch Pawlik S. 257 ff, 280 f m.w.N. auch zur Dogmengeschichte). Übrigens passt der objektive Unrechtsbegriff

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204 Mezger Strafrecht, S. 164; Nagler FS Binding II, S. 273 ff. Näher von der Linde S. 48 ff. 205 Für die h.M. Haft JuS 1980 588, 589; Armin Kaufmann FS Welzel, S. 393, 396 Fn. 4; Kindhäuser AT § 6 Rdn. 2 ff; Roxin AT I § 10 Rdn. 93; Stratenwerth/Kuhlen § 7 Rdn. 20. Im Ergebnis auch Rath, der zwar Unrecht „in einem eigentlichen, strengen Sinn“ ohne Schuld ausschließt (Rechtfertigungselement, S. 491), diese Schuld dann aber für den Begriff des Unrechts „präsumieren“ will (am angegebenen Orte S. 526 ff, 651). Anders die personale Straftatlehre von Freund MK Rdn. 14, 27, 247. Anders auch von der Linde S. 291 f und öfter, der Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe in einer Kategorie zusammenfassen will.

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von Jherings nicht einmal für das Zivilrecht, für das von Jhering ihn entworfen hatte, denn keineswegs lässt sich dort jeder Sachverhalt, der einen Anspruch gibt, als Unrecht bezeichnen, und keineswegs perpetuiert der Inhaber eines Anspruches Unrecht, solange er es unterlässt, den Anspruch unverzüglich durchzusetzen. 4. In der strafrechtlichen Beurteilung eines Falles kommt die Kategorie der Rechts- 147 widrigkeit fast nur unter negativem Blickwinkel ins Spiel, nämlich beim Prüfen etwaiger Rechtfertigungsgründe. Lediglich für die Nötigung (§ 240), die Zwangsheirat (§ 237) und die Erpressung (§ 253), nach herrschender Ansicht206 auch für die Wählernötigung (§ 108) ist die Rechtswidrigkeit noch positiv zu begründen, obschon objektiver und subjektiver Tatbestand bereits festgestellt sind; hierzu müssen die Mittel der Nötigung – Gewalt oder Drohung – im Verhältnis zu ihrem Zweck als verwerflich einzustufen sein. a) Die Wirkung der Rechtfertigungsgründe unterscheidet sich von derjenigen ande- 148 rer entlastender Gesichtspunkte dadurch, dass ein Rechtfertigungsgrund das fragliche Verhalten insgesamt, das heißt in der gesamten Rechtsordnung rechtens macht und sich nicht auf das Strafrecht beschränkt (aA Schmid S. 103 f). Eine sittlich positive Bewertung muss damit aber nicht verbunden sein (Freund MK Rdn. 194). Die Wirkung in der gesamten Rechtsordnung ist zugleich das Kriterium, mit dem eine entlastende Regelung als Rechtfertigungsgrund oder Nicht-Rechtfertigungsgrund eingestuft werden muss. Demgegenüber unterscheiden Günther S. 253 ff (und öfter) und sein Schüler Fortun S. 134 ff Rechtfertigungsgründe von „Strafunrechtsausschließungsgründen“, das sind herkömmlich so bezeichnete Rechtfertigungsgründe, die nach Günthers und Fortuns Ansicht lediglich das Strafunrecht beseitigen und das Verhalten im Übrigen rechtswidrig lassen (teilweise zust. Roxin AT I § 14 Rdn. 37; Stratenwerth/Kuhlen § 7 Rdn. 21). Allerdings sind sich Günther und Fortun über die Abgrenzung der beiden Vorschriftengruppen im Einzelnen nicht ganz einig.207 Ihre Ansicht ist dessen ungeachtet mit der herrschenden Meinung abzulehnen (Sch/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vor § 32 Rdn. 8). Erfasst eine entlastende Regelung ihrem Wortlaut nach die gesamte Rechtsordnung und erklärt das Verhalten etwa wie die §§ 32, 34 für „nicht rechtswidrig“ oder stellt den Handelnden wie § 37 „von jeder Verantwortlichkeit frei“, so hat man das zunächst ernst zu nehmen. Und selbst wenn man einer solchen Vorschrift keine außerstrafrechtliche Wirkung beilegen will – die Wortlautschranke lässt sich außerstrafrechtlich übersteigen –, so ist das systemkonform möglich, indem man die Vorschrift als Ausschluss des Tatbestandes oder als Strafausschließungsgrund auffasst. Das erlaubt auch Art. 103 Abs. 2 GG (Rdn. 52). Kein Gegenargument ist jedoch das herrschende Dogma von der Einheit der 149 Rechtsordnung, dem zufolge es einen „auf den Binnenbereich des Strafrechts beschränkten Unrechtsausschluss, bei dem das fragliche Verhalten im Übrigen rechtswidrig bleibt, […] nicht geben“ kann.208 Eine Einschränkung erleidet dieser Grundsatz schon,

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206 Lackner/Kühl/Kühl § 108 Rdn. 3; Sch/Schröder/Eser § 108 Rdn. 6; Fischer § 108 Rdn. 5 (vorsichtig: „kann § 240 II herangezogen werden“); aA Bauer/Gmel LK § 108 Rdn. 5 m.w.N. 207 Nach Günther sind Rechtfertigungsgründe etwa § 32 (anders Fortun S. 139 f) und § 34; bloße Strafunrechtsausschließungsgründe §§ 193, 218a Abs. 2, § 240 Abs. 2, der Nötigungsnotstand, die notstandsähnliche Lage, das Züchtigungsrecht, die Pflichtenkollision und die Einwilligung. Fortun S. 141 ff zählt hierher noch die rechtswidrige und die rechtmäßige, aber zwingend zurückzunehmende Genehmigung (sofern sie noch nicht den Tatbestand ausschließt). 208 Sch/Schröder/Lenckner (28. Aufl.) Vor § 32 Rdn. 8; in der Sache weiterhin Sch/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vor § 32 Rdn. 9 a. E.; ebenso etwa BVerfGE 88 203, 273 (zweites Abtreibungsurteil) (vgl. Fn. 56); Jescheck/Weigend § 31 III 1 (S. 327) und bereits Beling S. 169. Grundlegend Engisch Die Einheit der Rechtsordnung (1935).

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sofern disziplinarisch auch ein Verhalten zu ahnden ist, das im Strafrecht gerechtfertigt wird (siehe Jakobs AT 11/6). Man erklärt das damit, dass es jeweils um ein anderes Rechtsgut gehe (Jescheck/Weigend § 31 III 1 [S. 327 Fn. 20]). Eine zweite Einschränkung folgt daraus, dass die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe schon im Strafrecht überwiegend tatbestandsgebunden sind (Rdn. 152). Am bemerkenswertesten ist aber der axiologische Widerspruch besagten Dogmas zum akzessorischen und fragmentarischen Charakter des Strafrechts. Wenn die Rechtswidrigkeit nach sonstigem Recht keine Strafrechtswidrigkeit erzwingt, müsste es Rechtfertigungsgründe geben können, die sich auf das Strafrecht beschränken. Es trifft zwar zu, dass die Rechtfertigungsgründe des übrigen Rechts in das Strafrecht wirken müssen. Das folgt aber nicht aus der „Einheit der Rechtsordnung“, sondern daraus, dass sich das Strafrecht an außerstrafrechtliche Verbote anlehnen muss; wo ein außerstrafrechtlicher Rechtfertigungsgrund existiert, fehlt ein solches Verbot. Aber der Schluss in die andere Richtung ist unzutreffend. Keineswegs kann „die Frage nach der Rechtmäßigkeit einer Handlung […] für alle Rechtsgebiete nur einheitlich beantwortet werden“.209 Das Fragmentarische des Strafrechts tut gerade das Gegenteil. Und daher ist es bemerkenswert, dass die Rechtfertigungsgründe des Strafrechts auch außerstrafrechtlich wirken sollen. Denn welchen Anlass hat ein akzessorisches Strafrecht, über seine Grenzen hinauszuwirken? Wenn es aber auch nicht die geborene Aufgabe des Strafrechts ist, außerstrafrechtlich Rechtfertigungsgründe zu schaffen, so ist dies weder dem Strafgesetzgeber noch der Strafrechtsprechung von vornherein verwehrt. Maßstab der Zulässigkeit sind die Regeln des Grundgesetzes über die Zuständigkeit für die Gesetzgebung und die Regeln des Gerichtsverfassungsgesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung (Rdn. 5). – Dass eine strafrechtliche Rechtfertigung anders als ein Tatbestandsmangel im sonstigen Recht Folgen hat, erzwingt aber nicht, wie Roxin meint (AT I § 10 Rdn. 21), den dreistufigen Verbrechensaufbau. Denn man könnte in einem zweistufigen Verbrechensaufbau ohne Weiteres unterscheiden zwischen solchen Tatbestandsausschlüssen, die außerstrafrechtlich ohne Belang sind, und anderen. Da dieser Unterschied im Strafrecht jedenfalls keine Bedeutung hat, kann er dort auch keine kategoriale Differenzierung erzwingen. 150 Wenn folglich § 218a Abs. 2 bestimmt, die medizinisch-sozial indizierte Tötung der Leibesfrucht sei „nicht rechtswidrig“, so ist das mangels entgegenstehender Auslegungsgründe auch außerstrafrechtlich zu beachten: Die Abtreibungsverträge mit den Ärzten sind zivilrechtlich wirksam und von der Sozialversicherung grundsätzlich gedeckt. Das erlaubt es auch, § 218a Abs. 1 beim Wort zu nehmen und also als Tatbestandsausschluss einzuordnen. Hiergegen wendet Eser den Fall ein, dass die Schwangere sich hat beraten lassen und die Abtreibung zugleich nach § 218a Abs. 2 indiziert ist (Sch/Schröder/Eser § 218a Rdn. 17); nehme man Absatz 1 als Tatbestandsausschluss, fehle der Rechtfertigung nach Absatz 2 die Grundlage, und die Schwangere werde unbillig um Wohltaten gebracht, welche die Rechtfertigung mit sich bringe (es sind dies vor allem die Leistungsansprüche nach dem Versicherungs- und Sozialrecht). Wenn eine Rechtfertigung des Strafrechts aber auch außerstrafrechtlich wirkt, braucht sie keineswegs einen Straftatbestand als Widerpart, sondern kann sich auch gegen Rechtssätze ausschließlich im Bürgerlichen, Versicherungs- oder Sozialrecht wenden.

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209 So aber Lackner/Kühl/Kühl Rdn. 17. Siehe schon Welzel Strafrecht, S. 52: „Was in einem Rechtsgebiet rechtswidrig ist, ist es auch in dem anderen.“ Hiergegen schon umfassend und überzeugend Bumke Relative Rechtswidrigkeit (2004), insbesondere S. 37 ff, 95 ff.

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Ebenso ist § 8 TMG (früher § 9 TDG) nicht, wie die wohl herrschende Ansicht 151 meint,210 ein „Vorfilter“ außerhalb des Verbrechenssystems und auch weder ein Tatbestandsausschluss (so aber zu einer Vorgängernorm Kudlich JA 2002 798 ff m.w.N.) noch ein Strafausschließungsgrund (so aber zu einer Vorgängernorm Heghmanns JA 2001 71, 78) oder ein Schuldausschließungsgrund (so aber zu einer Vorgängernorm LG München I CR 2000 117, 119 m. Anm. Moritz).211 Vielmehr rechtfertigt diese Vorschrift, da sie unstreitig auf allen Rechtsgebieten von einer Haftung für Inhalte des Internets befreit, solange jemand nur den Zugang zum Internet eröffnet oder dessen Nutzung ermöglicht, ohne die fraglichen Daten zu speichern („Access- und Networkprovider“). b) Die Rechtfertigungsgründe des Strafrechts sind überwiegend tatbestandsge- 152 bunden; sie rechtfertigen ein Verhalten nicht schlechthin, sondern nur mit Blick auf bestimmte Tatbestände. Zum einen gibt es allgemeine Tatbestandsbindungen. So schlägt die Einwilligung nur Tatbestände aus dem Felde, die ein disponibles Rechtsgut schützen, und § 34 wird von §§ 228, 904 BGB verdrängt, wo es um Tatbestände geht, die eine Sacheinwirkung zum Gegenstand haben. Zum anderen gibt es Tatbestandsbindungen im Besonderen Teil. Dessen Rechtfertigungsgründe – und die des Nebenstrafrechts – sind allesamt tatbestandsgebunden: – § 109g Abs. 4 Satz 2212 gilt nur für § 109g, – § 139 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2213 gelten nur für § 139, – § 193 wirkt nur bei den Tatbeständen zum Schutze der Ehre (14. Abschnitt des StGBs), nicht zum Beispiel in Bezug auf eine falsche Verdächtigung (§ 164),214 – § 201 Abs. 2 Satz 3 bezieht sich allein auf Taten nach Satz 1 Nr. 2, – § 218a Abs. 2 und 3 beziehen sich nur auf die Abtreibung, – § 22 Abs. 1 Wehrstrafgesetz (WStG) gilt nur für die §§ 19 bis 21 jenes Gesetzes; – soweit man eine verwaltungsrechtliche Erlaubnis als Rechtfertigung auffasst (Rdn. 53), gilt sie nur für den gesetzlichen Straftatbestand, der ihr Fehlen als negatives Merkmal nennt. Solche Besonderheiten müssen sich außerhalb des Strafrechts fortsetzen. Dort kön- 153 nen die Rechtfertigungsgründe des Strafrechts die Rechtswidrigkeit nur insoweit beseitigen, wie sie aus Vorschriften folgt, deren Tatbestände den betroffenen Straftatbeständen vergleichbar sind (Sch/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vor § 32 Rdn. 27). Vergleichbar heißt, dass sie nach Schutzgut und Angriffsweise artgleiches Unrecht beschreiben. Der Begriff ist mithin so zu bestimmen wie die Tatbestandskontinuität bei § 2 Abs. 3 (milderes oder anderes Gesetz?).215

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210 So zur Vorgängernorm des § 9 TDG der Bundesrat in seiner Stellungnahme, s. BT-Drs. 13/7385, S. 51; ebenso Moritz CR 2000 119, 120; Sieber Verantwortlichkeit im Internet (1999) S. 114 ff; weitere Nachweise bei Heghmanns JA 2001 71, 76 Fn. 44. 211 Weitere Anm./Bspr.: Barton K&R 2000 195; Heghmanns ZUM 2000 463; Kühne NJW 2000 1003; Vassilaki NStZ 2000 535. 212 Eine Rechtfertigung ist nach h.M. zumindest die befugt erteilte Erlaubnis, siehe Lackner/Kühl/Kühl § 109g Rdn. 4. 213 Nach h.M. Rechtfertigungsgründe, für die h.M. Hanack LK11 § 139 Rdn. 13, 31; Lackner/Kühl/Kühl § 139 Rdn. 2 m.w.N.; Fischer § 139 Rdn. 4. 214 RGSt 74 257, 261; Jescheck/Weigend § 31 III 1 (S. 327); Sch/Schröder/Lenckner/Eisele § 193 Rdn. 3 (ganz h.M.). 215 Grundlegend Tiedemann FS Peters, S. 193, 202 ff, 207 („wenn die Unrechtstypen [Rechtsgut und Angriffsweise] im wesentlichen identisch sind“); eingehend Dannecker Das intertemporale Strafrecht (1993) S. 502 ff mit zahlreichen Nachweisen.

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Rechtfertigungsgründe können unstreitig auch außerhalb des Strafrechts normiert sein, im Gesetz oder durch Richterrecht. In beiden Fällen sind sie in der Regel wieder tatbestandsgebunden und kommen schon von den geregelten Sachverhalten her nur für bestimmte Straftatbestände infrage. Namentlich gilt dies für die zahlreichen Eingriffsbefugnisse des Verwaltungs- und des Polizeirechts. In der Rechtswirklichkeit sind diese außerstrafrechtlichen Rechtfertigungsgründe wesentlich häufiger wirksam als die klassischen Rechtfertigungsgründe des Strafrechts. Gleichwohl spielen sie in der Strafrechtsdogmatik kaum eine Rolle und fristen unter der Überschrift „Amtsrechte“ in den Lehrbüchern ein vernachlässigtes Dasein. Das dürfte für die Praxis eine falsche Gewichtung sein. Zur verwaltungsrechtlichen Genehmigung Rdn. 53.

c) Die Rechtfertigung erfordert nach herrschender Meinung zumindest beim Vorsatzdelikt einen objektiven und einen subjektiven Erlaubnistatbestand (zur Rechtfertigung der fahrlässigen Tat Rönnau LK13 Vor § 32 Rdn. 81; Roxin AT I § 24 Rdn. 98 ff). Demnach kann sich zum Beispiel auf Notwehr nur berufen, wer sich im Zeitpunkt seiner Tat des Angriffs auf sich auch bewusst gewesen ist. Fehlt der subjektive Rechtfertigungstatbestand, ist das nach zutreffender herrschender Meinung ein Versuch oder zumindest analog § 22 zu behandeln.216 Eine Minderheit nimmt dann aber Straflosigkeit an und verlangt mithin keinen subjektiven Erlaubnistatbestand (Spendel LK11 § 32 Rdn. 138; i. Erg. auch Rath Rechtfertigungselement, S. 631 ff). Die früher herrschende Meinung ging sogar von Vollendung aus.217 Ausführlich Rönnau LK Vor § 32 Rdn. 82 ff. Dort Rdn. 93 f auch zur gewissenhaften Prüfung als Teil des subjektiven Erlaubnistatbestandes. Außerdem verlangt die subjektive Seite der Rechtfertigung nach herrschender Mei156 nung noch den Willen oder die Absicht, das Recht auszuüben und das bedrohte Interessen zu wahren, also ein Handeln zu subjektiv guten Zwecken.218 Bei der Notwehr nennt man das „Verteidigungswillen“. Eine Minderheit begnügt sich damit, dass der Handelnde die rechtfertigenden Umstände kennt.219 Günther wollte sogar ausreichen lassen, dass der Handelnde diese Umstände für möglich hält (SK Vor § 32 Rdn. 90). Zu solchen Erlaubnistatbestandszweifeln T. Walter Kern des Strafrechts, S. 341 ff. Sie stehen dem vollen Rechtfertigungsbewusstsein nicht gleich. Auf der anderen Seite ist für das subjektive Rechtfertigungselement im Grundsatz nicht mehr als ein solches Bewusstsein zu verlangen. Ausgewählte Rechtfertigungsgründe hingegen setzen eine besondere Absicht des Handelnden voraus. Hierzu gehören in erster Linie die „unvollkommen zweiaktigen“ Rechtfertigungsgründe (Sch/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vor § 32 Rdn. 98), bei denen der Handelnde eine Zweithandlung anstreben muss. Teils muss er das in jedem Fall; so bei der vorläufigen Festnahme nach § 127 Abs. 1 StPO, die darauf gerichtet zu sein hat, den Festgenommen den Behörden zu überstellen. Teils kommt es auf die Lage im Einzelfall an, so bei § 34 (näher T. Walter Kern des Strafrechts, S. 98 ff). Eine Minderheit ist der Ansicht, es rechtfertige den Täter schon, wenn er den Er157 laubnistatbestand ex ante habe annehmen dürfen – auch wenn er objektiv nicht vorgelegen habe (Schlehofer MK Vor § 32 Rdn. 78 f). Mit anderen Worten verzichtet diese An155

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216 KG GA 1975 213, 215; Hillenkamp LK12 § 22 Rdn. 200; Jescheck/Weigend § 31 IV 2 (S. 330); Roxin AT I § 14 Rdn. 104; Sch/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vor § 32 Rdn. 15; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 406. 217 BGHSt 2 111, 114; Gallas FS Bockelmann, S. 155, 177; Gössel FS Triffterer, 93, 99; Hirsch LK11 Vor § 32 Rdn. 59, 61; Schmidhäuser AT 6/24 f. 218 BGHSt 11 241, 257 (Züchtigungsrecht); 5 245, 247 (Notwehr [Sünderin-Fall]); 3 194, 198 (Notwehr); 2 111, 114 (Wahrnehmung berechtigter Interessen); BGH NStZ 2000 365, 366 (Notwehr); Geppert Jura 1995 103, 104 f; Hirsch LK11 Vor § 32 Rdn. 53 ff; Jescheck/Weigend § 31 IV 1 (S. 328); Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 401. 219 Rinck S. 252 ff; Roxin AT I § 14 Rdn. 97; Sch/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vor § 32 Rdn. 14, 16.

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sicht auf einen objektiven Erlaubnistatbestand, sofern der subjektive sorgfaltsgerecht zustande kommt. In den Ergebnissen unterscheidet sich das von der herrschenden Meinung nicht hinsichtlich des Handelnden. Er bleibt straflos; für die Minderheitsansicht aufgrund einer Rechtfertigung, für die herrschende Meinung der eingeschränkten oder rechtsfolgenverweisenden eingeschränkten Schuldtheorie infolge unverschuldeten Erlaubnistatbestandsirrtums. Einen Unterschied gibt es aber je nach Notwehrdogmatik hinsichtlich desjenigen, der von der Handlung betroffen ist: Da sie nach wohl herrschender Meinung rechtswidrig bleibt, kann sich das Opfer gemäß § 32 wehren (wobei das Notwehrrecht gegenüber dem schuldlos Irrenden eingeschränkt wäre; anders [kein Notwehrrecht], wenn man für die Rechtswidrigkeit des Angriffs dergestalt einen „Verhaltensunwert“ – und nicht nur einen „Erfolgsunwert“ – verlangt, dass eine objektive Fahrlässigkeit des Angreifers nötig ist).220 Dagegen erlegt die Minderheitsansicht dem Opfer eine Duldungspflicht auf, wenn der andere über die Voraussetzungen eines Eingriffsrechtes irrt (Notwehr, Amtsrechte). Das ist nicht sachgerecht. d) Zentrale Glaubensfrage der allgemeinen Lehre vom Verbrechen ist es, ob Recht- 158 fertigungsgründe negative Tatbestandsmerkmale221 seien. Falls ja, folgt daraus im Wesentlichen ein zweistufiger Verbrechensaufbau aus Unrecht und Schuld; falls nein, bleibt es bei dem herrschenden Modell aus Tatbestandsmäßigkeit, Unrecht und Schuld. Hierzu ausführlich T. Walter Kern des Strafrechts, S. 87 ff. Frei austauschbar sind Rechtfertigungsgründe und ausdrückliche Tatbestandsausschlüsse (negative Tatbestandsmerkmale) schon deshalb nicht, weil sich die Wirkung eines Tatbestandsausschlusses auf das Strafrecht beschränkt, während der Rechtfertigungsgrund durch die gesamte Rechtsordnung schlägt (Rdn. 148 ff). Allerdings trifft es für die ausschließlich strafrechtliche Betrachtung und normtheoretisch zu, dass jeder Rechtfertigungsgrund auch die Form eines Tatbestandsausschlusses haben könnte; der Tatbestand ist eben keine eigene Wertungsstufe (Rdn. 41). Das heißt sowohl für das Gesetzlichkeitsprinzip, also die Garantien des Artikels 103 Abs. 2 GG, als auch für die Irrtumsdogmatik, dass die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen im Ergebnis zutrifft.222 VI. Die Schuld 1. Der Schuldgrundsatz besagt im Strafrecht, dass eine Strafe nur den treffen darf, 159 dem wegen der Tat ein Vorwurf zu machen ist, der also etwas „dafür kann“. Der Schuldgrundsatz hat nach allgemeiner und zutreffender Ansicht Verfassungsrang.223 Ob man ihn auch aus Art. 1 Abs. 1 GG ableitet (Garantie der Menschenwürde) oder nur aus Art. 20 Abs. 3 GG (Rechtsstaatsprinzip), spielt keine Rolle, denn in beiden Varianten ist es jeden-

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220 So etwa Roxin AT I § 15 Rdn. 14; Sch/Schröder/Perron § 32 Rdn. 21; Sinn GA 2003 96, 107 f; aA etwa Jescheck/Weigend § 32 II 1c (S. 341). 221 Diesen Begriff hat Merkel eingeführt (Lehrbuch des deutschen Strafrechts [1889] S. 82), freilich nur als eingeklammerte Definition. Ob er die gleichnamige Lehre tatsächlich vertrat, ist zweifelhaft, denn Ende des neunzehnten Jahrhunderts unterschieden längst nicht alle scharf zwischen Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld (siehe Hirsch Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen [1960] S. 30 ff; Minas-von Savigny Negative Tatbestandsmerkmale [1972] S. 1 f). Unzweifelhaft auf der Grundlage dieser Unterscheidung ausformuliert hat die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen zuerst Baumgarten S. 183. Zahlreiche Nachweise zum älteren Schrifttum bei Paeffgen S. 76 Fn. 107 und Rinck S. 309 Fn. 1. 222 So schon viele, stellvertretend Freund MK Rdn. 196 ff; Koriath Zurechnung, S. 329; Schmid S. 71, 74, 84 ff, 95; Schroth S. 117 ff; krit. Tiedemann Tatbestandsfunktionen, S. 76 Fn. 18. 223 BVerfGE 91 1, 27; Freund MK Rdn. 216; Vogel LK12 Vor § 15 Rdn. 45 m.w.N. Weitere Nachweise auch bei Hirsch ZStW 106 (1994) 746 Fn. 2.

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falls unzulässig zu bestrafen, wenn der Beschuldigte nicht einmal fahrlässig gehandelt hat. Diese Fahrlässigkeit muss sich auf alle objektiven Merkmale beziehen, die der Tatbestand als Minimum verlangt und die folglich nötig sind, um das Verhalten als Delikt bezeichnen zu können. Dass der Gesetzgeber dann immer noch in bestimmten Fällen auf eine Strafe verzichtet oder sie von zusätzlichen Umständen abhängen lässt, spielt wiederum keine Rolle. Jene Minimalforderung des Schuldgrundsatzes steht mithin nicht zur kriminalpolitischen Diskussion, sondern ist ihr vorgegeben. Das findet nicht nur im heutigen kontinentaleuropäischen Rechtsgefühl festen Halt, sondern ist auch das Ergebnis einer langen und eindeutigen strafrechtsgeschichtlichen Entwicklung. Die früheren deutschen Vorschriften, die Vogel in der Vorauflage (Vor § 15 Rdn. 20) angeführt hat, sind nicht Beleg aktueller kriminalpolitischer Alternativen, sondern überwundener Relikte der Ungerechtigkeit. Das ist längst auch der Standpunkt des französischen Rechts, das 1994 mit der Einführung des neuen Code pénal in Art. 339 des Einführungsgesetzes („loi d’adaption“) die verschuldensunabhängige Strafbarkeit der „délits materiels“ beseitigt hat und seither jeder Strafe für Verbrechen oder Vergehen („crimes ou délits“) mindestens Fahrlässigkeit voraussetzt, auch im Nebenstrafrecht. Nur für die Übertretungen („contraventions“) ist eine verschuldensunabhängige Strafbarkeit möglich, aber diese Tatbestände wären in Deutschland keine Straftaten, sondern Ordnungswidrigkeiten (für die man eine schuldgelöste Verantwortlichkeit in bestimmten Fällen erwägen mag). Lediglich in Italien erlaubt Art. 44 des Codice penale, die Strafe von ungewollten Erfolgen abhängig zu machen, und versteht man dies als Lizenz, auch schuldgelöste „objektive“ Verantwortlichkeit vorzusehen („responsabilità oggetiva“). Doch erstens kann man auch hinsichtlich ungewollter Erfolge wenigstens Fahrlässigkeit verlangen und tut dies Art. 59 Abs. 2 Codice penale in Bezug auf strafschärfende Umstände ausdrücklich – was nicht ganz harmonisch dazu passt, dass hinsichtlich strafbegründender Umstände geringere Anforderungen gelten. Zweitens steht die „responsabilità oggetiva“ auch nach Auffassung der italienischen Lehre unter verfassungsrechtlichem Druck vonseiten des Art. 27 der Costituzione della Repubblica Italiana, der seit 1947 das Schuldprinzip festschreibt (Vogel aaO Rdn. 81 f m.w.N.). Und drittens ist der Art. 44 des Codice penale im Jahre 1930 unter Federführung des faschistischen Justizministers Rocco entstanden und schon aus diesem Grund als kriminalpolitischer Leitstern nur bedingt tauglich. Überhaupt ist es nicht der Sinn von Rechtsvergleichung, einer Regelung allein deshalb Legitimität und Sachgerechtigkeit zuzusprechen, weil es sie irgendwo irgendwann einmal gegeben hat oder gibt (vgl. Rdn. 209). Das ist auch bei der Würdigung europäischer Normen zu beachten. Was allerdings 160 Art. 1 Abs. 4 des PIF-Übereinkommens betrifft, den Vogel ebenfalls angeführt hat (aaO Rdn. 21), so erlaubt diese Vorschrift zwar, den Vorsatz aus äußeren Umständen zu erschließen, zwingt aber nicht dazu und ist so lediglich ein Zugeständnis daran, dass der Richter dem Beschuldigten nicht in den Kopf schauen kann und von ihm auch keine Aussage erpressen darf, das heißt die Erlaubnis freier Beweiswürdigung, die deutschem wie ausländischem Strafprozessrecht seit der Aufklärung vertraut ist. Die Beweislastumkehr hingegen, welche die Richtlinie über Insidergeschäfte und Marktmanipulation vorsieht und auf die sich Vogel aaO gleichfalls beruft, überschreitet die Grenzen gesetzgeberischen Ermessens (T. Walter JZ 2006 340, 346 f). Sie ist kein Argument, sondern ein abschreckendes Beispiel. 161 Dass im deutschen Strafrecht „Ausweichbewegungen“ zu verzeichnen seien, um gleichsam durch die Hintertür doch zu einer objektiven Strafbarkeit zu gelangen, ist Vogel aaO Rdn. 19 nur eingeschränkt zuzugeben, und soweit es zuzugeben ist, rechtfertigt dies nicht, den Schuldgrundsatz für durchbrechbar zu halten, sondern hält umgekehrt dazu an, seine Beachtung einzufordern. So geschieht es denn auch in allen von Vogel Walter

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angeführten Fällen, und in diesen Kontroversen spiegelt sich keineswegs der Konflikt einer schwärmerischen Theorie mit einem Gesetzgeber und einer Praxis, zu deren Ergebnissen es keine praktikable Alternative gäbe: Was unsere objektiven Bedingungen der Strafbarkeit (Rdn. 181 ff) betrifft, so sind sie nur dort als Ausweichbewegungen anzusehen, wo sie an die Stelle von Tatbestandsmerkmalen treten; also dort, wo die verbleibenden Tatbestandsmerkmale nicht hinreichen, um ein Verhalten zu beschreiben, das man als Delikt bezeichnen könnte. Das ist in den §§ 186, 231 und 323a der Fall, und es mehren sich daher die Stimmen, die für die fraglichen Merkmale mindestens Fahrlässigkeit verlangen.224 Es lassen sich auch jeweils gut Tatbestandsfassungen denken, die sowohl den kriminalpolitischen Motiven des Gesetzgebers als auch dem Schuldgrundsatz gerecht werden (zu § 186 mein Vorschlag in T. Walter Kern des Strafrechts, S. 76). Die „kontraintuitive“ (Vogel aaO) Behandlung des Verbotsirrtums in einigen Teilen des Strafrechts ist ebenfalls keine gottgegebene Angelegenheit, sondern lässt sich zum einen im Wege der Auslegung insbesondere von Blanketttatbeständen entschärfen – was die Lehre im Anschluss an Tiedemann zunehmend verlangt – und hat ihren Gerechtigkeitsmangel zum anderen gegen Vorschläge zu verteidigen, wie sich die Irrtumsdogmatik de lege ferenda grundsätzlich verbessern ließe (näher T. Walter Kern des Strafrechts, S. 438 ff). Gesetzgeberische Neigungen, vermehrt abstrakte Gefährdungs- und Fahrlässigkeitsdelikte zu schaffen, rechtfertigen gleichfalls kein Plädoyer für schuldgelöstes Strafen, sondern haben sich einer dem Schuldgrundsatz verpflichteten kriminalpolitischen Kritik zu stellen. Das vielleicht „Methodenehrlichere“ (Vogel aaO Rdn. 21) des umgekehrten Weges dient ihm nicht als Argument. Ein Missstand ruft nicht dazu auf, ihn nur ehrlich zu benennen und im Übrigen zu sanktionieren, sondern dazu, ihm abzuhelfen. Hinsichtlich objektiver strafrechtlicher Verantwortlichkeit läge es lediglich dann anders, wenn sie in der Sache unumgänglich wäre. Das ist nicht der Fall, weil es wie gesagt Wege gibt, Schuldprinzip und repressive Bedürfnisse in eine vernünftige praktische Konkordanz zu bringen; sie, und nur sie ist die Aufgabe, die es zu lösen gilt. Dem Schuldgrundsatz wäre bei objektiver strafrechtlicher Verantwortlichkeit entge- 162 gen Vogel aaO auch nicht dadurch hinreichend Rechnung zu tragen, dass man dem Beschuldigten die Möglichkeit beließe, den Beweis seiner Unschuld zu erbringen. Soweit es um die formelle Beweislast geht, ist das ohnehin schon zu einem Teil die Rechtswirklichkeit, denn auch unter der Geltung der Amtsermittlungsmaxime und auch bei gewissenhaftesten Staatsanwälten und Richtern müssen bestimmte Hinweise auf entlastende Umstände von dem Beschuldigten oder seinem Verteidiger kommen, wenn die Wahrheit ans Licht soll. Die materielle Beweislast in Bezug auf Entlastendes kann jedoch nur im Zivil- oder im Verwaltungsrecht beim Anspruchsgegner oder dem Bürger liegen. Im Strafrecht wäre dies eine Abkehr vom In-dubio-Grundsatz und damit nicht mehr rechtsstaatlich (T. Walter JZ 2006 340, 344 f). Nur der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass dieser Grundsatz eine Verurteilung nicht schon bei vagen Eventualitäten und Behauptungen des Beschuldigten verhindert, sondern nur bei ernsten Zweifeln des Gerichts. 2. Der Schuldbegriff ist für das Strafrecht auch deshalb von überragender Bedeu- 163 tung, weil allein die Schuld das eigentliche Wesensmerkmal des Delikts ist. Sie sondert Delikt und Natur, Verbrechen und Geschick. Dabei ist Schuld als Strafbegründungsschuld

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224 Geisler S. 388 ff (zu § 323a und sogar mit der Forderung, der Rausch müsse die konkrete Gefahr einer Tat von der Art der später begangenen begründen), 452 ff (zu § 186); Hirsch LK10 § 227 Rdn. 1 (zum heutigen § 231); ders. Ehre und Beleidigung (1967) S. 168 ff (zu § 186) (zust. Tiedemann JurA 1970 258 ff); Roxin AT I § 23 Rdn. 8 f (zu § 323a), 12 f (zu § 231) und 18 f (zu § 186); Zaczyk NK § 186 Rdn. 19 m.w.N.

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zu verstehen, das heißt als „Summe der Voraussetzungen, unter denen dem Täter die von ihm begangene rechtswidrige Tat als eine vorwerfbare zugerechnet wird“ (Lackner/ Kühl/Kühl Rdn. 22). Gegenstück ist die Strafzumessungsschuld, die für das Strafmaß bedeutsam ist (§ 46 Abs. 1 Satz 1). Zu dem Verhältnis beider Begriffe näher Frisch FS MüllerDietz, S. 237 ff. Um den Schuldbegriff streitet man sich seit jeher mit ähnlicher Intensität wie um den Begriff der Handlung, und auch die Ergebnisrelevanz der Auseinandersetzungen ist vergleichbar, nämlich nahe null. Vielmehr geht es im Wesentlichen darum, jene Ergebnisse zu deuten, die das geltende Recht diktiert und über die große Einigkeit herrscht (näher und zur geschichtlichen Entwicklung Koriath Zurechnung, S. 539 ff; T. Walter Kern des Strafrechts, S. 108 ff). Immerhin leiten die Vertreter eines funktionalen Schuld- oder „Verantwortlichkeits“begriffs (Rdn. 172 ff) einige Auslegungsergebnisse zu den §§ 20, 21 aus diesem Begriff ab. Diese Ergebnisse sind aber entweder praktisch nur von geringer Bedeutung oder ohnehin herrschende Ansicht, das heißt unabhängig vom Schuldbegriff. Das erste gilt für die Forderung von Jakobs AT 18/17 f und Roxin AT I § 19 Rdn. 57, bei einem Befund gemäß § 20 müsse Straflosigkeit auch möglich sein, wenn zwar ein Rest Unrechtseinsicht und Steuerungsfähigkeit verbleibe, aber der Strafzweck der Prävention keine Strafe erfordere. Es gilt ebenso für die Jakobsche Annahme, gruppendynamische Prozesse könnten schon deshalb kein Fall des § 21 sein, weil dies der positiven Generalprävention zuwiderliefe (18/17). Und zudem ist dieses Ergebnis ohnedies herrschende Meinung.225 Einigkeit herrscht ferner darüber, dass es für das Strafrecht auf eine Tatschuld ankommt und nicht auf eine Charakter- oder allgemeine Lebensführungsschuld,226 sowie darüber, dass Grundlage jedes Schuldvorwurfes die Willensfreiheit (besser: Entscheidungsfreiheit) des Menschen ist, auch wenn sie sich empirisch nicht beweisen lässt; denn sie lässt sich empirisch auch nicht widerlegen und ist unersetzliches Axiom jeder bestehenden menschlichen Gemeinschaft (zusammenfassend Hirsch ZStW 106 [1994] 746, 759 ff, 763 f; aus kriminologischer Sicht Schöch in Eisenburg [Hrsg.] Die Freiheit des Menschen [1998], S. 82 ff; s. aber auch Braum KritV 2003 22, 28 f [„normative Fiktion“]). Die Hirnforschung der letzten Jahre hat daran nach fast einhelliger und zutreffender Ansicht nichts geändert, und es ist auch erkenntnistheoretisch ausgeschlossen, dass sie dies jemals tun könnte (aus neuerer Zeit und je m.w.N. Chr. Jäger GA 2013 3 ff; Müller-Dietz GA 2006 338 ff; T. Walter FS Schroeder, S. 131, 140 ff). Soweit das Schrifttum meint, der Täter habe für eine fehlerhafte Gesinnung einzustehen (vgl. § 46 Abs. 2),227 ist damit nichts anderes gemeint; vor allem nicht eine kriminalpolitische Forderung nach dem allseits entschieden abgelehnten Gesinnungsstrafrecht. 164

a) Ganz vorherrschend ist ein sogenannter normativer Schuldbegriff. Er verdankt seinen Namen der Abgrenzung vom psychologischen Schuldbegriff der klassischen Lehre, der als Schuld lediglich innere Tatbestände anerkannte (Beling S. 10; v. Liszt Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 22. Aufl. [1919] S. 150 ff). Gegen ihn machte die neoklassische Lehre geltend, er versage bei der unbewussten Fahrlässigkeit und vernachlässige die Entschuldigungsgründe ebenso wie den Schuldausschluss infolge Unzurechnungs-

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225 Für sie Roxin AT I § 20 Rdn. 34; Sch/Schröder/Perron/Weißer § 21 Rdn. 9. 226 Für die Natur des deutschen Strafrechts als Tatstrafrecht stellvertretend Freund MK Rdn. 3; Kühl FS Lampe, S. 439, 455. Für die Charakterschuld früher Engisch Vom Weltbild des Juristen, 2. Aufl. (1965) S. 54 ff; weitere Nachweise bei Roxin AT I § 19 Rdn. 27 ff. Den Begriff der Lebensführungsschuld hat wohl Mezger geprägt (vgl. Jakobs AT 17/34 Fn. 74 m.w.N.), gegen ihn die heute einstimmige Lehre, stellvertretend Horn Verbotsirrtum und Vorwerfbarkeit (1969) S. 141 ff; Arthur Kaufmann Schuldprinzip, S. 188 ff; Roos Die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums (2000) S. 201 ff. 227 Gallas ZStW 67 (1955) 1, 45; Jescheck/Weigend § 38 II 5 (S. 421 f); Schmidhäuser AT 6/16 ff, 10/2 f; ders. FS Jescheck, S. 485, 490 ff; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 618.

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fähigkeit (Frank Über den Aufbau des Schuldbegriffs [1907] S. 6, 8 f, 12; zu Dohna S. 32). Schuld sei nicht nur ein Tatbestand der Täterpsyche („Schuldsachverhalt“), sondern auch ein Werturteil über diesen Tatbestand („Schuldurteil“) und insofern ein normativer Begriff.228 Inhaltlich geht es dabei allerdings nicht um einen Wechsel vom Tatbestand zum Werturteil, sondern um die Definition des Tatbestands: Die Täterpsyche ist nur noch eines seiner Elemente, und anderes tritt hinzu, und zwar entlastend (Entschuldigungsgründe, Unzurechnungsfähigkeit, insbesondere fehlende Strafmündigkeit) oder belastend (unbewusste Fahrlässigkeit, vermeidbarer Verbotsirrtum). Dieses Grundverständnis des Schuldbegriffs ist weiterhin herrschend. Ein Bruch mit der neoklassischen Lehre war es, dass die Finalisten den Vorsatz ganz aus der Schuld vertrieben (vgl. Welzel Strafrecht, S. 140). Mittlerweile hat er dort aber gemäß herrschender Lehre und kraft einer „Doppelstellung“ erneut Aufnahme gefunden.229 Ein weiterer Bruch war Maurachs Lehre von der Tatverantwortung, die aber zu Recht nicht mehr vertreten wird (näher T. Walter Kern des Strafrechts, S. 109 ff). Eine noch heute beachtliche Neuheit sind die im Schrifttum minderheitlich vertretenen funktionalen Lehren, die aber wie gesagt kaum auf die Ergebnisse durchschlagen und dogmatisch keinen Ertrag bringen (Rdn. 172 ff). aa) Der Kern des normativen entspricht dem des psychologischen Schuldbegriffes 165 und ist der Vorwurf fehlerhafter, nämlich normwidriger Willensbildung: dass sich der Täter „für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können“ (BGHSt [GrS] 2 194, 200; zust. die ganz h.L., für sie Sch/Schröder/Eisele Rdn. 118). Er findet begriffsimmanente Grenzen beim unvermeidbaren Verbotsirrtum (§ 17 Satz 1), der eine Entscheidung gegen das Recht ausschließt, sowie bei der Unzurechnungsfähigkeit (§ 20) und, für Jugendliche, bei einem Mangel an sittlicher und geistiger Reife, sofern er die Unrechtseinsicht oder die Fähigkeit ausschließt, sich der Einsicht gemäß zu verhalten (§ 3 JGG); denn in diesen Fällen fehlt es gleichfalls an einer Entscheidung gegen das Recht. bb) Die wichtigste normative Ausdehnung über seinen Kern hinaus erfährt der 166 herrschende Schuldbegriff bei der unbewussten Fahrlässigkeit. Wer sich nicht einmal der Möglichkeit des Erfolges bewusst ist, entscheidet sich nicht gegen das Recht. Gleiches gilt für die unbewusste Rechtsfahrlässigkeit im vermeidbaren Verbotsirrtum. Daher liegt es nahe, für diesen Fall die Schuld überhaupt zu leugnen. Es hat auch immer wieder Äußerungen in diesem Sinne gegeben und gibt sie noch heute.230 Ihre Berechtigung mag hier dahinstehen, da die Strafbarkeit fahrlässigen Verhaltens aus keiner Rechtsordnung wegzudenken ist. Allerdings verlangt sie kriminalpolitische Zurückhaltung. Ferner ist zu erwägen, leichte Fahrlässigkeit de lege ferenda in der Auslegung einzelner Tatbestände oder allgemein straflos zu stellen.231 Die Praxis ist angehalten, die Haftung wegen Fahr-

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228 zu Dohna S. 32; v. Liszt/Schmidt AT S. 213; M. E. Mayer AT S. 201; Mezger Strafrecht, S. 248 ff. 229 Gallas ZStW 67 (1955) 1, 44 ff; Haft JuS 1980 588, 589; Jescheck/Weigend § 39 IV 4 (S. 430); Roxin AT I § 10 Rdn. 69; § 12 Rdn. 26;; Sch/Schröder/Eisele Rdn. 120/121; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 200 ff, 646; Wolter S. 152. Wohl auch Lackner/Kühl/Kühl § 15 Rdn. 34. Früher schon Mezger Strafrecht, S. 171. 230 Baumgarten S. 116 ff; Germann SchwZStr 49 (1935) 257, 322 f; Arthur Kaufmann Schuldprinzip, S. 156 ff, 162; Kohlrausch Irrtum und Schuldbegriff im Strafrecht (1903) S. 179, 208 f; A. Köhler Deutsches Strafrecht, Allgemeiner Teil (1917) S. 274 ff (es sei denn, dass „der Täter warnende Vorstellungen in den Wind schlug“); Rath Rechtfertigungselement, S. 532, 651; T. Walter Kern des Strafrechts, S. 128 ff; weitere Nachweise bei Binding Normen IV, S. 311 ff. 231 Burgstaller S. 201; Pawlik S. 342 („geringfügige Fehlleistungen, die jedermann gelegentlich unterlaufen“) m.w.N.; Roxin AT I § 24 Rdn. 92 f, 126; Stratenwerth/Kuhlen § 15 Rdn. 54 f; T. Walter Kern des

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lässigkeit nicht zu einer versteckten objektiven Strafbarkeit werden zu lassen, sondern für jede Tat individuelle Vorwerfbarkeit und einen Ausdruck rechtlich missbilligter Willensbildung festzustellen.232 Mindestens bei nur leichter Fahrlässigkeit empfiehlt es sich, §§ 153f StPO großzügig anzuwenden. Schließlich ist zu bedenken, dass eine Strafe wegen fahrlässiger Tat in zwei Gestaltungen Schuld im Sinne bewusst normwidriger Willensbildung erfasst (näher T. Walter Kern des Strafrechts, S. 132 ff). Einmal bei einem Vorverschulden, wenn der Täter Maßnahmen unterlässt, die ihm in der späteren kritischen Situation mindestens bedingten Vorsatz und bedingtes Unrechtsbewusstsein gegeben hätten. Zum Zweiten, wenn der Täter immerhin ein abstraktes (von konkreter Gefahr unabhängiges) Sorgfaltserfordernis außer Acht lässt, etwa im Straßenverkehr eine Geschwindigkeitsbegrenzung, mag er dabei auch wegen Unkenntnis ihres Grundes, etwa einer versteckten Ausfahrt, ahnungslos sein in Bezug auf Art und Intensität der Unfallgefahr, die sich sodann verwirklicht; der Erfolg wirkt in dieser (Vorsatz-)Schuldkonstruktion allerdings nur als objektive Bedingung der Strafbarkeit. 167

cc) Normative Einschränkungen des psychologischen Schuldbegriffs sind all jene Regelungen, die nach dem herrschenden Verständnis die Schuld ausschließen (Schuldausschließungsgründe) oder beseitigen (Entschuldigungsgründe), soweit und obwohl der Handelnde Unrechtseinsicht hat und auch in der Lage ist, sich dieser Einsicht gemäß zu verhalten. Der Wortlaut ist dabei nicht entscheidend (Freund MK Rdn. 250); man stuft etwa auch § 33 einhellig als Entschuldigung ein, obgleich er lediglich davon spricht, dass der Täter „nicht bestraft“ werde (auch § 231 Abs. 2 erklärt die Beteiligung an einer Schlägerei lediglich für „nicht strafbar“, sofern sie nicht „vorzuwerfen ist“, also mindestens schuldlos erfolgt). Schuldausschließungs- und Entschuldigungsgründe unterscheidet nach herrschender Lehre, dass sich die Rechtsfolge (keine Schuld) nur bei den Entschuldigungsgründen aus dem Gedanken der Unzumutbarkeit ableitet,233 der in allgemeiner Fassung nach herrschender Meinung nur bei den Unterlassungs- und den Fahrlässigkeitsdelikten zu berücksichtigen ist. Als Schuldausschließungsgründe gelten § 17 Satz 1, §§ 19, 20 StGB und § 3 JGG (Satz 2: mangelnde Reife). Von ihnen ist jedenfalls § 19 zur Schuldunfähigkeit des Kindes eine normative Einschränkung des psychologischen Schuldbegriffs, da es sehr wohl Dreizehnjährige gibt, die das Unrecht ihrer Tat einsehen und fähig wären, sie dieser Einsicht gemäß zu unterlassen. Gleichwohl hat es mit der Bestimmung des § 19 seine kriminalpolitische Vernunft und Richtigkeit.234 168 Sehr viel weiter schränken das psychologische Schuldverständnis die Entschuldigungsgründe ein, welche die herrschende Meinung als solche anerkennt: entschuldigender Notstand (§ 35), Notwehrüberschreitung (§ 33), übergesetzlicher entschuldigender Notstand (übergesetzliche entschuldigende Pflichtenkollision), Unzumutbarkeit (bei Fahrlässigkeits- und Unterlassungsdelikten),235 in engen Grenzen auch die Gewissenstat (näher Frisch FS Schroeder, S. 11 ff; ders. GA 2006 273 ff) sowie – systeminkonsistent – die dienstliche Weisung (zu ihr T. Walter JR 2005 279 f).

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Strafrechts, S. 440, 446 f; weitere Nachweise bei Schroeder LK11 § 16 Rdn. 215 Fn. 329. So auch § 16 Abs. 2 AE. 232 Jescheck/Weigend § 57 vor I (S. 592) m.w.N. und II 3 (S. 595); Roxin AT I § 24 Rdn. 120. 233 Jescheck/Weigend § 43 II 1, 2 (S. 476 f); Lackner/Kühl/Kühl Rdn. 27; Perron S. 109; Sch/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vor § 32 Rdn. 108; aA Hirsch LK11 Vor § 32 Rdn. 182; Roxin AT I § 19 Rdn. 57. 234 Für die Dogmatik Roxin AT I § 20 Rdn. 50; für die Kriminologie Neubacher ZRP 1998 121 ff; M. Walter Jugendkriminalität, 2. Aufl. (2001) Rdn. 242 ff. 235 Wo die Unzumutbarkeit allerdings nach minderheitlich vertretener Ansicht schon den Tatbestand begrenzt, so etwa Freund MK Rdn. 254; Kindhäuser LPK Rdn. 249 (dort als h.M. bezeichnet).

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Zu den objektiven Tatbeständen dieser sogenannten Entschuldigungsgründe und 169 auch zu im Einzelnen abweichenden verbrechenssystematischen Etikettierungen T. Walter Kern des Strafrechts, S. 135 ff. Diese objektiven Tatbestände sind nicht durchweg in ihrer üblichen Auslegung beziehungsweise, bei ungeschriebenen Regeln, ihrer üblichen Formulierung zu billigen. Etwa ist für § 35 ist eine tatsächliche seelische Ausnahmesituation des Täters zu fordern und nicht als unwiderleglich vermutet zu unterstellen, interpretatorischer Hebel dafür ist die Zumutbarkeitsklausel des Absatzes 1 Satz 2. Kritik zieht sich aber vor allem die herrschende Erklärung dessen zu, dass in den 170 fraglichen Fällen – wie immer man sie im Randbereich bestimmt – die Schuld des Täters entfalle. Sie besagt, es mindere sich jeweils schon ein Stück weit das Unrecht, weil der Täter zugunsten prinzipiell schützenswerter Interessen handle, auf diesem Wege mindere sich automatisch auch etwas die Schuld, und aufgrund der seelischen Bedrängnis des Täters sinke sie dann unter das strafwürdige Maß (sogenannte doppelte oder zweifache Schuldminderung).236 Zum einen gesteht das bereits zu, dass die Schuld keineswegs entfällt; lediglich wird sie vorgeblich gemindert. Zum zweiten ist auch eine Minderung der Schuld in Abrede zu stellen. Denn in jeder der Situationen, die hier interessieren, ist sich der Täter bewusst, Unrecht zu tun, und wäre auch fähig – auch innerlich –, sich dieser Einsicht gemäß zu verhalten. In solcher Lage hat das Recht keine Veranlassung, das motivatorische Ungenügen des Normadressaten schon im Vorhinein als nicht vorwerfbar einzustufen und so zum Beispiel die Tötung eines Unschuldigen nach § 35 als moralisch weniger bedenklich zu werten als einen Zigarettendiebstahl, für den es lediglich ein prozessuales Antragserfordernis gibt (§ 248a). Vielmehr kann und muss das Recht eindeutig sagen, welches Verhalten es den Normadressaten noch abverlangt und welches nicht mehr und mag es lediglich jenseits von Unrecht und Schuld Nachsicht mit denen üben, die diesen äußersten Anforderungen nicht mehr gerecht geworden sind. Für solche Nachsicht gibt es auch einen rationalen normtheoretischen Grund, den man sogar für kriminalpolitisch zwingend halten mag. Denn nach aller menschlichen Erfahrung kann jemand zwar glaubhaft zusichern, er werde sich stets jedweden Zigarettendiebstahls enthalten; aber dass er zum Beispiel auch sein Kind sterben lassen werde, wenn er es durch die Verletzung eines anderen, sei es auch Unschuldigen retten könnte, das vermag kaum einer glaubhaft zu garantieren, bevor er in die kritische Situation gerät. Da aber die Richtenden – die Gemeinschaft der Normadressaten und die Richter, die in ihrem Namen sprechen – vom Beschuldigten nicht mehr verlangen sollten, als sie von sich selbst glaubhaft garantieren können, hat das Recht jenen Ausnahmekonflikten Rechnung zu tragen, deren sich die sogenannten Entschuldigungsgründe annehmen. Das Recht tut dies aber wie gesagt konsistent erst jenseits von Unrecht und 171 Schuld. Hierfür spricht neben bereits Ausgeführtem eine Reihe weiterer Bestimmungen des Besonderen Teils, die nach allgemeiner Ansicht ebenfalls erst jenseits von Unrecht und Schuld wirken, sich aber Erwägungen zur menschlichen Schwäche gegenüber den Forderungen des Rechts verdanken, die denen hinter den „Entschuldigungsgründen“

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236 Zu § 35 wegbereitend Armin Kaufmann Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie (1954) S. 204 f; Rudolphi ZStW 78 (1966) 66, 81 ff; heute Jescheck/Weigend § 43 III 2b (S. 478); Mitsch in Fischer/Hoven S. 306; Sch/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vor § 32 Rdn. 111; Schlüchter S. 188; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 652 f; Zieschang LK12 § 35 Rdn. 3 f. Weitere Nachweise und Kritik bei Pawlik JRE 11 (2003) 289, 294 ff. Zum übergesetzlichen entschuldigenden Notstand Jescheck/Weigend § 47 I 3 (S. 503); Rudolphi SK Vor § 19 Rdn. 8; Sch/Schröder/Sternberg-Lieben Vor § 32 Rdn. 115; zu § 33 Jescheck/ Weigend § 45 II 2 (S. 491); Rogall SK § 33 Rdn. 1; Zieschang LK12 § 33 Rdn. 35 ff; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 666 ff; zur Gewissensnot Ebert Der Überzeugungstäter in der neueren Rechtsentwicklung (1975) S. 65 ff; Jescheck/Weigend § 47 vor I (S. 501); Klimsch S. 125 f; Rudolphi FS Welzel, S. 605, 630.

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bestens vergleichbar sind, etwa die Angehörigen- oder Selbstbegünstigung nach § 139 Abs. 3 Satz 1, § 157 Abs. 1, § 258 Abs. 5 und 6. Begreift man all diese und verwandte Regelungen als eine einheitliche Kategorie, so hat das den weiteren dogmatischen Vorteil, bei allfälligen Irrtümern des Handelnden nach einer überschaubaren und stimmigen Regel des positiven Rechts verfahren zu können, und zwar nach § 35 Abs. 2: sofern sich der Irrtum auf einen äußeren Sachverhalt bezieht, den die Regelung voraussetzt (auf Umstände des objektiven Regelungstatbestandes) und der sich im Bewusstsein des Handelnden spiegeln muss (anders etwa bei § 173 Abs. 3) und die menschliche Schwäche verständlich macht (T. Walter Kern des Strafrechts, S. 351 f). Verbrechenssystematisch bildet diese Regelungskategorie dann eine homogene Untergruppe entlastender Regelungen jenseits von Unrecht und Schuld; solche Regelungen nennt man herkömmlich Strafausschließungs- und, zu einem Teil, Strafmilderungsgründe (nicht alle Strafmilderungsgründe sind jenseits von Unrecht und Schuld zu verorten) (Rdn. 194 f). 172

b) aa) Wichtigster Konkurrent des normativen Schuldbegriffs ist der funktionale Schuldbegriff der präventiv-funktionalen Verbrechenslehren. Er will den Strafzweck über die Erfordernisse der Schuld entscheiden lassen. Diese Forderung hat schon das ältere Schrifttum erhoben.237 Heute tun dies namentlich Jakobs und Roxin (mit psychoanalytischer Fundierung auch Streng ZStW 101 [1989] 273 ff; ders. Strafrechtliche Sanktionen [1992]). Dabei will Roxin nicht den Schuldbegriff funktional gestalten, sondern eine neue, ihm nachgeordnete verbrechenssystematische Kategorie der „Verantwortlichkeit“, der er indes viele herkömmlich zur Schuld gezogene Regelungen zuschlägt (Rdn. 174); und auch Jakobs arbeitet – methodisch unumgänglich (siehe sogleich) – zunächst mit einem nichtfunktionalen Verständnis von Schuld (Rdn. 173). Im Ergebnis indes ist die Schuld ihm zufolge ein „Begriff, der eine Regelungsleistung nach einer bestimmten Regelungsmaxime (nach den Erfordernissen des Strafzwecks) für eine Gesellschaft bestimmter Verfassung erbringt“ (17/22); der Strafzweck ist für Jakobs die positive Generalprävention. Diese Definition wird im Schrifttum stark kritisiert.238 Dabei versteht man Jakobs’ Lehre aber oft als unausgesprochene Forderung, das Strafrecht in funktionalem Sinne zu ändern, während Jakobs in seinem Selbstverständnis vorrangig darum bemüht ist, das positiv geltende Strafrecht gleichsam auf einen Nenner zu bringen (vgl. Jakobs AT 17/18; Stratenwerth/Kuhlen § 10 Rdn. 6). Allerdings hat dieser beschreibende Ansatz durchaus auch eine richtungweisende Komponente, sowohl für die Auslegung als auch für die Kriminalpolitik, denn Jakobs rügt das von ihm ausgemachte funktionale Grundmuster keineswegs als verfehlt oder korrekturbedürftig. Seine Lehre leidet aber an einer zirkelhaften Gedankenführung. Denn der Begriff der Prävention (als Strafzweck) hängt seinerseits ab von dem der Schuld: Prävention heißt Verhindern deliktischen Verhaltens, und deliktisches Verhalten bedingt Schuld; sie trennt das Delikt von schicksalhaften Geschehnissen, die niemand zu verantworten hat. Prävention im Sinne der Straftheorie ist folglich das Verhindern von Schuld. Demnach lautet die Gedankenkette eines funktionalen Schuldbegriffs: Was ist Schuld? Was die Prävention verlangt. Was ist Prävention? Verhindern von Schuld. Es ändert sich nichts, wenn man den Begriff der Prävention zur positiven Generalprävention präzisiert und sie (mit Jakobs) versteht als ein Bestärken der Rechtsgenossen darin, dass die Normen gelten. Denn so bestärkt

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237 Birkmeyer Schuld und Gefährlichkeit (1914) S. 210 ff; Mezger Strafrecht, S. 265; Felix Kaufmann Die philosophischen Grundprobleme der Lehre von der Strafrechtschuld (1924) S. 72 und öfter. 238 Braum KritV 2003 22, 27 f; Hirsch ZStW 106 (1994) 746, 752 ff; Jescheck/Weigend § 22 VI 4 (S. 215f); Lackner/Kühl/Kühl Rdn. 25; Löw Die Erkundigungspflicht beim Verbotsirrtum nach § 17 StGB (2002) S. 84 f; Maurach/Zipf § 30 Rdn. 49; Otto GA 1981 481 ff; Schünemann in ders. Grundfragen, S. 153, 174 ff.

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wird nur, wer einen schuldhaften Normbruch geahndet sieht. Strafen für schuldloses Ungenügen kann der Rechtsunterworfene nur als Schicksalsschläge betrachten. Sie machen vielleicht furchtsam, aber nicht normtreu. Daher setzt die positive Generalprävention einen Schuldbegriff voraus und kann ihn nicht ihrerseits begründen.239 Jakobs bemüht sich denn auch, zunächst einen solchen nichtfunktionalen Schuldbe- 173 griff soziologisch in Anlehnung an die Lehren Luhmanns zu entwickeln. Schuldhaft sei ein Verhalten, wenn es eine Verhaltenserwartung enttäusche und dieser Konflikt – zwischen Erwartung und Wirklichkeit – nicht anderweitig zu verarbeiten sei (Schuld und Prävention [1976] S. 10 f, 32). Zweifelhaft sind dabei die Möglichkeiten, die Jakobs zur anderweitigen Konfliktverarbeitung in Betracht zieht. Zu ihnen zählt er nämlich offenbar Mittel, einer Wiederholung des störenden Verhaltens auf anderem Wege vorzubeugen als durch die Signalwirkung der Strafe: Triebtäter zu entschuldigen sei erst möglich gewesen, als die Medizin herausgefunden habe, wie man sie behandeln und heilen könne. Das ist aber nicht richtig und hätte, wäre es richtig, bedenkliche Folgen (Roxin AT I § 19 Rdn. 34). Triebtäter zu entschuldigen ist deshalb möglich gewesen, weil man herausgefunden hatte, dass ihr Tun unabhängig von dem ist, was die Gesellschaft als menschliche Entscheidungsfreiheit voraussetzt, und dass dieses Tun daher unbeeinflusst bleibt von Strafen und Strafdrohungen. Sonst müsste die Rechtsfolge aus § 20 in der Tat davon abhängen, ob es eine medizinische Handhabe gegen den fraglichen biologisch-psychologischen Defekt gibt, was nicht sein kann. Es besteht eben nur eine Möglichkeit anderweitiger Konfliktverarbeitung: die Erkenntnis, dass der Täter die Tat nicht zu verantworten hat. Und auch mit diesem Satz schließt sich lediglich ein Kreis. bb) Roxin versteht die Schuld ohne Blick auf den Strafzweck als „unrechtes Handeln 174 trotz normativer Ansprechbarkeit“ (AT I § 19 Rdn. 36). Normative Ansprechbarkeit nennt er die Fähigkeit, das Unrecht einzusehen, in Verbindung mit der Steuerungsfähigkeit. Das ist nicht mehr und nicht weniger als das positive Recht (§§ 17, 20, 21) und legt wie das positive Recht und seine übrigen Interpreten als „soziale Spielregel“ (Roxin) die Entscheidungsfreiheit des Menschen zugrunde; denn nur eine freie Entscheidungsinstanz ist normativ ansprechbar. Doch führt Roxin eine neue Kategorie in die Verbrechenslehre ein, die „Verantwortlichkeit“, und deren Inhalt leitet er aus dem Strafzweck ab.240 In diese Kategorie rechnet Roxin die §§ 33, 35 und 24.241 Sie verschafften Straffreiheit auch dort, wo der Täter normativ ansprechbar sei. Also müsse es neben der Schuld im engeren Sinne noch etwas Weiteres geben, das zur Haftung erforderlich sei: die Verantwortlichkeit. Die angeführten Vorschriften interpretiert Roxin so, dass sie die Strafe immer dann ausschlössen, wenn sie für die Strafzwecke entbehrlich sei. Strafzwecke sind nach Roxin allein Spezial- und Generalprävention, den Vergeltungsgedanken verwirft er vollkommen.242 Diese Lehre geht von der richtigen Erkenntnis aus, dass die Strafe im positiven Recht 175 offenbar noch von anderem abhängt als von der Schuld, wenn man die Schuld, dem Alltagsverständnis nahe, auf den „psychologischen“ Kern beschränkt, den etwa die be-

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239 Siehe schon Sch/Schröder/Eisele Rdn. 117; Stratenwerth/Kuhlen § 10 Rdn. 7; je m.w.N. 240 Grundlegend Roxin Kriminalpolitik, S. 10, 33; später ders. AT I § 3 Rdn. 51 ff; § 7 Rdn. 26 ff, 57 ff; § 19 Rdn. 1 ff; ders. FS Lampe, S. 423, 432 ff. In der Sache auch Frisch GA 2017 364, 380 f. m.w.N. Gegen diese Zweiteilung Achenbach in Schünemann Grundfragen, S. 135, 150. 241 Roxin FS Henkel, S. 171 ff (§ 35); ders. FS Schaffstein S. 105, 116 ff (§ 33); ders. FS Heinitz, S. 251, 273 ff (§ 24); siehe auch Roxin FS Bockelmann, S. 279, 289 ff (zu § 17). Zu § 35 in der Sache ebenso Frisch GA 2015 65, 85 (der Täter handele schuldhaft, aber das Bestrafungsbedürfnis entfalle, da die Normgeltung nicht nachhaltig in Frage gestellt werde). 242 AT I § 3 Rdn. 44. Grundsätzlich zustimmend Achenbach in Schünemann Grundfragen, S. 135, 146.

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rühmte oben zitierte Passage aus BGHSt (GrS) 2 194 zum Ausdruck bringt. Denn es stimmt, dass die herkömmlich so bezeichneten Entschuldigungs- und Schuldausschließungsgründe eine in jenem Sinne verstandene Schuld kaum berühren (Rdn. 170 f). Doch hat sich die Lehre Roxins zunächst vorhalten zu lassen, dass sie den Strafzweck auf die Spezial- und die Generalprävention verengt, während die Strafe mindestens auch, nach zutreffender Ansicht sogar vorrangig dazu dient, den Rechtsfrieden zu schützen, indem sie ein Vergeltungsbedürfnis des Opfers wie auch anderer Glieder der Rechtsgemeinschaft befriedigt.243 Doch auch in dieser Verengung ist Roxins Lehre ungeeignet zu erklären, warum in Fällen wie dem des § 35 keine Strafe droht (Sch/Schröder/Lenckner/ Sternberg-Lieben Vor § 32 Rdn. 110). Denn dazu müsste man erstens sicher wissen, dass Strafe general- und spezialpräventive Wirkung entfaltet, und auf welchem Wege sie dies tut, und das heißt: was die sozialpsychologischen Mechanismen sind. Sonst lässt sich nicht sagen, dass die Präventionswirkung gerade in den Fällen der §§ 33, 35 und 24 ausgeschlossen sei. Aber dieses Ob und Wie der Prävention sind weithin ungeklärt.244 Die Verteidigung präventiv-funktionaler Lehren auf diesen Einwand pflegt zu lauten, dass die präventive Wirkung nicht empirisch, sondern normativ zu verstehen sei. Doch dieser Versuch, sie jeder Probe aufs reale Exempel zu entziehen, führt nur zu der Frage, was denn eine normativ und nicht empirisch zu begreifende Prävention sei, und eine Antwort auf diese Frage ist entweder nicht möglich oder zirkelhaft, indem sie zurück auf den Wortlaut des positiven Rechts verweist (so in der Tat Roxin AT I § 22 Rdn. 13 für § 35; dagegen grundsätzlich schon Hirsch ZStW 106 [1994] 746, 758 [„Vertauschung von Grund und Folge“]). 176

3. a) Eine starke Strömung der Lehre anerkennt sogenannte spezielle Schuldmerkmale.245 Ihre Besonderheit sei, dass sie ausschließlich und unmittelbar die Schuld des Täters kennzeichneten, ohne nur Reflex eines Unrechtsmerkmals zu sein oder, bei entlastenden Regelungen, ohne ein Unrechtsmerkmal einzuschränken. Als Beispiele führt man mit unterschiedlicher Begründung an: die Angehörigenprivilegien in § 139 Abs. 3, § 258 Abs. 6, die fehlende Eidesmündigkeit beim Aussagenotstand nach § 157 Abs. 2, die Minderjährigkeit beim Inzest (§ 173 Abs. 3); die Absicht, sich oder einen Angehörigen zu entlasten (§ 157 Abs. 1), das „Hingerissensein“ bei der Totschlagsprovokation (§ 213) und die Verdeckungs- oder Ermöglichungsabsicht beim Mord; die niedrigen Beweggründe des Mörders, die Rohheit oder Böswilligkeit bei der Misshandlung Schutzbefohlener (§ 225)246 und die Rücksichtslosigkeit bei einer Gefährdung des Straßenverkehrs nach § 315c (Abs. 1 Nr. 2). Folge dieser Lehre ist, dass hinsichtlich der betroffenen Merkmale für Beteiligte § 29 gilt. Sie ist aber in jeder Spielart abzulehnen (näher T. Walter Kern des Strafrechts, S. 122 ff). In Bezug auf die strafschärfenden Merkmale gilt, dass es keine Schuld geben kann ohne Unrecht; ganz gleich, ob man Unrecht und Schuld wie im herrschenden Verbrechensmodell als eigenständige Kategorien behandelt oder ob man sie zu einer Systemkategorie zusammenfasst. Schuld setzt in jedem Fall und vollständig

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243 Zusammenfassend T. Walter Strafe und Vergeltung – Rehabilitation und Grenzen eines Prinzips (2016). Lehrreich auch Reemtsma Die Bestrafung des Täters als Recht des Opfers – als Problem (1999). Ausführlich zu den Straftheorien Hörnle Straftheorien, 2. Aufl. (2017); Pawlik Person, Subjekt, Bürger (2004). 244 Hirsch ZStW 106 (1994) S. 746, 758; von der Linde S. 238 f; Perron S. 224; Sch/Schröder/Eisele Rdn. 117; Stratenwerth/Kuhlen § 1 Rdn. 27, 33; Tiedemann Strafrechtspolitik und Dogmatik in den Entwürfen zu einem dritten Strafrechtsreformgesetz (1970) S. 5; ders. JZ 1980 489, 492. 245 Jescheck/Weigend § 42 I (S. 469 f); Roxin AT § 10 Rdn. 71 ff; Sch/Schröder/Eisele Rdn. 122; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 643 ff; aA Rönnau LK Vor § 32 Rdn. 317; Maurach/Zipf § 22 Rdn. 56. 246 Böswilligkeit verlangen auch § 90a Abs. 1 Nr. 1 und § 130 Abs. 1 Nr. 2.

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Unrecht voraus. Für die strafmildernden oder strafausschließenden Merkmale ist zunächst in der herrschenden Systematik keine neue Kategorie erforderlich, da sie mit den Schuldausschließungs- und Entschuldigungsgründen zusammengefasst werden könnten. Dies auch soweit sie nur eine Strafmilderung oder ein Absehen von Strafe erlauben, denn stets ginge es um eine reine Minderung der Schuld. Allerdings hätte sich – zweitens – auch eine derart erweiterte Kategorie vermeintlicher Schuldminderungsgründe den Einwänden zu stellen, die schon jetzt gegen die Kategorie der Entschuldigungsgründe zu erheben sind (Rdn. 170 f). Für die fraglichen strafschärfenden Merkmale ist denn auch festzustellen, dass sie 177 sämtlich Schuld und Unrecht berühren. So macht die Verdeckungsabsicht beim Mord das Tötungs- nicht weniger zum Mordunrecht, als bei § 242 die Zueignungsabsicht Wegnahmeunrecht (furtum usus) zum Diebstahlsunrecht macht. Andere Merkmale wie „roh“ oder „rücksichtslos“ unterscheiden sich von sonstigen Tatbestandsmerkmalen allein durch ihre Unbestimmtheit. Sie setzen äußere Umstände voraus, die ein Verhalten zum Beispiel als rücksichtslos erscheinen lassen, sowie Vorsatz oder, soweit strafbar, Fahrlässigkeit des Täters hinsichtlich dieser Umstände; es gibt also auch (unbewusst) fahrlässige Rücksichtslosigkeit (BGHSt 5 392, 395 f; Lackner/Kühl/Heger § 315c Rdn. 30 m.w.N.). Auch rein innere Merkmale wie die niedrigen Beweggründe unterscheiden sich von sonstigen Zusatzmerkmalen des subjektiven Tatbestandes, etwa der Zueignungsabsicht bei § 242, allein durch die Unbestimmtheit. Einzige Besonderheit angeblicher spezieller Schuldmerkmale kann eine derart große Unbestimmtheit sein, dass diese Merkmale sowohl von rein inneren Umständen erfüllt werden können, insbesondere Absichten, als auch von äußeren Umständen, hinsichtlich deren dann Vorsatz oder, soweit strafbar, Fahrlässigkeit hinzutreten muss. Ein solcher Fall ist das Merkmal „böswillig“ unter anderem in § 90a Abs. 1 Nr. 1: Wenn ein Täter die Bundesrepublik durch Hetzreden verächtlich macht, dann ist sowohl ein äußeres böswilliges Geschehen denkbar, insbesondere ein bestimmter Inhalt der Hetzrede oder dass der Täter eine Bundesflagge bespuckt, als auch denkbar ist, dass die Böswilligkeit allein in der Absicht besteht, das Publikum zu Ausschreitungen zu bringen. Doch auch diese Besonderheit einiger Merkmale löst sie nicht aus dem vertrauten Raster der Deliktsbegriffe, sondern lässt ihnen nur die Wahl zwischen zwei Spielarten. Man könnte auch Diebstahl und Unterschlagung mit solchen Merkmalen typisieren: „Wer mit fremden beweglichen Sachen eigensüchtig umgeht …“ Das wäre zwar genauso verwaschen wie „böswillig“ oder „rücksichtslos“, führte aber nicht etwa zu einem Delikt, dessen Unrecht darin läge, mit einer Sache „umzugehen“, und das im Übrigen aus reiner, frei im Raume schwebender Schuld bestände. Sondern es wäre schlicht ein unbestimmter Tatbestand. Entgegen Roxin AT § 10 Rdn. 71 ff ist es auch nicht das Kennzeichen belastender 178 „spezieller Schuldmerkmale“, den Deliktstyp unverändert zu lassen, sodass sie aus diesem Grunde ausschließlich zur Schuld gerechnet werden könnten. Es gibt keine fest gefügten vorpositiven Deliktstypen (Rdn. 41), und so muss sich Roxin denn auch fragen lassen, warum er die Hinterlist bei der gefährlichen Körperverletzung zum Deliktstypus rechnet, die Heimtücke beim Mord hingegen nicht (AT I § 10 Rdn. 79, 81). Auch seine Behauptung, dass die Zueignungsabsicht in § 242 für den Deliktstyp des Diebstahls ausschlaggebend sei, steht auf unsicherem Boden. Im Recht des Auslands setzt der Diebstahl nicht allemal Zueignungsabsicht voraus (zum französischen Recht T. Walter Betrugsstrafrecht in Frankreich und Deutschland [1999] S. 339f), und auch in Deutschland ließe sich ein Grundtatbestand der Sachentziehung denken mit einer Privilegierung bei Rückgabeabsicht oder tatsächlicher Rückgabe und einer Qualifizierung, wenn der Täter die Sache zerstören oder sich oder Dritten zueignen will. Mit Blick auf das Interesse des Berechtigten (Verfügungsgewalt!) wäre das sogar vernünftiger. 869

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b) In der Lehre von den sogenannten speziellen Schuldmerkmalen, aber nicht nur dort, taucht der Begriff der Gesinnungsmerkmale auf. Beispiele sind wieder „roh“, „böswillig“ und „rücksichtslos“ (s. nur Kühl FS Lampe, S. 439, 455 f). Grundsätzlich lässt sich der Begriff der Gesinnungsmerkmale auf zwei Wegen mit Inhalt füllen. Zum einen könnten solche Merkmale tatsächlich nicht mehr bezeichnen als eine Gesinnung im Sinne von innerer Haltung. Zum anderen könnten sie äußere Umstände oder Absichten verlangen, die eine bestimmte Gesinnung zum Ausdruck bringen. Die erste Alternative ist für unser Strafrecht ausgeschlossen. Die zweite erfasst sämtliche Merkmale eines Delikts, denn in jedem Delikt äußert sich eine Gesinnung. Auch die Absicht, sich etwas rechtswidrig zuzueignen, bezeugt eine Gesinnung, konkretisiert nämlich eine innere Haltung – hier: zu fremdem Eigentum – in einem fassbaren psychischen Befund. Für die Beispiele „roh“ und so weiter gilt dann lediglich das, was Rdn. 177 ausgeführt ist, also nichts qualitativ Besonderes. Daher ist der Begriff der Gesinnungsmerkmale dogmatisch entbehrlich. Die betroffenen Merkmale geben jedoch Anlass, sowohl an den Gesetzgeber als auch an den Rechtsanwender zu appellieren: Der Gesetzgeber muss den Bestimmtheitsgrundsatz ernster nehmen, und der Rechtsanwender darf sich bei der Subsumtion nicht mit einer vagen Wertung begnügen, sondern muss objektivierbare Befunde namhaft machen. Soweit es um innere Tatsachen in der Person des Täters geht, müssen sie so fassbar sein wie – zum Beispiel – die Zueignungsabsicht des Diebes.

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c) Teil der Schuld ist nach verbreiteter Lehre auch der Vorsatz in Form der Vorsatzschuld und kraft einer Doppelstellung im subjektiven Tatbestand und in der Schuld (Nachweise in Fn. 223). Diese Lehre ist verbrechenssystematisch zunächst zulässig, da ein Merkmal an mehr als einer Stelle des Deliktsaufbaus in Erscheinung treten kann (Sch/Schröder/Eisele Rdn. 12 m.w.N.). Allerdings verdankt sie sich keiner tieferen systematischen Erkenntnis, sondern ist nur ein Kunstgriff, um beim Erlaubnistatbestandirrtum zugleich den Vorsatz des Irrenden auszuschließen und für Teilnehmer eine vorsätzliche Haupttat zu erhalten („rechtsfolgenverweisende eingeschränkte Schuldtheorie“). Ein besonders überzeugendes Verbrechensmodell kommt dabei nicht heraus. Vielmehr bietet diese Lehre erneut Anlass, ein Modell zu entwerfen, in dem der Vorsatz im Unrechtsbewusstsein aufgeht (T. Walter Kern des Strafrechts, S. 196 ff). VII. Regelungen jenseits von Unrecht und Schuld

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1. a) Als belastende Merkmale jenseits von Unrecht und Schuld kennt die herrschende Dogmatik objektive Bedingungen der Strafbarkeit. Sie gehören dem materiellen Recht an mit allen Vorteilen, die dies für den Rechtsunterworfenen hat (Rückwirkungsverbot, In-dubio-Grundsatz, Strengbeweis, Freispruch bei Nichtvorliegen [statt Einstellung], Zwei-Drittel-Mehrheit in der Abstimmung der Richter). Auch teilnahmefähig ist eine Tat nur, wenn sie die objektiven Strafbarkeitsbedingungen erfüllt (weswegen es im Internationalen Strafrecht den § 9 Abs. 2 Satz 2 gibt, T. Walter JuS 2006 870, 873). Ebenso setzt eine Strafe wegen Versuches voraus, dass die objektive Bedingung der Strafbarkeit eintritt (Kindhäuser LPK Rdn. 232). Ferner begründet der Ort, an dem die Bedingung eintritt, nach herrschender Meinung einen Erfolgsort gemäß § 9 Abs. 1.247 Auf der anderen Seite sind objektive Strafbarkeitsbedingungen dem Erfordernis von Vorsatz oder Fahrlässigkeit (§ 15) entzogen. Auch muss das Verhalten des Täters für sie nicht in jedem Fall

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247 BGHSt 42 235, 242 ff (vgl. Fn. 2); RGSt 16 188; Gribbohm LK11 § 9 Rdn. 23; Werle/Jeßberger LK12 § 9 Rdn. 37; aA Jescheck LK11 Rdn. 87.

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ursächlich sein. Objektive Bedingungen der Strafbarkeit haben daher eine Zwitterstellung zwischen materiellem und Prozessrecht. Als Argument gegen eine Verortung im Prozessrecht bringt die herrschende Meinung vor, dass die fraglichen Bedingungen einen „besonderen Grad der Beeinträchtigung“ des Angriffsobjektes kennzeichneten (Jescheck LK11 Rdn. 85f). Als Argument gegen eine Behandlung als Tatbestandsmerkmale spreche, dass bereits die anerkannten Tatbestandsmerkmale hinreichten, um Unrecht und ein Delikt zu begründen. Dies gelte freilich uneingeschränkt nur für die sogenannten echten objektiven Strafbarkeitsbedingungen: die diplomatischen Beziehungen und die Verbürgung der Gegenseitigkeit in § 104a,248 die Eröffnung des Insolvenzverfahrens (und so fort) in § 283 Abs. 6 (§ 283d Abs. 4) und die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts nach §§ 3 ff. Hingegen gerieten andere objektive Strafbarkeitsbedingungen in Spannung mit dem Schuldprinzip, weil sie „verkappte Strafschärfungsgründe oder […] strafbegründende Tatbestandsmerkmale“ seien (Jescheck LK11 Rdn. 86); daher nenne man sie unechte Strafbarkeitsbedingungen: beim Raufhandel nach § 231 die schwere Folge, bei der üblen Nachrede nach § 186 die Nichterweislichkeit des Behaupteten und beim Vollrausch nach § 323a die Rauschtat.249 Im Vergleich zu Strafausschließungsgründen (Rdn. 186 ff) sind objektive Bedingungen 182 der Strafbarkeit zunächst lediglich eine redaktionelle Umkehrung.250 Jedoch sind Strafausschließungsgründe zumindest ganz überwiegend persönlich gefasst und gelten dann nur für den Beteiligten, in dessen Person sie vorliegen oder eintreten. Ausnahmen gibt es nur, soweit man sachliche Strafausschließungsgründe anerkennt. Viele tun dies für § 37 (Parlamentarische Berichte),251 den die wohl noch herrschende Ansicht jedoch als Rechtfertigung begreift,252 und für § 186 hinsichtlich der Erweislichkeit des Behaupteten (was nur noch eine Formulierungsfrage ist, wenn man die Nichterweislichkeit als objektive Bedingung der Strafbarkeit einstuft). b) Demgegenüber ist kritisch zu bemerken, dass alles für die Zugehörigkeit eines 183 Merkmals zum Tatbestand streitet, wenn dieses Merkmal tatsächlich den Grad der Beeinträchtigung des Angriffsobjektes mitbestimmt. Umgekehrt spricht einiges dafür, ein Merkmal als Prozessvoraussetzung zu betrachten, wenn bereits die anderen Merkmale eines gesetzlichen Tatbestandes straftaugliches Unrecht ergeben. Daher ist es verständlich, wenn einige Autoren objektive Bedingungen der Strafbarkeit grundsätzlich ablehnen (Bemmann Zur Frage der objektiven Bedingungen der Strafbarkeit [1957] S. 52 ff; Jakobs AT 10/2 ff). Auf der anderen Seite ist für die echten Strafbarkeitsbedingungen sehr zweifelhaft, dass sie den Grad der Beeinträchtigung durch das Delikt (mit-)kennzeichnen. Näher liegt, dass es sich um prozessuale Opportunitätserwägungen handelt. In diesem Fall muss der Gesetzgeber allerdings die Möglichkeit haben, die Grenze der Strafbarkeit schon im materiellen Recht zu ziehen, ohne sogleich verpflichtet zu sein, die tätergünstigste Lösung eines Tatbestandsmerkmals zu wählen. Nur ist es müßig, diese kriminalpolitische Entscheidung aus der Natur der geregelten Sachverhalte ableiten zu wollen. Sie kann bei objektiven Bedingungen der Strafbarkeit die Gleiche sein wie bei

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248 Anders Geisler S. 544 ff, 552 ff: Das Unterhalten diplomatischer Beziehungen sei ein Tatbestandsmerkmal, die Verbürgung der Gegenseitigkeit nur eine Prozessvoraussetzung. 249 Für die Natur auch dieser Merkmale als objektive Strafbarkeitsbedingungen die h.M.: Sch/Schröder/Eisele Rdn. 124; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 207 m.w.N. 250 BGHSt 11 273, 274; Jescheck/Weigend § 53 I 2a (S. 556) (für die „echten“ Strafbarkeitsbedingungen); Klimsch S. 177; Roxin AT I § 23 Rdn. 5; Schroeder LK11 § 16 Rdn. 61; Sch/Schröder/Eisele Rdn. 124. 251 Fischer § 37 Rdn. 1; Jescheck/Weigend § 52 I 1 (S. 551 f); Sch/Schröder/Eisele Rdn. 13/14; Sch/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vor § 32 Rdn. 131. 252 OLG Braunschweig NJW 1953 516, 517; Hoyer SK § 37 Rdn. 1; Jakobs AT 16/30; Roxin AT I § 23 Rdn. 14.

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Prozessvoraussetzungen. Etwa ist zwischen § 283 Abs. 6 oder § 283d Abs. 4 und einem prozessualen Antragserfordernis kein wesensmäßiger Unterschied der Sachverhalte erkennbar. Daher ist es auch möglich, objektiven Bedingungen der Strafbarkeit eine prozessuale Doppelwirkung beizulegen (Rdn. 184). Für die oben so genannten unechten Strafbarkeitsbedingungen hingegen ist festzustellen, dass die gesetzlichen Tatbestände nach Abzug der Bedingung kaum oder kein straftaugliches Unrecht hergeben: sich an einer folgenlosen, gar einverständlichen Schlägerei zu beteiligen, sich zu betrinken oder etwas Wahres (nur nicht als wahr zu Erweisendes) zu behaupten, ist nicht das, was man sich unter einer Straftat vorstellt (aA für die Schlägerei Geisler GA 2000 166, 176 ff). Daher ist in diesen Fällen mit einer Reihe von Autoren ein Verschulden des Täters für den Eintritt der Bedingung zu verlangen und ist die Bedingung mithin als Tatbestandsmerkmal zu behandeln.253 Wie dies im Einzelnen geschieht und ob Vorsatz oder Fahrlässigkeit zu fordern ist, bleibt Sache des Gesetzgebers; ein Formulierungsvorschlag zu § 186 bei T. Walter Kern des Strafrechts, S. 76. 184

c) Soweit objektive Bedingungen der Strafbarkeit gesetzgeberisch nicht zu beanstanden sind, also bei den Rdn. 181 so genannten echten Strafbarkeitsbedingungen, stände es dem Gesetzgeber auch frei, diesen Merkmalen eine prozessuale Doppelwirkung beizulegen mit der Folge, dass sie stets von Amts wegen zu prüfen sind, dass ein Verfahrenshindernis besteht, wenn sie nicht erfüllt sind, und dass ein laufendes Verfahren einzustellen ist, sobald sie entfallen (was unter den Rdn. 181 aufgezählten Normen § 104a und §§ 3 ff betreffen kann). Diese Freiheit hat auch der Anwender des Gesetzes, sofern er damit nicht in Widerspruch zu dem erklärten Willen des Gesetzgebers gerät. Derzeit verleiht man eine prozessuale Doppelwirkung namentlich den Vorschriften des Internationalen Strafrechts.

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d) Aus dem Wortlaut des Gesetzes lässt sich nicht klar erkennen, ob ein Merkmal eine objektive Bedingung der Strafbarkeit sein soll. Zwar gilt als typische Formulierung ein Bedingungssatz mit dem Bindewort „wenn“, der nach der Strafdrohung steht. Für eine echte Strafbarkeitsbedingung findet man sie indes wohl nur in § 283 Abs. 6 und § 283d Abs. 4, während sie sonst überwiegend für unechte Strafbarkeitsbedingungen steht (in §§ 186, 231 und 323a). Auch in § 13 VStGB bezeichnet sie nach herrschender Ansicht ein Tatbestandsmerkmal, hinsichtlich dessen Fahrlässigkeit erforderlich ist (Werle Rdn. 502).

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2. a) Eine entlastende Kategorie jenseits von Unrecht und Schuld sind die überwiegend persönlichen Strafausschließungsgründe wie beispielsweise die Minderjährigkeit beim Inzest (§ 173 Abs. 3). Sie gehören dem materiellen Recht an, müssen im Tatzeitpunkt vorhanden sein und stehen einer Strafe von vornherein entgegen (wohingegen Strafaufhebungsgründe wie der Rücktritt nach § 24 erst im Nachhinein entstehen und die Strafbarkeit ex post beseitigen, Rdn. 191).254 Charakteristikum der Strafausschließungsgründe ist nach herrschender Auffassung, dass sie die Strafe für solche Taten verhindern, die zwar strafwürdig sind, für die aber ein Strafbedürfnis fehlt. Der Gesetzgeber sei frei, das Strafbedürfnis nach übergeordneten Gesichtspunkten zu verneinen, und habe

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253 Fahrlässigkeit verlangen Geisler S. 452 ff, 466 (für § 186); Hirsch LK11 § 227 Rdn. 1 (zum heutigen § 231); Roxin AT I § 23 Rdn. 8 f (zu § 323a), 12 f (zu § 231), 18 f (zu § 186). Für § 323a verlangt Geisler S. 388 ff, der Rausch müsse die konkrete Gefahr einer Tat von der Art der später begangenen begründen. 254 Jescheck/Weigend § 52 II (S. 552 f); Kindhäuser LPK Rdn. 234; Sch/Schröder/Lenckner/SternbergLieben Vor § 32 Rdn. 127, 133; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 729 ff; krit. zu der Unterscheidung Bloy S. 238 Fn. 93; Klimsch S. 173.

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keine Pflicht, Schuld stets und vollständig mit Strafe zu ahnden.255 In der Regel wirken die Strafausschließungsgründe persönlich, also nur für den, in dessen Person sie vorliegen oder eintreten. Als Ausnahmen werden zum Teil § 37 sowie für § 186 die Erweislichkeit des Behaupteten genannt (Rdn. 182). Soweit man solche Ausnahmen anerkennt, lässt sich von sachlichen Strafausschließungsgründen sprechen.256 Eine strenge Grenze zieht man zu jenen Prozesshindernissen, die ihrer Natur nach 187 mit den Strafausschließungsgründen verwandt sind, etwa dem Fehlen eines Strafantrages, sofern der Antrag erforderlich wird, weil das Opfer dem Täter häuslich oder familiär verbunden ist (§§ 247, 259 Abs. 2, § 263 Abs. 4, § 265a Abs. 3, § 266 Abs. 2). Sie berührten nur die Verfolgbarkeit, nicht das Strafbedürfnis.257 Auf der anderen Seite ist eine ebenso strenge Grenze zu den Tatbestandsausschlüssen zu ziehen, die ihrer Natur nach ebenfalls häufig mit Strafausschließungsgründen verwandt sind; und zwar dann, wenn sie wie § 218a Abs. 1 (Abtreibung nach Beratung) lediglich strafbares Unrecht von sonstigem Unrecht abscheiden (Ultima-ratio-Funktion) statt die Linie zwischen Unrecht und rechtmäßigem Verhalten nachzuzeichnen (Rdn. 45). Sowohl die Grenze zum Prozessrecht als auch die zu den Tatbestandsausschlüssen ist mit Blick auf die Folgen der Einteilung wichtig: Im Prozessrecht fehlen einige Sicherungen zugunsten des Beschuldigten (Rdn. 181), und anders als Tatbestandsausschlüsse sind Strafausschließungsgründe zum Teil irrtumsresistent, das heißt unabhängig von den Kenntnissen oder irrigen Annahmen des Täters (s. aber Rdn. 198). b) Mit Blick auf die Natur der geregelten Sachverhalte sind die soeben Rdn. 187 188 angeführten Grenzen allerdings nicht zu begründen, denn insoweit sind die Tatbestandsausschlüsse (der genannten Art), die Strafausschließungsgründe und die Prozesshindernisse nicht nur verwandt, sondern identisch. Zur inhaltlichen Gemeinsamkeit mit den Tatbestandsausschlüssen Rdn. 47. Dort schon das Beispiel der Geringfügigkeit (Bagatelle), die etwa für die Sexualdelikte nach § 184f Nr. 1 zu einem Tatbestandsausschluss führt, in § 326 (Unerlaubter Umgang mit gefährlichen Abfällen) jedoch einen Strafausschließungsgrund bildet (Abs. 6). Und in den Eigentums- und Vermögensdelikten begründet sie nur noch ein prozessuales Antragserfordernis (§ 248a und auf § 248a gerichtete Verweisungen). Auch für die Minderjährigkeit beim Inzest (§ 173 Abs. 3) ist kaum ein Unterschied zu erkennen zu den prozessualen Altersregeln in § 19 StGB und § 1 Abs. 2 JGG. Ferner mag der Gedanke von Nachsicht mit menschlicher Schwäche bei der Selbst- oder der Angehörigenbegünstigung das eine Mal den Tatbestand beschneiden und das andere Mal lediglich einen Strafausschließungsgrund liefern (vgl. §§ 120, 258). Weitere Beispiele bei T. Walter Kern des Strafrechts, S. 71 ff. Daher hat sich der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung einer entlastenden Regelung nicht nur von der Natur des zu regelnden Sachverhaltes leiten zu lassen. Vielmehr hat er den Blick auf die Folgen zu richten (Rdn. 186 a.E.) und dann nach kriminalpolitischem Ermessen zu entscheiden. Entsprechendes gilt für den Anwender des Gesetzes, sofern ihm der Wille des Gesetzgebers keine bindenden Vorgaben macht (wie aber etwa für § 326 Abs. 6, vgl. BT-Drs. 8/ 3633, S. 29). Dabei ist es weder angemessen noch ergiebig, sich um eine Trennung von Strafbedürftigkeit und Strafwürdigkeit zu bemühen (T. Walter Kern des Strafrechts, S. 70 f). Zu bedenken haben wird man indes, dass ein Strafausschließungsgrund oder Prozesshindernis nur in Frage kommt, wenn die Merkmale des Tatbestandes trotz des

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255 Jescheck/Weigend § 52 I 1 (S. 551 f); Sch/Schröder/Eisele Rdn. 13/14; Sch/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vor § 32 Rdn. 127 ff. 256 So Roxin AT I § 23 Rdn. 4, 26; Sch/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vor § 32 Rdn. 131. 257 Freund MK Rdn. 399; Jescheck/Weigend Vor § 52 (S. 551) und § 52 I 2 (S. 552).

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fraglichen Umstandes etwas ergeben, das sich als ein Verstoß gegen elementare und gesellschaftsnotwendige Verhaltensregeln bezeichnen lässt. Wünschenswert ist ferner, dass der Gesetzgeber seinen Willen im Wortlaut zum Ausdruck bringt, indem er die für Strafausschließungsgründe typische Formulierung wählt: „wird nicht […] bestraft“ (§ 173 Abs. 3, § 257 Abs. 3, § 258 Abs. 5) oder, sprachlich besser, „bleibt straffrei“ (§ 258 Abs. 6). Diese zweite Formulierung ist allerdings nicht zu verwechseln mit der Straffreierklärung, die § 199 erlaubt und die anders zu tenorieren ist. 189

c) Der Wortlaut des Gesetzes spielt derzeit für die verbrechenssystematische Einordnung entlastender Regelungen nur eine indizielle Rolle, und für praktisch alle entlastenden Regelungen, welche die herrschende Meinung als Strafausschließungsgründe einstuft, ist diese Einstufung im Streit zugunsten einer Einstufung als Tatbestandsausschluss oder Entschuldigungs- oder Schuldausschließungsgrund. Das liegt daran, dass sich die Einstufungsbemühungen stets auf die Natur der geregelten Sachverhalte konzentrieren, die dafür unergiebig ist (Rdn. 188). Nach herrschender Meinung sind Strafausschließungsgründe: – § 36 (Parlamentarische Äußerungen). 258 Alternative Lösungen: Tatbestandsausschluss (Jakobs AT 10/16; Kindhäuser LPK Rdn. 227), Rechtfertigung,259 Schuldausschließungsgrund (Sauer AT S. 196), Prozesshindernis (Mezger Strafrecht, S. 74). – § 173 (Beischlaf zwischen Verwandten) Abs. 3 (Minderjährigkeit der Abkömmlinge oder Geschwister).260 Alternative Einstufungen: Entschuldigungsgrund (Jescheck/ Weigend § 42 II 1 a.E. [S. 472] m.w.N.), Schuldausschließungsgrund (Bloy S. 146), teils Entschuldigungs- und teils Schuldausschließungsgrund (Klimsch S. 161), ausgeschlossene „Verantwortlichkeit“ (Roxin AT I § 23 Rdn. 16). – § 218a Abs. 4 Satz 1 (Straffreiheit für die Schwangere bei Abtreibung nach Beratung durch Arzt binnen 22 Wochen nach Empfängnis).261 – § 257 (Begünstigung) Abs. 3 Satz 1 (Beteiligung an der Vortat) (Kindhäuser LPK Rdn. 235; T. Walter LK12 § 257 Rdn. 79; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 726). – § 258 (Strafvereitelung) Abs. 5 (der Täter ist zugleich bemüht, die eigene Bestrafung zu verhindern). 262 Alternative Einstufungen: Entschuldigung, 263 Ausschluss der „Verantwortlichkeit“ (Roxin AT I § 23 Rdn. 16). – § 258 (Strafvereitelung) Abs. 6 (Täter der Vortat ist ein Angehöriger des Vereitelnden).264 Alternative Einstufungen: Entschuldigung,265 Ausschluss der „Verantwortlichkeit“ (Roxin AT I § 22 Rdn. 139, § 23 Rdn. 16).

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258 Klimsch S. 180 ff; Roxin AT I § 23 Rdn. 24; Sch/Schröder/Perron § 36 Rdn. 1; Stratenwerth/Kuhlen § 7 Rdn. 30; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 726. 259 Köhler AT S. 242 (einschränkend: „wohl“); ebenso („scheint mir […] näherzuliegen“) Helle NJW 1961 1896, 1900. 260 Kindhäuser LPK Rdn. 235; Sch/Schröder/Lenckner/Bosch § 173 Rdn. 9; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 726. 261 Lackner/Kühl/Kühl § 218a Rdn. 23; Sch/Schröder/Eser § 218a Rdn. 68 f; Fischer § 218a Rdn. 34; wohl auch Kindhäuser LPK Rdn. 235, wo aber von Satz 2 die Rede ist. 262 BGHSt 9 180, 182; Kindhäuser LPK Rdn. 235; Lackner/Kühl/Kühl § 258 Rdn. 16; Sch/Schröder/Stree/ Hecker § 258 Rdn. 37; Fischer § 258 Rdn. 34; T. Walter LK12 § 258 Rdn. 126; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 726. 263 Rönnau LK Vor § 32 Rdn. 339; Jescheck/Weigend § 47 II 3a (S. 504); Klimsch S. 153 f; Schroeder FS Eser, 181, 185 („Spezialregelungen der Schuld“). 264 Kindhäuser LPK Rdn. 235; Sch/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vor § 32 Rdn. 129; Sch/Schröder/ Stree/Hecker § 258 Rdn. 41; Fischer § 258 Rdn. 39; T. Walter LK12 § 258 Rdn. 136; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 726. 265 Bloy S. 129; Rönnau LK Vor § 32 Rdn. 340; Jescheck/Weigend § 47 II 3a (S. 505); Klimsch S. 41, 146 ff; Schroeder FS Eser, S. 181, 185 („Spezialregelungen der Schuld“).

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§ 326 (Unbefugter Umgang mit gefährlichen Abfällen) Abs. 6 (keine Umweltgefährdung wegen geringer Menge).266 Alternative Lösung: Straffreierklärung eigener Art (Steindorf LK11 § 326 Rdn. 144).

Nach minderheitlich vertretener Ansicht sind Strafausschließungsgründe auch: 190 § 37 (Parlamentarische Berichte), den die herrschende Meinung als Rechtfertigung ansieht (Rdn. 182); § 109g (Sicherheitsgefährdendes Abbilden) Abs. 4 Satz 2 (Sch/Schröder/ Eser § 109g Rdn. 13, der allerdings im Gegensatz zum Wortlaut meint, maßgeblich sei allein die Vorstellung des Handelnden von einer behördlichen Erlaubnis; die herrschende Meinung betrachtet diese Regelung zutreffend als Rechtfertigung [Fn. 205]); § 8 TMG (zu ihm Rdn. 151); §§ 18 f GVG (Kindhäuser LPK Rdn. 235; nach h.M. rein prozessuale Vorschriften). 3. a) Als Strafaufhebungsgründe betrachtet man Umstände, denen das Gesetz die 191 gleiche Wirkung zubilligt wie den Strafausschließungsgründen, die aber erst nach der Tat eintreten und die Strafbarkeit so auch nur ex post beseitigen. Zu ihnen rechnet die h.M. – den Rücktritt nach § 24;267 – tätige Reue, soweit der Besondere Teil sie zulässt, etwa in § 306e (aA Roxin AT I § 23 Rdn. 17: Ausschluss der „Verantwortlichkeit“);268 – den Straferlass nach Bewährung gemäß § 56g Abs. 1 (Kindhäuser LPK Rdn. 237; Jescheck/Weigend § 52 II 2 [S. 553]); – die Verfolgungsverjährung nach § 78 Abs. 1 Satz 1 (mit prozesshindernder Doppelwirkung);269 – eine Amnestie (mit prozesshindernder Doppelwirkung); 266 – die Begnadigung des Verurteilten durch den Ministerpräsidenten eines Landes oder den Bundespräsidenten (Art. 60 GG, näher Jescheck/Weigend § 88 [S. 922 ff]) (mit prozesshindernder Doppelwirkung).266 Stark umstritten sind die Regelungen des § 139. Für Abs. 3 Satz 1 (Straflosigkeit der 192 Nichtanzeige geplanter Straftaten für Angehörige, die sich ernsthaft bemühen, den Täter abzuhalten oder den Erfolg abzuwenden) vertritt die wohl herrschende Meinung,270 es handele sich um einen Strafaufhebungsgrund. Andere nehmen einen Schuldausschließungs- oder Entschuldigungsgrund an271 oder einen Grund ausgeschlossener „Verantwortlichkeit“ (Roxin AT I § 23 Rdn. 16). Die entsprechende Bestimmung für Rechtsan-

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266 Lackner/Kühl/Heger § 326 Rdn. 12; Sch/Schröder/Heine/Hecker § 326 Rdn. 17; Fischer § 326 Rdn. 58. 267 BGH StV 1981 1; Kindhäuser LPK Rdn. 237; Lackner/Kühl/Kühl § 24 Rdn. 1; Sch/Schröder/Eser/Bosch § 24 Rdn. 4; aA Klimsch S. 104 f: Strafbefreiungsvorschrift sui generis; Roxin AT I § 23 Rdn. 17: Ausschluß der „Verantwortlichkeit“; viele verstehen den Rücktritt auch als „Schuldaufhebungsgrund“, etwa Zaczyk NK § 24 Rdn. 6 m.w.N. 268 Kindhäuser LPK Rdn. 237; Sch/Schröder/Heine/Bosch § 306e Rdn. 1 m.w.N.; Fischer § 306e Rdn. 1; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 727. 269 Jescheck/Weigend § 52 II 2 (S. 553); Kindhäuser LPK Rdn. 237 (ohne den Hinweis auf eine prozessuale Doppelwirkung und die Verjährung Rdn. 241 als rein prozessual betrachtend); Sch/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben Vor § 32 Rdn. 133; wohl auch Freund MK Rdn. 399 („vor allem prozessual bedeutsam“ – also nicht nur prozessual); insbesondere für die Doppelnatur der Amnestie BGHSt 24 262, 265; Beulke Rdn. 282. 270 Lackner/Kühl/Kühl § 139 Rdn. 3; Maurach/Schroeder/Maiwald BT II § 98 Rdn. 26; Fischer § 139 Rdn. 5. 271 Bloy S. 129 ff; Hanack LK12 § 139 Rdn. 23; Jescheck/Weigend § 52 II 2 (S. 553); Klimsch S. 41, 137 ff; Sch/Schröder/Sternberg-Lieben § 139 Rdn. 4. Wohl auch Freund MK Rdn. 253.

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wälte, Verteidiger und Ärzte in Satz 2 betrachtet die herrschende Ansicht zutreffend als Rechtfertigung (vgl. Rdn. 148).272 Andere gehen aber von einem Strafaufhebungsgrund273 aus oder von einem Tatbestandsausschluss.274 Für Absatz 4 (straflos bleibt, wer die Tat oder ihren Erfolg anders abwendet als durch eine Anzeige) lautet die herrschende Ansicht wieder, dass es sich um einen persönlichen Strafaufhebungsgrund handele, den einige allerdings als Strafausschließungsgrund bezeichnen.275 Eine beachtliche Minderheit betrachtet diese Regelung als Tatbestandsausschluss.276 Bloy S. 139 spricht von einem materiellen Unrechtsausschluss (zust. Klimsch S. 186). — Nach minderheitlich vertretener Ansicht sind auch Rückwirkungen des Zivilrechts infolge einer Genehmigung oder Anfechtung Strafaufhebungsgründe.277 193

b) Auch hinsichtlich der Strafaufhebungsgründe ist kritisch anzumerken, dass sich die Grenze zum Prozessrecht nicht aus der Natur der geregelten Sachverhalte ergibt. (Die Grenze zu den Ausschlüssen des Tatbestands ist unproblematisch, weil solche Ausschlüsse nicht ex post eintreten können.) Das ist schon daraus ersichtlich, dass man Begnadigung, Amnestie und der Verfolgungsverjährung eine prozessuale Doppelwirkung zugesteht. Auch der Straferlass nach Ablauf der Bewährungsfrist ließe sich als prozessuales Vollstreckungshindernis begreifen. Wiederum geht es um eine kriminalpolitische Entscheidung, die sich an den Folgen der verbrechenssystematischen Zuordnung auszurichten hat. Der Gesetzgeber sollte seine Entscheidung für einen Strafaufhebungsgrund im Wortlaut deutlich machen, am besten durch die Formulierung „wird straffrei“ (im Gegensatz zu einem „bleibt straffrei“ für die Strafausschließungsgründe).

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4. a) Stellt man objektive Bedingungen der Strafbarkeit sowie Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe in einen größeren Zusammenhang mit den sogenannten Entschuldigungsgründen und anderen Vorschriften, die eine Strafmilderung oder sonstige Entlastung des Täters erzwingen oder gestatten, so fällt bei aller redaktionellen Vielfalt auf, dass sich zunächst zwei große Kategorien bilden lassen. Deren erste besteht aus materiellrechtlichen Opportunitätsregeln, die zweite aus prozessualen Vorschriften (T. Walter Kern des Strafrechts, S. 135 ff, 202 ff). Für die Zuordnung einer Vorschrift oder gewohnheitsrechtlichen Entlastung zu den materiellrechtlichen Opportunitätsregeln ist entscheidend, ob die Regelung Abstriche von einer rechtlichen Verhaltensanforderung macht oder nicht. Das Recht hat klar zu entscheiden, was es von seinen Adressaten erwartet. Genügen sie den Erwartungen bewusst, fehlen schon Unrecht und Schuld (bei nur unbewusster Verhaltenskonformität kommt Versuchsunrecht und -schuld in Betracht). Genügen sie den Erwartungen bewusst nicht, obschon sie steuerungsfähig sind, kommt es zu Unrecht und Schuld und fragt sich nur noch, ob das Recht aufgrund übergeordneter Erwägungen auf Strafe verzichtet; sei es durch entlas-

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272 Hanack LK12 § 139 Rdn. 31; Jescheck/Weigend § 52 II 2 (S. 553); Lackner/Kühl/Kühl § 139 Rdn. 2; Roxin AT I § 23 Rdn. 15; Fischer § 139 Rdn. 7. 273 Maurach/Schroeder/Maiwald BT II § 98 Rdn. 26; Welzel Strafrecht, S. 518 (persönlicher Strafausschließungsgrund). 274 Kielwein GA 1955 225, 230 f; Sch/Schröder/Sternberg-Lieben § 139 Rdn. 3/4. 275 Hanack LK12 § 139 Rdn. 37; Lackner/Kühl/Kühl § 139 Rdn. 4; Maurach/Zipf § 35 Rdn. 31; Fischer § 139 Rdn. 11 (Strafausschließungsgrund); Welzel Strafrecht, S. 518 (Strafausschließungsgrund). 276 Jescheck/Weigend § 52 II 2 (S. 553); Rudolphi/Stein SK § 139 Rdn. 14; Sch/Schröder/Sternberg-Lieben § 139 Rdn. 6. 277 Brennenstuhl Die Rückwirkungsanordnungen des bürgerlichen Rechts und ihre Bedeutung für das Strafrecht (1994) S. 56 ff, 132 ff für die Anfechtung; Fischer Vor § 32 Rdn. 17b; Weber GedS Schlüchter, S. 243, 244 ff.

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tende Ausnahmevorschriften, sei es durch Errichtung zusätzlicher Strafbarkeitsbedingungen. Die Grenze zu den prozessualen Regelungen ist dann lediglich noch eine Frage folgenorientierten kriminalpolitischen Ermessens. Nach diesen Maßgaben sind die sogenannten Entschuldigungsgründe nach dem 195 Muster des § 35 ebenso materiellrechtliche Opportunitätsregeln wie die Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe und die echten objektiven Bedingungen der Strafbarkeit. Unter den entlastenden Opportunitätsregeln lässt sich sodann noch einmal eine homogene Gruppe von Regelungen zusammenfassen, die allesamt auf dem Gedanken beruhen, dass die Gerichte für bestimmte Ausnahmesituationen Nachsicht mit menschlicher Schwäche üben müssen, und die man Nachsichtsregeln nennen mag (Rdn. 168 ff) (§§ 33, 35, 139 Abs. 3 Satz 1, § 157 Abs. 1 und 2, § 173 Abs. 3, § 174 Abs. 4, § 182 Abs. 4, § 199, § 213, § 217 a.F., § 218 Abs. 3, § 218a Abs. 4 Satz 2, § 258 Abs. 5 und 6 sowie praeter legem geschaffene „Entschuldigungen“, soweit man sie anerkennt, in Betracht kommen prima facie: Unzumutbarkeit [Unterlassungs- und Fahrlässigkeitsdelikte], Gewissenstat, übergesetzlicher entschuldigender Notstand). Diesen Nachsichtsregeln stehen die übrigen entlastenden Opportunitätsregeln gegenüber, die sich unterschiedlichen kriminalpolitischen Erwägungen verdanken und daher – wenn auch etwas farblos – kriminalpolitische Opportunitätsregeln heißen mögen (§ 23 Abs. 3, §§ 36, 46a, 60, § 84 Abs. 4, § 86 Abs. 4, § 129 Abs. 5, § 139 Abs. 1, § 218a Abs. 4 Satz 1, § 257 Abs. 3, § 326 Abs. 6, § 29 Abs. 5 BtMG sowie praeter legem geschaffene Strafmilderungen, soweit man sie anerkennt und sie noch kein Verfahrenshindernis begründen, so beim Einsatz staatlicher Lockspitzel oder bei überlanger Verfahrensdauer). b) Die menschliche Schwäche, um die es in den Nachsichtsregeln geht, hat im Tat- 196 bestand dieser Regeln zum Teil durch ein Merkmal Ausdruck gefunden. So spricht § 33 von Verwirrung, Furcht oder Schrecken und § 213 von Zorn und davon, dass der Täter zur Tat „hingerissen“ wird. In anderen Vorschriften fehlt ein solches Merkmal, obschon die Ratio – Nachsicht mit menschlicher Schwäche – ebenso klar zutage liegt. So kommt in § 35 nicht eindeutig zum Ausdruck, dass es um eine Tat in einer seelischen Ausnahmesituation geht. Das ist gesetzgeberisch schlecht und soweit möglich in der Auslegung zu berichtigen. Etwa kann man für § 35 sagen, dass dem Täter ohne einen tiefen seelischen Widerstreit und seelische Not die Hinnahme der Gefahr zumutbar sei (§ 35 Abs. 1 Satz 2). — Ferner unterscheiden sich die Nachsichtsregeln danach, ob sie auf einen rein inneren Tatbestand abstellen, etwa eine Absicht (§ 258 Abs. 5 und andere), auf einen rein äußeren Tatbestand, etwa das Alter des Täters (§ 173 Abs. 3) oder auf eine Verbindung von beidem dergestalt, dass wie bei einem Rechtfertigungsgrund ein äußerer Tatbestand vonnöten ist, von dem der Handelnde Kenntnis haben muss; Musterbeispiel ist die Notstandslage nach § 35 Abs. 1, da aus der Irrtumsregelung des Abs. 2 folgt, dass sie dem Täter bewusst sein muss. Bei anderen Nachsichtsregeln gibt es zwar keine Irrtumsregelung, aber ergibt sich das kumulative Erfordernis von äußerem und innerem Tatbestand klar aus dem Zweck. So wäre es für § 258 Abs. 6 kaum sinnvoll, die Strafe schon dann auszuschließen, wenn der Täter objektiv die Bestrafung eines Angehörigen vereitelt, aber diese Eigenschaft des Begünstigten gar nicht kennt. Denn die Erwägung hinter dieser Regelung ist eben die Nachsicht mit der menschlichen Schwäche in einem inneren Konflikt zwischen Rechts- und Verwandtentreue, der ohne jene Kenntnis ausgeschlossen ist. Allerdings fragt sich dann noch, ob dieses Normverständnis mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar ist. c) Als Rechtsfolgen entlastender Opportunitätsregeln kennt das geltende Recht 197 folgende vier (näher T. Walter Kern des Strafrechts, S. 206 f): einen Freispruch, wenn die 877

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Regelung Schuld oder Strafe ausschließt; ein Absehen von Strafe trotz Schuldspruchs (etwa § 23 Abs. 3), das üblicherweise im Ermessen des Gerichts steht, so in § 23 Abs. 3, aber auch zwingend vorgeschrieben sein kann, so in § 60; eine Straffreierklärung trotz Schuldspruchs (wohl nur noch in § 199); eine Milderung des Strafrahmens (§ 213, § 217 a.F.). Für die Nachsichtsregeln mag diese Vielfalt erstaunen, da sie auf einem einheitlichen Gedanken beruhen. Sie ist aber nicht widersprüchlich. Je nach der Situation, um die es einer Vorschrift geht, kann die menschliche Schwäche mehr oder weniger verzeihlich sein, und allgemein ist die Opportunität der Strafe graduell abstufbar, abstufbar folglich auch in der Rechtsfolge. Hinter den Abstufungen des geltenden Rechts ist allerdings kein System erkennbar, weswegen de lege ferenda größere Konsistenz anzustreben wäre. 198

d) Der Vorteil der Unterteilung in Rdn. 195 ist neben der systematischen Einsicht ein klarer Leitfaden für die Irrtumsdogmatik. Derzeit ist diese Dogmatik verworren; behandelt wird sie gemeinhin unter der Überschrift „Irrtümer über Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe“ (zum Streitstand T. Walter Kern des Strafrechts, S. 350 ff). Für die hier gebildeten Kategorien ist leicht zu unterscheiden: Irrtümer können nur eine Rolle spielen im Anwendungsbereich der Nachsichtsregeln. Auch dort können sie aber nur erheblich werden, wenn die einschlägige Regel nach dem Muster des § 35 aufgebaut ist, das heißt (jedenfalls auch) einen äußeren Tatbestand verlangt, dessen sich der Täter bewusst sein muss (Rdn. 196) und der die menschliche Schwäche verständlich macht. Und soweit dies der Fall ist, sind Irrtümer nach § 35 Abs. 2 (analog) zu behandeln. Dies gilt für alle Nachsichtsregeln bis auf § 157 Abs. 1 (rein subjektiv gefasst) und 2 (rein objektiv gefasst), § 173 Abs. 3 (rein objektiv gefasst) und § 258 Abs. 5 (rein subjektiv gefasst). Auch alle kriminalpolitischen sowie die belastenden Opportunitätsregeln (echte objektive Strafbarkeitsbedingungen) sind irrtumsresistent. Der Vorrang des § 35 Abs. 2 vor § 16 (Abs. 2) folgt aus dem Modellcharakter des § 35 für die Nachsichtsregeln. Die Regelung des § 35 Abs. 2 ist auch nicht zu beanstanden – anders als § 17, dem sie nachgebildet ist. Denn wie ein Irrtum im Anwendungsbereich von Opportunitätsregeln, also jenseits von Unrecht und Schuld zu behandeln sei, ist selbst eine Opportunitätsfrage jenseits von Unrecht und Schuld.

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5. a) Neben der Einteilung materiellrechtlicher Regelungen in solche zum Tatbestand, zur Rechtswidrigkeit und zur Schuld sowie in Regelungen jenseits von Unrecht und Schuld befürwortet das Schrifttum zum Teil noch eine (weitere) Auffangkategorie, und zwar materiellrechtlicher Regelungen außerhalb des Verbrechenssystems. Ein Fall ist die herrschende Meinung zur „Vorfilter“-Stellung des § 8 TMG. Wie aber eine systemexterne Lösung für diese Norm weder nötig noch wünschenswert ist (Rdn. 151), so auch in allen anderen Fällen, in denen man sie vorschlagen mag. Sie ist schon erkenntnistheoretisch zweifelhaft, weil eine Verbrechenslehre Anspruch auf Vollständigkeit erheben muss und der Ruf nach einem Raum außerhalb des Lehrgebäudes richtig verstanden nur der Ruf nach einer neuen Kategorie innerhalb der Lehre sein kann. Einer solchen Kategorie bedarf es aber neben den bereits anerkannten Kategorien nicht. Dabei ist mit „anerkannt“ ungeachtet der notorischen systematischen Streitigkeiten gemeint, dass man unterteilt zwischen materiellem und Prozessrecht sowie innerhalb des materiellen Rechts zwischen Regelungen zu Unrecht und Schuld einerseits und Regelungen jenseits davon andererseits.

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b) Auch der Einfluss des EU-Rechts auf das deutsche Strafrecht vollzieht sich einigen Autoren zufolge bei unmittelbar entlastender Wirkung außerhalb des überkommenen Walter

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Verbrechenssystems (Satzger Europäisierung, S. 510 [„selbständige Kategorie“]). Unstreitig und richtig ist zunächst, dass unmittelbar entlastend wirkendes EU-Recht dem deutschen Strafrecht vorgeht; unmittelbar entlastend wirken erstens Verordnungen, soweit sie ein Verhalten ausdrücklich oder im Umkehrschluss gestatten (abschließende Beschränkungen), zweitens die Grundfreiheiten des EG-Vertrages – allerdings mit zahlreichen geschriebenen wie ungeschriebenen Vorbehalten, namentlich den zwingenden Interessen des Allgemeinwohls278 – sowie drittens Richtlinien, sofern sie nicht fristgemäß umgesetzt worden sind, individuelle Rechte schaffen (wiederum: ausdrücklich oder im Umkehrschluss) und inhaltlich keines konkretisierenden Umsetzungsaktes bedürfen. Nach der Entscheidung des EuGH im Fall Pupino konnte eine solche unmittelbare Wirkung auch Rahmenbeschlüssen zukommen (EuGH NJW 2005 2839 ff m. Anm. Wehnert S. 3760 ff; Anm. Hillgruber JZ 2005 841). Unstreitig und richtig ist ferner, dass dem unmittelbar wirkenden EU-Recht lediglich ein Anwendungsvorrang gebührt.279 Das deutsche Strafrecht bleibt folglich in Kraft und auch auf alle Sachverhalte anwendbar, für die das EU-Recht keine Rolle spielt. Gestritten wird nun darüber, wie und wo sich der Anwendungsvorrang bei entlas- 201 tenden Bestimmungen verbrechenssystematisch auswirke. Ein Teil des deutschen Schrifttums nimmt einen Tatbestandsausschluss an (Hecker § 9 Rdn. 11; Satzger Europäisierung, S. 499 ff, 506 u.ö.). Im ausländischen Schrifttum hingegen hat man schon früh für einen Rechtfertigungsgrund plädiert, zumindest sofern das EU-Recht subjektive Rechte begründet (was bei den EG-Grundfreiheiten und unmittelbar anwendbaren Richtlinien stets der Fall sein dürfte).280 Ein anderer Teil der deutschen Autoren hat sich dem im wesentlichen angeschlossen (Heger in Böse [Hrsg.], Europäisches Strafrecht, § 5 Rdn. 88 ff; Kreis S. 170 ff; Weigend ZStW 105 [1993] 774, 781). Das ist auch richtig, und zwar ungeachtet dessen, ob das einschlägige EU-Recht individualbegünstigend wirken soll oder nicht, und auch ungeachtet dessen, ob im deutschen Strafrecht ein Blankett- oder ein sonstiger Straftatbestand in Rede steht. Entscheidend ist, dass die Verordnung, die Richtlinie (der Rahmenbeschluss) oder die Grundfreiheit das fragliche Verhalten insgesamt, das heißt auf allen Rechtsgebieten erlaubt. Eine solche umfassende Erlaubnis ist das alleinige und abschließende Kennzeichen der Rechtfertigungsgründe (Rdn. 148). Es gibt auch keinen Grund, für diese Wirkung eine neue Sphäre außerhalb des angestammten Verbrechensmodells zu erfinden, nur weil sie sich europäischen Rechtssätzen verdankt. Dass zwischen diesen Rechtssätzen und dem deutschen Recht keine „Einheit der Rechtsordnung“ bestehe, sondern zwei eigenständige Rechtsordnungen vorlägen (Satzger), stimmt, tut aber nichts zur Sache, denn der Mythos von der Einheit der Rechtsordnung ist auch sonst nur eine irreführende Beschreibung der Akzessorietät des Strafrechts (Rdn. 149). Das einzige ergebnisbezogene Gegenargument lautet, dass eine Rechtfertigung die Kenntnis von der Rechtfertigungslage bedinge und dass von ihr die Wirkung des EU-Rechts nicht abhängen dürfe (Hecker § 9 Rdn. 13; Satzger Europäisierung, S. 509). Beides trifft zu, spricht aber nicht dagegen, unmittelbar entlastend wirkendes EU-Recht als Rechtfertigung zu behandeln. Sind dessen Voraussetzungen objektiv erfüllt, ohne dass der Handelnde dies wüsste, so ist er zwar nach herrschender und zutreffender Lehre wegen Versuches zu bestrafen (näher T. Walter Kern des Strafrechts,

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278 EuGHE 1994 1039, 1096 (Schindler); Satzger § 9 Rdn. 82 f. 279 BGHSt 37 168, 175; Hecker § 9 Rdn. 8 f; Satzger § 9 Rdn. 80; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 171; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 117; vgl. EuGHE 1964 1251 (Costa./. ENEL). 280 Grasso Comunidades Europeas y Derecho penal (1993) S. 287 ff; Pedrazzi in Università di Parma (Hrsg.), Droit communautaire et droit pénal (1981) S. 49, 57 f; weitere Nachweise bei Satzger Europäisierung, S. 507.

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S. 98 f, 372 ff). Das schmälert aber weder die Geltung des EU-Rechts noch ist es sonst europarechtswidrig. Das fragliche Verhalten bleibt objektiv erlaubt, und niemand ist berechtigt, es zu verhindern. Und niemandem wird für die Zukunft die Motivation zu solchem Verhalten genommen, denn die Strafe wegen Versuches setzt gerade voraus, dass der Kenntnishorizont des Täters und damit auch seine Motivation den europarechtlichen Einschlag des Sachverhalts aussparen. VIII. Rechtsvergleichung 202

1. Stetig steigende Bedeutung gewinnt auch für das Strafrecht die Rechtsvergleichung. Das hat mehrere Gründe. Zum einen setzt sich mehr und mehr die alte Einsicht durch, dass auch im Strafrecht „das Vergleichen die Erkenntnis der verglichenen Gegenstände fördert“ (Tiedemann Tatbestandsfunktionen, S. 23 ohne die Hervorhebung).281 Das Charakteristische des eigenen Rechts tritt oft erst in einem Vergleich mit fremdem Recht hervor. Zum Zweiten muss sich der deutsche Strafrechtsanwender im Zuge der Internationalisierung der Kriminalität sowohl bei der Anwendung des sogenannten Internationalen Strafrechts – hauptsächlich §§ 3 ff – zunehmend mit dem Strafrecht des Auslands befassen (§ 7!) als auch bei der Anwendung des Rechtshilferechts (IRG). Drittens verstärkt die Europäisierung des Strafrechts das wechselseitige Interesse am Strafrecht anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Ambos RW 2017 247, 252 f; Freund MK Rdn. 110 ff; Vogel JZ 2012 25, 29 f): Es gibt ein supranationales Verwaltungsstrafrecht der Europäischen Union (näher Heitzer Punitive Sanktionen im Europäischen Gemeinschaftsrecht [1997]), dessen Allgemeiner Teil nur in Bruchstücken geschriebenes Recht und im Übrigen durch Rechtsvergleichung zu ermitteln ist; die Europäische Union bemüht sich um die Errichtung eines Raumes „der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ auch durch die gegenseitige Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen und die Angleichung strafrechtlicher Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten (Art. 67 ff, 82, 83 AEUV); Europol, OLAF, Eurojust und die Europäische Staatsanwaltschaft ermitteln grenzüberschreitend und haben dabei die Verfahrensrechte der Mitgliedstaaten anzuwenden, da es (noch) kein unmittelbar geltendes europäisches Kriminalstrafverfahrensrecht gibt; und es sind schon Modellentwürfe für einheitliches Strafrecht vorgelegt worden, namentlich das „Corpus Juris“282 und die „Europadelikte“, die ein Arbeitskreis unter der Leitung von Tiedemann zum Wirtschaftsstrafrecht ausgearbeitet hat.283 Zudem sieht Art. 325 Abs. 4 AEUV supranationales Strafrecht vor (näher Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 113 ff). Ferner bedient sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) zur Urteilsgewinnung der Rechtsvergleichung, und Gleiches gilt für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) (s. jeweils Jung GA 2005 2, 7). Die Methodik des EuGH und des EGMR steht zugleich für einen weiteren Grund des 203 Aufschwungs der Strafrechtsvergleichung, und zwar die verstärkte Tätigkeit internationaler Gerichtshöfe, die in der Regel nur auf einen schmalen und wenig gesicherten Fundus materiellen Strafrechts zurückgreifen können und für die Rechtsfortbildung auf ei-

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281 Siehe schon Feuerbach in seinem „Blick auf die deutsche Rechtswissenschaft“ (eine Vorrede für ein Buch von Unterholzner, veröffentlicht in Feuerbach Kleine Schriften vermischten Inhalts [1833] S. 152, 163): „Die reichste Quelle aller Entdeckungen in jeder Erfahrungswissenschaft ist Vergleichung und Kombination.“ 282 Delmas-Marty/Vervaele (Hrsg.) The implementation of the Corpus Juris in the Member States, 4 Bände, 2000–2001. Deutsche Übersetzung der französischen Fassung von T. Walter im Internet unter http://europa.eu.int/comm/anti_fraud/green_paper/corpus/de.doc (im Auftrag der Vereinigung für Europäisches Strafrecht e.V. und der Europäischen Kommission). 283 Tiedemann (Hrsg.) Wirtschaftsstrafrecht in der Europäischen Union (2002).

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nen Blick in nationale Rechtsordnungen angewiesen sind. Institutionalisiert hat diesen Blick beispielhaft das Statut des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) in seinem Artikel 21 Abs. 1 Buchst. c. Auch für die Auslegung des nationalen Strafrechts erfreut sich die Rechtsvergleichung als Methode steigender Anerkennung.284 Spätestens mit BGHSt 38 214, 228 ff285 (zur unterbliebenen Belehrung des Beschuldigten über sein Schweigerecht) hat sie dabei höchstrichterliche Anerkennung gefunden, wenn auch zunächst nur zur Absicherung und Stützung des Ergebnisses (so weniger ausführlich auch schon in früheren Entscheidungen, etwa BGHSt 1, 293, 297).286 Schließlich greift auch der Gesetzgeber des nationalen Strafrechts auf die Erkenntnisse der Rechtsvergleichung zurück. Schon die umfangreiche „Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts“ hatten Birkmeyer und andere 1906 bis 1909 auf Anregung des Reichsjustizamtes herausgegeben zur Vorbereitung der deutschen Strafrechtsreform, und auch die spätere tatsächliche Reform des Allgemeinen Teils von 1975 ließ sich vor allem für das Sanktionenrecht vielfach von ausländischen Regelungen inspirieren (Jescheck in Jescheck/Kaiser S. 71; weitere Beispiele rechtsvergleichender Strafgesetzgebung bei Pradel Rdn. 8; Tiedemann in Niggli/Queloz S. 69, 70). 2. Die Strafrechtsvergleichung kann in Deutschland auch auf eine beeindruckende 204 Tradition zurückblicken. Neben der schon erwähnten umfassenden „Vergleichenden Darstellung“ vom Anfang des 20. Jahrhunderts (Rdn. 203) ragen aus ihrer Geschichte namentlich die Arbeiten von Feuerbach, Mittermaier und Siebenpfeiffer zum Strafverfahrensrecht heraus (Jescheck Strafrechtsvergleichung, S. 11 f; siehe auch Ambos RW 2017 247, 249 ff; zur „Vergleichenden Darstellung“ und ihren heutigen Perspektiven Kubiciel JZ 2015 64 ff). Eine strafrechtsvergleichende Tradition hat ab 1953 auch die Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (ZStW) mit ihrem Auslandsteil begründet. Institutionell und mit Weltgeltung verfestigt hat sich die moderne deutsche Strafrechtsvergleichung im Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, dessen Spiritus Rector Jescheck zugleich als ihr Nestor zu bezeichnen ist (Jung GA 2005 2, 3). Breiter angelegte neuere Werke der Strafrechtsvergleichung sind: „The Handbook of Comparative Criminal Law“ von Kevin John Heller und Markus D. Dubber (2010); „Droit pénal comparé“ von Pradel (3. Aufl. 2008); „Procédures pénales d’Europe“ von Delmas Marty (1995); „Droit pénal des affaires en Europe“ von Giudicelli-Delage (2006) ); die „Europa-Delikte“ unter der Herausgeberschaft Tiedemanns (Fußnote 280). 3. Die strafrechtsvergleichende Methode wählt in einem ersten Schritt die zu ver- 205 gleichende(n) Rechtsordnung(en) aus. Im Ansatz kommen sämtliche Länder und auch supranationale Rechtsordnungen in Betracht (Jung GA 2005 2, 8). Die Auswahl richtet sich dann nach inhaltlichen Kriterien, insbesondere charakteristischen (Prima-facie-) Abweichungen oder Übereinstimmungen zu bzw. mit dem Referenzrecht, sowie nach der

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284 Eser in Blackpain Law in Motion (1997), S. 492, 500 f; Hauser FS Jescheck, S. 1215 ff; Herrmann Revue internationale de droit pénal 48 (1977) 297, 308 f; Jung GA 2005 2, 6; ders. JuS 1998 1, 6; Tiedemann in Niggli/Queloz S. 69 ff; Rosenau FS Puppe, S. 1597 ff. Ohne Beschränkung auf das Strafrecht Henssler NJW 2001 1521, 1524; Sachs GG, Einf. Rdn. 44. Zur Rechtsprechung im Text. 285 BGHSt 38 214, 228 = EFG 2001 253 m. Anm. Büchter-Hole; weitere Anm./Bspr.: Bauer wistra 1993 99; Bohlander NStZ 1992 505; Fezer JR 1992 385; Hauf MDR 1993 195; Haizmann StraFo 1996 121; von Heintschel-Heinegg JA 1993 319; Kiehl NJW 1993 501; Roxin JZ 1992 923; Solbach JA 1992 222; Volckart RuP 1992 64. 286 So in geringerem Umfang schon das vorlegende OLG Celle NStZ 1991 403, 404. Auf die Absicherungs- und Stützungsfunktion beschränken will die Rechtsvergleichung in der Praxis Ranieri FS Nörr, S. 778, 797 f.

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Eignung einer Rechtsordnung als Stellvertreterin eines Rechtskreises. Für das Privatrecht gängig ist die Unterscheidung zwischen dem deutschen Rechtskreis, dem romanischen, dem angloamerikanischen, dem nordischen (skandinavischen), dem fernöstlichen und dem religiös geprägten Rechtskreis (so bei Zweigert/Kötz Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl. [1996], S. 73 ff; dazu auch Constantinesco Rechtsvergleichung III, 1983, S. 103 ff, 461 ff). Diese Einteilung kann das Strafrecht nicht unbesehen übernehmen, da zum Beispiel schon das französische Recht sich von den meisten anderen romanischen Rechtsordnungen deutlich unterscheidet, die ihrerseits in der dogmatischen Handhabung oft starke Verwandtschaft mit dem deutschen Recht aufweisen. Eine umfassende Rechtskreislehre für das Strafrecht harrt indes noch ihrer Ausarbeitung. Ihre Aufgabe bestände nicht darin, geografische Grenzen nach Art von Klimazonen festzulegen oder generalisierende Werturteile zu fällen (hochentwickelt versus zurückgeblieben), sondern darin, charakteristische Gemeinsamkeiten und Unterschiede einer Gruppe von Rechtsordnungen gegenüber einer anderen herauszustellen (kritisch zum Rechtskreis-Gedanken Ambos RW 2017 247, 254 in Fn. 48; Burchard RW 2017 277, 296 f). Für die untersuchte Rechtsordnung sind zunächst deren geschriebene Gesetze her206 anzuziehen. Bei ihnen darf man es indes nicht bewenden lassen, da sie zuweilen ein trügerisches Bild von der Rechtswirklichkeit zeichnen. Etwa musste von der Bekämpfung des Duell(un)wesens im Deutschen Reich einen falschen Eindruck bekommen, wer nur die §§ 201 ff des Reichsstrafgesetzbuches las, da diese Taten mit Billigung der höchsten Stellen und entgegen dem Legalitätsprinzip tatsächlich nicht verfolgt wurden. Folglich hat der Rechtsvergleichende auch die Rechtsprechung auszuwerten sowie die Verwaltungspraxis, und dies nicht nur in Bezug auf rein strafrechtliche Regelungen, sondern auch in Bezug auf außerstrafrechtliche Vor- und Begleitfragen, etwa die Kostenfrage bei der Pflichtverteidigung und die sozialrechtliche Seite der Regelungen zur Abtreibung. Idealerweise widmet sich die Rechtsvergleichung auch den soziokulturellen und den geschichtlichen Hintergründen der verglichenen Rechtsordnungen (Jung JuS 1998 1, 3; Schultz in Jescheck/Kaiser S. 7, 14; Tiedemann in Niggli/Queloz S. 69, 70). Ein eher akademischer Methodenstreit der Rechtsvergleichung geht darum, ob sie 207 zweistufig vorzugehen habe unter Trennung von berichtendem und vergleichendem Teil oder ob es sich um ein einstufiges Vorgehen handele, bei dem Befunde und Vergleiche ineinander verschränkt sind und gewissermaßen ein vergleichender Bericht vorgelegt wird. Zutreffend spricht sich die neuere Lehre im Strafrecht für den zweiten Weg aus (Jung JuS 1998 1, 2; Pradel Rdn. 2). Er ist schon hermeneutisch kaum zu umgehen, da der Rechtsvergleichende das fremde Recht zunächst sich selbst und später seinem Leser nur in den Begriffen seiner heimischen Rechtsordnung nahebringen kann und daher schon die Annäherung an die Begrifflichkeit des fremden Rechts Vergleiche voraussetzt. Sie ergeben zuweilen, dass sogar ein und derselbe Begriff Unterschiedliches bezeichnet, etwa die „Revision“ des IStGH-Statuts oder des französischen und schweizerischen Rechts, die im deutschen Recht nicht der Revision entspricht, sondern der Wiederaufnahme des Verfahrens. Ertragreiche Rechtsvergleichung verlangt einen Struktur-, Problem- und Ergebnisver208 gleich (Ambos RW 2017 247, 260, 266; Jung JuS 1998 1, 2 f). Es ist also nicht damit getan, zwei mehr oder weniger umfangreiche, in sich geschlossene Landesberichte vorzulegen und mit einem Vergleich zu schließen, bei dem der Adressat einen Gutteil des Verglichenen kaum noch vor dem inneren Auge hat. Auch verleitet der umfassende und abgeschlossene Landesbericht dazu, ausschließlich der inneren Logik des fremden Rechts zu folgen, das dem Adressaten dann für die Dauer des Berichts unverständlich bleiben muss. Strukturvergleich heißt, dass der rechtliche Zusammenhang zu beleuchten ist, in Walter

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Vorbemerkungen | Vor §§ 13 ff

dem eine Regelung steht (Rdn. 206). Dies ist für das Strafrecht umso wichtiger, als es sich bei ihm um eine akzessorische Materie handelt. Besonders deutlich wird das, wo diese Akzessorietät nicht nur ein rechtstheoretischer Befund bleibt, sondern ein Straftatbestand ausdrücklich auf geschriebene außerstrafrechtliche Normen verweist, sei es durch einen Fachbegriff oder durch eine Blankettformulierung. Zum Beispiel lassen sich das Aktienstrafrecht Deutschlands und das der Schweiz nur vergleichen, wenn man das private Aktienrecht weitgreifend einbezieht (da die Aktiengesellschaft in der Schweiz andere Organe hat als in Deutschland: monistisches versus dualistisches Modell). In diesem Beispiel mögen auch das Bank-, Insolvenz- oder Erbrecht Beachtung verlangen. — Der Problem- und Ergebnisvergleich setzt einen Vergleich von Fallkonstellationen und ihrer Lösung voraus, im Strafrecht also vor allem hinsichtlich der Frage, ob sich jemand durch ein bestimmtes Verhalten im Ergebnis straf- und verfolgbar machte. Weniger fruchtbar fällt in der Regel ein semantischer Vergleich von Begriffen und Gesetzen oder Urteilen aus sowie ein Vergleich, der sich auf Vorstufen der Strafbarkeit beschränkt, etwa auf die Frage der Rechtswidrigkeit eines Verhaltens. — Am weitesten reicht der Ergebnisvergleich, wenn er auch noch das Prozessrecht einschließlich Vollstreckungsrecht einbezieht und folglich fragt, inwieweit ein bestimmtes materiellrechtliches Ergebnis tatsächlich reale Folgen habe. Spätestens an dieser Stelle hat sich die Rechtsvergleichung über rein Rechtliches hinaus für empirische Befunde zu interessieren und wird zu einer Strafjustizvergleichung. Sie ist vor allem in der angloamerikanischen Strafrechtswissenschaft verbreitet (Ambos RW 2017 247, 249). Ein deutsches Beispiel bieten Eser/Perron (Hrsg.), Strukturvergleich strafrechtlicher Verantwortlichkeit und Sanktionierung in Europa (2015). Keine Einwände lassen sich heute gegen eine wertende Rechtsvergleichung erheben, 209 sofern der Vergleichende die Maßstäbe seiner Wertung offenlegt (Burchard RW 2017 277, 279; Jung GA 2005 2 ff; Tiedemann in Niggli/Queloz S. 69 m.w.N.). Dabei darf er freilich nicht dem „chauvinisme inconscient“ (Pradel Rdn. 8) nachgeben, dem unbewussten Überlegenheitsgefühl, das wohl jeden Juristen unterschwellig für die altvertraute heimische Rechtsordnung (vor-)einnimmt. Formal bieten sich ihm folgende Argumentationsmuster an, wenn er für einen Gesetzes- oder Auslegungsvorschlag auf fremdes Recht verweisen will: Am stärksten ist seine Stellung, wenn sich sein Vorschlag in der Mehrheit der ausländischen Rechtsordnungen wiederfindet und wenn zu dieser Mehrheit auch Rechtsordnungen gehören, die in den Augen des Publikums hohes Ansehen genießen. Entsprechend abgestuft ist die Stärke des Verweises, wenn die Zahl geringer ausfällt und/oder nur eine geringere Zahl renommierter Rechtsordnungen den fraglichen Vorschlag stützt. Doch selbst wenn sich nur eine einzige Rechtsordnung findet, kann sie dies tut, denn der Urheber des Vorschlags braucht sich dann immerhin nicht mehr vorwerfen zu lassen, geradezu abwegig zu denken. Auch in diesem Fall vermag die Rechtsvergleichung inzestuöse Begründungen und dogmatische Selbstverkrustungen aufzubrechen. Ein weiteres Argument lässt sich aus den Entwicklungen im Ausland ableiten: Auch wenn eine Lösung nur von wenigen Ländern bevorzugt wird, mag für sie sprechen, dass sie im Vordringen begriffen ist. Problematisch ist hingegen eine gleichsam umgekehrt wertende Rechtsvergleichung, die von der schlichten Existenz einer Regelung im Recht des Auslands unkritisch auf deren Berechtigung und Praktikabilität auch im heimischen Recht schließen will (vgl. Rdn. 159). 4. Eine Rechtsvergleichung, die den oben formulierten Ansprüchen genügt, ist für 210 den weitgespannten Themenkreis „Vor § 13“ in einem Kommentar kaum zu leisten. Einen gerafften Überblick über die allgemeine Verbrechenslehre im engeren Sinne bietet für Italien, Frankreich, Spanien, Polen, Russland und den angloamerikanischen Rechtskreis 883

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Freund MK Rdn. 110 ff m.w.N. Darüber hinaus sei auf folgendes deutschsprachige Schrifttum hingewiesen: Cerezo Mir Das neue spanische Strafgesetzbuch von 1995, ZStW 108 (1996) 857; ders. Die Regelung des Versuchs und die Auffassung des Unrechts im neuen spanischen Strafgesetzbuch, FS Hirsch (1999) 127; Eser/Yamanaka (Hrsg.) Einflüsse deutschen Strafrechts auf Polen und Japan, Zweites DeutschPolnisch-Japanisches Strafrechtskolloquium 1999 in Osaka, 2001; Hirano Kritik des Reformentwurfs zum StGB in Japan – Insbesondere sein Verhältnis zum Schuldprinzip, ZStW 85 (1973) 503; Hünerfeld Zum Stand der deutschen Verbrechenslehre aus Sicht einer gemeinrechtlichen Tradition in Europa, ZStW 93 (1981) 979; Jescheck Neue Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik in rechtsvergleichender Sicht, ZStW 98 (1986) 1; Lammich Das neue russische Strafgesetzbuch von 1996, ZStW 109 (1997) 417; Manacorda Die allgemeine Lehre von der Straftat in Frankreich. Besonderheiten oder Lücken in der französischen Strafrechtswissenschaft? GA 1998 124 ff; Militello Die Formulierung der objektiven Zurechnung auf dem Weg eines neuen italienischen Strafgesetzbuches, GA 2006 328; Mir Puig Untauglicher Versuch und statistische Gefährlichkeit im neuen spanischen Strafgesetzbuch, FS Roxin (2001) 729; Miyazawa Traditionelles und Modernes im japanischen Strafrecht, ZStW 88 (1976) 813; ders. Die neuere Entwicklung der Kriminalität und ihre Bekämpfung in Japan – unter besonderer Berücksichtigung der informellen Konfliktlösung „Jidan“, FS Roxin (2001) 1525; Polaino Navarrete Die Strafrechtsdogmatik der subjektiven Unrechtselemente in den gesetzlichen Tatbeständen des Spanischen Strafgesetzbuches von 1995, GedS Zipf (1999) 271; Ramos Tapia Die Entwicklung des Vorsatzbegriffs in der spanischen Strafrechtswissenschaft, ZStW 113 (2001) 401; Riz Zum derzeitigen Stand der Verbrechenslehre in Italien. Überlegungen zum dreiteiligen Verbrechensaufbau, ZStW 93 (1981) 1006; Suárez González Rechtsvergleichende Bemerkungen zum Allgemeinen Teil des neuen spanischen Strafgesetzbuches, GA 1998 111; Tiedemann Der Allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts, FS Jescheck (1985) S. 1411; ders. Das neue Strafgesetzbuch Spaniens und die europäische Kodifikationsidee, JZ 1996 647; ders. Der Allgemeine Teil des Strafrechts im Lichte der europäischen Rechtsvergleichung, FS Lenckner (1998) 411; ders. Re-Europäisierung des Strafrechts versus Nationalismus der (deutschen) Strafrechtslehre, GA 1998 107; Vogel Elemente der Straftat: Bemerkungen zur französischen Straftatlehre und zur Straftatlehre des common law, GA 1998 127; Zieschang Der Allgemeine Teil des neuen französischen Strafgesetzbuchs, ZStW 106 (1994) 647; Zoll Der Verbrechensbegriff im Lichte des Entwurfs des polnischen Strafgesetzbuches, ZStW 107 (1995) 417.

§ 13 Begehen durch Unterlassen Zweiter Abschnitt. Die Tat Begehen durch Unterlassen Walter/Weigend § 13 https://doi.org/10.1515/9783110300413-018

(1) Wer es unterlässt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, ist nach diesem Gesetz nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt, und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht. (2) Die Strafe kann nach § 49 Abs. 1 gemildert werden. Schrifttum Albrecht Begründung von Garantenstellungen in familiären und familienähnlichen Beziehungen (1998); Androulakis Studien zur Problematik der unechten Unterlassungsdelikte (1963); Arzt Zur Garantenstellung beim unechten Unterlassungsdelikt, JA 1980 553, 647, 712; Ast Begehung und Unterlassung, ZStW 124 (2012) 612; Bärwinkel Die Struktur der Garantieverhältnisse bei den unechten Unterlassungsdelikten (1968); Baier Unterlassungsstrafbarkeit trotz fehlender Handlungs- oder Schuldfähigkeit usw., GA 1999 272; Becker Herrschaft durch Nichtstun? HRRS 2009 242; Beckschäfer Die Strafrahmenmilderung beim Begehen durch Unterlassen (2012); Bergmann Strafbarkeit vertragswidrigen Unterlassens (2012); Berster Das unechte Unterlassungsdelikt (2014); Beulke Der „Compliance Officer“ als Aufsichtsgarant? Festschrift Geppert (2011) 23; Beulke/Swoboda Beschützergarant Jugendamt, Festschrift Gössel (2002) 73; Bloy Anstiftung durch Unterlassen? JA 1987 490; ders. Die strafrechtliche Produkthaftung auf dem Prüfstand der

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Dogmatik, Festschrift Maiwald (2010) 35; Bode Das Providerprivileg aus §§ 7, 10 TMG usw., ZStW 127 (2015) 937; Brammsen Die Entstehungsvoraussetzungen der Garantenpflichten (1986); ders. Strafrechtliche Rückrufpflichten bei fehlerhaften Produkten? GA 1993 97; ders. Tun oder Unterlassen? GA 2002 193; Bringewat Kommunale Jugendhilfe und strafrechtliche Garantenstellung, NJW 1998 944; Bülte Garant aufgrund familiärer Verbundenheit, GA 2013 389; Bung Sichtbare und unsichtbare Handlungen, ZStW 120 (2008) 526; Ceffinato Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Internetplattformbetreibern, JuS 2017 403; von Coelln Das „rechtliche Einstehenmüssen“ beim unechten Untertlassungsdelikt (2008); Cornacchia Zur Garantenstellung von Kontrollorganen in der Finanzmarktkrise, ZIS 2016 255; Dannecker Strafrechtliche Verantwortlichkeit nach Delegation, in Rotsch (Hrsg.) Criminal Compliance (2015) 167; Dannecker/Dannecker Die „Verteilung“ der strafrechtlichen Geschäftsherrenhaftung im Unternehmen, JZ 2010 981; Dencker Ingerenz: Die defizitäre Tathandlung, Festschrift Stree/Wessels (1993) 159; ders. Kausalität und Gesamttat (1996); Dießner Die Unterlassungsstrafbarkeit der Kinder- und Jugendhilfe usw. (2008); Donner Die Zumutbarkeitsgrenzen der vorsätzlichen unechten Unterlassungsdelikte (2007); Engisch Tun und Unterlassen, Festschrift Gallas (1973) 163; Engländer Kausalitätsprobleme beim unechten Unterlassungsdelikt, JuS 2001 958; Esser/Bettendorf Muss der Kapitän als Letzter von Bord? NStZ 2012 233; Exner Versuch und Rücktritt vom Versuch eines Unterlassensdelikts, Jura 2010 276; Freund Erfolgsdelikte und Unterlassen (1992); ders. Erlöschen strafrechtlicher Garantenpflichten bei Ehegatten, NJW 2003 3384; ders. Verdeckungsmord durch Unterlassen? NStZ 2004 123; ders. Tatbestandsverwirklichungen durch Tun und Unterlassen, Festschrift Herzberg (2008) 225; Frisch Zur Verantwortlichkeit von Unternehmern usw., Festschrift Rogall (2018) 121; Frister Begehung und Unterlassung bei der Steuerung von Maschinen, Festschrift Samson (2010) 19; Fünfsinn Der Aufbau des fahrlässigen Verletzungsdelikts durch Unterlassen usw. (1985); Gallas Strafbares Unterlassen im Fall der Selbsttötung, JZ 1960 686; ders. Studien zum Unterlassungsdelikt (1989); Geneuss Unternehmensbezogene Vorgesetztenverantwortlichkeit usw, ZIS 2016 259; Geppert Die Beihilfe (§ 27 StGB), Jura 1999 266; Gercke/Bruns Praxishandbuch des Internetstrafrechts, 2. Aufl. (2018); Gimbernat Ordeig Das unechte Unterlassungsdelikt, ZStW 111 (1990) 307; Gössel Die normwidrige strafbare Unterlassung als ontischer Sachverhalt, Festschrift Kühl (2014) 225; Greco Kausalitäts- und Zurechnungsfragen bei unechten Unterlassungsdelikten ZIS 2011 674; Grünewald Zivilrechtlich begründete Unterlassungspflichten im Strafrecht? (2001); dies. Verdeckungsmord durch Unterlassen GA 2005 502; Grünwald Das unechte Unterlassungsdelikt (1957); Gunia Strafrechtliche Garantenstellungen von Wachpersonen des privaten Sicherheitsgewerbes (2001); Haas Die Beteiligung durch Unterlassen, ZIS 2011 392; Hecker „Wilde“ Müllablagerungen Dritter usw., NJW 1992 873; Heine Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen (1995); Hernández Basualto Die Betriebsbezogenheit der Garantenstellung von Leitungspersonen in Unternehmen, Festschrift Frisch (2013) 333; Herzberg Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantenprinzip (1972); ders. Der Versuch beim unechten Unterlassungsdelikt, MDR 1973 89; ders. Zur Garantenstellung aus vorangegangenem Tun, JZ 1986 986; ders. „Die Vermeidbarkeit einer Erfolgsdifferenz“, Festschrift Jakobs (2007) 147; Hilgendorf Strafrechtliche Produzentenhaftung in der „Risikogesellschaft“ (1993); ders. Fragen der Kausalität bei Gremienentscheidungen, NStZ 1994 561; ders. Strafrechtliche Anforderungen an den Jugendmedienschutz im Internet, Kommunikation & Recht 2011 229; Hilgendorf/ Valerius Computer- und Internetstrafrecht, 2. Aufl. (2012); Hillenkamp Garantenpflichtwidriges Unterlassen nach vorsätzlichem Tatbeginn? Festschrift Otto (2007) 287; Hoffmann-Holland Die Beteiligung des Garanten am Rechtsgutsangriff, ZStW 118 (2006) 620; Honig Die Entwicklungslinie des Unterlassungsdelikts vom römischen bis zum gemeinen Recht, Festgabe Richard Schmidt (1932) 3; Hoven Ingerenz und umgekehrter Erlaubnistatbestandsirrtum, GA 2016 16; Hoyer Die strafrechtliche Verantwortlichkeit innerhalb von Weisungsverhältnissen (1998); Iburg Zur Unterlassungstäterschaft im Abfallstrafrecht usw., NJW 1988 2338; Ingelfinger Zeitliche Grenzen ehelicher Garantenpflichten, NStZ 2004 409; Jakobs Die strafrechtliche Zurechnung von Tun und Unterlassen (1996); Jescheck Probleme des unechten Unterlassungsdelikts in rechtsvergleichender Sicht, 140 Jahre GA (1993) 115; Kahlo Das Problem des Pflichtwidrigkeitszusammenhanges bei den unechten Unterlassungsdelikten (1990); ders. Die Handlungsform der Unterlassung als Kriminaldelikt (2001); Kargl Zur kognitiven Differenz zwischen Tun und Unterlassen, GA 1999 459; ders. Die Bedeutung der Entsprechungsklausel beim Betrug durch Schweigen, ZStW 119 (2007) 250; Karsten Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des nicht-militärischen Vorgesetzten (2010); Armin Kaufmann Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte (1959); Arthur Kaufmann Die Bedeutung hypothetischer Erfolgsursachen im Strafrecht, Festschrift Eb. Schmidt (1961) 200; Kleinherne Garantenstellung und Notwehrrecht (2014); Knauer Strafbarkeit wegen Totschlags durch Unterlassen usw., NJW 2003 3101; ders. Die strafrechtliche

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Haftung von Justiziaren usw., Festschrift Imme Roxin (2012) 465; Koch Unterlassene Hilfeleistung durch Behindern von Rettungsmaßnahmen, GA 2018 323; Koelbel Objektive Zurechnung beim unechten Unterlassen, JuS 2006 309; Krüger Beteiligung durch Unterlassen an fremden Straftaten, ZIS 2011 1; Kudlich/Hoven „Wie sicher muss ich das wissen?“, Festschrift Rogall (2018) 209; Kühl Die Unterlassungsdelikte als Problemfall usw., Festschrift Herzberg (2008) 177; Kuhlen Strafhaftung bei unterlassenem Rückruf usw., NStZ 1990 566; ders. Grundfragen der strafrechtlichen Produkthaftung, JZ 1994 1142; ders. Zur Unterscheidung von Tun und Unterlassen, Festschrift Puppe (2011) 669; Küper Grund- und Grenzfragen der rechtfertigenden Pflichtenkollision im Strafrecht (1979); ders. Rücktritt vom Versuch des Unterlassungsdelikts, ZStW 112 (2000) 1; Landscheidt Zur Problematik der Garantenpflichten aus verantwortlicher Stellung in bestimmten Räumlichkeiten (1985); Lerman Die fakultative Strafmilderung für die unechten Unterlassungsdelikte, GA 2008 78; Li Beteiligung durch Unterlassen, in Stam/Werkmeister (Hrsg.) Der Allgemeine Teil des Strafrechts in der aktuellen Rechtsprechung (2019) 77; Lilie Garantenstellungen für nahestehende Personen, JZ 1991 541; Loos Überlegungen zur strafrechtlichen Haftung für Tun und Unterlassen (2010) 81; Mähner Zur Garantenstellung aus Verantwortung für Räume und Grundstücke (2015); Maihofer Der Versuch der Unterlassung, GA 1958 289; Malek/Popp Strafsachen im Internet, 2. Aufl. (2015); Merkel Tödlicher Behandlungsabbruch und mutmaßliche Einwilligung usw., ZStW 107 (1995) 545; ders. Die Abgrenzung von Handlungs- und Unterlassungsdelikt, Festschrift Herzberg (2008) 193; Mitsch Mord durch Unterlassen zur Verdeckung einer anderen Straftat, Festschrift Kreuzer (2018) 371; Momsen Der „Compliance-Officer“ als Unterlassensgarant, Festschrift Puppe (2011) 751; ders. Das Im-Stich-Lassen in hilfloser Lage usw., StV 2013 54; Mosenheuer Unterlassen und Beteiligung (2009); Murmann Beteiligung durch Unterlassen, Festschrift Beulke (2015) 181; ders. Unternehmensstrafrecht, in Stuckenberg/Bock (Hrsg.) Aktuelle und grundsätzliche Fragen des Wirtschaftsstrafrechts (2019) 57; Naucke Ausnutzung einer Fehlbuchung kein Betrug durch Unterlassen, NJW 1994 2809; Neudecker Die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Mitglieder von Kollegialorganen (1995); Nickel Die Problematik der unechten Unterlassungsdelikte usw. (1972); Niepoth Der untaugliche Versuch beim unechten Unterlassungsdelikt (1994); Nitze Die Bedeutung der Entsprechungsklausel beim Begehen durch Unterlassen (§ 13 StGB) (1989); Otto Die Haftung für kriminelle Handlungen in Unternehmen, Jura 1998 409; ders. Die strafrechtliche Haftung für die Auslieferung gefährlicher Produkte, Festschrift Hirsch (1999) 291; ders. Die Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs usw., Festschrift Lampe (2003) 491; ders. Entwicklungen im Rahmen der Garantenstellung usw., Festschrift Herzberg (2008) 255; ders. Garantenstellung aufgrund der Beteiligung an vorausgegangenen Misshandlungen usw., Festschrift Geppert (2011) 441; Paradissis Unterlassungsstrafbarkeit in sog. Weiterungsfällen (2015); Pawlik „Das dunkelste Kapitel in der Dogmatik des Allgemeinen Teils“, Festschrift Roxin (2011) 931; Perdomo-Torres Das Begehen durch Unterlassen im positiven Recht, Festschrift Jakobs (2007) 497; Petermann Betriebliche Gefahren als Grundlage einer Überwachungsgarantenstellung usw., Festschrift W. Schiller (2014) 538; Pfleiderer Die Garantenstellung aus vorangegangenem Tun (1968); Puppe Der Erfolg und seine kausale Erklärung im Strafrecht, ZStW 92 (1980) 863; dies. Verursachen durch Verhinderung rettender Kausalverläufe und durch Unterlassen, ZIS 2018 484; Radbruch Der Handlungsbegriff und seine Bedeutung für das Strafrechtssystem (1904); Ranft Das garantiepflichtwidrige Unterlassen der Taterschwerung, ZStW 97 (1985) 268; Ransiek Unternehmensstrafrecht (1996); Röhl Praktische Rechtstheorie: die Abgrenzung von Tun und Unterlassen usw., JA 1999 895; Rönnau/Schneider Der Compliance-Beauftragte als strafrechtlicher Garant, ZIP 2010 53; Rogall Dogmatische und kriminalpolitische Probleme usw., ZStW 98 (1986) 573; Rotsch Wider die Garantenpflicht des Compliance-Beauftragten, Festschrift Imme Roxin (2012) 485; Roxin An der Grenze von Begehung und Unterlassung, Festschrift Engisch (1969) 380; ders. Kausalität und Garantenstellung bei den unechten Unterlassungen, GA 2009 73; ders. Geschäftsherrenhaftung für Personalgefahren, Festschrift Beulke (2015) 239; Rudolphi Die Gleichstellungsproblematik der unechten Unterlassungsdelikte und der Gedanke der Ingerenz (1966); Samson Begehung und Unterlassung, Festschrift Welzel (1974) 579; Sánchez-Vera Pflichtdelikt und Beteiligung (1999); Sangenstedt Garantenstellung und Garantenpflicht von Amtsträgern (1989); Schaal Strafrechtliche Verantwortlichkeit bei Gremienentscheidungen in Unternehmen (2001); Satzger Der irrende Garant, Jura 2011 432; ders. Wann „entspricht“ ein Unterlassen einem Tun? Jura 2011 749; Schall Grund und Grenzen der strafrechtlichen Geschäftsherrenhaftung, Festschrift Rudolphi (2004) 267; ders. Alte Lasten – neue Pflichten – strafrechtliche Grenzen, Festschrift Achenbach (2011) 463; Schmidhäuser Gesinnungsethik und Gesinnungsstrafrecht, Festschrift Gallas (1973) 81; ders. Über Unterlassungsdelikte, Festschrift Müller-Dietz (2001) 761; Chr. Schneider Tun und Unterlassen beim Abbruch lebenserhaltender medizinischer Behandlung (1997); ders. Zur Anzeigepflicht nichtsteuerlicher Straftaten durch Finanzbeamte usw., wistra 2004 1; H. Schneider/Gottschaldt

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Begehen durch Unterlassen | § 13

Offene Grundsatzfragen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Compliance-Beauftragten usw., ZIS 2011, 573; Schöch Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen, NStZ 1995 154; Schrägle Das begehungsgleiche Unterlassungsdelikt (2017); Schroeder Der Täter hinter dem Täter (1965); Schrott Unterlassungszurechnung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen (2014); Schünemann Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte (1971); ders. Unternehmenskriminalität und Strafrecht (1979); ders. Die Unterlassungsdelikte usw., ZStW 96 (1984) 287; ders. Unternehmenskriminalität, Festgabe BGH 50, Bd. IV (2000) 621; ders. Zur Garantenstellung beim unechten Unterlassungsdelikt, Festschrift Amelung (2009) 303; ders. Die unechten Unterlassungsdelikte, GA 2016 301; Schürmann Unterlassungsstrafbarkeit und Gesetzlichkeitsgrundsatz (1986); Schwab Täterschaft und Teilnahme bei Unterlassungen (1996); Seelmann Opferinteressen und Handlungsverantwortung usw., GA 1989 241; Sieber Die Abgrenzung von Tun und Unterlassen bei der „passiven“ Gesprächsteilnahme, JZ 1983 431; ders. Internationales Strafrecht im Internet, NJW 1999 2065; Spendel Kausalität und Unterlassung, Festschrift Herzberg (2008) 247; Spring Die strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung (2009); Stein Garantenpflichten aufgrund vorsätzlich-pflichtwidriger Ingerenz, JR 1999 265; Stoffers Die Formel „Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit“ usw. (1992); Stree Beteiligung an vorsätzlicher Selbstgefährdung, JuS 1985 179; ders. Zumutbarkeitsprobleme bei Unterlassungstaten, Festschrift Lenckner (1998) 393; Streng „Passives Tun“ als dritte Handlungsform, ZStW 122 (2010) 1; ders. Straflose „aktive Sterbehilfe“ usw., Festschrift Frisch (2013) 739; ders. Strafrechtliche Sanktionen, 3. Aufl. (2012); Struensee Handeln und Unterlassen, Begehungs- und Unterlassungsdelikt, Festschrift Stree und Wessels (1993) 133; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht, 5. Aufl. (2017); Verrel Der Anstaltsleiter als Garant usw. GA 2003 595; Vogel Norm und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten (1993); Vogler Die Bedeutung des § 28 StGB für die Teilnahme am unechten Unterlassungsdelikt, Festschrift Lange (1976) 265; Volk Zur Abgrenzung von Tun und Unterlassen, Festschrift Tröndle (1989) 219; Walter § 298 StGB und die Lehre von den Deliktstypen, GA 2001 131; Walther Notwehr – und danach? Festschrift Herzberg (2008) 503; Warneke Die Garantenstellung von Compliance-Beauftragten, NStZ 2010 312; Weber Garantenstellung kraft Sachherrschaft? Festschrift Oehler (1985) 83; Weigend Bemerkungen zur Vorgesetztenverantwortlichkeit im Völkerstrafrecht, ZStW 116 (2004) 999; Weißer Kausalitäts- und Täterschaftsprobleme bei der strafrechtlichen Würdigung pflichtwidriger Kollegialentscheidungen (1996); Welp Vorangegangenes Tun als Grundlage einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung (1968); Werkmeister Unterlassenshaftung des Drogenbesitzers bei möglicherweise fehlender Eigenverantwortlichkeit des Konsumenten? in Stam/Werkmeister (Hrsg.) Der Allgemeine Teil des Strafrechts in der aktuellen Rechtsprechung (2019) 97; Wilhelm Hilfeleistungspflichten unter Straftätern NStZ 2009 15; Winter Der Abbruch rettender Kausalität (2000); Zaczyk Zur Garantenstellung von Amtsträgern, Festschrift Rudolphi (2004) 361; Zöller Garantenpflicht nach eigenverantwortlicher Selbstgefährdung, Festschrift Rogall (2018) 299.

Entstehungsgeschichte Die Vorschrift ist durch das 2. StrRG eingefügt worden und gilt seit 1.1.1975. Die Fassung des § 13 entspricht § 13 E 1962. Während in § 12 AE der Versuch unternommen worden war, die Grundlagen von Handlungspflichten wenigstens grob zu umzureißen,1 sah der Gesetzgeber bewusst von einer inhaltlichen Festlegung hinsichtlich der möglichen Quellen von Garantenpflichten ab, da „die Zeit für eine sachgemäße gesetzliche Regelung jedenfalls dieser Problematik noch nicht reif“ sei (BT-Drs. V/4095 S. 8). Weitere Materialien finden sich in Niederschriften Bd. 2 S. 267 ff, 357 ff; Bd. 12 S. 74 ff, 242 ff sowie in Prot. V S. 1644, 1860.

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1 § 12 AE war so formuliert: „Wer es unterläßt, den zum Tatbestand gehörenden Erfolg abzuwenden, obwohl er 1. auf Grund einer gesetzlichen oder freiwillig übernommenen Rechtspflicht gegenüber der Allgemeinheit oder dem Geschädigten dafür zu sorgen hat, daß der Erfolg nicht eintritt, oder 2. eine nahe Gefahr für den Eintritt des Erfolges geschaffen hat, ist nach dem betreffenden Tatbestand nur dann strafbar, wenn das Unrecht seines Verhaltens nach den Umständen der Tat dem Unrecht der Begehung durch Tun entspricht.“

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Übersicht Allgemeine Grundlagen 1. Definition des Unterlassens | 1 2. Handlungsmöglichkeit | 4 Die Unterscheidung zwischen Handeln und Unterlassen 1. Meinungsstand | 5 2. Vorrang der Strafbarkeit wegen Tuns | 7 3. Abbruch von Rettungsmaßnahmen | 8 4. Unterlassen nach Handeln | 10 Anwendungsbereich der Vorschrift 1. Funktionale Auslegung | 11 2. Erfolgsabwendung | 14 3. Echte und unechte Unterlassungsdelikte | 16 Grundlagen von Handlungspflichten 1. Verfassungsmäßigkeit von § 13 | 17 2. Formale Grundlagen | 20 3. Materielle Erwägungen | 23 Garantenpflichten 1. Pflichten aus Übernahme a) „Institutionell“ begründete Pflichten | 25 aa) Eltern und Kinder | 26 bb) Ehegatten | 28 cc) Schutzpflichten von Amtsträgern | 30 b) Pflichten aufgrund faktischer Selbstverpflichtung | 34 aa) Beginn und Ende der Pflicht | 35 bb) Anwendungsfälle | 36 2. Pflichten aus Gefahrschaffung a) Grundlage | 42 b) Grenzen der Ingerenz3. Pflichten aufgrund der Beherrschung von Gefahrenquellen a) Grundsatz | 48 b) Einzelfragen | 50 c) Eingreifen Dritter | 57 d) Schutzumfang bei Selbstgefährdung des Opfers | 58 e) Reichweite der Handlungspflicht | 59 4. Übertragung von Garantenpflichten | 60 Haftung | 44 Tatbestand des Unterlassungsdelikts 1. Tatbestandstruktur | 61 2. Gefahr des Erfolgseintritts | 62

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Nichtvornahme der gebotenen Handlung a) Gegenstand der Handlungspflicht | 63 b) Keine aufgedrängte Rettung | 64 c) Individuelle Handlungsfähigkeit | 65 d) Omissio libera in causa | 67 e) Zumutbarkeit des Handelns | 68 4. Vermeidbarkeit des Erfolges a) Hypothetische Kausalität | 70 b) Sicherheit der Feststellung | 72 5. Subjektiver Tatbestand a) Vorsatz | 73 b) Absicht | 74 VII. Rechtswidrigkeit und Schuld 1. Rechtfertigung bei Pflichtenkollision | 75 2. Schuldausschluss durch Gebotsirrtum | 76 VIII. Entsprechensklausel | 77 IX. Versuch des Unterlassungsdelikts 1. Strafbarkeit des Versuchs | 78 2. Unmittelbares Ansetzen | 79 3. Rücktritt vom Versuch | 81 X. Täterschaft und Teilnahme 1. Mittäterschaft a) Mittäterschaft bei mehreren Unterlassenden | 82 b) Mittäterschaft von Unterlassen dem und aktivem Täter | 83 2. Mittelbare Täterschaft | 84 3. Aktive Teilnahme am Unterlassungsdelikt | 86 4. Teilnahme durch Unterlassen a) Anstiftung durch Unterlassen | 88 b) Beihilfe durch Unterlassen aa) Abgrenzung zur Unterlassungstäterschaft | 89 bb) „Kausalität“ der Beihilfe | 96 XI. Fahrlässiges Unterlassen | 97 XII. Rechtsfolge: Fakultative Strafmilderung (§ 13 Abs. 2) 1. Grundlage der Strafmilderung | 98 2. Entscheidung über die Anwendung des milderen Strafrahmens | 99 3. Strafzumessung | 102

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I. Allgemeine Grundlagen 1. Definition des Unterlassens. Die meisten Tatbestände des Strafgesetzbuchs be- 1 schreiben aktive Handlungen des Täters. Dennoch ist man sich seit langem darüber einig, dass sich auch jemand strafbar machen kann, der keine Handlung vornimmt, sondern untätig bleibt.2 Entscheidend ist die – in § 13 weitgehend offengelassene3 – Frage, unter welchen Bedingungen eine Strafbarkeit wegen Unterlassens angenommen werden kann. Da § 13 eine Strafbarkeit wegen Unterlassens an besondere Voraussetzungen knüpft, 2 stellt sich die Vorfrage, ob sich Tun und Unterlassen kategorisch voneinander unterscheiden lassen. Eine „ontologisch“ orientierte Lehre, die auf Gustav Radbruch zurückgeht,4 betont den vorrechtlichen, seinsmäßigen Gegensatz zwischen Tun und Unterlassen, die sich wie a und non-a zueinander verhielten.5 Da sich auch das Strafrecht nicht über diese Seinsstruktur des menschlichen Verhaltens hinwegsetzen könne, müssten die allgemeinen Regeln des Strafrechts, etwa über Kausalität, Vorsatz und Teilnahme, für die Fälle des Unterlassens verändert, ja sogar gegenüber dem Begehungsdelikt umgekehrt werden.6 Die „normative“ Gegenposition lehnt die Relevanz eines etwaigen kategorialen Unterschieds7 zwischen Tun und Unterlassen für den Bereich des Strafrechts ab, da strafwürdige Gefahren für geschützte Objekte von beiden Formen menschlichen Verhaltens ausgehen könnten.8 Dieser mit großem Scharfsinn geführte philosophische Streit ist für die Rechtsan- 3 wendung ohne maßgebliche Bedeutung.9 Tatsächlich hat jede der beiden Perspektiven ihre Berechtigung, allerdings in je unterschiedlichen Argumentationszusammenhängen. Wenn man die Möglichkeit einer Strafbarkeit bloßen Unterlassens begründen möchte, ist es notwendig, die Ähnlichkeit von Tun und Unterlassen hinsichtlich ihrer Gefährlichkeit für geschützte Interessen sowie als Normverletzungen zu betonen. Für die Rechtsauslegung und -anwendung empfiehlt es sich jedoch, die Unterschiede zwischen

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2 Zur Dogmengeschichte der Unterlassungsstrafbarkeit siehe Honig FG Richard Schmidt, S. 3; speziell zur Ingerenz Welp S. 25 ff; siehe auch Jakobs S. 7 ff (speziell zum Preuß. Allgemeinen Landrecht); Pawlik FS Roxin, 931, 932 ff (zu den Positionen von Kant und Feuerbach). Die Strafbarkeit des Unterlassens ist grundsätzlich auch in den meisten ausländischen Rechtsordnungen anerkannt, mit erheblichen Unterschieden im Einzelnen. Hinweise zu ausländischen Rechtsordnungen bei Freund MK § 13 Rdn. 35 ff; Jescheck 140 Jahre GA S. 115. 3 Von einer „wenig aussagekräftigen Leerformel“ in § 13 spricht Roxin GA 2009 73. 4 Radbruch S. 132 ff. 5 In diesem Sinne prägnant Armin Kaufmann S. 25 ff; ebenso Bergmann S. 138 ff; Sch/Schröder/Bosch Vor § 13 Rdn. 139 („In ontologischer Beziehung ist die Unterlassung vielmehr ein Nichts“); Welzel Strafrecht, S. 200 f; dagegen Gössel FS Kühl 225, 238 ff (der Tun und Unterlassen als unterschiedliche Formen zielgerichteten menschlichen Handelns ansieht). 6 Armin Kaufmann S. 110 ff, 169 ff, 204 ff et passim („Umkehrprinzip“). 7 Einen solchen Unterschied verneint Bung ZStW 120 (2008) 526, 527 ff, der Unterlassungen als „unsichtbare Handlungen“ bezeichnet. 8 Siehe insbesondere Freund S. 36 ff; ders. FS Herzberg 225, 230 ff („Sonderverantwortlichkeit“ als normative Voraussetzung der Strafbarkeit sowohl für Tun als auch für Unterlassen); ders. MK Vor § 13 Rdn. 133 ff, § 13 Rdn. 65 ff; Jakobs AT 6/31 f; ders. S. 36 f. Für eine Strukturähnlichkeit von Handlung und Unterlassung im Ergebnis (wenngleich von unterschiedlichen Ausgangspunkten) auch Arzt JA 1980 553, 555 f; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 9 Rdn. 6; Gimbernat ZStW 111 (1999) 307, 315 („Destabilisierung eines Gefahrenherdes“ als gemeinsames Merkmal von Tun und Unterlassen); Gropp AT S. 98 (Handlung als Kundgabe der Nichtbeachtung des Geltungsanspruchs eines rechtlich geschützten Werts schließe auch Unterlassungen ein); Herzberg FS Jakobs, 147, 170 f (Unterlassen der Erfolgsabwendung als Grundstruktur strafbaren Verhaltens); Kahlo S. 235 ff, 250 ff; Maurach/Gössel/Zipf § 45 Rdn. 29; Puppe ZIS 2018 484, 486 f („Verhinderung eines rettendes Kausalverlaufs“); Spendel FS Herzberg 247, 249 ff; Stein SK Vor § 13 Rdn. 1. 9 Ebenso Roxin AT II § 31 Rdn. 5 f, 41; Stein SK Vor § 13 Rdn. 22; Volk FS Tröndle 219.

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Tun und Unterlassen im Auge zu behalten10 und jeweils genau zu prüfen, ob die Regeln, die für Begehungsdelikte entwickelt worden sind, auch auf den Fall der Nicht-Begehung passen oder ob sie dafür modifiziert werden müssen, um den Bereich des Strafbaren nicht zu weit auszudehnen. 4

2. Handlungsmöglichkeit. Für das Strafrecht ist die Tatsache, dass jemand untätig ist, als solche ohne Bedeutung; nur die Enttäuschung einer rechtlich begründeten Handlungserwartung kann Strafbarkeit begründen.11 Daher kann man die abstrakte Möglichkeit, dass ein Mensch die erwartete Handlung vornimmt, schon als Begriffselement der Unterlassung verstehen.12 Von praktischer Bedeutung ist diese Frage allerdings nicht, da es für die Verletzung einer Handlungspflicht als Tatbestandsmerkmal des Unterlassungsdelikts entscheidend auf die individuelle Handlungsfähigkeit des Täters ankommt; siehe unten Rdn. 65. II. Die Unterscheidung zwischen Handeln und Unterlassen

1. Meinungsstand. Bei manchen Fallgestaltungen ist es nicht einfach zu entscheiden, ob eine Handlung oder eine Unterlassung den Gegenstand der strafrechtlichen Beurteilung bilden soll.13 Das am häufigsten zitierte Beispiel ist der Ziegenhaar-Fall (RGSt 63 211): Ein Fabrikant hatte Ziegenhaare nicht gebührend desinfiziert (Unterlassen) und sie dann an seine Arbeiterinnen ausgegeben (Tun), so dass sich die Arbeiterinnen mit Milzbrand ansteckten und starben.14 Die Rechtsprechung löst solche Fälle in der Weise, dass sie danach fragt, ob der „Schwerpunkt“ des Täterverhaltens bei dem Tun oder dem Unterlassen liegt.15 Liegt der Schwerpunkt auf dem Unterlassensaspekt, so kommt Strafbarkeit nur in Betracht, wenn der Täter gemäß § 13 rechtlich zum Handeln verpflichtet war. Die Lehre lehnt die „Schwerpunkt“-Formel überwiegend ab, da sie zu beliebigen 6 Entscheidungen führe und kein eigentliches Abgrenzungskriterium enthalte.16 Statt dessen wird häufig vorgeschlagen, in unklaren Fällen immer dann ein Begehungsdelikt anzunehmen, wenn der Täter „Energie“ in Richtung auf das gefährdete Objekt eingesetzt hat;17 andere Autoren wollen von einem aktiven Tun dann sprechen, wenn der Täter ei5

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10 In diesem Sinne auch Kuhlen FS Puppe 669, 676. 11 Gallas S. 24 ff; Sch/Schröder/Bosch Vor § 13 Rdn. 139; Stein SK Vor § 13 Rdn. 1; aA Armin Kaufmann S. 92 ff. 12 Jakobs AT 29/10 ff; Jescheck/Weigend § 23 VI 2 b; Stein SK Vor § 13 Rdn. 2. 13 SSW/Kudlich § 13 Rdn. 4 spricht hier von einem „doppelrelevanten Verhalten“. Siehe hierzu auch Maurach/Gössel/Zipf § 46 Rdn. 6 ff. 14 Weitere Beispiele in RGSt 63 392; 75 324; BGHSt 40 257, 265 f; BGH JZ 1983 462 m. Anm. Sieber; BGH JR 2004 33 m. Anm. Duttge; OLG Karlsruhe NJW 1980 1859. In der Ziegenhaar-Entscheidung hat sich das RG im Übrigen gar nicht mit der Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen beschäftigt, da der Arbeitgeber jedenfalls auch Garant für die Gesundheit der Arbeiterinnen war. 15 Erstmalig BGHSt 6 46, 59 (dort mit der sachlich verfehlten, im Schrifttum immer wieder zitierten Bezeichnung „Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit“); aus neuerer Zeit BGH NStZ 1999 607; 2005 446, 447; zustimmend Heinrich AT Rdn. 866; Sch/Schröder/Bosch Vor § 13 Rdn. 158a; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 987. 16 In diesem Sinne etwa Freund MK § 13 Rdn. 5; Freund/Timm HRRS 2012 223, 225; Gaede NK Rdn. 7; SSW/Kudlich Rdn. 6; Merkel FS Herzberg 193, 196; Stein SK Vor § 13 Rdn. 77; eingehend Stoffers. Tatsächlich können die Revisionsgerichte mit Hilfe der „Schwerpunkt“-Formel die Frage der Anknüpfung an Tun oder Unterlassen den Tatrichtern überlassen und sich auf eine Plausibilitätskontrolle beschränken. 17 Eingehend Welp S. 109 ff; siehe ferner Androulakis S. 55 f; Brammsen GA 2002 193, 206; Duttge JR 2004 34, 37; Engisch FS Gallas 170; Freund MK Rdn. 9; Gaede NK Rdn. 7; Roxin AT II § 31 Rdn. 77 f.

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nen Erfolg verursacht hat.18 Nur wenn der Täter keine körperliche Energie eingesetzt hat, die zu dem Erfolgseintritt beigetragen hat (oder, in Versuchsfällen, dazu beitragen sollte), soll subsidiär auf die Möglichkeit strafbaren Unterlassens zurückgegriffen werden.19 2. Vorrang der Strafbarkeit wegen Tuns. Tatsächlich lassen sich Tätigkeit und 7 Untätigkeit eines Menschen anhand des (laienhaft verstandenen) Kriteriums des Einsatzes von Energie (oder, wohl gleichbedeutend: der körperlichen Bewegung) relativ leicht unterscheiden: Wer bewegungslos verharrt, „handelt“ nicht. Daher liegt etwa in der bloßen Anwesenheit einer Person im Auto eines Drogenkuriers kein aktives Tun (BGH StV 1982 516, 517).20 Damit ist allerdings für die rechtliche Bewertung der umstrittenen Fallkonstellationen wenig gewonnen.21 Denn jeder Handelnde unterlässt gleichzeitig eine unüberschaubare Vielzahl von weiteren Handlungsoptionen, und es kann sein, dass es gerade auf eine von diesen ankommt: Dass die Mutter des Kleinkinds mit dem Auto eine Spazierfahrt macht, ist gewiss eine Handlung; strafrechtlich relevant kann aber das gleichzeitige Unterlassen sein, ihr zu Hause zurückgelassenes Baby zu füttern.22 Außerdem enthalten Abläufe, die auf die Verwirklichung strafrechtlich relevanter Erfolge zusteuern, in aller Regel Sequenzen von Handlungen und Unterlassungen: Der Mörder kauft die Tatwaffe, unterlässt eine Warnung des Opfers, legt sich auf die Lauer, unterlässt es, beim Herannahen des Opfers seine Schussposition zu verlassen, schießt, hilft dem verletzten Opfer nicht, usw. Insofern liegt in der Auswahl des Punktes, an dem die rechtliche Bewertung des Verhaltens anknüpfen soll, eine normative Entscheidung, eine „Schwerpunkt“-Setzung.23 Bei dieser Entscheidung kann und sollte man sich daran orientieren, dass im aktiven Tun in der Regel24 die intensivere, größere Überwindung verlangende Rechtsgutsverletzung oder -gefährdung liegt als im Unterlassen – ein Gedanke, der auch der fakultativ milderen Bestrafung des Unterlassens (§ 13 Abs. 2) zugrunde liegt. Daher ist es angemessen, unter mehreren Verhaltensweisen ein und desselben Täters, die mit der Tatbestandsverwirklichung verbunden sind, zunächst die aktiven Tätigkeiten daraufhin zu untersuchen, ob sie eine unerlaubte Gefahr für das geschützte Objekt geschaffen haben und so die Möglichkeit der Strafbarkeit begründen. Ist dies der Fall, so tritt ein zusätzlich vorliegendes Unterlassen subsidiär hinter der Verantwortlichkeit wegen aktiven Tuns zurück.25 Es kann aber dann die Strafbarkeit begründen, wenn das aktive Verhalten nicht tatbestandsmäßig oder nicht rechtswidrig ist.

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18 So etwa Grünwald S. 21 ff; Kargl GA 1999 459, 475; Samson FS Welzel 579, 589 ff; Welzel Strafrecht S. 203. 19 Jakobs AT 28/4; Röhl JA 1999 895; Stratenwerth/Kuhlen AT § 13 Rdn. 2 f. 20 Unrichtig dagegen die Entscheidung BGH StV 1982 517, 518, wonach in der bloßen Anwesenheit eines Anwalts bei einem Gespräch Dritter Beihilfe durch aktives Tun liegen soll. Zutreffend Rudolphi StV 1982 518, 521; ebenso Freund MK Rdn. 11; Kühl AT § 18 Rdn. 25; Roxin AT II § 31 Rdn. 92; im Ergebnis wie der BGH jedoch Sieber JZ 1983 431, 437 (da das „Verhalten in der Rolle des Besprechungsteilnehmers“ Energieeinsatz verlange). 21 Treffend Jakobs AT 28/5. 22 Vgl. Roxin AT II § 31 Rdn. 88 ff. 23 Ähnlich Ast ZStW 124 (2012) 612, 618 ff: bloß „akzessorische“ Verbots- oder Gebotsnormen sind bei der Frage, ob Tun oder Unterlassen vorliegt, außer Acht zu lassen. 24 Es sind allerdings durchaus Fälle denkbar, in denen ein äußerlich aktives Tun bei normativer, vom betroffenen Schutzobjekt ausgehender Betrachtung nur das Gewicht eines Unterlassens hat; siehe dazu eingehend Merkel FS Herzberg 193, 212 ff. (der Unterlassen immer dann annimmt, wenn sich die Aktivität des Täters innerhalb seines eigenen Rechtskreises bewegt); siehe auch Koch GA 2018 323, 331. 25 Ebenso Frister AT § 22 Rdn. 12.

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3. Abbruch von Rettungsmaßnahmen. Diese Grundsätze sind auch auf die häufig diskutierten Fälle anwendbar, in denen jemand eine eingeleitete Rettungsmaßnahme abbricht, so dass der eigentlich noch vermeidbare tatbestandliche Erfolg eintritt.26 Hier liegt bloßes Unterlassen vor, solange der Rettungsversuch den eigenen Herrschaftsbereich des Täters noch nicht verlassen hat. Unterlassen ist daher beispielsweise das Einstellen künstlicher Ernährung, sofern sich der Täter darauf beschränkt, die Nährflüssigkeit nicht (mehr) aus seiner Verfügungsgewalt herauszugeben.27 Selbst wenn der Täter in diesem Zeitraum den Rettungsversuch nicht bloß abbricht, sondern Energie einsetzt, um die ersten Ansätze seines Unternehmens rückgängig zu machen (in dem Schulbeispiel des Ertrinkenden: Der Täter legt den Rettungsring, den er gerade aus der Verankerung gelöst hat, um ihn dem Opfer zuzuwerfen, wieder an seinen Platz zurück), ist diese Aktivität als bloße Begleiterscheinung der Aufgabe des Rettungsversuchs rechtlich irrelevant (der Täter könnte den Rettungsring ebensowohl in der Hand behalten). Mit bloßen internen Vorbereitungshandlungen löst der Täter auch noch kein Vertrauen Dritter darauf aus, dass er den Erfolg abwenden werde, so dass anderweitige Hilfe nicht notwendig sei. Es wäre daher nicht angebracht, den Täter wegen aktiver Erfolgsherbeiführung zu bestrafen.28 Handeln, nicht bloßes Unterlassen liegt jedoch vor, wenn die Rettungshandlung bereits den Herrschaftsbereich des Täters verlassen hat und er die Rettungsmöglichkeit aktiv vereitelt (Beispiele: Der Täter holt den im Wasser auf das ertrinkende Opfer zutreibenden Rettungsring wieder zurück; der Täter, der die Feuerwehr von einem Brand verständigt hat, ruft dort erneut an und behauptet fälschlich, das Feuer sei bereits gelöscht).29 Aktives Tun ist auch dann gegeben, wenn der Täter vereitelnd in die Rettungsbemühungen Dritter eingreift.30 Nach diesen Grundsätzen liegt aktives Tun eigentlich auch beim Abschalten eines 9 Respirators vor, der den Kreislauf eines nicht mehr selbständig lebensfähigen Patienten aufrecht erhält, und zwar auch dann, wenn der Täter den Patienten zuvor selbst an das Gerät angeschlossen hat.31Soweit die Gegenauffassung32 zur Begründung eines bloßen

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26 Siehe hierzu eingehend Chr. Schneider S. 53 ff. 27 BGHSt 40 257, 265 f; insoweit zustimmend Merkel ZStW 107 (1995) 545, 552; ders. FS Herzberg 193, 222; Schöch NStZ 1995 153, 154. Problematisch ist die Entscheidung des BGH freilich insofern, als auch die schriftliche Aufforderung des Arztes an das Personal, die Ernährung einzustellen, als Unterlassung (in mittelbarer Täterschaft) angesehen wurde (aaO S. 266). Man kann allerdings sagen, dass der Arzt, sofern er über die Nahrung verfügte, nur die Rettungsmöglichkeit in seiner Sphäre zurückgehalten hat. 28 Ebenso Frister FS Samson 19, 25. Verschiedentlich wird darauf abgestellt, ob der Rettungsversuch „unbeendet“ (dann Unterlassen) oder „beendet“ (dann Tun) sei; vgl. z.B. Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 21 Rdn. 33; Armin Kaufmann S. 106 ff; Samson FS Welzel 579, 598 ff; Sch/Schröder/Bosch Vor § 13 Rdn. 160; Stein SK Vor § 13 Rdn. 81 ff. Die Parallele zum Rücktrittsrecht passt hier jedoch nicht ganz, da es für die Handlungsqualität des Täterverhaltens nicht entscheidend darauf ankommen kann, ob zur Rettung noch weitere Schritte erforderlich sind. 29 Überwiegend wird aktives Tun in diesen Fällen erst dann angenommen, wenn die Rettungsmöglichkeit das Opfer bereits „erreicht“ hat; in diesem Sinne etwa Frister AT § 22 Rdn. 15; Gaede NK § 13 Rdn. 9; Kühl AT § 18 Rdn. 21; Roxin AT II § 31 Rdn. 110 („wenn die Gebotserfüllung aus dem Versuch in das Vollendungsstadium eingetreten ist“); Winter S. 77; noch weitergehend für Unterlassen Heinrich AT Rdn. 873 (Bsp. 4). 30 Siehe z.B. Kühl AT § 18 Rdn. 20; Roxin FS Engisch 380, 387; Sch/Schröder/Bosch Vor § 13 Rdn. 159 (auch für den Fall einer Manipulation von Transplantationslisten); Stein SK Vor § 13 Rdn. 82; aA Gropp AT S. 494 (die „Tötungshandlung“ liege in der „Nichtversorgung des Opfers“). 31 Freund MK § 13 Rdn. 11; Gaede NK § 13 Rdn. 5; Gropp GS Schlüchter 173, 182 ff; Jescheck/Weigend § 58 II 2; Kargl GA 1999 459, 478 ff. Nach Jakobs S. 38 kommt es nicht darauf an, ob man Tun oder Unterlassen annimmt, da der Respirator jedenfalls im Organisationskreis des Arztes liegt und dieser deshalb für ihn einzustehen hat. 32 Siehe etwa Engisch FS Gallas 163, 177 f; Heinrich AT Rdn. 872 (unter Berufung auf den „Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit“); Jäger ZStW 115 (2003) 765, 769; Lackner/Kühl/Kühl Vor § 211 Rdn. 8a; Roxin AT II

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Unterlassens auf den angeblichen „sozialen Handlungssinn“ des ärztlichen Verhaltens abstellt, weicht sie um des gewünschten Ergebnisses willen von dem sonst angewandten Entscheidungskriterium (Energieaufwand zum Abbruch einer Rettungshandlung, die das Opfer bereits „erreicht“ hat) ab.33 Konsistent lässt sich das Abschalten von Maschinen nur dann als Unterlassen konstruieren, wenn man deren Einsatz durch den jeweils für sie verantwortlichen Menschen generell als Tun und die Beendigung ihres Einsatzes als Unterlassen versteht, unabhängig davon, ob sich die Maschine von selbst abstellt oder ob hierfür ein Handgriff notwendig ist.34 Die Streitfrage ist jedoch dadurch für die Praxis weitgehend entschärft worden, dass der BGH für Fälle des Abschaltens lebenserhaltender Apparaturen durch Ärzte mit (mindestens mutmaßlicher) Einwilligung des betroffenen Patienten die Rechtfertigung eines „Behandlungsabbruchs“ unabhängig davon annimmt, ob das Verhalten als Tun oder als Unterlassen einzuordnen ist (BGHSt 55 191).35 Diese Entscheidung hat allerdings die grundsätzliche Frage der Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen in diesem wichtigen Bereich offen gelassen und überdies nur einen besonderen Rechtfertigungsgrund für Ärzte geschaffen; andere Personen, die lebenserhaltende Maßnahmen aktiv beenden, sollen nach §§ 212 und 216 StGB strafbar bleiben.36 4. Unterlassen nach Handeln. Wenn einem strafrechtlich relevanten aktiven Tun 10 ein Unterlassen nachfolgt, so kann Letzteres eigenständige Bedeutung für die strafrechtliche Würdigung des Geschehens erhalten. Das ist augenfällig, wenn der Täter zunächst fahrlässig gehandelt hat und dann vorsätzlich die Rettung des Opfers unterlässt (siehe z.B. BGHSt 7 287, 288 f; dazu Rdn. 43 f). Aber auch wenn der Täter vorsätzlich einen Erfolg angestrebt und aktiv eine Ursache für dessen Eintritt gesetzt hat, bleibt er rechtlich zu dessen Abwendung verpflichtet; andernfalls träfe den bloß fahrlässig handelnden Täter eine Rettungspflicht, den vorsätzlich handelnden nicht.37 In der Regel tritt allerdings die Strafbarkeit wegen Unterlassens der Erfolgsabwendung auf der Konkurrenz-Ebene als subsidiär hinter die Strafbarkeit wegen eines auf denselben Erfolg gerichteten aktiven Tuns zurück.38 Dies gilt jedoch nicht, wenn das Unterlassen schwerer wiegt, etwa weil der Täter eines Totschlags erst im Unterlassungsstadium Merkmale des § 211 (z.B. Grausamkeit) verwirklicht.39 Für den praktisch bedeutsamsten Fall dieser Art, das Hinzutreten einer Verdeckungsabsicht, nimmt die Rechtsprechung freilich an, dass

_____ § 31 Rdn. 115 ff; ders. FS Engisch 386, 395 ff; Chr. Schneider S. 174 ff; Sch/Schröder/Bosch Vor § 13 Rdn. 160. 33 Bei anderen Personen als dem behandelnden Arzt wird allgemein angenommen, dass beim Abschalten des Beatmungsgeräts aktives Tun vorliege (siehe z.B. Roxin AT II § 31 Rdn. 123; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 993). Es ist allerdings schwer zu erklären, weshalb ein und dasselbe Verhalten bei A Tun und bei B Unterlassen sein soll. Konsequent für bloßes Unterlassen, wenn der Ehemann des Opfers das Beatmungsgerät abschaltet, LG Ravensburg JZ 1988 207. 34 So Frister FS Samson 19, 25 ff; ders. AT § 22 Rdn. 7 ff; ähnlich Streng FS Frisch 739, 749 f („aktives Unterlassen“). 35 Dazu Dölling ZIS 2011, 345; Engländer JZ 2011, 513; Gaede NK § 13 Rdn. 10; Verrel NStZ 2010, 671. 36 Hierzu krit. Streng FS Frisch 739, 751 ff (der Nothilfe zugunsten des Selbstbestimmungsrechts des Patienten bejaht). 37 Dencker FS Stree/Wessels 159, 168; Freund NStZ 2004 123; Stein JR 1999 265; Welp S. 193 f, 322 ff; aA BGH NStZ-RR 1996 131: Hillenkamp FS Otto 287 (mit dem Argument, dass der Täter, der vorsätzlich einen Erfolg anstrebt, nicht gleichzeitig verpflichtet sein könne, ihn abzuwenden); Otto FS Lampe 491, 512. 38 Frister AT § 22 Rdn. 37; Sch/Schröder/Bosch Rdn. 38. Verfehlt daher das Gegenargument von Otto FS Lampe 491, 512, das vom Täter verwirklichte Unrecht werde nach der hier vertretenen Auffassung „gleichsam verdoppelt“. 39 Freund MK Rdn. 279; Roxin AT II § 32 Rdn. 192 ff.

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es sich bei der aktiven Verletzung mit Tötungsvorsatz und dem anschließenden Unterlassen der Rettung um ein und dieselbe Tat handelt, so dass der untätig bleibende Täter nicht eine andere Tat verdeckt.40 III. Anwendungsbereich der Vorschrift 11

1. Funktionale Auslegung. Die Vorschrift des § 13 hat eine doppelte Funktion. Sie dehnt einerseits die Strafbarkeit auf Fallgestaltungen aus, die nicht ohne weiteres unter den Wortlaut der Strafnormen fallen, und sie sieht andererseits in Absatz 2 eine fakultative Strafmilderung für die von ihr erfassten Fälle vor. Aufgrund dieser Ambivalenz bereitet die Bestimmung des Anwendungsbereichs der Regelung gewisse Schwierigkeiten. Ungeachtet der irreführenden Formulierung „… ist nach diesem Gesetz nur dann 12 strafbar …“ bezweckt § 13 eine Strafbarkeitserweiterung.41 Die Regelung bezieht sich folglich nicht auf Fälle, die bereits vollständig im Besonderen Teil des StGB oder in anderen Strafgesetzen geregelt sind. § 13 gilt daher nicht für Tatbestände wie § 138 oder § 323c, die das strafbare Verhalten mit den Worten „Wer … es unterlässt“ oder „Wer … nicht Hilfe leistet“ beschreiben, da es bei diesen Tatbeständen weder einer Sonderregelung zur Begründung der Strafbarkeit bedarf noch eine Strafmilderung für den Fall des Unterlassens angezeigt ist. Ebensowenig ist § 13 auf Tatbestände anwendbar, in denen der Gesetzgeber ein passives Verhalten in einer bestimmten Situation näher beschreibt, wie in § 123 Abs. 1 2. Alt. („wer … sich nicht entfernt“), § 221 Abs. 1 Nr. 2 („Wer einen Menschen… in einer hilflosen Lage im Stich lässt“)42 oder § 225 Abs. 1 letzte Modalität („wer durch böswillige Vernachlässigung seiner Pflicht, für sie zu sorgen, sie an der Gesundheit schädigt“). In solchen Fällen sind etwaige Aktivitäten des Täters rechtlich irrelevante Begleithandlungen zu dem tatbestandlich beschriebenen passiven Verhalten.43 Auch in diesen Fällen hat der Gesetzgeber seine Bewertung des (passiven) Täterverhaltens in der Strafnorm durch den jeweils vorgesehenen Strafrahmen abschließend zum Ausdruck gebracht; es bedarf weder einer Erweiterung des Straftatbestandes noch einer Strafmilderung für den Unterlassenden.44 Die Regelung des § 13 kann sich folglich nur auf Tatbestände beziehen, in denen das 13 tatbestandliche Verhalten „aktiv“ umschrieben ist. Das gilt zunächst – unstreitig – für Fälle, in denen der Tatbestand nach normalem Sprachverständnis nur durch aktives Tun verwirklicht werden kann (z.B. § 212: „Wer einen Menschen tötet …“). Anwendbar ist § 13 aber auch auf solche Tatbestände, bei denen sowohl aktives Handeln als auch Untätigkeit der Verhaltensbeschreibung entsprechen können (z.B. § 184 Abs. 1 Nr. 1: „Wer pornographische Schriften einer Person … zugänglich macht“; § 266: „Wer … die Pflicht,

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40 BGH NStZ 2003 312, 313; NStZ-RR 2009 239. Diese Auffassung hat zur Konsequenz, dass der Täter, der zunächst nur Verletzungsvorsatz hat, durch spätere Verdeckungsabsicht in der Unterlassensphase zum Mörder werden kann; wer schon bei der aktiven Einwirkung auf das Opfer zumindest bedingten Tötungsvorsatz besaß, bleibt dagegen Totschläger. Kritisch zu dieser Rechtsprechung Freund NStZ 2004 123; Grünewald GA 2005 502. 41 Siehe Gallas Niederschriften XII, S. 79 f. 42 Siehe hierzu BGHSt 57, 28, 30 f: § 221 Abs. 1 Nr. 2 sei ein „echtes“ Unterlassungsdelikt, daher sei § 13 nicht anwendbar. Dies trifft (nur) im Ergebnis zu, da eine etwaige örtliche Fortbewegung des Täters dafür, ob das Opfer in Lebens- oder Gesundheitsgefahr gerät, gleichgültig ist. AA Momsen StV 2013, 54, 58. 43 Streng ZStW 122 (2010) 1, 5 ff. bezeichnet die Fälle, in denen das passive Verhalten den tatbestandlichen Erfolg auslöst, als „passives Tun“ und verneint für sie die Anwendbarkeit von § 13. 44 BGHSt 36 227, 228 f; Lackner/Kühl/Kühl Rdn. 19; Maurach/Gössel/Zipf § 46 Rdn. 188; aA Jakobs AT 28/10. Die Regelung in § 4 Abs. 1 S. 2 VStGB, wo die Anwendung von § 13 Abs. 2 StGB für die Fälle ausgeschlossen wird, in denen ein Vorgesetzter den Untergebenen nicht an der Begehung einer völkerrechtlichen Straftat hindert, hat nur klarstellenden Charakter.

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fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen, verletzt …“; § 323c Abs. 2: „Wer … eine Person behindert, die einem Dritten Hilfe leistet oder Hilfe leisten will“). Denn zum einen versteht es sich hier nicht von selbst, dass das Zugänglichmachen (§ 184), die Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht (§ 266) oder das Behindern (323c Abs. 2) nicht nur durch aktives Verhalten, sondern auch durch Untätigkeit begangen werden kann;45 bei unbefangener Lektüre des Tatbestandes denkt man vielmehr vornehmlich an aktives Handeln. Außerdem ist es bei diesen Tatbeständen durchaus angebracht, jeweils gemäß § 13 zu prüfen, ob der untätig bleibende Täter zu einem Handeln verpflichtet war. Schließlich wird eine Tatbestandsverwirklichung durch Untätigkeit bei diesen „gemischten“ Tatbeständen häufig einen geringeren Unrechtsgehalt aufweisen als die Herbeiführung der tatbestandlichen Situation oder Folge durch aktiven Eingriff; daher ist es geboten, für die Fälle bloßen Unterlassens die Strafmilderungsmöglichkeit nach § 13 Abs. 2 zu eröffnen. In diesem Sinne hat auch der BGH für den Fall der Untreue entschieden (BGHSt 36 227).46 2. Keine Erfolgsabwendung. Strafbarkeit wegen Unterlassens setzt nach § 13 vor- 14 aus, dass es der Täter unterlässt, „einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört“. Aus dieser Formulierung wird teilweise der Schluss gezogen, dass § 13 nur auf solche Tatbestände anzuwenden sei, die den Eintritt der Verletzung oder konkreten Gefährdung eines Menschen oder eines Objekts enthalten.47 Die Gegenmeinung hält den Begriff des „Erfolges“ demgegenüber für inhaltslos; erfasst sei jedes „tatbestandsmäßige Geschehen“, so dass auch sog. schlichte Tätigkeitsdelikte wie Meineid (§ 154) oder Inzest (§ 173) durch Unterlassen begangen werden könnten und dann nach § 13 zu beurteilen seien.48 Für die erste Auffassung spricht (neben den Gesetzesmaterialien),49 dass der Ge- 15 setzgeber hier – wie in § 9 Abs. 1 und § 78a S. 250 – von dem Erfolg spricht, „der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört“. Manche Tatbestände, wie etwa § 303 (Beschädigung oder Zerstörung einer Sache), bezeichnen mehr oder weniger ausdrücklich die Folgen der Handlung des Täters. In vielen anderen Tatbeständen wird dagegen semantisch allein eine Handlung beschrieben, die jedoch typischerweise zu einer Veränderung in der Außenwelt führt, wie etwa „überlassen“ (§ 184 Abs. 1 Nr. 1), „quälen“ (§ 225 Abs. 1) oder „wegnehmen“ (§ 242). Auch diese Tatbestände enthalten somit implizit ein „Erfolgs“element, von dessen Verwirklichung die Strafbarkeit des Täters (wegen Vollen-

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45 Zum „Zugänglichmachen“ i.S.v. § 184 Abs. 1 Nr. 1 durch bloßes Liegenlassen siehe Hörnle MK § 184 Rdn. 32; zum „Behindern“ durch passives Verhalten BTDrucks. 18/12153 S. 7. 46 Ebenso Fischer Rdn. 3; Frister AT § 22 Rdn. 5; Schünemann ZStW 96 (1984) 287, 317; aA Gaede NK Rdn. 2; Sch/Schröder/Bosch Rdn. 1a (es mache „strukturell keinen Unterschied“, ob in einer Strafvorschrift die Tathandlung so umschrieben ist, dass sie positives Tun und Unterlassen gleicherweise umfasst, oder ob das Unterlassen neben dem Tun genannt wird); Stein SK Rdn. 89. 47 Frister AT § 22 Rdn. 4; Gropp AT S. 466 f; Kahlo S. 35; Welzel Lehrbuch S. 211. 48 Bergmann S. 148 f; Gaede NK Rdn. 2; Jakobs AT 29/2; Sch/Schröder/Bosch Rdn. 3; vgl. auch BGHSt 46 212, 222 (obiter). 49 Siehe die Begründung zu § 13 E 1962, S. 126: „Tatbestände, die nur durch schlichtes Tätigwerden verwirklicht werden, sind daher durch Unterlassen grundsätzlich nicht begehbar.“ 50 Die h.M. beschränkt § 9 Abs. 1 auf „Erfolgsdelikte“ (BGHSt 44 52, 56; 45 97,100; Hilgendorf ZStW 113 (2001) 650, 660 ff; Lackner/Kühl/Heger § 9 Rdn. 2; Böse NK § 9 Rdn. 3 f) sowie konkrete Gefährdungsdelikte (Sch/Schröder/Eser/Weißer § 9 Rdn. 6a). Allerdings hat der BGH in seiner jüngeren Rechtsprechung auch objektive Strafbarkeitsbedingungen (BGHSt 42 235, 242 f) und „abstrakt-konkrete Gefährdungsdelikte“ (BGHSt 46 212, 221 ff) einbezogen; siehe auch Sieber NJW 1999 2065, 2068 f. Bei § 78a S. 2 wird davon ausgegangen, dass sich die Vorschrift nur auf „Erfolgsdelikte“ bezieht (näher Sch/Schröder/Bosch § 78a Rdn. 2 ff); dennoch soll ein späterer Handlungszeitpunkt etwa bei Bestechung für den Beginn der Verjährungsfrist maßgeblich sein (BGHSt 52, 300, 303).

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dung) abhängt. So ist etwa der Zugriff auf eine fremde Sache nur dann Diebstahl, wenn es dem Täter tatsächlich gelingt, neuen Gewahrsam zu begründen. Es spricht nichts dagegen, § 13 auch auf solche Tatbestände anzuwenden.51 Führt der Täter den in der Tatbestandsbeschreibung stillschweigend enthaltenen faktischen Erfolg durch Unterlassen herbei (etwa: er quält das Opfer iSv § 225 durch die Verweigerung jeglicher Kommunikation), so ist er aus dem Tatbestand strafbar, wenn er eine Rechtspflicht zur Verhinderung des Erfolges hatte.52 Wenn man dies akzeptiert, bleibt noch die Frage, ob es Tatbestände gibt, die nur eine Handlung ohne irgendeine Veränderung in der Außenwelt voraussetzen. Zu denken ist etwa an das „Schwören“ in § 154, das „Vollziehen des Beischlafs“ in § 173 oder das „Beleidigen“ in § 185. Auch hier setzt die Vollendung jedoch bei genauer Betrachtung (zusätzlich) ein Gelingen des Handelns des Täters voraus.53 So muss er bei § 154 und bei § 185 jeweils eine verständliche Äußerung zustande bringen, die den Adressaten erreicht; und auch das „Vollziehen“ des Beischlafs (§ 173 Abs. 1) setzt über das Bemühen des Täters hinaus die Vereinigung der Geschlechtsteile voraus. Im Ergebnis ist daher der Auffassung Recht zu geben, die § 13 auf „alles, was abgewendet werden kann“,54 bezieht. Dies ist auch kriminalpolitisch berechtigt, denn selbst bei Tatbeständen mit minimalem Erfolgsanteil kommt ein strafwürdiges Unterlassen dann in Betracht, wenn der Täter die Begehung durch eine andere Person, die zu beaufsichtigen er verpflichtet ist (vgl. Rdn. 27, 33), nicht verhindert.55 16

3. Echte und unechte Unterlassungsdelikte. Die Diskussion um den Anwendungsbereich von § 13 wird vor dem Hintergrund der hergebrachten Unterscheidung von „echten“ und „unechten“ Unterlassungsdelikten geführt. Diese – terminologisch wenig glückliche56 – Unterteilung geht auf Heinrich Luden (Abhandlungen aus dem gemeinen teutschen Strafrechte Bd. II [1840] S. 219 ff) zurück, der das Wesen des echten Unterlassungsdelikts in der Nichterfüllung eines Gebots zu einem bestimmten Handeln sah, während durch das unechte Unterlassungsdelikt das subjektive Recht eines Anderen verletzt werde. Seither hat sich die Verwendung der Dichotomie echt/unecht in unterschiedlichen Abgrenzungen verwirrt. Zwei prinzipiell unterschiedliche Ansätze zur Definition lassen sich unterscheiden. Ein formaler Ansatz sieht als „echt“ jene Fälle strafbaren Unterlassens an, die im Gesetz als solche ausdrücklich (oder implizit) genannt sind (z.B. §§ 138, 221 Abs. 1 Nr. 2, 225 Abs. 1 letzte Modalität), während „unechtes“ strafbares Unterlassen dann vorliegen soll, wenn das strafbare Verhalten im Gesetz nur als aktives beschrieben ist, so dass sich die Strafbarkeit nur über die „Brücke“ des § 13 begründen lässt.57 Nach einem materiellen Ansatz – der wohl auch die Formulierung von § 13 beeinflusst hat58 – zeichnen sich die „echten“ Unterlassungsdelikte dadurch aus, dass sie sich

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51 In diesem Sinne wohl auch Stein SK Vor § 13 Rdn. 22 ff. 52 Im Grundsatz übereinstimmend (allerdings mit abweichenden Ergebnissen im Einzelnen) Freund MK Rdn. 227 ff. 53 Roxin AT II § 31 Rdn. 22 f; Walter GA 2001 131, 132 ff. 54 So Jakobs AT 29/2; übereinstimmend Bergmann S. 130 ff. 55 Auch die Möglichkeit einer Beihilfe durch Unterlassen lässt sich mit dieser Auffassung für alle Tatbestände zwanglos begründen. 56 Gegen die Begriffe „echt“ und „unecht“ Freund MK Rdn. 60 (der von „begehungsgleichen Unterlassungsdelikten“ spricht); eingehende Kritik der Begrifflichkeit bei Schmidhäuser FS Müller-Dietz S. 761. 57 Dieser Ansatz geht zurück auf Armin Kaufmann S. 206 ff, 275 ff. Ihm folgen Heinrich AT Rdn. 857 ff; Jakobs AT 28/12; Maurach/Gössel/Zipf § 45 Rdn. 47; Sch/Schröder/Bosch Vor § 13 Rdn. 137; Stratenwerth/ Kuhlen AT § 13 Rdn. 6 f. 58 Vgl. Begr. E 1962, S. 123.

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in der bloßen Nicht-Erfüllung eines Handlungsgebots erschöpfen (z.B. §§ 138, 323c), während bei unechten Unterlassungsdelikten stets der Eintritt eines Verletzungs- oder Gefährdungserfolges vorausgesetzt wird (z.B. § 212 i.V.m. § 13, aber auch § 225 Abs. 1 letzte Modalität).59 Da das Gesetz die Ausdrücke „echtes“ und „unechtes“ Unterlassen nicht verwendet, ist die Anwendbarkeit von § 13 von ihrer Bedeutung unabhängig, und es lassen sich auch keine zwingenden systematische Folgerungen aus der Einordnung eines Tatbestandes in eine der beiden Kategorien ableiten. Wenn man die Begriffe „echtes“ und „unechtes“ Unterlassungsdelikt trotzdem weiter verwenden möchte, sollte man den Begriff des „unechten“ Unterlassungsdelikts jedenfalls so bilden, dass er mit dem Anwendungsbereich von § 13 übereinstimmt.60 IV. Grundlagen von Handlungspflichten 1. Verfassungsmäßigkeit von § 13. Nach § 13 ist der Unterlassende nach einem 17 Tatbestand strafbar, der nach seinem Wortlaut die aktive Herbeiführung eines Erfolges voraussetzt.61 Eine solche Ausdehnung des Begehungstatbestandes auf bloße Untätigkeit setzt voraus, dass der Unterlassende rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt. Die Kernfrage des § 13 geht also dahin, unter welchen Voraussetzungen jemand für das Ausbleiben des Erfolges einzustehen hat oder, anders ausgedrückt, wann eine Handlungspflicht zur Abwendung des Erfolges besteht. Es liegt nahe, die Antwort auf diese Frage in § 13 selbst zu suchen. Die Verweisung 18 auf das „rechtliche“ Einstehenmüssen geht jedoch ins Leere: Es exisiert keine Rechtsvorschrift, die die Fälle, in denen Handlungspflichten bestehen, näher beschreibt. § 13 verweist vielmehr auf ungeschriebene Rechtsgrundlagen, die im Allgemeinen wie im Einzelnen sehr umstritten sind. Da § 13 die Strafbarkeit des Unterlassenden begründet oder zumindest erweitert (oben Rdn. 10), wirft dieser Befund zunächst die Frage auf, ob die Vorschrift dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot genügt. Diese Frage wird von verschiedenen Autoren verneint.62 Ganz überwiegend wird jedoch angenommen, dass durch die Schaffung von § 13 die früher bestehende Problematik, dass die Begehungstatbestände ohne gesetzliche Grundlage analog auf Unterlassensfälle angewandt werden mussten, beseitigt sei und dass eine genauere Angabe der Quellen, auf denen Handlungspflichten beruhen können, nicht durchführbar sei. 63 Das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 96 68, 97 ff) hat Zweifel an der Wahrung des Bestimmtheitsgrundsatzes gleichfalls zurückgewiesen, insbesondere mit dem Argument, dass die

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59 In diesem Sinne etwa BGHSt 14 280, 281 („Bei einem ‚echten‘ Unterlassungsdelikt … erschöpft sich das strafbare Verhalten im Verstoß gegen eine Gebotsnorm, also im bloßen Unterlassen einer bestimmten Tätigkeit … Daher kommt es für die Strafbarkeit nicht auf das Verhindern des ‚Erfolges‘ an.“); von Coelln S. 29 ff; Schöne Unterlassene Erfolgsabwendungen S. 56 ff, 115 ff; Stein SK Vor § 13 Rdn. 10; Wessels/Beulke/ Satzger Rdn. 983; ähnlich Roxin AT II § 31 Rdn. 17 ff (der auf die gesetzliche Gleichstellung von Unterlassen und Tun abstellt). 60 Ebenso Freund/Timm HRRS 2012 222, 230. 61 AA Freund MK Rdn. 1 ff; Freund/Timm HRRS 2012 221, 231 f. aufgrund der Annahme, dass der aktive und der passive Täter gegen dieselbe Verhaltensnorm (Vermeidung der Schädigungsmöglichkeit) verstoßen. 62 Bung ZStW 120 (2008) 526, 539 f; Armin Kaufmann S. 280 ff; Köhler AT S. 213 f; Otto AT § 9 Rdn. 20 f; Schürmann S. 187 f; Seebode FS Spendel 317. Nickel S. 179 ff. sieht das Problem aufgrund einer abweichenden Interpretation von Art. 103 Abs. 2 GG bei der Frage der Äquivalenz von Handeln und Unterlassen; ähnlich Schünemann ZStW 96 (1984) 287, 303 f. 63 In diesem Sinne etwa Gaede NK Rdn. 3; Jakobs AT 29/5 f; Roxin AT II § 31 Rdn. 32 f; Sch/Schröder/ Bosch Rdn. 5/6. Gegen eine Verfassungswidrigkeit schon vor Einführung von § 13 Schünemann Grund und Grenzen S. 255 ff.

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Voraussetzungen der Strafbarkeit wegen Unterlassens durch eine jahrzehntelange Rechtsprechung hinreichend und in einer für den Bürger voraussehbaren Weise festgelegt seien und dass das Handeln dem Täter immerhin zumutbar sein müsse.64 Dies ist freilich keine befriedigende Antwort, denn der Bürger soll ja nach Art. 103 19 Abs. 2 GG aus dem Gesetz und nicht erst aus Kommentaren erfahren können, welches Verhalten unter Strafe steht; außerdem sollte der Gesetzgeber und nicht der Richter die Grenzen zwischen erlaubtem und sozial unerträglichem Verhalten festlegen.65 Diese Voraussetzungen sind durch § 13 ersichtlich nicht erfüllt. Berechtigt sind allerdings die Zweifel, ob es gelingen kann, eine Antwort auf die höchst komplexe und situationsabhängige Frage, unter welchen Umständen jemand zur Erfolgsabwendung verpflichtet ist, in Gesetzesform zu gießen. Allgemeine Formeln, die etwa auf Gesetz, Vertrag, Gefahrengemeinschaft und Schaffung einer Gefahr als Quellen von Handlungspflichten verweisen,66 würden zwar eine gewisse Präzisierung bewirken, aber dennoch viele inhaltliche Fragen offen lassen (siehe Rdn. 23 f).67 Man wird sich deshalb trotz der berechtigten Bedenken unter dem Aspekt von Art. 103 Abs. 2 GG mit dem derzeitigen Rechtszustand abfinden müssen. Das Fehlen einer gesetzlichen Festlegung von Handlungspflichten sollte aber immerhin Anlass dazu geben, bei der Annahme solcher Pflichten große Zurückhaltung zu üben. Im Zweifel ist der Freiheit des Bürgers Vorrang vor ungeschriebenen Handlungsgeboten einzuräumen.68 2. Formale Grundlagen. Auf Feuerbach geht die Einsicht zurück, dass eine Strafbarkeit wegen bloßen Unterlassens nur dann in Frage kommt, wenn der Täter aus einem besonderen Rechtsgrund aktiv werden muss, um eine drohende Rechtsverletzung abzuwenden. Feuerbach erkannte als solche Rechtsgründe Gesetz und Vertrag an.69 Schon wenig später trat der Gedanke hinzu, dass auch derjenige, der durch sein Handeln eine Rechtsgutsgefahr schafft, „besonders“ verpflichtet ist, diese Gefahr durch Tun abzuwenden, und andernfalls für ihre Verwirklichung strafrechtlich einzustehen hat („Ingerenz“).70 Der so entstandene Kanon rechtlicher Garantenpflichten wurde in den 1930er Jahren durch Versuche erweitert, Handlungspflichten aus sozialen (sittlichen) Pflichten herzuleiten, etwa aus einem tatsächlichen Zusammenleben oder aus der Übernahme einer Schutzverpflichtung ohne vertragliche Bindung.71 Spätestens mit diesen Erweiterungen war jedoch Feuerbachs Idee aufgegeben, dass 21 nur eine formal-rechtliche Verbindlichkeit zum Tätigwerden eine Strafbarkeit wegen Unterlassens begründen könne. Außerdem erwiesen sich „Gesetz“ und „Vertrag“ als

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64 Ebenso BVerfG (Kammer) NJW 2003 1030. Zust. SSW/Kudlich Rdn. 3; scharf kritisch Seebode JZ 2004 305, 306 ff. 65 Siehe Dannecker/Schuhr LK § 1 Rdn. 55; siehe auch Berster S. 52 f; Kühl HRRS 2008 359, 360. 66 Eine solche Vorschrift enthält Art. 11 Abs. 2 des schweizerischen StGB; vgl. auch § 12 AE (Fn. 1). Weitere Hinweise auf Formulierungsversuche bei Freund MK § 13 Rdn. 27 ff; ausformulierter Gesetzesvorschlag bei Schrägle S. 320 ff. 67 Ebenso zu Garantenstellungen „aus menschlicher Verbundenheit“ Otto FS Herzberg 255, 272. 68 Übereinstimmend Gaede NK Rdn. 3; Stratenwerth/Kuhlen AT § 13 Rdn. 13. 69 Feuerbach Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 2. Aufl. (1803) § 24: „Weil aber die ursprüngliche Verbindlichkeit des Bürgers nur auf Unterlassungen geht; so setzt ein Unterlassungsverbrechen immer einen besonderen Rechtsgrund (Gesetz oder Vertrag) voraus, durch welchen die Verbindlichkeit zur Begehung begründet wird.“ Nachweise zu Feuerbach und dem philophischen Kontext seiner Auffassung bei Jakobs S. 11 ff. 70 Erste Ansätze bei Christoph Carl Stübel (1828); siehe auch Welp S. 29 ff. 71 Siehe etwa RGSt 69 321, 323: „Die sittliche Pflicht kann zur Rechtspflicht werden für Menschen, die der Außenwelt in so enger Lebensgemeinschaft verbunden gegenüberstehen, wie es in der Familie oder der häuslichen Gemeinschaft der Fall zu sein pflegt.“ Ähnlich RGSt 74 309, 311; BGHSt 2 150, 153; 19 167, 169.

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nur scheinbar klar bestimmte Quellen für strafrechtlich relevante Handlungspflichten: Auch wenn ein „Gesetz“ den Bürger zu einem Handeln verpflichtet, bedeutet das noch nicht ohne weiteres (und in der Mehrzahl der Fälle gerade nicht), dass die Verletzung dieser Pflicht zur Strafbarkeit führt,72 und ebenso ist es bei Verträgen. Andererseits erschiene es als ungereimt, dass etwa eine Aufsichtsperson, die ihre Pflichten vernachlässigt und dadurch den Tod eines Kleinkindes nicht verhindert, nur deshalb straflos bleiben sollte, weil ihr Anstellungsvertrag aus einem formalen Grund zivilrechtlich nichtig war. Bezüglich der Garantenpflichten aus „Ingerenz“ schließlich ist über den Begriff hinaus fast alles ungeklärt (siehe Rdn. 42 ff), so dass hier von vornherein keine Rechtssicherheit hinsichtlich der Begründung von Handlungspflichten entstanden ist. Daher lässt sich auf die traditionelle formale „Rechtspflichten“-Lehre nicht mit Aussicht auf konsistente Ergebnisse aufbauen.73 Angesichts dieses Dilemmas hat man auf der Grundlage von eher beiläufigen 22 Bemerkungen in der Schrift von Armin Kaufmann über „Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte“ (1959) eine konkurrierende „materielle Theorie“ der Handlungspflichten entwickelt. Danach wird zwischen „Beschützergaranten“ und „Überwachergaranten“ unterschieden, wobei erstere „gegen alle Angriffe, gleich aus welcher Richtung“ gegen das Rechtsgut auf Posten gestellt sind, während letztere das „Eindämmen einer konkreten Gefahrenquelle“ zur Aufgabe haben.74 Ganz im Gegensatz zu Armin Kaufmanns Intention wird diese Unterscheidung heute vielfach als Gegenpol zur Rechtsquellenlehre dargestellt.75 Tatsächlich beantwortet die Beschreibung möglicher Funktionen von Garanten selbstverständlich nicht die Frage, aus welchem (Rechts-)Grund sie Garanten sind.76 Ob aus der Differenzierung zwischen „Beschützer“- und „Überwacher“-Garanten überhaupt irgendwelche rechtlichen Schlüsse abzuleiten sind, ist sehr zweifelhaft.77 3. Materielle Erwägungen. Eine materielle Begründung von strafbewehrten 23 Handlungspflichten kann sich, solange der Gesetzgeber keine Richtlinien gibt, nur aus allgemeinen Prinzipien ergeben. Nicht zuletzt deshalb ist diese Frage „das heute noch umstrittenste und dunkelste Kapitel in der Dogmatik des Allgemeinen Teils“.78 Den gemeinsamen Ausgangspunkt bildet Feuerbachs Einsicht, dass jemand nur dann Garant

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72 Allgemein anerkannt ist, dass gerade strafgesetzlich begründete Handlungspflichten wie in § 138 und § 323c, da sie keine „besonderen“ Pflichten sind, nicht zu einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit für schädliche Folgen des Unterlassens führen; vgl. BGHSt 3 65, 67; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 1006. Mit Recht betonen Stratenwerth/Kuhlen AT § 13 Rdn. 16, dass man vom Bestehen einer gesetzlichen Handlungspflicht nicht ohne weiteres auf die Strafbarkeit ihrer Verletzung schließen kann. Zur Problematik der „Parallele“ zu zivilrechtlichen Handlungspflichten eingehend Grünewald S. 124 ff. 73 Ebenso z.B. Gaede NK Rdn. 31; Roxin AT II § 32 Rdn. 10 ff. Dagegen wollen Baumann/Weber/ Mitsch/Eisele § 21 Rdn. 57 auf die „Orientierungsfunktion des traditionellen Rechtsquellen-Kanons“ nicht verzichten; ähnlich Kühl AT § 18 Rdn. 43. 74 So die Formulierungen bei Armin Kaufmann S. 283. Eine ausgearbeitete Theorie von „Sonderverantwortlichkeiten“, die sich an der Differenzierung zwischen dem „Sonderbezug“ zur Quelle der Gefahr und zum „Zielort“ orientiert, liefert Freund S. 135 ff; ders. MK Rdn. 76 ff. Von „Archetypen“ der unechten Unterlassungsdelikte spricht Schünemann GA 2016 301, 304. 75 Repräsentativ etwa Heinrich AT Rdn. 925: „Diese Einteilung (scil. nach Entstehungsgründen) ist inzwischen überholt. Heutzutage teilt man die verschiedenen Garantenpflichten nicht mehr nach ihrer Herkunft, sondern nach ihrer Funktion … in zwei verschiedene Gruppen ein.“ 76 Sch/Schröder/Bosch Rdn. 9 spricht treffend davon, dass die „substanzlose“ Einteilung „allenfalls systematische Bedeutung“ habe; ähnlich auch Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 21 Rdn. 56; Roxin AT II § 32 Rdn. 22; Stein SK Rdn. 23 ff; Stratenwerth/Kuhlen AT § 13 Rdn. 15. 77 Verneinend Jakobs AT 29/27. 78 Roxin AT II § 32 Rdn. 2. Kritischer Überblick über die materiellen Theorien bei Schrägle S. 85 ff.

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sein kann, wenn er in einer „besonderen“ Beziehung zu dem drohenden Erfolg steht;79 dieses Merkmal wird in manchen ausländischen Strafgesetzbüchern auch in den Vorschriften über Unterlassungen ausdrücklich genannt.80 Die entscheidende – und schwierige – Frage ist allerdings, worin die „Besonderheit“ bestehen soll. Zahlreiche Autoren haben sich darum bemüht, allgemeine Leitgedanken hierzu zu formulieren. Dabei wird teilweise versucht, in einer monistischen Theorie alle anerkennenswerten und anerkannten Fälle von Handlungspflichten auf eine einzige Quelle zurückzuführen; die Mehrzahl der Autoren stellt jedoch zwei oder drei voneinander unabhängige Grundsätze nebeneinander. Eher formal ist die Auffassung von Brammsen und Otto, wonach sich alle Garantenpflichten auf ein „gegenseitiges Erwartungsverhältnis“ innerhalb der Gesellschaft zurückführen lassen.81 Monistisch angelegt ist die Lehre Schünemanns, wonach die Grundlage für die Gleichstellung von Unterlassungen und Handlungen in der – von dem Autor überaus weit verstandenen – Herrschaft des Täters „über den Grund des Erfolges“ liegt,82 wie auch die diesen Ansatz fortentwickelnde Lehre Roxins von der „Kontrollherrschaft“ des Unterlassungstäters. 83 Beide Autoren differenzieren dann allerdings zwischen Fällen, in denen der Täter Kontrolle über das gefährdete Objekt („Schutzherrschaft“), und solchen, in denen er Herrschaft über die Gefahrenquelle („Sicherungsherrschaft“) ausübt.84 Dualistisch ist die Auffassung von Jakobs, der zwischen einer Pflicht zur Organisation des eigenen Rechtskreises (die die nötigen Handlungen ebenso wie Unterlassungen umfasst) sowie einer Pflicht aus institutioneller Zuständigkeit „zur zuwendenden Leistung an einen anderen“ unterscheidet.85 Ähnlich verfährt Vogel, der zwischen „autonomen“ Entstehungsgründen aufgrund eigener Handlung und „heteronomen“ aufgrund institutioneller Zuweisung differenziert.86 Seelmann führt Garantenpflichten im Wesentlichen auf die zurechenbare Schaffung von Gefahren (einschließlich der „Entziehung von Abwehrbereitschaft“ durch Verantwortungsübernahme) zurück, erkennt aber daneben eine Restkategorie von familiären und staatlichen Pflichten an, die „Bedingung der Möglichkeit eines auf Handlungsverantwortung gründenden Systems von Handlungspflichten sind“.87 Insgesamt zeigt sich eine gewisse Affinität der neueren Theoriebildung zu der „Funktionenlehre“ (siehe Rdn. 22), wobei jeder der beiden Funktionen von Garanten (Schutz und Kontrolle) ihr eigener Rechtsgrund zugeschrieben wird.88 Angesichts des Fehlens spezifischer Rechtssätze dürften sich Garantenpflichten am 24 ehesten in der Weise legitimieren lassen, dass man den Verpflichteten an seinem Vor-

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79 Freund MK Rdn. 83 ff. verlangt eine „Sonderverantwortlichkeit“ nicht nur für den Unterlassungs-, sondern auch für den Begehungstäter (bei dem sie in seiner Eigenschaft als Gefahrenquelle liegen soll). 80 Siehe etwa § 2 ö. StGB („Bedroht das Gesetz die Herbeiführung eines Erfolges mit Strafe, so ist auch strafbar, wer es unterlässt, ihn abzuwenden, obwohl er zufolge einer ihn im besonderen treffenden Verpflichtung durch die Rechtsordnung dazu verhalten ist …“); ähnlich Art. 2 poln. StGB; Art. 11 span. StGB. 81 Brammsen S. 131, 169 f. et passim; Otto AT § 9 Rdn. 42 ff. 82 Schünemann Grund und Grenzen S. 231 ff; ders. GA 2016 301, 305. 83 Roxin AT II § 32 Rdn. 19 ff. „Gefahrschaffung“ als gemeinsamen Nenner aller Garantenpflichten nimmt Arzt JA 1980 712, 714 an. 84 Roxin AT II § 32 Rdn. 19; Schünemann Grund und Grenzen S. 280 („Herrschaft über die wesentliche Erfolgsursache“ und „Herrschaft über die Anfälligkeit des Opfers“); ders. FS Amelung 303, 314 ff. Stein SK Rdn. 67 hebt als notwendiges Element einer Garantenstellung das Obhutsverhältnis über das hilflose Opfer hervor. 85 Jakobs AT 28/14 f, 29/27 f. 86 Vogel S. 353 ff, 366 ff. 87 Seelmann GA 1989 241, 251 ff (Zitat S. 256). Ähnlich Gaede NK § 13 Rdn. 34 ff. 88 Treffend und kritisch hierzu Seelmann GA 1989 241, 244 ff.(der auch auf Parallelen zum Zivilrecht hinweist).

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verhalten festhält, ihm also eine Handlungspflicht als Konsequenz aus seinem früheren Verhalten aufbürdet.89 In diesem Sinne einsichtig ist zunächst der Satz, dass derjenige, der seine Hilfe zugesagt und damit typischerweise das Vertrauen des Hilfsbedürftigen (und eventuell auch hilfsbereiter Dritter) in die Einhaltung der Zusage geweckt hat, in „besonderer“ Weise dafür einzustehen hat, dass die Hilfe auch geleistet wird („Übernahme“-Gedanke). In dieselbe Kategorie gehört ferner der Satz, dass man – mehr als andere, in „besonderem“ Maße – für solche Gefahren verantwortlich ist, die man selbst in zurechenbarer Weise geschaffen hat („Ingerenz“-Gedanke). Und schließlich erscheint es auch konsequent, denjenigen, der über einen exklusiven Herrschaftsbereich (z.B. Wohnung, Betrieb, Besitz von Waffen oder Tieren) verfügt, von dem er andere Personen fernhalten kann, besonders zu verpflichten, solche Gefahren abzuwenden, die sich gerade aus diesem Bereich heraus (und damit für Dritte unkontrollierbar) entwickeln („Herrschafts“-Gedanke).90 Aus diesen Sätzen kann man eine Trias von Garantenpflichten ableiten, wie sie in der Sache – ungeachtet unterschiedlicher Systematisierungen – heute auch allgemein anerkannt ist: Pflichten aus (konsensueller oder institutioneller) Übernahme, Pflichten aus zurechenbarer Gefahrschaffung und Pflichten aus der Beherrschung von Sachen, Personen und Sachgesamtheiten. Auch wenn die Grundlegung dieser Pflichten plausibel erscheint, bewegt man sich auf höchst ungesichertem Terrain, wenn man konkrete Handlungspflichten – und die strafrechtliche Sanktionierung bei deren Verletzung – unmittelbar aus ihnen abzuleiten versucht. Immerhin mögen die dargelegten Grundsätze als Entscheidungshilfe in Zweifelsfällen dienlich sein. V. Garantenpflichten 1. Pflichten aus Übernahme a) „Institutionell“ begründete Pflichten. In einem weiteren Sinne liegt der Gedan- 25 ke der vertrauensbegründenden Selbstverpflichtung auch denjenigen Garantenpflichten zugrunde, die häufig als „gesetzlich“ oder „institutionell“ begründete Pflichten bezeichnet werden, nämlich denjenigen aus familiärer Verbundenheit einerseits und den Schutzpflichten staatlicher Amtsträger zugunsten der Bürger und staatlicher Interessen andererseits. Denn sowohl das Eingehen einer Ehe als auch das Zeugen von Kindern geschehen in aller Regel freiwillig; das Individuum begibt sich also bewusst und willentlich in eine Institution (Ehe, Familie), mit der nach allgemeinem Verständnis eine auf gegenseitigem Vertrauen beruhende Lebensgemeinschaft verbunden ist, die besondere Verpflichtungen zum Schutz der übrigen Familienmitglieder auslöst.91 Was staatliche Schutzpflichten betrifft, so mag man aus der Denkfigur des contrat social die Konsequenz ableiten, dass sich „der Staat“ durch seine Konstituierung gegenüber seinen Bür-

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89 Als „Ausdruck einer Verlegenheit“ (nämlich mangelnder dogmatischer Fundierung) bezeichnet Schünemann FS Amelung 303, 305 den hier gewählten Ansatz. Es fragt sich allerdings, ob der kautschukartige Oberbegriff der „Herrschaft“ (inklusive einer angeblichen „Herrschaft über die Hilflosigkeit des Rechtsgutsobjekts“), auf den Schünemann Grund und Grenzen S. 231 ff. seine Unterlassungslehre stützt, eine substantiell tragfähigere Grundlage der Unterlassungsdogmatik zu liefern vermag. Kritik an Schünemanns Ansatz auch bei Berster S. 47 f; von Coelln S. 127 f. 90 Ähnliche Ergebnisse aufgrund verfassungsrechtlicher Analyse bei von Coelln S. 192 ff. Vgl. auch den eingehend begründeten Ansatz von Kleinherne S. 339 ff, der die Garantenpflichten aus dem Grundsatz „neminem laede!“ und der Verbindlichkeit von Selbstverpflichtungen ableitet. 91 Eingehend hierzu Bülte GA 2013 389, 398 ff, der auf die Einnahme der traditionellen familiären Rollen innerhalb einer Lebensgemeinschaft abstellt.

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gern rechtsverbindlich zu deren Schutz verpflichtet.92 Jedenfalls übernehmen die staatlichen Amtsträger ihre Funktionen freiwillig, so dass auch hier der Gedanke zutrifft, dass der einzelne Amtsträger durch seinen Eintritt in die Institution Polizei, Verwaltungsbehörde, Feuerwehr usw. das Vertrauen in Anspruch nimmt, dass er die der jeweiligen Einrichtung obliegenden Schutzpflichten tatsächlich erfüllen werde. 26

aa) Eltern und Kinder. Unbestritten ist die Garantenpflicht der Eltern für Leben und Gesundheit ihrer minderjährigen Kinder, und zwar auch dann, wenn die Kinder nicht im Elternhaus wohnen. Steht nur einem Elternteil die elterliche Sorge zu, so ist auch nur dieser Elternteil Garant.93 Die Frage des Schutzes ungeborener Kinder ist in §§ 218 ff abschließend in dem Sinne geregelt, dass die Mutter nur bei vorsätzlicher Tötung der Leibesfrucht, wenn nicht § 218a eingreift, bestraft wird; eine darüber hinaus gehende Garantenpflicht der Eltern – die die Verantwortlichkeit während der Schwangerschaft in unübersehbarer Weise erweitern könnte – ist deshalb vor Einsetzen der Geburtswehen nicht anzuerkennen.94 Eine schwangere Frau muss jedoch – etwa durch Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe – dafür sorgen, dass bei der Geburt Gefahren für das Leben des Kindes ausgeschlossen sind (BGH NStZ 2010 214).95 Die Garantenpflicht der Eltern erstreckt sich grundsätzlich auch auf sonstige Rechtsgüter, insbesondere Eigentum und Vermögen der Kinder, doch kann es zulässig sein, aus pädagogischen Gründen kleine Vermögensnachteile für das Kind eintreten zu lassen.96 Die umfassende Fürsorgepflicht aus dem Gedanken der institutionellen familiären Beziehung endet mit der Volljährigkeit des Kindes;97 über diese Grenze hinaus reichende Pflichten können sich nur aus dem Gedanken der Übernahme durch tatsächliches Zusammenleben ergeben (dazu unten Rdn. 38). Die Statuierung einer gegenseitigen Beistandspflicht von Eltern und Kindern (unabhängig vom Lebensalter) in § 1618a BGB indiziert eine Verpflichtung von Kindern, zur Abwendung von Lebens- und Gesundheitsgefahren ihrer Eltern tätig zu werden. Da sich diese Vorschrift jedoch nicht als Begründung strafbewehrter Pflichten verstehen lässt,98 hat die Rechtsprechung eine Garantenpflicht des Kindes mit Recht davon abhängig gemacht, dass das Kind durch enges Zusammenleben faktisch Verantwortung für die Eltern übernommen hat.99 Dasselbe gilt erst recht für Pflichten von Großeltern gegenüber den Enkeln100 und von Geschwistern101 untereinander.102

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92 Bejahend (unter Rückgriff auf Hobbes) Pawlik ZStW 111 (1999) 335, 346 ff. 93 Der Vater, der mit der Mutter des Kindes nicht verheiratet ist, ist Garant für das Kind, soweit ihm nach § 1626a BGB die elterliche Sorge gemeinsam mit der Mutter zusteht. Allgemein für Garantenpflicht des nicht-ehelichen Vaters Sch/Schröder/Bosch Rdn. 18; für eine Garantenpflicht nur bei tatsächlicher Obhut Freund MK Rdn. 179; Roxin AT II § 32 Rdn. 41; Stein SK Rdn. 65. 94 Jakobs AT 29/61; Otto AT § 9 Rdn. 51; aA BGH bei Dallinger MDR 1973 369 (aufgrund „natürlicher Verbundenheit“ zwischen dem Erzeuger und der Leibesfrucht). 95 Einschränkend (nur bei Vorerkrankungen der Schwangeren) Sch/Schröder/Bosch Rdn. 18. 96 Roxin AT II § 32 Rdn. 36. 97 Gaede NK Rdn. 59; Roxin AT II § 32 Rdn. 39 f; aA Otto FS Herzberg 255, 267; Sch/Schröder/Bosch § 13 Rdn. 19/20; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 1008. 98 Zutr. Bülte GA 2013 389, 398; Roxin AT II § 32 Rdn. 42. 99 BGHSt 19 167; BGH NStZ 2017 401; NJW 2017 3609 m. Anm. Schiemann. Zust. Freund MK Rdn. 177; Gaede NK Rdn. 61; Roxin AT II § 32 Rdn. 43 f; Stein SK Rdn. 67; für weitergehende Garantenpflicht Heinrich AT Rdn. 930 f; Kühl AT § 18 Rdn. 54 f; Otto FS Herzberg 255, 268 f. 100 Kühl AT § 18 Rdn. 53; Roxin AT II § 32 Rdn. 44; Sch/Schröder/Bosch § 13 Rdn. 18; aA RGSt 64 316; 72 373, 374 f (sogar gegenüber dem noch ungeborenen Enkelkind). 101 LG Kiel NStZ 2004 157; Freund MK Rdn. 180. 102 Nicht in Betracht kommt daher eine Ausdehnung institutioneller Garantenpflichten auf alle „nahestehenden Personen“ i.S.v. § 35, wie dies D. Albrecht S. 183 ff. und Lilie JZ 1991 541, 545 f. vorschlagen

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Kinder sind nicht nur schutzbedürftig, sondern können auch – aufgrund ihrer Unrei- 27 fe – für die Rechtsgüter Anderer Gefahren schaffen. Mit der Institution „Familie“ verbindet sich daher auch eine Überwachungspflicht der Eltern: Sie müssen tätig werden, um gefährliche Verhaltensweisen ihrer Kinder zu unterbinden (BGH FamRZ 1958 211). Werden die Eltern dieser Pflicht nicht gerecht, so haben sie als Täter für die Rechtsgutsverletzungen ihrer Kinder einzustehen. Umfang und Inhalt der Kontrollpflicht sind allerdings wesentlich von Alter und Reifegrad der Kinder abhängig. So stellt es keine Überwachungspflichtverletzung der Eltern dar, wenn sie einen sozial angepassten Halbwüchsigen für einige Stunden sich selbst überlassen, auch wenn nicht auszuschließen ist, dass er während dieser Zeit „altersübliche“ Straftaten begeht.103 bb) Ehegatten. Gegenseitige Schutzpflichten begründen die Institutionen der Ehe 28 und der ihr gleichgestellten Lebenspartnerschaft (vgl. § 2 LPartG). Grundlage der Garantenpflicht ist dabei nicht die (deklaratorische) gesetzliche Bestimmung (§ 1353 Abs. 1 S. 2 BGB), dass die Partner füreinander Verantwortung tragen, sondern die freiwillige Übernahme einer solchen Verantwortung durch das eheliche Zusammenleben.104 Die Schutzpflicht erstreckt sich auf die Kern-Rechtsgüter Leben, Gesundheit und Bewegungsfreiheit und wohl auch auf erhebliche Vermögenswerte des Partners.105 Sie hat ihre Grenze in der Autonomie des Partners: Solange dieser freiverantwortlich entscheiden kann, muss und darf ihm der Ehegatte die Hilfe nicht aufdrängen.106 Das gilt auch in dem Extremfall des freiverantwortlichen Suizids; auch hier besteht keine rechtliche Handlungspflicht des Ehepartners zur Abwendung des Todes, auch nicht nachdem der Suizident das Bewusstsein verloren hat (aA noch BGHSt 2 150; 13 162, 166).107 Andererseits ist der Ehegatte dann zu lebensrettenden Maßnahmen verpflichtet, wenn sich der – nicht mehr entscheidungsfähige – Ehepartner zuvor bewusst gesundheitlich geschädigt hat, ohne jedoch den eigenen Tod zu beabsichtigen. Überwachungspflichten gegenüber dem Ehepartner, um diesen an der Begehung von Straftaten zu hindern, gibt es nach heute allgemeiner Auffassung nicht.108 Ebenso wie man die gegenseitige Garantenpflicht durch die Eheschließung willent- 29 lich übernimmt, kann man sich auch durch Willensakt wieder von ihr lösen. Dies ist auch bereits vor der förmlichen Scheidung der Ehe durch faktische Trennung möglich. Ungeachtet der institutionellen Verankerung der gegenseitigen Garantenpflichten enden diese Pflichten, sobald sich die Ehegatten bei gegenseitiger Kenntnis voneinander getrennt haben, ohne dass noch bei beiden ein ernsthafter (potentieller) Rückkehrwille besteht (BGHSt 48 301). In diesem Fall besteht die Ehe nur noch auf dem Papier fort, ohne dass sich die Partner noch gegenseitig gebunden fühlen. Damit wäre es unverein-

_____ (dagegen auch Gaede NK Rdn. 56); ein „Nahestehen“ kann sich allerdings aus der gegenseitigen faktischen Übernahme von Schutzverpflichtungen ergeben. 103 Roxin AT II § 32 Rdn. 128 f. 104 Roxin AT II § 32 Rdn. 45; ders. GA 2009 73, 81; Stein SK Rdn. 68. 105 Nach Gaede NK § 13 Rdn. 58 ist hier insbesondere die „Grenze der Zumutbarkeit“ zu beachten; nach Stein SK § 13 Rdn. 72 besteht eine Schutzpflicht in der Ehe generell nur bei „ernsten Gefahren“ für „existentiell wichtige Rechtsgüter“. 106 Roxin AT II § 32 Rdn. 46 f. 107 Achenbach Jura 2002 542, 544; Frister AT § 22 Rdn. 41; Sch/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben Vor § 211 Rdn. 41–43. 108 OLG Stuttgart NJW 1986 1767; Gaede NK Rdn. 51; Roxin AT II § 32 Rdn. 126; SSW/Kudlich Rdn. 19; Stein SK Rdn. 71; Stratenwerth/Kuhlen AT § 13 Rdn. 40. Für eine Pflicht zur Verhinderung von Straftaten des Ehegatten noch BGHSt 6 322, 323 f.

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bar, wenn die Rechtsordnung ihnen weiterhin bei Strafe gegenseitige Hilfspflichten auferlegen würde.109 cc) Schutzpflichten von Amtsträgern. Der Staat schuldet seinen Bürgern Sicherheit und größtmöglichen Schutz vor Einbußen an ihren essentiellen Gütern.110 Die staatlichen Amtsträger auf den verschiedenen Ebenen der Exekutive sind damit beauftragt, diese Schutzaufgabe wahrzunehmen; es obliegen ihnen folglich Handlungspflichten zugunsten der Güter des Staates selbst wie der einzelnen Bürger.111 Das wird allerdings vereinzelt mit dem Argument bestritten, dass keine „spezifische Abhängigkeit“ des Bürgers von staatlichen Amtsträgern bestehe, da sich der Einzelne auch hinreichend selbst helfen könne.112 Diese Auffassung steht freilich in Widerspruch zu dem greifbaren Befund der Lebenswirklichkeit, wonach der Einzelne den vielfachen Bedrohungen der Gesundheit und der Sicherheit allein sehr hilflos gegenüber stünde.113 Da die Schutzpflichten dem Staat als Institution obliegen und da ihnen Schutz-Erwartungen der Bürger entsprechen, kann der Staat sich und seine Organe grundsätzlich auch nicht – wie im Fall freiwilliger Übernahme – von seiner Garantenpflicht freizeichnen. Zu diskutieren ist freilich in jedem Einzelfall die Frage, worauf sich die Schutzpflicht richtet und was das staatliche Organ zu ihrer Erfüllung zu leisten verpflichtet ist. 31 Für Einzelbereiche der staatlichen Verwaltung begründet der Grundsatz staatlicher Schutzpflicht weitreichende Handlungspflichten. So hat ein Polizeibeamter im Rahmen seiner Zuständigkeit aktiv einzugreifen, wenn wichtige Güter eines Bürgers durch unerlaubtes Verhalten eines Dritten bedroht werden (BGHSt 38 388, 389 f).114 Beispiele: Die Bediensteten des Jugendamtes sind gehalten, zum Schutze des Lebens und der Gesundheit gefährdeter Kinder tätig zu werden, deren Betreuung sie übernommen haben (§ 8a SGB VIII).115 Schulleiter müssen ihre Schüler vor Gefahren im schulischen Zusammenhang, auch vor drohenden sexuellen Übergriffen von Lehrern, bewahren (BGH NStZ-RR 2008 9). Vollzugsbeamte müssen dafür sorgen, dass die Gefangenen und Untergebrachten in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich nicht geschädigt werden.116

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109 Ebenso Freund NJW 2003 3384; ders. MK § 13 Rdn. 175; Ingelfinger NStZ 2004 409, 411 f; Roxin AT II § 32 Rdn. 50; Sch/Schröder/Bosch § 13 Rdn. 19/20; Stein SK Rdn. 68; weitergehend Gaede NK § 13 Rdn. 57 (Ende der Garantenpflicht schon, wenn ein Ehepartner sich „objektiv erkennbar abgewendet“ hat); nach den konkreten Umständen der Trennung differenzierend Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 1008. Für Fortbestehen von Garantenpflichten trotz Trennung aber Herzberg S. 342 f; Jakobs AT 29/64. 110 Siehe hierzu schon Gallas S. 84 (Garantenpflicht ergebe sich daraus, „daß die Bürger unter Verzicht auf Selbsthilfevorkehrungen ihren Schutz dem Staat anvertraut haben, der seinerseits die ihm hieraus erwachsende Garantenfunktion durch seine Exekutivorgane ausüben läßt“); ferner Jakobs AT 29/76, 77d; ders. Strafrechtliche Zurechnung S. 33 f; eingehend Pawlik ZStW 111 (1999) 335, 350 ff m.w.N. 111 Daher hat der BGH (BGHSt 48 77, 91 f) jedenfalls im Prinzip zu Recht angenommen, dass die Mitglieder des Politbüros der DDR, des faktisch machtvollsten Gremiums des Staates, dazu verpflichtet waren, aktiv das Leben der Bürger zu schützen und Angriffe darauf zu verhüten. Diese Entscheidung kann allerdings weitreichende, bisher nicht erwogene Konsequenzen für die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Mitgliedern der Bundesregierung wegen des Unterlassens z.B. von gesundheitsschützenden Maßnahmen haben. Eingehend zu solchen Fragen Sangenstedt. 112 Stein SK § 13 Rdn. 75 f; Zaczyk FS Rudolphi 361, 368 f. 113 Typisch sind deshalb Garantenpflichten von staatlich bestellten Betreuern (§ 1896 BGB) innerhalb ihres Aufgabenbereichs; Frister AT § 22 Rdn. 40. 114 Dazu Sangenstedt S. 606 ff. 115 OLG Oldenburg NStZ 1997 238; OLG Stuttgart NJW 1998 3131; OLG Düsseldorf NStZ-RR 2001 199; ebenso Bringewat NJW 1998 944; Gaede NK Rdn. 64; Roxin AT II § 32 Rdn. 86 ff, 94 f; Stein SK Rdn. 66; eingehend zu diesen Fällen Beulke/Swoboda FS Gössel 73; Dießner S. 232 ff. 116 Frister AT § 22 Rdn. 43; Roxin AT II § 32 Rdn. 35; Sch/Schröder/Bosch § 13 Rdn. 52; vgl. auch BGH NJW 1983 462. Allerdings begrenzt auch hier die Autonomie des Gefangenen die Garantenpflicht; daher besteht

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Umstritten ist die Frage, inwiefern Handlungspflichten – mit der Folge einer Strafbarkeit wegen Täterschaft oder Beihilfe zu dem pflichtwidrig nicht verhinderten Delikt – auch dann entstehen, wenn der Amtsträger von der drohenden Rechtsgutsgefahr außerhalb seines Dienstes erfährt.117 Der BGH hat diese Frage grundsätzlich verneint, aber eine Ausnahme für solche Fälle gemacht, in denen der Amtsträger ein schwerwiegendes Delikt noch abwenden kann, sobald er sich wieder im Dienst befindet (BGHSt 38 388, 391 ff).118 Dem ist zuzustimmen: Der Amtsträger hat außerhalb des Dienstes zwar keine Pflicht zum sofortigen Eingreifen, aber es ist ihm nicht gestattet, Informationen über erhebliche Bedrohungen wichtiger Rechtsgüter einfach zu „vergessen“.119 Staatliche Amtsträger sind auch gehalten, zum Schutz von Rechtsgütern des 32 Staates und der Allgemeinheit tätig zu werden. Dies gilt etwa für den Schutz von Umweltgütern,120 z.B. der Gewässerreinheit gegen die unerlaubte Einleitung von Abwässern (BGHSt 38 325, 332 ff).121 Amtsträger, die für die Verfolgung von Straftaten zuständig sind, machen sich wegen Strafvereitelung im Amt (§ 258a) strafbar, wenn sie ihnen bekannt gewordenen Straftaten nicht nachgehen.122 Zu den Strafverfolgungsbeamten gehören freilich nicht die Angehörigen des Strafvollzugsdienstes; diese sind strafrechtlich nicht dazu verpflichtet, Vollzugsbedienstete (BGHSt 43 82)123 oder auch Strafgefangene124 wegen Straftaten anzuzeigen, die diese in der Anstalt begangen haben. Strafbar wegen Strafvereitelung kann sich jedoch machen, wer als zuständiger Bediensteter (§ 14) einer für seine Behörde gesetzlich statuierten Anzeigepflicht beim Verdacht bestimmter Straftaten nicht nachkommt (siehe z.B. § 116 AO für alle Gerichte und Behörden in Bezug auf Steuerstraftaten,125 § 6 SubventionsG für Fälle von Subventionsbetrug, § 11 WpHG für Straftaten nach § 119 WpHG). Keine Amts- oder sonstige Pflicht zur Herbeiführung einer strafgerichtlichen Verurteilung hat derjenige, der im Strafverfahren als Zeuge geladen ist. Er begeht daher keine Strafvereitelung durch Unterlassen (§§ 258, 13), wenn er unberechtigt

_____ keine Handlungspflicht der Vollzugsbeamten bei freiverantwortlich-vorsätzlicher Selbstschädigung eines Gefangenen; Jakobs AT 29/75. 117 Verneinend Pawlik ZStW 111 (1999) 345, 353 f. 118 Welchen Straftaten ein „besonderes Gewicht“ zukommt, so dass gegen sie auch bei privater Kenntniserlangung eingeschritten werden muss, hat der BGH freilich nicht abschließend geklärt; beispielhaft werden neben den in § 138 aufgeführten Straftaten „schwere Körperverletzungen, erhebliche Straftaten gegen die Umwelt, Delikte mit hohem wirtschaftlichem Schaden oder besonderem Unrechtsgehalt“ genannt (BGHSt 38 388, 392). 119 Nach BVerfG NJW 2003 1030 verstößt die Gesetzesauslegung des BGH jedenfalls nicht gegen das Grundgesetz. Zustimmend zur BGH-Rechtsprechung Sch/Schröder/Bosch § 13 Rdn. 52; abl. Heinrich AT Rdn. 950; Rudolphi JR 1987 336. Siehe auch OLG Koblenz NStZ-RR 1998 332 (keine Garantenpflicht eines Polizeibeamten, einen Haftbefehl gegen einen ihm bekannten Drogendealer zu vollstrecken, dem er in seiner Freizeit begegnet). 120 Aus der Literatur zu diesem Fragenkomplex siehe Jakobs AT 29/77c; Kühl AT § 18 Rdn. 79 ff; Schall SK Vor § 324 Rdn. 19 ff; Sch/Schröder/Heine/Schittenhelm Vor § 324 Rdn. 38–40. 121 Der BGH hat die Strafbarkeit des zuständigen Bürgermeisters allerdings letztlich nicht unmittelbar auf dessen Pflicht zur Verhütung schädigender Handlungen Dritter, sondern darauf gestützt, dass die Gemeinde selbst wasserrechtlich für die Beschaffenheit des Wassers zuständig war, das Grundstückseigentümer durch rechtswidrige Abwassereinleitung verschmutzt hatten (BGHSt 38 325, 334 f). Dem BGH zustimmend Roxin AT II § 32 Rdn. 102 ff; ablehnend (wegen „Uferlosigkeit“ der Haftung) Stein SK § 13 Rdn. 78. 122 Roxin AT II § 32 Rdn. 84. 123 Zust. Seebode JR 1998 338; Stein SK Rdn. 74; Verrel GA 2003 595. 124 Insofern aA OLG Hamburg StV 1996 606 unter verfehlter Berufung auf das Vollzugsziel der Resozialisierung; zust. Klesczewski NStZ 1996 103; krit. Ostendorf JZ 1997 1104, 1108; Volckart StV 1996 608. 125 Dagegen besteht keine strafbewehrte Pflicht des Finanzbeamten, nicht-fiskalische Delikte, die ihm aus den Steuerakten bekannt werden, der Staatsanwaltschaft zu melden; Chr. Schneider wistra 2004 1.

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die Aussage oder einzelne relevante Auskünfte verweigert und dies zum Freispruch eines Angeklagten führt.126 Gegen eine Garantenstellung zugunsten der Strafverfolgung spricht schon, dass der Zeuge seine Aufgabe nicht freiwillig übernimmt; außerdem ist er zwar prozessual zu wahrheitsgemäßer Aussage verpflichtet (§ 48 Abs. 1 StPO), aber deshalb noch kein Gewährträger für die Verurteilung tatsächlich schuldiger Personen. Die Verletzung einer Aussagepflicht wird darum nur mit prozessualen Ordnungsmitteln geahndet (§ 70 StPO). Auch staatlichen Amtsträgern können Überwachungspflichten obliegen. So sind 33 etwa öffentlich-rechtliche Bedienstete im Straf- oder Maßregelvollzug verpflichtet, die Insassen in ihrem Zuständigkeitsbereich an der Begehung von Straftaten sowohl innerhalb als auch außerhalb der Anstalt zu hindern; sie sind strafbar, wenn sie diese Pflicht verletzen und die Personen, die ihrer Aufsicht unterstehen, Dritte durch Straftaten schädigen (BGH NStZ 2004 151).127 Dasselbe gilt für Lehrpersonen, die die ihnen zugewiesenen minderjährigen Schüler nicht an der Verletzung der Rechtsgüter Anderer hindern.128 Ferner ist der gerichtlich bestellte Betreuer einer psychisch kranken Person verpflichtet, Straftaten des Betreuten in seinem Zuständigkeitsbereich zu verhindern.129 34

b) Pflichten aufgrund faktischer Selbstverpflichtung. Zum Garanten kann man auch dadurch werden, dass man einem Individuum oder der Allgemeinheit gegenüber bestimmte Schutz- oder Überwachungspflichten ausdrücklich oder konkludent übernimmt. Hierher gehören zunächst alle „vertraglichen“ Pflichten. Dabei kommt es nicht auf das Vorhandensein eines zivilrechtlich gültigen Vertrages, sondern darauf an, dass der Pflichtige durch sein Handeln zurechenbar den Anschein erweckt, er werde sich um die Bekämpfung bestimmter Gefahren kümmern.130 Inhalt und Reichweite solcher Pflichten sind so vielfältig wie die Möglichkeiten konsensualer Bindung. Pflichten aus freiwilliger Übernahme können punktuell (der Angestellte eines Sicherheitsunternehmens verpflichtet sich zur stundenweisen Überwachung eines gefährdeten Objekts) und sehr umfassend (zwei Personen begründen eine auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft) sein; sie können sich auf den Schutz einer Person (etwa eines Säuglings), auf die Kontrolle einer Gefahrenquelle (etwa eines fremden Hundes) oder auf beides (der Lehrer einer Privatschule hat seine Schüler im schulischen Bereich vor Gefahren zu schützen und sie an der Schädigung Anderer zu hindern) beziehen. Häufig führt die nach außen in Erscheinung tretende Übernahme einer Schutz- oder Überwachungspflicht dazu, dass sich die zu schützende Person bzw. die Inhaber potentiell gefährdeter Objekte sicher fühlen, größere Risiken eingehen oder im Vertrauen auf den zugesagten Schutz auf andere Sicherheitsmaßnahmen verzichten. Dies alles sind jedoch keine notwendigen Voraussetzungen für das Entstehen der Garantenpflicht, sondern allenfalls Überlegungen, die das Rechtsinstitut der Garantenpflicht aus Übernahme als solches legitimieren.131

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126 LG Itzehoe NStZ 2010 10; Cramer MK § 258 Rdn. 22; Reichling/Döring StraFo 2011 82, 85; aA OLG Frankfurt StraFo 1998 237; OLG Köln NStZ 2010 146; OLG Hamm JuS 2018 296; Altenhain NK § 258 Rdn. 46; Sch/Schröder/Bosch Rdn. 31; Walter LK12 § 258 Rdn. 104; zweifelnd Fischer § 258 Rdn. 11. 127 Gaede NK Rdn. 52. 128 Gaede NK Rdn. 51; Sch/Schröder/Bosch Rdn. 52; Stein SK Rdn. 40. 129 OLG Celle NJW 2008 1012. 130 Frister AT § 22 Rdn. 38; Sch/Schröder/Bosch Rdn. 28; Stein SK Rdn. 86; Stratenwerth/Kuhlen AT § 13 Rdn. 25; siehe auch BGHSt 47 224, 229. Für eine weitgehende Anwendung zivilrechtlicher Grundsätze der Vertragshaftung Bergmann S. 268 ff. 131 Demgegenüber verlangt Stein SK § 13 Rdn. 82, dass sich eine andere Person im Vertrauen auf das Hilfeversprechen tatsächlich erhöhten Gefahren aussetzt oder anderweitige Möglichkeiten der Sicherung unterlässt (weshalb keine Garantenstellung entstehen soll, wenn das Opfer keine anderen

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Hinreichender Grund für die strafrechtliche Haftung des Übernehmenden ist allein dessen Zusage; sie verpflichtet ihn in besonderer Weise, für die Abwendung der von der Zusage erfassten Gefahren einzustehen. Allerdings begründet nicht schon der Versuch, einem anderen – ohne vorheriges Bestehen einer Garantenpflicht – aus einer Notlage zu helfen, eine strafbewehrte Garantenpflicht (vgl. BGHSt 26 35, 39). Eine solche Pflicht entsteht nur, wenn der Helfer ausdrücklich oder konkludent zum Ausdruck bringt, dass er auch weiterhin alles Notwendige zur Rettung des Anderen unternehmen werde.132 aa) Beginn und Ende der Pflicht. Die Handlungspflicht des Übernehmenden setzt 35 frühestens mit dessen Zusage ein; im Übrigen richtet sich der Anfangs- wie der Endzeitpunkt nach der konkreten Vereinbarung. Unter strafrechtlichen Gesichtspunkten kann sich der Übernehmende von der Verpflichtung jederzeit durch einseitige Erklärung lösen. Es verbleibt dann jedoch – ebenso wie in Fällen einer von vornherein befristeten Hilfspflicht – die Residualpflicht, für die Abwendung von Gefahren bis zu dem Zeitpunkt zu sorgen, in dem ein Anderer den Schutz oder die Überwachung übernimmt.133 Die Kindergärtnerin darf daher auch nach Ablauf der festgesetzten Betreuungszeit das anvertraute Kind nicht einfach seinem Schicksal überlassen, und die zur Pflege einer gebrechlichen Seniorin eingestellte Pflegerin darf zwar den Vertrag ohne weiteres kündigen, sie kann dies aber nicht einfach dadurch tun, dass sie nicht zum Dienst erscheint, wenn sonst niemand die Obhut der Seniorin übernimmt. bb) Anwendungsfälle. Typische Garantenpflichten aus Übernahme treffen Ärzte 36 sowie andere Personen, die beruflich in der Pflege von Kranken und Gebrechlichen tätig sind.134 Ohne Bestehen eines individuellen Behandlungsvertrages haben solche Personen jedoch nur dann eine Hilfs- und Obhutspflicht, wenn sie einen Not- oder Bereitschaftsdienst übernommen haben.135 In der Übernahme eines solchen Dienstes liegt die konkludente Erklärung, dass der Arzt – im Rahmen seiner faktischen Möglichkeiten – jedem Hilfe zusagt, der sich innerhalb der festgelegten Zeit an ihn wendet. Darauf, ob der Patient bereits bei einem anderen Arzt in Behandlung ist, kommt es nicht an.136 Die Behandlungspflicht des Arztes ist in jedem Fall durch die autonome Entscheidung des Patienten begrenzt. Dies gilt auch für Suizidenten sowie für Patienten, die eine Behandlung ausdrücklich (etwa durch eine Patientenverfügung) oder konkludent abgelehnt und danach das Bewusstsein verloren haben. Es besteht in solchen Fällen auch keine Pflicht des Arztes zur Lebensrettung: Niemandem darf das Weiterleben aufgezwungen werden.137

_____ Hilfsmöglichkeiten hätte ergreifen können – ein wenig einleuchtendes Ergebnis); ebenso Jakobs AT 29/49 („Das Versprechen ist eine Übernahme, wenn es irgendeine, nicht notwendig die primär zuständige Person davon abbringt, anderen effektiven Schutz zu besorgen“); in diese Richtung auch Gaede NK Rdn. 38; Sch/Schröder/Bosch Rdn. 27. Zu Recht skeptisch gegenüber dem Topos des „Vertrauens“ in diesem Zusammenhang Brammsen S. 84 ff. 132 Ebenso – aufgrund des Topos der „Rollenkonstanz“ – Jakobs AT 29/46; aA Roxin AT II § 32 Rdn. 61 f; Stein SK Rdn. 87. 133 BGH MDR bei Holtz 1984 90; Gaede NK Rdn. 38; Roxin AT II § 32 Rdn. 65 ff; Sch/Schröder/Bosch Rdn. 29; Stein SK Rdn. 87. 134 Zur Garantenpflicht des Betreibers einer Blutkonservenbank BGH NJW 2000 2754. 135 Frister AT § 22 Rdn. 46. 136 BGHSt 7 211, 212; ebenso Sch/Schröder/Bosch Rdn. 28a; wohl auch Jakobs AT 29/73; für Garantenpflicht nur gegenüber Patienten anderer Ärzte jedoch Roxin AT II § 32 Rdn. 73 f; Stein SK Rdn. 85. 137 Zutr. LG Berlin NStZ-RR 2018 246, 247 f; LG Hamburg NStZ 2018 281, 282 f. m. zust. Anm. Hoven; Schneider MK Vor § 211 Rdn. 74 f; Sch/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben Vor § 211 Rdn. 41; aA OLG Hamburg NStZ 2016 530, 534.

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Ein Bausachverständiger, der sich von einer Stadt mit der Überprüfung der Sicherheit eines städtischen Gebäudes beauftragen lässt, wird zum Garanten für die Gesundheit der Benutzer des Gebäudes; er muss etwaige Sicherheitsmängel sorgfältig prüfen und der Stadt melden.138 Aufgrund vertraglicher Selbstverpflichtung haften auch Angehörige privater Sicherheitsunternehmen gegenüber ihren Auftraggebern.139 Anders als die staatliche Polizei (Rdn. 31) sind sie jedoch nicht allgemein für die Sicherheit anderer Bürger zuständig, sondern nur für die Personen oder Objekte, zu deren Schutz sie ihr Auftraggeber bestellt hat. Sie machen sich daher nicht (über § 323c hinaus) wegen Unterlassens strafbar, wenn sie von ihren faktischen Möglichkeiten zur Verhinderung von Straftaten Gebrauch machen. Ein privater Warenhausdetektiv, der einen Dieb bewusst entkommen lässt, kann daher eventuell wegen Beihilfe zum Diebstahl, aber nicht nach § 258 bestraft werden.140 Auf den Gedanken der (gegenseitigen) Hilfszusage lässt sich auch die Garanten38 pflicht innerhalb von Lebens- und Wohngemeinschaften stützen. Da hier meist keine ausdrückliche Hilfs- oder Obhutszusage gegeben wird, kommt es wesentlich darauf an, ob aufgrund der Gestaltung der individuellen Beziehungen eine konkludente Erklärung dieser Art angenommen werden kann.141 Leben Mitglieder einer Familie auf Dauer gemeinsam in einer Wohnung, so ist damit, wenn nicht besondere Umstände vorliegen,142 implizit das gegenseitige Versprechen verbunden, einander bei Gefahren beizustehen. Dasselbe ist in der Regel bei einer auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft anzunehmen, die auch sexuelle Beziehungen umfasst;143 angesichts der Vielgestaltigkeit von Paarbeziehungen kann die herkömmliche Auffassung, dass „bloße“ Liebesbeziehungen keine Garantenstellung begründen,144 nicht aufrecht erhalten werden.145 Dabei kommt es auch nicht entscheidend darauf an, ob die Partner eine gemeinsame Wohnung unterhalten; maßgeblich ist vielmehr, ob sie sich als „Paar“ verstehen und sich damit implizit den gegenseitigen Beistand bei Gefahren zusagen.146 Bei einer bloßen Zweck-Wohngemeinschaft, etwa von Studierenden, ist eine ga39 rantenpflichtbegründende Selbstverpflichtung nur ausnahmsweise anzunehmen (BGH NStZ 1984 163; NJW 1987 850).147 Andererseits kann auch in der vorübergehenden Beherbergung eines Zufallsbekannten in der eigenen Wohnung die Zusage liegen, ihn während seines Aufenthalts vor (u.U. nur bestimmten) Gefahren zu schützen (BGHSt 27 10, 12 f).148

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138 BGH NJW 2010 1087, 1090 (Eissporthalle Bad Reichenhall). 139 Eingehend hierzu Gunia S. 134 ff. 140 BGH NStZ 1992 540, 541; Sch/Schröder/Hecker § 258 Rdn. 17. 141 Jakobs AT 29/70. Auf den Gesichtspunkt der gegenseitigen Abhängigkeit kommt es dabei – entgegen Roxin AT II § 32 Rdn. 56 – nicht an. 142 Etwa eine durch wirtschaftliche Not erzwungene Wohngemeinschaft von miteinander verfeindeten Geschwistern. 143 Insofern besteht im Grundsatz Einigkeit (s. Kretschmer JR 2008 51, 52; Roxin AT II § 32 Rdn. 51 f; Stein SK Rdn. 69; Sch/Schröder/Bosch Rdn. 25); die Feststellung einer konkludenten Hilfszusage im Einzelfall bleibt trotzdem schwierig. 144 So aber Kühl AT § 18 Rdn. 63; Roxin AT II § 32 Rdn. 60. Jakobs AT 29/65 lehnt sogar Garantenpflichten unter Verlobten ab. 145 Ebenso SSW/Kudlich Rdn. 27 (allerdings unter Ausschluss von “kurzen Affären” und Liebesbeziehungen neben einer bestehenden Ehe). 146 In diesem Sinne bereits BGH JR 1955 104 m. abl. Anm. Heinitz (wo der BGH allerdings im Schwerpunkt auf das zwischen den Beteiligten bestehende Verlöbnis abhebt). 147 Ebenso Gaede NK Rdn. 40; Stein SK Rdn. 80; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 1009. 148 Hilfspflichtig ist man allerdings nur demjenigen gegenüber, dem man die konkludente Zusage gegeben hat; siehe RGSt 73 52, 55 f (keine Garantenpflicht der in den Haushalt aufgenommenen Geliebten

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Implizite gegenseitige Hilfszusagen sind häufig auch mit der gemeinsamen Vor- 40 nahme gefährlicher Unternehmungen verbunden (z.B. Berg- und Segeltouren, Abenteuer-Reisen). Garantenpflichten entstehen in solchen Fällen jedoch nur dann, wenn sich mehrere Personen willentlich (auch) mit Blick auf die Bewältigung bestimmter Gefahren zusammengeschlossen haben.149 Daran fehlt es beim bloßen gemeinsamen Konsum von Alkohol oder Drogen oder auch bei dem gemeinsamen Unternehmen mehrerer Personen, die Grenze nach Deutschland illegal zu übertreten,150 es sei denn, die Teilnehmer hätte einander ausdrücklich gegenseitige Hilfe zugesagt.151 Keine Garantenpflicht entsteht auch dadurch, dass mehrere Personen gemeinsam von einem Unglück oder Schicksalsschlag (Schiffbruch, Unfall, Unwetterkatastrophe) betroffen werden.152 Nicht selten werden auch Pflichten zur Abwendung von Vermögensschäden bei 41 Anderen übernommen. Dies ist etwa der Fall bei Mitgliedern von Entscheidungsgremien juristischer Personen. Sie sind kraft vertraglicher Selbstverpflichtung gehalten, Gefahren für das Vermögen der juristischen Person abzuwenden; andernfalls kommt eine Strafbarkeit nach § 266 in Betracht (BGHSt 47 187, 201 – Aufsichtsrat einer AG –).153 Dasselbe gilt für Personen, die die Betreuung der Vermögensverhältnisse Dritter konsensual oder kraft Amtes übernommen haben, etwa den Insolvenzverwalter, einen privaten Vermögensverwalter154 oder die Vertretungsorgane einer Fondsgesellschaft gegenüber den Anlegern (BGH NJW 2017 2052). Aus herkömmlichen Austauschverträgen, durch die jede Seite ihre Leistung um der Gegenleistung willen verspricht, entstehen jedoch keine derartigen Schutzpflichten zugunsten des Vertragspartners (BGH NStZ 2010 502). Daher ist der „normale“ Arbeitnehmer nicht qua Garantenstellung verpflichtet, gegen vermögensschädigende Taten Dritter zu Lasten seines Arbeitgebers einzuschreiten.155 Auch aus dem Geschäftsbesorgungsvertrag zwischen einer Bank und ihrem Kunden entstehen für den Kunden keine Handlungspflichten zugunsten der Bank; dies gilt selbst dann, wenn einem Bankangestellten ein Irrtum unterlaufen ist, der zu einer erheblichen Falschbuchung auf dem Konto des Kunden geführt hat (BGHSt 39 392, 399 ff; 46 196, 202 f; OLG Köln NJW 1980 2366).156 Auch der Grundsatz von Treu und Glauben führt für das Strafrecht zu keinem anderen Ergebnis, es sei denn, ein besonders enges persönliches oder

_____ des Ehemannes für das Leben der ebenfalls dort lebenden Ehefrau). Grds. gegen eine Garantenpflicht des Wohnungsinhabers Frister AT § 22 Rdn. 49. 149 Roxin AT II § 32 Rdn. 54; Sch/Schröder/Bosch Rdn. 24. Die Garantenpflicht ist dann auch auf die Abwendung der ins Auge gefassten Art von Gefahren beschränkt – so ist ein Bergkamerad nicht wegen Körperverletzung durch Unterlassen strafbar, wenn er in der Berghütte die Attacke eines Betrunkenen auf seinen Kameraden nicht verhindert; vgl. Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 21 Rdn. 81. 150 Dazu BGH NStZ 2008 276. 151 Wenn eine solche Hilfszusage vorliegt, können Garantenpflichten auch zwischen Personen entstehen, die gemeinsam eine Straftat ausführen; Wilhelm NStZ 2009 15, 16 f; aA Jakobs AT 29/71; Sch/Schröder/Bosch Rdn. 24. 152 Gaede NK Rdn. 40; Heinrich AT Rdn. 938; Kühl AT § 18 Rdn. 67; Roxin AT II § 32 Rdn. 60, 63; Sch/Schröder/Bosch Rdn. 24; SSW/Kudlich Rdn. 29; Stratenwerth/Kuhlen § 13 Rdn. 42. Allerdings trifft den Kapitän eines in Seenot geratenen Schiffes eine Garantenpflicht zur Rettung der Passagiere; dazu näher Esser/Bettendorf NStZ 2012 233. 153 Roxin AT II § 32 Rdn. 77 ff. 154 Zahlreiche Beispiele für Handlungspflichten im Rahmen von § 266 bei Schünemann LK12 § 266 Rdn. 108. 155 Frister AT § 22 Rdn. 47. Anders noch die ältere Rechtsprechung; siehe etwa BGHSt 5 187; 6 198 (Aufklärungspflicht eines Bauhandwerkers gegenüber dem Vertragspartner aus „Treu und Glauben“ über Verschlechterung der wirtschaftlichen Verhältnisse). 156 Keine Garantenpflicht besteht auch für den Erben eines Pensionsempfängers gegenüber der Staatskasse, wenn diese die Pension nach dem Tod des Berechtigten weiter überweist; OLG Naumburg StV 2017 117.

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geschäftliches Verhältnis zwischen dem Kunden und der Bank begründe ausnahmsweise die Annahme, dass die Bank mit einer Aufklärung von Irrtümern seitens des Kunden rechnen durfte.157 2. Pflichten aus Gefahrschaffung 42

a) Grundlage. Der Grundsatz, dass derjenige, der pflichtwidrig eine Gefahr schafft, tätig werden muss, um diese Gefahr einzudämmen, ist fast allgemein anerkannt158 und wird herkömmlich als Haftung aus Ingerenz bezeichnet. Die Handlungspflicht wird häufig aus dem Verbot der Schädigung Anderer („neminem laede“) hergeleitet.159 Die Verbindung der Garantenpflicht zu diesem Verbot liegt darin, dass die vom Täter zurechenbar160 hervorgerufene nahe Gefahr161 mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit von selbst zur Verwirklichung des Tatbestandes führt, wenn er nicht neutralisierend eingreift.162 Daher ist derjenige, der die Gefahr geschaffen hat, aus Respekt vor dem Rechtskreis der bedrohten Mitmenschen in besonderer Weise dafür zuständig, die Gefahrenquelle wieder zu beseitigen oder jedenfalls von ihr ausgehende Schädigungen zu verhüten. Eine Handlungspflicht besteht für den Täter jedenfalls dann, wenn sein Vorverhal43 ten gegen die Rechtsordnung verstoßen163 hat: Für die zurechenbar verursachten Folgen rechtswidrigen Verhaltens,164 die man trotz Handlungsmöglichkeit abzuwenden unterlassen hat, kann man in der Regel (siehe aber Rdn. 46 f) verantwortlich gemacht werden, sofern die verletzte Verhaltensnorm gerade die Art von Gefahren abwenden soll, die sich in concreto zu realisieren drohen.165 Wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, besteht eine Garantenpflicht auch dann, wenn die Gefahr durch einen autonom handelnden Dritten vermittelt wird: Wer einen anderen Beteiligten durch sein Verhalten dazu ermutigt, gewalttätig gegen einen Menschen vorzugehen, und dadurch die nahe Gefahr einer Tötung des Opfers schafft, kann dadurch zum Garanten für dessen Leben werden. Die Rechtsprechung bejaht hier Ingerenz schon dann, wenn das Vorgehen des Unterlas-

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157 Der BGH (BGHSt 39 392, 401) spricht in diesem Zusammenhang von „besonderen Umständen im zwischenmenschlichen Bereich“. Zustimmend zu dieser Rechtsprechung Naucke NJW 1994 2809; Stein SK Rdn. 86. 158 Grundlegend Rudolphi S. 110 ff; Welp S. 163 ff. Ablehnend allerdings Bergmann S. 242 ff; Brammsen S. 288 ff (der die entsprechenden Fälle als aktives Tun bestrafen würde); Pfleiderer S. 76 ff; Schünemann Grund und Grenzen S. 313 ff (da der ursprüngliche Gefahrverursacher nicht mehr die „Herrschaft über den Grund des Erfolges“ habe). 159 Gaede NK Rdn. 43 („Kehrseite der Handlungsberechtigung“); Roxin AT II § 32 Rdn. 150 f. 160 Zu dieser Voraussetzung Hoven GA 2016 16, 32 f. 161 Eine Garantenpflicht aus Ingerenz kommt nur in Betracht, wenn der Täter die Gefährdungssituation für das Opfer neu geschaffen oder verschlechtert hat; eine bloße neutrale Veränderung von dessen Lage genügt nicht; OLG Stuttgart NStZ 2009 102. Zur „Nähe“ der Gefahr aufgrund des Handelns des Täters BGH NStZ 2013 578. 162 Jakobs AT 29/38; Pawlik FS Roxin 931, 939 f. Auch Paradissis S. 116 ff. leitet die Ingerenz aus dem Gedanken der Ermöglichung von Freiheitsentfaltung her. 163 Auf die Schuld des Handelnden kommt es nach allgemeiner Ansicht nicht an; siehe nur Heinrich AT Rdn. 954; Sch/Schröder/Bosch Rdn. 38. 164 Das Vorverhalten kann auch in einem Unterlassen bestehen; Maurach/Gössel/Zipf § 46 Rdn. 87, 96 f; Stein SK Rdn. 61. Von großer praktischer Bedeutung ist dies jedoch nicht, da die in der Vorphase bestehende Garantenpflicht in der Regel fortdauert und auch zur Abwendung des weiteren Erfolges verpflichtet. 165 Sch/Schröder/Bosch Rdn. 35a. Daher lehnt BGH NStZ 2008 276, 277 mit Recht die Garantenstellung eines Täters, der einem anderen zur illegalen Einreise nach Deutschland verhilft, für das Leben des Einreisenden ab.

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sen den geeignet war, Hemmungen des aktiven Täters abzubauen.166 Zwar steht der Umstand, dass der Täter an den ersten Taten aktiv (nur) als Anstifter oder Gehilfe beteiligt war, einer Täterschaft wegen späteren Unterlassens von Rettungshandlungen nicht grundsätzlich im Wege;167 es ist jedoch genau zu prüfen, ob der Unterlassende durch die Art und Weise seiner Mitwirkung tatsächlich in zurechenbarer Weise eine (auch zeitlich) nahe Gefahr gerade der weiteren Tathandlungen des Anderen geschaffen hat, die letztlich zum Tod des Opfers geführt haben. Eine Handlungspflicht besteht auch dann, wenn ein ursprünglich rechtmäßiges 43a Verhalten in ein rechtwidriges umschlägt: Wenn der Täter das Opfer mit dessen Einverständnis für eine Stunde einschließt, wird er nach Ablauf dieser Zeit zum Garanten für die gefährdeten Rechtsgüter des Eingeschlossenen.168 Zu weit geht es jedoch, denjenigen, der (ohne Rechtsverstoß) eine „prozessinadäquate“ Gefahr der Falschaussage (§§ 153, 154) schafft, zum Garanten für die Erfüllung der Wahrheitspflicht durch den Zeugen zu erklären (so aber BGHSt 2 129, 134 f; einschränkend BGHSt 17 321). b) Grenzen der Ingerenz-Haftung. Umstritten ist die Frage, ob eine Handlungs- 44 pflicht auch dann besteht, wenn der Täter bei dem gefahrbegründenden Vorverhalten nur „objektiv pflichtwidrig“, gerechtfertigt oder „sozialadäquat“ gehandelt hat. Vielfach wird angenommen, dass eine Garantenpflicht aus Ingerenz nur dann gegeben sei, wenn der Täter die Gefahr pflichtwidrig geschaffen hat.169 Dies kann aber nicht das allein entscheidende Kriterium sein.170 In der Sache geht es um die Abgrenzung der Verantwortungssphären von Täter und Opfer.171 Zwar ist man grundsätzlich (mehr als Andere) für die Konsequenzen des eigenen Verhaltens verantwortlich, aber andererseits trifft auch denjenigen eine Obliegenheit zu (Selbst-)Schutzmaßnahmen, der von Gefahren betroffen wird, die er selbst heraufbeschworen oder bewusst in Kauf genommen hat oder die im Rahmen des allgemeinen Lebensrisikos liegen. Mit dieser Erwägung wird ganz überwiegend eine Rettungspflicht des rechtswidrig 45 Angegriffenen zugunsten des durch seine Notwehrhandlung verletzten Angreifers abgelehnt (BGHSt 23 327):172 Da den ursprünglichen Aggressor größere Verantwortung für die entstandene Gefahr trifft, bürdet man ihm und nicht dem rechtmäßig handelnden Letztverursacher die Last der Gefahrabwendung auf.173 Ähnlich liegt es, wenn ein betrunkener Fußgänger einem Autofahrer, der verkehrsordnungsgemäß fährt, vor das Fahrzeug taumelt und verletzt wird (BGHSt 25 218).174 In den Verantwortungsbereich des Geschädigten fällt das Risiko auch dort, wo ein Anderer ihm Mittel zur Selbstschädigung gibt,

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166 BGH StV 1982, 218; NJW 1992 1246; NStZ 2000 583; NStZ 2009, 381. Krit. hierzu Neumann JR 1993, 161; Otto FS Geppert 441, 443 ff (der statt dessen eine Garantenpflicht aus der Übernahme der Obhut für das Opfer ableiten möchte). Eingehend zur Strafbarkeit in den „Weiterungs“-Fällen Paradissis S. 183 ff. 167 Sch/Schröder/Bosch Rdn. 39; Stein SK Rdn. 57. 168 Vgl. Sch/Schröder/Bosch Rdn. 36. 169 So jedenfalls im Ansatz BGHSt 37 106, 116; ferner BGH NJW 1992 1246, 1247. Grundlegend zu dieser Auffassung Rudolphi S. 151 ff; siehe auch Gaede NK Rdn. 43; Sch/Schröder/Bosch Rdn. 35; Stein SK Rdn. 56; Stratenwerth/Kuhlen AT § 13 Rdn. 30, 33; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 1022. 170 Ebenso Freund MK Rdn. 121 ff; Otto AT § 9 Rdn. 81; ders. FS Hirsch 291, 306 f. 171 Übereinstimmend Jakobs AT 29/38 ff; kritisch zu dem hier gewählten Ansatz wegen des Rückgriffs auf „intuitives Strafwürdigkeitsempfinden“ Hoven GA 2016 16, 29. 172 Ebenso BGH NStZ 2000 414 und die h.L.; siehe etwa Freund MK Rdn. 152; Frister AT § 22 Rdn. 35; Roxin § 32 Rdn. 181 ff m.w.N. Für Garantenpflicht des Notwehr Übenden jedoch z.B. Herzberg S. 294 ff; Kühl FS Herzberg 177, 188 f; für eine Pflicht, bei Lebensgefahr Hilfe zu rufen, Walther FS Herzberg 503, 511 ff. 173 Die Möglichkeit einer Strafbarkeit des Notwehr Übenden nach § 323c bleibt dabei bestehen. 174 Zustimmend Gaede NK Rdn. 44; Jakobs AT 29/42; Roxin AT II § 32 Rdn. 165 ff; kritisch Kühl AT § 18 Rdn. 101.

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etwa der Gastwirt ihm Alkohol ausschenkt oder ein Drogenhändler ihm Rauschgift verkauft: Solange der Empfänger beim Konsum der Rauschmittel freiverantwortlich handelt175 und der Verkäufer keine Sonderkenntnisse über die konkrete Gefährlichkeit besitzt, wird der Verkäufer nicht aus Ingerenz176 zum Garanten für Leben und Gesundheit des Empfängers, und dies auch dann nicht, wenn das Opfer das Bewusstsein verloren hat. An dieser Rechtslage ändert auch der Umstand nichts, dass die Weitergabe des Rauschmittels als solche verboten ist;177 denn zwar soll das Verbot die Gesundheit der potentiellen Konsumenten schützen, aber diese übernehmen durch ihre autonome Entscheidung das ihnen bekannte Risiko und entlasten damit den Verkäufer.178 46 Problematisch, aber wohl auch zugunsten des Unterlassenden zu entscheiden sind die Fälle, in denen weder der Gefahrverursacher noch das Opfer falsch gehandelt hat: A leiht B auf dessen (harmlos erscheinende) Bitte hin sein Küchenmesser, und B sticht damit den C nieder; A unternimmt nichts zu C’s Rettung. In diesem Fall hat sich für C letztlich nur das allgemeine Lebensrisiko verwirklicht, mit einem Küchenmesser erstochen zu werden; A hat dieses Risiko nicht in relevanter Weise gesteigert, sondern nur aktualisiert und ist deshalb nicht in „besonderer“ Weise zur Rettung des C verpflichtet.179 Ähnlich liegt es, wenn A sein Kraftfahrzeug wegen eines unvorhersehbaren technischen Defekts nicht abbremsen kann und den (sich verkehrsgerecht verhaltenden) B verletzt; wegen der sozialen Üblichkeit und Notwendigkeit des Gebrauchs von Kraftfahrzeugen enthält, entgegen einer teilweise vertretenen Auffassung,180 nicht schon das Autofahren als solches eine „qualifizierte“ Risikosteigerung, aufgrund derer der Fahrer zum Garanten gegen alle denkbaren Schädigungen anderer Verkehrsteilnehmer wird. Ähnlich liegt es in dem umstrittenen Fall, dass ein Unternehmer ein gesundheitsgefährliches Produkt ausliefert, ohne dass er die Gefährlichkeit ex ante hätte erkennen können – auch hier besteht entgegen der Rechtsprechung (BGHSt 37 106, 116 f) keine Ingerenz-Haftung,181 möglicher-

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175 Ingerenzhaftung entsteht also dann, wenn der Gastwirt an einen schwer betrunkenen Gast Alkohol ausschenkt (vgl. BGHSt 19 152, 155; 26 35) oder der Drogenhändler Rauschgift an einen aufgrund seiner Sucht nicht mehr zu freier Entscheidung fähigen Konsumenten abgibt. Ebenso SSW/Kudlich Rdn. 23; Stein SK Rdn. 57, 60. 176 Im Einzelfall kann sich eine Garantenpflicht aus einer Hilfszusage ergeben. 177 Roxin AT II § 32 Rdn. 175; Stree JuS 1985 179. Für Ingerenz in diesem Fall jedoch BGH NStZ 1984 452; Freund MK Rdn. 189 f. 178 Man kann auch sagen, dass in solchen Fällen der notwendige Pflichtwidrigkeitszusammenhang (dazu Dannecker in Rotsch S. 181) zwischen dem Fehlverhalten des Handelnden und dem Erfolgseintritt fehlt. 179 Für eine Rettungspflicht jedoch BGHSt 11 353, 355. Wie der Text Freund MK Rdn. 142 f; Sch/Schröder/Bosch Rdn. 39; Stein SK Rdn. 57, 60. Anders wäre der Fall zu entscheiden, wenn schon die Übergabe des Tatmittels (z.B. eines verbotenen Springmessers) eine unerlaubt gesteigerte Verletzungsgefahr geschaffen hätte. 180 Siehe etwa Freund MK Rdn. 123; Jakobs AT 19/42 (unter Hinweis auf die straßenverkehrsrechtliche Gefährdungshaftung); unentschieden Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 1024; wie der Text Roxin AT II § 32 Rdn. 169. 181 Ebenso Heinrich AT Rdn. 968 a.E.; Schünemann FS Amelung 303, 317. Die h.M. kritisiert zwar teilweise die Argumentation des BGH (Kuhlen NStZ 1990 566, 568; ders. JZ 1994 1142, 1146), erstreckt aber dennoch die Ingerenzhaftung mit unterschiedlichen Erwägungen auf die Auslieferung von Produkten , die sich nachträglich als gefährlich erweisen; siehe etwa Freund MK Rdn. 123 f, 129 (der auf das Pflichtwidrigkeitserfordernis ganz verzichten möchte); Kühl AT § 18 Rdn. 103 (der hier ein „gesteigert riskantes Vorverhalten“ sieht; siehe zu diesem Topos Weißer S. 44 ff); Kuhlen NStZ 1990 568 f. (Produktion und Inverkehrbringen von Gütern sei eine hinreichend „riskante Tätigkeit“); Otto FS Hirsch 291, 308 ff (man hafte für alle Gefahren, die man begründet); SSW/Kudlich Rdn. 24; Stein SK Rdn. 55 (Haftung wegen überlegener Kenntnis des Unternehmers über das Produkt und der Wehrlosigkeit der Kunden); Wessels/ Beulke/Satzger Rdn. 1026.

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weise jedoch eine Handlungspflicht aus der Verantwortlichkeit für den eigenen Herrschaftsbereich (dazu Rdn. 53). In Bezug auf die Frage der Ingerenz verhält es sich in dem Fall so, wie wenn eine Privatperson A ihrem Bekannten B ein im Laden gekauftes Erfrischungsgetränk anbietet, das unerkennbar verdorben ist und gesundheitliche Gefahren hervorruft: Hier realisiert sich für B das allgemeine Lebensrisiko, verdorbene Getränke zu konsumieren,182 so dass A nicht zur Garantin für die Abwendung von Gesundheitsschäden bei B wird; eine „objektive Pflichtwidrigkeit“ (so BGHSt 37 106, 117) mag bei A vorliegen, aber sie spielt für die Risikoverteilung keine entscheidende Rolle.183 Schwierigkeiten bereiten auch die Fälle, in denen sich der Täter pflichtwidrig verhalten und ein Risiko für das (schuldlose) Opfer geschaffen hat, die Pflichtwidrigkeit des Täters aber keinen Einfluss auf die Gefährdung des Opfers hatte: A fährt mit seinem PKW zu schnell, fährt B an und verletzt ihn; der Unfall wäre aber ebenso geschehen, wenn A die vorgeschriebene Geschwindigkeit eingehalten hätte (BGHSt 34 82). Hier sprechen intuitive Billigkeitserwägungen für eine Garantenpflicht des A für Leben und Gesundheit des B;184 aber auch hier ist die Ausgangsverletzung des B auf das allgemeine Lebensrisiko zurückzuführen, von einem (verkehrsordnungsgemäß geführten) PKW angefahren zu werden; den A trifft daher keine Garantenpflicht.185 Anders sind die Fälle zu beurteilen, in denen jemand im Rechtfertigenden Aggres- 47 sivnotstand (§ 34) einen Anderen verletzt. In diesem Fall handelt der Täter zwar nicht pflichtwidrig, schafft aber ein Risiko, für das er eher „zuständig“ ist als der Geschädigte und das diesem eine Solidarlast aufbürdet, die über das normale Lebensrisiko hinausgeht; deshalb ist es angemessen, den im Notstand Handelnden zur anschließenden Rettung des Opfers vor weiteren Schäden zu verpflichten.186 Ähnlich liegt es in den „Verfolger“fällen: Wenn der ertappte Dieb mit der Beute flieht, der Bestohlene ihn verfolgt, dabei zu Fall kommt und sich verletzt, so ist der Dieb mehr als andere zur aktiven Abwendung weiterer Gesundheitsschäden verpflichtet. Denn zwar dient das Verbot zu stehlen nicht dem Schutz der Gesundheit des Opfers, aber der Dieb hätte die Beute zurückgeben müssen anstatt zu fliehen; hätte er sich pflichtgemäß verhalten, so wäre die Gefahr für den Verfolger nicht entstanden.187 3. Pflichten aufgrund Beherrschung von Gefahrenquellen a) Grundsatz. Im Ausgangspunkt allgemein anerkannt ist die Pflicht dessen, der 48 bestimmte (persönliche oder sächliche) Gefahrenquellen beherrscht, zur Überwachung und Eindämmung der in ihnen liegenden Gefahren. Die Strafbarkeit bei einer Verletzung dieser Pflicht beruht auf dem Grundgedanken, dass die Einräumung oder Zuweisung autonomer Herrschaftssphären einerseits Freiheit und Entfaltungsmöglichkeiten schafft, aber andererseits auch die Pflicht zum verantwortlichen Umgang mit diesen Möglichkei-

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182 Dass ein solches „allgemeines“ Lebensrisiko bestehe, verneinen allerdings Jakobs AT 29/42 und Weißer S. 48. 183 AA Frister AT § 22 Rdn. 31 ff (objektive Rechtswidrigkeit des Vorverhaltens begründet Ingerenzhaftung). 184 Der BGH hat eine Garantenpflicht des Fahrers angenommen, allerdings mit der (beweisrechtlich anfechtbaren) Begründung, dass dessen verkehrswidriges Verhalten zu dem Unfall beigetragen haben konnte (BGHSt 34 82, 84). 185 Ebenso Jakobs AT 29/39 Fn. 90; Paradissis S. 162 ff; Roxin AT II § 32 Rdn. 170 f; Stein SK Rdn. 56; aA Herzberg JZ 1986 986, 990. 186 Ebenso Frister AT § 22 Rdn. 36; Gaede NK Rdn. 45; Roxin AT II § 32 Rdn. 186 ff; Stein SK Rdn. 53. 187 AA Roxin AT II § 13 Rdn. 172; Sch/Schröder/Bosch Rdn. 35a; Weigend LK12 Rdn. 47.

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ten auferlegt.188 Dem entspricht die Erwartung der außenstehenden Personen, dass der Eigentümer oder sonstige Berechtigte dafür sorgt, dass aus der von ihm beherrschten Sphäre keine Gefahren nach außen dringen – wer Andere von der Einwirkung auf seinen Bereich ausschließt, muss im Gegenzug selbst für die Sicherheit sorgen. Maßgeblich ist dabei allein die tatsächliche Beherrschung einer Sphäre, nicht die Berechtigung hierzu – auch der Dieb eines Hundes ist Garant dafür, dass der Hund niemanden beißt.189 49 Problematisch ist nicht eigentlich der Grundsatz der Verantwortlichkeit, sondern seine Reichweite. Die Begriffe „Herrschaft“ und „Gefahrenquelle“ sind alles andere als präzise, und wie bei der Ingerenz wirft das Verhältnis zwischen der Verantwortlichkeit des Unterlassenden, Einflussnahmen Dritter und etwaigen Selbstschutzobliegenheiten des Geschädigten schwierige Fragen auf. Bei deren Beantwortung sollte man im Auge behalten, dass die skizzierte Grundlage der Verantwortlichkeit wegen Beherrschung von Gefahrenquellen graduell weniger tragfähig ist als diejenige aus Ingerenz: Wer durch (regelmäßig: pflichtwidriges) aktives Tun neue Gefahren schafft, ist mit größerer Dringlichkeit zu deren Kontrolle aufgerufen als derjenige, der nur allgemein für eine Sache oder eine Anlage zuständig ist, aus der sich Gefahren entwickeln können.190 Jedenfalls sollte die Haftung des Inhabers der Sachherrschaft nicht weiter reichen als diejenige des Ingerenten. b) Einzelfragen. Als Gefahrenquelle für Andere kommt zunächst der eigene Körper des Täters in Betracht. Wer weiß oder vorhersehen kann, dass er – aufgrund einer Krankheit oder durch Intoxikation – die Beherrschung über seinen Körper verlieren wird, muss aktiv dafür sorgen, dass er in diesem Zustand keine fremden Rechtsgüter verletzt.191 Unter diesem Gesichtspunkt kann man auch die Pflicht eines Alkoholkranken bejahen, während der Phase der Nüchternheit die nötigen Vorkehrungen dafür zu treffen, dass er nicht in einem (als solchem von ihm nicht mehr steuerbaren) Rauschzustand Auto fährt.192 Garant ist man für Gefahren, die von der eigenen Eigentumssphäre, insbesondere 51 von gefährlichen Gegenständen und Tieren193 sowie von Gebäuden,194 Räumlichkeiten und industriellen Anlagen ausgehen.195 Dasselbe gilt beispielsweise auch für Betreiber von Sport- und Vergnügungsanlagen, Freizeitparks und Bädern. Eine Garantenpflicht trifft ferner denjenigen, der gefährliche Veranstaltungen durchführt,196 wie z.B. Schießübungen, Sprengungen, Ausschachtungen oder sonstige Bauarbeiten.197 Zur Vermeidung von Gefahren trifft den Eigentümer oder sonstigen Berechtigten in all diesen Bereichen die Pflicht, die Sache fortlaufend zu überwachen sowie schadensgeneigte Zustände als-

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188 Siehe Frister AT § 22 Rdn. 28; Jakobs AT 29/31; Stein SK Rdn. 55 (der zusätzlich eine Einschränkung der Gefahrbekämpfungsmöglichkeit des Anderen nennt). 189 Stein SK Rdn. 32. 190 Jakobs AT 29/29 ff fasst dagegen die Verkehrssicherungspflichten und die Pflichten aus Ingerenz unter dem Gesichtspunkt der „Organisationszuständigkeit“ zusammen und will nur hinsichtlich des Umfangs der Pflichten (AT 29/38 ff) differenzieren. 191 Freund MK Rdn. 114; Jakobs AT 29/31. 192 Vgl. dazu BayObLG JR 1979 289 m. abl. Anm. Horn. 193 Zur Garantenpflicht des Hundehalters OLG Düsseldorf NJW 1993 1609; BayObLG NJW 1993 2001; OLG Hamm NJW 1996 1295; Roxin AT II § 32 Rdn. 114. 194 Geschützt sind insoweit auch Mieter des Hauses und deren Besucher; vgl. schon RGSt 14 362. 195 Überblick bei Kühl AT § 18 Rdn. 106 ff; Sch/Schröder/Bosch Rdn. 43. 196 Näher Sch/Schröder/Bosch Rdn. 50a. 197 Verantwortlich ist hier grundsätzlich der Bauleiter, nicht der auftraggebende Bauherr; dieser muss aber eingreifen, sobald erkennbar wird, dass der Bauleiter seinen Pflichten nicht nachkommt; vgl. BGHSt 19 286; OLG Stuttgart NStZ 2006 450; Roxin AT II § 32 Rdn. 111.

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bald zu beseitigen oder so unter Kontrolle zu halten, dass sich die inhärenten Gefahren nicht verwirklichen (Verkehrssicherungspflicht). Solche Pflichten obliegen auch dem Halter eines Kraftfahrzeugs. Er ist verpflichtet, sein Fahrzeug gegen die Benutzung durch betrunkene Fahrer (BGHSt 14 24, 28; 18 359, 361) sowie durch Unbefugte zu schützen (vgl. § 14 Abs. 2 Satz 2 StVO), und muss als Garant für Verletzungen Dritter einstehen, wenn er diese Pflicht vernachlässigt hat und ein Fahruntüchtiger oder ein Dieb einen Unfall mit Personenschaden verursacht.198 Der Halter muss sein Fahrzeug auch zurückholen oder absichern, wenn es ohne sein Verschulden in den öffentlichen Verkehrsraum geraten ist.199 Ein Werkstattleiter, dem der Halter die Wartung der Fahrzeuge einer Firma übertragen hat, ist Garant für die Verkehrssicherheit der Fahrzeuge gegenüber allen Verkehrsteilnehmern (BGHSt 52, 159). Der BGH nimmt eine Garantenstellung wegen der Beherrschung von Gefahrenquellen auch in dem Fall an, dass der Täter gefährliche Stoffe (Drogen, Gifte) anderen Personen zugänglich macht, die – wie der Täter weiß – die Gefährlichkeit nicht einschätzen oder sich wegen Berauschung nicht mehr kontrollieren können, so dass die naheliegende Möglichkeit einer nicht frei verantwortlichen Selbstschädigung besteht (BGHSt 61 21, 26 f; BGH NStZ 2012 319; NJW 2017 418).200 Umstritten ist die Reichweite der Garantenpflicht aufgrund der Innehabung einer 52 Wohnung,201 wenn in der Wohnung von einem Dritten eine Straftat verübt wird. Während die Rechtsprechung früher annahm, dass der Wohnungsinhaber generell verpflichtet sei, die Begehung von Straftaten in der von ihm (auch als Mieter) genutzten Wohnung zu unterbinden (BGH NJW 1953 591; 1966 1763),202 wird heute eine umfassende Kontrollpflicht über die in der Wohnung befindlichen Personen mit Recht abgelehnt (BGHSt 30 391; BGH NJW 1998 3731).203 Sie ergibt sich auch nicht aus dem Hausrecht, da dieses den Wohnungsinhaber begünstigt, ihm aber als solches keine Verpflichtungen auferlegt.204 Der BGH hält an einer Garantenpflicht zur Abwendung deliktischer Schädigungen für den Fall fest, dass „die Wohnung wegen ihrer besonderen Beschaffenheit oder Lage eine Gefahrenquelle darstellt“ (BGHSt 30 391, 396). Wann dies der Fall ist, hängt von der konkreten Situation ab. So ist der Umstand, dass eine Wohnung ein „nach außen abgeschirmter, der Wahrnehmung dort geschehener Vorgänge von außen entzogener Bereich“ (BGH aaO) ist, zwar grundsätzlich noch keine „besondere“ Beschaffenheit. Deshalb hat die Rechtsprechung zutreffend die Garantenhaftung eines Wohnungsinhabers für den dort vorgenommenen Anbau und Verkauf von Drogen verneint.205 Es sind jedoch durchaus Fälle denkbar, in denen schon die „Abgeschlossenheit“ einer Wohnung das Opfer von fremder Hilfe abschneidet; dann kann der Wohnungsinhaber – der als einziger den Schlüssel zur Rettung besitzt – verpflichtet sein, zugunsten des Opfers tätig zu werden.206 Im Übrigen kann eine Garantenpflicht dann angenommen werden, wenn der

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198 Die Garantenpflicht greift – entgegen Sch/Schröder/Bosch Rdn. 44 – auch dann ein, wenn ein Unbefugter vorsätzlich das ungesicherte Fahrzeug an sich bringt; sie erstreckt sich jedoch nicht auf die Rechtsgüter des Unbefugten selbst. 199 Sch/Schröder/Bosch Rdn. 44. 200 Kritisch hierzu Brüning ZJS 2012, 691, 694. 201 Hierzu monographisch Landscheidt; Mähner. 202 Zustimmend für „physische“ Angriffe Bärwinkel S. 159 ff. 203 Ebenso Jakobs AT 29/37a; Landscheidt S. 120 ff; Roxin AT II § 32 Rdn. 120 ff; Stein SK Rdn. 48; Stratenwerth/Kuhlen AT § 13 Rdn. 45 („Man ist im eigenen Hause nicht Hilfspolizist.“). Allerdings kann der Wohnungsinhaber eine Garantenpflicht aus einem anderen Rechtsgrund haben, z.B. aus Ingerenz oder weil er das Opfer als Gast in seine Obhut genommen hat; vgl. BGHSt 27 10, 12 f. 204 Zutr. Mähner S. 232 ff. 205 BGH NJW 1993 76; StV 2010 128; NStZ-RR 2012 58; NStZ 2014 164. 206 In diesem Sinne Mähner S. 296 ff. Siehe auch Sch/Schröder/Stree Rdn. 54; Schünemann Grund und Grenzen S. 360 ff (die Tatsache, dass die Haustür verschlossen ist, sei „besonderen Umstand“).

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Inhaber spezielle deliktsspezifische Vorkehrungen getroffen hat, etwa den Keller zu einem schalldichten, von außen unzugänglichen Verlies ausgebaut hat.207 Wer Waren in den Handel bringt, ist aufgrund seiner Pflicht, die Qualität zu prüfen 53 und sicherzustellen, Garant dafür, dass die Waren strafrechtlich geschützte Rechtsgüter (insbesondere die Gesundheit und das Eigentum) der Konsumenten nicht beeinträchtigen. Der Produzent steht aufgrund der freien Gestaltung des Herstellungsprozesses und des Ausschlusses Dritter von der Qualitätskontrolle in der gleichen Position wie ein Grundstückseigentümer bezüglich der Beschaffenheit seines Grundstücks. Aus diesem Grund ist der Hersteller (d.h. derjenige, der die Ware erstmals in den Handelsverkehr bringt; vgl. § 4 ProdHaftG)208 verpflichtet, aktiv zu werden, sobald er von Gefährdungspotential der Ware erfährt oder bei gehöriger Anstrengung erfahren könnte. Er muss die Kunden vor Schäden warnen und die Ware nötigenfalls zurückrufen. Dies alles hat der BGH (BGHSt 37 106, 116 ff) aus dem Gedanken der Ingerenz hergeleitet, der jedoch dann nicht passt, wenn der Defekt der Ware dem Hersteller bis zur Auslieferung nicht erkennbar war (vgl. Rdn. 46). Auch die Annahme, der Hersteller habe für die Konsumenten eine Schutzpflicht übernommen, 209 liefe auf eine Fiktion hinaus. Der Gedanke der Pflicht zur Kontrolle von Gefahrenquellen im eigenen Herrschaftsbereich liefert jedoch eine plausible Begründung für die „strafrechtliche Produkthaftung“.210 Bei Anbietern von Telediensten im Internet ist zu unterscheiden zwischen sol54 chen, die nur eine Infrastruktur zum Datenaustausch bereitstellen (Access Provider), und Host Providern, die anderen Nutzern Speicherplatz anbieten. Access Provider sind nach § 8 Abs. 1 TMG für fremde Inhalte nicht verantwortlich, wenn sie nicht selbst auf diese Inhalte Einfluss genommen oder die Übermittlung veranlasst haben; sie brauchen auch nicht nach etwa verbotenen Inhalten zu forschen (§ 7 Abs. 2 TMG).211 Demgegenüber sind Host Provider nach § 10 TMG für fremde Informationen, die sie für einen Nutzer speichern, (nur) dann „verantwortlich“, wenn sie Kenntnis von ihnen haben und nach Kenntniserlangung nicht unverzüglich tätig geworden sind, um die Information zu entfernen oder den Zugang zu ihr zu sperren.212 Da durch diese Regelung in erster Linie eine Privilegierung der Anbieter insbesondere gegenüber zivilrechtlicher Haftung beabsichtigt ist,213 ergibt sich aus ihr keine Unterlassungsstrafbarkeit etwa als Täter oder Gehilfe einer Verbreitung strafbarer Inhalte.214 Eine Strafbarkeit des Host Providers wegen der NichtEntfernung strafbarer Inhalte kann also nur nach allgemeinen Grundsätzen aus einer Verkehrssicherungspflicht entstehen.215 Für eine solche Pflicht spricht, dass der Host Provider einen weitgehend anonymen Raum für die Verbreitung von Informationen

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207 Ähnlich Freund MK Rdn. 156 f. 208 Den Händler trifft eine Garantenpflicht nur dann, wenn er Importeur i.S.v. § 4 Abs. 2 ProdHaftG ist; vgl. Tiedemann Rdn. 1270. 209 So Roxin AT II § 32 Rdn. 210 ff; Schünemann FG BGH IV 621, 640 f. 210 Ebenso Brammsen GA 1993 97, 110 ff; Hilgendorf S. 140 f; Ransiek S. 34 f; Weißer S. 57 ff. Der Sache nach übereinstimmend auch viele der in Fn. 180, 181 genannten Autoren, die bei der Ingerenz das Merkmal der Pflichtwidrigkeit des gefährdenden Vorverhaltens durch eine bloße Risikosteigerung ersetzen wollen. Bloy FS Maiwald 35, 48 f. leitet die Beobachtungspflicht des Produzenten aus einer Garantenstellung kraft Übernahme einer sozialen Rolle her. 211 Freund MK Rdn. 160 f. Eine Garantenstellung kann sich jedoch aus anderen Gründen ergeben, z.B. aus vertraglicher Übernahme oder behördlichem Auftrag; s. Hilgendorf Kommunikation & Recht 2011 229, 232 f. 212 Überblick bei Hilgendorf/Valerius Rdn. 193 ff. 213 BT-Drs. 16/3078, S. 15; SSW/Kudlich Vor § 13 Rdn. 74. 214 Bode ZStW 127 (2015) 937, 973 ff; Malek/Popp Rdn. 113; zweifelnd Fischer § 184 Rdn. 32. 215 Daran ändert auch das 2017 in Kraft getretene, nur auf wenige Host Provider anwendbare Netzwerkdurchsetzungsgesetz nichts; siehe Guggenberger NJW 2017 2577, 2581.

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schafft, der für die betroffenen Rechtsgüter (z.B. Menschenwürde, Ehre) immanent (abstrakt) gefährlich ist.216 Sobald sich diese Gefahr durch die Speicherung strafbarer Inhalte konkretisiert und der Betreiber davon positiv Kenntnis erhält,217 ist er verpflichtet, diese Inhalte zu löschen; andernfalls macht er sich wegen Beihilfe durch Unterlassen strafbar.218 Insofern kann als Maßstab auch für das Entstehen einer Garantenpflicht § 10 TMG gelten. Grundsätzlich besteht keine „Verkehrssicherungspflicht“ hinsichtlich des Verhal- 55 tens anderer strafrechtlich verantwortlicher Personen.219 Ausnahmen von diesem Grundsatz sind für die Angehörigen bestimmter Institutionen anerkannt, die nach einem System von Befehl und Gehorsam organisiert sind, nämlich das Militär (siehe § 41 WStG, § 4 Abs. 1 VStGB) sowie – wie die Tatmodalität des „Geschehenlassens“ in § 357 zeigt – der gesamte Öffentliche Dienst. In diesen Fällen wird der Vorgesetzte, der es vorsätzlich220 unterlässt, gegen Straftaten seiner Untergebenen einzuschreiten, selbst wegen dieser Taten bestraft.221 Wodurch und in welchem Umfang diese Fälle von „superior responsibility“ tatsächlich legitimiert sind, kann durchaus zweifelhaft sein; das Argument, dass der Vorgesetzte als Garant zum Einschreiten verpflichtet sei, da er die rechtliche und faktische Möglichkeit dazu besitze, reicht zur Begründung jedenfalls nicht aus.222 Bei militärischen Einheiten mag die Verfügbarkeit von Waffen und anderen gefährlichen Einrichtungen die besondere Verantwortlichkeit des Vorgesetzten zur Überwachung auch des Personals begründen; im zivilen Bereich ist die Fundierung der Garantenhaftung äußerst zweifelhaft.223 Der BGH (BGHSt 47 187, 201) hat die Pflicht des Aufsichtsrats einer AG zur Kontrolle des Vorstands bejaht, sie allerdings aus der speziellen Regelung in § 111 Abs. 1 AktG hergeleitet.224 Umstritten ist vor diesem Hintergrund die Frage, inwiefern den Inhaber eines Ge- 56 schäftsbetriebs eine Handlungspflicht zur Verhinderung von Straftaten seiner Mitarbeiter trifft (sog. Geschäftsherrenhaftung).225 Verschiedentlich wird eine solche Pflicht zur

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216 Bock/Harrendorf ZStW 126 (2014) 337, 342 ff; Ceffinato JuS 2017 403, 405 f; Hörnle MK § 184d Rdn. 21 f. 217 Die bloße Erkennbarkeit genügt ebensowenig wie bedingter Vorsatz; Freund MK Rdn. 163; SSW/ Hilgendorf § 184 Rdn. 29; Lackner/Kühl/Heger § 184 Rdn. 7a. Auch wer einen Hyperlink zu einer fremden Seite setzt, ist nur dann verpflichtet, die Weiterleitung zu sperren, wenn ihm positiv bekannt ist, dass auf strafbare Inhalte verwiesen wird; BVerfG StV 2009 452; Fischer § 184 Rdn. 28b; Freund MK Rdn. 164; Gercke/Brunst Rdn. 630. 218 Bode ZStW 127 (2015), 937, 978 f; Sch/Schröder/Bosch Rdn. 44; aA Hilgendorf/Valerius Rdn. 242; Malek/Popp Rdn. 115 ff. 219 Ebenso Beulke FS Geppert 23, 27 f; Roxin AT II § 32 Rdn. 125 f; Stein SK Rdn. 39. Die verschiedentlich angenommene Überwachungspflicht des Fahrlehrers bezüglich des Fahrschülers (siehe Gaede NK Rdn. 51; Roxin AT II § 32 Rdn. 130, 132) ist in Wirklichkeit eine Pflicht zur Kontrolle eines gefährlichen Gegenstandes, nämlich des von dem Fahrschüler geführten Kraftfahrzeugs. Zu Überwachungspflichten in Bezug auf minderjährige und andere strafrechtlich nicht verantwortliche Personen siehe Rdn. 27, 31. 220 Einen Fall der fahrlässigen Nicht-Hinderung von Straftaten Untergebener erfasst § 14 VStGB. 221 Aus dem Bestehen dieser Sondervorschriften kann weder für noch gegen das Bestehen einer allgemeinen Pflicht, „Untergebene“ zu überwachen, ein überzeugender Schluss gezogen werden; zutr. Beulke FS Geppert 23, 31. 222 Siehe hierzu Weigend ZStW 116 (2004) 999, 1002 ff; kritisch auch Köhler AT S. 225. 223 In der Kommentarliteratur zu § 357 findet sich dazu auch nur der Hinweis auf die „besondere Verpflichtung“ des Vorgesetzten (Kuhlen NK § 357 Rdn. 3). Eingehend zur Strafbarkeit ziviler Vorgesetzter auch im Völkerstrafrecht Karsten Verantwortlichkeit. 224 Siehe hierzu und zu anderen Fällen von Aufsichtspflichten im Wirtschaftsstraf- und ordnungswidrigkeitenrecht Tiedemann Rdn. 452 ff. 225 Die h.M. nimmt jedenfalls grundsätzlich eine Garantenstellung des „Geschäftsherren“ an; BGHSt 57, 42, 45; Gaede NK Rdn. 53; Hoyer S. 31 f; Lackner/Kühl/Kühl Rdn. 14; Rogall ZStW 98 (1986), 616; Roxin AT II

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Überwachung von Mitarbeitern schon grundsätzlich mit dem Argument verneint, dass die eigene strafrechtliche Verantwortlichkeit des Mitarbeiters eine Sperre gegenüber einer Unterlassungsstrafbarkeit des Betriebsinhabers für die von jenem begangenen Straftaten bilde.226 Ein solcher allgemeiner Grundsatz, dass eine Strafbarkeit des aktiv Handelnden die (nebentätschaftliche) Unterlassungstäterschaft eines Anderen ausschließe, lässt sich jedoch nicht begründen.227 Die Sachfrage geht vielmehr dahin, ob sich eine materielle Grundlage für eine Handlungspflicht des Betriebsinhabers finden lässt. Teilweise wird eine solche Pflicht mit der Erwägung begründet, dass der Betriebsinhaber aufgrund seines Weisungsrechts die Befugnis und die Möglichkeit habe, Straftaten der Betriebsangehörigen im Zusammenhang mit ihrer beruflichen Tätigkeit zu unterbinden.228 Dies allein vermag eine Garantenpflicht jedoch ebensowenig zu fundieren wie bei Vorgesetzten in militärischen und ähnlichen Organisationen (siehe Rdn. 55). Der Betriebsinhaber ist aber insofern garantenpflichtig als sich in dem Verhalten des Mitarbeiters die Gefährlichkeit des Betriebs für Dritte realisiert. Denn ebenso wie der Eigentümer einer Wohnung oder einer beweglichen Sache schließt der Inhaber Dritte von der Einflussnahme auf den Betrieb aus und muss deshalb selbst dafür sorgen, dass durch den Betrieb niemand geschädigt wird.229 Gefahren für Andere können aber nicht nur von den zum Betrieb gehörenden Sachen (z.B. Kriegswaffen,230 Gift), sondern auch von dem Personal ausgehen,231 z.B. wenn Angestellte im Vertrieb eines Unternehmens Bestechungsdelikte begehen, um Aufträge für das Unternehmen zu erlangen.232 Eine vom Betrieb ausgelöste Gefahr kann sich auch in eigennützigen Delikten von Mitarbeitern realisieren,233 etwa wenn ein Angestellter in einem Verkaufskiosk dort auch Drogen verkauft234 oder wenn der Mitarbeiter eines Installateurbetriebs die Sachen von Kunden stiehlt, in deren Wohnungen er tätig wird. Allerdings ist die Pflicht des Betriebsinhabers, gegen drohende Straftaten seiner Mitarbeiter einzuschreiten, auf „betriebsbezogene“ Verhaltensweisen235 begrenzt, in denen sich eine „dem konkreten Betrieb innewohnende Gefahr“236 manifes-

_____ § 32 Rdn. 137; Stratenwerth/Kuhlen AT § 13 Rdn. 48; Tiedemann Rdn. 357; krit. Sch/Schröder/Bosch Rdn. 53. Überblick über den Stand der Diskussion bei Geneuss ZIS 2016 259; Spring S. 124 ff. 226 Siehe etwa Beulke FS Geppert 23, 28; Heine S. 116 ff; Otto Jura 1998 409, 413; Weigend LK12 Rdn. 56. 227 Zutr. Roxin FS Beulke 239, 245 f; Schall FS Rudolphi 267, 272 f. 228 Schünemann Grund und Grenzen S. 328 f. und ders. Unternehmenskriminalität und Strafrecht S. 101 ff. stützt die Garantenpflicht des Unternehmers auf eine von ihm postulierte „partielle Unmündigkeit“ des Arbeitnehmers, die sich aus dem Direktionsrecht des Arbeitgebers und dessen breiterer Informationsbasis ergeben soll. Dagegen mit Recht Roxin FS Beulke 239, 243 f. Tatsächlich ist das Direktionsrecht des Arbeitsgebers nur insofern von Bedeutung, als es diesem die faktische Möglichkeit gibt, seiner (etwaigen) Pflicht zur Verhinderung von Straftaten der Mitarbeiter nachzukommen; Petermann FS W. Schiller 539, 544. 229 Dannecker in Rotsch S. 180, 200; Dannecker/Dannecker JZ 2010 981, 989 f; Frisch FS Rogall 121, 133 ff (der die Garantenpflicht des Unternehmers auf das Prinzip einer „sachgerechten Freiheits- und Lastenverteilung“ stützt); Jakobs AT 29/36; Knauer FS I. Roxin 465, 475; Ransiek S. 36 ff; Rönnau/Schneider ZIP 2010 53, 54; Roxin AT II § 32 Rdn. 139; Stein SK Rdn. 30; Schall FS Rudolphi 267, 277 ff; Sch/Schröder/Heine/Weißer Vor § 25 Rdn. 105. Enger noch Weigend LK12 Rdn. 56. Einschränkend für Vorstandsmitglieder einer GmbH die zivilrechtliche Entscheidung BGHZ 194, 26. 230 Siehe dazu schweiz. Bundesgericht BGE 96 IV 155. 231 Auf die „kriminogene Wirkung von Unternehmensstrukturen“ stellt Murmann in Stuckenberg/Bock, Aktuelle und grundsätzliche Fragen 57, 59 ab. 232 Gegen eine Gleichstellung der Pflicht zur Überwachung von Gefahren, die von Sachen, mit solchen, die von Personen ausgehen, jedoch Beulke FS Geppert 23, 34 f. 233 Ebenso Hernández Basualto FS Frisch 333, 343 f; Roxin FS Beulke 239, 254. 234 Siehe BGH NStZ 2018 648. 235 Hierzu grundlegend BGHSt 54, 44. Siehe auch Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 1019 f. 236 BGHSt 57 42, 45. Diese Formulierung ist allerdings nicht als Beschränkung allein auf den Gegenstand der Tätigkeit des jeweiligen Unternehmens zu verstehen.

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tiert: Sie betrifft nur Taten, die unter Ausnutzung der betrieblichen Wirkungsmöglichkeiten begangen237 und durch die Personen oder Sachen geschädigt werden, die nicht dem Betrieb angehören.238 Der Betriebsinhaber ist also nicht generell Garant dafür, dass seine Arbeitnehmer während ihrer Tätigkeit Straftaten unterlassen; er macht sich also nicht strafbar, wenn er z.B. zulässt, dass ein Mitarbeiter während der Arbeit einen Kollegen beleidigt oder in der Mittagspause auf seinem Handy verbotene Pornographie betrachtet.239 Zuständig für die Verhinderung von Straftaten der Mitarbeiter ist der Inhaber des Betriebs. Er kann diese Pflicht auch an andere delegieren; jedoch werden diese nur dann zu Garanten für das Ausbleiben der Tatbestandsverwirklichung, wenn sie die tatsächliche Möglichkeit haben, wirksam gegen drohende Straftaten einzuschreiten.240 Andernfalls erfüllt der Beauftragte seine Pflicht schon dadurch, dass er das zuständige Mitglied der Geschäftsleitung über (drohende) Verstöße von Mitarbeitern informiert.241 c) Eingreifen Dritter. Umstritten ist die Frage, ob der für eine Gefahrenquelle Ver- 57 antwortliche auch dann als Garant haftet, wenn auf seinen Bereich durch einen Dritten unbefugt eingewirkt worden und dadurch eine rechtsgutsgefährdende Situation geschaffen worden ist. So liegt es etwa, wenn ein privates Grundstück durch Dritte zu einer wilden Müllkippe „umfunktioniert“ worden ist oder wenn Sprayer beleidigende Graffiti an die Hauswand eines Unbeteiligten gesprüht haben. In solchen Fällen besteht eine polizeirechtliche Pflicht des Eigentümers zur Beseitigung der fortdauernden Störung. Eine Verzögerung der Gefahrbeseitigung oder das Warten auf eine behördliche Durchsetzung der Pflicht ist grundsätzlich noch kein strafwürdiges und -bedürftiges Verhalten. 242 Anders kann es jedoch dann liegen, wenn von einem kontaminierten Grundstück eine fortlaufende Schädigung der Umwelt ausgeht; dann ist der Eigentümer – im Rahmen der verwaltungsrechtlichen Regeln – unabhängig von der Quelle der Gefahr zur Sanierung des Grundstücks verpflichtet.243 d) Schutzumfang bei Selbstgefährdung des Opfers. Ebenso wie in den Fällen der 58 Ingerenz (siehe Rdn. 44 ff) braucht derjenige, der eine Gefahrenquelle beherrscht, grund-

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237 So die treffende Formulierung von Schall FS Rudolphi 267, 282; ähnlich Hernández Basualto FS Frisch 333, 346 f. 238 Schall FS Rudolphi 267, 279; aA Roxin JR 2012 305, 307; ders. FS Beulke 239, 248 f. Insoweit kommt als Grundlage einer Garantenpflicht des Betriebsinhabers nicht die Gefährlichkeit des Betriebs, wohl aber eine vertraglich übernommene Schutzpflicht für die anderen Mitarbeiter in Betracht; siehe dazu Schramm JZ 2012 969, 970 f. 239 BGHSt 57 42 m. zust. Anm. Roxin JR 2012 305; Petermann FS W. Schiller 538, 545 f. Zu weit geht die Ansicht von Schramm JZ 2012 969, 972, wonach sich die Überwachungspflicht des Betriebsinhabers auf alle Fälle von „Mobbing“ erstreckt. 240 Deshalb zutr. gegen Garantenpflicht des Leiters der Innenrevision BGHSt 54, 44, 49 f. Für einen Compliance-Beauftragten bejaht der BGH (aaO S. 49 f) tendenziell eine Garantenstellung, allerdings nur für den Fall, dass er (auch) die Aufgabe übernommen hat, „Straftaten von Unternehmensangehörigen zu verhindern“. Das ist jedoch in der Realität der Wirtschaftsunternehmen nur ausnahmsweise der Fall; siehe hierzu Cornacchia ZIS 2016 255 f; Dannecker/Dannecker JZ 2010 981, 988; Knauer FS Imme Roxin 465, 473 ff; Murmann in Stuckenberg/Bock, Aktuelle und grundsätzliche Fragen 57, 60; Rotsch FS Imme Roxin 485, 490 ff; Schneider/Gottschaldt ZIS 2011 573, 574; Warneke NStZ 2010 312, 316. 241 Momsen FS Puppe 751, 756 f; Rönnau/Schneider ZIP 2010 53, 58 f (zu den Informationspflichten eines Compliance-Beauftragten). Zur Zurechnung von Erfolgen bei Nicht-Erfüllung der Informationspflicht eingehend Schrott S. 305 ff. 242 Ebenso Jakobs AT 29/36a; Sch/Schröder/Bosch Rdn. 44; Stein SK Rdn. 28; Weber FS Oehler 83, 94 f; aA BGH NJW 1992 122; Hecker NJW 1992 873; Iburg NJW 1988 2338, 2340 f; Roxin AT II § 32 Rdn. 110. 243 Näher Schall FS Achenbach 463, 465 ff.

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sätzlich dann nicht einzugreifen, wenn sich das Opfer der Gefahr bewusst ausgesetzt hat. Deshalb haftet der Apotheker nicht als Garant für die Gesundheit des Medikamentensüchtigen, der Pillen aus seiner Apotheke gestohlen hat; und der Eigentümer eines Grundstücks muss auch bei Verletzung einer Obliegenheit zur Absicherung von Gefahrenquellen (er lässt beispielsweise eine Baugrube auf dem Grundstück nachts offen und unbeleuchtet) nicht als Garant für Personen einstehen, die sich unbefugt auf das Grundstück begeben und die damit verbundenen Gefahren bewusst in Kauf genommen haben.244 Der BGH bejaht eine Garantenpflicht jedoch dann, wenn „aus dem allgemeinen Risiko eine besondere Gefahrenlage erwächst“ (BGHSt 61, 21, 26), wenn also eine vom Opfer erkannte bloße Gesundheitsgefährdung in eine konkrete Lebensgefahr übergeht.245 Dem ist nur für den Fall zuzustimmen, dass das Opfer die letztlich drohende Gefahr (anders als der Täter) nicht erkannt hat; wusste das Opfer dagegen, dass das aus der Herrschaftssphäre des Täters stammende Rauschgift seinen Tod verursachen kann, so hat es auch das Todesrisiko auf sich genommen, und der Täter ist nicht wegen Totschlags durch Unterlassen strafbar, wenn er untätig bleibt.246 Die genannten Grundsätze gelten prinzipiell auch gegenüber Minderjährigen.247 Hier sind jedoch Fälle denkbar, in denen der Eigentümer zu wirksamen Schutzmaßnahmen gegen das Eindringen Fremder verpflichtet sein kann; etwa dann, wenn er weiß, dass Kinder immer wieder trotz Verbots sein Ruinengrundstück als „Abenteuerspielplatz“ verwenden. Kommt er dann seiner Sicherungspflicht nicht nach, so ist er aufgrund seiner Sachherrschaft strafbar, wenn den Kindern strafrechtlich relevante Schäden entstehen.248 59

e) Reichweite der Handlungspflicht. Verschiedentlich wird angenommen, dass derjenige, der eine Gefahrenquelle beherrscht, lediglich dazu verpflichtet sei, die Schäden abzuwenden, die sich unmittelbar aus dieser Quelle ergeben, solange er sie unter seiner Kontrolle hat.249 Für eine derartige Beschränkung, die sich etwa bei der Haftung des Herstellers für gefährliche Waren stark begrenzend auswirken würde, besteht indes kein einleuchtender Grund. Wenn der Gefahrenquellen-Garant in der Lage ist, weiterreichende schädliche Folgen abzuwenden, die sich aus der mangelhaften Eindämmung der Gefahr ergeben, so ist er auch insoweit zum Handeln verpflichtet.250

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4. Übertragung von Garantenpflichten. Der Garant kann bei der Erfüllung der Garantenpflicht fremde Hilfe in Anspruch nehmen oder die Ausführung der Pflicht ganz auf

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244 Schon die bloße Fahrlässigkeit des Geschädigten, der mit der Gefahrenquelle in Berührung kommt (das Opfer verwechselt die Hauseingänge, gelangt in das Gebäude des Täters und gleitet dort auf einer Bananenschale aus), schließt eine Garantenpflicht aus, da der Eigentümer nur verpflichtet sein kann, seine Sphäre für den von ihm gewünschten und kontrollierten Kontakt mit der Außenwelt in sicheren Zustand zu versetzen. Problematisch daher OLG Naumburg NStZ-RR 1996 229: Garantenstellung des Bauunternehmers für die Gesundheit seiner Arbeiter, auch wenn sich diese über die ihnen bekannten Sicherheitsregeln hinwegsetzen; krit. dazu auch Stein SK Rdn. 31. 245 Ähnlich BGH NStZ 1984 452; NStZ 2012 319 (mit krit. Anm. Murmann NStZ 2012 389); BGH NJW 2017 418. Der Rspr. stimmen Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 1024 zu. 246 Ebenso Roxin AT I § 11 Rdn. 112 f; Werkmeister in Stam/Werkmeister, Der Allgemeine Teil S. 97, 118 ff; Zöller FS Rogall 299, 306. 247 In Bezug auf Kinder aA Roxin AT II § 32 Rdn. 123. 248 Vgl. BayObLGSt. 1971 230, 232. 249 So Schünemann Unternehmenskriminalität S. 99 ff; aA Sch/Schröder/Bosch Rdn. 45/46; differenzierend Jakobs AT 29/42 f. Nach dieser Auffassung wäre ein Hauseigentümer H nicht als Garant verpflichtet, jemanden ins Krankenhaus zu schaffen, den er auf der Straße verletzt vorfindet, nachdem ihm ein Ziegel von H’s Hausdach auf den Kopf gefallen ist. 250 Ebenso Freund MK Rdn. 120; Gaede NK Rdn. 49.

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einen Anderen (z.B. der Eigentümer auf einen Mieter, der Kraftfahrzeughalter auf einen Fahrer) übertragen.251 Damit übernimmt der Andere die Handlungspflicht und kann sich bei deren Nichterfüllung strafbar machen. Der ursprüngliche Garant ist jedoch verpflichtet, den Übernehmenden sorgfältig auszuwählen; er muss die Zuständigkeiten genau festlegen sowie – je nach den Umständen mehr oder weniger intensiv – die ordnungsgemäße Erfüllung der anstehenden Aufgaben durch den Delegatar überprüfen (BGHSt 19 286, 288; 47 224, 230 f; OLG Stuttgart NStZ 2006 450).252 Insofern haben im Fall einer Pflichtenübertragung beide Beteiligte strafrechtlich für die Abwendung der Gefahr einzustehen (BGHSt 53, 38 Rdn. 20 f).253 VI. Tatbestand des Unterlassungsdelikts 1. Tatbestandsstruktur. Die Tatbestandsstruktur des Unterlassungsdelikts unter- 61 scheidet sich erheblich von derjenigen des Begehungsdelikts, da es am Kernstück der rechtsgutsgefährdenden oder -verletzenden Handlung fehlt. Während der Begehungstäter den tatbestandsmäßigen Erfolg durch seine Handlung in zurechenbarer Weise verursacht, liegt das Unrecht des Unterlassungstäters darin, dass er in einer für das tatbestandlich geschützte Objekt gefährlichen Situation die ihm mögliche und gebotene Rettungshandlung nicht vornimmt. Der Erfolg ist dem Garanten zuzurechnen, wenn er ihn durch pflichtgemäßes Handeln hätte abwenden können. 2. Gefahr des Erfolgseintritts. Bei den von § 13 erfassten Tatsituationen wird die 62 Handlungspflicht des Garanten durch die (objektiv bestehende) Gefahr ausgelöst, dass sich der im jeweiligen Tatbestand beschriebene oder enthaltene (vgl. Rdn. 14 f) Erfolg in rechtswidriger Weise verwirklicht.254 Der Zeitpunkt des Eintretens dieser Gefahr lässt sich oft nicht genau angeben. Dies ist jedoch unschädlich, da die Strafbarkeit (auch wegen Versuchs) erst dann einsetzt, wenn sich die Situation so zugespitzt hat, dass eine konkrete Gefahr eingetreten ist (siehe Rdn. 79 f). Eine Handlungspflicht besteht auch dann, wenn nicht sicher damit zu rechnen ist, dass der Erfolgseintritt noch abgewendet werden kann. Ist jedoch der Erfolg bereits vollständig eingetreten, so besteht keine Tatsituation für ein Unterlassungsdelikt mehr.255 Stellt sich der Garant die Gefahr eines Erfolgseintritts nur irrtümlich vor (er hält z.B. das nur benommene Unfallopfer für lebensgefährlich verletzt oder das bereits verstorbene Opfer noch für rettbar), so kommt, wenn er untätig bleibt, Strafbarkeit wegen (untauglichen) Versuchs in Betracht (siehe Rdn. 78). 3. Nichtvornahme der gebotenen Handlung a) Gegenstand der Handlungspflicht. Der Garanten ist verpflichtet, das zu tun, 63 was zur Abwendung des Erfolges geeignet und erforderlich ist. Unter mehreren geeigneten Handlungsmöglichkeiten muss er diejenige auswählen, die unter den gegebenen

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251 Eine Garantenstellung aus Ingerenz kann nur für den Gefahrverursacher selbst entstehen, doch kann die Wahrnehmung der Handlungspflicht auf einen anderen übertragen werden; zweifelnd BGH NStZ 2003 259. 252 Gaede NK Rdn. 41, 50; Roxin AT II § 32 Rdn. 38; Sch/Schröder/Bosch Vor § 13 Rdn. 152. 253 Eingehend hierzu Dannecker in Rotsch S. 175 ff, 190 ff. 254 Roxin AT II § 31 Rdn. 178; Stein SK Vor § 13 Rdn. 15. 255 Sch/Schröder/Bosch Rdn. 42. Bei Dauerdelikten (z.B. Freiheitsberaubung) dauert die Handlungspflicht bis zur Beendigung des rechtswidrigen Zustandes fort.

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Umständen den Erfolg am sichersten abzuwenden vermag;256 das kann – und wird häufig – das Herbeirufen sachkundiger Helfer sein. Der Garant muss auch eine (objektiv) geringe Rettungschance oder eine für das Opfer riskante Option wahrnehmen; bei körperlich Verletzten ist besonders zu beachten, dass der Garant in der Regel auch verpflichtet ist, Möglichkeiten der Lebensverlängerung sowie der Schmerzvermeidung und linderung zu ergreifen.257 Bloß symbolische Handlungen sind andererseits weder ausreichend noch gefordert: Wer z.B. als Garant ein lichterloh brennendes Gebäude vorfindet, braucht nicht aus einem Eimer Wasser darauf zu gießen – kann er die Feuerwehr alarmieren, so erfüllt er auf diese Weise seine Handlungspflicht; ist ihm effiziente Hilfe nicht möglich, so kann er auch auf das Schütten mit dem Wassereimer verzichten.258 Hat der Garant die in der Situation optimale Hilfsmöglichkeit wahrgenommen und den Erfolgseintritt dennoch nicht zu verhindern vermocht, so fehlt es am tatbestandlichen Unterlassen.259 64

b) Keine aufgedrängte Rettung. Die Handlungspflicht ist durch die Autonomie des Hilfsbedürftigen begrenzt: Wenn dieser in freier Verantwortlichkeit die Hilfe ablehnt, braucht der Garant nicht rettend tätig zu werden, und zwar auch nicht zur Rettung von Menschenleben (siehe Rdn. 28). Er kann freilich verpflichtet sein, dem Hilfsbedürftigen eine vollständige Entscheidungsgrundlage zu verschaffen, indem er ihn über die verschiedenen Optionen und ihre Konsequenzen aufklärt.260 Die Kollision der Rettungspflicht mit anderen Handlungs- oder Unterlassungspflichten ist dagegen keine Frage des (tatbestandlichen) Bestehens der Handlungspflicht, sondern der möglichen Rechtfertigung ihrer Nicht-Erfüllung.261

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c) Individuelle Handlungsfähigkeit. Da die Handlungspflicht den Garanten als Person trifft, ist sie von vornherein durch dessen individuelle Fähigkeiten und Möglichkeiten begrenzt: Wer körperlich zu schwach ist, um das Opfer aus dem brennenden Haus zu schleppen, ist dazu von Rechts wegen auch nicht verpflichtet.262 Die Handlungsfähigkeit kann auch temporär, z.B. aufgrund von Überarbeitung (BGHSt 15 18, 22) oder Übermüdung fehlen;263 eine absolut mittellose Person verletzt nicht die Pflicht, Zahlungen an die Sozialversicherung (§ 266a) zu leisten (BGHSt 47 318, 320). Auch ein rechtliches Verbot, in bestimmter Weise tätig zu werden (z.B. mangelnde Vollmacht), schließt eine Garantenpflicht aus.264 Seine Handlungspflicht verletzt der Garant auch dann nicht, wenn

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256 Roxin AT II § 31 Rdn. 180. In der bewussten Wahl eines minder tauglichen Mittels (wenn gleichzeitig geeignetere zur Verfügung stehen) kann der Versuch des Unterlassungsdelikts liegen; so z.B. wenn der garantenpflichtige Täter einen Schwerverletzten auf dem Fahrrad ins Krankenhaus transportiert anstatt den Notarztwagen zu rufen (für Strafbarkeit nur im Fall des Erfolgseintritts jedoch Heinrich AT Rdn. 900). Übersieht der Täter aus mangelnder Sorgfalt die erfolgversprechende Rettungsmöglichkeit und begnügt sich mit einer – letztlich erfolglosen – weniger wirksamen Maßnahme, so kann er gegebenenfalls aus einem Fahrlässigkeitstatbestand bestraft werden. 257 BGHSt 14 213, 216; 48 77, 92; BGH NStZ 2000 414, 415; vgl. auch BGH JR 1994 510, 511 (Unzumutbarkeit der Hilfeleistung bei sehr geringer Rettungschance). 258 Beispiel bei Roxin AT II § 31 Rdn. 9. 259 Vgl. Kühl AT § 18 Rdn. 30 f; Stein SK Vor § 13 Rdn. 29. 260 Sch/Schröder/Bosch Vor § 13 Rdn. 154. 261 Zutr. Gaede NK Rdn. 12; Heinrich AT Rdn. 898; aA Freund MK Rdn. 193 ff. 262 Vgl. BGHSt 2 296, 298; 6 46, 57; Frister AT § 22 Rdn. 18 f; Sch/Schröder/Bosch Vor § 13 Rdn. 141 f; Stratenwerth/Kuhlen AT § 13 Rdn. 58. 263 Roxin AT II § 31 Rdn. 8, 15. 264 Zur Frage der Möglichkeit einer strafbaren Insolvenzverschleppung (§ 15a InsO) durch einen bloß faktischen Geschäftsführer einer GmbH Tiedemann Rdn. 1151.

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zwar eine Hilfsmöglichkeit vorhanden war, er dies aber nicht erkennen konnte.265 (Beispiel: Der für einen Verunglückten garantenpflichtige Bergwanderer konnte nicht wissen, dass in der einsamen Berghütte ein Telefon versteckt war, mit dessen Hilfe er einen Rettungshubschrauber hätte herbeirufen können.) Dagegen gehört die tatsächliche Kenntnis des Täters von seiner Handlungsmöglichkeit nicht zum objektiven, sondern zum subjektiven Tatbestand.266 Kann der Garant die Gefahr nicht allein abwenden, so ist er verpflichtet, sich um die 66 notwendige Hilfe Dritter zu bemühen; wie weit er bei diesen Bemühungen zu gehen hat (z.B. ob er auf ihrerseits hilfspflichtige Dritte Druck ausüben muss), lässt sich nicht generell beantworten, sondern hängt von der Bedeutung des gefährdeten Rechtsguts sowie von den faktischen Möglichkeiten des Garanten ab.267 d) Omissio libera in causa. Führt der Garant seine Handlungsunfähigkeit für den 67 Zeitpunkt, in dem Hilfe geboten sein wird, selbst (bewusst) herbei, so versagt ihm die h.M. die Berufung auf die Handlungsunfähigkeit.268 Gegenstimmen sehen eine Parallele zu der in die Kritik geratenen Rechtsfigur der actio libera in causa und wenden sich deshalb gegen die Bestrafung des Täters, der seine Handlungsunfähigkeit selbst aufgehoben hat.269 Dabei wird jedoch übersehen, dass das in § 20 bezüglich der Schuldfähigkeit normierte strenge Koinzidenzprinzip, das die Bestrafung eines zur Zeit der Tatbegehung Schuldunfähigen suspekt macht, für die Handlungsfähigkeit in den von § 13 erfassten Fällen270 nicht in gleicher Weise gilt.271 Dem Garanten ist es geboten, den Erfolg abzuwenden, gleichgültig zu welcher Zeit er dafür tätig werden muss; sieht er voraus, dass er zum „kritischen“ Zeitpunkt nicht zur Hilfe in der Lage sein wird, so muss er eben früher aktiv werden.272 (Beispiel: Verreist die stillende Mutter eines Säuglings, so muss sie vorher Milch abpumpen und bereitstellen, auch wenn das Kind zum Zeitpunkt ihrer Abreise nach dem Stillen noch satt ist.) Deshalb liegt eine Verletzung der Handlungspflicht auch bei demjenigen Garanten vor, der eine Rechtsgutsgefahr für die nahe Zukunft voraussieht und sich bis zur Handlungsunfähigkeit betrinkt; er darf dies zwar tun, muss dann aber aufgrund seiner Garantenstellung für eine alternative Rettungsmöglichkeit sorgen. e) Zumutbarkeit des Handelns. Der Garant muss nicht nur physisch, psychisch 68 und rechtlich zu einer erfolgsabwendenden Handlung in der Lage sein, sondern die objektiv gebotene Handlung muss ihm auch zugemutet werden können.273 Wie auch in der

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265 Stratenwerth/Kuhlen AT § 13 Rdn. 58. 266 Roxin AT II § 31 Rdn. 11; Sch/Schröder/Bosch Vor § 13 Rdn. 141. Ebenso auch Armin Kaufmann S. 37 (der häufig als Gegner dieser Ansicht zitiert wird): „Wer weder weiß noch erkennen kann, daß ein Fernsprecher zur Verfügung steht, ist … nicht in der Lage, ein Verbrechen rechtzeitig anzuzeigen“ (Hervorhebung hinzugefügt). 267 So kann man von dem Ehemann einer in einem brennenden Haus befindlichen Frau erwarten, dass er die anwesenden gemeinsamen Söhne auch durch massiven Druck dazu zu veranlassen versucht, die Mutter mit ihm gemeinsam zu retten; gegenüber unbeteiligten Passanten, die nur nach § 323c zur Hilfe verpflichtet sind, wird dagegen eine einmalige verbale Bitte genügen. 268 BGHSt 47 318, 320 f; Roxin AT II § 31 Rdn. 103 ff; Sch/Schröder/Bosch Vor § 13 Rdn. 144; Stein SK Vor § 13 Rdn. 80, 86; Welp S. 138 f. Jakobs AT 7/69 nimmt hier Strafbarkeit wegen aktiven Tuns an. 269 Baier GA 1999 272, 277 ff; Gaede NK Rdn. 13. 270 Anders ist dies allerdings bei § 323c, auf den Baier GA 1999 272, 277 verweist; dort beginnt die Handlungspflicht erst bei Eintritt des Unglücksfalls. 271 Treffende Analyse bei Struensee FS Stree und Wessels 133, 146 ff; ebenso Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 21 Rdn. 29. 272 Zur Problematik solcher Vorfeld-Schutzpflichten bei § 266a siehe Fischer § 266a Rdn. 15b. 273 Gegen die Berücksichtigung von Unzumutbarkeit bei unechten Unterlassungsdelikten jedoch (im Wesentlichen aus systematischen Erwägungen) Jakobs AT 29/98; für enge Beschränkung Roxin AT II § 31

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Formulierung von § 323c zum Ausdruck kommt, verlangt die Rechtsordnung keine unzumutbaren Handlungen; deshalb stellt die Unzumutbarkeit hier nicht, wie manche Autoren annehmen, einen bloßen Entschuldigungsgrund274 dar, sondern schließt bereits die tatbestandliche Handlungspflicht aus.275 Die Einordnung der Unzumutbarkeit auf der Ebene des Unrechts hat verschiedene Konsequenzen für die Rechtsanwendung: Für die Zumutbarkeit gilt ein objektiver Maßstab, wenngleich bei dessen Anwendung die persönlichen Verhältnisse des Handlungspflichtigen ebenso wie die Tatsituation von großer Bedeutung sind. Nimmt der Täter irrtümlich Umstände an, die die Unzumutbarkeit begründen würden, so unterliegt er einem Tatumstandsirrtum. Nur ein Gebotsirrtum kommt dagegen in Betracht, wenn der Täter aus den ihm zutreffend bekannten Tatsachen den falschen Schluss zieht, er brauche wegen „Unzumutbarkeit“ nicht zu handeln. Wer den Garanten dazu bestimmt, in einer Situation, in der ihm ein Rettungshandeln unzumutbar wäre, untätig zu bleiben, ist nicht wegen Anstiftung zum Unterlassungsdelikt strafbar.276 Einzelfragen: Dem Täter wird es von der Rechtsordnung nicht unter Strafdrohung 69 zugemutet, zur Rettung Anderer sein Leben oder seine Gesundheit aufs Spiel zu setzen (BGH JR 1994 510); kleinere Verletzungen müssen allerdings in Kauf genommen werden, wenn es um die Rettung des Lebens eines anderen Menschen geht, für den der Täter Garant ist.277 Einbußen bei der „Reputation“ (vgl. BGHSt 48 77, 96) sowie materielle Opfer (vgl. BGHSt 4 20, 23) muss der Garant grundsätzlich hinnehmen, freilich dann nicht, wenn sie außer Verhältnis zu dem abzuwendenden Erfolg stehen (Beispiel: Der Bergsteiger müsste sein gesamtes Vermögen dafür opfern, einen Rettungshubschrauber zu chartern, um seinen Bergkameraden vor leichten Erfrierungen zu bewahren). Häufig taucht die Frage auf, ob von dem Garanten verlangt werden kann, Straftaten, die er selbst oder ein Angehöriger begangen hat, aufzudecken, wenn dies notwendig mit dem Herbeiholen von Hilfe für einen Verletzten verbunden ist. Die h.M. gestattet in solchen Fällen keine Rücksicht auf das eigene Interesse des Täters, nicht verfolgt zu werden;278 Strafanzeige gegen einen nahen Angehörigen zu erstatten soll dagegen grundsätzlich nicht zumutbar sein.279 Die Behörden benachrichtigen muss man freilich dann, wenn von dem Angehörigen die Fortsetzung von erheblichen Straftaten gegen eine Person droht, der gegenüber man garantenpflichtig ist (BGHSt 41 113, 117; BGH NStZ 1984 164).280

_____ Rdn. 216 ff. Dass es an einem allgemeinen Konzept der „Unzumutbarkeit“ bei Unterlassungen fehlt, zeigt Donner S. 85 ff. 274 Dafür z.B. Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 21 Rdn. 18; Roxin AT II § 31 Rdn. 233 (Ausschluss der Verantwortlichkeit); Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 1040. 275 BGH JR 1994 510, 511; OLG Hamburg StV 1996 437; Freund MK Rdn. 201; Gaede NK Rdn. 17; Sch/Schröder/Bosch Vor § 13 Rdn. 155; Stein SK Vor § 13 Rdn. 51; Stratenwerth/Kuhlen AT § 13 Rdn. 61. Im Hinblick auf die notwendige Abwägung mit eigenen Interessen des Täters wird teilweise auch eine Rechtfertigung durch Unzumutbarkeit der Pflichterfüllung angenommen; so etwa Gropp AT S. 504; Köhler AT S. 297; differenzierend Küper S. 86 ff. Eingehend zur Einordnung im Tatbestand Stree FS Lenckner 393. 276 Die Auffassung, die bloße Entschuldigung wegen Unzumutbarkeit annimmt, müsste zu dem (wenig plausiblen) gegenteiligen Ergebnis kommen; vgl. Stratenwerth/Kuhlen AT § 13 Rdn. 62. 277 Siehe Sch/Schröder/Bosch Vor § 13 Rdn. 156; eingehend zu Abwägungskriterien Stree FS Lenckner 393, 404 ff. 278 BGHSt 11 353, 355 f; BGH NJW 1998 1568, 1574; NJW 2017 2052; ebenso z.B. Donner S. 215 ff; Gaede NK Rdn. 18 (mit Ausnahme von Situationen, in denen der Angeklagte ein Geständnis ablegen müsste); Heinrich AT Rdn. 905; Roxin AT II § 31 Rdn. 228. 279 BGHSt 6 54; Sch/Schröder/Bosch Vor § 13 Rdn. 156. Dieser Grundsatz ist schon durch § 139 Abs. 3 nahegelegt. 280 Ebenso Roxin AT II § 31 Rdn. 223 ff.

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4. Vermeidbarkeit des Erfolges a) Hypothetische Kausalität. Ebenso wie bei den Begehungsdelikten setzt die Straf- 70 barkeit wegen eines Unterlassungsdelikts voraus, dass dem Täter der tatbestandliche Erfolg zugerechnet werden kann. Teilweise wird angenommen, dass Basis der Zurechnung auch bei der Unterlassung die Kausalität des Täterverhaltens für den Erfolgseintritt sei;281 auch das Unterlassen des Garanten sei „gesetzmäßige Bedingung“ dafür, dass der Erfolg nicht verhindert wird, sondern eintreten kann. Andere Autoren gehen dagegen von dem „ontologischen“ Sachverhalt aus, dass jemand, der keine Energie aufwendet, auch nichts kausal bewirken kann, und lehnen das Vorliegen einer Kausalität der Unterlassung daher ab (siehe zu dieser Frage auch Rdn. 2 f).282 Im Ergebnis ist man sich allerdings darüber einig, dass dem Unterlassenden ein tatsächlich eingetretener Erfolg283 nur dann zugerechnet werden kann, wenn er ihn durch Vornahme der gebotenen Handlung hätte vermeiden können (BGHSt 6 1, 2; 37 106, 126; 48 77, 93) oder, nach der populären „sine qua non“Formel, „wenn die unterlassene Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der eingetretene Erfolg entfiele“ (so z.B. RGSt 75 49, 50; BGH NStZ 1985 26, 27).284 Erforderlich ist also die Feststellung einer „hypothetischen“ Kausalität. Daran fehlt es immer dann, wenn der Unterlassende den Erfolg auch mittels der ihm gebotenen Handlung nicht hätte abwenden können, z.B. wenn er sein ertrinkendes Kind wegen eines plötzlich aufkommenden Sturms nicht aus dem Meer hätte retten können. Bei den Unterlassungsdelikten, die die Zurechnung eines tatbestandlichen Erfolges 71 voraussetzen, stellen sich ähnliche Fragen, wie sie hinsichtlich der Voraussetzungen einer Erfolgszurechnung bei den Begehungsdelikten diskutiert werden.285 Das betrifft insbesondere die Fallgruppen des fehlenden Schutzzweckzusammenhangs, des rechtmäßigen Alternativverhaltens und der autonomen Risikoübernahme durch den Verletzten als Hindernisse gegenüber einer Zurechnung des (hypothetisch) verursachten Erfolges. Besonders intensiv ist im Anschluss an zwei Entscheidungen des BGH (BGHSt 37 106, 126 ff; 48 77, 93f) die Frage behandelt worden, ob das Unterlassen weniger Mitglieder eines größeren Gremiums, Versuche zur Erfolgsabwendung zu unternehmen, die Zurechnung des dann eingetretenen Erfolges gegenüber diesen Personen gestattet. Diese Frage hat der BGH bejaht (BGHSt 37 106, 132; 48 77, 94; siehe auch BGH JZ 2006 560, 564 f), und die überwiegende Ansicht in der Lehre stimmt ihm zu.286 Die Argumentation des BGH in dieser Frage ist allerdings stark ergebnisorientiert: Es soll verhindert werden, dass ein Täter, der seine Handlungspflicht vernachlässigt, sich damit entlasten kann, dass sich andere Mitglieder des Gremiums ebenfalls rechtswidrig verhalten haben.287 Bei

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281 So insbesondere Puppe ZStW 92 (1980) 863, 895 ff; dies. NK Vor § 13 Rdn. 117 ff; ebenso Hilgendorf NStZ 1994 561, 564; Kahlo S. 265, 318; Roxin AT II § 31 Rdn. 42; Vogel S. 148 ff. 282 So z.B. Jakobs AT 29/18; Arthur Kaufmann FS Eb. Schmidt 200, 214 ff; Sch/Schröder/Bosch Rdn. 61. Der BGH hat sich ebenfalls auf diese „ontologische“ Lehre festgelegt; BGHSt 48 77, 93. 283 Dabei kommt es darauf an, dass der Täter den Erfolg in der Gestalt, in der eingetreten ist, hätte vermeiden können; von Coelln S. 74 f. 284 Vertiefend zu diesem Modus der Erfolgszurechnung Schrott S. 109 ff. 285 Siehe Freund S. 159 ff; Kölbel JuS 2006 309; Walter LK Vor § 13 Rdn. 89 ff. Grds. abweichend Bergmann S. 176 ff (da Unterlassungen nichts bewirken könnten). 286 Siehe aus dem reichen Schrifttum Kühl AT § 18 Rdn. 39a ff; Neudecker S. 254 ff; Puppe NK Vor § 13 Rdn. 122; dies. ZIS 2018 484, 487; Schaal S. 133 ff; Weißer S. 193 ff. 287 Vgl. BGHSt 37 106, 132 zur Strafbarkeit einzelner Mitglieder der Geschäftsführung einer GmbH, die sich nicht gegen einen schädigenden Beschluss der Geschäftsführung gewandt hatten: „Nur dieses Ergebnis wird der gemeinsamen und gleichstufigen Verantwortung der Geschäftsführer gerecht. Fiele es anders aus, so bedeutete dies, daß sich … in einer GmbH mit mehreren Geschäftsführern jeder von seiner Haftung allein durch den Hinweis auf die gleichartige und ebenso pflichtwidrige Untätigkeit der anderen

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strikter Anwendung der Regeln der hypothetischen Kausalität ließe sich dieses Ergebnis freilich nicht vermeiden, da und sofern die Stimme eines Einzelnen das Ergebnis des Entscheidungsfindungsprozesses in einem Gremium nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verändern kann.288 72

b) Sicherheit der Feststellung. Nach ständiger Rechtsprechung289 und herrschender Lehre290 kann dem Unterlassungstäter der tatbestandliche Erfolg nur dann zugerechnet werden, wenn „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ feststeht, dass die ihm gebotene und mögliche Handlung den Erfolg abgewendet hätte. Dagegen hält es eine Auffassung in der Literatur für ausreichend, wenn festgestellt werden kann, dass das gebotene Tun das Risiko des Erfolgseintritts gemindert hätte;291 begründet wird dies damit, dass dem Garanten auch schon solche Aktivitäten geboten seien, die die Abwendung des Erfolges nicht sicher, aber doch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erwarten lassen. Letzteres trifft zwar zu (siehe Rdn. 63), begründet aber noch keine Haftung des Unterlassenden für den Erfolg, sondern nur wegen „schlichten“ Unterlassungsunrechts (d.h. gegebenenfalls wegen Versuchs). Auch die Formel der Rechtsprechung ist jedoch insoweit irreführend, als sie suggeriert, dass es um die Feststellung realer Kausalzusammenhänge gehe. Tatsächlich steht jedoch (nur) fest, dass der Erfolg eingetreten ist und der Unterlassende ihn weder aktiv herbeigeführt noch abgewendet hat. Nun muss das Gericht eine hypothetische Erwägung („Was wäre gewesen, wenn …“) anstellen und sich auf deren Grundlage eine Überzeugung bilden. Diese Überzeugung kann nur so sicher sein wie jede andere Erwägung im Modus des Irrealis; hier nach höherer oder geringerer Wahrscheinlichkeit abzustufen trifft die Art und Weise der Überzeugungsbildung nicht. Freilich muss es dabei bleiben, dass das Gericht einem Angeklagten den Erfolg nicht zurechnen darf, wenn es aufgrund der Beweislage vernünftige Zweifel daran hat, dass die gebotene Handlung den Erfolg „tatsächlich“ abgewendet hätte. Insofern trifft die herrschende Auffassung das Richtige.292 Zweifel an der hypothetischen Erfolgsabwendung durch das gebotene Tun müssen – wie alle Zweifel im Rahmen des Grundsatzes „in dubio pro reo“ – eine anhand der bekannten Tatsachen rational nachvollziehbare Grundlage haben;293 sofern eine solche Grundlage besteht, sind sie auch dann relevant, wenn der hypothetische Geschehensablauf das Eingreifen dritter Personen oder andere komplexe Zusammenhänge enthält.294

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freizeichnen könnte.“ Zustimmend Roxin AT II § 31 Rdn. 67 f; mit Recht differenzierend Puppe JR 1992 30, 33 f; Stein SK Vor § 13 Rdn. 28 (Zurechnung nur solange die Mehrheit im Gremium noch nicht feststeht); insgesamt krit. Dencker S. 166 ff. Eine Handlungsmöglichkeit des Garanten verneint in dieser Situation Gaede NK Rdn. 12. 288 Für eine Lösung über die – allerdings anfechtbare – Figur der fahrlässigen Mittäterschaft Greco ZIS 2011 674, 681 ff. 289 Siehe etwa RGSt 75 49, 50; BGHSt 43 381, 397; 52 159, 164 f; 59 292, 301 ff; BGH NStZ 1985 26, 27; NStZ-RR 2002 303. 290 Freund MK Rdn. 221 ff; Frister AT § 22 Rdn. 25; Gimbernat Ordeig ZStW 111 (1990) 307, 323; Jakobs AT 29/19; Sch/Schröder/Bosch Rdn. 61; Schünemann StV 1985 229, 231 f (obwohl er bei Begehungsdelikten der „Risikoerhöhungs“-Lehre folgt). 291 Greco ZIS 2011 674, 675 ff; Otto AT § 9 Rdn. 98 ff; Stein SK Vor § 13 Rdn. 32; Stratenwerth/Kuhlen AT § 13 Rdn. 54; ebenso für Fälle der ex post feststellbaren hypothetischen Risikominderung Roxin AT II § 31 Rdn. 54 ff. 292 Vertiefende und differenzierende Erwägungen bei Schrott S. 123 ff, 174 ff, 272 ff, der bei einem strukturell bedingten Mangel an empirischem Entscheidungsmaterial normative Erwägungen zur Zurechnung zulassen will. 293 BGH NJW 2010 1087. 294 Eingehend zu dieser Fallgestaltung Sch/Schröder/Bosch Rdn. 62. Unterlässt etwa ein Angestellter eine Warnmitteilung an die Geschäftsleitung hinsichtlich gefährlicher Produkte, so fehlt es an der

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Begehen durch Unterlassen | § 13

5. Subjektiver Tatbestand a) Vorsatz. Der Vorsatz des Unterlassenden muss sich, wie auch beim Begehungs- 73 delikt, auf alle Elemente des objektiven Tatbestandes erstrecken. Dies sind: die Gefahr für ein vom Tatbestand geschütztes Objekt; die Umstände, die die Garantenpflicht des Täters begründen;295 die individuelle Möglichkeit des Täters, zur Abwendung der Gefahr tätig zu werden;296 die Erwartung des Erfolgseintritts;297 die Möglichkeit, den Erfolg durch die gebotene Handlung abzuwenden. Ebenso wie beim Begehungsdelikt ist auch bei Unterlassungen bedingter Vorsatz denkbar. Er liegt z.B. dann vor, wenn der Täter nur mit der konkreten Möglichkeit rechnet, dass die ihm zur Verfügung stehenden Mittel zur Erfolgsabwendung ausreichen, und sich dazu entschließt, von ihnen keinen Gebrauch zu machen,298 sowie wenn der Täter zwar nicht sicher erwartet, dass der tatbestandliche Erfolg eintreten wird, aber immerhin die konkrete Möglichkeit erkennt und sich mit ihr abfindet (BGH NStZ 1992 125; aA BGH NJW 2017 3249, 3254 f).299 Ein zusätzliches voluntatives Element des emotionalen Willkommenseins des Erfolges ist hier ebensowenig nötig wie bei Begehungsdelikten. b) Absicht. Mit dem Untätigbleiben kann sich auch eine bestimmte Absicht verbin- 74 den; daher können auch Straftatbestände, die eine über den Tatvorsatz hinausreichende Absicht erfordern (z.B. §§ 242, 257, 263), durch Unterlassen begangen werden.300 Insbesondere kann bei einer Tötung durch Unterlassen Verdeckungsabsicht iSv § 211 vorliegen.301 VII. Rechtswidrigkeit und Schuld 1. Rechtfertigung bei Pflichtenkollision. Grundsätzlich sind auf Unterlassungsde- 75 likte die allgemein anerkannten Rechtfertigungsgründe anwendbar, auch wenn manche von ihnen (z.B. § 32) praktisch nicht häufig eine Rolle spielen dürften.302 Ein für Unterlas-

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hypothetischen Kausalität für den Erfolg, wenn nach den Feststellungen eine große Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass eine solche Mitteilung von den Vorgesetzten des Unterlassenden konterkariert worden wäre; BGH NJW 2000 2754, 2757; zust. Roxin AT II § 31 Rdn. 47. 295 Die Schlussfolgerung aus den dem Täter bekannten Umständen, dass er als Garant zum Handeln verpflichtet ist, gehört nicht zum Vorsatz, sondern betrifft das Unrechtsbewusstsein (BGHSt 16 155; 19 295, 298 f). Verfehlt deshalb BayObLG NStZ-RR 1998 78 (kein Unterlassungsvorsatz, wenn der LKW-Fahrer nicht weiß, dass er ein bestimmtes Dokument bei der Fahrt mitführen muss). 296 Es genügt, dass der Täter die allgemeine Vorstellung hat, dass er etwas zur Abwendung der drohenden Tatbestandsverwirklichung unternehmen kann; Gaede NK Rdn. 20; Kühl AT § 18 Rdn. 126; Roxin AT II § 31 Rdn. 188; Stein SK Vor § 13 Rdn. 35; Stratenwerth/Kuhlen AT § 13 Rdn. 75. 297 Zum notwendigen Umfang des Vorsatzes bei dem erfolgsqualifizierten Delikt des § 227 BGHSt 41 113, 118 (Täter muss zum Zeitpunkt des Unterlassens das Drohen lebensgefährlicher Verletzungen erkennen). 298 Vgl. dazu Engländer JuS 2001 958. 299 Kudlich/Hoven FS Rogall 209, 214 ff. kritisieren zu Recht die Verwechslung des notwendigen Beweismaßes mit den Anforderungen an den Tätervorsatz in BGH NJW 2017 3249; krit. auch Frister AT § 22 Rdn. 51. 300 BGHSt 48 365, 370 f. mit krit. Bspr. Walter NStZ 2005 240. Wie der BGH Gaede NK Rdn. 20; Kühl AT § 18 Rdn. 132; Stein SK Vor § 13 Rdn. 33; je nach Tatbestand differenzierend Freund MK Rdn. 241; Roxin AT II § 31 Rdn. 195. 301 Die grundsätzliche Ablehnung dieser Möglichkeit in BGHSt 7 287, 290 ist überholt; Sch/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben § 211 Rdn. 35c. Allerdings kann Mord durch Unterlassen in Verdeckungsabsicht nur dann vorliegen, wenn gerade das Unterlassen der gebotenen Hilfeleistung gegenüber dem Opfer (und nicht eine gleichzeitige aktive Tätigkeit) die vorangegangene Straftat verdecken soll; zutr. Mitsch FS Kreuzer 371, 374 ff. 302 Zur Anwendung der Notstandsregelungen auf Unterlassungen Frister AT § 22 Rdn. 55 ff.

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§ 13 | Zweiter Abschnitt. Die Tat

sungen spezifischer Rechtfertigungsgrund ist die Pflichtenkollision; sie ist dadurch charakterisiert, dass der Täter gleichzeitig mehrere Handlungspflichten zu erfüllen hat, aber aus faktischen Gründen nicht allen gerecht werden kann (Lehrbuchbeispiel: Der Vater sieht gleichzeitig zwei seiner Kinder an verschiedenen Stellen eines Gewässers in Lebensgefahr, kann aber nur eines rechtzeitig erreichen). In diesem Fall ist der Garant verpflichtet, das höherrangige Gut zu retten; sind beide gleichwertig – wie in dem genannten Beispiel303 –, so ist er gerechtfertigt, wenn er die Rettung eines von ihnen unterlässt.304 Nicht in diese Kategorie fallen Situationen, in denen einem Rettungshandeln eigene Interessen des Garanten entgegenstehen;305 solche Konflikte sind auf der Ebene der Zumutbarkeit (siehe Rdn. 68 f) zu lösen. 76

2. Schuldausschluss durch Gebotsirrtum. Neben den allgemeinen Gründen, die die Schuld ausschließen (z.B. § 20) oder eine Entschuldigung begründen (z.B. § 35), spielt bei Unterlassungsdelikten insbesondere der Verbotsirrtum (§ 17) in Form eines Gebotsirrtums eine Rolle. Ein solcher Irrtum liegt dann vor, wenn der Garant beim Unterlassen zwar die Situation zutreffend erkennt, ihm aber die Einsicht fehlt, sich durch seine Untätigkeit unrecht zu verhalten.306 Eine solche Fehlbewertung kann in dem Bereich des § 13307 z.B. darauf beruhen, dass der Täter den gebotenen Schluss aus den Umständen auf seine Garantenpflicht nicht zieht oder dass er seine Handlungspflicht nicht erkennt, weil er seinen eigenen Interessen einen zu hohen Stellenwert einräumt (vorgestellte Unzumutbarkeit).308 Solche Irrtümer können angesichts der Unsicherheiten der Grenzziehung insbesondere bei Garantenpflichten durchaus nachvollziehbar sein, so dass hier häufiger als bei Begehungsdelikten ein schuldausschließender unvermeidbarer Irrtum vorliegt.309 VIII. Entsprechensklausel

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Nach § 13 steht ein Unterlassen der aktiven Erfolgsherbeiführung nur dann gleich, wenn es der Tatbestandsverwirklichung durch Tun „entspricht“.310 Welche inhaltliche Substanz dieser „Notausstieg“ aus der Gleichsetzung von Tun und Unterlassen bei Garanten hat, ist nicht klar. Jedenfalls soll das Gericht nicht, nachdem es alle sonstigen Voraussetzungen der Strafbarkeit des Unterlassenden bejaht hat, noch eine allgemeine Billigkeitsabwägung vornehmen. 311 Ganz überwiegend wird angenommen, dass das „Entsprechen“ nur in den Fällen gesondert festzustellen ist, in denen der Tatbestand nicht die bloße Erfolgsherbeiführung als solche (wie etwa bei § 212), sondern das Bewirken des Erfolges in einer bestimmten Weise (z.B. durch „Täuschung“ in § 263) verlangt.312

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303 Gleichwertigkeit besteht in diesem Fall nach richtiger Auffassung auch dann, wenn der Täter nur einem der betroffenen Kinder als Garant verpflichtet ist; Frister AT § 22 Rdn. 62; Stein SK Vor § 13 Rdn. 47. 304 Frister AT § 22 Rdn. 61; Roxin AT II § 31 Rdn. 204; Stein SK Vor § 13 Rdn. 44. 305 Für Einordnung bei der rechtfertigenden Pflichtenkollision jedoch Stein SK Vor § 13 Rdn. 43; Stratenwerth/Kuhlen AT § 13 Rdn. 82. 306 Instruktiver Überblick über die Irrtumskonstellationen bei Satzger Jura 2011 432, 434 ff. 307 Anders als bei spezifischen Handlungspflichten, die in Sondergesetzen aufgestellt werden, ist hier eine Unkenntnis der Gebotsnorm als solcher – die ja der Verbotsnorm des betreffenden Begehungsdelikts entspricht – kaum vorstellbar. 308 Vgl. Sch/Schröder/Bosch Vor § 13 Rdn. 155. 309 Siehe BGHSt 19 295, 299; 41 113, 117; Roxin AT II § 31 Rdn. 209 f. 310 Monographisch Nitze (der eine substantielle Bedeutung der Klausel verneint). 311 Freund MK Rdn. 206; Roxin AT II § 32 Rdn. 227 ff. 312 Berster S. 54 ff. sieht dagegen in § 13 Satz 2 den Kern der Begründung für die Gleichstellung von unechten Unterlassungs- mit Tätigkeitsdelikten, da er den Begriff des „Entsprechens“ als eine „im

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In diesen Fällen soll die „Modalitätenäquivalenz“ des Verhaltens des Unterlassenden mit demjenigen eines vergleichbaren aktiven Täters geprüft werden.313 Dem kann freilich in dieser Allgemeinheit nicht zugestimmt werden, denn der Unterlassende kann ja einen Tatbestand, der eine bestimmte Vorgehensweise voraussetzt, gar nicht erfüllen, wenn sein passives Verhalten nicht unter die Beschreibung dieser Vorgehensweise (z.B. „Täuschung“ beim Betrug,314 „Drohung“ bei der Nötigung, „mit gemeingefährlichen Mitteln“ beim Mord) subsumiert werden kann.315 Einen eigenen Anwendungsbereich hat die Entsprechungsklausel daher nur bei den wenigen Tatbeständen, in denen das subjektive Unrecht im Tatbestand näher charakterisiert wird, etwa bei der „rohen“ Misshandlung (§ 225 Abs. 1) oder bei dem Mordmerkmal der „Grausamkeit“.316 Hat der Täter in solchen Fällen die Rettung des Opfers als Beschützergarant unterlassen oder den aktiv Ausführenden als Überwachungsgarant nicht an der Tat gehindert, so ist vor einer Verurteilung zu prüfen, ob der Unterlassende in seinem Verhalten auch die „Roheit“ bzw. die „Grausamkeit“ der Tatbegehung an den Tag gelegt hat, die der Tatbestand verlangt.317 Mit dieser Interpretation lässt sich auch die Annahme des BGH (NJW 1995 3194) vereinbaren, dass eine Körperverletzung durch Unterlassen nur dann unter § 227 zu subsumieren ist, wenn das Unterlassen bereits dazu beiträgt, die Lebensgefahr zu schaffen. IX. Versuch des Unterlassungsdelikts 1. Strafbarkeit des Versuchs. Die Frage, ob der Versuch eines von § 13 erfassten De- 78 likts strafbar ist, richtet sich zunächst nach § 23 Abs. 1 i.V.m. § 12. Zweifel werden allerdings an der Strafbarkeit des untauglichen Versuchs in Fällen des Unterlassens geäußert (Beispiel nach BGH bei Altvater NStZ 2006 86, 91: Ein Autofahrer fährt einen Fußgänger an und verletzt ihn tödlich; der Fahrer glaubt irrtümlich, dass dem Opfer durch alsbaldige ärztliche Versorgung noch zu helfen sei, unternimmt aber nichts).318 Gegen eine Strafbarkeit des untauglichen Versuchs durch Unterlassen wird eingewandt, dass sich das äußere Verhalten des Täters in reiner Passivität erschöpfe, die auch nicht den geringsten Anschein rechtsfeindlichen Verhaltens erwecke; das Verbrechen spiele sich nur im Kopf des Täters ab. Die herrschende Auffassung hält dennoch an der Strafbarkeit

_____ Ontischen wurzelnde Artvergleichbarkeit“ von Tun und Unterlassen (S. 56) versteht. Sein Versuch, der aktiven Körperbewegung „die Widmung der naturgesetzlichen Wirkkraft als Instrument des eigenen Wollens“ (S. 62) als Entsprechung gegenüberzustellen, führt jedoch zu keinen klaren Ergebnissen. Kritisch zu Bersters Ansatz auch Hoven GA 2016 16, 18 f, 25. 313 Siehe etwa Frister AT § 22 Rdn. 3 (Herbeiführung eines „Zwischenerfolges“ durch Unterlassen); Gaede NK Rdn. 19; Lackner/Kühl/Kühl Rdn. 16; Satzger Jura 2011 749, 751 f; Stein SK Rdn. 10 f; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 1028. 314 Hierzu zutr. Satzger Jura 2011 749, 755 f. 315 Zutr. Roxin AT II § 32 Rdn. 230 ff; ähnlich Freund MK Rdn. 207; Perdomo-Torres FS Jakobs 497, 499 ff. Eingehend zum „Betrug durch Unterlassen“ Kargl ZStW 119 (2007) 250, 274 ff (der die Möglichkeit eines der Begehung gleichwertigen Unterlassens bei § 263 für den Regelfall verneint). 316 Das Mordmerkmal „heimtückisch“ ist dagegen von der h.M. auf eine Beschreibung der Vorgehensweise des Täters reduziert worden, so dass hier die Entsprechung schon dann gegeben ist, wenn der Unterlassende eine Tötung unter Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit zulässt; auf seine persönliche „Heimtücke“ kann es dabei nicht ankommen. 317 Ähnlich mit durchweg plausiblen Differenzierungen Jakobs AT 29/78 ff; im Ansatz übereinstimmend, aber im Einzelnen für einen weiteren Anwendungsbereich der Entsprechungsklausel Roxin AT II § 32 Rdn. 239 ff; fallbezogene Unterscheidungen auch bei Sch/Schröder/Bosch Rdn. 4. 318 Schmidhäuser FS Gallas 81, 96 f; Zaczyk NK § 22 Rdn. 60. Der BGH hat in der Entscheidung BGHSt 38 356, 359 die Frage der Strafbarkeit für Fälle, in denen „keinerlei Gefahr für das Rechtsgut“ besteht, ausdrücklich offen gelassen und in concreto das Vorliegen einer Gefahr für das Opfer angenommen (was freilich begrifflich der Einordnung als „untauglicher“ Versuch widerspricht).

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des untauglichen Versuchs fest.319 Mit Recht wird darauf hingewiesen, dass auch beim untauglichen Versuch des Begehungsdelikts das äußere Verhalten des Täters häufig als harmlos erscheint.320 Wenn man überhaupt an der Strafbarkeit von Fällen festhalten will, in denen der „böse Wille“ ohne Schaffung einer realen Gefahr irgendwie nach außen in Erscheinung tritt oder geäußert wird,321 dann muss man die Strafbarkeit konsequenterweise auch auf Unterlassensfälle erstrecken. Wenn man deren Strafbedürftigkeit (mit guten Gründen) in Zweifel zieht,322 dann müssten sich diese Zweifel auf alle Fälle des untauglichen Versuchs erstrecken.323 2. Unmittelbares Ansetzen. Seit langem umstritten ist die Frage, wann beim Unterlassen die Strafbarkeit wegen Versuchs einsetzt. Die gesetzliche Formel vom „unmittelbaren Ansetzen“ zur Tatbestandsverwirklichung passt nicht auf Fälle, in denen der Täter passiv bleibt. Man muss also mehr oder weniger willkürlich einen Punkt auf dem Zeitstrahl zwischen dem ersten Entstehen einer Handlungspflicht und -möglichkeit und dem letzten Augenblick vor dem Erfolgseintritt bestimmen und an ihm die Versuchsstrafbarkeit festmachen. Dabei hat sich die Auffassung, die das „Unterlassen des Rettungsversuchs“ erst mit der letzten Handlungsmöglichkeit annimmt,324 zu Recht nicht durchzusetzen vermocht, da sie das Versuchsstadium praktisch gegen Null schrumpfen lässt. Umgekehrt lässt die extreme Gegenposition, die schon dann strafbaren Versuch annimmt, wenn der Garant, der seine Handlungsmöglichkeit erkannt hat, nur kurze Zeit untätig bleibt (so der Sache nach BGHSt 40 257, 271: „Wer durch längeres Unterlassen einer gebotenen Tätigkeit den Tod des Hilfsbedürftigen herbeiführen will, setzt hierzu bereits mit dem Beginn seiner Untätigkeit unmittelbar an …“),325 dem Betroffenen zu wenig straflosen Freiraum. 80 Zutreffend sind demgegenüber die Ansätze, die sich um die Festlegung eines „mittleren“ Zeitpunkts für den Versuchsbeginn bemühen. Verschiedentlich wird als Kriterium für das „unmittelbare Ansetzen“ angesehen, dass sich die Gefahr für das Rechtsgutsobjekt durch das Zuwarten des Täters vergrößert, sich „der Verlauf zum Schlechten wendet“.326 Dieser Maßstab wird allerdings den Fällen nicht gerecht, in denen sich eine Gefahr in sehr kleinen Schritten fortentwickelt, ohne zunächst wirklich bedrohlich zu sein; dann wäre der Unterlassende nach dieser Auffassung mit der Versuchsstrafbarkeit belastet, bevor die Gefahr noch „ernsthaft“ wird. Dies spricht dafür, für den Versuchsbeginn – bei aller unvermeidbaren Unbestimmtheit – auf den Eintritt einer nahen (konkreten) Gefahr des Erfolgseintritts abzustellen. Der Bereich des strafbaren Versuchs beginnt, sobald der Täter erkennt, dass ohne sein Handeln jederzeit „etwas passieren“ kann, dass die Frage des Erfolgseintritts also nur noch von Umständen abhängt, die er 79

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319 BGH VRS 13 120, 123; Gaede NK Rdn. 24; Maurach/Gössel/Zipf § 40 Rdn. 139, 142; Stein SK Vor § 13 Rdn. 64. 320 Freund MK Rdn. 254 f. 321 Beim untauglichen Versuch des Unterlassungsdelikts kommt eine Bestrafung praktisch nur in Betracht, wenn der Täter seine irrige Vorstellung über die Notwendigkeit zu handeln gegenüber einem Dritten zum Ausdruck gebracht hat. Auf die „Unsicherheit der Normrealisierung“ verweist auch Niepoth S. 329. 322 So Niepoth S. 339 f. 323 Hierzu auch aus rechtsvergleichender Sicht Jung ZStW 117 (2005) 937. 324 Armin Kaufmann S. 210 ff; Welzel Lehrbuch S. 221. 325 Ebenso schon Maihofer GA 1958 289, 297 f; Herzberg MDR 1973 89, 94. 326 So Zaczyk NK § 22 Rdn. 64; ähnlich Sch/Schröder/Bosch Vor § 13 Rdn. 153; Stratenwerth/Kuhlen AT § 14 Rdn. 4. Freund MK Rdn. 249 stellt darauf ab, ob die vorhandene Rettungsmöglichkeit noch gleich sicher bleibt.

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nicht beherrscht. Bleibt der Garant jetzt noch weiter untätig, so kann er sich nur noch unter den Voraussetzungen des Rücktritts (§ 24) von der Strafbarkeit befreien.327 3. Rücktritt vom Versuch. Der Rücktritt vom Versuch (§ 24) des Unterlassungsde- 81 likts setzt in der Regel eine Aktivität des Täters, nämlich die Erfüllung der Erfolgsabwendungspflicht voraus.328 Ob man hier zwischen den beiden Alternativen von § 24 Abs. 1 S. 1 unterscheidet,329 spielt keine Rolle; der Täter muss jedenfalls die Vollendung der Tat verhindern.330 Ebenso wie beim Begehungsdelikt genügt es für den Rücktritt, dass der Täter durch sein Tätigwerden in zurechenbarer Weise für die Abwendung des Erfolges kausal wird;331 optimale Bemühungen werden von ihm nur in dem nach § 24 Abs. 1 S. 2 zu behandelnden Fall des untauglichen Versuchs gefordert. Bei konsequenter Anwendung der „Gesamtbetrachtungslehre“ beim Rücktritt vom Versuch kann der Täter in bestimmten Fällen – etwa wenn sich das intendierte Opfer selbst zu retten vermag – auch dadurch zurücktreten, dass er eine ihm nunmehr mögliche aktive Herbeiführung des Erfolges unterlässt.332 Andererseits wird der Täter durch verspätete Aktivitäten nicht straflos, wenn der Erfolg trotz seiner Bemühungen eintritt;333 § 24 Abs. 1 bürdet das Zufallsrisiko des Erfolgseintritts dem Zurücktretenden auf. X. Täterschaft und Teilnahme 1. Mittäterschaft a) Mittäterschaft bei mehreren Unterlassenden. Mittäterschaft (§ 25 Abs. 2) setzt 82 bei Begehungsdelikten einen gemeinsamen Tatentschluss sowie die Mitwirkung aller Beteiligten an der Durchführung des Tatplans voraus; sind diese Bedingungen erfüllt, so werden jedem Beteiligten die Tatbeiträge der Übrigen wie seine eigenen zugerechnet. Bei Unterlassungsdelikten fehlt es naturgemäß an der (aktiven) Ausführung des Tatplans; an dessen Stelle tritt das pflichtwidrige Untätigbleiben. Mit dieser Modifikation kann man auch hier von Mittäterschaft sprechen, sofern sich mehrere zum Handeln verpflichtete Personen absprechen, untätig zu bleiben und den tatbestandlichen Erfolg eintreten zu lassen.334 Die Annahme von Mittäterschaft ist freilich insoweit ohne Relevanz für die strafrechtliche Beurteilung, als es der gegenseitigen Zurechnung von „Tatbeiträgen“

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327 Ebenso Kühl AT § 18 Rdn. 149. Ähnlich Exner Jura 2010 276, 279; Gaede NK Rdn. 23 („unmittelbare Gefahr“). Der BGH hat in der Entscheidung BGHSt 40 257, 271 das Merkmal der „konkreten Gefährdung“ (wohl kontrafaktisch) ebenfalls als erfüllt angesehen, so dass sich das Urteil mit der hier vertretenen Auffassung vereinbaren lässt. 328 Abweichender Ansatz bei Stein SK Vor § 13 Rdn. 70 ff. 329 So z.B. Exner Jura 2010 276, 280; Sch/Schröder/Eser/Bosch § 24 Rdn. 27. 330 Freund MK Rdn. 258; Gaede NK Rdn. 25; Küper ZStW 112 (2000) 1, 42; SSW/Kudlich Rdn. 45. 331 BGHSt 48 147: Der Täter öffnete in Suizidabsicht die Gasleitungen in einem größeren Wohnhaus; er beschränkte sich dann darauf, die Polizei anzurufen, ohne die Gasleitungen wieder zu schließen. Gegen Anerkennung eines Rücktritts Puppe NStZ 2003 309. Nach BGH NJW 2003 1057 kann der Täter durch Erfolgsverhinderung auch bei einem mehraktigen Geschehen insgesamt strafbefreiend zurücktreten, es sei denn, ein früheres Teilgeschehen sei als abgeschlossener (fehlgeschlagener) Versuch zu bewerten. 332 Engländer JZ 2012 130. 333 BGH NStZ 2016 664 m. krit. Bspr. Jäger JA 2016 950; Küper ZStW 112 (2000) 1, 40 ff; Roxin AT II § 30 Rdn. 139 f; Sch/Schröder/Eser/Bosch § 24 Rdn. 30; Stratenwerth/Kuhlen AT § 14 Rdn. 6. 334 Gaede NK Rdn. 27; Jakobs AT 29/101; Roxin AT II § 31 Rdn. 172 f. Gegen die Möglichkeit der Mittäterschaft bei „Pflichtdelikten“ jedoch Sánchez-Vera Pflichtdelikt und Beteiligung S. 158 ff (da es keine „gemeinsamen“ Handlungspflichten gebe); ablehnend zu einer Mittäterschaft bei Unterlassungsdelikten auch Armin Kaufmann S. 189.

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beim Unterlassungsdelikt nicht bedarf: Wer die ihm obliegende Handlungspflicht nicht erfüllt und so den vermeidbaren Eintritt des Erfolges nicht verhindert, haftet für diesen unabhängig vom Verhalten Anderer (BGHSt 48 77, 95). Die Handlungspflicht kann es auch gebieten, andere Personen zur Unterstützung bei der Abwendung der Gefahr aufzufordern und/oder mit ihnen zusammenzuwirken (siehe Rdn. 66); wer mit den in Frage kommenden Personen abspricht, „gemeinsam“ untätig zu bleiben, verletzt seine Pflicht zur effektiven Hilfeleistung und kann für den Eintritt des Erfolges schon aus diesem Grund verantwortlich gemacht werden, ohne dass ihm das Verhalten der Anderen „zugerechnet“ werden müsste. Vielfach wird allerdings in solchen Fällen, in denen mehrere Personen zur Erfolgsabwendung zusammenwirken müssten, auf die Rechtsfigur der Mittäterschaft zurückgegriffen.335 83

b) Mittäterschaft von Unterlassendem und aktivem Täter. Ein Garant und eine andere Person können in der Weise mittäterschaftlich zusammenwirken, dass der eine Mittäter aktiv den tatbestandlichen Erfolg herbeiführt und der Garant ihn durch Untätigbleiben abzuwenden unterlässt. (Beispiele: Der Beschützergarant gestattet einem Dritten, den Schützling körperlich zu misshandeln; der Bankangestellte spricht mit einem Dritten ab, dass er sich von diesem „überfallen“ und ihn das vorhandene Bargeld mitnehmen lässt, ohne die Leitung der Bank zu warnen oder während der Tat zu alarmieren; siehe zur Möglichkeit der Mittäterschaft des Unterlassenden in diesen Fällen Rdn. 91, 95). In solchen Fällen ist die Anwendung von § 25 Abs. 2 insofern angezeigt, als dem untätig bleibenden Beteiligten über die Rechtsfigur der Mittäterschaft auch die von dem aktiven Teil verwirklichten qualifizierenden Umstände ohne Weiteres (und ohne Rücksicht auf die Entsprechungsklausel von § 13) zugerechnet werden können, soweit sie vom gemeinsamen Tatplan erfasst waren.336

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2. Mittelbare Täterschaft. Die Frage, ob auch ein Unterlassender als mittelbarer Täter einer Straftat angesehen werden kann, wird unterschiedlich beurteilt. Denkbar ist dies vor allem dann, wenn es ein Aufsichtspflichtiger unterlässt, die von ihm zu überwachende (unter Umständen selbst strafrechtlich nicht verantwortliche) Person an der Begehung von Straftaten zu hindern.337 Die überwiegende Lehre lehnt in solchen Fällen die Annahme mittelbarer Täterschaft ab,338 da der untätig bleibende Hintermann keinen Anstoß zu dem strafbaren Geschehen gebe und den Vordermann nicht zum „Werkzeug seines Willens“ mache;339 es liege vielmehr unmittelbare Unterlassungstäterschaft vor. Demgegenüber bejahen die Rechtsprechung (BGHSt 40 257, 266 ff; 48 77, 89 f) und ein Teil der Lehre340 mittelbare Täterschaft immer dann, wenn auch ein aktives Eingreifen des garantenpflichtigen Hintermanns zur Tatbestandsverwirklichung als mittelbare Tä-

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335 BGHSt 37 106, 129 f. für den Fall der notwendigen Beschlussfassung innerhalb eines Gremiums; siehe auch schon (obiter) BGHSt 4 20, 21. Ebenso Hoyer SK § 25 Rdn. 150; Stratenwerth/Kuhlen AT § 14 Rdn. 17; als „eigentlichen“ Fall der Mittäterschaft beim Unterlassungsdelikt bezeichnen diese Konstellation auch Jescheck/Weigend § 63 IV 2 und Kühl AT § 20 Rdn. 268. 336 BGH NJW 1966 1763; übereinstimmend Maurach/Gössel/Zipf § 49 Rdn. 84 f. Dagegen will Roxin AT II § 31 Rdn. 174 Mittäterschaft auf die Fallgestaltungen beschränken, in denen sowohl der Begehungs- als auch der Unterlassungstäter „Pflichtdelikte“ verwirklichen. 337 Begehungstäterschaft liegt dagegen vor, wenn ein Garant sich den Willen eines anderen durch Täuschung oder Nötigung unterwirft und ihn auf diese Weise daran hindert, die zur Erfolgsabwendung gebotene Handlung vorzunehmen. 338 Siehe etwa Gaede NK Rdn. 27; Gropp AT S. 414 f; Roxin AT II § 31 Rdn. 175; Stratenwerth/Kuhlen AT § 14 Rdn. 14. 339 So Roxin AT II § 31 Rdn. 175. 340 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 25 Rdn. 151 f; Jakobs AT 29/103.

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terschaft anzusehen wäre. Das vom BGH für diese Lösung angeführte Argument, „Grundlage der Haftung des pflichtwidrig untätigen Hintermannes“ sei „allein, dass das Handeln Dritter ihm wegen seiner Tatherrschaft zugerechnet“ werde (BGHSt 48 77, 90), verwechselt allerdings Voraussetzung und Rechtsfolge der Annahme mittelbarer Täterschaft und vermag deshalb nicht zu überzeugen.341 Tatsächlich nehmen beide Auffassungen im Ergebnis Täterschaft des „Hinter- 85 manns“ an; streitig ist allein die weitgehend akademische Entscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Täterschaft in Fällen des Unterlassens. Hierfür sollte das Spezifikum der mittelbaren Täterschaft maßgeblich sein, nämlich die Steuerung des tatbestandlichen Geschehens mit Hilfe eines menschlichen „Werkzeugs“.342 Von einer solchen Steuerung kann man aber bei bloßer Passivität des Hintermanns nicht sprechen: Er setzt den Anderen nicht für seine Zwecke ein, sondern lässt dessen Handeln nur zu. Daher sollte man in den Unterlassungsfällen nicht von mittelbarer Täterschaft sprechen, sondern den Aufsichtspflichtigen als Alleintäter (durch Unterlassen) für die Verwirklichung des Tatbestandes durch die von ihm zu überwachende Person zur Verantwortung ziehen.343 3. Aktive Teilnahme am Unterlassungsdelikt. Zu der Unterlassungstat eines Ga- 86 ranten kann ein Anderer aktiv anstiften oder Beihilfe leisten,344 etwa indem ein Unbeteiligter dem hilfspflichtigen Feuerwehrmann dazu rät, an der Rettung eines Menschen aus dem brennenden Haus nicht mitzuwirken, oder indem er ihn vor seinem Vorgesetzten versteckt, damit er nicht zum Retten herangezogen wird345 (wodurch jeweils der Tod des Opfers nicht abgewendet wird). Das Verhalten des Anstifters und des Gehilfen wird in den Fällen, in denen für den Täter § 13 eingreift, als aktives Tun angesehen;346 sie sind daher wegen Anstiftung oder Beihilfe zu dem jeweils vom Täter verwirklichten Straftatbestand zu verurteilen, ohne dass ihnen die Strafmilderungsmöglichkeit nach § 13 Abs. 2 zugute kommt.347 Angesichts des Umstandes, dass dem „aktiven“ Teilnehmer trotz des Unterlassungs- 87 charakters der Haupttat die Strafrahmenverschiebung nach § 13 Abs. 2 nicht gewährt wird, drängt sich die Frage auf, ob seine Strafe dann immerhin nach § 28 Abs. 1 zu mildern ist. Da der Teilnehmer selbst nicht in der besonderen Pflichtenstellung des Garanten steht und ihn der Anruf zum Schutz des gefährdeten Tatobjekts daher weniger intensiv trifft als den Unterlassungstäter, sprechen die besseren Argumente für die ganz

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341 Kritisch daher auch Knauer NJW 2003 3101, 3102; Sch/Schröder/Heine/Weißer § 25 Rdn. 60. 342 Siehe etwa Roxin AT II § 25 Rdn. 45: Mittelbare Täterschaft setzt voraus, dass man „sich eines anderen bedient und dessen Person derart für seine Ziele einsetzt, daß man durch seine Instrumentalisierung mittelbar das Geschehen beherrscht“ (Parenthesen weggelassen). 343 Ebenso Mosenheuer S. 119 ff; Sch/Schröder/Heine/Weißer § 25 Rdn. 57–60. 344 Das ist heute unstreitig; vgl. Roxin AT II § 31 Rdn. 101; Stein SK Vor § 13 Rdn. 62; Stratenwerth/Kuhlen AT § 14 Rdn. 20 f. 345 Möglich ist – bei bestehender Garantenpflicht – auch eine Beihilfe durch Unterlassen zur Unterlassungstat, etwa wenn es ein von der Feuerwehr beauftragter Fahrer in der im Text beschriebenen Situation pflichtwidrig unterlässt, den dienstunwilligen Feuerwehrmann rechtzeitig zum Einsatzort zu fahren. In diesem Fall kann dem Gehilfen eine doppelte Strafmilderung (nach § 27 Abs. 2 S. 2 und § 13 Abs. 2) gewährt werden. 346 Derjenige, der zu einem nicht von § 13 erfassten Unterlassungstatbestand (z.B. §§ 138, 323c) anstiftet oder Beihilfe leistet, wird selbstverständlich wegen Teilnahme an dem jeweiligen Unterlassungstatbestand bestraft. 347 So BGH NStZ 1984 452, 453; Sch/Schröder/Bosch Rdn. 64; SSW/Kudlich Rdn. 48. Insoweit zutreffend die Annahme von Armin Kaufmann S. 193, dass das „Abstiften von der Gebotserfüllung“ ein Begehungsdelikt verwirkliche.

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überwiegende Auffassung, die dem Nicht-Garanten, der zur Unterlassungstat anstiftet oder zu ihr hilft, die Vergünstigung des § 28 Abs. 1 gewährt.348 Es handelt sich bei der Garantenstellung ungeachtet der Tatsache, dass sie sich (etwa in Ingerenz-Fällen) als kurzfristig-situativ darstellen kann, nicht nur um ein „besonderes“, sondern auch um ein „persönliches“ Merkmal, da sich die Garantenpflicht nicht aus der Gefährdungssituation des Rechtsguts als solcher ergibt, sondern gerade aus der besonderen Beziehung des konkreten Täters zu dem vom Tatbestand geschützten Objekt, sei es als Schutz- oder als Überwachungspflichtiger. Den Autoren, die hinsichtlich der Anwendung von § 28 Abs. 1 zwischen Schutz- und Überwachungsgaranten differenzieren möchten,349 ist zuzugeben, dass der Inhaber einer Überwachungspflicht keine dauernde Beziehung zu dem angegriffenen Objekt hat. Da die beiden Arten von Garantenpflichten schwer voneinander abzugrenzen sind und sich teilweise auch überschneiden, sollte man aber auch die bloß über die zu beaufsichtigende Person oder Sache vermittelte „besondere“ Beziehung zum bedrohten Objekt für § 28 Abs. 1 ausreichen lassen. 4. Teilnahme durch Unterlassen 88

a) Anstiftung durch Unterlassen. Dass jemand durch bloße Untätigkeit bei einem Anderen den Entschluss zu einer Straftat weckt, dürfte nicht häufig vorkommen, da Anstiftung grundsätzlich Kommunikation verlangt (die freilich auch in „beredtem Schweigen“ liegen kann). Denkbar ist aber die Situation, dass ein Überwachungsverpflichteter eine Anstiftungshandlung der von ihm zu kontrollierenden Person nicht unterbindet, z.B. dass der Leiter einer Strafvollzugsanstalt einen Brief, in dem ein Gefangener einen Dritten zur Begehung einer Straftat auffordert, bewusst nicht anhält. In einem solchen Fall spricht nichts dagegen, Anstiftung durch Unterlassen zu bejahen, da das pflichtgemäße Verhalten des Garanten gerade das „Bestimmtwerden“ des Dritten zu einer Straftat verhindert hätte und seine Untätigkeit somit dem Unrecht einer aktiven Anstiftung entspricht.350 b) Beihilfe durch Unterlassen

aa) Abgrenzung zur Unterlassungstäterschaft. Sehr unterschiedlich wird die Situation beurteilt, dass ein Garant die aktive Begehung einer Straftat durch einen Anderen nicht verhindert. Hier kommt einerseits Unterlassungstäterschaft des Garanten, andererseits Beihilfe (durch Unterlassen) zur Tat des Anderen in Frage. Eine Auffassung nimmt in den Fällen, in denen der Aktivtäter strafrechtlich verant90 wortlich ist, stets Beihilfe des Garanten an. Begründet wird dies damit, dass die Tatherrschaft bei dem Handelnden liege und der Unterlassende nur „Randfigur des Tatgeschehens“ sei, so dass das Unterlassen gegenüber der aktiven Begehung in jedem Fall gerin89

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348 In diesem Sinne etwa Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 26 Rdn. 151; Gaede NK Rdn. 28; Hoyer SK § 28 Rdn. 35 (aufgrund eines abweichenden Verständnisses von § 28); Roxin AT II § 27 Rdn. 68; Sch/Schröder/Heine/Weißer § 28 Rdn. 19; Stratenwerth/Kuhlen AT § 14 Rdn. 22; Vogler FS Lange 265, 279 ff; aA Freund MK Rdn. 263 f; Gropp AT S. 434; Köhler AT S. 550; Stein SK Vor § 13 Rdn. 62. Der BGH hat die Frage ausdrücklich offen gelassen (BGHSt 41 1, 4). 349 Herzberg GA 1991 161 (Anwendbarkeit von § 28 nur bei Beschützergaranten); ähnlich Jakobs AT 29/112. 350 Ebenso Bloy JA 1987 490; Herzberg S. 125 f; Jakobs AT 29/104; Roxin AT II § 26 Rdn. 87; SSW/Kudlich Rdn. 50; Stein SK Vor § 13 Rdn. 61; aA Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 26 Rdn. 28; Freund MK Rdn. 285 ff; Gaede NK Rdn. 28; Maurach/Gössel/Zipf § 51 Rdn. 48; Sch/Schröder/Heine/Weißer § 26 Rdn. 5.

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geres Gewicht besitze.351 Dieses Argument geht freilich an der Wertung des § 13 vorbei, der für die Täterschaft des Garanten gerade keine aktive Steuerung des Geschehens verlangt. Die entgegengesetzte Position nehmen die Autoren ein, die den Garanten, der die 91 Tatbestandsverwirklichung durch einen Dritten zulässt, grundsätzlich als Täter eines Unterlassungsdelikts betrachten. Auf Bestrafung wegen Beihilfe soll nach dieser Auffassung nur dann ausgewichen werden, wenn dem Garanten die persönlichen Voraussetzungen oder subjektiven Elemente fehlen, die der jeweilige Tatbestand für Täterschaft voraussetzt (z.B. Vermögensbetreuungspflicht bei § 266, Täuschungsabsicht bei § 267).352 Begründet wird diese Auffassung mit dem Charakter der Unterlassungsdelikte als „Pflichtdelikte“ – wer die ihm obliegende strafbegründende Pflicht verletzt, könne nur Täter sein.353 Das ist freilich zu dogmatisch gedacht und geht an der Besonderheit der hier vorliegenden Konstellation vorbei. Denn der Garant, der mit einer fremden Straftat konfrontiert wird, befindet sich meist in einer schwierigeren Situation als derjenige, der zugunsten des bedrohten Objekts tätig werden muss, um es vor Naturgewalten, technischen Risiken oder eigener Unachtsamkeit zu schützen – im erstgenannten Fall muss sich der Garant einem zur Begehung einer Straftat entschlossenen Menschen in den Weg stellen, sei es der von ihm zu überwachenden Person selbst, sei es einem Dritten, von dem ein Angriff auf den Schutzbefohlenen des Garanten ausgeht. Das Handeln, das von dem Garanten verlangt wird, ist deshalb mit besonderen Risiken verbunden, so dass die Schwelle zum Tätigwerden generell höher liegt als bei Handlungspflichtigen in anderen Situationen.354 Dies spricht gegen eine schematische Einordnung dieser Fälle als Unterlassungstäterschaft. Manche Autoren differenzieren nach dem Gegenstand der Garantenpflicht. Teil- 92 weise wird nach diesem Kriterium derjenige, der eine Schutzpflicht vernachlässigt, grundsätzlich als Unterlassungstäter angesehen,355 während bloßer Gehilfe sein soll, wer einer Überwachungspflicht nicht nachkommt.356 Hier bleibt freilich die Frage offen, weshalb gerade der Gegenstand der Garantenpflicht über die Frage von Täterschaft oder

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351 So Gallas JZ 1960 686, 687; Jescheck/Weigend § 64 III 5; Lackner/Kühl/Kühl § 27 Rdn. 5; im Ansatz auch Hoffmann-Holland ZStW 118 (2006) 620, 633 ff (der Täterschaft nur bei „situationsunabhängigen“ Garantenpflichten annimmt) sowie Mosenheuer S. 194 f. Eingehende Kritik an dieser Lehre bei Roxin AT II § 31 Rdn. 152 ff. 352 Frisch FS Rogall 121, 141 f; Gaede NK Rdn. 26; Roxin AT II § 31 Rdn. 140 ff; Stein SK Vor § 13 Rdn. 61; Stratenwerth/Kuhlen AT § 14 Rdn. 23 ff; im Ergebnis ähnlich die „Zurechnungslehre“ von Haas ZIS 2011 392, 396 f (der Beihilfe nur dann annimmt, wenn der vom Garanten zu überwachende Handelnde selbst nur Beihilfe leistet). 353 Roxin AT II § 31 Rdn. 141; ähnlich Sánchez-Vera S. 147 ff. Becker HRRS 2009 242, 248 f. modifiziert diese Auffassung dahingehend, dass nur derjenige Täter sein soll, der „im unmittelbaren Angesicht der Tatbestandsverwirklichung“, d.h. nachdem der aktive Täter zur Tatbestandsverwirklichung angesetzt hat, untätig bleibt. Diese Einschränkung vermag jedoch normativ nicht zu überzeugen, da es für das Gewicht des Unterlassens nicht auf die Erfolgsnähe des Verhaltens des aktiven Täters, sondern auf die Handlungsmöglichkeit des Unterlassenden ankommt. 354 Das übersieht Geppert Jura 1999 266, 271, der gegen die bloße Gehilfenstrafbarkeit einwendet, es sei nicht einzusehen, weshalb derjenige, der seinen Schutzbefohlenen einer Naturgewalt ausliefert, als Täter eines Unterlassungsdelikts bestraft werde, während derjenige, der einen anderen Menschen nicht an der Schädigung des Schützlings hindert, nur Gehilfe sein soll. Wie der Text bereits Schroeder S. 53. 355 Ausnahmen sollen nur dann gelten, wenn Täterschaft bei dem betreffenden Tatbestand etwa wegen des Fehlens einer Sondereigenschaft oder speziellen Absicht nicht in Frage kommt; Roxin AT II § 31 Rdn. 140 ff. 356 So insbesondere Gropp AT S. 447; Herzberg S. 259 ff; Sch/Schröder/Eisele Rdn. 55; Sch/Schröder/Heine/Weißer Vor § 25 Rdn. 95 ff. Zu dem umgekehrten Ergebnis gelangt Krüger ZIS 2011 1, 7 f, der den auch hier (Rdn. 94) vertretenen Gedanken der potentiellen Tatherrschaft zugrunde legt und diese bei dem Beschützergaranten verneint.

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bloßer Teilnahme entscheiden soll. Eine differenzierende Auffassung stellt auf eine genauere Analyse der Pflicht des Garanten ab: Ist er dazu verpflichtet, den tatbestandlichen Erfolg als solchen zu verhindern, so macht ihn seine pflichtwidrige Untätigkeit zum Täter; dagegen begeht er nur Beihilfe, wenn er lediglich zur Erschwerung des Angriffs eines Dritten auf das Opfer verpflichtet ist.357 Es ist allerdings fraglich, ob es tatsächlich Fälle gibt, in denen sich die Pflicht des Garanten darin erschöpft, auf einen aktiv handelnden Dritten mäßigend einzuwirken; jedenfalls dann, wenn er faktisch dazu in der Lage ist, den Erfolg abzuwenden, wird der Überwachungsgarant diese Möglichkeit von Rechts wegen wahrnehmen müssen,358 so dass das genannte Kriterium in aller Regel zu täterschaftlicher Strafbarkeit führen müsste. Die Rechtsprechung folgt für die Abgrenzung zwischen Täterschaft und Beihilfe ih93 rem subjektiven Ansatz: Es komme darauf an, ob bei „wertender Betrachtung“ die innere Haltung des Unterlassenden als Ausdruck eines Täterwillens aufzufassen ist, der sich die Tat des Anderen zueigen mache, oder ob er sich dem Willen des Handelnden unterordnen wolle (so BGH NJW 1992 1246, 1247; NStZ 2009, 321).359 Da im Falle der „Organisationsherrschaft“ die Verantwortlichkeit mit größerem Abstand zum Ausführungsort der Tat zunehme, hat der BGH etwa die Mitglieder des Politbüros der DDR aufgrund „wertender Betrachtung“ als Täter (durch Unterlassen) der Tötungen an der Grenze der DDR angesehen (BGHSt 48 77, 97). Gegen diesen Ansatz – wie generell gegen die Tendenz der Rechtsprechung zu „subjektiven“ Abgrenzungen – wird vor allem eingewandt, dass sich mit ihm beliebige Ergebnisse begründen lassen.360 Es mag allerdings gerade die Absicht der Revisionsgerichte sein, die schwierige Frage der Unterscheidung zwischen Täterschaft und Teilnahme der „wertenden Betrachtung“ der Tatgerichte zu überlassen, ohne sich allzu stark in deren einzelfallbezogene Rechtsfindung einzumischen. 94 Stellungnahme. Dem BGH ist darin Recht zu geben, dass es nicht angebracht wäre, alle Fälle, in denen ein Garant die Begehung einer Straftat durch einen Dritten zulässt, gleich zu behandeln. Dass in manchen dieser Fälle die Untätigkeit wegen der besonderen Pflichtenstellung des Garanten das Gewicht von Täterschaft hat, bringt das Gesetz selbst zum Ausdruck, etwa in §§ 340, 357 sowie in § 4 VStGB. In anderen Fällen liegt dagegen die Hürde für ein erfolgsabwendendes Eingreifen des Garanten gegenüber einem aktiven Straftäter so hoch, dass es unangemessen wäre, ihn ebenso wie diesen zu bestrafen, wenn er das bedrohte Rechtsgut nicht hinreichend verteidigt. Will man nicht – wie der BGH – allein zu einer ungesteuerten „wertenden Betrachtung“ Zuflucht nehmen, so kann der auch sonst bei der Unterscheidung von Täterschaft und Teilnahme hilfreiche Topos der „Tatherrschaft“ einen Anhaltspunkt geben. Dies freilich nicht in dem vordergründigen Sinne, dass der Unterlassende mangels Tatherrschaft niemals Täter sein könnte, wie dies die Gehilfen-Lösung (Rdn. 90) annimmt;361 maßgeblich kann aber die

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357 So Murmann FS Beulke 181, 190 ff. Ähnlich („Reichweite der Sonderverantwortlichkeit“ als Kriterium) Freund MK Rdn. 269 ff. 358 Das räumt auch Murmann FS Beulke 181, 191 ein. Freund MK Rdn. 276 nimmt (im Ergebnis zu Recht) täterschaftliche Körperverletzung durch den Hundebesitzer an, der den von einem Dritten auf das Opfer gehetzten Kampfhund nicht zurückpfeift; weshalb dann aber bei dem untätig bleibenden Besitzer einer Schusswaffe, die von einem Dritten zur Tötung des Opfers verwendet werden soll, nur Beihilfe zur Tötung gegeben sein soll (aaO Rdn. 272), leuchtet nicht recht ein. 359 Das Reichsgericht hatte (in RGSt 66 71, 74 f) noch eine „Würdigung äußerer und innerer Merkmale“ verlangt. Allein auf die subjektive „Willensrichtung“ wird dann vom BGH bereits in den Entscheidungen BGHSt 4 20, 21 und 13 162, 166 abgestellt; ebenso in der neueren Rechtsprechung BGHSt 43 381, 396; BGH StV 1986 59; NStZ 1992 31; NStZ 2012 379. 360 Siehe z.B. Heinrich AT Rdn. 1213; Kühl AT § 20 Rdn. 35; Roxin AT II § 31 Rdn. 132. 361 Insofern berechtigte Kritik bei Roxin AT II § 31 Rdn. 133; Sch/Schröder/Heine/Weißer Vor § 25 Rdn. 93.

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potentielle Tatherrschaft des Garanten sein.362 Sie hängt davon ab, wie leicht oder wie schwer es dem Garanten möglich gewesen wäre, die „Tatherrschaft“ zu übernehmen, das Geschehen also so zu gestalten, dass die Tatbestandsverwirklichung vermieden worden wäre.363 Danach gilt im Einzelnen Folgendes: Täterschaftliche364 Strafbarkeit wegen Unter- 95 lassens kommt schon nach allgemeinen Regeln nur dann in Betracht, wenn der Garant bei Aufbietung seiner individuellen Kräfte (einschließlich des faktisch möglichen Hinzuziehens Dritter) in der Lage gewesen wäre, den Erfolg abzuwenden (siehe Rdn. 65 f). Aber auch wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, wird der Garant, der mit einem entschlossenen Straftäter (dies kann eine von ihm zu beaufsichtigende Person oder ein Dritter sein, der seinen Schutzbefohlenen angreift) konfrontiert ist, in der Regel nicht die potentielle Tatherrschaft in dem Sinne besitzen, dass er – vergleichbar mit einem Aktivtäter – das Geschehen ohne besondere Anstrengung steuern könnte, wenn er sich nur zum Eingreifen entschlösse. Einem erfolgreichen Eingreifen des Garanten steht vielmehr häufig die Barriere des aktiven Täterwillens des Dritten im Wege, die zu überwinden ungleich schwerer ist als von eigener Tatmacht aktiv Gebrauch zu machen. Daher ist es im Regelfall der Untätigkeit gegenüber einem kriminellen Angriff angemessen, den Garanten nur als Gehilfen zu bestrafen. Es sind freilich auch Fälle denkbar, in denen der Garant die Tatbestandsverwirklichung ohne Mühe unterbinden könnte, und zwar insbesondere dann, wenn er dem Aktivtäter körperlich und/oder psychisch in der Weise überlegen ist, dass er ihn (potentiell) „in der Hand hat“ – etwa wenn der Vater seine 14 jährige Tochter durch schlichtes verbales Eingreifen daran hindern könnte, ein fremdes Kind zu schlagen. Ähnliches gilt auch dann, wenn der Garant zwar nicht selbst dem tatentschlossenen Dritten in den Arm fallen kann, es ihm aber nach den konkreten Gegebenheiten leicht möglich ist, den drohenden Erfolg abzuwenden, etwa indem er bei einem erst für die Zukunft angedrohten Angriff auf einen Schutzbefohlenen telefonisch die Polizei verständigt (siehe auch Rdn. 83 zu Fällen der Mittäterschaft). In solchen eher atypischen Fällen ist der Garant aufgrund der ihm ohne weiteres zur Verfügung stehenden Abwehrmittel „Herr des Geschehens“, so dass täterschaftliche Unterlassungsstrafbarkeit angemessen ist, wenn er bewusst von diesen Möglichkeiten keinen Gebrauch macht.365 Es ist einzuräumen, dass das Kriterium der potentiellen Tatherrschaft nicht immer eindeutige Lösungen vorgibt, sondern eine Bewertung der Tatsituation verlangt;

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362 Im Ansatz übereinstimmend Heinrich AT Rdn. 1214 (allerdings mit der Folgerung, dass grundsätzlich Täterschaft des Unterlassenden gegeben sei); Satzger Jura 2011 432, 434; Sch/Schröder/Heine/Weißer Vor § 25 Rdn. 102; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 1034. Ähnliche Ansätze auch bei Li in Stam/Werkmeister, Der Allgemeine Teil S. 77, 93 f (die täterschaftsbegründende potentielle Tatherrschaft annimmt, wenn der Unterlassende den Erfolg verhindern und nicht nur erschweren könnte); Maurach/Gössel/Zipf § 50 Rdn. 43; Mosenheuer S. 196 ff (der den Unterlassenden bei überlegener „Hemmungsherrschaft“ als Täter einstuft und diese Herrschaft dann bejaht, wenn die Schuld des Handelnden fehlt oder eingeschränkt ist); Schwab S. 189 ff (der freilich die Lösung auf die Entsprechensklausel stützt). 363 Murmann FS Beulke 181, 183 Fn. 12 wendet gegen diese Lösung ein, dass der mit der Erfüllung einer Pflicht verbundene Aufwand wenig über die rechtliche Qualität der Pflichtverletzung aussage. Die Pflicht ist allerdings für den Täter wie für den Gehilfen dieselbe, nämlich die Erfüllung des Tatbestandes zu verhindern; wenn man hier eine Differenzierung zwischen Täterschaft und Beihilfe vornehmen will, so kommt also nur eine graduelle Abstufung in Frage (ähnlich wie sie ja auch bei Begehungsdelikten zwischen Mittätern und Gehilfen erfolgt). 364 Zur Strafbarkeit als Gehilfe in den Fällen der bloßen Möglichkeit, den Erfolgseintritt zu erschweren, siehe Rdn. 96. 365 Kein Fall der unterlassenen Deliktshinderung, sondern schlichte Unterlassungstäterschaft des Garanten liegt vor, wenn der Angriff des Dritten bereits endgültig abgeschlossen ist und es nur darum geht, dessen Folgen abzuwenden (Beispiel: Der Vater findet sein Kind durch einen Einbrecher verletzt vor und unternimmt nichts zu seiner Rettung).

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aber dieses Problem besteht für alle Fälle der Abgrenzung zwischen Täterschaft und Beihilfe. 96

bb) „Kausalität“ der Beihilfe. Beihilfe durch Unterlassen setzt nach der Rechtsprechung nicht voraus, dass der Gehilfe den Erfolg mit Sicherheit hätte abwenden können; es soll vielmehr genügen, dass er durch die gebotene Handlung den Erfolgseintritt hätte erschweren können (BGHSt 48 301, 302).366 Diese Auffassung entspricht der Annahme der Rechtsprechung, dass auch der aktive Gehilfe keinen sine-qua-non-Beitrag zur Tatbestandsverwirklichung durch den Täter liefern müsse, sondern dass die „Förderung“ genüge.367 Es ist freilich schon beim Begehungsdelikt nicht zu sehen, worin das sachliche Substrat eines bloßen Förderns liegen soll, das sich nicht als kausaler Beitrag in der tatsächlichen Ausführung der Haupttat durch den Täter wiederfindet;368 und dies gilt erst recht für die Beihilfe durch Unterlassen. Unternimmt z.B. der Garant für die Gesundheit eines Kindes nichts, während das Kind von einem Dritten geschlagen wird, so ist sein Nichtstun entweder für den Erfolgseintritt hypothetisch kausal – wenn das dem Garanten mögliche Eingreifen das Kind vor den Schlägen bewahrt hätte – oder nicht; ein bloßes nicht-kausales „Fördern“ ist kaum vorstellbar. Hätte der untätig gebliebene Gehilfe den Erfolg auch durch aktives Eingreifen nicht verhindern können, dann kann ihm dieser Erfolg auch auf der Ebene der Beihilfe nicht zugerechnet werden (siehe dazu Rdn. 72); es ist allenfalls – strafloser – Versuch der Beihilfe gegeben.369 Dies gilt auch für die ohnehin zweifelhafte Konstruktion der „psychischen“ Beihilfe: Auch hier wird man verlangen müssen, dass die Handlung, die dem Garanten geboten und möglich war (etwa: auf den Aktivtäter verbal mäßigend oder besänftigend einzuwirken), dessen Tat wirklich abgewendet und nicht nur vorübergehende Bedenken geweckt hätte.370 Der Nachweis, dass der Garant den Aktivtäter durch das gebotene Eingreifen tatsächlich von der Ausführung der Tat hätte abhalten können, wird allerdings häufig als schwierig angesehen. Insofern wird man sich jedoch bei der Beurteilung der hier vorliegenden hypothetischen Abläufe („Was wäre gewesen, wenn …?“) mit Schlussfolgerungen aus der – auf den konkreten Sachverhalt angewandten – Lebenserfahrung begnügen können und an die Annahme, dass die Erfüllung der Handlungspflicht tatsächlich die generell zu erwartenden Folgen gehabt hätte, keine überhöhten Anforderungen stellen dürfen (vgl. Rdn. 72).371

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366 Ebenso schon RGSt 71 176, 178; (andeutungsweise) BGHSt 2 129, 134 f; BGH NJW 1953 1838. Zustimmend Hoyer SK § 27 Rdn. 10; Jakobs AT 29/102a; Ranft ZStW 97 (1985) 268, 281 ff. 367 Erstmals (aber ohne Begründung) RGSt 58 113, 114 f; ferner BGHSt 2 129, 130 f; BGH StV 1995 524; NJW 2001 2409, 2410; siehe aber auch BGH NStZ 1995 27, 28, wo der BGH verlangt, dass „die Förderung durch den Gehilfen in irgendeiner Weise für die Haupttat kausal geworden“ ist. Zustimmend zur Rechtsprechung Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 28 Rdn. 96 ff; Wessels/Beulke/Satzger Rdn. 818. 368 Gegen die „Förderungs“-Formel daher auch die überwiegende Lehre; siehe etwa Hoyer SK § 27 Rdn. 6 f; Joecks MK § 27 Rdn. 26 ff; Lackner/Kühl/Kühl § 27 Rdn. 2; Roxin AT II § 26 Rdn. 184 ff; Sch/Schröder/Cramer/Heine/Weißer § 27 Rdn. 6. 369 Ebenso Roxin AT II § 31 Rdn. 169 (der allerdings anders entscheidet, wenn dem Gehilfen eine ex post feststellbare Risikominderung möglich gewesen wäre; aaO Rdn. 170); Sch/Schröder/Cramer/Heine/Weißer § 27 Rdn. 7. AA Li in Stam/Werkmeister, Der Allgemeine Teil S. 77, 92 f, die jedoch auch für Beihilfe durch Unterlassen voraussetzt, dass „gerade das Unterlassen den Tathergang beeinflusst“ hat; wenn das der Fall ist. liegt jedoch hypothetische Kausalität der gebotenen Handlung für die konkrete Tat vor. 370 So meint das Reichsgericht in der Entscheidung RGSt 73 52, 54, die Geliebte des Ehemannes hätte die von ihm geplante Tötung der Ehefrau dadurch verhindern oder „hemmen“ müssen, dass sie ihm klarmachte, dass sie einen Mörder nicht heiraten werde. Das trifft zu, reicht jedoch nur dann zur Bejahung von Beihilfe durch Unterlassen aus, wenn anzunehmen ist, dass der Ehemann die so bewirkte „Hemmung“ nicht leichthin beiseite geschoben hätte. 371 Beispiel: Hat es der Garant unterlassen, bei einer seinem Schützling drohenden Straftat die Polizei anzurufen, wird man – wenn nicht außergewöhnliche Umstände vorliegen – seinen Einwand, dass die

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XI. Fahrlässiges Unterlassen Fahrlässigkeitstatbestände, die – wie etwa §§ 222, 229 – den Eintritt eines Erfolges 97 (siehe Rdn. 13 ff) voraussetzen, können nach § 13 auch durch Unterlassen eines Handlungspflichtigen verwirklicht werden.372 Der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit liegt in diesen Fällen zumeist die mangelnde Aufmerksamkeit des Handlungspflichtigen in Bezug auf die Situation zugrunde, die sein Eingreifen erfordert: Der Garant erkennt z.B. – obwohl ihm dies möglich wäre – nicht, dass ein von ihm zu schützendes Objekt in Gefahr gerät, dass die faktischen Voraussetzungen seiner Garantenpflicht gegeben sind, dass er eine Erfolgsabwendungsmöglichkeit besitzt oder welche von mehreren Handlungsmöglichkeiten die erfolgversprechende ist. Bleibt der Garant aufgrund einer solchen (vorwerfbaren) Fehleinschätzung untätig oder greift er zu einem Mittel, das die Tatbestandsverwirklichung nicht zu vermeiden mag,373 so trifft ihn der Vorwurf der Fahrlässigkeit, nämlich sich nicht hinreichend um das gefährdete Rechtsgutsobjekt gekümmert zu haben, obwohl er dazu Anlass hatte.374 Der Erfolgseintritt wird ihm – ebenso wie beim Vorsatztatbestand – dann zugerechnet, wenn der Täter den Erfolg durch die gebotene Handlung abgewendet hätte und wenn der objektiven Zurechnung keine Hindernisse (z.B., dass der Erfolg autonom durch einen Dritten oder das Opfer selbst herbeigeführt wurde oder dass er außerhalb der Zweckrichtung des verletzten Handlungsgebots lag) entgegenstehen. Bewertet der Täter die von ihm richtig erkannte Situation normativ falsch (hält sich z.B. der Vater eines 16-Jährigen nicht für verpflichtet, gegen Straftaten seines Sohnes einzuschreiten), so liegt kein Fahrlässigkeits- sondern ein Vorsatzdelikt vor (vgl. BGHSt 16 155), und es kann allenfalls ein Verbotsirrtum (§ 17) gegeben sein. XII. Rechtsfolge: Fakultative Strafmilderung (§ 13 Abs. 2) 1. Grundlage der Strafmilderung. Die Möglichkeit, die Strafe des Täters nach § 49 98 Abs. 1 zu mildern, bezieht sich nur auf die Unterlassungsfälle, die von § 13 erfasst sind. Das sind nach der hier vertretenen Auffassung (siehe Rdn. 14 f) diejenigen Tatbestände oder Tatbestandsmodalitäten, die ein Verhalten beschreiben, das auch durch aktives Tun verwirklicht werden kann.375 Der Regelung des § 13 Abs. 2 liegt der Gedanke zugrunde, dass der Unrechtsgehalt der bloßen Passivität auch unter Berücksichtigung der besonderen Rechtspflicht, die dem Garanten obliegt, typischerweise (aber nicht notwendig in jedem Fall) geringer ist als bei der aktiven Herbeiführung des „Erfolges“: Wer aktiv auf das geschützte Objekt einwirkt, zeigt eine deutlichere Missachtung sozialethischer

_____ Polizei möglicherweise auf einen Anruf nicht reagiert hätte, ohne großen Beweisaufwand unbeachtet lassen können. 372 Monographisch hierzu Fünfsinn. 373 Vgl. zu den verschiedenen Möglichkeiten fahrlässigen Unterlassens Gaede NK Rdn. 21; Roxin AT II § 31 Rdn. 197 ff; Stein SK Vor § 13 Rdn. 38.; Eingehend zur Sorgfaltspflichtverletzung bei Mitarbeitern der Kinder- und Jugendhilfe Dießner S. 313 ff. 374 Siehe zu diesem Konzept der Fahrlässigkeit Duttge MK § 15 Rdn. 120 ff; Weigend FS Gössel 129, 131 ff. 375 In manchen Fällen (z.B. §§ 123, 225, 340) stellt der Gesetzgeber in einem Tatbestand aktive und passive Modalitäten (z.B. § 340: „begeht oder begehen lässt“) nebeneinander und sieht für beide denselben Strafrahmen vor. In diesem Fall ist § 13 auf die „passive“ Modalität nicht anwendbar, da diese (z.B. „begehen lässt“) ja nicht durch aktives Tun verwirklicht werden kann. Zumindest im Ergebnis übereinstimmend BGHSt 36 227, 228; Freund MK Rdn. 301 f; Gaede NK Rdn. 65; Stein SK Rdn. 89. Dagegen möchte Roxin AT II § 31 Rdn. 250 die Strafmilderungsmöglichkeit auf alle Fälle des Unterlassens anwenden, die im Besonderen Teil geregelt sind.

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Anforderungen und muss größeren inneren Widerstand überwinden als derjenige, der angesichts einer Gefahr untätig bleibt.376 Auch ist – auf der Ebene der Schuld – das Abstandnehmen von aktiver Schädigung ceteris paribus eher zuzumuten als das Eingreifen zur Erfolgsabwendung.377 2. Entscheidung über die Anwendung des milderen Strafrahmens. Bei der Entscheidung darüber, ob der nach § 13 Abs. 2 gemilderte Strafrahmen angewandt werden soll, hat das Gericht nach überwiegender Ansicht nur die „unterlassensbezogenen“ Gesichtspunkte zu würdigen, d.h. diejenigen Faktoren, die etwas darüber besagen, ob das Unterlassen im Vergleich zu einer entsprechenden Begehungstat weniger schwer wiegt (BGH StV 1982 112; NStZ 1998 245).378 Dagegen soll nach einer Entscheidung des BGH von 1998 eine Gesamtwürdigung aller Umstände des Falles vorzunehmen sein.379 Damit gleicht der BGH die Anwendung von § 13 Abs. 2 an die Handhabung ähnlicher Fälle von Strafrahmenverschiebungen (z.B. §§ 21, 23 Abs. 2) an, wo ebenfalls eine „Gesamtwürdigung“ verlangt wird.380 100 Zuzustimmen ist jedoch der früher herrschenden Auffassung. Für sie sprechen nicht nur Erwägungen der Strafzumessungssystematik, sondern auch die Überlegung, dass kein Anlass besteht, Umstände, die bei einem Begehungstäter nur bei der Strafzumessung i.e.S. berücksichtigt werden können, beim Unterlassungstäter schon bei der Festlegung des Strafrahmens zur Geltung zu bringen. Es kommt also für die Frage, ob die Strafe aus dem gemilderten Strafrahmen entnommen wird, nur darauf an, ob das Verhalten des Täters (wie in der Regel) leichter wiegt als die aktive Herbeiführung des Erfolges unter sonst vergleichbaren Umständen oder ob der Unrechts- und Schuldgehalt seines Unterlassens (ausnahmsweise) ebenso zu bewerten ist wie wenn er aktiv gehandelt hätte (vgl. Rdn. 98). Anwendungsfälle. Als Fälle, in denen das Gericht nicht auf den nach § 49 Abs. 1 101 herabgesetzten Strafrahmen zurückgreifen soll, werden im Schrifttum diejenigen genannt, in denen der Garant eine „regelhaft“ zu erwartende Handlung nicht vornimmt.381 Es dürfte freilich weniger auf die „Regelhaftigkeit“ der gebotenen Handlung ankommen (die man z.B. auch für den – jedes Mal Überwindung kostenden – Einsatz eines Feuerwehrmanns annehmen könnte),382 als vielmehr darauf, dass sich der Täter nicht in einer für ihn überraschenden oder konflikthaften Situation befindet, sondern eine zur Erfolgsabwendung gebotene Mitwirkung verweigert, die ihn „wenig kostet“, auf die er innerlich eingestellt ist und die deshalb ohne Weiteres von ihm erwartet werden kann. In diese Kategorie gehören etwa – wenn nicht besondere Umstände vorliegen – die Versorgung eines Kleinkindes durch die Eltern oder die Erfüllung regulärer, nicht mit persönlichem 99

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376 Beckschäfer S. 50, 89 ff (unter Heranziehung sozialpsychologischer Erkentnisse); Kuhlen FS Puppe 669, 680 f; Loos FS Samson 81, 86 ff. Kritisch Donner S. 105 ff; Freund FS Herzberg 225, 243 ff; Jakobs AT 29/123 f (der eine Strafmilderung nur in manchen Fällen „institutioneller“ Garantenpflichten gewähren möchte; aaO 29/125); Lerman GA 2008 78. 377 Auf den geringeren Unrechts- und Schuldgehalt des Unterlassens verweisen auch Roxin AT II § 31 Rdn. 239 und Sch/Schröder/Bosch Rdn. 64. 378 Übereinstimmend Freund MK Rdn. 304; Gaede NK Rdn. 66; Sch/Schröder/Bosch Rdn. 64; Stein SK Rdn. 90. 379 BGH NJW 1998 3068 m. abl. Anm. Rudolphi JR 1999 293; dem BGH zust. SSW/Kudlich Rdn. 57. 380 Siehe etwa BGHSt 16 351; 17 266 (zum Versuch); BGH NStZ 1985 357 (zu § 21). Gegen diesen Ansatz des BGH z.B. Jescheck/Weigend § 83 VI 2 b; Sch/Schröder/Lenckner/Perron/Weißer § 21 Rdn. 17 ff; Streng Rdn. 688 f. 381 Roxin AT II § 31 Rdn. 242; Sch/Schröder/Bosch Rdn. 64. Generell gegen eine Anwendung der Strafmilderung bei „Beschützergarantenstellungen“ Beckschäfer S. 105 ff. 382 Insoweit mit Recht kritisch auch Jakobs AT 29/124 Fn. 239.

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Risiko verbundener beruflicher Pflichten, z.B. die Weiterleitung einer Strafanzeige durch den Polizeibeamten (§ 258a) oder einer Verdachtsmeldung durch den Bankangestellten (§ 261 Abs. 1). Umgekehrt sollte von der Strafmilderungsmöglichkeit immer dann Gebrauch gemacht werden, wenn die Erfüllung der Garantenpflicht vom Täter mehr verlangt hätte „als den normalen Einsatz rechtstreuen Willens“ (so BGH NJW 1982 393; StV 1987 527, 528), etwa eine rasche Entscheidung in einer unvorhergesehenen Lage, die Überwindung erheblicher äußerer Widerstände, die Hintanstellung gewichtiger eigener Interessen oder die Inkaufnahme eines persönlichen Risikos.383 Die Anwendung des gemilderten Strafrahmens kommt auch bei Fahrlässigkeitsdelikten durchaus in Betracht,384 denn auch dort kann die zutreffende Analyse einer Situation, in der man zum Handeln verpflichtet ist, wesentlich größere Anforderungen stellen als die Einhaltung der allgemeinen Richtlinie, nicht ohne vorherige Prüfung der Situation potentiell schädigende Aktivitäten zu entfalten (Beispiele: Die Eltern sehen angesichts unklarer Symptome davon ab, ihr erkranktes Kind ins Krankenhaus bringen – fahrlässige Unterlassung – ; die Eltern geben dem kranken Kind aufs Geratewohl ein noch im Medikamentenschrank vorhandenes, für das Kind schädliches Präparat – fahrlässiges Tun –). 3. Strafzumessung. Innerhalb des (eventuell nach §§ 13 Abs. 2 i.V.m. § 49 Abs. 1 102 gemilderten) Strafrahmens sind für die Bemessung der Strafe die üblichen schuld- und präventionsbezogenen Erwägungen (vgl. § 46) anzustellen. Wenn der Strafrahmen abgesenkt wurde, darf allerdings wegen des Doppelverwertungsverbots (§ 50) die Tatsache, dass „nur“ Unterlassen vorliegt, nicht erneut zugunsten des Täters berücksichtigt werden.385

§ 14 Handeln für einen anderen Zweiter Abschnitt. Die Tat Handeln für einen anderen Weigend/Schünemann § 14 https://doi.org/10.1515/9783110300413-019

(1) Handelt jemand als vertretungsberechtigtes Organ einer juristischen Person oder als Mitglied eines solchen Organs, 2. als vertretungsberechtigter Gesellschafter einer rechtsfähigen Personengesellschaft oder 3. als gesetzlicher Vertreter eines anderen, so ist ein Gesetz, nach dem besondere persönliche Eigenschaften, Verhältnisse oder Umstände (besondere persönliche Merkmale) die Strafbarkeit begründen, auch auf den Vertreter anzuwenden, wenn diese Merkmale zwar nicht bei ihm, aber bei dem Vertretenen vorliegen. (2) Ist jemand von dem Inhaber eines Betriebes oder einem sonst dazu Befugten 1. beauftragt, den Betrieb ganz oder zum Teil zu leiten, oder 2. ausdrücklich beauftragt, in eigener Verantwortung Aufgaben wahrzunehmen, die dem Inhaber des Betriebes obliegen, 1.

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383 Mit guten Gründen für eine zwingende Anwendung des gemilderten Strafrahmens in Fällen der Ingerenz Dencker FS Stree/Wessels 159, 169 f. 384 Ebenso Stein SK Rdn. 89. Dagegen ist nach OLG Stuttgart NStZ 2006 450 bei Fahrlässigkeitsdelikten eine Strafrahmenverschiebung „regelmäßig abzulehnen“; ähnlich Sch/Schröder/Bosch Rdn. 64; strikt gegen eine Anwendung von § 13 Abs. 2 in Fahrlässigkeitsfällen Roxin AT II § 31 Rdn. 243. 385 Roxin AT II § 31 Rdn. 244 f.

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Weigend/Schünemann

§ 14 | Zweiter Abschnitt. Die Tat

und handelt er auf Grund dieses Auftrages, so ist ein Gesetz, nach dem besondere persönliche Merkmale die Strafbarkeit begründen, auch auf den Beauftragten anzuwenden, wenn diese Merkmale zwar nicht bei ihm, aber bei dem Inhaber des Betriebes vorliegen. Dem Betrieb im Sinne des Satzes 1 steht das Unternehmen gleich. Handelt jemand auf Grund eines entsprechenden Auftrages für eine Stelle, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt, so ist Satz 1 sinngemäß anzuwenden. (3) Die Absätze 1 und 2 sind auch dann anzuwenden, wenn die Rechtshandlung, welche die Vertretungsbefugnis oder das Auftragsverhältnis begründen sollte, unwirksam ist. Schünemann

Schrifttum Allgemein: Achenbach Das Zweite Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität, NJW 1986 1835; ders. Die Sanktionen gegen die Unternehmensdelinquenz im Umbruch, JuS 1990 601; ders. Diskrepanzen im Recht der ahndenden Sanktionen gegen Unternehmen, Festschrift Stree/Wessels (1993) 545; ders. Ahndende Sanktionen gegen Unternehmen und die für sie handelnden Personen im deutschen Recht, in Schünemann/de Figueiredo Dias (1995) 283; ders. Schwerpunkte der BGH-Rechtsprechung zum Wirtschaftsstrafrecht, BGH-Festgabe Wissenschaft (2000), 593; ders. Ausweitung des Zugriffs bei ahndenden Sanktionen gegen die Unternehmensdelinquenz, wistra 2002 441; ders. Zurechnung unternehmensbezogenen Handelns, in Achenbach/Ransiek/Rönnau (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht 4. Aufl. (2015) 27; Amelung (Hrsg.) Individuelle Verantwortung und Beteiligungsverhältnisse in bürokratischen Organisationen des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft (2000) (zit. Verantwortung); Arens Voraussetzungen der faktischen Geschäftsührerstellung in einer GmbH, wistra 2007 35; Bandemer Die Zentralgestalt des Täters bei § 14 StGB, JurBüro 1993 70; Bergmeier Die strafrechtliche Haftung des Betriebsbeauftragten, AbfallR 2003 139; Biletzki Strafrechtlicher Gläubigerschutz bei fehlerhafter Buchführung durch den GmbH-Geschäftsführer, NStZ 1999 537; Bittmann Das Ende der Interessentheorie – Folgen auch für § 266 StGB?, wistra 2010 8; ders./Pikarski Strafbarkeit der Verantwortlichen der Vor-GmbH, wistra 1995 91; Blauth „Handeln für einen anderen“ nach geltendem und kommendem Strafrecht (1968); Bosch Organisationsverschulden im Unternehmen (2002); Bottke Empfiehlt es sich, die strafrechtliche Verantwortlichkeit für Wirtschaftsstraftaten zu verstärken? wistra 1991 81; ders. Täterschaft und Gestaltungsherrschaft (1992) (zit. TuG); ders. Haftung aus Nichtverhütung von Straftaten Untergebener in Wirtschaftsunternehmen de lege late (1994); ders. Straftäterschaftliche Beteiligung Übergeordneter an von Untergeordneten begangenen Straftaten im Rahmen Organisierter Kriminalität, Festschrift Gössel (2002); ders. Verantwortlichkeit bei Wirtschaftsstraftaten, wistra 1991 81; ders. Das Wirtschaftsstrafrecht in der BRD – Lösungen und Defizite (2. Teil), wistra 1991 52; Brammsen Strafbare Untreue des Geschäftsführers bei einverständlicher Schmälerung des GmbH-Vermögens? DB 1989 1609; ders. Kausalitäts- und Täterschaftsfragen bei Produktfehlern, Jura 1991 533; Brand Untreue und Bankrott in der KG und der GmbH & Co. KG (2010); ders. Abschied von der Interessenformel – und was nun?, NStZ 2010 9; Brand/Reschke Die Firmenbestattung im Lichte des § 283 Abs. 1 Nr. 8 StGB, ZIP 2010 2134; Brunner Der Täterkreis bei Kartellordnungswidrigkeiten (1986); Bruns Können die Organe juristischer Personen, die im Interesse ihrer Körperschaften Rechtsgüter Dritter verletzen, bestraft werden? StAbh Heft 295 (1931) (zit. Organe); ders. Die Organeigenschaft des Täters als Strafhinderungsgrund beim Handeln zugunsten der Körperschaft, DJ 1934 1589; ders. Die Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken (1938) (zit. Befreiung); ders. Über die Organ- und Vertreterhaftung im Strafrecht, JZ 1954 14; ders. Faktische Betrachtungsweise und Organhaftung, JZ 1958 461; ders. Ungeklärte materiell-rechtliche Fragen des Contergan-Prozesses, Festschrift Heinitz (1972) 317; ders. Grundprobleme der strafrechtlichen Organ- und Vertreterhaftung (§ 14 StGB, § 9 OWiG), GA 1982 1; ders. Die sog. „tatsächliche“ Betrachtungsweise im Strafrecht, JR 1984 133; Büning Die strafrechtliche Verantwortung faktischer Geschäftsführer einer GmbH (2004); Bundesministerium der Justiz (Hrsg.) Schlußbericht der Sachverständigenkommission zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität (1980) (zit. Schlussbericht); Busch Unternehmen und Umweltstrafrecht (1997); Cadus Die faktische Betrachtungsweise (1984); Ceffinato Legitimation und Grenzen der strafrechtlichen Vertreterhaftung nach § 14 StGB (2012); Chen Das Garantensonderdelikt (2006); Dehne-Niemann Ein Abgesang auf die Interessentheorie bei der Abgrenzung von Un-

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treue und Bankrott, wistra 2009 417; Demuth-Schneider Die besondere Bedeutung des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten für Betrieb und Unternehmen, BB 1970 642; Deutscher/Körner Strafrechtlicher Gläubigerschutz in der Vor-GmbH, wistra 1996 8; Dierlamm der faktische Geschäftsführer im Strafrecht – ein Phantom? NStZ 1996 153; Ebenroth/Willburger Die strafrechtliche Verantwortung des Vorstandes für Umweltstrafsachen und gesellschaftliche Vermeidungsstrategien, BB 1991 1941; Engisch Empfiehlt es sich, die Strafbarkeit der juristischen Person gesetzlich vorzusehen? Verhandlungen des 40. Deutschen Juristentages in Hamburg 1953 Bd. II (1954) E 7; Fleck Anm. zum Urteil des BGH vom 29.5.1987 – 3 StR 242/86, EWiR 1987 987; Fleischer Vertreterhaftung bei Bankrotthandlungen einer GmbH, NJW 1978 96; Flum Der strafrechtliche Schutz der GmbH gegen Schädigungen mit Zustimmung der Gesellschafter (1990); Fuhrmann Die Bedeutung des „faktischen Organs“ in der strafrechtlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, Festschrift Tröndle (1989) 139; Gallas Der dogmatische Teil des Alternativentwurfs, ZStW 80 (1968) 1; Gehrmann Verkehrsrechtliche und gewerberechtliche Bewertungen von Pflichtverletzungen gewerblicher Kraftfahrzeughalter, GewArch. 1981 209; Göhler Zur bußgeldrechtlichen Verantwortung der juristischen Person bei aufgespaltener Zuständigkeit ihrer Organe, wistra 1991 207; Gössel Überlegungen zu § 14 StGB, in H.-J. Hirsch (Hrsg.) Deutsch-Spanisches Strafrechtskolloquium 1986 (1987) 97; Grau Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des für einen anderen handelnden Täters, DJ 1935 740; U. Groß/Pfohl Zur Strafbarkeit von Bürgermeistern im Bereich kommunaler Abwasserreinigungsanlagen – Zugleich Anm. zu OLG Saarbrücken NStZ 1991 531, NStZ 1992 119; Gübel Die Auswirkungen der faktischen Betrachtungsweise auf die strafrechtliche Haftung faktischer GmbH-Geschäftsführer (1994); Habenicht Praktische Aspekte einer Neuausrichtung der strafrechtl. Organ- u. Vertreterhaftung (§ 14 StGB), JR 2011 17; Habetha Bankrott u. strafrechtl. Organhaftung (2014); ders. Bankrott und Untreue in der Unternehmenskrise, NZG 2012 1134; ders./Klatt Die bankrottstrafrechtl. Organhaftung nach Aufgabe der Interessentheorie, NStZ 2015 677; Hanft Strafrechtliche Probleme im Zusammenhang mit der Einmann-GmbH (2006); Heine Die Strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen (1995); Hennecke Bankrottstrafrechtliche Organ- und Vertreterhaftung (2016); Hermanns/Kleier Grenzen der Aufsichtspflicht in Betrieben und Unternehmen (1987); Herzberg Die Problematik der „besonderen persönlichen Merkmale“ im Strafrecht, ZStW 88 (1976) 68, 110; ders. Rechtliche Verantwortung nach Arbeitsunfällen, DB 1981 690; ders. Die Verantwortung für Arbeitsschutz und Unfallverhütung im Betrieb (1984); Hildesheim Die strafrechtliche Verantwortung des faktischen Mitgeschäftsführers in der Rechtsprechung des BGH, wistra 1993 166; Holthausen Täterschaft und Teilnahme bei Verstößen gegen Genehmigungspflichten des KWKG und AWG, NStZ 1993 568; Hoyer Anm. zum Beschluß des OLG Düsseldorf vom 16.10.1987 – 5 Ss 193/87 (200/87/I), NStZ 1988 369; ders. Anm. zum Urteil des OLG Saarbrücken vom 27.6.1991 – Ss 84/90 (164/90), NStZ 1992 387; Hsü Garantenstellung des Betriebsinhabers zur Verhinderung strafbarer Handlungen seiner Angestellten? (1986); Iburg Zur Unterlassungstäterschaft im Abfallstrafrecht bei „wilden“ Müllablagerungen, NJW 1988 2338; Joerden Urteilsanmerkung JZ 2001 312; Kaligin Anm. zum Urteil des BGH vom 22.9.1982 – 3 StR 287/82, BB 1983 790; An. Kaufmann Möglichkeiten der sanktionsrechtlichen Erfassung von (Sonder-)Pflichtverletzungen in Unternehmen (2003); Kawan Die strafrechtliche Organ- und Vertreterhaftung (§ 14 StGB) in ihrem normlogischen Begründungszusammenhang. Diss. Hamburg 1992; Kohlmann Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des GmbH-Geschäftsführers (1990); Kohlmann/Ostermann Die Verletzung der Aufsichtspflicht in Betrieben und Unternehmen-Pläne für eine verfassungsrechtliche Reform, wistra 1990 121; Kratzsch Das „faktische Organ“ im Gesellschaftsrecht, ZGR 1985 506; Kuhlen Strafhaftung bei unterlassenem Rückruf gesundheitsgefährdender Produkte, NStZ 1990 566; ders. Zum Umweltstrafrecht in der Bundesrepublik Deutschland, Wirtschaft und Verwaltung 1991 181, 215; ders. Die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme, insbesondere bei den sogenannten Betriebsbeauftragten, in Amelung, Verantwortung, 70; ders. Personifizierte Unternehmensdelinquenz pp., wistra 2016 465; Labsch Die Strafbarkeit des GmbHGeschäftsführers im Konkurs der GmbH, wistra 1985 1, 59; ders. Einverständliche Schädigung des Gesellschaftsvermögens und Strafbarkeit des GmbH-Geschäftsführers – BGH NStZ 1984 118, JuS 1985 602; Langer Das Sonderverbrechen (1972); ders. Zum Begriff der „besonderen persönlichen Merkmale“, Festschrift Lange (1976) 197; Lindemann Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des „faktischen Geschäftsführers“, Jura 2005 305; Löffeler Organ- und Vertreterhaftung – Waffe im Kampf gegen die Wirtschaftskriminalität? JZ 1988 286; Maurer Strafbewehrte Handlungspflichten des GmbH-Geschäftsführers in der Krise wistra 2003 174; Mitsch Täterschaft und Teilnahme bei der „Verbandsstraftat“, NZWiSt 2014 1; Möhrenschlager Der Regierungsentwurf eines Zweiten Gesetzes zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität (Schluß), wistra 1983 49; ders. Bespr. von Weber: Strafrechtliche Verantwortung von Bürgermeistern und leitenden Verwaltungsbeamten im Umweltrecht (1988), JZ 1989 631; Montag Die Anwendung der Strafvorschriften

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des GmbH-Rechts auf faktische Geschäftsführer (1994) (zit. Anwendung); W. Müller Zur Haftung der Amtsträger und politischen Mandatsträger im Umweltstrafrecht, UPR 1990 367; Nagler Die Teilnahme am Sonderverbrechen (1903); Neudecker Die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Mitglieder von Kollegialorganen (1995); H. Otto Bankentätigkeit und Strafrecht (1983); ders. Anm. zum Urteil des BGH vom 17.4.1984 – 1 StR 736/83, StV 1984 462; ders. Bespr. von Herzberg: Die Verantwortung für Arbeitsschutz und Unfallverhütung im Betrieb (1984), StV 1987 231; H. Otto/Tiedemann Literaturbericht, ZStW 111 (1999) 673; Peter Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Kollegialorganmitgliedern der AG und der GmbH für das Nichteinschreiten bei Gründungsschwindelhandlungen anderer Kollegialorganmitglieder (1990); Pohl Der Vertretungsbezug der Handlung i.S.d. § 14 StGB (2013); dies. Bankrott durch faktisches Vertreterhandeln, wistra 2013 329; Puppe Anm. zum Urteil des BGH vom 6.7.1990 – 2 StR 549/89 (BGHSt. 37, 107), JR 1992 30; Radtke Die strafrechtliche Organ- und Vertreterhaftung (§ 14 StGB) vor der Neuausrichtung?, JR 2010 233; ders. Organ- und Vertreterhaftung aus strafrechtlicher Sicht, ZIP 2016 1993; Ransiek Zur deliktischen Eigenhaftung des GmbH-Geschäftsführers aus strafrechtlicher Sicht, ZGR 1992 203; ders. Unternehmensstrafrecht (1997); Reichelt Untreue und Bankrott (2011); H. Richter Der Konkurs der GmbH aus der Sicht der Strafrechtspraxis, GmbH Rdsch 1984 113, 137; ders. Strafbarkeit des Insolvenzverwalters, NZI 2002 121; Rimmelspacher Strafrechtliche Organ-, Vertreter- und Verwalterhaftung, erörtert am Beispiel der Vollstreckungsvereitelung, JZ 1967 472; ders. Schlußwort zu: Die strafrechtliche Organ- und Vertreterhaftung, JZ 1967 700; Rogall Dogmatische und kriminalpolitische Probleme der Aufsichtspflichtverletzung in Betrieben und Unternehmen (§ 130 OWiG), ZStW 98 (1986) 573; ders. Die Strafbarkeit von Amtsträgern im Umweltbereich (1991) (zit. Strafbarkeit); ders. Die strafrechtliche Organhaftung, in Amelung, Verantwortung, 145 ff (zit. Organhaftung); ders. Totgesagte lebenlänger! – Zur Aufgabe der Interessentheorie durch den BGH, Festschrift Paeffgen, S. 361; Rudolphi Strafrechtliche Verantwortlichkeit der Bediensteten von Betrieben für Gewässerverunreinigungen und ihre Begrenzung durch den Einleitungsbescheid, Festschrift Lackner (1987) 863; Samson Probleme strafrechtlicher Produkthaftung, StV 1991 182; H. Schäfer Die Entwicklung der Rechtsprechung zum Konkursstrafrecht, wistra 1990 81; K. Schäfer Handeln für einen anderen, in Ndschr. GrStrK 4 (1958) 545; Schall Grund und Grenzen der strafrechtlichen Geschäftsherrenhaftung, Festschrift Rudolphi (2004) 267; ders. Systematische Übersicht der Rechtsprechung zum Umweltstrafrecht (3. Teil) NStZ 1997 577; Schmid/Fridrich Strafrechtliche Einstandspflichten, in MüllerGugenberger (Hrsg.) Wirtschaftsstrafrecht, 6. Aufl. (2015) § 30; K. Schmidt Zur Verantwortung von Gesellschaften und Verbänden im Kartell-Ordnungswidrigkeitenrecht, wistra 1990 131; ders. Die Strafbarkeit „faktischer Geschäftsführer“ wegen Konkursverschleppung als Methodenproblem, Festschrift Rebmann (1989) 419; Schmidt Anm. zum Urteil des LG Krefeld vom 22.9.1982 – 3 StR 287/82, LM Nr. 5 zu § 84 GmbHG; Schmidt-Salzer Produkthaftung Band I Strafrecht 2. Aufl. (1988); R. Schmitt Strafrechtliche Maßnahmen gegen Verbände (1958); ders. Die strafrechtliche Organ- und Vertreterhaftung, JZ 1967 698; ders. Die strafrechtliche Organ- und Vertreterhaftung, JZ 1968 123; Schmucker Die strafrechtl. Organ- u. Vertreterhaftung, ZJS 2011 30; F. Schneider Die Organ- und Vertreterhaftung im deutschen Strafrecht (2015); O. Schröder Der erweiterte Täterkreis der Organhaftungsbestimmungen pp., Diss. Berlin 1997; H.-J. Schroth Der Regelungsgehalt des 2. Gesetzes zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität im Bereich des Ordnungswidrigkeitenrechts, wistra 1986 158; Schünemann Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte (1971) (zit. Unterlassungsdelikte); ders. Zur Kritik der Ingerenz-Garantenstellung, GA 1974 231; ders. Besondere persönliche Verhältnisse und Vertreterhaftung im Strafrecht, ZSchwR 1978 131; ders. Unternehmenskriminalität und Strafrecht (1979) (zit. Unternehmenskriminalität I); ders. Die Bedeutung der „Besonderen persönlichen Merkmale“ für die strafrechtliche Teilnehmer- und Vertreterhaftung, Jura 1980 354, 568; ders. Strafrechtsdogmatische und kriminalpolitische Grundfragen der Unternehmenskriminalität, wistra 1982 41; ders. Die Unterlassungsdelikte und die strafrechtliche Verantwortlichkeit für Unterlassungen, ZStW 96 (1984) 287; ders. Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft nach der Strafrechtsreform im Spiegel des Leipziger Kommentars und des Wiener Kommentars 2. Teil: Schuld und Kriminalpolitik, GA 1986 293; ders. „Handeln für einen anderen“ und „Kriegswaffenkontrollgesetz“ (zit. KWKG), in Krekeler/Tiedemann/ Ulsenheimer/Weinmann (Hrsg.) Handwörterbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts Loseblatt 1985 ff (Mai 1987); ders. Die strafrechtliche Verantwortung der Unternehmensleitung im Bereich von Umweltschutz und technischer Sicherheit, in Breuer/Kloepfer/Marburger/Schröder (Hrsg.), Umweltschutz und technische Sicherheit im Unternehmen (1994) 137 (zit. Unternehmensleitung); ders. Die Strafbarkeit der juristischen Person aus deutscher und europäischer Sicht, in Schünemann/Suárez (1994) 265 (zit. Juristische Person); ders. Zum gegenwärtigen Stand der Dogmatik der Unterlassungsdelikte in Deutschland, in Gimbernat u.a. (1995) 49; ders. Deutsche Wiedervereinigung. Die Rechtseinheit Arbeitskreis Strafrecht,

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Band III: Unternehmenskriminalität (1996) (zit. Unternehmenskriminalität II); ders. Criticising the Notion of a Genuine Criminal Law Against Legal Entities (zit. Legal entities), in Eser/Heine/Huber (Hrsg.), Criminal Responsibility of Legal and Collective Entities (1999) 225; ders. Placing the Enterprise under Supervision (zit. Supervision) („Guardianship“) as a Model Sanction against Legal and Collective Entities, ibid. 293; ders. Unternehmenskriminalität, Festgabe BGH IV (2000) 621 (zit. Unternehmenskriminalität III); ders. Las prescripciones sobre la autoría en la ley boliviana sobre la base de las modificaciones al codigo penal del 10 de marzo de 1997 y los problemas fundamentales del derecho penal de empresas económicas, in Gómez Méndez (Hrsg.), Sentido y contenidos del sistema penal en la globalización, Santa Fe de Bogotá 2000, S. 285; ders. Vom qualifiziert faktischen GmbH-Konzern zum Schutz der abhängigen GmbH durch das Vermögensstrafrecht, LM H. 5/2002 § 309 AktG 1965 Nr. 1, Bl. 901; ders. Die kriminalpolitischen und dogmatischen Grundfragen der Unternehmenskriminalität, Festschrift Rudolphi (2004) 295; ders. Organuntreue. Der Mannesmann-Fall als Exempel? (2004) (zit. Organuntreue); ders. Herrschaft über die Hilflosigkeit des Rechtsguts oder Pflichtverletzung als Strafgrund der Sonderdelikte?, GA 2017 678; Schulte Abgrenzung von Bankrott, Gläubigerbegünstigung und Untreue bei der KG, NJW 1983 1773; Schwarz Die Aufgabe der Interessenformel des BGH – Alte Besen kehren gut?, HRRS 2009 341; Spring Die strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung (2009); U. Stein Das faktische Organ (1984); dies. Die Normadressaten der §§ 64, 84 GmbHG und die Verantwortlichkeit von Nichtgeschäftsführern wegen Konkursverschleppung, ZHR 1984 207; Stockburger Unternehmenskrise und Organstrafbarkeit wegen Insolvenzstraftaten (2011); Stratenwerth Qualifizierte Veruntreuung und Organhaftung, SchwZStr. 1979 90; Strohn Faktische Organe – Rechte, Pflichten, Haftung, DB 2011 158; Tiedemann Literaturbericht Nebenstrafrecht einschließlich Ordnungswidrigkeitenrecht, ZStW 83 (1971) 792; ders. Wirtschaftsstrafrecht und Wirtschaftskriminalität Bd. 1 (1976); ders. Grundfragen bei der Anwendung des neuen Konkursstrafrechts, NJW 1977 777; ders. Anm. zum Urteil des BGH vom 28.4.1981 – 5 StR 692/80, JR 1981 470; ders. Die strafrechtliche Vertreter- und Unternehmenshaftung, NJW 1986 1842; ders. GmbH-Strafrecht 5. Aufl. (2010) (zit. GmbHG); Tzouma Die Strafbarkeit des „faktischen Organs“ im Unternehmensstrafrecht de lege lata et ferenda (2016); Wach Der Bankerutt und die verwandten Delikte VDB VIII (1906) 1; Walter Die Pflichten des Geschäftsherrn im Strafrecht (2000); Weber Grundsätze des Wirtschaftsstrafrechts, ZStW 96 (1984) 376; ders. Das Zweite Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität (2. WiKG), NStZ 1986 481; ders. Die Verantwortlichkeit von Bürgermeistern und leitenden Verwaltungsbeamten im Umweltrecht (1988); ders. Anm. zum Urteil des BGH vom 6.11.1986 – 1 StR 327/86, StV 1988 16; Weimar Grundprobleme und offene Fragen um den faktischen Geschäftsführer, GmbHR 1997 473, 538; Wessing Strafbarkeitsgefährdungen für Berater, NJW 2003 2265; Wiesener Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Stellvertretern und Organen (1971); Winkelbauer Strafrechtlicher Gläubigerschutz im Konkurs der KG und der GmbH & Co. KG, wistra 1986 17; ders. Anm. zum Urteil des BGH vom 6.11.1986 – 1 StR 327/86 (= BGHSt. 34, 221), JR 1988 33; Witteck Der Betreiber im Umweltstrafrecht (2004).

Entstehungsgeschichte Die Vorschrift ist durch das Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (EGOWiG) vom 24.5.1968 (BGBl. I S. 503 ff) als § 50a in das StGB eingestellt und durch das Zweite Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität (2. WiKG) vom 15.5.1986 (BGBl. I S. 721ff) sowie durch das EU-Rechtsinstrumente-AG vom 22.8.2002 (BGBl. I S. 3387 ff) erneut geringfügig geändert worden. § 50a geht wiederum zurück auf § 14 E 62, der folgenden Wortlaut gehabt hatte: „(1) Handelt jemand als vertretungsberechtigtes Organ einer juristischen Person, als Mitglied eines solchen Organs oder als gesetzlicher Vertreter eines anderen, so ist ein Gesetz, nach dessen Tatbestand besondere persönliche Eigenschaften, Verhältnisse oder Umstände (besondere persönliche Merkmale) die Strafbarkeit begründen, auch auf den Vertreter anzuwenden, wenn diese Merkmale zwar nicht bei ihm, aber bei dem Vertretenen vorliegen. (2) Abs. 1 ist auch dann anzuwenden, wenn die Rechtshandlung, welche die Vertretungsbefugnis begründen sollte, unwirksam ist.“ Diese Entwurfsvorschrift ist später durch den Sonderausschuss für die Strafrechtsreform auf vertretungsberechtigte Gesellschafter einer Personenhandelsgesellschaft und auf die Beauftragten der §§ 50a Abs. 2 a.F., 14 Abs. 2 StGB ausgedehnt worden 945

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(zum Meinungsstreit darüber Rdn. 5). Das geschah im Zusammenhang mit der Einführung des neuen Ordnungswidrigkeitengesetzes, in dem die auf diesem Gebiet besonders wichtige Problematik des Handelns für einen anderen in einer dem Strafrecht entsprechenden Weise geregelt werden sollte. Aufgrund der anhaltenden Kritik an der Lückenhaftigkeit des § 14 StGB1 war im Regierungsentwurf eines 2. WiKG im Anschluss an den Referentenentwurf von Göhler, der die Empfehlungen der Sachverständigenkommission zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität (Schlussbericht S. 34 f) und das Gutachten von Schünemann (Unternehmenskriminalität I S. 227 ff) kombiniert und fortentwickelt hatte, folgende doppelte Erweiterung des Abs. 2 Satz 1 vorgeschlagen worden: „Ist jemand von dem Inhaber eines Betriebes oder einem sonst dazu Befugten beauftragt, in eigener Verantwortung Aufgaben wahrzunehmen, die dem Inhaber des Betriebes obliegen, und handelt er aufgrund dieses Auftrages, so ist ein Gesetz, nach dem besondere persönliche Merkmale die Strafbarkeit begründen, auch auf den Beauftragten anzuwenden, wenn diese Merkmale zwar nicht bei ihm, aber bei dem Inhaber des Betriebes vorliegen.“ (BTDrucks. 10/318 S. 4). Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der nach geltendem Recht geforderte ausdrückliche Auftrag zur Wahrnehmung bestimmter Pflichten häufig nicht erteilt werde, vielmehr würden in der Regel im Rahmen der unerlässlichen Delegation in einem Betrieb den einzelnen Personen bestimmte Aufgaben zugewiesen, für deren Erfüllung sie verantwortlich einzustehen hätten, ohne dass dabei im einzelnen die Pflichten genannt würden, die sich von selbst aus dem Verantwortungsbereich ergäben. „Das Wesen des Auftrages besteht also erfahrungsgemäß bei einer betrieblichen Delegation in der Zuweisung der Aufgaben und des damit verbundenen Verantwortungsbereichs, nicht jedoch in der Übertragung von strafrechtlich abgesicherten Pflichten. … Deshalb sollte der Auftrag, anstelle des Inhabers in einem bestimmten Bereich des Betriebes eigenverantwortlich tätig zu werden, automatisch in diesem Rahmen die strafrechtliche Verantwortlichkeit auslösen.“ Durch die gewählte Formulierung werde „die strafrechtliche Verantwortlichkeit künftig allein nach funktionellen Merkmalen abgegrenzt, die letztlich für diese Verantwortlichkeit sachlich bestimmend sein müssen.“ Nachdem sich der Bundestagsausschuss für Wirtschaft als Bremsklotz strafbarkeitsausdehnender Reformen betätigte, ist in dem vom Bundestag verabschiedeten 2. WiKG außerhalb der Leitung oder Teilleitung eines Betriebes die Forderung der „Ausdrücklichkeit“ der Beauftragung beibehalten worden, jedoch aus dem Regierungsentwurf folgende Veränderung am Wortlaut des § 14 Abs. 2 Satz 1 StGB beibehalten worden: In Nr. 2 heißt es statt zuvor „ausdrücklich beauftragt, in eigener Verantwortung Pflichten zu erfüllen, die den Inhaber des Betriebes treffen“, nunmehr: „ausdrücklich beauftragt, in eigener Verantwortung Aufgaben wahrzunehmen, die dem Inhaber des Betriebes obliegen“. Nachdem die im Schrifttum geforderte weitere Ausdehnung weder im Zeichen der Schaffung eines neuen Ordnungswidrigkeitenrechts noch unter der Flagge der Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität oder der Umweltkriminalität gelungen war, brachten erst mehrere europäische Vorhaben etwas politische Schubkraft im Dienst der Bemühungen um einen verstärkten Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaft (Achenbach wistra 2002 441). Durch das EU-Rechtsinstrumente-AG wurde die ursprüngliche Beschränkung auf Personenhandelsgesellschaften beseitigt und nunmehr jede „rechtsfähige Personengesellschaft“ als Bezugspunkt einer strafrechtlichen Vertreterhaftung anerkannt.

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1 Eingehend Schünemann Unternehmenskriminalität I S. 140 ff, 171 f m.w.N.; Bruns GA 1982 1, 28 ff; Möhrenschlager wistra 1983 49, 50 m.w.N.; Weber ZStW 96 (1984) 396, 409.

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Gesetzesmaterialien Niederschriften 2 116–125, 219; 4 312–321, 545–563; E 62, Begr. BTDrucks. IV/650, S. 126–128; Protokolle des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, 5. Wahlp. 57. Sitzung v. 13.4.1967, S. 1096–1105 (zit. Prot); Entwurf des Einführungsgesetzes zum Ordnungswidrigkeitengesetz (zit. EEGOWiG) mit Begründung, BTDrucks. V/1319 S. 62–66; Regierungsentwurf eines 2. WiKG mit Begründung, BTDrucks. 10/318 S. 14–15; Bericht des Rechtsausschusses, BTDrucks. 10/5058 S. 23–25; Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Ausführung des Zweiten Protokolls vom 19.6.1997 zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, der Gemeinsamen Maßnahme betreffend die Bestechung im privaten Sektor vom 22.12.1998 und des Rahmenbeschlusses vom 29.5.2000 über die Stärkung des mit strafrechtlichen und anderen Sanktionen bewehrten Schutzes gegen Geldfälschung im Hinblick auf die Einführung des Euro mit Begründung, BTDrucks. 14/8998 S. 7f (zit. EU-Rechtsinstrumente-AG).

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II.

III.

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Übersicht Die Funktion der Vorschrift im rechtsgüterschützenden Strafrecht 1. Das Bedürfnis nach einer Organ- und Substitutenhaftung | 1 2. Der Ausgangspunkt des preußischen Obertribunals | 2 3. Lücken-, Organhaftungstheorie und faktische Betrachtungsweise | 3 4. Zweck des § 14 | 4 § 14 StGB im rechtspolitischen Meinungsstreit. Die Unklarheiten der gesetzlichen Konzeption 1. Rechtspolitischer Streit | 5 2. Fehlen einer fundierten Gesamtkonzeption | 6 a) Unklarer Anwendungsbereich | 7 b) Unklarer Rechtsgrund der Haftung | 8 c) Unklares Verhältnis zu § 28 | 9 Die strafrechtssystematische Bedeutung der Vertreterhaftung: Die Übernahme einer Garantenstellung als Grundgedanke des § 14 1. Formale Pflichttheorie | 10 2. Kritik der Pflichttheorie | 11 3. Übernahme einer Garantenstellung als Grund der Vertreterhaftung | 15 4. Verhältnis zur Geschäftsherrenhaftung | 17 5. Maßgeblichkeit des Außenverhältnisses | 19 6. Notwendigkeit einer materiellen Theorie des unechten Unterlassungsdelikts und die drei Interpretationsstufen der Vertreterhaftung | 20

IV.

V.

VI.

Die Strafbarkeit des Handelns für einen anderen als Ergebnis einer von § 14 unabhängigen Tatbestandsauslegung 1. Gemeindelikte und Sonderdelikte mit spezieller Täterbeschreibung | 21 a) Organisationsdelikte und Einzelaktsdelikte | 22 b) Sonderdelikte mit spezieller Regelung der Vertreterhaftung | 24 c) Vertreterdelikte und faktische Betrachtungsweise | 25 d) Amtsdelikte | 26 e) Unechte Unterlassungsdelikte | 27 2. Garantensonderdelikt und faktische Betrachtungsweise | 29 3. Zusammenfassung | 30 Die besonderen persönlichen Merkmale als Vertypung übertragbarer Garantenstellungen 1. Verhältnis zu § 28 a) Keine Reziprozität | 33 b) Unbrauchbarkeit des Kriteriums der Höchstpersönlichkeit | 35 2. Teilmengenverhältnis zwischen § 14 und § 28 | 37 3. Ausschluss der nichtgarantenbezogenen Sonderdelikte | 38 a) Ausschluss der eigenhändigen Delikte | 39 b) Ausschluss der subjektiven Tätermerkmale | 40 c) Überflüssige Kategorien der Eigenschaften oder Umstände | 41 Tatbestände, auf die § 14 Anwendung findet | 42

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§ 14 | Zweiter Abschnitt. Die Tat

VII. Der Vertreter nach § 14 Abs. 1 1. Die in § 14 Abs. 1 erfassten Fallgruppen | 45 2. Vertreter einer rechtsfähigen Personengesellschaft | 47 3. Sonstige gesetzliche Vertreter | 50 4. Das Handeln als Organ a) Interessentheorie gegen Funktionstheorie | 51 b) Relevanz der internen Geschäftsverteilung | 52 c) Das Zurechnungsmodell | 53 d) Aufgabe der Interessentheorie | 54 e) Kritik | 55 f) Richtige Lösung | 56 5. Mehrere Verpflichtete | 58 VIII. Die Substitutenhaftung nach § 14 Abs. 2 | 60 1. Der Auftrag zur Leitung oder Teilleitung eines Betriebes oder Unternehmens a) Betrieb und Unternehmen | 61 b) Betriebs(teil)leiter, -inhaber und Beauftragter | 63 2. Der Auftrag zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung betrieblicher Aufgaben | 66 3. Das auftragsgemäße Handeln für eine Stelle, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt | 70 4. Das Handeln „auf Grund des Auftrages“ | 71 Alphabetische Übersicht Amtsdelikte 26, 35 f, 70 Aussagedelikte 39 Bankrott 18, 42 Baugefährdung 22 Beauftragter 60 ff, 66 ff – u. Immissionen, Gewässerschutz und Abfälle 68 – u. Pflichtenübertragung 69 – u. Wahrnehmung von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung 70 Begründung der Vorschrift 1 ff, 10 ff besondere persönliche Merkmale 9, 33 ff – u. subjektive Umstände 40 – u. überflüssige Kategorien (Eigenschaften, Verhältnisse, Umstände) 41 – Verhältnis von §§ 14 u. 28, 33 ff Betreiben von Anlagen 23, 31, 68 Betrieb 61 Betriebsleiter, Teilleiter 62 f Doppelehe 39 Eigenhändige Delikte 38 f

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IX.

Die Verantwortlichkeit des Vertretenen, des Betriebsinhabers oder Auftraggebers | 72 X. Faktische Vertretungsverhältnisse 1. Zweck des § 14 Abs. 3 | 74 2. Die Garantentheorie als Basis der faktischen Vertretungsverhältnisse | 75 3. Reichweite des § 14 Abs. 3 | 76 4. Voraussetzungen der faktischen Geschäftsführung | 78 5. Das faktische Organ als primärer Normadressat | 80 6. Grenzen; Haftung des Strohmanns | 82 XI. Irrtumsfragen | 83 XII. Rechtsvergleichung und Reform 1. Ausländisches Recht | 84 a) Portugal, Spanien und Schweiz | 85 b) Österreich und Italien | 86 c) USA und England, Skandinavien, Niederlande und Frankreich | 87 2. Reform der Vertreterhaftung | 88 a) Einzelne Reformvorschläge | 89 b) Funktionsübernahme | 90 c) Einbettung in ein zukünftiges Unternehmensstrafrecht | 92

Einzelaktsdelikte 31 Ersatzvertretung, Theorie der 13 Exzesstaten 50, 65, 67 faktische Betrachtungsweise 3, 5, 24 f, 29 faktisches Organ 24, 74 ff faktische Vertretungsverhältnisse 24, 74 ff – Strohmann 82 Firmenbestattung 79 formale Pflichttheorie 10 f, 36 Funktionstheorie 52 Garantensonderdelikt 15 ff, 37 – und faktische Vertretungsverhältnisse 75 Garantentheorie 15 ff, 37 ff, 75 Geschäftsherrenhaftung 17, 72 f Gleichstellungsproblem 53 GmbH-Geschäftsführer 25 Grundlagen –, kriminalpolitische 1 ff, 10 ff –, entwicklungsgeschichtliche 2 f Handeltreiben 23 Hehlerei und „Ankaufen“ 22

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Herstellen 44 Interessentheorie 19, 51 ff Inverkehrbringen 22, 44 Irrtumsfragen 83 Juristische Person 45 ff – u. Betriebsleiter 61 ff – u. fehlerhafte Gründung 45 – und mehrere Vertreter 58 – Organe 46 – u. rechtsfähige Personengesellschaft 45 f Kritik der gesetzlichen Konzeption 6 ff Lückentheorie 3 nebenstrafrechtliche Vorschriften 1, 3, 43 Organhaftungstheorie 3 Organisationsdelikte 20 ff, 31 ff Outsourcing 67 Pfandkehr 24 Pflichtenteilhabe, Theorie der 13 reale(n) Verbandsperson, Theorie der 2 Rechtsvergleichung 84 ff Reflexivität des Wissens 31, 78 Reformdiskussion 88 ff Sonderdelikte mit spezieller Regelung 25 f Strohgeschäftsführer, Strohmann 82 Stufen der Anwendbarkeit von § 14 21, 32 Subjektive Tätermerkmale 40

Substitutenhaftung 1, 18, 60 ff unerlaubte Ausfuhr (§ 34 AWG) 22, 31 unerlaubtes Entfernen vom Unfallort 39 unerlaubter Umgang mit gefährlichen Abfällen 23 unerlaubte Veranstaltung von Glücksspiel und Lotterie 7, 22, 31 Übernahme einer Garantenstellung 14 Unterlassungsdelikt, unechtes 13 ff, 20, 27 ff, 32 – u. Garantensonderdelikt 15 ff – u. Herrschaft über den Grund des Erfolgs 20 Untreue 19, 24, 32 Vereiteln der Zwangsvollstreckung 18, 42 Verletzung von Privatgeheimnissen 26, 35 f Verletzung der Unterhaltspflicht 42 Vertreterdelikt 25, 80 Vertreterhaftung 10 ff, 45 ff – u. faktische Betrachtungsweise 24 – u. Funktionstheorie 52 – u. Geschäftsherrenhaftung 17 – u. Interessentheorie 51 – u. Sonderdelikte m. spezieller Regelung 22 ff – u. Übernahme einer Garantenstellung 15 Verwandtenbeischlaf 39 Vollstreckungsvereitelung 42 Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt 15, 32, 42, 56

I. Die Funktion der Vorschrift im rechtsgüterschützenden Strafrecht 1. Die Vorschrift ist aus dem Bedürfnis entstanden, denjenigen strafrechtlich fassen 1 zu können, der für einen anderen handelt, ohne die tatbestandsspezifische Täterqualifikation aufzuweisen, und ist deshalb nach verbreiteter Auffassung als ein Strafausdehnungsgrund zu verstehen, durch den zur Schließung von Strafbarkeitslücken der Täterkreis der Sonderdelikte erweitert wird.2 Diese Sicht trifft in historischer Hinsicht und aus der Perspektive des Besonderen Teils durchaus zu, muss aber um die moderne kriminalpolitische Erkenntnis ergänzt werden, dass die strafrechtliche Erfassung des vom Gesetzgeber sog. Handelns für einen anderen keine künstliche Erweiterung des Adressatenkreises der Verbotsnormen, sondern genau umgekehrt eine Realisierung der sachlogischen Bedingungen des Rechtsgüterschutzes in der modernen arbeitsteiligen Gesellschaft bedeutet, gegenüber denen die ursprüngliche Beschränkung des Täterkreises in den Sonderdelikten des Besonderen Teils und (vor allem!) des Nebenstrafrechts in dreifacher Weise unzeitgemäß und unzulänglich geworden ist: Wenn der Straftatbestand nicht – wie beim Gemeindelikt – jede rechtsgüterverletzende oder -gefährdende Handlung eines beliebigen Täters (des quivis ex populo) erfasst, sondern nur – wie bei den Sonderdelikten i.e.S. – die Handlungen eines bestimmten Täterkreises und dabei den tauglichen Täter (den intraneus) durch eine (i.d.R. dem Zivilrecht entlehnte) Statusbezeichnung kennzeichnet (beispielsweise durch die Schuldnerstellung bei der Vereitelung der Zwangsvollstreckung in § 288 StGB und dem Bankrott in § 283 StGB oder durch die

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2 Böse NK Rdn. 2; Sch/Schröder/Perron Rdn. 1; Hoyer SK Rdn. 6; Lackner/Kühl/Heger Rdn. 1; Radtke MK Rdn. 1.

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Stellung als Arbeitgeber beim Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt in § 266a StGB), so hat diese Rechtstechnik erstens immer dann eine innerlich unbegründete und für den Rechtsgüterschutz unerträgliche Strafbarkeitslücke zur Folge, wenn der Statusinhaber zwar zivilrechtlich rechtsfähig, aber nicht strafrechtlich handlungs- oder schuldfähig ist – was nicht nur bei strafunmündigen Minderjährigen gemäß § 19 StGB, sondern auch bei allen juristischen Personen der Fall ist. 3 Dieses erste kriminalpolitische Defizit der Sonderdelikte, das aus der Anknüpfung der Straftatbestände an außerstrafrechtliche Zurechnungssysteme und damit aus der Binnensystematik des Rechts resultiert, verlangt nach Kompensation durch Statuierung einer strafrechtlichen Organhaftung (einschließlich der Haftung des gesetzlichen Vertreters strafunmündiger natürlicher Personen). Das zweite kriminalpolitische Defizit resultiert aus der arbeitsteiligen Struktur der modernen Volkswirtschaft und damit aus einer Wandlung des sozioökonomischen Handlungssystems, das durch die Herausbildung von Makroorganisationen und der darin notwendigen Delegation der eigentlichen Verrichtungen zu einem Auseinanderfallen von Handlung und Verantwortung bzw. von Funktion und Status führt und deshalb zur Wahrung des Rechtsgüterschutzes eine strafrechtliche „Vertreterhaftung“ (besser: Substitutenhaftung) erforderlich macht. Und das dritte Defizit trat schließlich bei Tatbeständen mit egoistisch beschränkter Innentendenz4 in Erscheinung, etwa wenn ein Bauarbeiter bei Dritten ein für die Ausstattung des Unternehmens wichtiges Werkzeug entwendet und durch die Einverleibung in dessen Werkzeugpark jedenfalls bei einem umgangssprachlichen Verständnis des § 242 a.F. StGB nicht „sich“, sondern dem Unternehmer und damit einem anderen zueignen will. 2

2. Weil die kriminalpolitischen Defizite der Sonderdelikte zwar nicht ausschließlich, aber doch in erster Linie aus der kapitalistischen Wirtschaftsstruktur erwachsen, kann es nicht überraschen, dass sie erstmals in der Gründerzeit ins allgemeine Bewusstsein getreten sind und die höchstrichterliche Rechtsprechung beschäftigt haben, und zwar anlässlich von Manipulationen, die in Vollstreckungsverfahren gegen juristische Personen von deren Organen zum Nachteil der Gläubiger begangen wurden. In der frühesten und für die weitere Rechtsentwicklung grundlegenden Entscheidung der vereinigten Abteilungen des Senats für Strafsachen des preußischen Obertribunals vom 9.11.18745 war die Frage zu entscheiden, ob ein Vorstandsmitglied einer in Konkurs gefallenen eingetragenen Genossenschaft, welches Bankrotthandlungen gemäß den §§ 281, 283 a.F. StGB (heute in modifizierter Form §§ 283, 283b StGB) begangen hatte, aus diesen Vorschriften ungeachtet des Umstandes bestraft werden konnte, dass z.B. die unordentliche Buchführung nicht „seinen“ Vermögensstand betroffen und das Vorstandsmitglied auch nicht „seine“ Zahlungen eingestellt hatte, sondern diese Strafbarkeitsvoraussetzungen nur in Bezug auf die Genossenschaft selbst erfüllt waren. Obwohl es die vorlegende Abteilung des Obertribunals für „unabweislich“ hielt, „dass die Waffen, welche das Gesetz gegen betrügerische oder leichtfertige Manipulationen der Handeltreibenden an die Hand gibt, nicht gerade da sich als stumpf erweisen, wo die Ausdehnung des Geschäftsbetriebes und die großartige Anspannung des Kredits ihre Anwendung am meisten notwendig macht, wie dies bei Aktiengesellschaften, Genossenschaften etc. der Fall sei“,6 und ob-

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3 In konstruktiver Hinsicht geht es bei der „Strafmündigkeitsgrenze“ in § 19 StGB nicht um Handlungs-, sondern um konstitutionelle Schuldunfähigkeit. Für juristische Personen und Verbände überhaupt ist de lege lata hingegen nach verbreiteter Auffassung bereits die Handlungsfähigkeit zu verneinen. 4 Bruns Organe S. 14. 5 GA 23 (1875) 31 ff. 6 AaO (Fn. 5), 33.

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wohl der Generalstaatsanwalt zur dogmatischen Rechtfertigung in offenkundiger Anlehnung an die zivilistische Theorie der realen Verbandsperson7 darauf abhob, dass bei einer juristischen Person „der Vorstand die Ergänzung und Vervollständigung zum handlungsfähigen Rechtssubjekt bildet“ und in concreto „die physisch handelnd auftretende Genossenschaft selbst“ sei,8 lehnten die vereinigten Abteilungen eine Strafbarkeit des Vorstandsmitglieds mit der rein grammatischen Auslegung ab, dass tauglicher Täter des Bankrotts nur derjenige sein könne, der seine (scil. eigenen) Zahlungen eingestellt habe.9 Hierdurch sind die Weichen bis zur Einführung des § 50a StGB durch das EGOWiG gestellt worden, denn der Gesetzgeber nahm die Entscheidung des preußischen Obertribunals zum Anlass, in der Reichskonkursordnung vom 10.2.187710 durch die Spezialvorschrift des § 244 (ursprünglich § 214) zu regeln, dass die (bis zum 1. WiKG in den §§ 239–241 KO enthaltenen) Strafvorschriften „gegen die Mitglieder des Vorstands einer Aktiengesellschaft oder eingetragenen Genossenschaft und gegen die Liquidatoren einer Handelsgesellschaft oder eingetragenen Genossenschaft, welche ihre Zahlungen eingestellt hat oder über deren Vermögen das Konkursverfahren eröffnet worden ist, Anwendung finden, wenn sie in dieser Eigenschaft die mit Strafe bedrohten Handlungen begangen haben“, und diese Vorschrift hat wiederum zehn Jahre später die Basis für ein argumentum e contrario in der ersten einschlägigen Entscheidung des Reichsgerichts zur Organhaftung am Beispiel des § 288 StGB gebildet: Wenn Vorstandsmitglieder einer AG bei einer der Gesellschaft drohenden Zwangsvollstreckung Vermögensstücke beiseite schaffen, um die Befriedigung des Gläubigers zu vereiteln, so könne die AG mangels Handlungsfähigkeit strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden. Aber auch auf die Vorstandsmitglieder sei § 288 nicht unmittelbar anzuwenden, weil keine gegen ihre Person gerichtete Zwangsvollstreckung drohe und sie auch nicht Bestandteile ihres Vermögens (sondern vielmehr des Gesellschaftsvermögens) beiseite schafften, wie sich aus dem Fehlen einer dem § 244 KO entsprechenden Vorschrift bei der Einzelzwangsvollstreckung ergebe (RGSt 16 121, 125). 3. Mit dieser Ablehnung einer in der Natur der Sache angelegten und deshalb auch 3 bei den Sonderdelikten im Wege einer teleologischen Tatbestandsauslegung zur Geltung zu bringenden strafrechtlichen Organhaftung hatten riesige Strafbarkeitslücken gedroht, weil die gleichen Zurechnungsprobleme wie bei § 288 nicht nur bei anderen Vorschriften des StGB (etwa §§ 170, 290, 319), sondern vor allem auch in zahllosen Bestimmungen des Nebenstrafrechts auftreten, wenn die darin vorausgesetzte Beschränkung des Täterkreises auf „Gewerbetreibende“, „Arbeitgeber“ oder „Unternehmer“ u.ä. entweder überhaupt nur von juristischen Personen oder aber von natürlichen Personen ausgefüllt wird, an deren Stelle im Wege der Arbeitsteilung eine andere, selbst nicht qualifizierte

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7 Die Theorie der „realen Verbandspersönlichkeit“ entwickelte im 19. Jahrhundert Otto v. Gierke Die Genossenschaftstheorie und die Deutsche Rechtsprechung (1887, Nachdruck 1963) 15, 21 ff, auch S. 627 ff; ders. Deutsches Privatrecht I (1895, Nachdruck 1936) 469 ff. Ihren Gegenpart hatte diese Lehre in der „Fiktionstheorie“ v. Savignys in: System des Römischen Rechts II, III (1840) 1 ff (II), 89 ff (III). Während es bei Savigny (System III S. 89) lakonisch hieß, „alle juristischen Personen (sind) ihrer Natur nach handlungsunfähig“, sprach Gierke davon, dass „die Gesamtpersönlichkeit durch ihre Organe wollte und handelte“ (Das deutsche Genossenschaftsrecht II [1873] S. 904). Zum weiteren Schicksal der Kontroverse siehe K. Schmidt Gesellschaftsrecht 4. Aufl. (2002) § 8 II 2–4; Flume FS Wieacker, S. 340 ff, 351 ff, sowie Schikorski Die Auseinandersetzung um den Körperschaftsbegriff in der Rechtslehre des 19. Jahrhunderts (1978) 90 ff, 173 ff, 207 ff, 219 und passim. 8 AaO (Fn. 5), 41. 9 AaO (Fn. 5), 45 f. 10 RGBl. I Nr. 10 S. 351.

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Person (der extraneus) handelt. Rechtsprechung, Schrifttum und Gesetzgebung haben die sich hieraus ergebenden Probleme in den Jahrzehnten vor Einführung der neuen Vorschrift auf drei unterschiedlichen, niemals zu einem systematischen Gesamtkonzept verknüpften Wegen zu bewältigen versucht.11 Teils wurden, wie im Falle des § 288, die unbefriedigenden Strafbarkeitslücken von der Rspr. als bis zu einer gesetzlichen Regelung unvermeidlich in Kauf genommen12 (Lückentheorie), während der Gesetzgeber nach dem Vorbild des § 244 der Reichskonkursordnung von 1877 in zahlreichen Einzelvorschriften den Täterkreis der Sonderdelikte bald nur auf gesetzliche Vertreter, bald auch auf gewillkürte Stellvertreter mit höchst unterschiedlicher Abgrenzung im Einzelnen ausdehnte.13 Teils wurde aber doch wieder versucht, das „Handeln für einen anderen“ direkt unter die Sonderdeliktstatbestände zu subsumieren, wobei wiederum zwei völlig unterschiedliche Methoden entwickelt wurden. Die bereits vom Generalstaatsanwalt beim preußischen Obertribunal vertretene allgemeine Organhaftung wurde von Nagler auf eine normentheoretische Grundlage gestellt14 und erfreute sich nicht nur im Standardschrifttum bis zum EGOWiG großer Beliebtheit,15 sondern wurde auch vom Reichsgericht in die Wendung gefasst, dass „dem Vertreter einer juristischen Person an Stelle der letzteren“ die Erfüllung ihrer Verpflichtungen obliege, so dass er „nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ auch an ihrer Stelle strafrechtlich hafte, wenn die Nichterfüllung solcher Verpflichtungen unter Strafe gestellt sei (RGSt 33 261, 264). Zwar wurde diese – in der monographischen Literatur durchweg abgelehnte16 – Organhaftungstheorie zunächst nur im Zusammenhang mit der Spezialvorschrift des § 151 a.F. GewO ausgesprochen, die in Absatz 1 Satz 1 diejenigen Personen, „welche der Gewerbetreibende zur Leitung des Betriebes oder eines Teiles desselben oder zur Beaufsichtigung bestellt“ hatte, für strafbar erklärte, wenn von ihnen „bei der Ausübung des Gewerbes polizeiliche Vorschriften übertreten worden“ waren – so dass hierdurch die „Vertreterhaftung“ nur für die in der GewO geregelten Sonderdelikte des „Gewerbetreibenden“ gesetzlich statuiert wurde und die Anerkennung einer allgemeinen „Organhaftung“ in RGSt 33 264 über den Anlass der Entscheidung (Garantenstellung des Gewerbetreibenden gem. § 151 Abs. 1 Satz 2 a.F. GewO) weit hinausging.17 Gleichwohl hat die Rechtsprechung in der Folgezeit unter Anwendung und Ausweitung der in RGSt 33 261, 264 formulierten allgemeinen Grundsätze vor allem bei Delikten gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung wie den

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11 Die erste umfassende Untersuchung lieferte Bruns mit seiner Monographie aus dem Jahre 1931 (Strafr. Abh, Heft 295); aber auch die beiden späteren Schriften von Blauth (1968) und Wiesener (1971) beschäftigen sich eingehend mit dem vor Einführung des § 50a bestehenden Rechtszustand. Einen guten Überblick gibt auch Schäfer in seinem Referat „Handeln für einen anderen“ (Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission 4. Band [1958] Anhang Nr. 49 S. 545–556). 12 Vgl. RGSt 49 247; 60 234; 63 255; 69 73. Auch in RGSt 73 100 ist das Reichsgericht nicht von der Maxime aus RGSt 16 121 abgewichen, sondern hat nur die daraus resultierende Lücke im Wege der seit 1935 zugelassenen analogen Rechtsanwendung in malam partem geschlossen, was als Episode der nationalsozialistischen Zeit für die Nachkriegsentwicklung außer Betracht bleiben kann (zutr. K. Schäfer S. 550 f gegen Mezger LK7 [1954] Vor § 51 S. 288). 13 Eine Übersicht gibt die Begründung zum E 62, BTDrucks. IV/650, S. 127 f; ferner Blauth S. 41–46; Wiesener S. 151 ff; Göhler/Buddendiek/Lenzen Lexikon des Nebenstrafrechts (1963) Stichwort „Handeln für einen anderen“ S. 117 f. 14 S. 53–55. 15 Etwa Mezger LK7 (1954) Vor § 51 S. 288; K. Schäfer LK8 (1958) Vorbemerkung II.a und b Vor § 239 KO sowie § 244 KO Anm. 1; Sch/Schröder 13. Aufl. (1967) Vor § 47 Rdn. 54; anders allerdings Schwarz/Dreher 29. Aufl. (1968) § 244 KO Anm. I. Eingehend ferner am Beispiel des § 288 Rimmelspacher JZ 1967 472; gegen diesen R. Schmitt JZ 1967 698. 16 Grundlegende Kritik an dieser „Tatbestandsergänzung“ bei Bruns Organe S. 86–92, der darin einen Verstoß gegen das Analogieverbot sieht; vgl. ferner Blauth S. 35–37; Wiesener S. 108 f. 17 Kritisch deshalb Bruns Organe S. 88 f; K. Schäfer S. 551 ff; Wiesener S. 108 f, 158 f.

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Sonderdelikten des Kraftfahrzeughalters und des Bauherren sowohl eine Organ- als auch eine Vertreterhaftung praktiziert.18 Völlig unabhängig hiervon ist schließlich noch als dritter Weg die sog. „tatsächliche“ oder faktische Betrachtungsweise entwickelt worden, mit deren Hilfe Sonderdelikte von vornherein im Wege der Tatbestandsauslegung auf das Handeln für einen anderen erstreckt wurden. So hat RGSt 8 269 den Ehemann einer Pfandleiherin, die alleinige Geschäftsinhaberin war, gleichwohl als „Pfandleiher“ nach § 290 bestraft, weil er dieses Gewerbe – wenn auch ohne Konzession – „tatsächlich“ betrieben habe. Entsprechend hat BGHSt 2 262, 266 f unter den früheren HehlereiSpezialtatbestand des § 18 UnedMG als „Ansichbringen“ auch den Erwerb für den Geschäftsherrn durch den selbständig handelnden Gewerbegehilfen subsumiert. Ferner hat BGHSt 11 102 unter teilweiser Abkehr von der Rspr. des RG ausgesprochen, wenn eine Handelsgesellschaft mit eigener Rechtspersönlichkeit Kommissionär im Sinne des BörsG (§ 95) sei, so sei strafrechtlich derjenige als Kommissionär anzusehen, der das Kommissionsgeschäft für sie tatsächlich ausführe.19 4. Die in Rdn. 3 skizzierte Vorgeschichte mit ihrer unklaren, umstrittenen und zer- 4 splitterten Rechtslage zeigt, dass § 14 über den Zweck der Lückenschließung hinaus auch der Rechtsklarheit, -vereinfachung und -vereinheitlichung dienen soll. Die Vorschrift soll Auslegungsschwierigkeiten und -widersprüche beseitigen und anstelle der zahlreichen Einzelregelungen, die es im Nebenstrafrecht in vielfältig verschiedener Form schon gab, eine einheitliche Regelung im Allgemeinen Teil treffen. Diese Einzelregelungen sind daher, soweit ihr Geltungsbereich von der neuen Vorschrift erfasst wurde, durch Art. 140 EGOWiG sämtlich aufgehoben worden, mit Ausnahme allerdings von § 131 des Seemannsgesetzes, weil der darin erfasste Stellvertreter des Kapitäns nicht unter die Personen fällt, für die §§ 14 StGB, 9 OWiG eine Haftungserstreckung anordnen. II. § 14 StGB im rechtspolitischen Meinungsstreit. Die Unklarheiten der gesetzlichen Konzeption 1. Rechtspolitisch ist der Versuch, das „Handeln für einen anderen“ erstmals zu- 5 sammenfassend zu regeln und der bisherigen Rechts- und Meinungszersplitterung Einhalt zu gebieten, höchst umstritten geblieben. Vom Standpunkt der „faktischen Betrachtungsweise“ aus, die das „Handeln für einen anderen“ durch Auslegung der einzelnen Tatbestände erfassen zu können glaubt, wird § 14 teils für überflüssig, teils nach Wortlaut und Reichweite für verfehlt erklärt, weil sich die vom Gesetzgeber als strafausdehnend gedachte Vorschrift durch ihre Beschränkung auf einen Teil der gewillkürten Vertreter als in unangemessener Weise strafeinschränkend darstelle.20 Auch sonst wird vielfach beanstandet, dass § 14 die Haftung nicht auf alle gewillkürten Vertreter ausge-

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18 RGSt 44 122, 125; 57 190, 191; 72 26, 28 f; BayObLG JW 1930 1975; OLG Braunschweig DVBl. 1953 183; KG Recht 1928 Nr. 1742; BayObLGSt. 1951 541; OLG Bremen NJW 1955 1163 gegen OLG Hamm NJW 1955 1162; BGHSt 8 139, 143 f. 19 Weil es hierbei um einen GmbH-Geschäftsführer ging, hätte der BGH auch auf die von ihm weder ausdrücklich verworfene noch fortgeführte Organhaftungstheorie rekurrieren können, die durch die faktische Betrachtungsweise also nur für die gewillkürte Stellvertretung erweitert wurde – weshalb etliche Entscheidungen auch bald für die eine, bald für die andere Theorie in Anspruch genommen werden, vgl. zu RGSt 24 353 (Vormund als „Brauer“) einerseits RGSt 33 261, 269, andererseits Roxin LK10 Rdn. 2, ferner zur „faktischen Betrachtungsweise“ in der Rspr. zum Handeln für einen anderen ausführlich und mit kontroverser Zuordnung im Einzelnen: Blauth S. 37–41; Cadus S. 62–72; Wiesener S. 101–108. 20 Wiesener S. 14 ff, 185 ff; vgl. auch Rimmelspacher JZ 1967 479.

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dehnt habe;21 die Regelung schaffe Strafbarkeitslücken und Abgrenzungsprobleme und fordere „dazu heraus, rechtswidrige Handlungen durch solche Vertreter ausführen zu lassen, die der strafrechtlichen Vertreterhaftung nicht unterfallen“.22 Auf der anderen Seite ist aber auch die Ausdehnung der Haftung auf einen Teil der gewillkürten Vertreter schon als zu weitgehend empfunden worden, so dass der E 62 (vgl. Entstehungsgeschichte) auf die Einbeziehung dieser Gruppe noch ganz verzichtet hatte. Man befürchtete, dass der Haftungsbereich in unübersehbarer Weise ausgeweitet und dass es möglich werden könnte, höchstpersönliche Treupflichten nach Belieben auf Vertreter abzuwälzen.23 Der Alternativ-Entwurf (§ 13) wiederum hatte den Kreis der Vertretenen auf juristische Personen, verwandte Personenvereinigungen und Zweckvermögen einschränken, in diesen Fällen jedoch die Haftung auf jegliche gewillkürte Vertretung erstrecken wollen.24 6

2. Was aber jenseits der Detailkritik das harte Verdikt, demzufolge der neue § 14 im ganzen „mißlungen25 bzw. „sprachlich und sachlich verunglückt“26 sei und „in dogmatischer Hinsicht eine fast heillose Verwirrung gestiftet“ habe,27 als nicht ganz ungerechtfertigt erscheinen lässt, ist das Fehlen einer fundierten Gesamtkonzeption, das auf einer noch unzureichenden wissenschaftlichen Durchdringung der Materie und der unzulänglichen „Befreiung vom zivilistischen Denken“ beruht. Das kann hier nur knapp angedeutet werden.

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a) Es ist dem Gesetzgeber nicht gelungen, über den Anwendungsbereich der Vorschrift die Klarheit zu schaffen, die er schaffen wollte. So heißt es z.B. in der Begründung des E 6228 zur Rechtfertigung der neuen Vorschrift, es sei „nach geltendem Recht zweifelhaft, ob der Vorstand eines rechtsfähigen Vereins wegen ungenehmigten Glücksspiels nach § 284 StGB bestraft werden kann, wenn er für den Verein gehandelt hat, aber nicht er, sondern der Verein der ,Veranstalter‘ des Glücksspiels ist“. Zweifelhaft ist jedoch gerade, ob § 284 überhaupt als Sonderdelikt des das Glücksspiel auf eigene Rechnung betreibenden „Unternehmers“ oder nicht besser als Gemeindelikt zu interpretieren ist, wie es für § 286 a.F. (heute § 287) schon vom Reichsgericht29 angenommen und in der monographischen Literatur von Bruns,30 Blauth,31 Wiesener32 und Cadus33 auch für § 284 begründet worden ist – in welchem Fall jeder am Betrieb in Tatherrschaft Mitwirkende als

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21 Bruns JZ 1958 461, 464; R. Schmitt JZ 1968 123, 124; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht u. Wirtschaftskriminalität I, S. 203, 155 f; Schünemann Unternehmenskriminalität I S. 142 ff; ders. Jura 1980 572. 22 R. Schmitt JZ 1968 124. 23 Vgl. etwa die Stellungnahmen von Koffka, Gallas und Baldus bei den Beratungen der Großen Strafrechtskommission, Niederschriften 4. Bd. (1958) 313, 315, 316. 24 Vgl. dazu R. Schmitt JZ 1968 123 ff; kritisch dazu Dreher 57. Sitzung des Sonderausschusses v. 13.4.1967 Prot. V/1099 f; Wiesener S. 185. 25 Wiesener S. 190. 26 Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht I, 203. 27 Schünemann Jura 1980 571. 28 E 62, Begr. BTDrucks. IV/650, S. 127. 29 RGSt 34 447; 36 124. 30 Bruns Organe S. 61 f. 31 Blauth S. 130 f (allerdings unter Verzeichnung der zwischen § 284 und § 286 differenzierenden RG-Rspr.). 32 Wiesener S. 49–53. 33 Cadus S. 65 f, 138–140 (mit der gleichen Ungenauigkeit wie Blauth in Fn. 31).

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„Veranstalter“ anzusehen wäre, so dass § 284 der allgemeinen Täterschaftsregelung des § 25 StGB unterstehen würde, das Problem der Vertreterhaftung beim Sonderdelikt sich hier von vornherein nicht stellte und die Vorschrift des § 284 über § 14 hinaus auf jeden tatherrschaftlich mitwirkenden gewillkürten Vertreter des Unternehmers anwendbar wäre. Wenn man also zweifelt, ob hier ein Fall der Vertreterhaftung beim Sonderdelikt zur Debatte steht,34 so sind diese Zweifel durch das Gesetz, das sie ausräumen wollte, keineswegs gemindert worden. Entsprechendes gilt für die übrigen Fälle, die früher mit Hilfe der „faktischen Betrachtungsweise“ gelöst worden sind. b) Auch über den eigentlichen Rechtsgrund der Haftung von Organen, Vertretern 8 und Beauftragten ist der Gesetzgeber nicht zu hinreichender Klarheit gekommen. Der Wortlaut des § 14 stellt darauf ab, dass die strafbegründenden Merkmale nicht beim strafbaren Vertreter oder Beauftragten, sondern beim Vertretenen bzw. Betriebsinhaber vorliegen. Wie erklärt sich dann aber die Verhängung der vollen Täterstrafe gegen den Vertreter als extraneus, wenn nach § 28 sogar beim Teilnehmer der Mangel strafbegründender Merkmale strafmildernd wirkt? In Wirklichkeit ist das nur dadurch erklärlich, dass eine Ausdehnung der täterschaftsbegründenden Strukturen auf den Vertreter bzw. Beauftragten stattfindet, wie denn auch § 14 Abs. 2 Nr. 2 ausdrücklich verlangt, der Beauftragte müsse „in eigener Verantwortung Aufgaben wahrzunehmen“ haben, „die dem Inhaber des Betriebes obliegen“. Ist das aber richtig, so liegen die entscheidenden strafbegründenden Merkmale eben doch beim Beauftragten vor. Dadurch gerät in die gesetzliche Konzeption ein Bruch, der eine widerspruchsfreie Auslegung erschwert.35 c) Diese Divergenzen führen auch zu großen Schwierigkeiten beim Verständnis des 9 in § 14 verwendeten Zentralbegriffs der „besonderen persönlichen Merkmale“. Die Verwendung derselben Benennung in § 28 und die ausdrückliche Verweisung des § 28 auf § 14 suggerieren die Annahme, dass der Gesetzgeber in beiden Bestimmungen denselben Begriffsinhalt gemeint habe. Während aber § 28 voraussetzt, dass die für die Täterstrafe ausschlaggebenden Merkmale den Teilnehmer nicht treffen, regelt § 14 deren Zurechenbarkeit an den „Vertreter“ und setzt damit offenbar deren Substituierbarkeit voraus, so dass die Begriffe in beiden Bestimmungen durchaus verschieden umgrenzt werden müssen, was durch den identischen Gesetzeswortlaut in verwirrender Weise verschleiert wird. III. Die strafrechtssystematische Bedeutung der Vertreterhaftung: Die Übernahme einer Garantenstellung als Grundgedanke des § 14 1. Es ist deshalb selbstverständlich, dass eine in sich folgerichtige und zu krimi- 10 nalpolitisch vernünftigen Ergebnissen führende Interpretation des § 14 nur auf dem Boden einer Gesamtkonzeption erwachsen kann, die die im Wortlaut dieser Vorschrift angelegten Widersprüche und Ungereimtheiten überwindet, indem die kriminalpolitische Grundentscheidung des Gesetzgebers herausgearbeitet und systematisch entfaltet

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34 Verneinend die in Fn. 30–33 nachgewiesenen Autoren; Krehl LK § 284 Rdn. 18; bejahend BayObLG NJW 1979 2258; unklar Fischer § 284 Rdn. 18; Sch/Schröder-Heine/Hecker § 284 Rdn. 15; zum alten Recht auch OLG Braunschweig NJW 1954 1777, 1779 f (mit der abwegigen Konstruktion einer Beihilfe des Vertreters zur unvorsätzlichen Haupttat der juristischen Person); für § 284 auch das Reichsgericht, siehe RGSt 3 278; 57 190 unter Berufung auf RGSt 33 261. 35 Das wird treffend herausgearbeitet bei Wiesener S. 185–191 und passim.

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wird.36 Hierzu dominierte in den Lehrbüchern und Kommentaren zunächst eine die Unterschiede zwischen dem Normadressaten als intraneus und dem Vertreter akzentuierende und deshalb unzulängliche Normzweckanalyse, die die Gleichstellung auch deshalb nicht plausibel machen kann, weil sie durchweg die Täterqualifikation beim Sonderdelikt nur durch die (sachlich identische und deshalb nicht weiterführende) Sonderpflicht des intraneus beschreibt. So heißt es bei Maurach/Gössel/Zipf⁷ (§ 47 Rdn. 119), dass § 14 „eine in Wirklichkeit nicht vorhandene Täterqualität des Handelnden fingiert“; und bei Sch/Schröder/Perron (§ 14 Rdn. 1; ähnlich Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 436), dass sich die Vorschrift des § 14 als notwendig erwiesen habe, „wenn der eigentliche Normadressat seine Aufgaben und Pflichten nicht selbst wahrnimmt oder wahrnehmen kann und deshalb andere stellvertretend für ihn handeln“. Die Aporie des § 14, dass dem „Vertreter“ ein in seiner Person angeblich nicht erfüllter Strafbarkeitsgrund zugerechnet wird, kann hierdurch gerade nicht aufgelöst werden; und dies geschieht auch nicht durch das ausschließlich kriminalpolitische und deshalb die gesetzliche Gleichbewertung nicht erklärende Argument, „daß die moderne arbeitsteilige Wirtschaft vielfach dazu zwingt, die Verantwortung für die Erfüllung strafrechtlich sanktionierter Pflichten zu delegieren, und daß in solchen Fällen auch die Vertreter strafrechtlich verantwortlich gemacht werden müssen“ (Jescheck/Weigend § 23 VIII 3). Formalistisch und paradox ist auch die Charakterisierung von Jakobs (AT § 21 Rdn. 11), dass „1. derjenige, dem die Aufgabe delegiert wurde, für den Stellungsinhaber eine Tatbestandsverwirklichung zu vermeiden, als Täter haften soll (obwohl er die Täterstellung nicht selbst innehat)“, womit § 14 „eine schon bestehende Pflicht als straftatbestandliche Pflicht garantiert“, während diese Vorschrift „2. garantieren soll, daß Personen, an die ein wesentlicher Ausschnitt der mit der Stellung verbundenen Aufgaben delegiert wurde, sich auch dann um die Erfüllung der mit der Stellung verbundenen strafrechtlichen Pflichten kümmern müssen, auch wenn insoweit eine Delegation nicht stattgefunden hat“, d.h. § 14 „schafft insoweit die Pflicht und garantiert sie straftatbestandlich“ (zur Kritik siehe 11. Aufl. Rdn. 10). Einen besonders komplizierten Ausdruck hat diese in eine dogmatische Sackgasse führende formale Pflichttheorie in der dreifach gestuften Pflichtenkonstruktion von Blauth gefunden, der den auf den Vertreter übergehenden privaten Pflichten des Vertretenen (!) die auf das gleiche Ergebnis (etwa: Fürsorge für fremdes Vermögen) gerichteten, nur den Vertreter (!) treffenden „Sekundärpflichten“ öffentlich-rechtlichen Charakters an die Seite stellt und zusätzlich „eine selbständig danebenstehende, durch die Vorschrift zur Regelung der strafrechtlichen Vertreterhaftung neugeschaffene Handlungspflicht“ annehmen will.37 Dem liegt ein ähnlicher Irrtum zugrunde wie der früheren sog. formellen Rechtspflichttheorie zur Garantenstellung beim unechten Unterlassungsdelikt, die aus einer außerstrafrechtlichen (zivilrechtlichen oder öffentlich-rechtlichen) Pflicht die strafrechtliche (Unterlassungs-)Täterstellung ableiten zu können vermeinte, während es dabei in Wahrheit nur um zivilrechtliche bzw. öffentlich-rechliche Epi-Phänomene der die strafrechtliche Erfolgszurechnung begründenden Garantenstellung etwa aus Übernahme der Obhutsherrschaft über die Hilflosigkeit des Rechtsgutes geht.38 In ähnlicher Weise

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36 Zu dem dahinterstehenden strafrechtsmethodologischen Gesamtkonzept, das hier nicht weiter expliziert werden kann, vgl. Roxin Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 2. Aufl. (1973) passim; Schünemann FS Schmitt, S. 117 ff; ders. FS Roxin (2001), S. 1 f; Schünemann ZIS 2016, 654 ff. 37 Blauth S. 81 f. 38 Der fehlende Ableitungszusammenhang zwischen der formellen (außerstrafrechtlichen) Rechtspflicht zum Tätigwerden und der strafrechtlichen Gleichstellung des (unechten) Unterlassens mit dem aktiven Tun wurde von Schaffstein FS Graf Gleispach (1936) 70, 73 ff und Nagler GS 111 1, 59 ff vor allem am Beispiel der nichtigen oder nicht in Vollzug gesetzten Vertragsverhältnisse nachgewiesen und ist heute in Gestalt der Ersetzung der Garantenkategorie des „Vertrages“ durch die „Übernahme“ praktisch

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kann die Bestellung eines Organs oder eines Substituten natürlich auch zivilrechtliche und öffentlich-rechtliche Rechtspflichten erzeugen und wird dies in der Regel auch tun; dass diese für die strafrechtliche Täterqualifikation aber nicht präjudiziell sind, folgt aus der sogleich näher zu betrachtenden Natur der Sache und ist auch vom Gesetzgeber in § 14 Abs. 3 klargestellt worden. 2. Diese Mängel der „Pflichtentheorie“ (zusammenfassende Bezeichnung von Hoyer 11 SK Rdn. 8) werden auch durch die Reparaturversuche von Rogall (KK-OWiG § 9 Rdn. 19; ders. Organhaftung S. 164) und Radtke (MK Rdn. 23 ff), die diese im Anschluss an Kawan unternommen haben, nicht ausgeräumt, sondern eher noch verschlimmert (wie hier Hoyer SK Rdn. 11 ff). a) Bereits die gewählte Terminologie führt in die Irre, weil sich nämlich Rogall und 12 Radtke an den zivilistisch orientierten Pflichtbegriff der (unveröffentlichten) Dissertation von Kawan anschließen (ebenso Köhler AT S. 555, der von „übertragbaren“= vertretbaren Sonderpflichten spricht, ähnlich Rogall Organhaftung S. 154 u.ö.) und mit Kategorien wie einer „Erfüllungspflichtigkeit bezüglich einer außerstrafrechtlichen Pflicht“ (Radtke MK Rdn. 27f) geradezu (um den bekannten Titel der Habilitationsschrift von Bruns abzuwandeln) einer „Versklavung des Strafrechts durch das zivilistische Denken“ das Wort reden. Das lässt sich aber mit den normativen Fundamenten des Strafrechts (Rechtsgüterschutz durch Generalprävention, woraus höchstpersönliche strafrechtliche und nicht etwa übertragbare oder beitrittsfähige zivilrechtliche Pflichten entstehen) nicht auf einen Nenner bringen. Rogall hat deshalb den Versuch unternommen, als sachlogische Grundlage der Zurechnung die „demonstrierte Kompetenz des Täters zur kollektiven Sinnbestimmung in einem Repräsentationsverhältnis“ zu nehmen (KK-OWiG § 9 Rdn. 20; ders. Organhaftung S. 160, 165). Aber die Verbindung des typisch zivilrechtlichen Begriffs der „Repräsentantenhaftung“ mit der soziologischen Redeweise der „Kompetenz zur kollektiven Sinnbestimmung“ führt vom Strafrecht noch weiter weg, denn der „kollektive Sinn der Organisation“, von dem Rogall spricht, hat etwas mit Kommunikation und vielleicht noch mit „Unternehmensphilosophie“ zu tun, steht aber in keinem Zusammenhang mit der Idee des Rechtsgüterschutzes. Dies gilt auch für die Wendung, dass der Vertreter nicht als Individuum hafte, sondern in seiner Rolle als Repräsentant des Systems, weil nur unter dieser Voraussetzung der Normbruch als Ausdruck einer kollektiven Sinnsetzung erscheine (Rogall Organhaftung S. 165). Dieses Kriterium mag man heranziehen, insoweit man eine eigene strafrechtliche Sanktion gegen den Verband selbst betrachtet und die Frage beantworten will, wie die Position derjenigen Organe beschaffen sein muss, deren Verhalten dem Verband zugerechnet werden kann. Die Vertreterhaftung bezieht sich dagegen primär überhaupt nicht auf ein Kollektiv, sondern erwächst im Zwei-Personen-Verhältnis bei der Übertragung der Herrschaft über einen sozialen Bereich vom ursprünglichen Inhaber auf seinen Substituten, während die systemische Haftung des Verbandes, an die Rogall bei seiner Wendung der „kollektiven Sinnsetzung“ gedacht haben dürfte, auf dieser Ebene noch keine Rolle spielt (Schünemann FS Rudolphi, S. 297, 312 f). Dagegen dürfte die Idee des Vertreters als eines „Repräsentanten“ fruchtbar gemacht werden können, wenn man sie als vom Geschäftsherrn abgeleitete Herrschaft versteht.

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unstreitig (vgl. nur Jescheck LK10 § 13 Rdn. 27; Roxin AT II, § 32 Rdn. 13, 53); zur entsprechenden Unabhängigkeit der strafrechtlichen Garantenstellung von anderen metastrafrechtlichen Rechtspflichten eingehend Schünemann Unterlassungsdelikte S. 221 ff, 341 ff; ders. ZStW 96 (1984) 287, 306 f; zus.-fassend ders. Festschrift Amelung S. 303, 309.

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b) Radtke (MK Rdn. 23 ff; ders. ZIP 2016 1993) sieht unter Weiterführung des Konzepts von Rogall den Strafgrund des § 14 StGB in einer „spezifizierten Pflichtenteilhabe“,39 die anders als die (nachf. sub 3. dargestellte) Garantentheorie das positive Recht abzubilden vermöge. Weil sich auch Radtkes Variante der Pflichtentheorie ausdrücklich auf die „außerstrafrechtliche Pflicht“ bezieht (Radtke MK Rdn. 24), verstrickt sie sich aber notwendig in eine Kette von Widersprüchen. So soll dann, wenn es bei der Substitutenhaftung des § 14 Abs. 2 „mangels normativer Grundlagen an einer primären Erfüllungspflicht gewillkürter Vertreter im Außenverhältnis fehlt, § 14 selbst diese externe Pflicht der Substituten“ normieren „und die Nichterfüllung der externen Pflicht mit einer Strafbewehrung“ versehen (ibid. Rdn. 28), so dass „regelmäßig erst § 14 die Erfüllungspflicht im Außenverhältnis“ statuiere (ibid. Rdn. 29). Damit ist jedoch die angebliche Grundlage der Norm des § 14, die Verletzung außerstrafrechtlicher Pflichten zu bestrafen, verlassen und eine in der Logik der Pflichtdelikte nicht begründbare originäre strafrechtliche Verbotsmaterie eingeräumt worden – nicht anders als bei der Ersetzung der dogmenhistorisch längst obsoleten Missdeutung zivilrechtlicher Vertragspflichten als Garantenstellung aus Vertrag durch die Übernahme-Garantenstellung. Dies wird durch Radtkes Wendung „die sekundäre Erfüllungspflicht basiert auf der … tatsächlichen Übernahme der entsprechenden Aufgaben“ (ibid.) im Grunde selbst eingeräumt, ohne dass daraus aber die logisch zwingende Konsequenz gezogen wird, dass nicht die formelle (außerstrafrechtliche) Rechtspflicht, sondern die tatsächliche Übernahme der betreffenden Funktion den Sachgrund für die in § 14 nicht anders als in § 13 StGB angeordnete Gleichstellung abgibt. Derselbe Selbstwiderspruch findet sich bei der Stellungnahme zu § 14 Abs. 3: Weil hier „rechtswirksame Beauftragung etc. nicht vorliegt“, lasse „allein die faktische Ausfüllung der Position ein strafrechtlich relevantes Handeln erkennen“ (Radtke MK Rdn. 31) – womit sich die Pflichtentheorie den Teppich unter den eigenen Füßen fortzieht. Zugleich kehrt sich damit der – unzutreffende (s.u. Rdn. 16) – Vorwurf Radtkes gegenüber der Garantentheorie, sie bilde das positive Recht nicht ab (Radtke MK Rdn. 23), gegen seine eigene Theorie, denn wenn die in § 14 positivrechtlich angeordnete Strafbarkeit über den Bereich der formellen außerstrafrechtlichen Pflichten hinausgeht, können diese nicht ihr Grund sein. Der von Radtke (MK Rdn. 31) im Anschluss an Jakobs (AT 21/11) versuchte Ausweg, § 14 Abs. 3 schaffe die außerstrafrechtlich nicht existierende Erfüllungspflicht und bewehre sie mit Strafe, ist nicht nur a limine eine dogmatisch wertlose ad-hoc-Hypothese, sondern verlässt auch den unfruchtbaren Nährboden der Pflichtentheorie und flüchtet sich mit der Wendung, „allein die faktische Ausfüllung der Position lässt ein strafrechtlich relevantes Handeln erkennen“ (Radtke MK Rdn. 31 a.E.), unversehens in den Mutterschoß der Garantentheorie. Darüber hinaus scheitern alle Pflichtentheorien auch an der von ihren Vertretern 14 übersehenen Entscheidung des Gesetzgebers des 2. WiKG zu Gunsten einer funktionellen Abgrenzung (im Sinne einer „limitierten Garantentheorie“) ebenso wie an der semantischen Unklarheit der von ihnen pauschal in Bezug genommenen allgemeinen Theorie der Pflichtdelikte. Wie die Entstehungsgeschichte (oben Abs. 2 und 3 sowie Fn. 48) zeigt, hat der Gesetzgeber des 2. WiKG ganz bewusst die Forderung der „Erfüllung von Pflichten“ durch die „Wahrnehmung von Aufgaben“ ersetzt, weil die Verantwortlichkeit nicht aus der Übertragung von Pflichten, sondern aus der Zuweisung von Aufgaben resultiere und deshalb die strafrechtliche Verantwortlichkeit nach funktionellen Merkmale

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39 Der Begriff der Pflichtenteilhabe ist von Marxen (NK³ Rdn. 15) geprägt worden, Roxin spricht in ähnlichem Sinne von „Pflichtenübernahme“ (AT II § 27 Rdn. 98).

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abzugrenzen sei. Das war ein klares Bekenntnis für die Regelung einer genuin strafrechtlichen, nicht aus der außerstrafrechtlichen Pflicht abgeleiteten Verantwortlichkeit aus Aufgabenübertragung (= in der Sprache der Garantentheorie Übernahme eines Herrschaftsbereiches), für die lediglich aus Gründen der Rechtsklarheit und zum Schutz des Substituten eine Ausdrücklichkeit verlangt wurde. Wie die Begründung des 2. WiKG zeigt, hat der Gesetzgeber auch erkannt, dass die außerstrafrechtliche Rechtspflicht nicht der Sachgrund der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ist, sondern ebenso wie diese eine parallele, auch in dem außerstrafrechtlichen Rechtsgebiet angeordnete normative Konsequenz aus der Aufgabenübertragung. In der Ersetzung dieser Parallelität durch eine Ableitungsbeziehung liegt der generelle Mangel der Theorie der Pflichtdelikte, wenn man sie im Sinne einer Akzessorietät des Strafrechts zu einer außerstrafrechtlichen Pflicht (miss)versteht. Deren Schöpfer Roxin hat ihre Extension inzwischen durch Eliminierung der ursprünglich einbezogenen Fahrlässigkeits- und unechten Unterlassungsdelikte stark reduziert und definitiert die Pflichtdelikte als „Verstoß gegen die Leistungsanforderungen einer übernommenen sozialen Rolle“ (AT II Rdn. 268), wobei seine Stellungnahme zu § 14 III StGB deutlich macht, dass er die tatsächliche Einnahme der Stellung des damit einverstandenen ursprünglichen Normadressaten hierfür ausreichen lässt (ibid. Rdn. 139), ganz nach den Regeln einer Übernahme-Garantenstellung und nicht einer Akzessorietät des Strafrechts zum Zivil- und öffentlichen Recht. Jakobs spricht sogar bei § 14 ausdrücklich von der „Übertragung von Garantenstellungen“ (AT 21/11), aber auch davon, dass § 14 „eine schon bestehende Pflicht als straftatbestandliche Pflicht garantiert“ (ibid.), ohne diesen Widerspruch zwischen einer Akzessorietät des Strafrechts zu einer außerstrafrechtlichen Pflicht und einer genuin strafrechtlichen Pflichtbegründung zu thematisieren (zu Jakobs‘ aktuellem Verständnis der Sonderdelikte durch die Verletzung institutioneller Pflichten, dessen Konsequenzen für § 14 schwer abzuschätzen sind, s. die Kritik von Schünemann GA 2017 678, 681 ff). 3. Der Gedanke der „Pflichtenteilhabe“ bleibt außerdem zu sehr an der äußeren 15 Schale haften und muss zu einem Zugriff auf den sachlichen Kern weiterentwickelt werden, d.h. auf die (der strafrechtlichen Pflicht zugrunde liegende) soziale Beziehung zwischen dem Täter des Sonderdelikts und dem geschützten Rechtsgut. Wer für einen anderen handelt, der im jeweiligen Tatbestand des Besonderen Teils als Täter erfasst ist, ist infolgedessen dann und nur dann mit Fug und Recht ebenfalls als Täter zu qualifizieren, wenn er unter den für die Integrität des Rechtsguts relevanten Aspekten in die Position des anderen hineingewachsen ist und jene Attribute auf sich gezogen hat, die bei der Vertypung des betreffenden Sonderdelikts durch den Gesetzgeber den Grund der Bestrafbarkeit abgegeben haben.40 Das folgt unter Beachtung des Gleichheitsgrundsatzes sowohl aus der in § 14 angeordneten Gleichstellung in der Rechtsfolge als auch aus dem

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40 Die im Text zusammengefasste Konzeption ist von mir näher entwickelt in: Zeitschr. f. Schweizer Recht 1978 131, 152 ff; Unternehmenskriminalität I S. 92 ff, 131 ff, 137 ff; Jura 1980 568 ff; ferner zusammenfassend in wistra 1982 41, 46 ff; GA 1986 293, 331–336; 2017 678 ff. Sie wird auch von Tzouma S. 197 ff für die richtige Lösung, jedoch auf faktische Organe de lege lata nur in den Fällen der feherhaften Bestellung für anwendbar gehalten (S. 164 ff). Auch Ceffinato sieht den „materiellen Grund der Organ- und Vertreterhaftungsnorm bei den Sonderpflichtdelikten in der Übernahme von Garantenpflichten“ (zusammenfassend S. 314), bleibt dann aber mit seiner „Sonderpflichtenlehre“ in in einer zirkulären Argumentation stecken, weil den Vertreter eine „originäre Sonderpflicht“ treffen soll (S. 244), die aus der formellen Bestellung des Organwalters und der sich anschließenden Übernahme des eingeräumten Organisationsbereichs resultieren soll (S. 247), womit das aus dem Tatbestand folgende Verbot oder Gebot durch die identische Pflicht erklärt werden soll.

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heute fast allgemein anerkannten41 Vorrang der funktional gleichwertigen Einbeziehung des Vertreterhandelns via Tatbestandsauslegung im Sinne der sog. faktischen Betrachtungsweise vor der Einbeziehung via § 14 StGB. Bei der Vertreterhaftung geht es infolgedessen für den Bereich der Sonderdelikte um ein entsprechendes Gleichstellungsproblem wie gemäß § 13 StGB für den Bereich der unechten Unterlassungsdelikte, und die Täterqualifikation wird auch nicht etwa durch § 14 auf solche Personen ausgedehnt, die die in dem jeweiligen Sonderdelikt vertypten konkreten Momente der Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit nicht selbst aufweisen und deren Bestrafung als Täter deshalb auf eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes hinauslaufen würde. Vielmehr soll durch § 14 eine wegen der Wortlautgrenze des Art. 103 Abs. 2 GG drohende Ungleichbehandlung beseitigt werden, die aus der mangelnden Deckung der „eigentlichen“ (d.h. kriminalpolitisch und dogmatisch sinnvollen) Unrechtsstruktur des Tatbestandes mit dessen sprachlicher Fassung im Gesetz resultiert. Und dies ist, wie bei der Erläuterung der „besonderen persönlichen Merkmale“ im Einzelnen darzulegen ist, immer dann der Fall, wenn der Gesetzgeber den Täterkreis auf Garanten im Sinne des § 13 StGB beschränkt (weil der maßgebliche Unrechtsgehalt der Tat in dem Missbrauch der Herrschaft über die Hilflosigkeit des Rechtsgutes oder über eine das Rechtsgut bedrohende Gefahrenquelle liegt) und deren Stellung nicht durch einen das dynamische Herrschaftsverhältnis kennzeichnenden Funktionsbegriff, sondern durch den statischen Begriff des personalen Status umschreibt (etwa als Kaufmann, Pfandleiher, Bauleiter, Arbeitgeber, Gewerbetreibender oder Anlagebetreiber). Denn weil es in einem dem Primat des Rechtsgüterschutzes verhafteten Strafrecht (etwa im Unterschied zu einem ständischen Strafrecht oder seinen modernen Erscheinungsformen des Disziplinarrechts der Richter, Beamten und Notare sowie des Berufsrechts bei Ärzten, Rechtsanwälten, Wirtschaftsprüfern usw.!)42 nicht auf die Statusinhaberschaft, sondern auf die Funktionsträgerschaft ankommt, werden durch die Übernahme der Funktion auch die Strafwürdigkeits- und bedürftigkeitsbedingungen erfüllt, so dass der den Statusbegriff verwendende Straftatbestand das am Rechtsgüterschutz ausgerichtete materielle Unrecht verkürzt. Insoweit nun die Statusbezeichnungen auch nach dem sozialen Sprachgebrauch an der Person haften, namentlich bei Benutzung eines zivilrechtlichen Terminus technicus, und deshalb ohne Verletzung des Analogieverbots einer funktionalen Auslegung nicht zugänglich sind, kann der „Substitut“, der an Stelle des Statusinhabers die für die Unversehrtheit des Rechtsguts relevanten Funktionen übernommen hat und dessen aktives Tun oder Unterlassen deshalb das materielle Unrecht dieses Garantensonderdelikts43 verwirklicht, positiv-rechtlich nur im Rahmen des § 14 als Täter qualifiziert werden: Weil Arbeitgeber gemäß § 266a StGB nun einmal – und insoweit decken sich zivilrechtliche Bedeutung und sozialer Sprachgebrauch – nicht schon derjenige ist, der für den Ar-

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41 Roxin LK10 Rdn. 11; ders. AT II § 27 Rdn. 105; Marxen NK³ Rdn. 19 f; Böse NK Rdn. 10; Sch/Schröder/Perron Rdn. 4; Radtke MK Rdn. 34, 44; Jakobs § 21 Rdn. 14; Jescheck/Weigend S. 231; eingehend Bruns GA 1982 1, 22 ff; ders. JR 1984 133 f, 136 ff; Herzberg ZStW 88 (1976) 68, 113; Hoyer SK Rdn. 40, der aber in bonam partem § 14 analog anwenden will (ähnlich, aber enger Böse NK Rdn. 11), dazu u. Rdn. 30, 32 ff u. Fn. 98; skeptisch und jedenfalls eine „Überspielung“ des § 14 StGB durch eine Fortsetzung der „faktischen Betrachtungsweise“ ablehnend Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 56 ff; ders. NJW 1977 777, 779 f; 1979 1849, 1850 f. 42 Denn die Ahndungsgewalt im Disziplinar- und Berufsrecht ist an den beruflichen Status und dessen Fortbestand gebunden, vgl. nur § 63 Abs. 1 DRiG, § 1 BDG, §§ 95 f BNotO i.V.m. z.B. § 63 Abs. 1 Nr. 3 NDO, für Ärzte z.B. Art. 66 Abs. 1 Satz 3 Bay HKaG (Heilberufekammergesetz), § 139 Abs. 3 Nr. 1 BRAO, § 103 Abs. 3 Nr. 1 WPO sowie zum materiellrechtlichen Verhältnis von Strafrecht und Disziplinarrecht allgemein Roxin AT I § 2 Rdn. 43–46; Jakobs AT § 3 Rdn. 11–21. 43 Zu dieser Deliktskategorie näher Schünemann LK12 § 25 Rdn. 42 ff, 133 ff, 162 ff; daran anschließend Chen passim; Tzouma S. 197 ff; Schünemann GA 2017 678 ff.

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beitgeber irgendwelche Funktionen ausübt, sondern allein der Vertragspartner der Arbeitnehmer und damit der Inhaber des Unternehmens, kann der Leiter der Personalabteilung, der die Sozialversicherungsbeiträge des Arbeitnehmers der Einzugsstelle vorenthält, nur über § 14 Abs. 2 als Täter des § 266a belangt werden; und weil als „Reisender“ gemäß § 297 a.F. StGB auch dem Alltagssprachgebrauch nach nicht der Kofferträger des Globetrotters verstanden werden konnte, der heimlich heiße Ware an Bord schmuggelt und sich anschließend wieder an Land begibt, konnte der Kofferträger wegen der Begrenzung der Substitutenhaftung des § 14 Abs. 2 auf eine Tätigkeit im Rahmen eines Betriebes strafrechtlich überhaupt nicht zur Verantwortung gezogen werden, obwohl er die Herrschaft über die für das Schiff gefährliche Konterbande ausübte und deshalb die Rechtsgütergefährdung nach den allgemeinen Zurechnungsregeln zu verantworten hätte. Und gerade die beiden wichtigsten Anwendungsfälle für die Vertreterhaftung im Besonderen Teil des StGB, um die sich nahezu die gesamte einschlägige Rechtsprechung dreht, sind offensichtliche Garantensonderdelikte: das speziell geregelte unechte Unterlassungsdelikt des § 266a und die verschiedenen Tatbestände des Bankrotts in § 283 (näher dazu u. Rdn. 56). Es handelt sich also bei der Vertreterhaftung um „nichts anderes als eine Form der 16 Übernahme einer Garantenstellung“,44 so dass sich diese zunächst wie ein Fremdkörper wirkende Zurechnungsfigur doch bruchlos in das Strafrechtssystem einordnen lässt und auch ihre Grenzen unschwer gezogen werden können, weil sie auf der einen Seite von den sachlogischen Bedingungen der sonderdeliktsspezifischen Garantenstellungen und auf der anderen Seite von der „Wortlautgrenze“ des § 14 bestimmt werden. Es trifft auch nicht zu, dass die Garantentheorie sich deshalb „mit dem geltenden Recht kaum vereinbaren“ lasse, weil dieses nicht die tatsächliche Herrscher ausreichen lasse, sondern einen Übertragungsakte verlange.45 In dieser Kritik steckt ein schwer verständliches und grundlegendes Missverständnis, weil die Regelung des § 14 schon bei der erstmaligen Entwicklung der Garantentheorie als eine „Form der Übernahme“ gekennzeichnet worden ist (s. Fn. 44) und es in der weiteren Entfaltung bei Schünemann Unternehmenskriminalität I, S. 138, ausdrücklich heißt: „dass der Substitut ungeachtet des ihm nicht zukommenden … personalen Status regelmäßig die aus diesem Status fließende materielle Beziehung zum Rechtsgut durch einen Übernahmeakt von dem Inhaber des formalen Status eingeräumt erhalten hat“, weshalb die „bis heute in der Strafrechtsdogmatik als ein rätselhafter Fremdkörper wirkende Vertreterhaftung nichts anderes als eine Form der Übernahme einer Garantenstellung ist“ (Hervorhebungen im Original). Zwar meint Ceffinato, in der Forderung eines Übertragungsaktes liege ein Widerspruch, wenn „man die Garantenpflicht mit Schünemann allein aufgrund des Kriteriums der faktischen Herrschaft bestimmt“, weil dann auch der Usurpierende (beispielsweise der als faktischer Geschäftsführer auftretende Mehrheitsgesellschafter einer GmbH) als originärer Garant angesehen werden müsste (S. 306 f). Aber darin liegt ein mehrfacher Irrtum. Zwar gibt es selbstverständlich Garantenstellungen durch eigene Usurpierung der Herrschaft über eine Gefahrenquelle oder die Hilflosigkeit des Rechtsguts, beispielsweise wenn jemand einen streunenden Pitbullterrier aufnimmt und zu Gehorsam erzieht oder einen Menschen einsperrt (zu diesen Fällen bereits Schünemann Unterlassungsdelikte S. 296, 343, 349) – derartige Garantenstellungen sind ja völlig unbestritten und können schwerlich von Ceffinato geleugnet werden. § 14 regelt nun aber, ebenso unbestritten,

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Schünemann ZSchwR 1978 155. So aber Rogall KK-OWiG § 9 Rdn. 17; ihm zust. Radtke MK § 15 Rdn. 23.

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allein Fälle abgeleiteter, also durch Übernahme entstandener Garantenstellungen, während die Fälle einer Usurpierung in den möglichen Anwendungsbereich der sog. faktischen Betrachtungsweise gehören (näher u. Rdn. 24 ff). Was schließlich Ceffinatos spezielles Beispiel anbetrifft, so hat darin ersichtlich die Gesellschaftermehrheit den Mehrheitsgesellschafter als faktischen Geschäftsführer installiert, der auch kraft seiner Mehrheit das zu fordernde Übergewicht besitzt und deshalb von der Rechtsprechung zutreffend unter § 14 subsumiert wird (näher u. Rdn. 78). 17

4. Diese Einfügung des § 14 StGB in das strafrechtliche Zurechnungsgesamtsystem schafft zugleich die dogmatische Basis für die Kasuistik der Rechtsprechung, die in der Vergangenheit auch ohne Anleitung durch eine allgemein anerkannte Theorie der Vertreterhaftung zu im Wesentlichen zutreffenden Ergebnissen geführt hat (im Einzelnen dazu Rdn. 22 ff). Ein besonders prägnantes Beispiel bietet hierfür die sog. Geschäftsherrenhaftung, d.h. die Garantenstellung des Betriebsinhabers und der jeweiligen Vorgesetzten zur Verhinderung von betriebsbezogenen Straftaten der nachgeordneten Mitarbeiter, die von der Rechtsprechung seit den Tagen des Reichsgerichts ununterbrochen anerkannt, aber niemals ausführlich begründet und auch nicht in das jeweils herrschende, zur Geschäftsherrenhaftung zumeist gar nicht passende Garantenschema (etwa: Gesetz, Vertrag und vorangegangenes Tun als Garantentrias der bis 1933 herrschenden formellen Rechtspflichttheorie) eingeordnet worden ist.46 Denn wirklich überzeugend wird diese – von der heute herrschenden Lehre mit freilich höchst unterschiedlicher Begründung akzeptierte47 – Judikatur erst durch ihre Verbindung mit § 14 StGB: Indem § 14 Abs. 2 Nr. 2 StGB in der Fassung des 2. WiKG, wie bereits erwähnt, nunmehr ausdrücklich davon spricht, dass der Beauftragte beim Handeln für einen anderen die dem Betriebsinhaber obliegenden Aufgaben wahrnimmt (anstelle der Erfüllung der den Betriebsinhaber betreffenden Pflichten gemäß der früheren Fassung), wird der Blick von der formalen Pflicht auf deren materielle Entstehungsgrundlage gelenkt48 im Sinne der

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46 RGSt 24 353, 354 f; 33 261 ff; 57 148, 151; 58 130, 132 ff; 75 296; BGHSt 25 158, 162f; 37 106, 123 f; 54 44; 57 42; Schw. BGE 96 IV 174; eingehende Darstellung der Rechtsprechung m.w.N. bei Schünemann Unternehmenskriminalität I S. 70–77; Hsü S. 17–33. 47 Eingehend Schünemann Unternehmenskriminalität I S. 101 ff in Weiterführung von Schünemann Unterlassungsdelikte S. 328; ders. wistra 1982 43; ders. ZStW 96 (1984) 287, 310, 318 f; ders. Unternehmensleitung S. 139 ff; ders. Juristische Person S. 274 f; ders. Stand der Dogmatik S. 81; ders. FG BGH IV, S. 636 f; Roxin AT II § 32 Rdn. 137; Brammsen Die Entstehungsvoraussetzungen der Garantenpflichten (1986) 272 ff; Göhler FS Dreher, S. 611, 620 f; Herzberg DB 1981 692 ff; ders. Verantwortung S. 231 f; Landscheidt Zur Problematik der Garantenpflichten aus verantwortlicher Stellung in bestimmten Räumlichkeiten (1985) 110 ff; Rengier KK-OWiG § 8 Rdn. 47–50 m.w.N.; Jakobs § 29 Rdn. 36; Schall FS Rudolphi S. 267; Schmidt-Salzer S. 151 ff; ferner Bottke wistra 1991 85; Rogall ZStW 98 (1986) 573, 613, 616–620; Schubarth SchwZStr 92 (1976) 370; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 350 ff; Gaede NK § 13 Rdn. 53; Utz die personale Reichweite der strafrechtlichen Geschäftsherrenhaftung (2016); Kang die Geschäftsherrenhaftung im Strafrecht (2015). Kritisch jedoch Weigend LK § 13 Rdn. 56; Stein SK § 13 Rdn. 44; Hsü S. 253 f; Ransiek ZGR 1992 220 f; Spring Die strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung (2009); einschränkend Gimbernat FS Roxin I, S. 651; zweifelnd Bottke wistra 1991 81, 88 f; Unterlassungstäterschaft, nicht aber -beihilfe ablehnend sodann ders. TuG S. 106 f; Nichtverhütung 34, 52 f; unklar Sch/Schröder-Stree/Bosch § 13 Rdn. 53 f. 48 Dass der Gesetzgeber hiermit nicht nur ein „Spiel mit Worten“ im Auge hatte, folgt aus der Entstehungsgeschichte: Das nunmehr vom Gesetz verwendete Kriterium der „Aufgabenwahrnehmung“ ist in den Regierungsentwurf (BTDrucks. 10/318) über den Referentenentwurf (Text in: Bundesministerium der Justiz Schlußbericht S. 34) hineingekommen, der wiederum ersichtlich an den Inhalt meines der Sachverständigenkommission erstatteten Gutachtens anknüpft, „daß mit der Übernahme der Aufgaben auch die Pflicht zur Wahrung des Rechtsgutes übernommen wird“ und deshalb der Standpunkt des EEGOWiG, dass „es sich nicht von selbst verstehe, daß mit der bloßen Wahrnehmung von Aufgaben für

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Übernahme von Herrschafts- und damit Garantenfunktionen, deren partielle Übertragung den Geschäftsherren freilich nicht von jeder Verantwortlichkeit freistellt, sondern in einer Aufsichtsgarantenstellung belässt, wie in § 14 durch die Konjunktion „auch“ angedeutet wird und bei der Interpretation dieser Vorschrift noch niemals streitig gewesen ist (näher dazu Rdn. 72 f). Obwohl dieses Zusammenspiel der §§ 13 und 14 StGB ebenso wie die Täterschaftserstreckung beim Handeln für einen anderen durch die von mir erstmals 197849 entworfene Garantentheorie ebenso umfassend wie widerspruchsfrei erklärt und in eine allgemeine Theorie der täterschaftlichen Zurechnung eingebettet werden kann, muss diese Theorie aber andererseits wegen ihres Abstraktionsgrades ähnlich wie das Täterschaftsprinzip der Tatherrschaft bei den Begehungs-Gemeindelikten erst noch „am Rechtsstoff entfaltet werden“,50 so dass ihre Richtigkeit endgültig erst durch ihre Bewährung an den zahlreichen speziellen Sonderdelikten und Vertretungsformen i.w.S. erwiesen werden kann, weshalb auch die Kritik etwaige unzulängliche konkrete Problemlösungen als Mittel einer reductio ad absurdum benutzen könnte. Hierfür genügt jedoch nicht die Kritik, dass die Garantentheorie die Einschränkun- 18 gen der Verantwortlichkeit des gewillkürten Stellvertreters § 14 Abs. 2 (s.u. Rdn. 19, 89) nicht bis zur letzten Konsequenz abzubilden vermöge (F. Schneider S. 50 f, dessen eigenes Kriterium einer „unrechtsgelösten, an Status anknüpfenden Rechtsfigur im Sinne des Mindestinhalts wahrscheinlichkeitsbezogener Sonderdelikte“, aaO. S. 233, in einem strafrechtsdogmatischen Nirwana siedelt), weil der Gesetzgeber, wie am Wortlaut von § 14 Abs. 1 unschwer zu erkennen ist, ursprünglich in einer für die strafrechtliche Zurechnung völlig unbehelflichen zivilistischen Betrachtungsweise befangen war (die ja auch noch heute in der eingebürgerten, aber durchaus schiefen Bezeichnung der die Täterschaft bei Sonderdelikten substituierenden Figur als „Vertreterhaftung“ nachklingt) und deshalb sogar von der gesetzlichen Stellvertretung als Grundlage ausging, mittlerweile jedoch, wie erwähnt, von den „Pflichten“ auf die „Aufgaben“ übergewechselt ist und hiermit selbst durch die Schale des zivilrechtlichen Innenverhältnisses auf den Kern der durch die Aufgabenwahrnehmung begründeten Herrschaftsposition durchgegriffen hat. Selbst der Nachweis, dass nicht alle Sonderdelikte durch eine Garantenstellung des Intraneus gekennzeichnet wären und es deshalb neben den Garantensonderdelikten auch noch weitere Kategorien gäbe, für die dann auch spezifische Kriterien der Vertreterhaftung zu entwickeln wären, würde nicht die Richtigkeit der Garantentheorie für den unbestreitbar überwältigend größten Teil der Sonderdelikte in Gestalt der Garantensonderdelikte in Frage stellen, weshalb auch die in dieser Hinsicht von Hoyer (SK Rdn. 15) und Roxin (AT II § 27 Rdn. 99) geäußerte Kritik nicht den Grundansatz, sondern nur die Exklusivität der Garantentheorie in Zweifel zieht und allenfalls ihre Erweiterung nötig machen könnte. Aber selbst dieser Nachweis ist bisher nicht erfolgt, weil es sich bei dem von Roxin und Hoyer allein angeführten Delikt des Vereitelns der Zwangsvollstreckung (§ 288 StGB) sehr wohl um ein Garantensonderdelikt handelt: Der Schuldner besitzt als Inhaber seines Vermögens auch im Falle einer von ihm abwendbaren, aber geduldeten Minderung dieses Vermögens (durch die die Befriedigungschancen der Gläubiger beeinträchtigt werden) die „Herrschaft über den Grund des Erfolgs“, doch ist sein etwaiges Unterlassen der Vermögenswahrung erst von dem Zeit-

_____ einen anderen auch dessen Pflichten übernommen würden“, unrichtig sei (Unternehmenskriminalität I S. 230). 49 ZSchwR 1978 131, 152–155; im Ansatz zustimmend Roxin LK10 § 14 Rdn. 9 a.E.; ders. AT II § 27 Rdn. 99; Hoyer SK Rdn. 14; auch Sch/Schröder/Perron Rdn. 2 a.E.; Marxen NK³ Rdn. 17. Trotz der abweichenden Nomenklatur in der Sache auch weitgehend ähnlich Jakobs AT § 21 Rdn. 11. 50 Roxin LK11 § 25 Rdn. 36.

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punkt an rechtswidrig, da das Zwangsvollstreckungsrecht für ihn eine Rechtspflicht statuiert, für den Fortbestand eines bestimmten Vollstreckbarkeitsniveaus zu sorgen (näher Schünemann LK12 § 288 Rdn. 28). Infolgedessen ist auch hier § 14 auf Organe/Substituten des Schuldners ohne Probleme anwendbar (Schünemann ibid. Rdn. 38). 19

5. Dass das Gesetz bei der „Reichweite nach unten“ in Gestalt der Substitutenhaftung des Abs. 2 Nr. 2 durch die Forderung einer „ausdrücklichen Übertragung“ und die Beschränkung auf den Bereich der Unternehmenskriminalität (also Ausschluss privater Substitutionsverhältnisse) zwei sachlogisch an sich nicht legitimierbare Strafbarkeitslücken lässt, ist wegen der in Art. 103 II GG vorgeschriebenen Wortlautgrenze als Erscheinungsform der fragmentarischen Natur des Strafrechts selbstverständlich hinzunehmen, darf dann aber nicht etwa umgekehrt zu dem Fehler verleiten, die Theorie der strafrechtlichen Vertreterhaftung an diesen Lücken auszurichten. Genau dies geschieht aber in dem jüngsten Versuch von Hoyer, in der Beschränkung des § 14 auf ein Handeln „als Organ“ bzw. „aufgrund dieses Auftrages“, die nach früher herrschender, mittlerweile aber in die Minderheit geratener Auffassung ein Handeln im Interesse des Vertretenen voraussetzt (näher dazu u. Rdn. 51), den Sachgrund für die Vertreter- und Substitutenhaftung zu sehen und unter Vertreter i.S.d. § 14 denjenigen zu verstehen, der „aufgrund seiner Stellung typischerweise erwarten lässt, dass er sich als Interessenvertreter des Sonderpflichtigen verstehen und betätigen wird“ (SK Rdn. 19). Denn abgesehen davon, dass mit dieser doppelten Subjektivierung (Erwartung, dass sich jemand als Interessenvertreter verstehen wird) die von der Pflichtentheorie immerhin aufrecht erhaltene formale und von der Garantentheorie intensivierte materielle objektive Beziehung zum geschützten Rechtsgut des jeweiligen Sonderdelikts aufgegeben wird, führt auch der Perspektivenwechsel vom „Außenverhältnis“ zwischen dem Organ/Substituten und dem jeweiligen Rechtsgut zum „Innenverhältnis“ zwischen dem Geschäftsherrn und dem sein Interesse wahrnehmenden Organ/Substituten von der zentralen Frage der Zurechenbarkeit der Rechtsgutsverletzung (die ja beim Sonderdelikt nicht im Innenverhältnis stattfindet!) weg. Vielmehr wird umgekehrt ein Schuh daraus: Wenn die dem Organ/ Substituten eingeräumte Herrschaftsposition von diesem gegen den Geschäftsherrn selbst gewendet wird, so lässt sich (in der für die Interessentheorie allein relevanten Konstellation, s.u. Rdn. 51!) zwar konstruktiv durchaus eine Idealkonkurrenz zwischen der darin liegenden Untreue zum Nachteil des Geschäftsherrn gemäß § 266 StGB und (falls die Untreue in der Krise vor einer Insolvenz begangen wird) einer darin zugleich liegenden Bankrotthandlung zum Nachteil der Gläubiger gemäß § 283 StGB konstruieren, so wie dies ja auch von der mittlerweile vom BGH geteilten Funktionentheorie (s.u. Rdn. 54) favorisiert wird. Aber weil die mittelbare Schädigung der Gläubiger typische Erscheinungsform jeder unmittelbaren Schädigung des Vermögensinhabers ist, macht die (wegen des nullum-crimen-Grundsatzes zu respektierende) positivrechtliche Entscheidung des Gesetzgebers, ein Handeln „als Organ pp.“ und damit nach traditioneller Auffassung im Interesse des Geschäftsherrn zu verlangen, unter dem Aspekt der Konsumtion pragmatisch durchaus einen Sinn, kann deshalb aber nicht von einem teleologisch auf der Konkurrenzebene angesiedelten und deshalb nachrangigen Prinzip zum eigentlichen Strafgrund der Vertreterhaftung heraufstilisiert werden.

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6. Die somit für § 14 nicht anders als für § 13 notwendige Konkretisierung der Garantentheorie als Erklärungsmuster der Sonderdelikte mit substituierbarer Täterqualifikation setzt freilich eine materielle Theorie des unechten Unterlassungsdelikts voraus, die die einzelnen Garantenstellungen in einem System der Gleichstellbarkeitsbedingungen von Tun und Unterlassen zusammenzufassen und dadurch auch die Schünemann

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Gleichheit der täterschaftlichen Zurechnung bei den unechten Unterlassungsdelikten und den Sonderdelikten i.e.S. aufzuweisen und sich zugleich selbst in eine allgemeine Theorie der Täterschaft im Strafrecht einzufügen vermag (dazu näher Schünemann LK12 § 25 Rdn. 16, 39 ff). Diese allgemeinen Grundsätze der Täterschaft müssen sodann auf die konkrete Ebene der einzelnen Straftatbestände „heruntergebrochen“ werden, wobei für die Organ- und Substitutenhaftung drei Ebenen zu unterscheiden sind: Auf der ersten Stufe muss geprüft werden, ob es sich bei dem betreffenden Straftatbestand überhaupt um ein Sonderdelikt oder vielmehr um ein verkapptes Gemeindelikt handelt, für das die allgemeinen Täterschaftsregeln gelten; auf der zweiten Stufe muss untersucht werden, ob das Handeln für einen anderen in dem betreffenden Deliktstatbestand bereits eine abschließende Spezialregelung erfahren hat; und erst danach stellt sich überhaupt auf der dritten Stufe die Frage einer Heranziehung der in § 14 niedergelegten Grundsätze der Organ- und Substitutenhaftung. IV. Die Strafbarkeit des Handelns für einen anderen als Ergebnis einer von § 14 unabhängigen Tatbestandsauslegung 1. Dass sich die Strafdrohung von vornherein auch auf das Handeln für einen ande- 21 ren bezieht und deshalb nicht erst durch § 14 darauf erstreckt zu werden braucht, kommt also für zwei unterschiedliche Deliktskategorien mit weiteren Untergruppen in Betracht, die in der bisherigen Diskussion nicht hinreichend auseinandergehalten worden sind:51 Zum einen kann die Tatbestandsauslegung ergeben, dass es sich überhaupt nicht um ein Garantensonderdelikt, sondern um ein Gemeindelikt handelt, bei dem sich die Täterschaft nach den allgemeinen Regeln des § 25 StGB bestimmt, nämlich wenn im Tatbestand ein einzelner deliktischer Akt als solcher pönalisiert wird und nach dem Gesetzeszweck jeder strafbar sein soll, der daran mit eigener Tatherrschaft52 zumindest mitbeteiligt ist. Die Auslegung kann freilich auch zu dem Ergebnis führen, dass es sich zwar um ein Sonderdelikt handelt, dass die Täterqualifikation aber bereits auf der Tatbestandsebene abschließend (und damit als lex specialis zu § 14 StGB) geregelt ist. Schwierig ist die Zuordnung, wenn der Straftatbestand nur denjenigen erfassen soll, der ein komplexes betriebliches Geschehen durch die Organisation insgesamt steuert und beherrscht. Erfasst der Tatbestand dagegen nur den Betriebsinhaber, in dessen Namen und auf dessen Rechnung gearbeitet wird, so liegt ein dem Regime des § 14 unterstehendes Sonderdelikt vor – wie überhaupt immer dann, wenn das Gesetz zur Kennzeichnung des Täters nicht allein die Tathandlung, sondern eine hinzukommende Position oder Funktion verlangt. Weil es sich hierbei im Einzelnen um Fragen des Besonderen Teils handelt, können diese Deliktsgruppen hier nur exemplarisch erläutert werden: a) Ein Musterbeispiel für die erste Deliktsgruppe bot das Tatbestandsmerkmal der 22 unerlaubten Ausfuhr in § 34 AWG a.F. Weil § 4 II Nr. 3 AWG i.d.F. v. 23.9.1990 die Ausfuhr als „das Verbringen von Sachen und Elektrizität aus dem Wirtschaftsgebiet nach fremden Wirtschaftsgebieten“ definierte, andererseits aber gemäß § 4c Nr. 4 AWV53 als Ausführer „jede natürliche oder juristische Person“ bezeichnet wurde, „die zum Zeit-

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51 Vgl. stellvertretend Sch/Schröder/Perron Rdn. 5; Böse NK Rdn. 9; Cadus S. 62 ff, die die beiden im Text unterschiedenen Kategorien nicht auseinanderhalten. 52 Zum allgemeinen Täterkriterium der Tatherrschaft bei den Begehungsdelikten siehe Schünemann LK12 § 25 Rdn. 32, 36 ff. 53 Außenwirtschaftsverordnung vom 18.12.1986 (BGBl. I S. 2671) i.d.F. bis 31.8.2013.

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punkt der Ausfuhr Vertragspartner des Empfängers in einem Drittland ist und über die Versendung der Güter aus dem Wirtschaftsgebiet in ein Drittland bestimmt“, konnte man § 34 AWG mit guten Gründen als ein Sonderdelikt des Ausführers interpretieren. Der BGH hat dies jedoch nicht getan, sondern die unerlaubte Ausfuhr als den „tatsächlichen Vorgang“ der räumlichen Verbringung von Waren aus dem deutschen Wirtschaftsgebiet in ein anderes qualifiziert und dadurch den allgemeinen Regeln der §§ 25 ff StGB unterstellt.54 Ähnliche Konstellationen finden sich in zahlreichen Gesetzen des Nebenstrafrechts, etwa beim Tatbestandsmerkmal des Inverkehrbringens in den §§ 58 LFBG und 96 AMG. Auch im StGB finden sich Beispiele, etwa das Tatbestandsmerkmal des „Ankaufens“ in § 259 StGB, für das bereits die ältere Rechtsprechung die Begründung fremder Verfügungsgewalt hatte ausreichen lassen (BGHSt 2 262; 2 355; 6 59), obwohl bei einer am Zivilrecht orientierten Interpretation auch die Qualifikation der Hehlerei als eines Sonderdelikts des Vertragspartners des Vortäters möglich gewesen wäre. Im EGStGB ist dann diese Rechtsprechung dadurch bestätigt worden, dass der (selbst noch mehrdeutige) Oberbegriff des „Ansichbringens“ als „sich oder einem Dritten verschafft“ reformuliert und zugleich im subjektiven Tatbestand die fremdnützige Vorteilsabsicht für ausreichend erklärt worden ist. Besondere Probleme wirft das strafrechtliche Verbot bestimmter Veranstaltungen auf, etwa eines Glücksspiels gemäß § 284 StGB oder einer Lotterie gemäß § 287 StGB. In Anlehnung an die in dieser Frage uneinheitliche und widerspruchsvolle Rechtsprechung (vgl. Rdn. 7) werden beide Tatbestände teils als Gemeindelikte interpretiert, so dass derjenige Täter sein soll, der über die Veranstaltung die Tatherrschaft ausübt, teils als Sonderdelikte des Glücksspiel- bzw. Lotterie-Unternehmers mit Anwendung des § 14 auf dessen Organe und Beauftragte.55 Richtigerweise handelt es sich um Organisationsdelikte, ebenso wie früher § 12 IV JÖSchG bzw. heute § 27 II JuSchG;56 näher zu dieser Kategorie unten Rdn. 31. Dasselbe gilt für den Bauleiter (§ 319 StGB), dessen Extension von der Rechtsprechung seit langem mit Hilfe der faktischen Betrachtungsweise bestimmt wird, was angesichts der adverbialen Fassung des in § 319 geregelten Verstoßes „bei der Planung, Leitung oder Ausführung eines Baues“ auch ersichtlich mit dem Willen des Gesetzgebers übereinstimmt. Die gleichen Fragen und Lösungsmöglichkeiten treten auch bei modernen und für 23 die heutige Kriminalpolitik zentralen Straftatbeständen in Erscheinung. So wird etwa vom BGH das Merkmal Handeltreiben in § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG nicht nur von jeder Beschränkung des Täterkreises freigehalten, sondern sogar in einer unvergleichlich extensiven Interpretation als „jede eigennützige, auf Umsatz gerichtete Tätigkeit“ definiert.57

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54 BGH NJW 1992 3114 f wollte die allgemeinen Regeln des § 25 StGB in Form der subjektiven Theorie anwenden, was im Ergebnis zu dem hier skizzierten Konzept des Organisationsdelikts keinen Unterschied machen dürfte. Seit den zahlreichen Novellen zum AWG mischen sich darin Gemein- und Sonderdelikte, was der Interpretation zahlreiche Probleme bereitet (instruktiv BGHSt 55 94; ARR-Junck/Kirch-Heim 4/3/ 85). Das ähnlich strukturierte Delikt des § 326 StGB ist vom BGH allgemein den Regeln der Tatherrschaft unterstellt worden, s. BGHSt 39 381, 385; 40 84, 87; Schall NStZ 1997 577. 55 Im ersteren Sinne die h.L., vgl. Cadus S. 138f m.w.N.; Roxin AT II § 27 Rdn. 107; Böse NK Rdn. 10; Krehl LK § 284 Rdn. 18, § 287 Rdn. 18; Sch/Schröder/Eser/Heine/Hecker § 284 Rdn. 14, § 287 Rdn. 11; im zweiten Sinne Samson SK § 284 Rdn. 13, Jescheck/Weigend § 23 VIII 2 und Maurach/Schroeder/Maiwald I § 44 Rdn. 10, 19, freilich ohne nähere Begründung. 56 Das Gleiche gilt auch für die Ordnungswidrigkeit der „Durchführung einer Veranstaltung“ gemäß § 29 i.V.m. § 49 Abs. 2 Nr. 6 StVO (OLG Düsseldorf DAR 1979 106, freilich ohne die Problematik anzusprechen). 57 St. Rspr., siehe BGHSt 25 290; 28 309; 29 239, 240; BGH NJW 1979 1259; BGHSt (GrS) 50 250. Ebenso durchschlagende wie erfolglose Kritik bei Roxin StV 1992 517 ff, ders. StV 2003 619; Nestler in Kreuzer (Hrsg.) Handbuch des Betäubungsmittelstrafrechts (1998) § 11 Rdn. 357; Vorlagebeschluss BGH NJW 2005 1589. Zu weiteren Beispielen für die im Text behandelte Deliktsgruppe siehe Böse NK Rdn. 9, ferner die mit

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Im Gegensatz dazu werden die auf den ersten Blick als Gemeindelikte formulierten Tatbestände des Umweltstrafrechts, die das unerlaubte Betreiben von Anlagen o.ä. pönalisieren (etwa § 327 Abs. 1 StGB: „Wer ohne die erforderliche Genehmigung eine kerntechnische Anlage betreibt“), häufig als Sonderdelikte des im eigenen Namen und auf eigene Rechnung handelnden Betreibers mit der Folge der Anwendbarkeit des § 14 angesehen,58 was freilich angesichts der mit den §§ 284, 287 StGB vergleichbaren Tatbestandsstruktur keinesfalls zwingend ist und in kriminalpolitischer Hinsicht wegen des drohenden Fortfalls jeder Amtsträgerstrafbarkeit selbst bei vorsätzlicher Erteilung grob rechtswidriger Genehmigungen59 erhebliche Probleme aufwirft. b) Während also bereits „die Umdeutung von Handlungsmerkmalen in Tätermerk- 24 male methodische Bedenken erweckt“ (Böse NK Rdn. 10), gilt dies in potenzierter Weise für das umgekehrte Vorgehen, Statusbezeichnungen des Gesetzes in Handlungsmerkmale umzudeuten. Zwar hat das die Rechtsprechung bis zur Einführung des § 14 im Wege der „faktischen Betrachtungsweise“ viele Jahrzehnte praktiziert, beginnend mit der Entscheidung des Reichsgerichts vom 2.4.1883 zum Begriff des „öffentlichen Pfandleihers“ in § 290 StGB, der im Sinne der „tatsächlichen Betreibung oder Mitbetreibung des Gewerbes“ interpretiert wurde.60 In welchem Umfange die nachfolgende Rechtsprechung weitere Straftatbestände in einer vergleichbaren Weise ausgelegt hat, ist aber ebenso in der einschlägigen Literatur umstritten 61 wie in seiner Bedeutung für den heutigen Rechtszustand seit Schaffung des § 14 zweitrangig, weil diese Entscheidungen zur Haftung von Organen und gesetzlichen Vertretern im Kontext des Versuches der früheren Rechtsprechung standen, praeter legem wenigstens eine allgemeine Organhaftung zu etablieren (dazu Rdn. 3), und deshalb seit der gesetzlichen Einführung des § 14 Abs. 1 überholt sind.62 Die Umdeutung von statusbezogenen Sonderdelikten in handlungsbezogene Gemeindelikte ist deshalb seit Einführung des § 14 StGB obsolet, und die im Schrifttum verbreitete Kritik an der ehemals hierfür das dogmatische Vehikel abgebenden faktischen Betrachtungsweise greift in diesem Punkt zweifellos durch. Gleichwohl führt die Qualifikation als Sonderdelikt nicht eo ipso zur Anwendung des § 14 StGB, denn zuvor ist (auf der zweiten Stufe) zu prüfen, ob das betreffende Sonderdelikt nicht vielleicht eine

_____ dem nachfolgend im Text zu explizierenden Konzept der Organisationsdelikte verwandte Idee einer „funktionellen Sicht der Täterschaft“ bei Tiedemann JuS 1989 696. 58 Die Frage ist, obwohl von größter praktischer Bedeutung, bis heute im Schrifttum nur unzulänglich geklärt. Während Schall SK § 325 Rdn. 86, § 327 Rdn. 9 als Betreiber nur den Adressaten der erforderlichen Genehmigung qualifiziert und damit unmissverständlich ein Sonderdelikt annimmt, lassen Steindorf LK11 § 327 Rdn. 25 sowie Sack § 327 Rdn. 138 auch die „tatsächliche Inbetriebnahme“ ausreichen, während Sch/Schröder-Heine/Hecker Rdn. 25 Vor § 324, § 325 Rdn. 29 und § 327 Rdn. 23 im Anschluss an Witteck (2004) bei § 325 eine differenzierende Lösung bevorzugen; aus der Rechtsprechung ohne weitere Problematisierung OLG Karlsruhe ZfW 1996 406. 59 Siehe Sch/Schröder-Heine/Hecker Vor § 324 Rdn. 31; Keller FS Rebmann, S. 241, 253, 257; Winkelbauer NStZ 1986 149, 150. Die Rechtsprechung hatte die unerträglichsten Strafbarkeitslücken dadurch beseitigt, dass sie an die Dignität der „erforderlichen Genehmigung“ gemäß § 327 StGB in einer typischen Befreiung des Strafrechts vom öffentlich-rechtlichen Denken strengere Anforderungen stellte, als es der verwaltungsrechtlichen Abgrenzung zwischen Nichtigkeit und Anfechtbarkeit eines Verwaltungsaktes entspricht (LG Hanau NJW 1988 582; krit., aber nicht überzeugend Dolde NJW 1988 2329; Horn NJW 1988 2335); nunmehr ist das Problem jedenfalls für alle Kollisionsfälle durch § 330d I Nr. 5 StGB entschärft. 60 RGSt 8 269, 270 und dazu Bruns Organe 36 f; Cadus 62 f, 121 ff, 135 f; ebenso zum Begriff des „Brauers“ RGSt 24 353, 354. Im Unterschied zu der vorstehend in Rdn. 22 f behandelten Kategorie betrifft die faktische Betrachtungsweise hier also nicht die Tathandlung. 61 Vgl. insbesondere die Kritik an der Würdigung der Rechtsprechung durch Wiesener S. 102 und Bruns GA 1982 1, 19, bei Cadus S. 64 u.ö. 62 Am Beispiel des „Pfandleihers“ Schünemann LK12 § 290 Rdn. 5.

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abschließende oder jedenfalls spezielle Regelung der Täterqualifikation enthält. Ein Beispiel dafür bietet § 289 StGB63 sowie die Rechtsprechung zu § 266 StGB, derzufolge der Vertreter oder Beauftragte des Vermögensfürsorgepflichtigen bei hinreichender Selbständigkeit selbst als treupflichtig zu betrachten sein soll, auch wenn der Betreute nicht einmal etwas davon weiß, dass der von ihm bestellte Vermögensfürsorger zur Erfüllung des Auftrages andere Personen hinzugezogen hat.64 Denn der Bundesgerichtshof hat diese Rechtsprechung nach der gesetzlichen Einführung der Organ- und Substitutenhaftung ausdrücklich fortgesetzt und eine direkt aus § 266 folgende Treupflicht des Vertreters auch dann bejaht, wenn die Voraussetzungen des § 14 Abs. 2 z.B. mangels Erteilung eines ausdrücklichen Auftrages nicht erfüllt sind.65 Das erscheint auch nach wie vor richtig, weil der Gesetzgeber dadurch, dass er auch ein (scil. „tatsächliches“) Treueverhältnis für täterschaftsbegründend erklärt hat, die Obhutsherrschaft über ein fremdes Vermögen als solche, also unabhängig von den einschränkenden Voraussetzungen des § 14 StGB, zum Kriterium der Täterschaft gemacht hat.66 Jede andere Konstruktion wäre auch sachlich unhaltbar, weil § 14 Abs. 2 StGB ja nur im Bereich der Unternehmenskriminalität eine Substitutenhaftung vorsieht, während der traditionelle Anwendungsbereich des Untreuetatbestandes ganz wesentlich im privaten Vermögensverkehr liegt. Wenn der BGH neuerdings die Erörterung der Täterstellung bei der Untreue mit einem Hinweis auf § 14 StGB verbindet,67 so ist aus den genannten Gründen kaum anzunehmen, dass er mit Hilfe einer zunächst „klammheimlich“ vorgenommenen Neuorientierung die alte Rechtsprechung preisgeben will, vielmehr dürfte es sich dabei um ein bloßes Versehen handeln. 25

c) Eine wichtige Gruppe von Sonderdelikten, auf die § 14 keine Anwendung finden kann, bilden diejenigen Straftatbestände, in denen von vornherein ein Vertreter Normadressat ist („Vertreterdelikt“): Wenn § 84 GmbHG den Geschäftsführer bestraft, der es unterlässt, den Gesellschaftern einen Verlust in Höhe der Hälfte des Stammkapitals anzuzeigen, oder § 15a IV Nr. 1 InsO das Mitglied des Vertretungsorgans einer juristischen Person, das es unterlässt, bei Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung rechtzeitig die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu beantragen, so ist auf dieses originäre Vertreterdelikt nicht ihrerseits die Vertreterhaftung anzuwenden (Roxin AT II § 27 Rdn. 106). Der Umkreis der tauglichen Täter des § 84 GmbHG bzw. § 15a IV InsO ist deshalb durch die Auslegung dieser Norm selbst zu ermitteln, wobei das Hauptproblem in der Anwendung auf faktische Geschäftsführer besteht (näher u. Rdn. 74 ff). Es muss deshalb beachtet werden, dass die (im Strafrecht umstrittene) Rechtsfigur des faktischen Organs, derzufolge die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Vorstands einer AG, Geschäftsführers einer GmbH etc. auch denjenigen treffen soll, der ohne förmliche Bestellung und Eintragung im Handelsregister im Einverständnis der Gesellschafter die Stellung eines Vorstands bzw. Geschäftsführers tatsächlich einnimmt,68 teils auf dieser zweiten Stufe der tatbestandsspezifischen Interpretation der Täterqualifikation, teils aber auch auf der

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63 Näher Schünemann LK12 § 289 Rdn. 21. 64 Vgl. BGHSt 2 324 f; 13 330 ff; BGH NJW 1983 1807; enger früher RGSt 62 15, 21; wie der BGH jedoch RGSt 74 1, 4. 65 BGH NJW 1983 1807 (insoweit in BGHSt 31 232 nicht abgedruckt). 66 Näher Schünemann LK12 § 266 Rdn. 67 f, 201; ders. LPK Untreue (2017) Rdn. 82 f, 255. 67 Im Fall „Bremer Vulkan“ zunächst der 2. Zivilsenat, siehe BGHZ 149 10 und zur Kritik Schünemann LM Nr. 1 Blatt 9 f zu § 309 AktG 1965; ders. Organuntreue S. 17; anschließend zum gleichen Komplex der 5. Strafsenat, BGHSt 49 147, 157, 161; zwischen Missbrauch und Treubruch diff. Radtke MK Rdn. 55. 68 St. Rspr. seit BGHSt 3 32, 37 ff; 6 314, 315 f; 21 101, 103; 31 118 ff; 34 221, 222; 34 379, 384; 46 62;47 318; z.w.N. bei Fuhrmann FS Tröndle, S. 140 ff; eingehend dazu Rdn. 74 ff.

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dritten Stufe der Interpretation des § 14 StGB (zu dieser Stufenbildung s.o. Rdn. 21) angesiedelt ist. Denn diese auf dem Boden der faktischen Betrachtungsweise entwickelte Zurechnungsregel wird von der Rechtsprechung sowohl bei ursprünglichen Sonderdelikten des Gesellschaftsorgans wie etwa der unterlassenen Insolvenzanmeldung des GmbHGeschäftsführers (und damit außerhalb von § 14) als auch im Hinblick auf § 14 III StGB bei originär nur von der Gesellschaft erfüllten Tätermerkmalen und damit innerhalb des Organbegriffs des § 14 Abs. 1 Nr. 1 praktiziert. d) In weiteren Fällen sind die strafrechtlichen Rechtsfolgen von Delegation und 26 Substitution schon so lange spezialgesetzlich geregelt, dass die traditionelle Auffassung die dahinter aufscheinende Substanz der Vertreterhaftung gar nicht mehr wahrgenommen hat. Dies gilt namentlich für die Täterqualifikation bei den Amtsdelikten, die durch § 11 Abs. 1 Nr. 2c und Nr. 4 StGB sehr weit in den Substitutenbereich hinaus ausgedehnt und zugleich abschließend umrissen ist, sowie bei der Verletzung von Privatgeheimnissen, für die ebenfalls in § 203 Abs. 4 StGB eine spezielle und sehr weitgehende Regelung der Substitutenhaftung bereitgehalten wird. Näher hierzu und zur Frage einer RestAnwendbarkeit des § 14 s. Rdn. 35 f. e) Hierher gehört schließlich auch der größte Teil der unechten Unterlassungsde- 27 likte, für die § 14 nach dem Gesagten nur insoweit benötigt wird, wie der Tatbestand eine über die allgemeinen, durch Übertragung der Herrschaftsposition delegierbaren Garantenstellungen hinausgehende Täterqualifikation voraussetzt, die den nicht delegationsfähigen personalen Status betrifft.69 Entsprechendes gilt für die echten Unterlassungsdelikte. Wenn es z.B. im Tatbestand des § 266a StGB heißt: „Wer als Arbeitgeber Beiträge des Arbeitnehmers zur Sozialversicherung der Einzugsstelle vorenthält, wird bestraft“, so kann ein mit der Ablieferung beauftragter Prokurist, der sich dieser Pflicht entzieht, wegen fehlender Arbeitgeberqualifikation nicht direkt, sondern nur unter den Voraussetzungen des § 14 Abs. 2 aus dieser Vorschrift bestraft werden. Oder, um ein etwas entlegenes Beispiel aus dem Ordnungswidrigkeitenrecht zu nennen: Wenn §§ 1, 5 der VO zur Bekämpfung der Blauschimmelkrankheit des Tabaks70 dem „Verfügungsberechtigten“ und „Besitzer“ gewisse Anzeigepflichten auferlegt, sind deren Vertreter nur über § 9 OWiG belangbar. Im Übrigen spielt § 14 bei unechten Unterlassungsdelikten deswegen keine Rolle, weil dem Organ oder Substituten wegen der Übernahme der Herrschaft über eine Gefahrenquelle oder die Hilflosigkeit des Rechtsgutes selbst eine Garantenstellung zuzusprechen ist, die eine unmittelbare strafrechtliche Verantwortung begründet. 71 Wenn etwa der Geschäftsführer einer GmbH, die ein Transportunternehmen betreibt, es unterlässt, die ihm zur Beförderung übergebenen wertvollen Geräte vor Schaden zu bewahren,72 so ist er unmittelbar aus § 303 zu bestrafen, weil ihn selbst eine Erfolgsabwendungspflicht trifft, die aus der mit der Leitung im Unternehmen übernommenen Obhutsherrschaft resultiert. Die Unanwendbarkeit des § 14 im Regelfall der unechten Unterlassungsdelikte führt 28 auch hier zu einer den Rahmen des § 14 überschreitenden Haftung gewillkürter Vertreter, z.B. zu einer „Garantenpflicht des für einen privaten Wagenpark verantwortlichen Garagenmeisters“ oder zur „Garantenpflicht des Dritten, der bei einem Unfall für einen

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Ebenso Sch/Schröder/Perron Rdn. 6 m.w.N. Vom 13.4.1978 (BGBl. I 502, zuletzt geändert durch VO vom 10.10.2013, BGBl. I 2113). Vgl. bereits Roxin AT II § 27 Rdn. 111 f sowie Blauth S. 114–122. Beispiel bei Blauth S. 115.

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anderen die Hilfeleistung übernimmt“.73 Aber das liegt darin begründet, dass diese Personen die sachlogischen Bedingungen der Begehungsgleichheit ihres Unterlassens gemäß § 13 StGB realisieren, und bedeutet deshalb gegenüber der lückenhaften Regelung des § 14 keinen Nachteil, sondern einen Vorzug. Eine analoge Anwendung der in § 14 Abs. 2 statuierten, sachlogisch falschen Haftungslimitierung kommt deshalb nicht in Betracht.74 29

2. Obwohl sich damit auf allen drei Prüfungsstufen (ob überhaupt ein Sonderdelikt vorliegt, ob die Täterschaft bereits auf der Tatbestandsebene speziell und abschließend geregelt ist sowie verneinendenfalls ob die Vertreterhaftung gemäß § 14 eingreift) unterschiedlich große Einflüsse der faktischen Betrachtungsweise feststellen lassen, können erst durch ihre hier vorgenommene Weiterentwicklung zu den Konzepten des Garantensonderdelikts und (nachf. Rdn. 31) des Organisationsdelikts nicht nur die methodologischen Einwände75 ausgeräumt, sondern auch das systematische Verhältnis zu § 14 StGB und damit die Reichweite auf den drei Prüfungsstufen geklärt werden, womit die notwendige Ordnung und Beurteilung der (vom Ergebnis her weitgehend überzeugenden) Kasuistik der Rechtsprechung eo ipso einhergeht (eingehend Schünemann LK12 Rdn. 28–30).

3. Der Befund, dass § 14 erst (auf der dritten Stufe) anwendbar ist, wenn nicht die Auslegung auf der ersten Stufe ein Gemeindelikt ergibt oder wenn nicht auf der zweiten Stufe eine Sonderregelung der Organ- und Substitutenhaftung auf der Ebene des speziellen Straftatbestandes festzustellen ist, droht wegen der Ausmanövrierung der strafbarkeitseinschränkenden Merkmale des § 14 auf den ersten beiden Stufen zu einer scheinbar nur positivrechtlich erklärbaren Ungleichbehandlung zu führen, weshalb Hoyer (SK Rdn. 40) und in eingeschränkter Form auch Böse (NK Rdn. 11) sogar eine analoge Anwendung des § 14 in bonam partem für geboten halten. Wenn man die Deliktsstrukturen auf der ersten und zweiten Stufe genauer analysiert, führen diese aber zu sachlich vollauf angemessenen Lösungen, so dass eine Ausweitung der in der Vertreterhaftung des § 14 verbleibenden Lücken weder in kriminalpolitischer Hinsicht noch unter Gerechtigkeitsaspekten geboten erscheint: Auf der ersten Stufe ist zwischen den die Masse der Straftatbestände (vor allem im 31 StGB) bildenden Einzelaktsdelikten zu unterscheiden, die eine einzelne Handlung beschreiben (regelmäßig mitsamt ihres Erfolges in Gestalt einer Rechtsgutgefährdung oder -verletzung), und den (materiellen) Organisationsdelikten, die ein Ensemble betrieblicher Abläufe thematisieren wie etwa die Veranstaltung eines Glücksspiels in § 284 StGB oder den Betrieb einer kerntechnischen Anlage in § 327 StGB. Bei den Einzelaktsdelikten sorgen schon die allgemeinen Grundsätze zur Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme dafür, dass jemand, der nur in untergeordneter Funktion mitwirkt und deshalb die Tat nicht wie ein Mittäter mitbeherrscht, lediglich als Gehilfe gemäß § 27 StGB verant-

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73 Beispiele von Sch/Schröder/Lenckner/Perron Rdn. 6. 74 And. Böse NK Rdn. 11; Hoyer SK Rdn. 40, s.u. Rdn. 30. 75 Umfassende Kritik seit langem von Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 66 ff = Wirtschaftsstrafrecht und Wirtschaftskriminalität I S. 173 ff; ders. NJW 1977 777, 779; ders. NJW 1979 1849, 1850; zurückhaltender ders. Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 267 ff. Eine prinzipielle Ablehnung findet sich auch in der Monographie von Cadus, der der faktischen Betrachtungsweise Begründungslosigkeit und Verschleierungsfunktion vorwirft und die von ihr erzielten Ergebnisse, soweit sie zutreffend sind, als Produkt der teleologischen Auslegung sieht (S. 146 f und passim). Positiver ist die Einschätzung bei Roxin AT II § 27 Rdn. 105 ff; Schünemann Unternehmenskriminalität S. 142. Eine eindringliche Verteidigung findet sich bei Bruns JR 1984 133 ff. Zur speziellen Kontroverse um die Rechtsfigur des faktischen Organs s. Rdn. 69 ff.

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wortlich ist. Freilich stößt die „faktische Betrachtungsweise“ bei den Einzelaktsdelikten auf erhebliche Schwierigkeiten bei der Erfassung des ohne eigene Tatherrschaft im Ausführungsstadium agierenden Unternehmensinhabers (etwa: des auf den Bahamas lebenden Chefs des Glücksspiel- oder Rauschgiftringes): Dieser wird auf eine bloße Teilnehmerrolle reduziert, sofern nicht spezielle, entweder umstrittene oder hinter dem Gewicht von dessen Beitrag zurückbleibende Konstruktionen wie die mittelbare Täterschaft kraft organisatorischer Machtapparate,76 die Mittäterschaft im Vorbereitungsstadium77 oder die Beteiligung durch Unterlassen78 bemüht werden. Deliktstatbestände, die eine betriebliche Tätigkeit beschreiben, sind deshalb von vornherein auf (alle) diejenigen Personen anzuwenden, die diese Tätigkeit insgesamt beherrschen, was sich regelmäßig aus ihrer Position innerhalb der betrieblichen Hierarchie ergibt, ausnahmsweise aber auch nach den (hier anders als bei Sonderdelikten anwendbaren) Regeln der mittelbaren Täterschaft bei einem Betriebsexternen durch Benutzung eines Betriebsangehörigen als eines vorsatzlosen Werkzeugs der Fall sein kann. Solche spezifischen Organisationsdelikte sind keine Sonderdelikte (wie die die Täterschaft an die Unternehmensinhaberschaft heftenden Unternehmerdelikte nach Art des § 266a StGB), knüpfen aber im Unterschied zur großen Masse der Delikte nicht an bestimmte einzelne Handlungen des Täters wie die Einzelaktsdelikte an, sondern an ein Ensemble von betrieblichen Abläufen, als deren „Täter“ derjenige im Tatbestand bezeichnet wird, der allein oder mit anderen über diese Abläufe die Entscheidungsmacht ausübt, d.h. der der betrieblichen Organisation eines strafrechtlich unerwünschten Erfolges vorsteht.79 Die Organisationsdelikte koppeln damit die strafrechtliche Verantwortlichkeit an den tatsächlichen Einfluss auf die Tätigkeit der Organisation, ohne (wie die Sonderdelikte) am formalen Status zu haften, ohne aber auch (wie eine auf die Einzelakte in der vordersten Linie konzentrierte faktische Betrachtungsweise) den beherrschenden Einfluss der Hintermänner auf das betriebliche Geschehen als weiteren Brennpunkt des komplexen organisatorischen Ablaufes auszublenden und dadurch die Täterschaft vornehmlich auf den unteren, für die Gesamtabläufe marginalen Rängen der betrieblichen Hierarchie zu lozieren. Für eine Heranziehung des § 14 besteht bei diesem Konzept weder Raum noch Bedürfnis, weil die Täterschaft unmittelbar aus der Herrschaft über die Organisation folgt und deshalb die formelle Tatbestandsmäßigkeit dem materiellen Unrecht optimal korrespondiert. Alle auf betriebliche Abläufe gemünzten Delikte sollten deshalb – im Einklang mit der im Gesetzeswortlaut ausgedrückten, sachlogisch richtigen Intuition des Gesetzgebers – als Organisationsdelikte interpretiert werden. Das gilt insbesondere auch für die vorstehend in Rdn. 23 aufgeführten Tatbestände, denn beim Anlagenbetreiben, Ausführen, Handeltreiben und Veranstalten geht es typischerweise um komplexe Abläufe innerhalb einer arbeitsteiligen Organisation, so dass die Tathandlung nicht in dem bloßen körperlichen Vollzug, sondern in der Ausübung organisatorischer Leitungs- und Entscheidungsmacht zu sehen ist. Eine Anlage wird i.S.d. § 327 StGB also noch nicht von jedem darin tätigen Arbeiter, aber auch nicht erst von der Aktiengesellschaft als Inhaberin des Unternehmens betrieben, sondern von dem in der betrieblichen Hierarchie für die Führung dieser

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76 Dazu Schünemann LK12 § 25 Rdn. 122 ff. 77 Dazu Schünemann LK12 § 25 Rdn. 180 ff. 78 Aufgrund der Geschäftsherrenhaftung (dazu näher Rdn. 17, 72 f), bei der aber die fakultative Strafmilderung des § 13 Abs. 2 StGB eingreift. 79 Zust. Radtke MK Rdn. 40. Das Verhältnis zu formellen Organisationsdelikten wie etwa § 129a StGB bedarf weiterer Prüfung, während die sog. uneigentlichen Organisationsdelikte bisher nur eine Rechtsfigur des Rechts der Konkurrenzen und des Strafverfahren bilden (s. dazu BGHSt 49 177, 184; BGH NJW 2001 2643; BGH NZWiSt 2017 190; StV 2018 31; BGHSt 57 88, 94; 59 11, 13).

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Anlage primär zuständigen Mitarbeiter bis hinauf zu denjenigen zuständigen Entscheidungsträgern in der Unternehmensspitze, die mit Wissen der nachgeordneten Organe um den konkreten Anlagebetrieb wissen und ihn durch diese Reflexivität des Wissens konkludent billigen. Oder von § 34 AWG wird als Täter der Ausfuhr nicht der bloße Handlanger wie etwa der untergeordnete Lkw-Fahrer, sondern dessen das konkrete Ausfuhrgeschäft leitender Vorgesetzter bis hin zum höchsten konkret eingeschalteten Entscheidungsträger erfasst80 – selbstverständlich unter Einbeziehung des Einmannunternehmers, was für die Erfassung der Kleindealer bei § 29 BtMG wichtig ist. In ganz ähnlicher Weise kann auch bei den Sonderdelikten, die eine zu § 14 StGB 32 spezielle Regelung der Täterstellung enthalten wie etwa § 266 StGB oder die unechten Unterlassungsdelikte, eine angemessene Abgrenzung der Täterschaft sichergestellt werden, und zwar beim Untreuetatbestand durch die Forderung einer Geschäftsbesorgungstätigkeit und den Ausschluss des bloßen Hantierens mit Sachen.81 Wenn dementsprechend aber sowohl auf der ersten Stufe als auch auf der zweiten Stufe die sachlogisch angemessene Abgrenzung der Täterstellung im Wege der Gesetzesinterpretation sichergestellt werden kann, wäre es durch nichts zu rechtfertigen, sachlich unbegründete und reformbedürftige Limitierungen des § 14 Abs. 2 StGB, die innerhalb von dessen Anwendungsbereich wegen des Analogieverbots respektiert werden müssen, sogar noch per Analogie auf andere, davon nicht erfasste Bereiche zu erstrecken. V. Die besonderen persönlichen Merkmale als Vertypung übertragbarer Garantenstellungen 33

1. a) Über die Frage, was ein „besonderes persönliches Merkmal“ i.S.d. § 14 sei, herrscht bis heute keine Einigkeit. Damit sind nicht die zahlreichen Probleme gemeint, die schon im Rahmen des § 28 bei der Auslegung dieses Begriffs auftreten (vgl. eingehend Schünemann LK12 § 28 Rdn. 22 ff). Überaus zweifelhaft ist vielmehr die Vorfrage, ob und ggf. inwieweit der Begriff der „besonderen persönlichen Merkmale“ in §§ 14 und 28 übereinstimmt (vgl. schon o. Rdn. 9). Die Auffassungen stehen hier schroff gegeneinander. Während der Gesetzgeber, wie die Verwendung derselben Bezeichnung und die Verweisung des § 28 Abs. 1 auf § 14 Abs. 1 zeigen, anscheinend die Begriffe in beiden Bestimmungen für gleichbedeutend hielt (so wohl auch EEGOWiG S. 63) und ebenso Langer82 bei den „besonderen persönlichen Merkmalen“ des § 14 von ihrer „begrifflichen Identität mit denen des § 28 StGB“ ausgeht, spricht Herzberg83 gerade umgekehrt von einem gegensätzlichen Verhältnis; danach fielen unter die eine Vorschrift also immer nur die besonderen persönlichen Merkmale, denen diese Qualität bei der anderen Vor-

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80 Die Ausarbeitung eines detaillierten dogmatischen Konzepts der Organisationsdelikte kann im Rahmen einer Kommentierung des § 14 StGB nicht in Angriff genommen werden. Das ausschlaggebende Unterscheidungsmerkmal zum unechten Unterlassungsdelikt des Vorgesetzten kraft der Geschäftsherrenhaftung dürfte in der im Text erläuterten Reflexivität des Wissens zu finden sein. In der Rechtsprechung ist dieses Konzept im Grunde schon heute intuitiv und implizit realisiert worden, wenn es ohne nähere dogmatische Begründung heißt, dass sich der Vorstand eines Unternehmens die mit seiner Kenntnis entfaltete betriebliche Tätigkeit zurechnen lassen müsse (OLG Düsseldorf wistra 1989 358; auch der Bundesgerichtshof im Lederspray-Urteil, BGHSt 37 114). Freilich muss sich erst noch die Erkenntnis Bahn brechen, dass dies nur für einen bestimmten, hier „Organisationsdelikt“ genannten Tatbestandstyp gilt, nicht aber bei den Einzelaktsdelikten (und nicht für den Handlungsbegriff allgemein, näher Schünemann FS BGH 50, S. 621, 623 ff). 81 Beispielhaft Schünemann LK12 § 266 Rdn. 75 ff; ders. LPK Untreue Rdn. 85 ff. 82 Langer FS Lange, S. 255. 83 Herzberg ZStW 88 (1976) 110, 114.

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schrift nicht zukommt. Diese Reziprozitätsthese findet sich in abgeschwächter Form auch bei Blauth und Gallas. Während sich nach Blauth (S. 113f) „das Verhältnis beider Tätermerkmalsgruppen am besten mit dem Bild zweier sich überschneidender Kreise veranschaulichen“ lässt, wobei jedoch die Überschneidung „die Ausnahme darstellt“ und für § 14 nur „erfolgsbezogene“ Pflichtenstellungen in Frage kommen sollen (S. 86f), während Pflichtenstellungen von besonderem personalethischen Gehalt keine Vertreterhaftung zuließen, schließt nach der Lehre von Gallas84 das, was den Teilnehmer zu entlasten geeignet ist, nämlich die höchstpersönliche Natur des betreffenden Tätermerkmals, eine Belastung des Vertreters gerade aus. Die persönlichen Merkmale der Vorschrift über die Vertreterhaftung und die der Teilnehmervorschrift stünden danach, vorbehaltlich gewisser Überschneidungen in Grenzfällen, in einem reziproken Verhältnis zueinander. Zu überzeugen vermag jedoch weder die Identitäts- noch die Reziprozitätsthese, 34 weshalb auch die Identitätsthese im Schrifttum überhaupt keine und die Reziprozitätsthese nur anfangs eine verbale, nach der daran hier in der 11. Auflage geübten Kritik aber in der Sache aufgegebene Gefolgschaft gefunden hat. Die Identitätsthese verkennt, dass es für die Strafrahmen-Privilegierung nichtqualifizierter Beteiligter in § 28 StGB85 nicht darauf anzukommen braucht, ob das in ihrer Person nicht erfüllte Merkmal an sich substituierbar ist oder nicht, während die Täterqualifikationsausdehnungsnorm des § 14 die Substituierbarkeit der Tätermerkmale voraussetzt.86 Auch durch die Reziprozitätsthese wird das systematische Verhältnis der beiden Vorschriften missverstanden: Während § 28 die Frage regelt, welche Konsequenzen sich für die Strafbarkeit eines Beteiligten aus der Existenz eines nicht von ihm, aber von anderen Beteiligten verwirklichten besonderen persönlichen Merkmals ergeben, beantwortet § 14 nicht etwa eine auf der gleichen Ebene angeordnete entgegengesetzte (so die Reziprozitätsthese), sondern die logisch vorrangige Frage, wann einem Beteiligten ein besonderes persönliches Merkmal als von ihm verwirklicht unmittelbar zugerechnet werden kann, indem die im Besonderen Teil vorgenommenen Einschränkungen der Täterqualifikation wieder partiell zurückgenommen werden – so dass es keinerlei Widerspruch bedeutet, ein und dasselbe Tätermerkmal einem Beteiligten über § 14 zuzurechnen und einen anderen, die Voraussetzungen des § 14 insoweit nicht erfüllenden Beteiligten nach § 28 zu privilegieren.87 b) Eigenartigerweise hat aber diesen Untergang der Reziprozitätsthese das von ihr 35 behauptete teleologische Fundament überlebt, nämlich die angebliche Unvertretbarkeit der Täterschaft bei höchstpersönlichen, sozialethisch eingefärbten Pflichtenstellungen und deren Vertretbarkeit bei lediglich rechtsguts- und funktionsbezogenen Positionen, für die allein § 14 eingreifen soll.88 Aber die Höchstpersönlichkeit als Synonym für Nichtübertragbarkeit macht als eigenständige dogmatische Kategorie nur im Zivilrecht einen Sinn, in dem Rechte und Pflichten als solche übertragen werden können, während die strafrechtlichen Pflichten einerseits allemal höchstpersönlich sind und andererseits für jeden, der in die tatbestandlich vertypte Obhuts- oder Gefährdungsposition zum Rechtsgut eintritt, selbständig und neu entstehen. Hierfür kann es in einem allein als ultima ratio zum Rechtsgüterschutz legitimierten Strafrecht auch nicht auf eine angeblich selbständig neben der Sozialschädlichkeit stehende besondere sozialethische oder personal-

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84 Gallas ZStW 80 (1968) 22. 85 Zu dieser umstrittenen, aber zutreffenden Charakterisierung von § 28 vgl. Cortes Rosa ZStW 90 (1978) 413 ff; Roxin AT II § 27 Rdn. 16 ff; Schünemann GA 1986 293, 340; krit. Küper ZStW 104 (1992) 577 ff m.w.N. 86 Schünemann Unternehmenskriminalität I S. 139 Fn. 251. 87 Vgl. bereits Schünemann Unternehmenskriminalität I S. 133 ff; ders. Jura 1980 568, 573 f. 88 Sch/Schröder/Perron Rdn. 8; Böse NK Rdn. 14; SSW/Bosch Rdn. 5.

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ethische Verwerflichkeit89 ankommen, die als vermeintliche Privilegierungsvoraussetzung in § 28 den gleichen Phantomcharakter besitzt90 wie als angebliches Hindernis der Vertreterhaftung bei § 14. Denn von der darin zum Ausdruck kommenden Verwechselung des funktionsbezogenen Strafrechts mit dem statusbezogenen Berufsrecht (vgl. Fn. 42) abgesehen, findet diese für die dogmatischen Unklarheiten bei der Interpretation der §§ 28 und 14 hauptverantwortliche Phantomjagd ihre schlagende Widerlegung gerade in den von ihr selbst angeführten Paradebeispielen der wegen ihres personalethischen Gehalts angeblich nicht substituierbaren und deshalb für eine Vertreterhaftung ausscheidenden Pflichtenstellungen, nämlich derjenigen des Amtsträgers bei den Amtsdelikten und des Geheimnisträgers bei § 203 StGB.91 Denn in Wahrheit ist der strafrechtliche Beamtenbegriff seit langem von der ständigen, inzwischen vom Gesetzgeber im Amtsträgerbegriff des § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB bestätigten Rechtsprechung dahin ausgelegt worden, dass sogar eine formlose Bestellung zu vorübergehenden staatlichen Zwecken ausreicht und infolgedessen der auf diese Weise gewonnene Vertreter eines Amtsträgers unmittelbar selbst dem Amtsträgerbegriff unterfällt.92 Erst recht hat der Gesetzgeber in § 203 StGB durch die Einbeziehung der keinen besonderen Berufspflichten unterliegenden Hilfspersonen sowie der „postmortalen Mitwisser“ in Abs. 3 deutlich gemacht, dass die Täterschaft nicht von der Dignität des moralischen Bandes zwischen Geheimnisträger und Schweigepflichtigem, sondern allein von der nach viktimodogmatischen Grundsätzen geregelten Übernahme einer Obhutsgarantenstellung über das durch den Anvertrauensakt hilflos gewordene Rechtsgut abhängt.93 Neben diesen Spezialregelungen bleibt auch nicht einmal mehr ein Bedürfnis für die 36 konstruktiv immerhin denkbare, zusätzliche Heranziehung des § 14 übrig: Die Beschränkung des § 14 Abs. 2 Nr. 2 auf die ausdrückliche Beauftragung mit der eigenverantwortlichen Erledigung von Aufgaben des Betriebsinhabers ist etwa bei der Interpretation des früheren strafrechtlichen Beamten- bzw. heutigen Amtsträgerbegriffs noch niemals praktiziert worden, weil dafür schon die Betrauung mit mechanischen oder vorbereitenden Diensten oberhalb bloßer Reinigungsdienste genügt94 und es für seine „Selbständigkeit“ ausreicht, dass der Bedienstete über eine „praktische Einflussnahmemöglichkeit“ verfügt,95 weshalb – um nur zwei Beispiele anzuführen – ein Bahnjunghelfer als Schalterbeamter ebenso Amtsträger ist wie eine nur tatsächlich auf der Gemeindewaage unter Ausstellung von Bescheinigungen Verwiegungen vornehmende Person.96 Dass es bei den Amtsdelikten wegen der angeblichen höchstpersönlichen Pflichtenstellung keine Vertreterhaftung gebe, ist somit eine ebenso irrige Behauptung wie beim Geheimnisverrat,

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89 Gegen Blauth S. 112 (ähnlich Vogler FS Lange, S. 265, 276 ff); Fischer Rdn. 2; im Grundsatz ebenso, im Ergebnis aber teilweise abw. Sch/Schröder/Perron Rdn. 8; Radtke MK Rdn. 50, 53; im Ergebnis wie hier Hoyer SK Rdn. 30f; Roxin AT II § 27 Rdn. 101. 90 Vgl. bereits Schünemann Unternehmenskriminalität I S. 133 f; ders. Jura 1980 354, 359 ff; eingehend Schwerdtfeger Besondere persönliche Unrechtsmerkmale (1992) 170 ff. 91 Gegen diesen Nachweis, dass die Theorie von der Höchstpersönlichkeit dem Gesetzgeber völlig fremd ist, lässt sich auch nicht etwa mit Radtke MK Rdn. 53 einwenden, spezielle Regelungen ergäben nichts gegen die Leitlinie der h.M., denn die spezialgesetzlichen Regelungen der Substitutenhaftung und deren allgemeine Regelung in § 14 sind selbstverständlich funktional vergleichbar. 92 Vgl. zur Entwicklung des strafrechtlichen Beamtenbegriffs nach § 359 StGB a.F. RGSt 70 235; 72 290; 73 30;75 396; RG DR 1940 1520; zur Übernahme in § 11 I N. 2c StGB Saliger NK 15; Sch/Schröder-Eser/Hecker § 11 Rdn. 20 f; Hilgendorf LK § 11 Rdn. 33; Radtke MK Rdn. 42; BGHSt 31 267; 37 194; 38 201; 43 96; 43 374. 93 Vgl. bereits Schünemann Jura 1980 574; ders. LK12 § 203 Rdn. 158. 94 RGSt 67 300; 68 70. 95 Rudolphi/Stein SK-StGB § 11 Rdn. 29 ff m.w.N.; v. Heintschel-Heinegg BeckOK § 11 Rdn. 29; BGH NJW 2016 1398 am Beispiel eines Schulsekretärs; Saliger NK § 11 Rdn. 38. 96 OLG Oldenburg JR 1950 409; BGH bei Dallinger MDR 1958 141.

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der nicht nur in § 203 Abs. 2 StGB selbst als Amtsdelikt ausgestaltet ist, sondern auch in Abs. 1 Nr. 3 ausdrücklich eine spezielle, mit § 14 Abs. 1 identische Organhaftung statuiert, in Abs. 1 Nr. 6 jeden Arbeitnehmer der dort genannten Versicherungen zum tauglichen Täter erklärt und über Abs. 3 auch ohne jede Eigenverantwortlichkeit mitwirkende Arbeitnehmer oder auch Hilfspersonen wie Sekretärinnen oder mithelfende Ehefrauen97 einbezieht. Die hier angeordnete Vertreterhaftung reicht also viel weiter als § 14, weshalb für dessen zusätzliche Heranziehung weder Raum noch Bedürfnis besteht und die These der angeblich eine Vertreterhaftung blockierenden sozialethischen Sonderstellung am positiven Recht vollständig vorbeigeht.98 2. Der bereits in Rdn. 10 f zurückgewiesenen formalen Pflichttheorie zur Erklärung 37 der Vertreterhaftung und der in § 14 vorausgesetzten dogmatischen Kategorie der „besonderen persönlichen Merkmale“ kann deshalb weder durch die Reziprozitätsthese zum logisch-systematischen Verhältnis zu § 28 StGB noch durch die im Strafrecht unbrauchbare Unterscheidung zwischen erfolgsbezogenen und personalethischen Pflichtenstellungen neues Leben eingehaucht werden. Vielmehr ist der Begriff der „besonderen persönlichen Merkmale“ in § 14 entsprechend der in Rdn. 16 ff entwickelten Garantentheorie als gesetzlich vertypte Obhutsherrschaft über das Rechtsgut oder Aufsichtsherrschaft über eine dieser bedrohende Gefahrenquelle zu definieren. Das deckt sich im Ergebnis mit dem bereits von Roxin in der 10. Auflage (Rdn. 18) vertretenen, freilich auf die Pflicht (als Folge) selbst anstatt auf ihren Entstehungsgrund (als ratio essendi) abstellenden Konzept, „ob eine durch einen Tatbestand umschriebene Pflicht auch durch einen anderen als den dort Bezeichneten wahrgenommen werden kann; ist eine solche Wahrnehmung prinzipiell möglich und hat sie im konkreten Fall stattgefunden, so überträgt § 14 die strafrechtliche Verantwortung auf den Vertreter bzw. Beauftragten“. Die besonderen persönlichen Merkmale im Sinne des § 14 sind also eine Teilmenge der von § 28 StGB insgesamt erfassten objektiven Tätermerkmale,99 die der Täter (so die Einheitstheorie) in eigener Person verwirklichen muss und nicht nach den Regeln der mittelbaren Täterschaft über das Werkzeug auf sich ziehen kann.100 3. Aus der Garantentheorie folgt weiterhin, dass die noch übrig bleibenden zwei 38 großen Gruppen der Sonderdelikte i.w.S., nämlich die eigenhändigen Delikte und die Delikte mit subjektiver Täterqualifikation, nicht unter § 14 subsumiert werden können. Auch insoweit besteht bezüglich der Unanwendbarkeit des § 14 im Ergebnis weitgehend Einigkeit, weil ungeachtet der insoweit für § 28 zu findenden, wechselhaften und verworrenen Zuordnungskonzepte niemand für diese beiden Gruppen die Reziprozitätsthese ernst nimmt. a) Neben den hier als Domäne des § 14 bezeichneten Garantensonderdelikten gehört 39 zur Klasse der Delikte mit objektiver Täterqualifikation noch eine Anzahl in sich heterogener Straftatbestände, deren Täterbeschreibung nicht auf eine prästabilierte Gesche-

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97 Sch/Schröder-Lenckner/Eisele § 203 Rdn. 64; Schünemann LK12 § 203 Rdn. 78 m.w.N. 98 Diese klare Entscheidung des Gesetzgebers, dass die Grenzen des § 14 im Rahmen spezieller Regelungen der Vertreterhaftung nicht maßgeblich sind, bildet ein weiteres durchschlagendes Argument gegen die von Hoyer (SK Rdn. 40); Böse (NK Rdn. 11) befürwortete, o. Rdn. 30 zurückgewiesene analoge Anwendung der in § 14 Abs. 2 gezogenen Haftungsgrenzen auf alle Spezialregelungen einschließlich der Interpretation der Tätermerkmale im Wege der faktischen Betrachtungsweise. 99 Ebenso Hoyer SK Rdn. 27, 31. 100 Näher Schünemann LK12 § 28 Rdn. 10 ff, 44, 45 ff; ders. FS Küper S. 561 ff.

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hensherrschaft im Sinne der Kontrolle über einen sozialen Bereich (Rdn. 16 ff), sondern auf eine Limitierung des strafbaren Rechtsgutsverletzungsverhaltens zielt, wobei die regelmäßig nicht durch einen Gattungsbegriff, sondern durch einen Relationsbegriff vorgenommene Einschränkung des Täterkreises nur das Medium zur weiteren Beschreibung und damit Eingrenzung der verpönten Angriffsformen darstellt. Infolge dieser doppelten Beschränkung der strafrechtlich erfassten Angriffsform kann der Tatbestand dieser Delikte nur von dem zum Opfer in einer bestimmten Relation stehenden Täter (bei dem es sich um einen Garanten handeln kann, aber nicht muss) und nur durch eine bestimmte eigene Handlung oder Unterlassung erfüllt werden. Wegen dieses Charakteristikums der im Übrigen heterogenen Delikte ist es gerechtfertigt, sie unter der eigenen Kategorie der eigenhändigen Delikte zusammenzufassen101 und von der Anwendung des § 14 auszuschließen. Außer den hierfür üblicherweise angeführten Vorschriften der §§ 153 ff, 172, 173 und 316 gehört auch der Tatbestand der Unfallflucht (§ 142) in diese Gruppe. Weil die Beweisposition der Unfallbeteiligten und der Geschädigten als geschütztes Rechtsgut102 nur gegen ein ganz bestimmtes Gefährdungsverhalten anderer Unfallbeteiligter geschützt ist, erübrigt sich das unergiebige Räsonnement, ob die Wartepflicht höchstpersönlichen Charakter habe (Blauth S. 132), ob es statt dessen um eine rechtsgutsbezogene Pflichtenstellung geht (Roxin LK10 Rdn. 17) oder ob gar nur die „Positionsnähe zum Rechtsgut“ mit angeblich daraus folgender Unanwendbarkeit von § 28 Abs. 1103 zur Debatte steht. Nicht die argumentative Sackgasse der im rechtsgüterschützenden Strafrecht sinnlosen Unterscheidung zwischen rechtsgutsbezogenen und höchstpersönlichen Pflichten mitsamt der nach Belieben praktizierten oder preisgegebenen Reziprozität von § 28 und § 14, sondern die vom Gesetzgeber zwecks Beschränkung des kriminalisierten Verhaltens statuierte Eigenhändigkeit liefert deshalb die Begründung für die Unanwendbarkeit des § 14.104 40

b) Aus dem Dargelegten ergibt sich auch, dass subjektive, täterpsychische Merkmale von vornherein nicht als „besondere persönliche Merkmale“ i.S.d. § 14 angesehen werden können. Ob und ggf. inwieweit subjektive Umstände als strafbegründende Merkmale dem § 28 Abs. 1 subsumiert werden können, ist äußerst umstritten.105 Doch ist das für die Auslegung des § 14 irrelevant; hier müssen sie schon deshalb ausscheiden, weil subjektive Merkmale nicht (wie Obhutspositionen) übertragbar sind, sondern dem individuellen Handelnden unlösbar anhaften. Ferner können Merkmale wie „Rücksichtslosigkeit“ oder „Böswilligkeit“ nicht bei einem Vertretenen vorliegen, der überhaupt nicht gehandelt hat;106 dies ist von vornherein nur bei sozialen Statusbezeichnungen (wie „Arbeitgeber“, „Unternehmer“, „Gläubiger“ usw.) möglich. Keine Anwendung findet § 14 auch auf Delikte mit „egoistisch beschränkter Innentendenz“107 wie früher bei

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101 Vgl. zur Abgrenzung und kriminalpolitischen Grundlage der eigenhändigen Delikte näher Schünemann LK12 § 25 Rdn. 52; ders. FS Jung S. 881 ff. 102 Geppert LK12 § 142 Rdn. 1; Sch/Schröder/Sternberg-Lieben § 142 Rdn. 1; BGHSt 8 263, 265; 12 253. 103 So Lackner/Kühl/Heger § 142 Rdn. 39 m.w.N.; Bruns GA 1982 1, 18 für die Alternative des Abs. 2, die aber schon wegen ihrer extremen Überdehnung des Strafbarkeitsbereiches (Rogall Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst [1977] S. 163; Schünemann Zeitschrift f. Binnenschiffahrt und Wasserstraßen 1979 91, 97) nicht auch noch in der Deliktsnatur gegenüber Abs. 1 ausgespielt werden sollte; s. Schünemann LK12 § 28 Rdn. 27 ff, 69 ff. 104 Ebenso Roxin AT II § 27 Rdn. 100; früher schon ders. Täterschaft, S. 371 f; Blauth S. 131 f; Wiesener S. 177 gegen Welzel S. 46; Radtke MK Rdn. 51; im Ergebnis auch Böse NK Rdn. 14. 105 Näher Schünemann LK12 § 28 Rdn. 27 ff, 69 ff. 106 Blauth S. 57 f; im Ergebnis allg. anerkannt. 107 Der Ausdruck stammt von Bruns Organe S. 14; eingehend dazu Blauth S. 143–149.

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§§ 242, 246 StGB.108 Seitdem das 6. StRG den subjektiven Tatbestand hier auf die Drittzueignungsabsicht erweitert hat, gibt es aber nur noch wenige Tatbestände wie etwa § 252 StGB, bei denen die Frage überhaupt eine Rolle spielt. Denn wegen des Analogieverbots kann man hier eine auf Drittbesitzerhaltung zielende Absicht nicht ausreichen lassen. c) Aus der vorstehend geschilderten Umgrenzung des Kreises der besonderen per- 41 sönlichen Merkmale ergibt sich, dass deren Ausdifferenzierung in „Eigenschaften, Verhältnisse oder Umstände“ für § 14 ohne besondere praktische Bedeutung ist. Denn wenn persönliche „Eigenschaften“ solche Merkmale sind, die dem Täter – wie Alter, Geschlecht, uneheliche Mutterschaft – unlösbar anhaften (Schünemann LK12 § 28 Rdn. 52), scheiden sie mangels Vertretbarkeit für § 14 von vornherein aus. Auch persönliche „Umstände“ können hier kaum in Betracht kommen, da diese Merkmale nach dem Willen des Gesetzgebers vor allem vorübergehende seelische Haltungen (z.B. Gesinnungsmerkmale) bezeichnen sollen, die bei § 14 keine Rolle spielen (Schünemann LK12 § 28 Rdn. 28 ff, 69 ff); BayObLG NJW 1969 1495 nennt zwar Zahlungseinstellung und Konkurseröffnung nach §§ 283ff als besondere persönliche „Umstände“, doch liegt die Annahme eines persönlichen „Verhältnisses“ hier näher. Bei Garantensonderdelikten, deren Aufgabenkreis eine Übertragung zulässt und die allein dem § 14 unterfallen, handelt es sich demnach durchweg um persönliche Verhältnisse,109 auf deren Nennung der Gesetzgeber sich hätte beschränken können.110 VI. Tatbestände, auf die § 14 Anwendung findet Der Anwendungsbereich des § 14 reduziert sich nach dem Dargelegten im Verhältnis 42 zu dem des § 28 um zwei große Gruppen von Tatbeständen: Wo es zwar um die Übernahme von Obhuts- oder Aufsichtsfunktionen geht, der Tatbestand aber, wie überwiegend bei § 266 oder den unechten Unterlassungsdelikten, den Substituten unmittelbar und abschließend erfasst, regelt sich die strafrechtliche Verantwortlichkeit unabhängig von § 14 und trifft über die Grenzen dieser Vorschrift hinaus alle gewillkürten Vertreter (Rdn. 21 ff); und wo es an einem delegationsfähigen Herrschaftsbereich, wie bei eigenhändigen Delikten und subjektiven Merkmalen, gänzlich fehlt, scheidet jede Vertreterhaftung von vornherein aus (Rdn. 38 ff). Daraus erklärt sich, dass es trotz der zahlreichen Vorschriften, auf die § 28 Anwendung findet, nicht allzu viele Tatbestände im StGB gibt, für die § 14 wirksam werden kann. In der ersten Gruppe geht es um die Position des Schuldners in der Insolvenz bei den Bankrottdelikten (§§ 283ff),111 in der Zwangsvollstreckung (§ 288)112 sowie als Unterhaltspflichtiger (§ 170). Für § 170 wird dies allerdings von einer Mindermeinung bestritten, die sich auf die unvertretbaren persönlichen Bindungen zwischen Unterhaltsberechtigtem und -verpflichtetem beruft.113 Aber das überzeugt

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108 Näher Schünemann LK12 Rdn. 39; Hoyer SK Rdn. 28. Heute allg. anerkannt, and. zuletzt Bruns GA 1982 1, 30 ff. 109 Ebenso Sch/Schröder/Perron Rdn. 9–12. 110 Blauth S. 162 hat den Vorschlag gemacht, nur von „besonderen persönlichen Beziehungen“ zu sprechen. 111 Übersicht über die einzelnen in Betracht kommenden Merkmale und Vertreter bei Tiedemann LK12 Vor § 283 Rdn. 59–67; Fischer Vor § 283 Rdn. 21 ff; ferner BGH NJW 1969 1494 f; BayObLG NJW 1969 1495; abl. nur Ceffinato S. 153 ff; Brammsen/Ceffinato EWiR 2013 295. 112 Näher Schünemann LK12 § 288 Rdn. 38, dort auch zu der (von Ceffinato S. 189 f zu Unrecht bestrittenen) Garantenstellung des Schuldners. 113 Böse NK Rdn. 14; Fischer Rdn. 2; wie hier bereits Roxin AT II § 27 Rdn. 101, 113; Sch/SchröderPerron Rdn. 10–11; Hoyer SK Rdn. 31; Radtke MK Rdn. 51; Bruns GA 1982 1, 18.

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schon deshalb nicht, weil es in § 170 buchstäblich nur um die kleine Münze der familiären Obhutsstellungen geht, die sogar als Garantenstellungen für Leib und Leben im Rahmen des § 13 von Dritten (z.B. Kindermädchen) übernommen werden können. Die zweite Gruppe der auf die wirtschaftliche Tätigkeit bezogenen Statusbezeichnungen war früher im StGB durch den „öffentlichen Pfandleiher“ (§ 290) vertreten (näher o. Rdn. 24), dem nunmehr der Tatbestand des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt (§ 266a) an die Seite getreten ist, der ein Garantensonderdelikt der Arbeitgeber bzw. der in Absatz 3 und 4 gleichgestellten Personen darstellt. Ein weiteres Beispiel bietet § 264 Abs. 1 Nr. 3 als Sonderdelikt des Subventionsnehmers.114 Von diesen Delikten hat § 266a StGB paradoxerweise in der Judikatur der Zivilgerichte und in der einschlägigen Spezialliteratur eine herausragende Rolle gespielt und hierbei auch eine äußerst extensive Interpretation des § 14 StGB gezeitigt, weil über diese beiden Strafvorschriften die Brücke zu § 823 Abs. 2 BGB und dadurch zu einer Ausfallhaftung der Geschäftsführer für die nicht abgeführten Sozialversicherungsbeiträge geschlagen wurde, die von den Sozialversicherungsträgern ersichtlich konsequent beschritten worden ist. Eine detaillierte Nachzeichnung dieser Judikatur verspricht wegen dieser besonderen Interessenlage für die Interpretation des § 14 StGB keinen besonderen Ertrag; auf ihre prekärste Zuspitzung, nämlich die Übersteigerung der wechselseitigen Überwachungspflichten bei einer mehrköpfigen Geschäftsführung, wird unten Rdn. 58 eingegangen. Der extensiven Einbeziehung bloßer (unselbständiger) Mitarbeiter in die Haftung über § 14 Abs. 2 Nr. 2 hat kürzlich BGHSt 58 10; ebenso BGH StV 2017 76 einen Riegel vorgeschoben. 43 Sehr viel umfangreicher ist das Anwendungsgebiet solcher Tätermerkmale und damit des § 14 im Nebenstrafrecht. Hier werden für zahlreiche soziale Sonderbereiche Pflichten statuiert, deren Verletzung strafbar ist und deren Träger durch bestimmte soziale Statusbezeichnungen als Täter gekennzeichnet werden; bei der ersatzweisen Wahrnehmung dieser Funktionen überträgt dann § 14 die strafrechtliche Verantwortlichkeit auf den Vertreter oder Beauftragten, auf den die soziale Statusbezeichnung nicht unmittelbar zutrifft. Beispiele: Strafvorschriften, die sich auf den Arbeitgeber beziehen (§ 58 Abs. 5, 6 JugendarbeitsschutzG [offengelassen von OLG Karlsruhe JR 1985 479], § 33 MutterschutzG); „Inhaber einer Verkaufsstelle“ (§ 25 LadenschlußG) u.a.m. Noch zahlreicher ist diese Gruppe im Ordnungswidrigkeitenrecht; Beispiele bieten der Händler gemäß § 36 II Nr. 4 i.V.m. § 26 TabaksteuerG (BayObLG wistra 1988 162, 165) sowie der „Inhaber einer Schankwirtschaft“ gemäß § 28 Abs. 1 Nr. 6 GaststG (BayObLGSt. 1991 43). Besonderes gilt für das Tätermerkmal „Halter eines Kraftfahrzeugs“ (§ 21 I Nr. 2 StVG; vgl. auch den „Halter eines Luftfahrzeugs“ gemäß § 60 Abs. 1 Nr. 1, 2 LuftverkehrsG und den „Reeder“ gemäß §§ 122–123a SeemannsG): Nach seit langem feststehender Rechtsprechung ist Halter eines Kraftfahrzeuges, wer es für eigene Rechnung in Gebrauch hat und die dafür erforderliche Verfügungsgewalt darüber besitzt, was jeweils nach tatsächlichen, insbesondere wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu beurteilen ist115 – also eine Interpretation nach den Maximen der faktischen Betrachtungsweise, die hier aber nicht abschließend gemeint ist, so dass sich die Verantwortlichkeit der die Aufgaben des Halters für diesen wahrnehmenden Personen im Strafrecht nach § 14 und im Ordnungswidrigkeitenrecht nach dem gleichlautenden und auch inhaltlich übereinstimmenden § 9 OWiG richtet, der

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114 BayObLG NJW 1982 2202; BGH JR 1981 468 f m. Anm. Tiedemann; ders. LK12 § 264 Rdn. 17; ders. Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 726; Sch/Schröder/Perron § 264 Rdn. 56. 115 Zum Halterbegriff, seiner Interpretation im Sinne der faktischen Betrachtungsweise und zur zusätzlichen Anwendung von § 14 StGB bzw. § 9 OWiG vgl. OLG Düsseldorf VRS 39 446; OLG Hamm VRS 41 394; OLG Koblenz VRS 50 53; BayObLG VRS 51 234; OLG Schleswig VRS 58 384; OLG Köln VRS 66 157; OLG Düsseldorf VRS 72 118.

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auch sonst für die Mehrzahl der an den Status oder an die auf eigene Rechnung erfolgende Tätigkeit des Unternehmers anknüpfenden Zuwiderhandlungstatbestände die Bezugsnorm abgibt.116 Wenn der Tatbestand dagegen eine betriebliche Tätigkeit als solche pönalisiert und 44 nicht als Sonderdelikt des auf eigene Rechnung handelnden Unternehmers, sondern als Organisationsdelikt in dem in Rdn. 21 ff, 31 entwickelten Sinn zu interpretieren ist, so kommt § 14 ebenso wenig zum Zuge wie bei den Einzelaktsdelikten als der traditionellen Form der Gemeindelikte. Im Nebenstrafrecht wie auch im Ordnungswidrigkeitenrecht gibt es zahlreiche Vorschriften, die, ohne auf eine bestimmte Statusbezeichnung abzuheben, beispielsweise ein „Herstellen“ oder „Inverkehrbringen“ unter Strafe stellen und auf Vertreter oder Beauftragte unabhängig von § 14 anzuwenden sind, sei es bei einer Interpretation als Einzelakts-, sei es als Organisationsdelikt (Beispiele in Rdn. 23). Im Einzelnen hängt die Qualifikation freilich von Nuancen der Tatbestandsfassung ab, die in einer Kommentierung des Allgemeinen Teils nicht im Detail ausgebreitet, sondern nur an den Straf- und Bußgeldtatbeständen des Lebensmittel- und des Waffenrechts exemplarisch gezeigt werden können. Wenn das Gesetz ein gewerbsmäßiges Inverkehrbringen verlangt wie etwa in § 52 Abs. 1 Nr. 10 bzw. § 53 Abs. 1 i.V.m. § 17 Abs. 1 Nr. 5 LMBG a.F., so ist damit regelmäßig ein Handeln als Gewerbetreibender und damit ein Unternehmerdelikt mit Anwendung des § 14 gemeint (OLG Koblenz NStZ 1982 210; OLG Düsseldorf LRE 40 384), ebenso wie bei der fahrlässigen Hehlerei von Edelmetallen und Edelsteinen des damit gewerbsmäßig Handel Treibenden gemäß § 148b GewO,117 während das schlichte Inverkehrbringen z.B. gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG ein Gemeindelikt darstellt, wie schon die Gleichstellung mit dem extrem weit ausgelegten Merkmal des Handeltreibens (Nachw. bei Rdn. 23) anzeigt. Die Erlaubnisbedürftigkeit gemäß § 3 BtMG macht daraus ebenfalls noch kein Sonderdelikt, weil es ja im Tatbestand nicht um ein Handeln des Erlaubnisinhabers, sondern um das prinzipiell jedermann mögliche Handeln ohne Erlaubnis geht. Im Waffenrecht hat der Gesetzgeber dagegen durch eine eigenartige, auf den ersten Blick schwer durchschaubare Gesetzestechnik Sonderdelikte in Form von Unternehmerdelikten geschaffen, indem er z.B. in § 22a Abs. 1 Nr. 1 KrWaffG die Herstellung einer Kriegswaffe ohne Genehmigung für strafbar erklärt und die an sich in § 2 Abs. 1 vorgesehene Genehmigungsbedürftigkeit in § 5 Abs. 1 für denjenigen entfallen lässt, der „unter der Aufsicht oder als Beschäftigter eines anderen tätig wird“, woraus sich die Beschränkung des Straftatbestandes auf den Träger der Genehmigungspflicht und damit die Anwendbarkeit des § 14 entnehmen lässt.118 Weil solche Unterscheidungen und Konstruktionen eher Zufall als Produkte eines weisen legislatorischen Räsonnements sein dürften und auch von der Rechtsprechung durchaus nicht immer zielsicher erkannt werden,119 bestätigt sich die am Konzept des § 14 geübte Gesetzesschelte (o. Rdn. 6) gerade

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116 In der Rechtsprechung spielen Verstöße gegen das Straßenverkehrsrecht sowie gegen das LMBG, das GüKG und das GWB für die Vertreterhaftung eine besondere Rolle, vgl. nur OLG Düsseldorf wistra 1989 358; BGH WuW/E 2145; OLG Koblenz ZLR 1989 72 m. krit. Anm. Pernice; OLG Düsseldorf VRS 74 50, 297; w.N. bei Dannecker/Biermann in Immenga/Mestmäcker GWB Vor § 81 Rdn. 76 ff. 117 Zutr. Landmann/Rohmer/Kahl Kommentar zur Gewerbeordnung Band I § 148b Rdn. 4. 118 Schünemann KWKG S. 2; Holthausen NStZ 1993 569; im Ergebnis ebenso, aber ohne Anerkennung des dargestellten systematischen Zusammenhanges Pottmeyer Kriegswaffenkontrollgesetz Kommentar (2. Aufl. 1994) § 5 Rdn. 3, § 22a Rdn. 142 ff. Beim Waffengesetz ergibt sich eine ähnliche Konsequenz aus § 52 I Nr. 2c in Verbindung mit der Beschränkung der Genehmigungspflicht auf gewerbsmäßiges oder selbständiges Handeln in § 21, wobei der Nichtqualifizierte allerdings aus § 52 Abs. 3 Nr. 3 (milder) bestraft werden kann, s. Heinrich MK § 51 WaffG Rdnr. 68. 119 Denn das gewerbsmäßige Inverkehrbringen gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 2 LMBG i.V.m. §§ 3 Abs. 1, 10 LMKV wird von der Rechtsprechung ohne ersichtliche Begründung als Gemeindelikt qualifiziert und ebenso extrem weit ausgelegt wie das Handeltreiben in § 29 BtMG (OLG Koblenz ZLR 1989 72 m.w.N.),

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auch an den Abgrenzungsschwierigkeiten und Ungleichbehandlungen im Nebenstrafund Ordnungswidrigkeitenrecht. Dennoch geht diese Inhomogenität mitnichten so weit, dass man im Besonderen Teil das Grundverständnis des § 14 preisgeben und einen vom Gesetzgeber eindeutig als Gemeindelikt in Form eines Einzelaktsdelikts konzipierten Straftatbestand wie die Gewässerverunreinigung (§ 324) dem Regime des § 14 unterstellen dürfte, wie es von einer neuerdings aufgekommenen, abzulehnenden Rechtsauffassung propagiert wird.120 VII. Der Vertreter nach § 14 Abs. 1 45

1. § 14 Abs. 1 Nr. 1 setzt voraus, dass jemand als vertretungsberechtigtes Organ einer juristischen Person oder als Mitglied eines solchen Organs handelt. Eine juristische Person ist eine Dauerorganisation von Personen oder Zwecken121 mit eigener Rechtspersönlichkeit. Ob sie dem Privatrecht (eingetragener Verein, AG, KGaA, GmbH, VVaG, Genossenschaft, rechtsfähige Stiftung) oder dem öffentlichen Recht (rechtsfähige Körperschaften, Anstalten, Stiftungen und Religionsgesellschaften) angehört, ist für die Anwendbarkeit des § 14 einerlei. Auch juristische Personen ausländischen Rechts fallen darunter, z.B. eine Private Company Limited by Shares nach englischem Recht (Böse NK Rdn. 22). Eine bisher kaum praktisch gewordene, neuerdings aber intensiver diskutierte Frage betrifft die Rechtslage bei einer fehlerhaften oder noch unvollkommenen Gründung. Hier ist in der Sache unstreitig, dass mit der Eintragung selbst einer nichtigen (auf fehlerhafter Grundlage errichteten) Gesellschaft eine zwar vernichtbare (etwa §§ 275ff AktG), aber bereits privatrechtlich wirksame und deshalb unter § 14 Abs. 1 Nr. 1 StGB zu subsumierende juristische Person vorhanden ist.122 Das eigentliche Problem stellen die sog. Vorgesellschaften vor der für die Erlangung der Rechtspersönlichkeit konstitutiven Eintragung ins Handelsregister dar, die nach h.L. nicht unter § 14 Abs. 1 Nr. 1 StGB subsumierbar sein sollen.123 Das führt aber deshalb zu Ungereimtheiten, weil die Auffangnorm des § 14 Abs. 1 Nr. 2 das Handeln eines Gesellschafters voraussetzt, während juristische Personen nach dem Grundsatz der Fremdorganschaft bei der (häufigen) Aufnahme des Geschäftsbetriebes schon vor Eintragung in der Regel durch ihre künftigen Organe handeln, die auch die entsprechende Vertretungsmacht und Geschäftsführungsbefugnis besitzen (für die Aktiengesellschaft etwa Hüffer/Koch § 41 Rdn. 10 ff). Gesetzt den Fall, eine Vor-GmbH, die keinen Betrieb besitzt, wäre Halterin eines Kraft-

_____ während umgekehrt OLG Düsseldorf NStZ 1984 369 den Tatbestand des Inverkehrbringens gemäß §§ 52, 97 AMG als Sonderdelikt qualifiziert und darauf § 9 Abs. 2 Nr. 1 OWiG anwendet, obwohl darin kein Handeln als Gewerbetreibender gefordert wird. 120 So Weber S. 25 f; Schall NStZ 1992 212, 267; Müller Verwaltungsrundschau 1991 49; OLG Köln NJW 1988 2119, 2121; siehe auch Benz BB 1991 1187; offengelassen vom OLG Saarbrücken NStZ 1991 531; zutreffend dagegen Kuhlen WiVerw 1991 241 f; Hoyer NStZ 1992 388; Groß/Pfohl NStZ 1992 119; ferner Achenbach JuS 1990 602; Rogall Strafbarkeit S. 148; vgl. ferner Ransiek NK § 324 Rdn. 49; Sch/SchröderHeine/Hecker § 324 Rdn. 17 sowie zu ähnlichen Fehlern bei den §§ 284, 286 Fn. 34. 121 Für den Begriff der juristischen Person muss im Einzelnen auf das Schrifttum zum bürgerlichen und öffentlichen Recht verwiesen werden. Vgl. statt aller Wolf/Neuner § 16; Medicus/Petersen Allgemeiner Teil des BGB, § 65; Reuter MK BGB Vor § 21 Rdn. 1 ff. 122 Näher Schünemann LK12 Rdn. 43 unter Hinweis auf RGSt 43 407, 413–416; K. Schmidt wistra 1990 131, 134; insoweit gibt es keinen Gegensatz zum Standpunkt von Roxin AT II § 27 Rdn. 115; Sch/Schröder/Perron Rdn. 15; Böse NK Rdn. 22; Hoyer SK Rdn. 45; Rogall KK-OWiG § 9 Rdn. 42. Allgemein zur faktischen bzw. fehlerhaften Gesellschaft im Privatrecht K. Schmidt Gesellschaftsrecht 4. Aufl. (2002) § 6 (S. 120–143). 123 Sch/Schröder/Perron Rdn. 15; Radtke NK Rdn. 72; Hoyer SK Rdn. 44; Rogall KK-OWiG § 9 Rdn. 42; Deutscher/Körner wistra 1996 8; O. Schröder S. 91 ff; a.M. K. Schmidt wistra 1990 131, 134; Bittmann/ Pikarski wistra 1995 91.

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fahrzeuges, über das der Geschäftsführer die Herrschaft ausübt, so wäre dieser also für die einschlägigen Sonderdelikte des Straf- oder Ordnungswidrigkeitenrechts nach h.L. kein tauglicher Täter gemäß § 14 Abs. 1 Nr. 1 StGB bzw. § 9 Abs. 1 Nr. 1 OWiG, obwohl sowohl in öffentlich-rechtlicher als auch in zivilrechtlicher Hinsicht an dessen umfassender Verantwortung für den Kfz-Betrieb kein Zweifel bestehen würde. Weil eine derartige Lücke der strafrechtlichen Zurechnung nicht einmal vom Zivilrecht gefordert wird und nach der Garantentheorie geradezu widersinnig wäre, müssen deshalb die Vorgesellschaften, was auch ohne Verletzung der Wortlautgrenze möglich ist, unter § 14 Abs. 1 Nr. 1 subsumiert werden. Die zahlenmäßig stärkere, auf eine begriffliche Zivilrechtsakzessorietät pochende Gegenmeinung kann diese rechtspolitisch wie dogmatisch unsinnige Lücke bei ihrer Berufung auf die Anwendung des § 14 Abs. 1 Nr. 2 nicht schließen (die Auskunft von Sch/Schröder/Perron Rdn. 15 a.E., „ihre ‚Organe‘ können zu solchen nach Abs. 2 werden“, kann wegen der Lücken der Substitutenhaftung nicht voll befriedigen). Organe sind Personen oder Gremien, durch welche die juristische Person Beschlüs- 46 se fasst und handelt; beim Verein sind Organe z.B. der Vorstand (§ 26 BGB) und die Mitgliederversammlung (§ 32 BGB), bei anderen juristischen Personen, wie der AG und der Genossenschaft, kommt noch der Aufsichtsrat hinzu (§§ 95ff AktG, 9 GenG). Wenn § 14 von „vertretungsberechtigten“ Organen spricht, so sind damit die Organe gemeint, die für die juristische Person nach innen und außen die Geschäfte führen, also z.B. der Vorstand im Gegensatz zur Mitgliederversammlung und dem Aufsichtsrat.124 Nicht gemeint ist, dass im Einzelfall eine wirksame rechtsgeschäftliche Vertretung vorliegen muss, die bei der Begehung strafbarer Handlungen nicht möglich ist; auch braucht die Straftat des Organs nicht in einer rechtsgeschäftlichen Handlung zu bestehen. Ferner braucht der Bestellungsakt selbst, wie § 14 Abs. 3 zeigt, nicht wirksam zu sein (dazu näher Rdn. 74 ff). Die Fassung des § 14 Abs. 1 Nr. 1 stellt weiterhin klar, dass nicht nur das Handeln des Organs im Ganzen (etwa per Beschluss oder bei einem Ein-Mann-Vorstand), sondern auch das Handeln eines einzelnen Vorstandsmitgliedes die Vertreterhaftung auslösen kann; ob das Handeln nach der internen Geschäftsverteilung in den Aufgabenkreis eines anderen Vorstandsmitgliedes gefallen wäre, ist also für die Täterqualifikation in abstracto unerheblich,125 kann aber das Handeln als Organ entfallen lassen (dazu näher Rdn. 58 f). 2. Des Weiteren unterstellt § 14 Abs. 1 Nr. 2 die vertretungsberechtigten Gesellschaf- 47 ter einer rechtsfähigen Personengesellschaft der Vertreterhaftung. Bis zum EURechtsinstrumente-AG (Entstehungsgeschichte Abs. 4) sprach das Gesetz von „Personenhandelsgesellschaften“ und erfasste damit die OHG und KG sowie die Europäische Wirtschaftliche Vereinigung,126 nicht aber die Partnerschaftsgesellschaft (PartG) und die Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR), weil diese kein Handelsgewerbe ausüben. Diese Gesellschaftsformen sind durch die Gesetzesänderung in den Anwendungsbereich des § 14 aufgenommen worden, soweit sie im Außenverhältnis am Rechtsverkehr teilnehmen.127 Diese Gesellschaften können, auch wenn sie keine juristischen Personen sind,

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124 Zur „Vertretungsberechtigung“ bei juristischen Personen und Personengesellschaften im einzelnen näher Radtke MK Rdn. 73 ff; Böse NK Rdn. 23 ff. 125 Vgl. vorerst nur OLG Koblenz VRS 39 118; Sch/Schröder/Perron Rdn. 18; Böse NK Rdn. 30. 126 Geregelt durch EWG-Verordnung vom 25.7.1985, Abl. EG Nr. L 199 vom 31.7.1985, und EwiVAusführungsgesetz vom 14.4.1988, BGBl. I 514. 127 Arg. § 1 I S. 2 PartGG, näher Radtke MK Rdn. 79; Fischer Rdn. 3. Zur Anerkennung der (partiellen) Rechtsfähigkeit der Außengesellschaft bürgerlichen Rechts auch im Zivilrecht BGHZ 146 341; K. Schmidt Gesellschaftsrecht 4. Aufl. (2002) 205, 1771; Hoyer SK Rdn. 50.

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Rechte erwerben und Verbindlichkeiten eingehen, Eigentum und andere dingliche Rechte an Grundstücken erwerben sowie vor Gericht klagen und verklagt werden (dazu allg. § 14 Abs. 2 BGB, speziell etwa §§ 124, 161 Abs. 2 HGB). Der Gesetzgeber hat es daher für möglich gehalten, die besonderen persönlichen Merkmale der in Betracht kommenden Tatbestände, wie „Unternehmer“, „Arbeitgeber“, „Schuldner“, „Inhaber“, „Halter“, in der einzelnen Personenhandelsgesellschaft für gegeben zu erachten und nicht in der Person der Gesellschafter. Ob diese gesetzgeberische Annahme jedoch richtig ist, erscheint äußerst zweifel48 haft (Sch/Schröder/Perron Rdn. 20/21 m.w.N.; Hoyer Rdn. 52 ff; Herzberg Verantwortung S. 80–82). Denn da diese Gesellschaften nun einmal keine juristischen Personen sind, können nicht nur bei „faktischer“ Betrachtungsweise, sondern auch unter rechtlichen Aspekten die Gesellschafter selbst Schuldner, Unternehmer, Arbeitgeber usw. sein, so dass sie unabhängig von § 14 Normadressaten wären. § 14 liefe dann insoweit leer, weil die betreffenden Merkmale gerade nicht beim Vertretenen, sondern von vornherein beim Vertreter vorlägen. Umgekehrt ergeben sich aber aus § 14 I Nr. 2 auch bedenkliche Strafbarkeitseinschränkungen etwa bei der Verantwortlichkeit des Kfz-Halters, wenn man die Personengesellschaft als Halter qualifiziert (so schon früher BayObLGSt. 1976 44), so dass dann ein nicht vertretungsberechtigter Gesellschafter (etwa ein Kommanditist), der einen Zugriff auf das Betriebs-Kfz hat und dieses nach § 21 StVG unerlaubt einem Dritten überlässt, allenfalls über § 14 II tauglicher Täter sein könnte.128 Dieselbe Lücke tritt auch und gerade im Insolvenzstrafrecht auf, wo § 14 I Nr. 2 wegen der gesonderten Insolvenzfähigkeit des Gesellschaftsvermögens (§ 11 II Nr. 1 InsO) im Hinblick auf § 283 VI unerlässlich sein soll.129 Denn ein Kommanditist kann danach straflos Bestandteile des KG-Vermögens beiseite schaffen, weil er zwar Inhaber des Gesellschaftsvermögens, aber nicht „vertretungsberechtigter Gesellschafter“ ist. Diese Lücke kann mit der von LK¹¹/Schünemann (Rdn. 46) vorgeschlagenen faktischen Betrachtungsweise zwar beim Halterbegriff, nicht aber im Insolvenzstrafrecht geschlossen werden und ist durch die Einbeziehung aller Außengesellschaften vermöge des EU-Rechtsinstrumente-AG in einer vom Gesetzgeber zweifellos nicht erkannten Weise vergrößert worden. Damit erweist sich abermals die in § 14 I bisher nicht korrigierte zivilistische Nomenklatur des Gesetzes in einem am Prinzip des Rechtsgüterschutzes orientierten und deshalb richtigerweise an der Geschäftsführung (statt an der Vertretung) zu orientierenden Strafrecht als ein schwerer Mangel, der durch die Doppelvoraussetzung des § 14 I Nr. 2, der außer der Vertretungsberechtigung auch die Gesellschafterstellung fordert, in allen Fällen zugelassener Fremdorganschaft wie bei der EWiV und in der Liquidation (näher Radtke MK Rdn. 81) potenziert wird und damit entgegen Radtke (MK Rdn. 78 a.E.) kriminalpolitisch nicht mehr tolerabel ist. Die Fehlleistung des Gesetzgebers im EU-Rechtsinstrumente-AG ist um so unverständlicher, als zugleich der Täterkreis der Anknüpfungstaten für die Verbandsgeldbuße gemäß § 30 I Nr. 5 OWiG auf sonstige Personen erweitert worden ist, die für die Leitung des Betriebs verantwortlich handeln, so dass hier die zivilistische Nomenklatur gerade verlassen worden ist (näher Achenbach wistra 2002 441, 443), während die gleiche Notwendigkeit bei § 14 I nicht gesehen wurde. Eine Ausfüllung solcher durch nichts gerechtfertigter Strafbarkeitslücken wäre nur auf der Basis der früher herrschenden (Nachweise bei Tiedemann LK12 Vor § 283 Rdn. 65 Fn. 49), bis zur 26. Aufl. auch von Sch/Schröder/Lenckner/Perron (Rdn. 20/21) vertretenen, nunmehr aber von

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128 § 14 I Nr. 2 wird dementsprechend auch von Böse NK Rdn. 32 a.E.; Tiedemann LK12 Rdn. 65 Vor § 283; ders. NJW 1986 1844; Rogall KK-OWiG § 9 Rdn. 50; Radtke MK Rdn. 78, als eine Strafeinschränkungsvorschrift verstanden. 129 Näher Tiedemann LK12 Vor § 283 Rdn. 62; Böse NK Rdn. 32; Radtke MK Rdn. 78.

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Sch/Schröder/Perron ibid. aufgegebenen Auffassung möglich, ungeachtet der zivilistischen Konstruktionsfeinheiten alle Gesellschafter einer Personengesellschaft als gemeinsame Träger des Sonderdeliktsmerkmals (etwa „Halter“ oder „Schuldner“) zu qualifizieren, was aber deshalb auf gravierende Bedenken stößt, weil dem Gesetzgeber, die gebotene Sorgfalt der Ministerialbürokratie unterstellt, bei der Ausdehnung des § 14 Abs. 1 Nr. 2 auf alle rechtsfähigen Personengesellschaften die im Schrifttum verbreitete Kritik an der Unsinnigkeit dieser Vorschrift eigentlich bekannt sein musste. Auch wenn es in der höchstrichterlichen Rechtsprechung Mode geworden ist, den Willen des Gesetzgebers zugunsten des stärkeren Arguments zur Seite zu schieben, sollte sich die Rechtswissenschaft hieran kein Beispiel nehmen. Man wird deshalb seit dem EU-Rechtsinstrumente-AG die Vorschrift des § 14 I Nr. 2 als auch hinsichtlich ihrer Konsequenzen ernst gemeint interpretieren und die daraus resultierenden, innerlich unbegründeten Strafbarkeitslücken bis zu der längst überfälligen Gesamtreform des § 14 respektieren müssen. § 14 Abs. 1 Nr. 2 gilt nur für vertretungsberechtigte Gesellschafter. Zur Vertretung 49 berechtigt sind bei der OHG alle Gesellschafter, soweit sie nicht von der Geschäftsführung ausgeschlossen sind (§ 125 HGB); bei der KG die persönlich haftenden Gesellschafter (§§ 161, 170 HGB). Bei der GmbH und Co. KG ist vertretungsberechtigter Gesellschafter an sich die GmbH; doch sieht die Rspr. teils deren Geschäftsführer als mittelbaren „vertretungsberechtigten Gesellschafter“ an,130 teils kommt sie über eine doppelte Anwendung des § 14 (Abs. 1 Nr. 2 auf die KG, Nr. 1 auf die GmbH) zu demselben Ergebnis,131 womit die Bedenken Tiedemanns132 konstruktiv überzeugender ausgeräumt werden. Bei mehreren vertretungsberechtigten Gesellschaftern ist ungeachtet der internen Aufgabenverteilung jeder einzelne Normadressat in abstracto, jedoch nicht unbedingt auch Verantwortlicher in concreto (dazu näher Rdn. 58 f). Im Übrigen gilt für den Begriff der Vertretungsberechtigung das zu Rdn. 45 Ausgeführte. Für die fehlerhafte Gesellschaft gilt das Gleiche wie für die fehlerhaft gegründete, aber eingetragene juristische Person (o. Rdn. 45, näher Radtke MK Rdn. 80). 3. § 14 Abs. 1 Nr. 3 erstreckt die Vertreterhaftung auf alle sonstigen gesetzlichen 50 Vertreter. Damit sind nicht nur die gesetzlichen Vertreter natürlicher Personen gemeint, wie Eltern, die Mutter eines nichtehelichen Kindes, der Betreuer, sondern auch die sog. Parteien kraft Amtes, wie Insolvenzverwalter, Vergleichsverwalter, Abwickler, Nachlassverwalter und Testamentsvollstrecker (EEGOWiG S. 63; abl. Richter NZI 2002 122, der § 14 Abs. 2 Nr. 1 propagiert), aber nicht Sequester (OLG Zweibrücken wistra 1995 319). 4. a) Alle drei Fälle des § 14 Abs. 1 setzen voraus, dass der Normadressat „als Or- 51 gan“ (Nr. 1), „als Gesellschafter“ (Nr. 2) oder „als gesetzlicher Vertreter“ (Nr. 3) handelt (sog. Vertretungsbezug). Dabei umfasst der Begriff des „Handelns“ sowohl das Tun wie das pflichtwidrige Unterlassen. „Als“ Normadressat handelt prinzipiell nur der, der in Wahrnehmung eines Aufgabenkreises für den Vertretenen tätig wird oder Gebotenes pflichtwidrig unterlässt, wozu es nach der früher herrschenden Interessentheorie er-

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130 BGHSt 19 174, 176; 28 371, 372; KG JR 1972 121 m. Anm. Göhler; OLG Köln JMBlNRW 1973 39; OLG Hamm NJW 1973 1851; OLG Stuttgart MDR 1976 690; zust., aber unentschieden in der Konstruktion Sch/Schröder/Perron Rdn. 23; Bruns GA 1982 11 f; Demuth/Schneider BB 1970 643. 131 BGH NStZ 1984 119; früher bereits in diesem Sinn Schünemann Unternehmenskriminalität I S. 144; nunmehr ebenso Böse NK Rdn. 33; Radtke MK Rdn. 74. 132 ZStW 83 (1971) 792, 796 f; ders. LK Vor § 283 Rdn. 65 mit Annäherung an die faktische Betrachtungsweise; Bender ZfZ 1971 239 ff.

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forderlich ist, dass (wenigstens auch) im Interesse des Vertretenen gehandelt wird.133 Wer nur unter Ausnutzung seiner Stellung im eigenen Interesse handelt, begehe daher die Tat nicht „als“ Organ usw., so dass § 14 auf ihn keine Anwendung findet (BGH NJW 1969 1494 f). Beispielsweise hafte „bei eigennützigen Handlungen des Geschäftsführers zum Nachteil der Gesellschaft, namentlich bei einem Beiseiteschaffen von Vermögensstücken durch Untreue“ (BGH aaO), der Vertreter auch dann nicht nach §§ 14, 288, wenn dadurch eine Zwangsvollstreckung in das Vermögen der Gesellschaft vereitelt wird. Hierbei sei das Interesse nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu bestimmen (BGH NJW 1969 1494; BGHSt 30 128). Auf den Charakter der Handlungen (rechtsgeschäftliches oder tatsächliches Handeln) komme es nicht an, insbesondere sollten nicht etwa rechtsgeschäftliche Handlungen nach den zivilrechtlichen Stellvertretungsgrundsätzen, sondern ebenfalls nach der Interessenformel zugerechnet werden (BGHSt 30 129). Wenn allerdings der Vertretene mit dem eigennützigen Verhalten des Vertreters einverstanden sei, was der BGH auch bei der Zustimmung des Komplementärs einer KG zu den eigennützigen Handlungen eines als faktischer Geschäftsführer qualifizierten Kommanditisten bejahte, so sollte mangels eines Interessenwiderstreits stets ein Handeln im Interesse des Vertretenen gegeben sein (BGHSt 34 221, 223 f). 52

b) Demgegenüber sollte es nach der von Lenckner134 begründeten Funktionstheorie genügen, wenn das Handeln „seiner Art nach als Wahrnehmung der Angelegenheiten des Vertretenen“ erscheine. Habe z.B. der gesetzliche Vertreter eines Schuldners dessen Handelsbücher so verändert, dass sie keine Übersicht des Vermögensstandes gewähren, so sei er nach § 283 Abs. 1 Nr. 5 auch dann strafbar, wenn er dies nicht im Interesse des Schuldners, sondern in eigenem Interesse (z.B. Verdeckung von Unregelmäßigkeiten) getan hat. Das stimmt inhaltlich mit den hier entwickelten Grundlagen der Garantentheorie völlig überein, weil der Vertreter auch bei Exzesstaten, um die es bei seinem Handeln im ausschließlich eigenen Interesse geht, die ihm übertragene Obhutsherrschaft über das Rechtsgut oder Aufsichtsherrschaft über eine Gefahrenquelle missbraucht und deshalb die Strafwürdigkeitsbedingungen des betreffenden Sonderdelikts realisiert (Schünemann Unternehmenskriminalität I S. 153, 229 f). Dennoch stößt diese Auffassung de lege lata auf das Bedenken, ob durch die ausdrückliche Forderung eines Handelns „als Organ“ in § 14 Abs. 1 bzw. „auf Grund (des erteilten) Auftrages“ in Abs. 2 ein engerer Zusammenhang als der bloße Missbrauch der erlangten Stellung im ausschließlich eigenen Interesse des Vertreters gemeint sein könnte. Um die daraus resultierende, sachlogisch wie kriminalpolitisch verfehlte Strafbarkeitslücke ohne Verletzung des in Art. 103 Abs. 2 GG enthaltenen Analogieverbots möglichst einzuschränken, wird man deshalb zwar ein durch die Vertreterstellung ermöglichtes und seiner Zielrichtung nach neutrales

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133 St. Rspr. seit BGH GA 1963 307; BGH NJW 1969 1494; OLG Karlsruhe Justiz 1977 17; BGH bei Holtz MDR 1979 457; BGHSt 28 371; 30 127; 34 221; JR 1988 254; NJW 2006 1364; eingehende Darstellung bei Reichelt S. 112 ff: Pohl S. 75 ff, die selbst an der Interessentheorie festhalten, sie aber unter Einbeziehung der „besonderen Einwirkungsmöglichkeiten“ des Vertreters zu einer „pluralistischen Lösung“ fortentwickeln möchte; der Interessentheorie im Grundsatz zust. Roxin LK10 Rdn. 30 f; Marxen NK³ Rdn. 29 ff; Demuth-Schneider BB 1970 644; im Ergebnis auch Schünemann Unternehmenskriminalität I S. 152 f, der die subjektive Grenzziehung in der Sache für falsch erklärte, weil auch die Exzesstat des Vertreters Ausübung von Herrschaft sei, sie faute de mieux aber de lege lata akzeptieren zu müssen glaubte; Schünemann LK12 Rdn. 50 f. 134 Sch/Schröder/Lenckner/Perron26 Rdn. 26 m.w.N.; ebenfalls kritisch zur Interessentheorie Herzberg Verantwortung S. 91–94; partiell auch Tiedemann LK12 Vor § 283 Rdn. 85; ders. NJW 1986 1844; Labsch wistra 1985 5, 59 ff; ders. JuS 1985 602, 607; Lampe GA 1987 241, 251 ff; Gössel JR 1988 256 ff; Weber StV 1988 17 f; Winkelbauer wistra 1986 19; ders. JR 1988 34; Arloth NStZ 1990 570; de lege ferenda auch Schünemann Unternehmenskriminalität I S. 153, 230.

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Verhalten und damit alle Unterlassungs- und Fahrlässigkeitsdelikte des Vertreters135 noch unter § 14 subsumieren können. Problematisch bleiben aber die primär gegen die Rechtsgüter des Vertretenen gerichteten Begehungsdelikte. Denn wenn (in dem von Lenckner gebildeten Beispiel) eine solche Handlung nicht dem Schuldner dient (sondern nur ihrer Art nach so erscheinen könnte), könnte man argumentieren, der Vertreter stehe nicht an der Stelle des strafrechtlich verantwortlichen Schuldners, so dass ihn auch nicht die für den Schuldner bestimmte Strafe treffen dürfe. Er handele nicht „als Vertreter“, sondern als Fälscher im eigenen Interesse und sei dementsprechend (z.B. wegen Urkundenfälschung), nicht aber nach der für den Schuldner geltenden Norm zu bestrafen. c) Eine differenzierende Lösung steuerte das von Radtke (MK Rdn. 62ff) entwickelte 53 sog. Zurechnungsmodell an, das bei rechtsgeschäftlichem Handeln des Vertreters ein Handeln im Namen des Vertretenen und einen Eintritt der Rechtswirkungen beim Vertretenen verlangt und ausreichen lässt, während es bei tatsächlichen Verhaltensweisen auf die Zustimmung des Vertretenen oder auf die Verletzung einer diesen treffenden, strafbewehrten außerstrafrechtlichen Pflicht ankommen soll. Trotz der im Ergebnis festzustellenden Parallelen zur Funktionstheorie ist der dogmatische Ansatz ein grundsätzlich anderer, weil die Funktionstheorie (ebenso wie die Garantentheorie als allgemeine Theorie der Vertreterhaftung) auf das Verhältnis zum geschützten Rechtsgut abhebt, während das Zurechnungsmodell eine Weiterführung der von Radtke vertretenen Theorie der „spezifizierten Pflichtenteilhabe“ ist. Gerade wegen dieser konsequenten Deduktion ist sie deshalb nach der hier vorgenommenen Ausdeutung des § 14 aus den oben in Rdn. 12 angeführten prinzipiellen Gründen abzulehnen. Besonders deutlich wird Radtkes zivilrechtsakzessorisches Konzept an der Wendung, es komme bei dem erforderlichen Vertretungsbezug darauf an, ob das Verhalten des Vertreters dem Vertretenen zurechenbar sei, womit der strafrechtlichen Organhaftung eine Fragestellung zugrunde liege, wie sie das Zivilrecht in diversen Rechtsinstituten kenne (MK Rdn. 58): Nach der hier vertretenen, strafrechtsspezifischen Garantentheorie kommt es dagegen nicht auf eine Zurechnung an den Vertretenen, sondern auf die Position des Vertreters in Bezug auf das geschützte Rechtsgut an, ob er ihm gegenüber als Repräsentant des Geschäftsherrn auftritt. Das wird man jedenfalls bei der faktischen Zustimmung der Gesellschafter des Geschäftsherrn bejahen können, so dass dieses von Radtke angeführte Kriterium auch nach der Garantentheorie Bestand hat. d) In einem doppelten, sich insgesamt über mehr als 3 Jahre erstreckenden Revisi- 54 onsverfahren wegen eines Bankrotts in der Entenzucht hat der 3. Strafsenat des BGH der Interessentheorie nach der im Schrifttum überwiegenden Meinung den „endgültigen Todesstoß“ versetzt (Brand NJW 2012 2370), wenngleich nach der Gegenmeinung „Totgesagte länger leben“ (Rogall FS Paeffgen S. 361): Nachdem er in der ersten Revisionsentscheidung136 an der Interessentheorie in Form eines obiter dictums durchgreifende

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135 Nach Auffassung von Sch/Schröder/Lenckner/Perron26 Rdn. 26; Weber StV 1988 17; Marxen NK³ Rdn. 31 soll die Interessentheorie hier sogar von ihren begrifflichen Voraussetzungen her unanwendbar sein; aber diese Kritik erscheint überzogen, weil der Vertreter etwa durchaus im alleinigen Eigeninteresse vorgeschriebene Sicherheitsvorkehrungen vernachlässigen mag. 136 NStZ 2009 437 mit Anmerkungen Bittmann wistra 2010, 8; Brand NStZ 2010 9; DehneNiemann wistra 2009 417; Floeth EWiR 2009 589; Leipold/Schaefer NZG 2009 937; Link NJW 2009 2228; Radtke JR 2010 233; Habenicht JR 2011 17; Rezension Schwarz HRRS 2009 341; nochmals unterstrichen in der weiteren Entscheidung NZG 2011 1238; zur ganzen Entwicklung eingehend Hennecke S. 38 ff.

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Bedenken geäußert hatte, denen sich der 1. und der 5. Senat anschlossen (BGH NStZ-RR 2009 373; NStZ 2009 635), und auf seinen im Schrifttum akklamierten137 Anfragebeschluss (NStZ 2012 89) auch die anderen Senate von der Interessentheorie abgerückt waren,138 verlautbarte seine zweite Revisionsentscheidung die „Aufgabe der Interessentheorie“ (BGHSt 57 229). Sie sei weder nach dem Gesetzeswortlaut zwingend noch nach dem Gesetzeszweck begründet und führe zu ungerechtfertigten Strafbarkeitslücken insbesondere bei § 283 StGB, der nach der Interessentheorie nur einen geringen Anwendungsbereich finde, wenn der Gemeinschuldner eine Handelsgesellschaft sei. In der Frage, was an die Stelle der Interessentheorie zusetzen sei, hat sich der 3. Strafsenat noch nicht festgelegt, neigt aber deutlich dem o. Rdn. 53 dargestellten Zurechnungsmodell zu (BGHSt 57 237 f). 55

e) Während die Kritiker der Interessentheorie deren Aufgabe durch den BGH naturgemäß begrüßt haben und nunmehr um deren Nachfolge ringen,139 hat Rogall in einer instruktiven Analyse die Entscheidung des 3. Strafsenat kritisiert und die Interessentheorie zu rehabilitieren versucht (FS Paeffgen S. 366 ff; ders. KK-OWiG § 9 Rdn. 65 ff). Dabei ist Rogalls Rückverfolgung der Interessentheorie bis zur Reichskonkursordnung (aaO S. 368–370; eingehend dazu auch Hennecke S. 4 ff) besonders gewichtig, weil sie die oben (Rdn. 52) als Schranke der funktionalen Interpretation anerkannte Wortlautgrenze stützt, zu der als weiteres Problem der Rechtsprechungsänderung des BGH das vom BVerfG aus dem Bestimmtheitsgrundsatz abgeleitete Präzisierungsgebot hinzukommt, wonach die Rechtsprechung gehalten ist, Unklarheiten über den Anwendungsbereich einer Norm durch Präzisierung und Konkretisierung im Wege der Auslegung nach Möglichkeit auszuräumen und dadurch an der Erkennbarkeit der Voraussetzungen der Strafbarkeit mitzuwirken, woraus sich die Folgerung von „über die allgemeinen Grundsätze des Vertrauensschutzes hinausgehenden Anforderungen an die Ausgestaltung von Rechtsprechungsänderungen“ ergebe (BVerfGE 126 170, 196, 198 f). Die Gerichte sind danach nicht mehr befugt, von einer endgültig gefestigten Rechtsprechung in malam partem wieder abzuweichen (Schünemann LPK Untreue Rdn. 25 am Beispiel des Untreuetatbestandes). Unter diesem Aspekt ist der Hinweis des 3. Strafsenat auf die früher schon praktizierten Grenzen der Interessentheorie bei Zustimmung der Gesellschafter des Geschäftsherrn (BGHSt 57 236 f) einerseits beachtlich und wirft andererseits die Frage auf, ob sich die ratio decidendi der BGH-Rspr. zwischen NStZ 2009 635 und BGHSt 57 229 überhaupt von der jahrzehntelangen Judikatur zur Interessentheorie nennenswert unterscheidet. Denn der Geschäftsführer hatte die Verfügung über die Vermögensgegenstände der GmbH im Einverständnis mit allen GmbH-Gesellschaftern vorgenommen (BGHSt 57 232), was auch nach der Interessentheorie (siehe BGHSt 34 221 -1. StS-) ohne weiteres den Bankrotttatbestand des § 283 Abs. 1 Nr. 1 erfüllte,140 so dass der „Abschied von der Inte-

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137 Radtke GmbHR 2012 28; ders./Hoffmann NStZ 2012 91; Brand NZWiSt 2012 64; Valerius ibid. 65. 138 Nachw. b. Rogall FS Paeffgen S. 365 Fn. 32. 139 Radtke GmbHR 2012 962; Brand NJW 2012 2370; Habetha NZG 2012 1134; ders./Klatt NStZ 2015 671;i8 Pohl wistra 2013 329; Valerius NZWiSt 2012 65; Radtke MK Rdn. 63 ff; Böse NK Rdn. 18 ff; Hoyer SK Rdn. 77 ff. 140 Eigenartigerweise haben zwar der 3. und der 5. StS diese Regel nicht auch auf den gleichliegenden, wenn nicht sogar ein arg. a fortiori liefernden Fall angewendet, dass der Geschäftsführer zugleich Alleingesellschafter der GmbH war (BGHSt 30 127; BGH JR 1988 254). Bei der gebotenen Beschränkung auf die ratio decidendi wäre aber der Anfragebeschluss BGH NStZ 2012 89 dennoch überflüssig gewesen, weil es im „Entenfall“ um die Zustimmung der vom Geschäftsführer personenverschiedenen Gesellschafter und damit allein um die Konstellation BGHSt 34 221 ging.

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ressentheorie“ streng genommen ein bloßes obiter dictum141 ist. Zwar wird man deshalb nicht gleich in dem in Rechtsprechung und Schrifttum mittlerweile ein ganzes Regal füllenden „Kampf um die Oldenburger Entenzucht“ lediglich „viel Lärm um nichts“ (oder jedenfalls um sehr wenig) sehen müssen, denn die Interessentheorie war im Laufe der Zeit zu einer Art Passepartout degeneriert (s. auch die Hinweise in BGHSt 57 235, 237 auf die Rspr. zu den Buchführungs- und Bilanzdelikten des § 283 Nr. 5–8) und deshalb reif für die Ablösung. Aber an ihre Stelle muss – weil es in § 14 um die Bestimmung des strafrechtlichen Täterbegriffs geht – eine strafrechtsspezifische Theorie treten und nicht ein dem Zivilrecht entlehnter Zurechnungsbegriff, der die bei der Übernahmegarantenstellung seit 80 Jahren obsolete formelle Rechtspflichttheorie142 im Rahmen des (ja ebenfalls eine Übertragung der Täterschaftsvoraussetzungen regelnden) § 14 fröhliche Urständ feiern lässt. f) Weil § 14 die Täterschaft bei Sonderdelikten über den einzelnen Straftatbestand 56 hinaus ausdehnt, muss seine Interpretation und damit auch die Auslegung des „Vertretungsbezuges“ der Handlung der Täterstruktur der Sonderdelikte entsprechen, die jedenfalls für die große Masse der Sonderdelikte in der Obhuts- oder Aufsichtsherrschaft über die Hilflosigkeit des Rechtsguts oder über eine Gefahrenquelle für das Rechtsgut besteht („Garantensonderdelikt“, s.o. Rdn. 15 f m.w.N.). Dies gilt auch und insbesondere für § 266a und für die verschiedenen in § 283 aufgeführten Bankrottdelikte: Der einzelne Beitragsanspruch eines Sozialversicherungsträgers, in den sich jeweils das Interesse der Solidargemeinschaft an der Sicherstellung des Aufkommens der Mittel konkretisiert,143 steht vollständig unter der Obhutsherrschaft des Arbeitgebers, der ihn selbst berechnen und spontan erfüllen muss; § 266a ist also ein geradezu modellhaftes, speziell geregeltes unechtes Unterlassungsdelikt im Besonderen Teil. Ähnlich verhält es sich mit den als Schutzzweck des § 283 gewöhnlich genannten Befriedigungsinteressen der Gläubiger,144 die sich in die Erhaltung der Vollstreckungsmasse und die Integrität der Rechnungslegung ab Unternehmenskrise konkretisieren: Beides liegt in der alleinigen Herrschaft des Schuldners, die vom Beginn der Unternehmenskrise an im Interesse der Gläubiger auszuüben und damit eine Form der Obhutsherrschaft ist. Hierbei macht der Wortlaut des § 266a (ebenso wie dessen Vorgänger in Gestalt des § 529 RVO a.F. etc.) unmittelbar deutlich, dass der Gesetzgeber mit der Forderung des Handelns bzw. Unterlassens „als Arbeitgeber“ nicht mehr als die Täterstellung bezeichnen und damit also nicht mehr verlangen will, als dass der Täter im Rahmen seines Herrschaftsbereiches handelt oder unterlässt. Weil es, wie die Garantentheorie deutlich macht, in § 14 um die Übertragung

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141 Zu dessen prekärem Status als richterliche Meinungsäußerung äußerst kritisch Fischer bei Schulz ZIS 2018 403: „Solche Obiter dicta haben keine Bedeutung für die Entscheidung des konkreten Falles und keine Bindungskraft für andere Senate oder Gerichte. Sie sagen, was sein soll, wenn es so wäre, wie es nicht ist. Das ist in der Regel überflüssig und manchmal gefährlich: Beim nächsten Mal, wenn es in einem Fall wirklich darauf ankommt, können ganz andere Richter beteiligt sein oder andere Meinungen vertreten werden. Obiter dicta haben daher keinen guten Ruf: Sie blasen die Backen auf, wo es nichts zu pfeifen gibt.“ 142 Vgl. nur Roxin Strafrecht AT II S. 714 ff; grdl. bereits Schaffstein FS f. Gleispach (1936) S. 70 ff; Nagler GS 111 1, 59 ff; eingehend Schünemann Unterlassungsdelikte, 218 ff. 143 Zu dieser Rechtsgutsdefinition s. Sch/Schröder/Perron § 266a Rdn. 2; Fischer § 266a Rdn. 2; richtigerweise sollte der Begriff des Rechtsguts von vornherein den konkreten Abführungsanspruch erfassen, weil das „Interesse der Solidargemeinschaft“ eine ebenso nichtssagende und aufgequollene Rechtsgutsumschreibung bedeutet wie das „Vertrauen der Bevölkerung in die Reinheit der Amtsausübung“ bei den Bestechungsdelikten; aber darauf kommt es im vorliegenden Zusammenhang nicht an. 144 Vgl. nur LK/Tiedemann 12. Aufl., Rdn. 45 Vor § 283.

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und Übernahme dieses Herrschaftsbereichs auf/durch einen Vertreter geht, fällt dessen Handeln im Rahmen des übernommenen Herrschaftsbereiches also von vornherein unter die gesetzliche Beschreibung von Täter und Tathandlung. (Erst) im Bezugsrahmen der Theorie der Garantensonderdelikte wird deshalb verständlich, dass die Reichweite der sog. Vertreterhaftung nicht aus irgendeinem Innenverhältnis zum ursprünglichen intraneus (und damit durch irgendwelche zivilrechtsaffinen Zurechnungskonstrukte zwischen diesen), sondern aus dem Herrschaftsverhältnis des Vertreters zum geschützten Rechtsgut abzuleiten ist, für das nun aber die egoistische oder altruistische Motivation des Handelnden keinerlei Rolle spielt. Und anders als in der Vergangenheit vielfach unterstellt,145 steht dieser Sicht auch nicht der Gesetzeswortlaut entgegen, weil der Sprachgebrauch des Gesetzgebers in § 266a zeigt, dass die Wendung „als…“ nicht mehr als ein Verhalten im eigenen Herrschaftsbereich verlangt. 57 Hieraus folgt, dass die in BGHSt 57 229, 237 f angeführten „Positivkandidaten“ des rechtsgeschäftlichen Handelns ohne weiteres dem § 14 unterfallen, dass aber auch für die vom BGH als „problematisch“ angesehene Abgrenzung „bei einem bloß faktischen Handeln“ dieselben Grundsätze gelten. Irgendeine Sonderstellung rechtsgeschäftlichen Handelns ließe sich ja nur in einer verfehlten zivilrechtsaffinen Zurechnungskonstruktion im „Innenverhältnis“ unterbringen, während im Verhältnis zum geschützten Rechtsgut die Art der Verletzung durch Rechtsgeschäft oder Realakt nicht die geringste Rolle spielt.146 So werden beispielsweise bei den Bankrottdelikten des § 283 Realakte und Rechtsgeschäfte als Alternativen der Tathandlung hintereinander und miteinander bunt gemischt, und es wäre absonderlich, wenn man eine während der Krise getätigte unberechtigte Überweisung des Geschäftsführers vom Firmenkonto auf sein Privatkonto, nicht aber den entsprechenden Griff in die Portokasse unter § 283 Abs. 1 Nr. 1 subsumieren wollte. Ausschlaggebend ist allein, ob der Vertreter innerhalb seines Herrschaftsbereiches handelt, was auch für den Leiter eines Betriebsteils i.S. von § 14 Abs. II Nr. 1 gilt: Wenn der Leiter des Rechnungswesens während der Krise heimlich ein Kraftfahrzeug aus dem Fuhrpark des Unternehmens entwendet und zur Verdeckung dieser Handlung die Bücher fälscht, so macht er sich nach § 283 Abs. 1 Nr. 5, nicht aber nach Nr. 1 strafbar. Selbst wenn ihm der Diebstahl nur mithilfe des ihm als Teilbetriebsleiter verfügbaren Generalschlüssels möglich war, hätte er dabei nicht „auf Grund“ seines Auftrages, d.h. innerhalb des ihm dadurch eingeräumten Herrschaftsbereiches, sondern nur „bei Gelegenheit“ gehandelt.147 58

5. Schwierigkeiten kann das Handeln „als“ Normadressat auch bei mehreren Verpflichteten machen. Die Geschäftsführung einer Gesellschaft ist in der Regel auf mehrere Vorstandsmitglieder oder Gesellschafter nach einem Plan aufgeteilt. Bei Unterlassungsdelikten ergibt sich dann die Frage, welches Organ oder welcher Gesellschafter als konkreter Adressat der Gebotsnorm nach Abs. 1 zu gelten hat, wen also die Pflicht trifft, für die Gesellschaft die unter Strafdrohung gesetzlich gebotene Handlung vorzunehmen,

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145 Auch von Schünemann (Fn. 133), was aus den im Text dargelegten Gründen ein Irrtum war. 146 Diese Konzeption deckt sich im Ergebnis weitgehend mit der Position von Hennecke S. 206 ff, 236 ff, der jedoch anstelle des Herrschaftsbereichs das Kriterium verwenden will, ob „die Handlung ohne die Organ- bzw. Vertreterstellung nicht genauso hätte vorgenommen werden können“ (S. 225), und deshalb wohl im nachf. im Text gebildeten Generalschlüsselfall den Vertretungsbezug bejahen würde. Nach seiner Begründung des „Zurechnungszusammenhanges im Sinne des § 14“ soll bei § 283 „für die Auslegung von § 14 … das Merkmal des Verstoßes gegen die Anforderungen einer ordnungsgemäßen Wirtschaft ausschlaggebende Bedeutung“ haben (S. 239), was aber keine Frage der Täterschaft, sondern der tatbestandsmäßigen Handlung ist. 147 So ist deshalb die zutr. Unterscheidung von BGHSt 57 237 auszufüllen.

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etwa eine Auskunft zu erteilen oder die Beschäftigten über die Unfallgefahren zu belehren. Nach der sich an die zivilrechtliche Rechtsstellung des Organs anlehnenden h.M. trifft auch in strafrechtlicher Hinsicht jedes Organ und jeden Gesellschafter die Pflicht, für die juristische Person oder Gesellschaft zu handeln.148 Zwar fehle es, weil eine interne Geschäftsverteilung wegen der Vielfalt der zu erfüllenden Pflichten unerlässlich ist, in der Regel an der Pflichtwidrigkeit einer Unterlassung, wenn jemand eine gebotene Handlung, die in den Aufgabenbereich eines anderen fällt, nicht vornimmt oder gegen die Pflichtwidrigkeit eines anderen nicht einschreitet.149 Da er jedoch Normadressat bleibt, könne er trotzdem als Vertreter zur Verantwortung gezogen werden, wenn er im konkreten Fall untätig geblieben ist, obwohl er die Pflichtverletzung des anderen Organs erkannt hat oder nach den Umständen hätte erkennen müssen und können.150 Zu welch enormer Strafbarkeitsausdehnung das führt, demonstriert BGH wistra 1990 97 durch die Kombination mit der Rechtsfigur des faktischen Geschäftsführers (dazu näher Rdn. 74 ff), den der BGH selbst im Falle einer stillschweigenden Beschränkung seiner Zuständigkeit für verpflichtet erklärt, eine im Geschäftsbereich des eingetragenen Geschäftsführers begangene Steuerhinterziehung zu verhindern. Das kann nicht überzeugen, weil es eine Garantenstellung ohne Befehlsgewalt und damit ohne Aufsichtsherrschaft konstruiert und gerade die Beschränkung der Tätigkeit „als Organ“ etc. auf den übertragenen Aufgabenbereich ignoriert. Auch kriminalpolitisch macht eine solche Theorie der Totalverantwortlichkeit keinen Sinn, weil sie zu einer Kontrolle fachlich Kompetenter durch Inkompetente führen würde. Richtigerweise ist deshalb die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Mitgliedes in einem Kollegialorgan gem. § 14 Abs. 1 auf den eigenen Geschäftsbereich zu begrenzen,151 über den sie nur in drei Ausnahmekonstellationen hinausgeht: wenn die eigene Zuständigkeit durch aktives Tun weiter ausgedehnt und dabei noch im Interesse des Vertretenen gehandelt wird; wenn an Kollegialentscheidungen mitgewirkt wird, für deren Korrektheit jeder einzelne verantwortlich ist, der für die betreffende Entscheidung gestimmt hat;152 oder „wenn aus besonderem Anlass – etwa in Krisen- und Ausnahmesituationen – das Unternehmen als Ganzes betroffen (und) die Geschäftsführung insgesamt zum Handeln berufen ist“.153 Mit der vorgenannten dritten Kategorie ist die maximale Ausdehnung der indivi- 59 duellen Verantwortlichkeit eines nach der internen Geschäftsverteilung nicht zuständigen Organs jedenfalls unter dem Aspekt des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes erreicht, weil es dafür notwendig, aber auch hinreichend ist, dass eine als solche nicht handlungsfähige Person oder Personengesamtheit in allen für den Rechtsgüterschutz sensiblen Bereichen eine natürliche Person für sich handeln lässt, die die strafrechtliche Verantwortlichkeit übernimmt. Wenn nun an Stelle eines einköpfigen Organs ein mehrköpfiges eingerichtet wird, so verbessert das schon als solches den Rechtsgüterschutz, weil die dadurch mögliche Aufgaben- und Arbeitsteilung eine intensivere Wahrnehmung des jeweils übernommenen Bereiches ermöglicht, als wenn nur ein einziger Geschäfts-

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148 BGH wistra 1990 97; im Ansatz zust., aber in der Reichweite auf Vorsatz und Leichtfertigkeit bzw. „Evidenzfälle“ einschränkend Sch/Schröder/Perron Rdn. 19; Radtke MK Rdn. 66 ff; Böse NK Rdn. 30. 149 BayObLG NJW 1974 1341; OLG Koblenz VRS 39 118; OLG Hamm DAR 1975 51; näher Rebmann/Roth/Herrmann § 9 Rdn. 29–32; Bruns FS Heinitz, S. 330; ders. GA 1982 12. 150 OLG Hamm NJW 1971 817; DAR 1975 51; näher Demuth-Schneider BB 1970 644 f; Böse NK Rdn. 306; Schmidt-Salzer S. 135 ff; Peter S. 116 f; für das Zivilrecht Dreher ZGR 1992 22, 50 ff. 151 Schünemann Unternehmenskriminalität I S. 143 f, 229; zust. Roxin AT II § 27 Rdn. 124; Hoyer SK Rdn. 83; Rogall KK-OWiG § 9 Rdn. 72. 152 BGHSt 37 129 f (Lederspray) und dazu Anm. Puppe JR 1992 30, 32 f; Kuhlen NStZ 1990 566, 569 f; Brammsen Jura 1991 533, 536 f. 153 BGHSt 37 124 m.w.N.; diese Einschränkung verkennt Göhler wistra 1991 207, 208.

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führer für alle Belange die Verantwortung trüge und dadurch notorisch überfordert wäre. Der Gedanke, dass über die drei vorgenannten Fallgruppen hinaus immer eine wechselseitige Kontrolle der Geschäftsführer stattfinden müsste, kann deshalb nicht im Interesse des externen Rechtsguts, sondern allenfalls von den Vermögensträgern gehegt werden, um durch die dann in Wahrheit stattfindende Überforderung der Organe eine im egoistischen Interesse maximale Obsorge für ihr internes Vermögen zu erreichen. Unter dem Aspekt eines vernünftigen externen Rechtsgüterschutzes ist die Idee wechselseitiger Überwachungspflichten dagegen nicht nur nicht legitimierbar, sondern auch dysfunktional. Gleichwohl ist sie vom 6. Zivilsenat des BGH kultiviert worden, und zwar ausgerechnet für den ohnehin inzwischen bis zum Rande der Strafwürdigkeit ausgedehnten Tatbestand der Vorenthaltung von Arbeitnehmerbeiträgen zur Sozialversicherung gemäß § 266a StGB: Insoweit soll jeder einzelne Geschäftsführer trotz interner Zuständigkeitsregelungen selbst die Pflicht zur Abführung der Beiträge haben, weshalb ihm im Falle einer Delegation Überwachungspflichten verbleiben würden, die ihn zum Eingreifen verpflichten könnten, was vor allem in finanziellen Krisensituationen zum Tragen käme, in denen die laufende Erfüllung der Verbindlichkeiten nicht mehr gewährleistet erscheine (BGHZ 133 370 ff; bestätigt in BGH NJW 2001 969). Aber solche Überwachungspflichten lassen sich nur bei einer Delegation an untergeordnete Sachwalter begründen, nicht aber gegenüber einem auf der gleichen Ebene angesiedelten Geschäftsführer in dessen Tätigkeitsbereich, es sei denn, dass die vorstehend angeführten, im Lederspray-Urteil vom 2. Strafsenat herausgearbeiteten Ausnahmekonstellationen eingreifen. Die Rechtsprechung der Zivilgerichte zu § 14 StGB kann deshalb im Strafrecht nicht akzeptiert werden (vgl. auch die mit Recht strenge Rechtsprechung des BGH zur Annahme einer Substitutenhaftung bei § 266a: BGHSt 58 10 m. Anm. v. Klein NZWiSt 2013 119; BGH StV 2017 76). VIII. Die Substitutenhaftung nach § 14 Abs. 2 60

Der Gesetzgeber hat durch den im E 62 noch nicht enthaltenen § 14 Abs. 2 die Vertreterhaftung auf diejenigen Fälle der gewillkürten Stellvertretung erstreckt, in denen ein besonderes praktisches Bedürfnis dafür hervorgetreten war. Zur prinzipiellen Umstrittenheit dieser Regelung und zur vielfach erhobenen Forderung nach Einbeziehung aller Substituten vgl. Rdn. 5 ff. Die „Mittellösung“ des Gesetzes, die im Fall der Aufgabendelegation nicht alle Beauftragten, sondern nur die im Rahmen eines Betriebes bestellten (scil. gehobenen) Substituten in die Vertreterhaftung einbezieht, führt zu großen Abgrenzungsschwierigkeiten und zu bisweilen wenig einleuchtenden Differenzierungen; einen Verstoß gegen den gesetzlichen Bestimmtheitsgrundsatz wird man darin aber noch nicht sehen können.154 1. Der Auftrag zur Leitung oder Teilleitung eines Betriebes oder Unternehmens

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a) Ein Betrieb ist eine planmäßig und meist auch räumlich zusammengefügte Einheit mehrerer Personen und Sachmittel unter einheitlicher Leitung zur Erreichung des auf eine gewisse Dauer gerichteten arbeitstechnischen (d.h. nicht notwendig auf Gewinnerzielung gerichteten) Zweckes, Güter oder Leistungen materieller oder immaterieller Art hervorzubringen oder zur Verfügung zu stellen (allg. Meinung, siehe Radtke MK

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154 Sch/Schröder/Perron Rdn. 3; verfassungsrechtliche Bedenken bei Demuth-Schneider BB 1970 645; Jescheck/Weigend § 23 VIII 3. Die zahlreichen durch die Gesetzesfassung entstehenden Strafbarkeitslücken werden bei Schünemann Unternehmenskriminalität I S. 144 ff geschildert.

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Rdn. 86; Hoyer SK Rdn. 59). Unter den Begriff fallen also nicht nur Industrie-, Handelsund Handwerksbetriebe, sondern auch Büros, die Kanzlei eines Rechtsanwaltes, die Praxis eines Arztes, Apotheker, Krankenhäuser und sonstige karitative Einrichtungen, Theater usw. Die rechtliche Form ist gleichgültig. Inhaber eines Betriebes kann also ein Einzelkaufmann ebenso wie eine juristische Person sein. Dagegen ist der Privathaushalt kein Betrieb, weil sein Zweck nicht in der Hervorbringung von Gütern oder Leistungen für Dritte besteht. Dem Betrieb ist in § 14 Abs. 2 Satz 2 das Unternehmen gleichgestellt. Wie der Begriff 62 des Unternehmens von dem des Betriebes abzugrenzen ist, ist unklar und umstritten. Göhler, der bei den Beratungen des Sonderausschusses das Bundesjustizministerium vertrat, hat ausgeführt,155 dem Ministerium gehe es bei der Aufnahme des „Unternehmens“ in den Gesetzestext nicht um eine Begriffsabgrenzung, „sondern allein darum, alles zu erfassen, was im technischen Sinne als Unternehmen oder als Betrieb angesehen werde. Der Satz 2 sei aufgenommen worden, weil im Nebenstrafrecht der Begriff ,Betrieb‘ und zum anderen der Begriff ,Unternehmen‘ verwendet werde. Der Begriff ,Unternehmen‘ werde wohl dann gebraucht, wenn es sich um eine mehr kaufmännische Einrichtung handle, der Begriff ,Betrieb‘, wenn es sich mehr um eine technische Einrichtung handle“. Andere wollen unter einem Unternehmen einen „Komplex von mehreren Betrieben“ verstehen156 oder den Betrieb als „technisch-organisatorische“, das Unternehmen als „rechtlich-wirtschaftliche“ Einheit betrachten.157 Da die in Rdn. 61 gegebene Definition des „Betriebes“ bei extensiver Auslegung den Begriff des Unternehmens in seinen verschiedenen Nuancen umfasst, liegt die Bedeutung des § 14 Abs. 2 Satz 2 nur in der Klarstellung, dass jedenfall kein Unternehmen ausgeschlossen sein soll. b) § 14 Abs. 2 Nr. 1 erfasst zunächst den Betriebsleiter. Man versteht darunter den- 63 jenigen, dem die Geschäftsführung eigenverantwortlich übertragen ist und der dementsprechend auch selbständig an Stelle des Betriebsinhabers handelt.158 Aus der Übernahme der Betriebsleitung ergibt sich eo ipso die Überwälzung der Inhaberpflichten, so dass es anders als in Abs. 2 Nr. 2 einer zusätzlichen Beauftragung nicht bedarf; doch muss selbstverständlich der Betriebsleiter, um in die Pflichten des Betriebsinhabers einzutreten, seine Stellung tatsächlich angetreten haben, so dass insoweit die bloße Ernennung noch nicht genügt. Auf die Bezeichnung des Betriebsleiters (Direktor oder dgl.) kommt es nicht an; es entscheidet allein die Funktion. Die Betriebsleitung kann auch bei mehreren Personen liegen, wenn sie den Betrieb in allen seinen Teilen gemeinsam zu leiten haben. Nicht zu den Betriebsleitern gehört, wer nur mit der Beaufsichtigung eines Betriebes beauftragt ist; diese Aufsichtspersonen, die früher in Sondervorschriften des Nebenstrafrechts teilweise in die Vertreterhaftung einbezogen worden waren, unterstehen ihr heute nur unter den Voraussetzungen von § 14 Abs. 2 Nr. 2, weil die bloße Beaufsichtigungsfunktion nicht eine operative Herrschaft zum Gegenstand hat.159 Dem Betriebsleiter gleichgestellt ist der Teilleiter eines Betriebes oder Unterneh- 64 mens. Dadurch wird sowohl die Leitung eines vom Gesamtbetrieb räumlich getrennten Zweigbetriebes („Nebenstelle“, „Filiale“, „Zweigstelle“, „Werk“ als besondere Fabrikationsanlage) wie die Leitung einer Abteilung im Gesamtbetrieb (z.B. „Einkauf“, „Ver-

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155 Protokolle S. 1104. 156 Fischer Rdn. 8; Sch/Schröder/Perron Rdn. 28/29 („Überbau für mehrere Betriebe“). 157 Rebmann/Roth/Herrmann § 9 Rdn. 52; ähnlich Rogall KK-OWiG § 9 Rdn. 76. 158 Ebenso BGH MDR 1990 41; Sch/Schröder/Perron Rdn. 31; Rogall KK-OWiG § 9 Rdn. 84. 159 Näher EEGOWiG S. 64; ebenso Göhler § 9 Rdn. 22; Sch/Schröder/Perron Rdn. 31; Radtke MK Rdn. 89; Bottke wistra 1991 53.

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kauf“, „Fabrikation“, „kaufmännischer Leiter“, „technischer Leiter“) erfasst. Die Abteilung muss aber, damit ihre Leitung als Teilleitung des Gesamtbetriebes gelten kann, eine gewisse Selbständigkeit und Bedeutung besitzen (OLG Karlsruhe VRS 48 157; KG GewArch. 1992 195); wer in einem Warenhaus nur den Verkauf einzelner Artikel leitet, fällt nicht unter diese Vorschrift. Die Bezeichnung als „Abteilungsleiter“ macht jemanden also noch nicht ohne weiteres zum Teilbetriebsleiter i.S.d. § 14 Abs. 2 Nr. 1. Ebenso kommt es bei einem Prokuristen stets auf die Umstände des Einzelfalles an (OLG Hamm MDR 1974 425). Entsprechendes gilt für den Handlungsbevollmächtigten. Entscheidend ist nie die rechtliche Stellung, sondern immer nur die Funktion im Rahmen des Betriebes. Zu weit geht jedenfalls die Einbeziehung aller Vorgesetzten (Herzberg Verantwortung S. 83–87; zust. Benz BB 1988 2237, 2238), während der einen Betriebsteil leitende Wiegemeister vom OLG Stuttgart (Justiz 1980 419) zu Recht unter § 14 Abs. 2 Nr. 1 subsumiert worden ist. Im Schrifttum wird vielfach eine ausdehnende Tendenz in der Rspr. kritisiert und statt dessen eine Anknüpfung an den Begriff des „Leitenden Angestellten“ mit arbeitgeberähnlicher Stellung empfohlen (Böse NK Rdn. 40; Radtke MK Rdn. 92), doch erscheint diese Anknüpfung an arbeitsrechtliche Strukturen statt auf Garantenverhältnisse nicht überzeugend (wie hier Hoyer SK Rdn. 67 f). § 14 Abs. 2 Nr. 1 setzt voraus, dass den Auftrag zur Leitung der Betriebsinhaber 65 oder ein sonst Beauftragter erteilt hat, wobei dies – anders als bei Nr. 2 – auch durch eine konkludente Handlung geschehen kann (BGH MDR 1990 41; BGHSt 58 10, 12). Ist der Betriebsinhaber eine juristische Person, so sind zur Beauftragung die geschäftsführenden Organe (Vorstand, Geschäftsführer) befugt, also deren gesetzliche Vertreter. Bei Mehrgliedrigkeit kommt es auf die Geschäftsverteilung an. Befugt zur Beauftragung sind aber auch Personen, die nicht gesetzliche Vertreter der juristischen Person sind, aber von deren gesetzlichen Vertretern mit der Wahrnehmung bestimmter Geschäfte der juristischen Person betraut sind, wenn zu ihrem Aufgabenkreis die Organisation des Betriebes oder eines Teils des Betriebes gehört. Die Befugnis zur Beauftragung kann sich auch aus besonderen gesetzlichen Vorschriften ergeben. Dazu rechnen z.B. die Vorschriften über die gerichtliche Bestellung eines Abwicklers oder die Bestellung eines besonderen Vertreters durch die Mitgliederversammlung eines eingetragenen Vereins. Die Befugnis eines anderen als des Betriebsinhabers zur Erteilung des Auftrags kann sich auch aus einer entsprechenden Vollmacht des Inhabers oder aus seiner Stellung (z.B. als Prokurist) herleiten (EEGOWiG S. 64). 66

2. Der Auftrag zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung betrieblicher Aufgaben. § 14 Abs. 2 Nr. 2 dehnt die strafrechtliche Verantwortlichkeit beim Handeln für einen anderen auf solche Personen aus, die vom Betriebsinhaber oder von einem sonst Befugten ausdrücklich beauftragt sind, in eigener Verantwortung Aufgaben wahrzunehmen, die den Inhaber des Betriebes als solchen treffen. Während bei den in Nr. 1 Genannten die Verantwortlichkeit mit dem allgemeinen Auftrag, den Betrieb zu leiten, eintritt, bedarf es in diesen Fällen also eines ausdrücklichen Auftrages zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung bestimmter Aufgaben.160 Es muss dabei deutlich gemacht werden, dass im sachlich abgesteckten Rahmen des Auftrages diejenigen Angelegenheiten wahrzunehmen sind, die an sich der Betriebsinhaber als solcher zu erfüllen hätte;

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160 Zur Kritik an dieser Regelung vgl. Schünemann Unternehmenskriminalität I S. 148 ff, unter Hinweis auf empirische Ermittlungen, denen zufolge die Notwendigkeit, einen ausdrücklichen Auftrag nachzuweisen, die Verfolgung der einschlägigen Delikte außerordentlich erschwert. Ferner Gössel S. 103 sowie die in Fn. 154 genannten Autoren.

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die Übertragung muss also betriebliche Aufgaben betreffen. Der Auftrag muss nicht notwendig (sollte aber zweckmäßigerweise) schriftlich erteilt sein. Es genügt eine mündliche Beauftragung, die nicht nach außen bekannt gemacht zu werden braucht (KG VRS 36 269), nicht aber eine stillschweigende Beauftragung (OLG Stuttgart Justiz 1969 126; BGHSt 58 10, 12). Immer jedoch muss dem Beauftragten eine klare Vorstellung von Art und Umfang der von ihm zu erfüllenden Aufgaben vermittelt werden.161 Dabei wird auf die gesetzlichen Vorschriften hinzuweisen sein, wenn die Delegation sorgfaltsgemäß sein soll; zur Begründung der Täterqualifikation des Substituten notwendig ist das aber nicht. Erst recht ist es dafür nicht erforderlich, auf jede einzelne in Betracht kommende Pflicht besonders aufmerksam zu machen. Denn der Beauftragte muss sich nach dem Willen des Gesetzgebers des 2. WiKG über die in seinem Aufgabenbereich zu beachtenden Ge- und Verbote selbst Aufklärung verschaffen (Göhler/Gürtler § 9 OWiG Rdn. 25). Es ist deshalb ausreichend, wenn der Beauftragte über die von ihm wahrzunehmenden Aufgaben der Sache nach hinreichend unterrichtet wird, ohne dass ihm zusätzlich die Erfüllung der damit verbundenen Pflichten ausdrücklich übertragen werden muss. Fehlt eine ausdrückliche Beauftragung, so wird der Betriebsinhaber, sein gesetzlicher Vertreter oder die mit der Betriebsleitung betraute Person nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Verletzung der Aufsichtspflicht gem. § 130 OWiG zur Verantwortung gezogen werden können,162 sondern haftet für das Handeln seiner Mitarbeiter bei entsprechendem Vorsatz als mittelbarer Täter durch Benutzung eines qualifikationslosen Werkzeugs bzw. als Fahrlässigkeitstäter. Der Auftrag muss darauf gerichtet sein, dass der Beauftragte die ihm übertragenen 67 Aufgaben in eigener Verantwortung zu erfüllen hat. Verantwortung über die Erfüllung der Pflichten eines anderen kann nur begründet werden, wenn es dem Beauftragten insoweit auch möglich ist, in dem Wirkungskreis des anderen selbständig zu handeln. Verantwortung setzt Freiheit des Handelns und damit die Befugnis zur Entscheidung voraus (EEGOWiG S. 65). Bei den Beratungen im Sonderausschuss wurde von den Vertretern des Bundesarbeitsministeriums vorgeschlagen, im Gesetzestext die Worte „in eigener Verantwortung“ durch die Worte „im Rahmen der ihm übertragenen Entscheidungsbefugnis“ zu ersetzen. Der Ausschuss hat sich nach eingehender Debatte für den Text des Entwurfs entschieden, weil die eigene Entscheidungsbefugnis im Begriff der Verantwortung enthalten und die Grundlage der Verantwortung sei (Protokolle S. 1100 ff). Eigene Verantwortung bedeutet, dass der Beauftragte nicht zu bloßer Mitverantwortung herangezogen worden sein darf, sondern in eigener, wenn auch vielleicht nachträglich und von oben geprüfter Befugnis163 die Entscheidung frei und verantwortlich treffen muss, die zunächst der ursprünglich Verpflichtete zu treffen hatte. Er muss in der Lage sein, von sich aus ohne Weisung des Betriebsinhabers oder eines sonst dazu Befugten die Maßnahmen zu ergreifen, die zur Erfüllung der Pflichten notwendig sind (Göhler/Gürtler § 9 OWiG Rdn. 31). Unter Umständen kann sogar ein bloßer Sachbearbeiter diese Entscheidungsfreiheit haben (Rebmann/Roth/Herrmann § 9 Rdn. 47); auch bei Prokuristen kommt es auf den Einzelfall an (OLG Hamm MDR 1974 425). Der Beauftragte braucht nicht notwendig Angehöriger des Betriebes zu sein; es kommen auch Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Rechtsanwälte usw. in Frage, wenn sie den Unternehmer nicht lediglich beraten sollen, sondern selbständig in seinem Interesse tätig werden

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161 OLG Düsseldorf bei Göhler NStZ 1983 64; BayObLG bei Göhler NStZ 1987 58, freilich zu § 14 a.F. und dem darin verwendeten Pflichtbegriff, der mehr als die bloße Aufgabendelegation verlangte; BGHSt 58 10. 162 So Göhler/Gürtler § 9 OWiG Rdn. 28; KG JR 1972 121 m. Anm. Göhler. 163 Demuth-Schneider BB 1970 645; Göhler/Gürtler § 9 Rdn. 31; Sch/Schröder/Perron Rdn. 35.

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sollen und dürfen, 164 also beim sog. Outsourcing (Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 438). Umstritten ist, ob ein Betriebsbeauftragter für Immissionsschutz, für Gewässer68 schutz und für Abfall nach den §§ 53 BImSchG, 54 KrW-AbfG, 21a WHG die Voraussetzungen des § 14 Abs. 1 Nr. 2 erfüllt, wobei dieser Streit die Fortsetzung der Kontroverse um die Garantenstellung des Betriebsbeauftragten gemäß § 13 darstellt165 und dadurch die Richtigkeit der hier zu § 14 entwickelten Garantentheorie bestätigt. Auch hier ist die richtige Lösung aus dem Herrschaftsprinzip abzuleiten. Der Betriebsbeauftragte hat zwar nicht die Befugnis, unternehmerische Entscheidungen zu treffen, nimmt aber die ursprünglich der Geschäftsleitung obliegende Aufgabe zur Gewinnung umfassender Informationen über die Gefahren des eigenen Betriebes wahr166 und besitzt hierbei sowie bei der Entwicklung der ihm obliegenden Vorschläge und Initiativen sogar eine gesetzlich zwingend vorgeschriebene Eigenverantwortlichkeit (vgl. etwa §§ 21b–21e WHG). Der Betriebsbeauftragte besitzt also an sich durchaus für einen freilich engen Bereich die Qualifikation des § 14 Abs. 2 Nr. 2, doch wird dies (anders als die ihm nach dem Maße seiner Herrschaft zuzusprechende Garantenstellung) selten praktisch werden, weil die in seinem Tätigkeitsbereich vornehmlich relevanten Tatbestände der §§ 324, 327 StGB nach den hier angestellten Überlegungen nicht als Sonder-, sondern als Gemeindelikte zu qualifizieren sind, auf die § 14 keine Anwendung findet. Eine Pflichtenübertragung zu eigener Verantwortung soll nach der Gesetzesbegrün69 dung nicht zulässig sein, „wenn sie außerhalb des sozial Adäquaten liegt, so z.B. wenn der Inhaber einer Verkaufsstelle ein Lehrmädchen damit beauftragt, in ,eigener Verantwortung‘ für die Einhaltung der Ladenschlusszeiten zu sorgen, selbst wenn er ihr die Entscheidungsbefugnis einräumt, nach ihrem Ermessen den Laden zu öffnen oder zu schließen“ (EEGOWiG S. 65). Das Schrifttum ist dem anfangs überwiegend gefolgt.167 Doch hat sich inzwischen zunehmend Widerspruch erhoben.168 Tatsächlich lässt sich dem Gesetzeswortlaut eine solche Einschränkung nicht entnehmen. Sie sollte auch nicht getroffen werden. Denn sie führt wegen der Vagheit des Begriffes der Sozialadäquanz zu unlösbaren Abgrenzungsschwierigkeiten. Außerdem kann die persönliche Unerfahrenheit des Substituten an seiner für die Zurechnung ausschlaggebenden Obhuts- oder Aufsichtsherrschaft nichts ändern. Der Auftraggeber wird, wenn er seine Pflichten einer gänzlich inkompetenten Person zu „eigener Verantwortung“ überträgt, von seiner Verantwortung ohnehin nicht entlastet (vgl. Rdn. 72 f), während dem unkundigen Beauftrag-

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164 Demuth-Schneider BB 1970 646; Sch/Schröder/Perron Rdn. 37; Radtke MK Rdn. 94; Göhler/Gürtler § 9 Rdn. 23; Rebmann/Roth/Herrmann § 9 Rdn. 50. 165 Die Annahme einer freilich auf seinen eigenen Aufgabenbereich beschränkten Garantenstellung des Umweltschutzbeauftragten entspricht inzwischen der eindeutig herrschenden (freilich in der hier nicht interessierenden Einordnung als Obhuts- oder Aufsichtsgarantenstellung kontroversen) Meinung, vgl. eingehend Rudolphi FS Lackner, S. 872 ff; Kuhlen S. 87 ff; Dahs NStZ 1986 99 ff; ferner Herrmann ZStW 91 (1979) 281, 299; Horn NJW 1981 1, 10; Sack § 324 Rdn. 196f; Arndt Der Betriebsbeauftragte im Umweltrecht – Garant im Umweltstrafrecht? Diss. Kiel (1985) 144 ff; AG Frankfurt NStZ 1986 72; OLG Frankfurt NStZ 1987 508; dagegen Bickel ZfW 1979 139, 148; Sander Natur + Recht 1985 47, 54; Steindorf LK11 § 324 Rdn. 49 m.w.N. Die Subsumtion unter § 14 Abs. 2 Nr. 2 wird bejaht vom AG Frankfurt NStZ 1986 74 f; Dahs NStZ 1986 98 f, die aber den Charakter des § 324 als Gemeindelikt verkennen (s. Rdn. 43); Kuhlen S. 92 ff; Böse NK Rdn. 44; krit., aber ohne Diskussion der Sonderdeliktsproblematik Radtke MK Rdn. 97; Hoyer SK Rdn. 69. 166 Vgl. dazu näher Stich GewArch. 1976 145 ff; Szelinski WiVerw. 1980 266 ff; Steiner DVBl. 1987 1133 ff; Kloepfer Umweltrecht, 3. Aufl. (2004), Rdn. 1444 ff. 167 Demuth-Schneider BB 1970 645; Fischer Rdn. 13; Rogall KK-OWiG § 9 Rdn. 85; Göhler/Gürtler § 9 Rdn. 32; Rebmann/Roth/Herrmann § 9 Rdn. 48; StA Mannheim NJW 1976 585. 168 Schünemann Unternehmenskriminalität I S. 146–148; Böse NK Rdn. 50; Hoyer SK Rdn. 70; Radtke MK Rdn. 98; Roxin AT II § 27 Rdn. 134; Sch/Schröder/Perron Rdn. 36.

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ten ggf. ein Verbotsirrtum oder seine jugendliche Verantwortungsunfähigkeit zugute gehalten werden kann; liegen aber schuldausschließende Umstände nicht vor, braucht er auch nicht von Strafe freigestellt zu werden. Auch die neuerdings dezidiert restriktive Rspr. des BGH zu § 14 Abs. 2 Nr 2 (BGHSt 58 10; BGH StV 2017 76) fußt nicht auf dem Gesichtspunkt der Sozialadäquanz, sondern auf der vom Gesetz geforderten „Ausdrücklichkeit“ und der (aus der Garantentheorie folgenden) Notwendigkeit einer tatsächlichen Übernahme der betreffenden Aufgaben. 3. Das auftragsgemäße Handeln für eine Stelle, die Aufgaben der öffentlichen 70 Verwaltung wahrnimmt. Nach § 14 Abs. 2 Satz 3 ist die Überwälzungsvorschrift des Satzes 1 „sinngemäß anzuwenden“, wenn „jemand auf Grund eines entsprechenden Auftrages für eine Stelle“ handelt, „die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt“. Derartige Stellen „sind auf vielfältigen Sachbereichen Pflichten unterworfen, deren Verletzung durch natürliche Personen strafbar wäre. Die Personen, die für die Stellen handeln, wären gegenüber den in Betrieben und Unternehmen tätigen Personen bevorzugt, wenn sie wegen gleicher Pflichtverletzungen strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden könnten“ (EEGOWiG S. 65). Die Vorschrift bezieht sich, wie der Wortlaut ausdrücklich klarstellt, nicht nur auf staatliche Verwaltungsstellen im engeren Sinne, sondern auf alle Stellen, die „Aufgaben der öffentlichen Verwaltung“ wahrnehmen, z.B. auch auf Anstalten und Körperschaften des öffentlichen Rechts. Aus der Gleichstellung mit Betrieben und Unternehmen ergibt sich aber, dass die Stellen fiskalisch tätig werden oder sonst als Teilnehmer am Rechts- und Wirtschaftsleben Verpflichtungen haben müssen, die denen von Betriebsinhabern entsprechen, z.B. als Halter von Kraftfahrzeugen oder Eigentümer von Sachen (Fischer Rdn. 15; eingehend Radtke MK Rdn. 106f). Die nur „sinngemäße“ Anwendung des Satzes 1 hat der Gesetzgeber deshalb angeordnet, weil bei den öffentlichen Stellen ein „Inhaber“ fehlt, dessen Pflichten wahrgenommen werden könnten; an die Stelle des Betriebsinhabers tritt der Leiter der Stelle oder derjenige, der sonst zur Übertragung von Pflichten befugt ist. Für Amtsdelikte gilt § 14 Abs. 2 Satz 3 wegen der abschließenden, bezgl. der Eigenverantwortlichkeit sogar erheblich extensiveren Regelung des § 11 Abs. 1 Nr. 2 jedoch nicht (Rdn. 35 f). 4. Das Handeln „auf Grund des Auftrages“. So wie der Vertretene in den Fällen 71 des § 14 Abs. 1 „als“ Normadressat handeln muss, setzt die Ausdehnung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit auf die in § 14 Abs. 2 genannten Personen voraus, dass sie auf Grund des ihnen erteilten Auftrages handeln. Die Verantwortungserstreckung betrifft also nur die Verrichtungen im Bereich der übertragenen Aufgaben, bei Nr. 1 also im Bereich der Betriebs- oder Teilbetriebsleitung, wobei die Kontroverse zwischen Interessen-, Funktions-, Zurechnungs- und Garantentheorie auch hier relevant wird (vgl. etwa Roxin AT II § 27 Rdn. 136; Rogall KK-OWiG § 9 Rdn. 92 und näher o. Rdn. 51 ff). Der Leiter des Rechnungswesens, dem auch die eigenverantwortliche Abführung der Sozialabgaben übertragen ist, kann sich also nach § 266a oder § 283 Abs. 1 Nr. 5 strafbar machen (näher o. Rdn. 57). Der Begriff „Handeln“ ist auch hier in dem umfassenden Sinne zu verstehen, dass dazu auch das pflichtwidrige Unterlassen gehört. IX. Die Verantwortlichkeit des Vertretenen, des Betriebsinhabers oder Auftraggebers Die Haftung des Vertreters oder des Beauftragten bedeutet nicht, dass Vertretene 72 oder Auftraggeber, soweit sie als natürliche Personen strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden können, von ihrer Verantwortung eo ipso entlastet sind. Vielmehr lässt 995

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das Wörtchen „auch“ in § 14 Abs. 1 und 2 („auch auf den Vertreter“, „auch auf den Beauftragten“) erkennen, dass Vertreter und Beauftragte nur neben dem Vertretenen oder Auftraggeber verantwortlich sind. Der Vertretene usw. bleibt also Normadressat. Er ist nicht nur strafbar, wenn er selbst ebenfalls durch aktives Handeln gegen die entsprechende Norm verstößt, sondern vor allem auch dann, wenn er die Pflichtverletzung des Vertreters oder Beauftragten erkennt oder erkennen konnte und vorsätzlich oder fahrlässig geschehen lässt. Denn der Inhaber des Unternehmens behält als Eigentümer der zum Unternehmen gehörenden Gegenstände und als mit dem Direktionsrecht über die Arbeitnehmer ausgestatteter Arbeitgeber in jedem Fall eine durch die hierarchische Organisation vermittelte, oberste Herrschaft über das betriebliche Geschehen zurück, die als Aufsichtsherrschaft über gefährliche Sachen und Verrichtungen eine Garantenstellung im Sinne des § 13 begründet; und dasselbe gilt entsprechend für jeden betrieblichen Vorgesetzten in Bezug auf den seiner Entscheidungsmacht unterstellten betrieblichen Bereich.169 Diese sog. Geschäftsherrenhaftung als Folge der Trennung von Arbeit und Verantwortung innerhalb hierarchischer Organisationen (nicht aber bei definitiver Aufgabe und Übertragung der gesamten Machtposition, also etwa einer Betriebsveräußerung!) ist in der Rechtsprechung zum Wirtschaftsstrafrecht und Ordnungswidrigkeitenrecht eigentlich ohne nähere Begründung immer anerkannt gewesen,170 wird seit der Etablierung der mittelbaren Täterschaft durch Benutzung organisatorischer Machtapparate von der Rechtsprechung sogar als mittelbare Täterschaft durch Unterlassen anerkannt (näher Schünemann LK12 § 25 Rdn. 214) und entspricht auch der mit Recht herrschenden Lehre.171 Die daran von einer Mindermeinung geäußerte Kritik172 trifft zwar die Begründungsschwierigkeiten der herrschenden eklektizistischen Garantentypologie, nicht aber die hier befürwortete Ableitung aus dem Herrschaftsprinzip, in dessen Licht die rechtliche Befehlsgewalt des Vorgesetzten in Verbindung mit der faktischen Botmäßigkeit des Untergebenen das betriebliche Geschehen als Werk des Vorgesetzten erscheinen lässt und die Begehungsgleichheit seines Unterlassens begründet. Freilich muss der Kritik von Hsü S. 248–254 zugegeben werden, dass die Aufsichtsgarantenstellung des betrieblichen Vorgesetzten die vergleichsweise schwächste Form der begehungsgleichen Kontrolle über einen sozialen Bereich darstellt, die die fortdauernde Loyalität des Untergebenen als unerlässliche faktische Basis voraussetzt. Aus dieser Grundlage der Geschäftsherrenhaftung folgt, dass sie sich nicht auf Ex73 zesstaten des Untergebenen erstreckt, bei denen dieser nicht im Interesse des Vertretenen, sondern ausschließlich im eigenen Interesse handelt und dadurch die die Aufsichtsgarantenstellung des Vorgesetzten begründenden Fesseln der hierarchischen Organisation sprengt (Schünemann Unternehmenskriminalität I S. 105 f). Die Geschäftsherrenhaftung reicht also keinesfalls weiter als das Handeln des Vertreters „als Organ“ bzw. „auf Grund des Auftrages“ und entfällt (wegen ihrer Begründung nicht schon durch die Delegation als solche, sondern durch das fortbestehende Direktionsrecht) gegenüber in die Betriebshierarchie nicht eingegliederten, externen Beauftragten wie etwa einem

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169 So bereits Schünemann Unterlassungsdelikte S. 328; eingehend ders. Unternehmenskriminalität I S. 95–109; ders. ZStW 96 (1984) 317 f; ders. wistra 1982 43; ders. Unternehmensleitung S. 149 ff; ders. Stand der Dogmatik S. 81; ders. FG BGH Wissenschaft IV S. 634 ff; ebenso Bottke TuG S. 108; ders. Haftung S. 34, 52 f; Walter S. 162 f. 170 RGSt 58 130; BGHSt 8 139; 9 67, 319; 25 158; 54 44; 57 42; KG VRS 36 269; JR 1972 121 m. Anm. Göhler; OLG Celle NJW 1969 759; OLG Hamm NJW 1971 817; NJW 1974 72; BayObLG VRS 51 234; OLG Koblenz MDR 1973 606; OLG Düsseldorf VRS 39 446; OLG Karlsruhe Justiz 1981 21; OLG Köln VRS 66 157; BayObLG DAR 1988 370; OLG Düsseldorf VRS 74 302; 78 126. 171 Für Nachw. s. oben Fn. 47. 172 Siehe Hsü, passim; ferner Stein SK § 13 Rdn. 44; Jescheck LK10 § 13 Rdn. 45; Spring passim.

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Rechtsanwalt oder Steuerberater – es sei denn, dass mit einem gefährlichen Gegenstand des Betriebes hantiert wird, weil die Garantenstellung des Sachherrn auch Exzesshandlungen Dritter einschließt (zutr. Stein SK § 13 Rdn. 43). Innerhalb dieser Grenzen kommt nicht nur eine vorsätzliche, sondern (wenn ein entsprechender Fahrlässigkeitstatbestand existiert) auch eine fahrlässige Begehung durch Unterlassen in Betracht, wobei allerdings die Sorgfaltspflichten des Vertretenen bzw. Auftraggebers im Vergleich zur Begehung durch aktives Tun herabgesetzt sind; denn der Sinn der Bestellung von Betriebsleitern oder sonst eigenverantwortlich handelnden Substituten liegt gerade darin, dass der Vertretene oder Auftraggeber sich bei notwendiger Arbeitsteilung von der ihn sonst überfordernden eigenen Verantwortung entlasten will und muss. Für eine eigene Sorgfaltswidrigkeit des Geschäftsherren bleiben danach fünf verschiedene Formen übrig: (1) unsorgfältige Auswahl eines unzuverlässigen oder überforderten Substituten; (2) unklare und deshalb für Defizite bei der Zusammenarbeit prädestinierte Aufgabenverteilung; (3) unzulängliche Instruktion des Substituten; (4) fehlendes oder unzulängliches Durchgreifen nach bekannt gewordenen Unregelmäßigkeiten des Substituten; (5) Nichtvornahme gelegentlicher überraschender Stichproben, die nach richtiger, wenn auch umstrittener Auffassung selbst bei einem langjährig bewährten Mitarbeiter nicht gänzlich entbehrlich sind.173 Allerdings wird es im letzteren Fall zumeist an der (Quasi-)Kausalität des Unterlassens für den deliktischen Erfolg fehlen, weil dafür mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden muss, dass die unterlassene Handlung den Erfolg verhindert hätte,174 was bei einer fehlenden Stichprobe nur selten der Fall sein wird. Es kommt dann freilich der Auffangtatbestand der Verletzung der Aufsichtspflicht gemäß § 130 OWiG zum Zuge, weil dieser seit der Reform durch das 2. UKG nicht mehr einen Ursachenzusammenhang zwischen der Aufsichtspflichtverletzung und der Zuwiderhandlung, sondern nur noch voraussetzt, dass die Zuwiderhandlung bei gehöriger Aufsicht wesentlich erschwert worden wäre.175 X. Faktische Vertretungsverhältnisse 1. Nach § 14 Abs. 3 sind die Absätze 1 und 2 auch dann anzuwenden, wenn die 74 Rechtshandlung, welche die Vertretungsbefugnis oder das Auftragsverhältnis begründen sollte, unwirksam ist (z.B. wegen Formmangels). Damit soll klargestellt werden, dass es nur darauf ankommt, ob der „Vertreter oder Beauftragte im Wirkungskreis des eigentlichen Normadressaten mit dessen Einverständnis oder dem Einverständnis des hierzu Befugten dessen Stellung tatsächlich eingenommen hat“ (EEGOWiG S. 65). 2. Damit ist die Problematik der faktischen Vertretungsverhältnisse angespro- 75 chen, d.h. des Handelns für einen anderen auf einer zivilrechtlich unwirksamen oder fehlerhaften Basis. So wie diese gesamte Rechtsfigur allein durch die Garantentheorie (Rdn. 15) ohne Rest erklärt werden kann, stellt sie zugleich einen eindrucksvollen Beleg für deren Übereinstimmung mit den praktischen Bedürfnissen dar, weil ihre Ausarbeitung durch den Bundesgerichtshof und ihre Übernahme durch den Gesetzgeber zu-

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173 Im Einzelnen: KG VRS 36 269; BayObLGSt. 1976 47; OLG Celle NJW 1969 759; OLG Hamm NJW 1974 72; VRS 51 234; OLG Köln VRS 66 157; BayObLG DAR 1988 370; großzügiger OLG Karlsruhe Justiz 1981 21; Göhler/Gürtler § 9 Rdn. 37; Sch/Schröder/Perron Rdn. 7; Rebmann/Roth/Herrmann § 9 Rdn. 57–60. 174 BGH StV 1985 229 m. zust. Anm. Schünemann; zum ganzen eingehend Roxin AT II § 31 Rdn. 37 ff. 175 Das geht auf den Reformvorschlag von Schünemann Unternehmenskriminalität I, S. 220 (ebenso die Thyssen-Arbeitsgruppe bei Schünemann Unternehmenskriminalität II, S. 160) zurück, verzichtet aber auf die dort geforderte Gefahr weiterer Zuwiderhandlungen.

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nächst ohne theoretische Anweisung durch die Wissenschaft aus den praktischen Anschauungen und den kriminalpolitischen Bedürfnissen heraus entstanden ist. Das in der Rechtsprechung sichtlich dominierende kriminalpolitische Bedürfnis, denjenigen nicht straflos zu lassen, der „unter Missbrauch wirtschaftlicher Macht und rechtlicher Gestaltungsmöglichkeit Strohmänner als Vorstandsmitglieder vorschiebt (und) als eigentlicher Leiter der Gesellschaft die Gesetzesverletzungen herbeigeführt hat“ (BGHSt 21 105), und statt dessen durch die „Heranziehung der wirklich Verantwortlichen bei Missbrauch von Rechtsfiguren der juristischen Person in dem zivilrechtlichen Dschungel der Verflechtungen strafrechtlich klare und überschaubare Verhältnisse zu schaffen“ (Anm. von Hengsberger zu BGH LM § 244 KO Nr. 1), so dass, „wenn die Rechtsprechung über das faktische Organ nicht schon bestehen würde, sie erfunden werden müsste, um den tatsächlichen Gegebenheiten unseres Wirtschaftslebens gerecht zu werden“ (Fuhrmann FS Tröndle, S. 150), erfährt durch die Garantentheorie die notwendige dogmatische Untermauerung. Es geht danach in § 14 Abs. 3 nicht um eine künstliche und von Haus aus dubiose Ausdehnung des in § 14 Abs. 1 und 2 etwa aus dem Zivilrecht übernommenen Organ- und Beauftragtenbegriffs, sondern um eine Verdeutlichung des von § 14 von vornherein gemeinten Phänomens, nämlich der Delegation und Übernahme einer Herrschaftsposition, so dass § 14 Abs. 1 und Abs. 3 zusammengelesen werden müssen und das Missverständnis einer eigentlich zivilrechtsakzessorischen strafrechtlichen Organund Substitutenhaftung von vornherein gar nicht aufkommen kann. Die Kontroversen um die Auslegung des § 14 Abs. 3, die durch eine zunehmend schroffere Kritik des Schrifttums an der ständigen und unbeirrt fortgesetzten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes gekennzeichnet sind, lassen sich von diesem Grundverständnis aus unschwer beurteilen, wobei sich die Linie der Rechtsprechung grundsätzlich als richtig und die in teleologischer Hinsicht stumpfe, nicht einmal den natürlichen Wortsinn ausschöpfende Interpretation des Schrifttums als nicht überzeugend erweist. 76

3. In systematischer Hinsicht muss zunächst beachtet werden, dass § 14 Abs. 3 unmittelbar nur den Organ- und Beauftragtenbegriff für die in § 14 geregelte Vertreterhaftung festlegt, nicht aber für den Vertreterbegriff in besonderen Straftatbeständen, in denen eine Vertretungsperson von vornherein als primärer Normadressat genannt ist wie etwa in § 84 GmbHG176 oder § 15a Abs. 4 InsO. Nach der in Rdn. 74 zitierten Konzeption des Gesetzgebers bei Schaffung des § 14 Abs. 3 besteht die Essenz der Vertreterposition in völliger Übereinstimmung mit der Garantentheorie in der tatsächlichen Einnahme des Wirkungskreises mit dem Einverständnis des primären Normadressaten bzw. eines anderen zur Delegation Befugten, also in der Übernahme eines Herrschaftsbereiches, was wiederum mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes übereinstimmt, dass strafrechtlich auch derjenige als Organ angesehen werden muss, der diese Position auch ohne förmliche Bestellung und Eintragung im Handelsregister im Einverständnis des maßgeblichen Gesellschaftsorgans tatsächlich einnimmt.177 Im neueren

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176 Klare Unterscheidung bei BGHSt 31 122 f; Löffeler wistra 1989 122; entspr. § 82 GmbHG, s. BGHSt 46 62 m. krit. Rezension Joerden JZ 2001 310. 177 Vgl. die Nachw. in Fn. 68 sowie BGH StV 1984 461; BGH wistra 1990 97; OLG Düsseldorf NStZ 1988 368; dem BGH folgen außer Fuhrmann (FS Tröndle, S. 140 ff) auch Bruns JR 1984 123 ff sowie im Wesentlichen auch Löffeler wistra 1989 121 ff. Das Reichsgericht hat dagegen früher nur den fehlerhaft bestellten, nicht aber allgemein den faktischen Geschäftsführer anerkannt (RGSt 16 269; 64 81 betrafen formell, wenn auch vielleicht nicht rechtswirksam bestellte Organe, während RGSt 71 112 sowie 72 65 den faktischen Geschäftsführer bzw. Beauftragten nicht im Wege der Auslegung, sondern der damals zulässigen Analogie einbezogen), so dass die Annahme von Fuhrmann, die Rechtsprechung über das

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Schrifttum stößt diese Rechtsprechung auf vielfältige und teilweise heftige Kritik,178 die jedoch nur in einer einzigen und zudem dogmatisch nicht überzeugenden Variante auch im Ergebnis zu größeren Differenzen führt. So gelangt Tiedemann unbeschadet seiner die dogmatischen Grundlagen der Rechtsprechung betreffenden Kritik zu dem Ergebnis, dass für die Qualifikation als faktischer Geschäftsführer (nur) ein faktischer Bestellungsakt erforderlich sei, der in Ermangelung eines in einer Gesellschafterversammlung gefassten Beschlusses das Einverständnis aller Gesellschafter der GmbH voraussetze,179 und unterscheidet sich damit im Ergebnis nicht von der bisherigen Rechtsprechung, in der es durchweg um ein zumindest bei Übernahme der Geschäftsführungstätigkeit vorliegendes Einverständnis aller Gesellschafter ging.180 Auch der von Marxen geforderte „rudimentäre Bestellungsakt“ (NK³ Rdn. 41) markiert keinen sichtbaren Unterschied, weil Marxen nicht deutlich macht, wie sich das von ihm geforderte „durch schlüssiges Verhalten erklärte Einverständnis der formell zuständigen Gesellschaftsmitglieder“ von der bloßen „Duldung“ unterscheidet, die im Übrigen in den Fällen, in denen sie vom BGH erwähnt worden ist, durchweg in Form eines Einverständnisses vorlag (BGHSt 21 104). Ein substantieller Unterschied zur Rechtsprechung ergibt sich deshalb nur, wenn man mit einer von Stein begründeten und neuerdings einflussreich gewordenen Auffassung einen formellen, d.h. auf zivilrechtliche Wirksamkeit gerichteten und lediglich fehlerhaften oder steckengebliebenen Bestellungsakt verlangt,181 an dem es in den die Praxis beschäftigenden Fällen durchweg fehlt, weil regelmäßig aus triftigen Gründen (etwa wegen einer Vorverurteilung gemäß § 6 Abs. 2 GmbHG) gezielt eine bloß faktische Geschäftsführerstellung übertragen wird. Wegen der kriminalpolitischen Insuffizienz dieses Standpunktes und seiner Unvereinbarkeit mit den durch die Garantentheorie bezeichneten Grundlagen der Vertreterhaftung könnte er nur dann Gefolgschaft beanspruchen, wenn die Rechtsprechung nicht mit dem natürlichen Wortsinn des § 14 Abs. 3 zu vereinbaren wäre und deshalb das in Art. 103 Abs. 2 GG enthaltene Analogieverbot verletzen würde, was nun in der Tat unter Hinweis darauf behauptet wird, dass in § 14 Abs. 3 von der Unwirksamkeit der Rechtshandlung die Rede ist, „welche die Vertretungsbefugnis oder das Auftragsverhältnis begründen sollte“. Aber dieses Argument sticht nicht. Denn abgesehen davon, dass der Gesetzgeber ausweislich des in Rdn. 74 wiedergegebenen Zitats aus der Gesetzesbegründung mit den in § 14 Abs. 3 benutzten Wendungen genau die ihm bekannte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes bestätigen und nicht etwa desavouieren wollte, so dass ein etwaiger Missgriff im Ausdruck als Redaktionsversehen des Gesetzgebers zu erkennen und nicht etwa zur Wortlautgrenze aufzubauschen wäre (Schünemann FS Klug, S. 169, 183), beruht das Wortlautargument auf der unausgesprochenen und doppelt unrichtigen Prämisse, dass § 14 Abs. 3 die Ex-

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faktische Organ würde schon 100 Jahre bestehen (FS Tröndle, S. 150), die Diskontinuität zwischen der Rechtsprechung von RG und BGH verzeichnet. Eingehende Rspr.-Übersicht bei Tzouma S. 50 ff. 178 Eine grundlegende, namentlich auch die methodologischen Voraussetzungen einbeziehende Kritik findet sich seit langem bei Tiedemann NJW 1977 777, 779 f; 1979 1849, 1850 f; ders. LK Vor § 283 Rdn. 68; ders. § 84 GmbHG (aF) Rdn. 27 ff; wohlwollender ders. Wirtschaftsstrafrecht, Rdn. 273 ff; umfassende Kritik aus strafrechtlicher und zivilrechtlicher Sicht bei U. Stein; dies. ZHR 148 (1984) 207 ff; Hoyer NStZ 1988 369; Kaligin DB 1983 790; Hachenburg/Kohlmann GmbHG § 84 (aF) Rdn. 18 ff; Kratzsch ZGR 1985 312 ff; moderater Sch/Schröder/Perron Rdn. 42/43; Otto S. 22 ff; ders. StV 1984 462; Reich DB 1967 1667; Weber StV 1988 16; Winkelbauer JR 1988 33; Joerden JZ 2001 310; Lindemann Jura 2005 305; aus neuerer Zeit Stockburger S. 271 ff; Tzouma S. 164 ff; Hanft S. 181 ff; diff. Montag Anwendung; Weimar GmbHR 1997 473, 538; viel zu weitgehend Gübel Auswirkungen, dazu krit. Tiedemann ZStW 111 (1999) 684. 179 § 84 GmbHG (aF) Rdn. 33. 180 BGHSt 3 32, 38; 31 118, 122; weitere Nachweise und Hinweise bei Fuhrmann FS Tröndle, S. 142. 181 U. Stein S. 194 ff; dies. ZHR 148 (1984) 223; Marxen JZ 1988 286; Hoyer NStZ 1988 369; ders. SK Rdn. 93; Sch/Schröder/Perron Rdn. 42/43; Radtke MK Rdn. 118; Achenbach FS Stree/Wessels, S. 562.

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tension des in Absatz 1 verwendeten, an sich im Sinne zivilrechtlich wirksamer Bestellung gemeinten Organbegriffs erweitern solle. In Wahrheit macht aber die Garantentheorie deutlich, dass bereits der Organbegriff des Absatzes 1 im Sinne der tatsächlichen Herrschaftsübernahme zu verstehen ist und darin durch Absatz 3 lediglich (sei es auch etwa nur für einen Teilbereich) bestätigt wird; und außerdem wird übersehen, dass die Rechtsprechung längst auch im Gesellschaftsrecht den Schritt zur Anerkennung des faktischen Organs getan hat182 und deshalb eine ausgerechnet im Strafrecht stattfindende Rückkehr zum formellen Organbegriff geradezu atavistisch anmutet. Dagegen lässt sich auch nicht etwa mit Hoyer (SK Rdn. 92) und Marxen (NK³ Rdn. 43) 77 einwenden, dass ja im Zivilrecht das Analogieverbot nicht gelte und dass Abs. 3 funktionslos wäre, wenn man schon § 14 Abs. 1 im Sinne der Garantentheorie und damit der Einbeziehung der faktischen Geschäftsführer interpretieren würde. Denn selbst bei einer sklavischen Abhängigkeit des Strafrechts vom zivilistischen Denken könnte ja die Extension des Organbegriffs im Strafrecht nicht noch hinter das Zivilrecht zurückfallen – so dass die zitierte Kritik auf die sich selbst ad absurdum führende These hinausläuft, dass der Umgangssprachgebrauch als Kriterium der sog. Wortlautgrenze der Gesetzestermini (näher Schünemann Nulla poene sine lege? [1979] 19 ff) nicht durch die soziale Wirklichkeit und auch nicht durch das Zivilrecht insgesamt, sondern von der Perspektive des Rechtspflegers beim Handelsregister geprägt werde. Und die Behauptung, § 14 Abs. 3 würde in der hier entwickelten Interpretation leer laufen, ist in systematischer Hinsicht deshalb unrichtig, weil ja erst das Zusammenspiel von Abs. 1 und Abs. 3 jenen auch dem Gesetzgeber nachweisbar vorschwebenden Anwendungsbereich ergibt, den die Garantentheorie als den kriminalpolitisch allein vernünftigen und deshalb der Natur der Sache entsprechenden erweist: Als der Gesetzgeber den kühnen Entschluss fasste, im Interesse des Schutzes der Rechtsgüter sowie der gleichen und damit gerechten Behandlung der für ihre Verletzung Verantwortlichen ungeachtet der in diesem Punkt noch rückständigen Strafrechtsdogmatik das Problem der Tätersubstitution bei den Sonderdelikten zu regeln, war er sich in seinem dunklen Drange des rechten Weges wohl bewusst und hat sich deshalb zwar zunächst (weil ihm das Schrifttum mit seinen verzwickten, das Zivilrecht teilweise geradezu karikierenden Pflichtenkonstruktionen nichts Besseres anbot) einer zivilistischen Terminologie bedient, hierfür zugleich aber durch Abs. 3 klar gestellt, dass es gerade nicht auf registerrechtliche Formalitäten, sondern auf die reale Wahrnehmung der im Tatbestand des Sonderdelikts vertypten Herrschaftsstellung ankommen sollte (was mittlerweile durch die Preisgabe der zivilistischen Terminologie in § 14 Abs. 2 bekräftigt worden ist, siehe o. Rdn. 14). Angesichts dieses Befundes den Gesetzgeber an der von ihm selbst desavouierten zivilistischen Terminologie des Abs. 1 unter Berufung auf die Wortlautgrenze festhalten zu wollen, liefe in der Tat auf den schon in der 11. Aufl. in diesem Kommentar 1993 (Rdn. 68 ff) zurückgewiesenen Atavismus hinaus. Entgegen einer verbreiteten Auffassung183 besitzt die Qualifikation als faktisches Organ und nicht bloß als faktischer Betriebsleiter oder Beauftragter gemäß § 14 Abs. 2 i.V.m. Abs. 3 auch eine erhebliche Tragweite, weil davon der Umfang der wahrzunehmenden Aufgaben und dementsprechend auch der in Betracht kommenden Sonderdelikte abhängt (vgl. Rdn. 69). Mittlerweile ist die Rechtsprechung des BGH zum faktischen Geschäftsführer so gefestigt, dass die Kritik des Schrifttums in vielen einschlägigen Entscheidungen (BGHSt 47 318, 324 f; BGH NJW 2013 1892) nicht einmal mehr erwähnt wird.

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182 BGHZ 65 15; 95 330; 104 44. 183 Die auf die Anwendbarkeit von § 14 II rekurriert, so Sch/Schröder/Perron Rdn. 42/3; ebenso Achenbach NStZ 1989 497 f; Winkelbauer JR 1988 33.

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4. Nachdem damit grundsätzlich der Rechtsprechung zu den faktischen Vertre- 78 tungsverhältnissen in § 14 zu folgen ist, lassen sich die danach noch offenen Einzelfragen in Anknüpfung an die Garantentheorie unschwer beantworten. Weil es um die Übernahme einer Herrschaftsposition geht, muss das Einverständnis der primär zuständigen Organe vorliegen, das auch nach dem Prinzip der „Reflexivität des Wissens“ stillschweigend durch eine beiden Seiten gemeinsame Kenntnis zum Ausdruck kommen kann. Die Herrschaftsposition muss auch tatsächlich angetreten, d.h. ausgeübt werden, was durch die Wahrnehmung typischer Geschäftsführungsaufgaben, also oberster Leitungs- und Entscheidungsbefugnisse, erfolgt. Ein Auftreten als Organ nach außen hin ist dazu nicht erforderlich,184 sofern die im Innenbereich ausgeübten Funktionen eindeutig der Geschäftsführungsebene zuzuordnen sind. Die in der Rechtsprechung beispielhaft genannten Indizien der Zeitdauer der aufgewendeten Tätigkeit (BGHSt 6 314), der Wahrnehmung von Arbeitgeberbefugnissen (BGHSt 31 118) oder der selbständigen Verhandlung mit Kunden (BGHSt 31 118) haben demgegenüber wenig Aussagekraft oder sind sogar – wie der Einfluss als Gesellschafter (BGH GA 1971 35) – für die von der Rolle des aktiven Mehrheitsgesellschafters wohlweislich zu unterscheidende Stellung als faktischer Geschäftsführer185 gänzlich ohne Belang; ausschlaggebend ist allein die Wahrnehmung oberster Entscheidungsbefugnisse. Weil die Geschäftsführung nicht mit der alleinigen Beherrschung der Gesellschaft identisch ist, braucht der faktische Geschäftsführer seine Position nicht im Einverständnis aller, sondern nur der Mehrheitsgesellschafter erlangt zu haben,186 und es ist auch durchaus mit der Annahme einer faktischen Geschäftsführung zu vereinbaren, wenn daneben noch ein eingetragener und die Geschäfte partiell ebenfalls wahrnehmender Geschäftsführer existiert. An sich würde hier also sogar eine Gleichordnung genügen.187 Doch ist es im Ergebnis zu billigen, dass die Rechtsprechung, die ursprünglich sogar eine überragende Stellung des faktischen Geschäftsführers forderte, zumindest dessen Übergewicht über einen etwa neben ihm tätigen eingetragenen Geschäftsführer verlangt,188 weil durch diesen „Sicherheitskordon“ auch den verbleibenden Bedenken unter dem Aspekt der Unbestimmtheit dieser Rechtsfigur189 der Boden entzogen wird. Es ist auch nicht anzunehmen, dass der 5. Strafsenat des BGH die Forderung anderer 79 Senate einer überragenden Stellung bzw. eines deutlichen Übergewichts (etwa vom 3. Strafsenat in BGHSt 31 118) in BGHSt 47 318, 324 f mit den darin zu lesenden Wendungen aufgeben wollte, dass der Angeklagte, der „die internen kaufmännischen Angelegenheiten eigenständig erledigt hat“, eine strafrechtlich relevante Verantwortlichkeit wegen seiner „Stellung als mit diesen Fragen auch tatsächlich befasster faktischer Geschäftsführer trägt“, wobei der Angeklagte als „eine Person mit so weitreichenden Handlungsvollmachten“ bezeichnet wurde, „dass diese ihrerseits als faktischer Geschäftsführer zu

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184 Zutr. Tiedemann § 84 GmbHG (aF) Rdn. 33 gegen Hachenburg/Kohlmann § 84 Rdn. 17. 185 Tiedemann § 84 GmbHG (a.F.) Rdn. 33. 186 OLG Karlsruhe NJW 2006 1364 m. abl. Anm. v. Arens wistra 2007 35; abl. auch Tiedemann § 84 GmbHG (aF) Rdn. 33; ders. LK Vor § 283 Rdn. 70, jedoch überzeugt dieses Abstellen auf eine gesellschaftsinterne Technik der Willensbildung auf dem Boden der Garantentheorie nicht. 187 K. Schmidt FS Rebmann, S. 428; Schmid/Fridrich in Müller-Gugenberger § 30 Rdn. 63; BGHZ 104 44. 188 Um eine überragende Stellung ging es (mit unterschiedlichen Formulierungen) in BGHSt 3 32, 37; 21 101, 103; 31 118, 122, während BGH wistra 1984 178 = StV 1984 461 mit krit. Anm. Otto u. krit. Rezension Hildesheim wistra 1993 166; BGHSt 46 62, 65 „zumindest“ ein „deutliches Übergewicht“ fordert; ebenso SchlHOLG SchlHA 2000 123. 189 Die den Bestimmtheitsgrundsatz tangierende Konturenlosigkeit der Rechtsfigur des faktischen Geschäftsführers wird gerügt von Kaligin BB 1983 790; Kratzsch ZGR 1985 512; Hachenburg/Kohlmann § 84 GmbHG (aF) Rdn. 16; U. Stein S. 133; Antikritik bei Fuhrmann FS Tröndle, S. 151 ff.

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qualifizieren ist“, wobei die Basis hierfür allein darin bestand, dass „der Geschäftsführer hinnimmt, dass sich ein faktischer Geschäftsführer etablieren kann“. In NJW 2013 624 hat sich der 5. Senat explizit auf die strengen Anforderungen bezogen, die vom 1. Senat in wistra 2013 275 m. z.T. abl. Anm. v. Esser ZWH 2013 317 abermals bekräftigt worden sind. Wie selbstverständlich die Figur des „faktischen Geschäftsführers“ inzwischen vom BGH gehandhabt wird, zeigt der Beschluss des 3. StS in NJW 2013 1892 m. Anm. v. Köllner NZI 2013 368 zu einem Fall der sog. Firmenbestattung als Bankrottdelikt, in dem deren Voraussetzungen nicht einmal mehr erwähnt werden. 80

5. Inwieweit die vorstehend für die faktischen Vertretungsverhältnisse des § 14 entwickelten Grundsätze der Sache nach auch für die Interpretation des Begriffs des Organs als eines primären Normadressaten, also für die Vertreterdelikte, fruchtbar zu machen sind, ist bis heute nicht abschließend geklärt. Dafür spricht, dass die Rechtsprechung bei der Herausbildung der Rechtsfigur des faktischen Organs zwischen den Tatbestandstypen mit primärer oder sekundärer Organhaftung ursprünglich nicht unterschieden hat190 und dass die inhaltlich beschränkte Regelung des § 14 Abs. 3 von der Sachlogik her für Garantensonderdelikte mit Organen als primären Normadressaten sinngemäß ebenso gelten muss, was methodisch durch eine Interpretation des betreffenden Tatbestandsmerkmals nach den Maximen der faktischen Betrachtungsweise zu realisieren wäre. Es kann sich aber bei den in Betracht kommenden Delikten statt um Garantensonderdelikte auch um streng zivilrechtsakzessorische Delikte handeln, was nach einer nicht überzeugenden Mindermeinung etwa für § 82 GmbHG zutreffen soll.191 Bei dem Delikt der unterlassenen Insolvenzantragstellung gemäß § 15a Abs. 3 InsO ergibt sich die Täterqualifikation des faktischen Geschäftsführers schon daraus, dass er nach im Zivilrecht verbreiteter Meinung sogar Normadressat der Antragspflicht ist,192 so dass es keinerlei Grund gibt, diesbezüglich ausgerechnet im Strafrecht von einem formellen Begriffsverständnis auszugehen und eine Normspaltung zu konstruieren.193 Darin liegt auch keine Verletzung des Analogieverbots, weil sich dieses auf den Umgangssprachgebrauch bezieht (o. Rdn. 77) und die früher in § 84 GmbHG und heute noch in § 82 GmbHG enthaltene Wendung „als“ Geschäftsführer ohne Schwierigkeiten auch den faktischen Geschäftsführer erfasst, ferner der Gesetzgeber des MoMiG, als er die allgemeine Strafvorschrift des § 15a InsO einführte, die Rechtsprechung zum faktischen Geschäftsführer nicht etwa konterkarieren wollte, sondern in seinen Willen aufnahm (BTDrucks. 16/6140 S. 56). Allerdings kommt das in § 15a Abs. 3 InsO vorausgesetzte pflichtwidrige Unterlassen des faktischen Geschäftsführers lediglich dann in Betracht, wenn er nach der internen Geschäftsverteilung auch die Insolvenzantragstellung zumindest mit übernommen hatte, was nur im Falle einer überragenden Stellung des faktischen Geschäftsführers angenommen werden kann. Im Ergebnis ist deshalb bei § 15a Abs. 3 InsO die Auffassung von Tiedemann zu billigen, dass der faktische Geschäftsführer nur verantwortlich ist, wenn nicht erwartet werden kann, dass die Organpflichten durch einen eingetragenen Geschäftsführer wahrgenommen und erfüllt werden (§ 84 GmbHG aF Rdn. 34). Ferner wird

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190 RGSt 71 112 betraf die erste, RGSt 72 65 die zweite Gruppe, BGHSt 2 32 wiederum die erste und BGH GmbHR 1955 61 die zweite Gruppe usw. 191 So Tiedemann § 82 GmbHG Rdn. 42; and. aber mit Recht BGHSt 46 61, 65 f m. abl. Anm. Joerden JZ 2001 310; Park/Südbeck/Eidam § 82 GmbHG Rdn. 7; Hohmann MK-GmbHG § 82 GmbHG Rdn. 50. 192 Nachw. in Fn. 194; BGH GmbHR 2005 1187 ff. 193 So aber eine verbreitete Meinung im Schrifttum, s. Ulmer/Habersack/Löbbe/Ransiek § 84 GmbHG (aF) Rdn. 36; Uhlenbruck/Hirte § 15a InsO Rdn. 64; Hohmann MK § 15a InsO Rdn. 59; dazu näher Tiedemann § 84 GmbHG a.F. Rdn. 35.

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man die Rechtsfigur des faktischen Vorstands bei der Aktiengesellschaft wegen ihrer im Vergleich zur GmbH weitaus formaleren Struktur nur in extremen Missbrauchsfällen wie in dem von BGHSt 21 101 entschiedenen Fall verwenden können (Tiedemann ZIP 2004 2440, 2441 m.w.N.). Bemerkenswert ist, dass die Rechtsprechung der Zivilgerichte in dieser Hinsicht 81 weitaus weniger Skrupel kennt als die strafrechtliche Doktrin: Eine Pflicht zur Stellung des Insolvenzantrages wird nicht nur für das faktische Organ bei einer GmbH ganz allgemein anerkannt,194 sondern auch beim faktischen Vorstand einer Aktiengesellschaft.195 Während eine verbreitete Auffassung hier sogar die förmliche Antragsberechtigung des faktischen Organs postuliert,196 genügt nach anderer Auffassung die Pflicht des faktischen Organs, dafür Sorge zu tragen, dass der formelle organschaftliche Vertreter im Falle der Insolvenz rechtzeitig einen Eröffnungsantrag stellt, wozu das faktische Organ in Folge seines beherrschenden Einflusses auf die Führung der Geschäfte ohne weiteres in der Lage sei.197 Die Konsequenz, dass das faktische Organ direkter Normadressat ist, erscheint jedenfalls bei Garantensonderdelikten vom Schlag des § 266 StGB (zum Begriff Schünemann LK12 § 25 Rdn. 42 ff) unproblematisch, während es bei dem Unterlassungsdelikt der unterlassenen Pflicht zur Stellung eines Insolvenzantrages um eine formale Täterstellung im Sinne des Registerrechts und damit der formell eingetragenen Vorstandsmitglieder gehen könnte. Das ist aber letztlich keine strukturelle Frage des § 14 StGB, sondern der individuellen Auslegung einzelner Straftatbestände. In der Regel wird ohnehin zumeist eine Anstiftung zum Delikt des formal registrierten Organs vorliegen, wodurch sich erklärt, dass das Problem bisher selten Gegenstand höchstrichterlicher Entscheidungen gewesen ist. 6. Aus den Gründen für die Rechtsfigur der faktischen Geschäftsführung ergeben 82 sich auch ihre Grenzen, so dass sich die Aufgaben auf den tatsächlich übernommenen Bereich beschränken und die Schlussfolgerung des Bundesgerichtshofes, ein faktischer Geschäftsführer hafte wegen des Grundsatzes der Allzuständigkeit auch für Unterlassungen in den von ihm nicht übernommenen Tätigkeitsbereichen wie etwa für die Erfüllung der steuerlichen Pflichten (BGH wistra 1990 97, 98), nicht haltbar ist. Selbstverständlich kann der faktische Geschäftsführer übernommene Aufgaben an einen Substituten weiterdelegieren, so dass es hierfür nicht auf die Existenz einer zivilrechtlich wirksamen Vollmacht ankommt (Roxin AT II § 27 Rdn. 139 m.w.N.). Umstritten ist schließlich, ob der reine Strohmann neben einem die Geschäfte allein besorgenden faktischen Geschäftsführer überhaupt noch als Normadressat anzusprechen ist. Dies dürfte bei denjenigen Sonderdelikten, die bereits im Tatbestand einen Vertreter als Täter nennen („Vertreterdelikte“, s.o. Rdn. 25, 80), zu bejahen sein, weil z.B. die Legitimation und Pflicht zur Stellung des Insolvenzantrages gem. § 15a Abs. 4 InsO an die (bloße) Eintra-

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194 BGH BB 2005 1867 (1869); BGHZ 104 44, 46; 150 61, 68 ff; OLG Düsseldorf NZG 1999 1066; Klöhn MK § 15a InsO Rdn. 75 ff; Uhlenbruck/Hirte § 15a InsO Rdn. 8, aber für das Strafrecht and. Rdn. 64 sowie Hohmann MK § 15a InsO Rdn. 59; vgl. auch Baumbach/Hueck/Haas GmbH-Gesetz, § 64 Rdn. 16 ff; Redeker DZWiR 2005 497 ff. 195 BGHSt 21 101 (103 ff); BGHZ 75 96 (106 f); bejahend unter Verweis auf zwei das Steuerstrafrecht betreffende, zudem die faktische GF-Konstellation bei einer GmbH behandelnden Urteile (BayObLG wistra 1991 195, 197) Schaal MK-AktG § 401 Rdn. 14. 196 Vgl. nur Uhlenbruck/Hirte § 15 InsO Rdn. 2, § 15a InsO Rdn. 8; a.M. Klöhn MK § 15 InsO Rdn. 11; Ulmer/Habersack/Löbbe/Casper GmbHG § 64 Rdn. 39, alle m.w.N. 197 Klöhn MK § 15 InsO Rdn. 11, § 15a Rdn. 75; U.H. Schneider BB 1981 249, 255; U. Stein ZHR 148 (1984), 207, 230 f; K. Schmidt ZIP 1988 1497, 1500 f; vgl. auch RGSt 72 187, 192, dazu K. Schmidt FS Rebmann (1989) 419, 434.

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gung im Handelsregister anknüpfen.198 Das ist auch keine Wortlautklauberei, sondern systematisch zwingend, weil der etwa existierende faktische Geschäftsführer der GmbH sub specie des § 15a Abs. 4 InsO – was vielfach übersehen wird – nur unter § 14 Abs. 2 subsumiert werden kann (denn der eingetragene Strohmann fällt nicht unter § 14 Abs. 1 Nr. 1 u. 2, und der faktische Geschäftsführer ist auch nicht dessen gesetzlicher Vertreter i.S. der Nr. 3) und damit ein Fall der Substitutenhaftung ist, die die Verantwortlichkeit des primären Adressaten ohnehin nicht vollständig beseitigt (s.o. Rdn. 72). Wenn es dagegen nicht um ein Vertreterdelikt, sondern um ein Garantensonderdelikt geht, so dürfte die Verantwortlichkeit des Strohmannes zu verneinen sein, weil der bloße Formalakt der Eintragung ins Handelsregister zwar einen Rechtsschein, aber keine tatsächliche Herrschaftsfunktion begründet. Das entsprach der bis vor kurzem völlig überwiegenden Auffassung,199 ist aber vom BGH (wenn auch nur in Form eines obiter dictum) durch eine kumulative Verantwortlichkeit von Strohgeschäftsführer und faktischem Geschäftsführer ersetzt worden (BGH wistra 2017 64 m. abl. Anm. von Ceffinato am Beispiel des § 266a). Aber diese „Meistbenachteiligungslösung“ kompromittiert die im Schrifttum ohnehin heftig kritisierten (Nachw. o. Fn. 178, 181) Argumente zur Verantwortlichkeit des sich durch eine überragende Stellung auszeichnenden faktischen Organs, deretwegen allein diesem (und nicht dem Strohmann) die Herrschaft über das Geschehen und dann auch nach der „faktischen Betrachtungsweise“ die strafrechtliche Verantwortlichkeit zukommt, und kann deshalb nicht überzeugen. XI. Irrtumsfragen 83

Eine strafrechtliche Verantwortlichkeit wegen vorsätzlicher Tat setzt hier wie sonst voraus, dass der Täter die sachlichen Umstände kennt, die ihn zum Täter machen. Ein Irrtum darüber ist Tatbestandsirrtum gem. § 16 StGB. Irrt der Täter bei Kenntnis der sachlichen Umstände lediglich über das seine Pflicht begründende Gebot oder Verbot, so befindet er sich im Verbotsirrtum gem. § 17 StGB. In den Fällen der unbewussten Fahrlässigkeit ist erforderlich, dass er die seine Täterqualität begründenden Umstände nicht erkannt hat, dass ihm dies aber bei Anwendung gehöriger Sorgfalt möglich gewesen wäre. XII. Rechtsvergleichung und Reform Schrifttum (ausländisches Recht und Reform) Achenbach Die Sanktionen gegen die Unternehmensdelinquenz im Umbruch, JuS 1990 601; ders. Ahndende Sanktionen gegen Unternehmen und die für sie handelnden Personen im deutschen Recht in: Schünemann/de Figueiredo Dias (Hrsg.) (1995) 283; E. Bacigalupo Responsabilidad penal de órganos, directivos y representantes de una persona jurídica (El actuar en nombre de otro) in: Comentarios a la legislación penal, t.V, Bd. 1 (Madrid 1985) 315; Bajo/S. Bacigalupo Derecho Penal Economico (Madrid 2001) 4 Kap. La actuación en nombre de otro S. 91 ff; Brickey Corporate Criminal Liability Bd. 1 2. Aufl. (Deerfield II. u.a. 1992), Bd. 2 u. 3 (Deerfield Il. u.a. 1984 m. Erg. 1993); dies. Rethinking corporate liability under the Model Penal Code, Rutgers Law Journal 1988 593; Cartier Notion et fondement de la responsabilité pénale

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198 Schünemann LK12 Rdn. 75; Tiedemann § 84 GmbHG (aF) Rdn. 30; Schmid/Ludwig in MüllerGugenberger § 29 Rdn. 21; Maurer wistra 2003 175 f; and. KG wistra 2002 313. 199 Schünemann LK12 Rdn. 75; Roxin AT II § 27 Rdn. 139; OLG Hamm NStZ-RR 2001 173; KG wistra 2002 313, 314 f; Krumm NZWiSt 2015 102, 103; Fischer StGB, 63. Aufl., § 266 a Rn. 5; NK-StGB/Tag 4. Aufl., § 266 a Rn. 30; MüKoStGB/Radtke 2. Aufl., § 266 a Rn. 36; Schönke/Schröder/Perron 29. Aufl. § 14 Rdn. 16/17; and. Beck OK StGB Momsen/Laudien § 14 Rdn. 68a.

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du chef d’entreprise in: Institut de l’Entreprise (Hrsg.) La responsabilité pénale du fait de l’Entreprise (Paris u.a. 1977) 45; Dannecker/Fischer-Fritsch Das EG-Kartellrecht in der Bußgeldpraxis (1989); Castaldo Die aus Straftaten entstehende verwaltungsrechtliche Haftung der Unternehmen nach der italienischen Rechtsreform, wistra 2006 361; Eser/Thormundsson (Hrsg.) Old Ways and New Needs in Criminal Legislation (1989) (zit. Criminal Legislation); Faria Costa Die strafrechtliche Haftung des Unternehmens und seiner Organe (eine strafrechtliche Untersuchung zum Vertreterbegriff bei Verbandspersonen) in: Schünemann/de Figueiredo Dias (1995) 337; Gracia Martín El Actuar en lugar de otro en Derecho Penal Teil I (Zaragoza 1985), Teil II (Zaragoza 1986) (zit: Actuar); ders. Responsabilidad de directivos, órganos y representantes de una persona jurídica por delitos especiales (Barcelona 1986) (zit: Responsabilidad); ders. Instrumentos de imputación jurídico penal en la criminalidad de empresa y reforma penal, Actualidad Penal 1993 213; ders. La cuestión de la responsabilidad penal de las propias personas jurídicas, Actualidad Penal 1993 58; Militello Die strafrechtliche Haftung des Unternehmens und der Unternehmensorgane in Italien in: Schünemann/de Figueiredo Dias (1995) 321; Möhrenschlager Reform of Economic Criminal Law in the Federal Republic of Germany in: Eser/Thormundsson (Hrsg.) Criminal Legislation S. 73; Octavio de Toledo Las actuaciones en nombre de otro, Anuario de Derecho penal y Ciencias penales 1984 23; Oudijk Die Sanktionen im niederländischen Gesetz über Wirtschaftsdelikte und deren Anwendung, wistra 1991 161; Pace Delegation – A doctrine in search of a definition, Criminal Law Review 1982 627; Robert Projet de nouveau Code pénal: Dernière nouvelles relatives à la responsabilité des personnes morales et des chefs d’entreprise, personnes physiques, Droit Pénal 1990 1; Schick Die strafrechtliche Verantwortung der zur Vertretung berufenen sowie der „faktischen“ Organe von Handelsgesellschaften, Liechtensteinische Juristenzeitung 1993 14; N. Schmid Einige Aspekte der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Gesellschaftsorganen, SchwZStr. 1988 157; Schmidt-Salzer Vereinigtes Königreich; Strafrechtliche Unternehmens- und Mitarbeiterverantwortung: Das Zeebrügge-Strafverfahren, Produkthaftpflicht international 1991 122; H. Schneider Die Regelungen von Täterschaft und Teilnahme im europäischen Strafrecht pp.(2002); Schubarth Zur strafrechtlichen Haftung des Geschäftsherrn, SchwZStr. 1976 370; Schünemann Unternehmenskriminalität und Strafrecht (1979) 169–262 (zit. Unternehmenskriminalität I); ders. Ist eine direkte strafrechtliche Haftung von Wirtschaftsunternehmen zulässig und erforderlich? in: International Association of Penal Law, Taiwan/ROC Chapter (Hrsg.) International Conference on Environmental Criminal Law (Taipei 1992) 433 (zit. Haftung); ders. (Hrsg.), Unternehmenskriminalität. Deutsche Wiedervereinigung Die Rechtseinheit, Arbeitskreis Strafrecht Band III (1996) (zit. Unternehmenskriminalität II); ders./Figueiredo Dias (Hrsg.) Bausteine eines gemeineuropäischen Strafrechtssystems (1993) (zit. Schünemann/de Figueiredo Dias); Silva-Sanchez Die strafrechtliche Haftung des Unternehmens und der Unternehmensorgane in: Schünemann/de Figueiredo Dias (1995) 307; H. Stein Die Regelung von Täterschaft und Teilnahme im europäischen Strafrecht pp. (2002); Thormundsson Die Strafbarkeit der Wirtschaftskriminalität bei gewerblicher Betätigung juristischer Personen in: Eser/Thormundsson (Hrsg.) Criminal Legislation S. 99; Thornicroft Executive liability for criminal and quasi-criminal activity in Canada, Business and the Contemporary World 1992 126; Tiedemann Der Allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts, Festschrift Jescheck (1985) 1411; ders. Die strafrechtliche Vertreter- und Unternehmenshaftung, NJW 1986 1842; ders. Die „Bebußung“ von Unternehmen nach dem 2. Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität, NJW 1988 1169; ders. Strafbarkeit und Bußgeldhaftung von juristischen Personen und ihren Organen in: Eser/Thormundsson (Hrsg.) Criminal Legislation (1989) 157; ders./Otto Literaturbericht Wirtschaftsstrafrecht (Teil I), ZStW 102 (1990) 94; Van Strien Het daderschap van de rechtspersoon bij milieudelicten in: Faure/Oudijk/Schaffmeister (Hrsg.) Zorgen van heden (Arnheim 1991) 257; Vest Die strafrechtliche Garantenpflicht des Geschäftsherrn, SchwZStr. 1988 288; Zieschang Das Sanktionensystem in der Reform des französischen Strafrechts im Vergleich mit dem deutschen Strafrecht (1992). Vgl. ferner die allgemeine Literaturübersicht.

1. Im ausländischen Recht ist nur in wenigen Rechtsordnungen eine mit § 14 StGB 84 vergleichbare, umfassende Regelung der Organ- und Substitutenhaftung vorzufinden, während überwiegend nur fragmentarische gesetzliche Regelungen oder von der Rechtsprechung herausgearbeitete allgemeine Zurechnungsregeln existieren. a) Eine (von deutschem Recht beeinflusste) allgemeine Regelung findet sich vor al- 85 lem in Portugal und Spanien. Am weitesten geht Art. 12 des portugiesischen Strafge1005

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setzbuches vom 2.9.1982, der alle Fälle des Handelns „im Namen eines anderen“ sowohl bei Sonderdelikten als auch bei Delikten mit egoistisch beschränkter Innentendenz erfasst und die Wirksamkeit des Bestellungsaktes ausdrücklich für irrelevant erklärt. Nicht ganz so weit ging der mit der Reform vom 25.6.1983 eingeführte Art. 15 bis (a.F.) des spanischen StGB (Código Penal), der das Handeln für einen anderen unter Einbeziehung eines gewillkürten Vertreters, jedoch nur für den Bereich der juristischen Personen200 erfasste. Das führte anfangs zu einer zivilrechtsakzessorischen Interpretation des Art. 15 bis, die namentlich eine Anwendung auf faktische Vertreter ablehnte,201 während von der überwiegenden, von Gracia Martín begründeten Meinung die auch hier für die Interpretation des § 14 vertretene Garantentheorie im Anschluss an Schünemann Unternehmenskriminalität I S. 131 ff, bevorzugt und in äußerst konstruktiver Weise weiterentwickelt wurde.202 Im neuen Código Penal von 1995 hat der Gesetzgeber dieser Kritik Rechnung getragen und die Vertreterhaftung in einer Form geregelt, die weitgehend auf die hier vertretene Garantentheorie hinausläuft. Art. 31 CP (i.d.F. des Ley Orgánica 1/2015 v. 30.3.2015) lautet in deutscher Übersetzung: „Wer als tatsächlicher oder rechtlicher Geschäftsführer einer juristischen Person oder im Namen oder in gesetzlicher oder gewillkürter Vertretung für einen andern handelt, ist persönlich verantwortlich, auch wenn die Bedingungen, Eigenschaften oder Beziehungen, die das entsprechende Verbrechen (delito) für die aktive Täterstellung verlangt, nicht auf ihn zutreffen, sofern diese Umstände bei der Einheit oder Person vorhanden sind, in dessen Namen oder Vertretung er handelt.“ Im Schrifttum ist dementsprechend anerkannt, dass es sich bei diesem Verhältnis um eine Herrschaft über die spezielle Sozialstruktur für den Schutz des Rechtsguts und damit um eine Garantenstellung handelt (Bajo/S. Bacigalupo S. 100). Auf demselben Grundgedanken beruht die Spezialvorschrift des Art. 318 CP über die Garantenstellung der im Betrieb einer juristischen Person tätigen „Verwalter und Beauftragten“ bei Delikten gegen die Rechte der Arbeitnehmer. Eine ähnliche, aber auf Unternehmen beschränkte und in zivilrechtlicher Terminologie stecken gebliebene Regelung existiert auch in der Schweiz. Art. 29 des schwStGB bestimmt unter der Überschrift „Vertretungsverhältnisse“, dass „eine besondere Pflicht, deren Verletzung die Strafbarkeit begründet oder erhöht und die nur der juristischen Person, der Gesellschaft oder Einzelfirma (heute: dem Einzelunternehmen) obliegt, einer natürlichen Person zugerechnet wird, wenn diese (a) als Organ oder Organmitglied, (b) als Gesellschafter, (c) als Mitarbeiter mit selbstständigen Entscheidungsbefugnissen in seinem Tätigkeitsbereich oder (d) als tatsächlicher Leiter (ohne unter a-c zu fallen) handelt.“ Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift deckt sich (abgesehen von dem in der Praxis unbedeutenden § 14 Abs. 1 Nr. 3) weitgehend mit dem deutschen Recht, wobei sogar die faktische Geschäftsführung/Funktionsübernahme in Art. 29 d schwStGB weitaus klarer als in § 14 Abs. 3 (dazu o. Rdn. 74 ff) einbezogen (und damit nolens volens ein Bekenntnis zur Garantentheorie abgelegt) worden ist, nachdem das Schweizerische Bundesgericht diese „faktische Betrachtungsweise“ auch schon früher ohne gesetzliche Grundlage praktiziert hatte (Nachw. b. Trechsel/Jean-Richard in Trechsel/Pieth [Hrsg.], Schweizerisches Strafgesetzbuch – Praxiskommentar -, 2. Aufl. [2013], Art. 29 Rdn. 5).

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200 Deshalb mit Recht krit. Gracia Martín Actuar II S. 176 ff. 201 Octavio de Toledo S. 23 ff, 49 ff; E. Bacigalupo S. 325 ff. 202 Grundlegend und umfassend, alle Facetten ausschöpfend Gracia Martín Actuar I S. 340 ff, 349 ff; ders. Actuar II S. 21 1 ff; ders. Responsabilidad S. 29 ff; zust. Mir Puig Derecho Penal Parte General 7. Aufl. (Barcelona 2004) 203 ff; Silva-Sanchez aaO.

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b) In anderen Ländern zeigt der Stand der Gesetzgebung hingegen das auch in 86 Deutschland vor Einführung des § 50a StGB durch das EGOWiG (s. Entstehungsgeschichte) bekannte Bild einiger weniger Spezialregelungen, die von der Judikatur in unterschiedlichem Umfange durch die Anerkennung ungeschriebener Zurechnungsregeln ergänzt werden: Das zum 1.1.1975 in Kraft getretene österreichische StGB regelt bei Sonderdelikten auf der Basis des von ihm zugrunde gelegten, aber gerade bei dieser Deliktsgruppe besonders wenig überzeugenden Einheitstäterbegriffs (zur Kritik Schünemann LK12 Vor § 25 Rdn. 5 ff) in § 14 Abs. 1 lediglich die gemeinsame Tatausführung durch Qualifizierte und Nichtqualifizierte in allgemeiner Form, während die Einbeziehung von Organen und Substituten in den Kreis der tauglichen Täter allein für die Kridadelikte (i.e. Insolvenzverbrechen) in § 161 speziell normiert worden ist.203 § 161 öStGB erstreckt die Verantwortlichkeit über den Organbereich hinaus auf alle „leitenden Angestellten“ einer juristischen Person, einer Personengemeinschaft ohne Rechtspersönlichkeit sowie auch natürlicher Personen als Schuldner oder Gläubiger.204 Hierbei ist auch die Rechtsfigur des De-facto-Geschäftsführers anerkannt, jedoch nicht hinsichtlich der Pflicht zur Stellung des Insolvenzantrages.205 – Auch das italienische Strafgesetzbuch von 1930 enthält keine allgemeine Regelung der Vertreterhaftung. Die Rechtsprechung hat deshalb im Schrifttum teils gebilligte, teils kritisierte Grundsätze zur Delegierbarkeit der strafrechtlichen Verantwortung entwickelt, die im Wesentlichen an die (sorgfaltsgemäße) Übertragung der für die strafrechtliche Einstandspflicht relevanten Unternehmensfunktionen anknüpfen.206 Der Frage, ob dies für die auch im italienischen Strafrecht vorkommenden Sonderdelikte207 in der gleichen Weise zutrifft, ist bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden.208 c) Die dritte große Gruppe wird von den Rechtsordnungen gebildet, die zwar auch 87 eine eigene strafrechtliche Verantwortlichkeit des Vertreters kennen, den kriminalpolitischen Schwerpunkt aber bei der Funktion des Vertreterhandelns für die unmittelbare strafrechtliche Verantwortlichkeit der Körperschaft setzen und deshalb deren Voraussetzungen weitaus vollständiger diskutiert und geregelt haben als die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Vertreters selbst. Zu dieser Gruppe gehören traditionell die Länder des angloamerikanischen Rechtskreises, seit geraumer Zeit auch die Niederlande und die skandinavischen Länder sowie neuerdings vor allem Frankreich. Eine allgemeine gesetzliche Regelung zur Subsumtion des Handelns für einen anderen unter den Tatbestand eines Sonderdelikts findet sich in diesen Rechtsordnungen nicht, was die bis 1968 auch in Deutschland die Diskussion beherrschenden drei Alternativen der Organhaftungstheorie, des Rückgriffs auf Spezialregelungen und der faktischen Betrachtungsweise (oben Rdn. 3) übrig lässt. Die die eigene Haftung des Vertreters begründende Organtheorie beruht auf dem gleichen Grundgedanken der Identität von Körperschafts- und Organhandeln wie die im Common Law seit je zur Begründung der direkten Körperschaftshaftung verwendete Alter-ego-Theorie und hat deshalb konsequenterweise in Art. 2 Abschnitt 2.07 Abs. 6 des Model Penal Code für die USA folgenden Ausdruck ge-

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203 Krit. zu dieser Beschränkung Kienapfel Grundriß des österreichischen Strafrechts Besonderer Teil II 3. Aufl. (Wien 1993) § 161 Rdn. 2; Schick S. 244. 204 Kienapfel (Fn. 203) Rdn. 7; Kirchbacher/Presshauer Wiener Kommentar zum StGB § 161 Rdn. 1, 5 ff. 205 Kienapfel (Fn. 203) § 161 Rdn. 11 i.V.m. § 159 Rdn. 45. 206 Fiandaca/Musco Diritto penale – Parte generale – 6. Aufl. (Bologna 2003) 132 ff; Militello aaO m.w.N. 207 Als „reati propri“ bzw. „reati speciali“, s. Fiandaca/Musco (Fn. 201) 154; Manzini/Pisapia Trattato di diritto penale italiano Band I, 5. Aufl. (Turin 1981) 717; Marini Lineamenti del sistema penale (Turin 1988) 95 f; Pagliaro Principi di Diritto Penale Parte Generale, 7. Aufl. (Milano 2000) 164 ff. 208 Vgl. aber Pagliaro (Fn. 207) 575 ff.

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Schünemann

§ 14 | Zweiter Abschnitt. Die Tat

funden: „(a) Eine Person ist für ein Verhalten, das sie selbst oder ein anderer auf ihre Veranlassung im Namen oder im Interesse der Körperschaft oder eines nicht eingetragenen Vereins durchführt, im gleichen Umfang verantwortlich, als hätte sie im eigenen Namen oder Interesse gehandelt. (b) Wann immer eine Pflicht zum Handeln einer Körperschaft oder einem nicht eingetragenen Verein durch Gesetz auferlegt ist, ist ein Vertreter der Körperschaft oder des Vereins, der in erster Linie die Verantwortung für die Durchführung der Pflicht trägt, für ein leichtfertiges Unterlassen der Handlung im gleichen Umfang verantwortlich, als wäre die Pflicht ihm persönlich durch Gesetz auferlegt. (c) Wird jemand wegen einer Gesetzesverletzung auf Grund seiner rechtlichen Verantwortung für das Verhalten einer Körperschaft oder eines nicht eingetragenen Vereins verurteilt, dann ist er der Bestrafung unterworfen, die das Gesetz für zulässig erklärt, falls eine natürliche Person wegen einer Gesetzesverletzung von gleicher Art und Schwere verurteilt wird.“209 Die gleichen Grundsätze finden sich mit nur geringfügigen Änderungen auch im Entwurf eines amerikanischen Bundesstrafgesetzbuches,210 während die gegenwärtige Rechtsprechung noch darüber hinausgeht, indem sie eine strafrechtliche Haftung der Leitungsorgane eines Unternehmens für die im Unternehmen begangenen Rechtsgutsverletzungen bejaht, wenn diesen ein (nur bei Unmöglichkeit der Verhinderung entfallender) Anteil an der Verantwortung (responsible corporate officer doctrine) zugeschrieben werden kann.211 Erst recht wird das die Tat unmittelbar ausführende Unternehmensmitglied auch persönlich haftbar gemacht, weil niemand eine Körperschaft als einen „Schild“ gegen die Verantwortlichkeit für sein persönliches Fehlverhalten benutzen könne212 und die Tätermerkmale auch dort, wo es – wie im Kartellrecht – um rechtsgeschäftliches Handeln geht, im Sinne der faktischen Betrachtungsweise interpretiert werden.213 – Auch in England steht zunächst die Haftung des Vertretenen im Vordergrund, die als eine Verantwortlichkeit für fremdes Verschulden (vicarious liability) durch das Stellvertretungsprinzip (delegation principle) begründet wird.214 Während der Vertreter in diesen Fällen bei Gemeindelikten als (Mit-)Täter behandelt wird, kann er bei Sonderdelikten nur als Teilnehmer (accessory) bestraft werden, offenbar ohne dass hierbei die Existenz eines Haupttäters vorausgesetzt wird.215 – In ähnlicher Weise wie im angloamerikanischen Strafrecht könnte das Vertreterhandeln auch in denjenigen kontinentaleuropäischen Strafrechtsordnungen, die inzwischen die juristische Person als Strafrechtssubjekt anerkennen, als Mittäterschaft oder Teilnahme an deren Delikt erfasst werden; die dogmatische Bewältigung der Problematik speziell bei den Sonderdelikten hinkt hier allerdings durchweg der Gesetzgebung hinterher und ist deshalb noch nicht abgeschlossen. Dies gilt sowohl für die skandinavischen Länder, in denen mit Aus-

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209 Übersetzung aus: Honig Entwurf eines amerikanischen Musterstrafgesetzbuches (1965) 29 f. th 210 Section 403 des Criminal Code Reform Bill, S. 1437, 95 Cong. 2d Sess. (1978), abgedruckt bei Kadish/Schulhofer/Paulsen Criminal Law and its Processes, 5. Aufl. (Boston u.a. 1989) 755 f. 211 Grundlegend hierfür die beiden Entscheidungen des amerikanischen Supreme Court in Sachen gegen Dotterweich und gegen Park, 320 U.S. 277 (1943) sowie 421 U.S. 658 (1975). Zu der umstrittenen Frage, ob dadurch eine strafrechtliche Haftung ohne Verschulden (strict liability) statuiert worden ist, vgl. Kadish/Schulhofer/Paulsen (Fn. 210) 296 ff; Brickey Band I, S. 172 ff, beide m.w.N.; Supreme Court of Pennsylvania i.S. Commonwealth v. Koczwara b. Dubber/Kelman American Criminal Law (New York 2005), 769 ff. 212 Brickey Band I, S. 152 f m.w.N. 213 Grundlegend der amerikanische Supreme Court in Sachen United States v. Wise, 370 U.S. 405, 409 (1962) im Anschluss an die Entscheidung in Sachen Dotterweich (oben Fn. 211); weitere Nachweise bei Brickey Band I, S. 153. 214 Ormerod in Smith & Hogan‘s Criminal Law, 13. Aufl. (Oxford 2011), 277 ff; Ashworth Principles of Criminal Law, 4. Aufl. (Oxford 2003) 83 f; Pace S. 627 ff. 215 Ormerod (Fn. 214), 282.

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Handeln für einen anderen | § 14

nahme Norwegens die Strafbarkeit juristischer Personen bisher nur in Spezialgesetzen vorgesehen ist216 und die Erfüllung eines Sonderdeliktstatbestandes durch das Handeln eines extraneus kontrovers diskutiert wird,217 als auch für die Niederlande und Frankreich, deren Strafgesetzbücher die gesetzliche Regelung der Verbandskriminalität im internationalen Vergleich am weitesten vorangetrieben haben. Im niederländischen Strafgesetzbuch (Wetboek van Strafrecht) ist die Strafbarkeit juristischer Personen (einschließlich der Gesellschaften mit oder ohne Rechtspersönlichkeit und von Zweckvermögen) seit 1976 in § 51 Abs. 1 und 3 geregelt. Ferner ist in der Rechtsprechung die besondere Täterschaftsform der funktionalen Täterschaft entwickelt worden, mit deren Hilfe ein Unternehmer als Täter eines (ein betriebliches Handeln erfassenden) Sonderoder auch Gemeindelikts bestraft werden kann, wenn er eine Verfügungsgewalt über das Verhalten des Untergebenen besaß und dieses hingenommen hat oder hinzunehmen pflegte.218 Da die Strafbarkeit der juristischen Person als ein Fall der funktionalen Täterschaft angesehen wird, wird dem Verband im Ergebnis nur das schuldhafte Verhalten von Leitungspersonen zugerechnet, deren eigene strafrechtliche Haftung in § 51 Abs. 2 Nr. 2 des niederländischen Strafgesetzbuches ausdrücklich angeordnet ist.219 Inwieweit sich daraus – in Ermangelung einer § 14 entsprechenden allgemeinen Regelung der Vertreterhaftung220 – für die im niederländischen Strafrecht häufigen Sonderdelikte Strafbarkeitslücken ergeben, wenn untergeordnete Mitarbeiter ohne „Duldung von oben“ handeln, hängt von der in der Rechtsprechung noch nicht abgeschlossenen Fixierung des Kreises der die Zurechnung zur juristischen Person begründenden Repräsentanten221 ab und bleibt deshalb abzuwarten. Soweit dagegen wichtige Straftatbestände wie diejenigen zum Schutz der Umwelt nicht als Sonder-, sondern als Gemeindelikte interpretiert werden,222 ist durch die Kombination dieser „faktischen Betrachtungsweise“ mit der Rechtsfigur der funktionalen Täterschaft nicht nur jede Strafbarkeitslücke beseitigt, sondern sogar ein maximaler Sanktionsdruck durch die Möglichkeit einer kumulativen Bestrafung sowohl des Ausführungsorgans, des Leitungsorgans als auch der juristischen Person selbst erzeugt worden. – In Frankreich statuiert das (am 1.3.1994 in Kraft getretene) neue Strafgesetzbuch in der Fassung des Gesetzes Nr. 92–683 vom 22.7.1992 über die Reform der allgemeinen Vorschriften des Strafgesetzbuches in Art. 121-2 eine allgemeine Verantwortlichkeit der juristischen Personen (personnes morales) für das sie betreffende Verhalten ihrer Organe und Repräsentanten, was gemäß Abs. 3 die Verantwortlichkeit der natürlichen Personen als Täter oder Gehilfen der gleichen Taten nicht

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216 In Norwegen sieht der durch Gesetz vom 20.7.1991 in das Strafgesetzbuch aufgenommene Abschnitt 3a in § 48a eine allgemeine strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen (nicht nur von juristischen Personen) vor. In Dänemark können nach den zahlreichen Spezialgesetzen nicht nur Unternehmen, sondern sogar Kommunen und neuerdings auch der Staat mit Strafe belegt werden (z.B. gemäß Art. 27 Abs. 2 des Gesetzes über die EG-Marktorganisationen für Landwirtschaftsprodukte). Eine Übersicht über die isländischen Spezialregelungen findet sich bei Thormundsson S. 120 ff. 217 Vgl. dazu näher Herlitz Parties to a Crime and the Notion of a Complicity Object (Uppsala 1992) 203 ff, 283 ff, 554 f; Jareborg Brottsbalken kap. 23–24 med mera (Uppsala 1985) 25 f. 218 Zur Entwicklung der funktionalen Täterschaft vgl. die Urteile des Hoge Raad in: NJ 1916 681 („Milchund-Wasser-Fall“); 1947 469; 1949 447; 1960 484; die im Text angeführten Zurechnungskriterien wurden im „Stacheldraht-Fall“ in NJ 1954 378 entwickelt und im „1. Fischerei-Fall“ in NJ 1979 555 bestätigt. Vgl. ferner m.w.N. Waling Das niederländische Umweltstrafrecht (1991) 101 ff und zu den eine funktionale Täterschaft voraussetzenden „funktionalen Delikten“ als Spezialform der Sonderdelikte HazewinkelSuringa/Remmelink Inleiding tot de Studie van het Nederlandse Strafrecht, 11. Aufl. (Alphen a.d.R. 1989) 92 ff; van Strien S. 275 ff. 219 Dazu m.w.N. Hazewinkel-Suringa/Remmelink (Fn. 218) 132 ff; Waling (Fn. 218) 108 ff. 220 Vgl. Hazewinkel-Suringa/Remmelink (Fn. 218) 95 f. 221 Vgl. dazu van Strien S. 281 ff; Hazewinkel-Suringa/Remmelink (Fn. 218) 128 ff; Waling (Fn. 218) 105 ff. 222 Dazu näher van Strien S. 289 ff; Waling (Fn. 218) 93 f.

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§ 14 | Zweiter Abschnitt. Die Tat

ausschließt. Zur Anwendung dieser Bestimmung und den zahlreichen Spezialregelungen vgl. die eingehende Darstellung bei Radtke MK² Rdn. 131 ff. 88

2. Hinsichtlich der Reform der Vertreterhaftung sind zwei Ebenen zu unterscheiden: die Schließung der kriminalpolitisch unbefriedigenden und dogmatisch unnötigen Lücken des § 14 einerseits und dessen Einfügung in ein Gesamtsystem des Unternehmensstrafrechts andererseits.

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a) Durch die zivilistische Einkleidung der Strafbarkeit des Handelns für einen anderen in § 14 sind im Vergleich zu den durch die Garantentheorie (oben Rdn. 15 ff) bezeichneten Bedingungen für die Gleichstellung von Substitutenhandlung und Geschäftsherrenhandlung zahlreiche Strafbarkeitslücken geschaffen worden, die sich aus der Beschränkung der Substitutenhaftung auf den betrieblichen Bereich, aus der Forderung eines ausdrücklichen Auftrages, aus dem Erfordernis einer eigenverantwortlichen Stellung des Substituten und aus der Eliminierung von Exzesshandlungen (Handeln „als Organ“ bzw. „aufgrund des Auftrages“) ergeben.223 Das bescheidene Ergebnis der Reformbemühungen im 2. WiKG (vgl. Entstehungsgeschichte) hat die Kritik nicht verstummen lassen,224 die sich im Jahre 1989 in einem (unveröffentlichten) Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums niederschlug, der unter allgemeiner Billigung des Schrifttums den Verzicht auf das Merkmal der ausdrücklichen Beauftragung vorschlug.225 Im Regierungsentwurf eines 2. UKG, der im Jahre 1990 dem Bundestag zugeleitet wurde, infolge der Wiedervereinigung der Diskontinuität zum Opfer fiel und sodann im Jahre 1991 ohne inhaltliche Veränderung erneut in den Gesetzgebungsprozess Eingang fand,226 ist dieser Vorschlag fallen gelassen und zwar in der Stellungnahme des Bundesrates und dem Gegenentwurf der SPD-Bundestagsfraktion abermals aufgegriffen worden,227 hat sich aber bis heute nicht durchsetzen können. Ohnehin könnte durch eine derartige partielle, dem Kurieren an einem einzigen Symptom vergleichbare Korrektur nicht das in Rdn. 5 ff dargestellte konstruktive Grundgebrechen des § 14 geheilt werden.

90

b) Auf lange Sicht unabweisbar erscheint deshalb die Anknüpfung der Vertreterhaftung an die Funktionsübernahme, beispielsweise in Form des von mir 1979 (in Unternehmenskriminalität I S. 230) unterbreiteten Gesetzesvorschlages: „Wenn die Herbeiführung eines Erfolges durch ein Tun nur unter den Voraussetzungen des § 13 Abs. 1 strafbar ist, so ist auch derjenige als Täter verantwortlich, der anstelle des vom Gesetz bezeichneten Täters dessen Verrichtungen übernommen hat und die im Tatbestand bezeichnete Handlung ausführt.“ Nur in der Formulierung abgewandelt ist der Vorschlag des Thyssen-Arbeitskreises: „Knüpft das Gesetz die Strafbarkeit an eine mit der Wahrnehmung bestimmter Funktionen verbundene Rechtsstellung, so ist als Täter auch verantwortlich, wer die Wahrnehmung der Funktionen für den im Gesetz bezeichneten Täter übernommen hat und die im Tatbestand bezeichnete Handlung selbst oder durch einen anderen

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223 Eingehend Schünemann Unternehmenskriminalität I S. 140–154; ferner Tiedemann NJW 1986 1842, 1844 f; w.N.o. in Fn. 1. 224 Zunächst in Gestalt des 57. Deutschen Juristentages in Mainz 1988, der in seiner Abteilung Strafrecht den Beschluß Nr. 38 faßte: „Die allgemeinen strafrechtlichen Regeln über das ,Handeln für einen anderen‘ (vgl. § 14 StGB) sind auszuweiten“ (Sitzungsbericht L des 57. DJT S. 290); ferner Achenbach JuS 1990 601, 602; Bottke wistra 1991 81, 83; Kuhlen WiVerw. 1991 240. 225 Zustimmend mitgeteilt bei Sack MDR 1990 286; Heine/Meinberg GA 1990 31 f. 226 BTDrucks. 11/7101 sowie 12/192. 227 BTDrucks. 12/192 Anlage 2, S. 37 sowie BTDrucks. 12/376 S. 3, 13 f.

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Handeln für einen anderen | § 14

ausführt.“228 Im Kern identisch ist auch der Vorschlag von Tiedemann/Schünemann (in Tiedemann, S. 458) in Gestalt von Art. 13 III eines Allgemeinen Teils des Europäischen Strafrechts, der folgendermaßen lautet: „Begründen besondere persönliche Eigenschaften oder Verhältnisse die Strafbarkeit, so kann Täter nur sein, bei wem diese Merkmale vorliegen oder wer die Funktionen ausübt, welche diese Merkmale beschreiben. Vertretungsberechtigte Organe einer juristischen Person oder einer Personengesellschaft sowie Unternehmensleiter oder Personen mit Entscheidungs- oder Kontrollbefugnissen in einem Unternehmen können als Täter auch dann bestraft werden, wenn die besonderen persönlichen Merkmale nur bei der juristischen Person, der Personengesellschaft oder dem Unternehmen vorliegen und die Organe, Leiter oder Entscheidungs- sowie Kontrollbefugten die Ausübung der Funktionen tatsächlich übernommen haben.“ Sehr ähnlich ist auch der Reformvorschlag von Tzouma, S. 254. Dagegen betrifft Art. 12 des sog. Corpus Juris (abgedruckt bei Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht AT S. 178 f) nur die Geschäftsherren-, nicht die Vertreterhaftung. Die demgegenüber an jeder Ausweitung der Vertreterhaftung von Marxen geübte, im 91 Schrifttum vereinzelt gebliebene Kritik229 ist nicht überzeugend. Den dafür angeführten dogmatischen Argumenten ist schon in Rdn. 13 entgegengetreten worden. Marxens kriminalpolitische Trumpfkarte, die Überwälzung der von der Vertreterhaftung (angeblich) nur schlecht zu lösenden Präventionsaufgabe auf eine Sanktionierung des Unternehmens selbst,230 sticht schon deshalb nicht, weil die sich ggf. bis zu einem Präventionsnotstand steigernden spezifischen Hemmnisse für die Präventionswirkung des Strafrechts gegenüber einem Handeln innerhalb eines Unternehmens mit krimineller Verbandsattitüde231 nur durch eine kumulative Sanktionierung sowohl durch Bestrafung des für das Unternehmen handelnden Individuums als auch durch wirksame Maßnahmen gegen das begünstigte Unternehmens kompensiert werden können.232 Die kriminalpolitische Unzulänglichkeit einer ausschließlichen Unternehmenshaftung wird durch das EG-Kartellrecht demonstriert, das allein eine Bußgeldhaftung von Unternehmen, aber keine Sanktionen gegen Individuen kennt233 und deshalb entweder nur einen bei rationeller betrieblicher Organisation zweitrangigen Kostenfaktor ohne präventive Wirkung bedeutet234 oder im Falle einer exorbitanten Höhe235 eine mit der Eigentumsgarantie schwerlich zu vereinbarende Erdrosselungswirkung zeitigt. Dagegen lässt sich auch nicht etwa einwenden, dass die Geldbußen zum größten Teil nur der Gewinnab-

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228 Dazu im einzelnen Schünemann Unternehmenskriminalität II S. 165 ff. 229 JZ 1988 286, 287 ff; NK³ § 14 Rdn. 8 ff. 230 JZ 1988 289 ff; NK³ § 14 Rdn. 9 ff, besonders Rdn. 14. 231 Dazu eingehend Schünemann Unternehmenskriminalität I S. 18 ff, 30 ff, 41 ff, 56 ff. 232 Zum eigenen Standpunkt nach einer 4 Jahrzehnte währenden Beschäftigung mit den Problemen s. Schünemann FS Tiedemann, S. 429 f; ders. ZIS 2014 1 ff; GA 2015 274, 279 ff; StraFo 2018 317 ff. 233 Vgl. dazu Tiedemann FS Jescheck, S. 1419; ders. NJW 1993 30; Dannecker/Fischer-Fritsch S. 253; Dannecker MschrKrim. 1991 268. 234 Siehe dazu allgemein Volk JZ 1993 432, 433 sowie zu der entsprechenden Gefahr bei der Geldbuße gemäß § 30 OWiG Schünemann Unternehmenskriminalität I S. 246. 235 Nachweise zu Geldbußen in Millionenhöhe vor Jahrzehnten bei Dannecker/Fischer-Fritsch S. 319; Dannecker MschrKrim. 1991 268, 273 ff. Den ehemaligen „Rekord“, den das Bundeskartellamt im Fall der Heidelberger Zement AG mit einer Verbandsgeldbuße von 112 Mio. DM aufgestellt hatte, s. die Mitteilungen in Wirtschaft und Wettbewerb 1989 720; 1990 98; K. Schmidt wistra 1990 131, 133, hatte die Europäische Kommission mit über 855 Mio EUR gegen 8 Mitglieder des sog. Vitaminkartells 2001 sowie mit fast 500 Mio EUR gegen Microsoft schon bald weit überboten, s. Tätigkeitsberichte des BKartA 2001/2002, S. 86; 2003/ 2004 S. 70; Schwarze EuZW 2003 261, 263. Mittlerweile liegt die Obergrenze auch in Deutschland bereits bei 1 Milliarde € (gegen VW), in der EU bei 4,34 Miliardem € (gegen Google, Mitteilung der EU-Kommission vom 18.7.2018).

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Schünemann

Vor §§ 15 ff | Zweiter Abschnitt. Die Tat

schöpfung dienen würden. Denn diese erfolgt regelmäßig erst Jahre nach dem Verstoß und trifft deshalb wirtschaftlich nicht die damaligen Anteilseigner und Arbeitnehmer als damalige Nutznießer, sondern die jetzt Beteiligten und produziert letztlich Willkür. 92

c) Die weitere Entwicklung der Vertreterhaftung kann also nicht in ihrer Ersetzung, sondern nur in ihrer Ergänzung durch nicht pönale Unternehmenssanktionen, vor allem der Unternehmenskuratel, und damit in ihrer Einbettung in ein in den einzelnen Instituten aufeinander abgestimmtes Gesamtsystem des Unternehmenssanktionenrechts liegen, dazu eingehend Schünemann LK12 Vor § 25 Rdn. 20 ff.

Vorbemerkungen zu den §§ 15 ff Zweiter Abschnitt. Die Tat Vorbemerkungen Schünemann/Vogel †/Bülte Vor §§ 15 ff https://doi.org/10.1515/9783110300413-020

Schrifttum Beling Unrecht, Schuld und Schuldstufen (1910); Binding Die Schuld im deutschen Strafrecht (1919); Dannecker Der unionsrechtliche Grundrechtsschutz im Wirtschaftsstrafrecht, Ambos/Bock (Hrsg.), Aktuelle und grundsätzliche Fragen des Wirtschaftsstrafrechts (2019) 115; Engisch Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht (1930); Exner Das Wesen der Fahrlässigkeit (1910); Feuerbach Betrachtungen über dolus und culpa überhaupt und den dolus indirectus insbesondere, Bibliothek für die peinliche Rechtswissenschaft und Gesetzeskunde (1800) 193; Frank Über den Aufbau des Schuldbegriffs (1907); Frisch Vorsatz und Risiko (1983); Frister Schuldprinzip, Verbot der Verdachtsstrafe und Unschuldsvermutung als materielle Grundprinzipien des Strafrechts (1988); v. Hippel Vorsatz, Fahrlässigkeit, Irrtum in v. Birkmeyer u.a. (Hrsg.) Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts (zit. VDA), Allgemeiner Teil Bd. III (1908) 373; Jakobs Studien zum fahrlässigen Erfolgsdelikt (1972); Arthur Kaufmann Das Schuldprinzip, 2. Aufl. (1976); Mezger Die subjektiven Unrechtselemente, GS 89 (1924) 207; Niese Finalität, Vorsatz und Fahrlässigkeit (1951); Platzgummer Die Bewußtseinsform des Vorsatzes (1964); Puppe Vorsatz und Zurechnung (1992); Rönnau/Bröckers Die objektive Strafbarkeitsbedingung im Rahmen des § 227 StGB, GA 1995 549; Stuckenberg Vorstudien zu Vorsatz und Irrtum im Völkerstrafrecht – Versuch einer Elementarlehre für eine übernationale Vorsatzdogmatik (2007); T. Walter Der Kern des Strafrechts (2006); Welzel Das neue Bild des Strafrechtssystems, 4. Aufl. (1961); Zielinski Handlungs- und Erfolgsunwert im Unrechtsbegriff (1973). S. weiterhin das in den Fußnoten und zu den §§ 15–18 nachgewiesene Schrifttum.

Gesetzesmaterialien Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 2. Band Allgemeiner Teil, 14. bis 25. Sitzung (1958) (zit. Niederschriften); BTDrucks. IV/650 (zit. E 1962); Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuchs, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. (1969), vorgelegt von Baumann u.a. (zit. AE); Deutscher Bundestag – 5. Wahlperiode, Beratungen des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform (1965–1969) (zit. Prot.); BTDrucks. V/4095 (zit. E 2. StRG).

I. II. III. IV.

Übersicht Entstehungs- und Reformgeschichte | 1 Regelungsbereich und -systematik | 8 Anwendungsbereich, Sondervorschriften | 12 Kriminalpolitische Grundfragen 1. Objektive („strikte“) strafrechtliche Verantwortlichkeit? | 15 2. Vorsatz als Regel, Fahrlässigkeit als Ausnahme? | 22

Schünemann/Vogel †/Bülte https://doi.org/10.1515/9783110300413-020

3. 4. 5. 6.

Hinreichende Differenzierung Vorsatz – Fahrlässigkeit? | 26 Hinreichende Differenzierung bei den Irrtümern? | 28 Berechtigung der erfolgsqualifizierten Delikte? | 35 Strafbarkeit der leichten oder geringfügigen Fahrlässigkeit? | 37

1012

Vorbemerkungen | Vor §§ 15 ff

V.

VI.

Verfassungsrechtliche Grundfragen 1. Gesetzlichkeitsprinzip | 39 2. Schuldprinzip | 45 Strafrechtsdogmatische Grundfragen 1. Einfluss des Besonderen Teils auf die Lehren von Vorsatz, Fahrlässigkeit und Irrtum? | 49 2. Vorsatz, Fahrlässigkeit und Irrtum als Fragen der Unrechts- oder der Schuldlehre? | 52 3. „Wissen“ und/oder „Wollen“ als Zentralbegriffe der Vorsatz-, Fahrlässigkeits- und Irrtumslehre? | 56 a) „Wissen“ | 57 b) „Wollen“ | 59 4. Normativierung bzw. Objektivierung von Vorsatz, Fahrlässigkeit und Irrtum? | 64 5. Trennung oder Verschränkung von materiellem Strafrecht und Strafprozess-

recht bei Vorsatz, Fahrlässigkeit und Irrtum? | 71 VII. Rechtsvergleichende Hinweise 1. Deutscher Rechtskreis a) Ehemalige DDR | 76 b) Österreich | 77 c) Schweiz | 78 2. Romanischer Rechtskreis a) Frankreich | 79 b) Italien | 81 c) Spanien | 83 3. Common law-Rechtskreis a) Mens rea | 85 b) Vereinigtes Königreich | 88 c) Vereinigte Staaten | 91 4. Europäisches und internationales Recht a) Europäisches Recht | 93 b) Internationales Recht | 95 5. Rechtsvergleichender Querschnitt und Ertrag | 96

Vogel †/Bülte I. Entstehungs- und Reformgeschichte §§ 15–18 StGB sind durch Art. 1 Zweites Gesetz zur Reform des Strafrechts v. 4.7.1969 1 (BGBl. I S. 717) eingeführt worden, gem. § 1 Gesetz über das Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur Reform des Strafrechts v. 30.7.1973 (BGBl. I S. 909) am 1.1.1975 in Kraft getreten und gelten seitdem in textlich unveränderter Gestalt fort. Die Vorschriften, die nur teilweise Vorläufer in dem zuvor geltenden Recht haben,1 enthalten lediglich fragmentarische Regelungen zu dem Gesamtbereich Vorsatz, Fahrlässigkeit und Irrtum (s.u. Rdn. 8). Mit ihrem Erlass hat der Gesetzgeber seine Bemühungen um eine Regelung des Bereichs bis heute eingestellt und die weitere Rechtsentwicklung bewusst der Rechtsprechung und Lehre überlassen (s.u. Rdn. 7). Daher verwundert es nicht, dass der Normtext der §§ 15–18 StGB für die heutige Rechtsanwendung eine nur nachrangige Rolle spielt und die Vorschriften nur geringen Einfluss auf ausländische oder supra- und internationale Strafgesetzgebung haben, die vielmehr maßgeblich von der mens rea-Lehre des common law-Rechtskreises geprägt wird (s.u. Rdn. 85 ff, 95). Die Zurückhaltung des Gesetzgebers hat weit zurückreichende historische Wur- 2 zeln. Bereits in den Vorarbeiten zum preuß. StGB 18512 hieß es: „[D]ie Lehre von dolus und culpa gehört ganz eigentlich der Jurisprudenz an. Sie in einem Strafgesetzbuch erschöpfend zu behandeln, ist unmöglich. Geht der Gesetzgeber überhaupt darauf ein, so setzt er sich immer der Gefahr aus, entweder zu viel oder zu wenig zu geben, und durch die der richterlichen Beurteilung gesetzten Schranken mehr Schaden als Nutzen zu stiften“.3 Daher begnügte sich bereits das preuß. StGB 1851 mit der in seinem § 44 enthalte-

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1 § 16 Abs. 1 geht auf § 59 RStGB zurück, s. sogleich Rdn. 2 und § 16 Rdn. 5 ff. § 18 geht auf § 56 StGB i.d.F. des Art. 2 Nr. 9b) Drittes Strafrechtsänderungsgesetz v. 4.8.1953 (BGBl. I S. 735) zurück, s. noch § 18 Rdn. 1. 2 Zur Entwicklung bis hierhin Stuckenberg Vorstudien, S. 556 ff. 3 Kommissionsbericht der II. Kammer, Drucksache Nr. 140 S. 35 f; zur Geschichte eingehend v. Hippel VDA III S. 472 ff.

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Vor §§ 15 ff | Zweiter Abschnitt. Die Tat

nen Regelung zum Tatbestands- oder Tatumstandsirrtum, die zunächst in den am 1.1.1871 in Kraft getretenen § 59 StGB für den Norddeutschen Bund v. 31.5.1870 (BGBl. Nr. 16 v. 8.6.1870) und sodann in § 59 StGB für das Deutsche Reich v. 15.5.1871 (RGBl. S. 127 – RStGB) überführt wurde und ab dem 1.1.1872 auch in den süddeutschen Staaten galt. § 59 RStGB lautete: (1) Wenn Jemand bei Begehung einer strafbaren Handlung das Vorhandensein von Thatumständen nicht kannte, welche zum gesetzlichen Thatbestande gehören oder die Strafbarkeit erhöhen, so sind ihm diese Umstände nicht zuzurechnen. (2) Bei der Bestrafung fahrlässig begangener Handlungen gilt diese Bestimmung nur insoweit, als die Unkenntniß selbst nicht durch Fahrlässigkeit verschuldet ist.

Es muss als eine der bemerkenswertesten Leistungen der deutschen Strafrechtsprechung und -wissenschaft im Deutschen Reich und in der frühen Bundesrepublik Deutschland gelten, aus dieser sehr fragmentarischen gesetzlichen Regelung, die bis zum 31.12.1974 textlich unverändert galt, im Wege der Rechtsfortbildung eine umfassende Vorsatz-, Fahrlässigkeits- und Irrtumslehre entwickelt zu haben. Dabei griffen Rechtsprechung und Lehre einerseits auf die aus dem gemeinen Recht tradierten dolus-, culpa- und errores-Lehren zurück und nahmen andererseits immer stärkeren Bezug auf die seit der Reichsgründung aufblühenden strafrechtswissenschaftlichen Lehren.4 Diese Entstehungsgeschichte schlägt sich bis heute in einer deutlichen Gesetzesferne der Vorsatz-, Fahrlässigkeits- und Irrtumslehre nieder, die einerseits immer noch mit gemeinrechtlichen Figuren wie dolus directus, eventualis, generalis oder alternativus, error in persona vel obiecto, aberratio ictus oder error iuris arbeitet und andererseits stärker denn je strafrechts- und straftattheoretisch, beispielsweise finalistisch, generalpräventiv oder risikotheoretisch ausgerichtet ist. Ob damit der Vermittelbarkeit der Vorsatz-, Fahrlässigkeits- und Irrtumslehre an den Universitäten, für die Praxis und an das Ausland (im Unterschied zu ausländischen Strafrechtswissenschaftlern, die bis heute von der deutschen Vorsatz-, Fahrlässigkeits- und Irrtumslehre fasziniert sind) gedient ist, darf bezweifelt werden. Dass eine weniger fragmentarische Gesetzgebung auch im Bereich von Vorsatz, 4 Fahrlässigkeit und Irrtum kein Ding der Unmöglichkeit ist, zeigt nicht nur die Rechtsvergleichung (s.u. Rdn. 76 ff), sondern auch die historische – zunächst weitgehend verstummte (s. aber T. Walter S. 437 ff) jedoch mit Blick auf den Tötungseventualvorsatz wieder aufgeflammte5 – Reformdiskussion. Bereits der E 1913 enthielt Legaldefinitionen des Vorsatzes (§ 17 Abs. 1), auch in den Sonderformen der Wissentlichkeit und Absicht (§ 18 Abs. 1 und 2), sowie der Fahrlässigkeit (§ 19) und regelte den sog. Erlaubnistatbestandsirrtum (§ 17 Abs. 2). Der E 1919 behielt diese Reformvorschläge im Wesentlichen bei (s. §§ 11, 13, 14), ergänzte eine noch unvollkommene Regelung des Verbotsirrtums (§ 12) und enthielt in § 15 eine Vorläufervorschrift zu dem heutigen § 15 StGB. Der E 1927 (insoweit inhaltsgleich mit dem E 1930) verbesserte diese Reformvorschläge (§§ 16–20) und enthielt in § 21 eine Vorläufervorschrift zu dem heutigen § 18 StGB. Selbst in der nationalsozialistischen Strafrechtsreformdiskussion wurden eingehende gesetzliche Regelungen erwogen,6 die nur teilweise von spezifisch nationalsozialistischem Gedankengut 3

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4 Vgl. Stuckenberg Vorstudien, S. 556 ff. 5 Vgl. nur Frister ZIS 2019 381 ff; Puppe ZIS 2019 409 ff m.w.N. 6 E. Schäfer in Gürtner (Hrsg.) Das kommende deutsche Strafrecht – Allgemeiner Teil (1935) S. 49 ff mit Kommissionsentwurf in zweiter Lesung über „Arten der Schuld“, § a bis § e.

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beeinflusst waren7 und über die vornationalsozialistischen Entwürfe hinaus z.B. eine Legaldefinition der Leichtfertigkeit8 enthielten. In den 1953 einsetzenden Bemühungen um eine Strafrechtsreform in der Bundes- 5 republik Deutschland wurde die Chance zu einer umfassenden Regelung des Gesamtbereichs Vorsatz, Fahrlässigkeit und Irrtum vertan. In deutlicher Abkehr von den vorherigen Reformtendenzen lehnte die Große Strafrechtskommission eine umfassende Regelung insbesondere verbunden mit Legaldefinitionen des Vorsatzes und der Fahrlässigkeit mehrheitlich ab.9 Auf Wunsch der Minderheit (unter ihnen Strafverteidiger) schlug der E 1962 gleichwohl anknüpfend an den E 1930 und an die mittlerweile namentlich durch den rechtsfortbildenden Beschluss des Großen Senats für Strafsachen vom 18.3.195210 konsolidierte Rechtsprechung und Lehre eine umfassende gesetzliche Regelung vor, die wie folgt lautete: § 15 E 1962. Vorsätzliches und fahrlässiges Handeln [sachgleich mit dem heutigen § 15 StGB] § 16 E 1962. Vorsatz Vorsätzlich handelt, wem es darauf ankommt, den gesetzlichen Tatbestand zu verwirklichen, wer weiß oder als sicher voraussieht, dass er den gesetzlichen Tatbestand verwirklicht, oder wer die Verwirklichung für möglich hält und sich mit ihr abfindet. § 17 E 1962. Absicht und Wissentlichkeit (1) Absichtlich handelt, wem es darauf ankommt, den Umstand zu verwirklichen, für den das Gesetz absichtliches Handeln voraussetzt. (2) Wissentlich handelt, wer weiß oder als sicher annehmen muss, dass der Umstand gegeben ist oder eintreten wird, für den das Gesetz wissentliches Handeln voraussetzt. § 18 E 1962. Fahrlässigkeit und Leichtfertigkeit (1) Fahrlässig handelt, wer die Sorgfalt außer acht lässt, zu der er nach den Umständen und seinen persönlichen Verhältnissen verpflichtet und fähig ist, und deshalb nicht erkennt, dass er den gesetzlichen Tatbestand verwirklicht. (2) Fahrlässig handelt auch, wer es für möglich hält, dass er den gesetzlichen Tatbestand verwirklicht, jedoch pflichtwidrig und vorwerfbar im Vertrauen darauf handelt, dass er ihn nicht verwirklichen werde. (3) Leichtfertig handelt, wer grob fahrlässig handelt. § 19 E 1962. Irrtum über Tatumstände [wortgleich mit dem heutigen § 16 StGB] § 20 E 1962. Irrtum über rechtfertigende oder entschuldigende Umstände (1) Wer bei Begehung der Tat irrig Umstände annimmt, welche die Tat rechtfertigen oder entschuldigen würden, wird nicht wegen vorsätzlicher Begehung bestraft. (2) Er wird jedoch wegen fahrlässiger Begehung bestraft, wenn ihm der Irrtum vorzuwerfen ist und das Gesetz auch fahrlässiges Handeln mit Strafe bedroht.

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7 So aber z.B. bei § a Abs. 4 des Kommissionsentwurfs (Fn. 6), wonach der Verbotsirrtum unbeachtlich sein sollte, „wenn er auf einer Einstellung beruht, die mit der gesunden Volksanschauung über Recht und Unrecht unvereinbar ist“. 8 § d Kommissionsentwurf (Fn. 6). 9 Niederschriften S. 45–64 (15. Sitzung) und 105–107 (17. Sitzung); gegen Legaldefinitionen sprachen sich insbesondere Mezger und Welzel aus, aber auch Dreher. 10 BGHSt 2 194 ff; eingehend hierzu § 17 Rdn. 4.

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§ 21 E 1962. Verbotsirrtum Wer bei Begehung der Tat irrig annimmt, kein Unrecht zu tun, handelt ohne Schuld, wenn ihm der Irrtum nicht vorzuwerfen ist. Ist ihm der Irrtum vorzuwerfen, so kann die Strafe […] gemildert werden. § 22 E 1962. Schwere Strafe bei besonderen Tatfolgen Knüpft das Gesetz an eine besondere Folge der Tat eine schwerere Strafe, so trifft sie den Täter oder den Teilnehmer nur, wenn ihm hinsichtlich dieser Folge Fahrlässigkeit zur Last fällt.

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Bemerkenswert ist, dass der AE dem nur teilweise inhaltliche Gegenpositionen entgegensetzte11 und sich überwiegend auf stilistische bzw. gesetzestechnische Verbesserungsvorschläge beschränkte, aber die Entscheidung zugunsten einer umfassenden gesetzlichen Regelung teilte. Die vorgeschlagenen Vorschriften lauteten: § 16 AE. Vorsätzliches und fahrlässiges Handeln (1) Wenn das Gesetz fahrlässiges Handeln nicht ausdrücklich mit Strafe bedroht, ist zur Strafbarkeit vorsätzliches Verhalten erforderlich. (2) Bei geringfügig fahrlässigem Verhalten bleibt der Täter straffrei. (3) Knüpft das Gesetz an eine besondere Folge der Tat eine schwerere Strafe, so trifft sie den Täter oder Teilnehmer nur, wenn er diese Folge fahrlässig herbeigeführt hat. § 17 AE. Vorsatz und Wissentlichkeit (1) Vorsätzlich handelt, wer die gesetzlichen Tatbestände mit Wissen und Wollen verwirklicht. (2) Vorsätzlich handelt auch, wer die Verwirklichung der Tatumstände ernstlich für möglich hält und in Kauf nimmt. (3) Wissentlich handelt, wer weiß, dass die Umstände vorliegen, für die das Gesetz wissentliches Handeln erfordert, oder wer das Eintreten dieser Umstände als sicher voraussieht. § 18 AE. Fahrlässigkeit Fahrlässig handelt, wer die Sorgfalt außer acht lässt, zu der er verpflichtet und fähig ist, und deshalb einen gesetzlichen Tatbestand verwirklicht. § 19 AE. Irrtum über Tatumstände (1) Wer bei Begehung der Tat über einen gesetzlichen Tatumstand irrt oder irrig Umstände annimmt, welche das Unrecht der Tat ausschließen würden, handelt nicht vorsätzlich. Die Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung bleibt unberührt. (2) [wortgleich mit dem heutigen § 16 Abs. 2 StGB] § 20 AE. Verbotsirrtum Wer bei Begehung der Tat über ihre Rechtswidrigkeit irrt, handelt ohne Schuld, wenn ihm der Irrtum nicht vorzuwerfen ist. Ist ihm der Irrtum vorzuwerfen, so ist die Strafe in der Regel […] zu mildern.

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Im Sonderausschuss für die Strafrechtsreform der 5. Wahlperiode, der den E 1962 und AE zusammenführen sollte, hieß es, bei den „dogmatischen“ Vorschriften zu Vorsatz, Fahrlässigkeit und Irrtum handele es sich „nicht um Fragen von politischem Ge-

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11 Insbesondere war der bedingte Vorsatz enger gefasst als im E 1962, sollte nämlich ein „ernsthaftes“ Fürmöglichhalten und „Inkaufnehmen“ voraussetzen (§ 17 Abs. 2 AE); „geringfügige“ Fahrlässigkeit sollte straflos sein (§ 16 Abs. 2 AE); und beim vermeidbaren Verbotsirrtum sollte die Strafe „in der Regel“ zu mildern sein (§ 20 Satz 2 AE).

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wicht“ (Prot. S. 1655). Auch deshalb konnte sich die vom federführenden Bundesministerium der Justiz vertretene Auffassung rasch durchsetzen, dass weder Vorsatz und Fahrlässigkeit definiert (Prot. S. 1634: ein Definitionsversuch wäre „höchst zweifelhaft“) noch die Irrtümer über rechtfertigende oder entschuldigende Umstände geregelt werden sollten, sondern Rechtsprechung und Lehre insoweit „freie Hand“ gelassen werden sollte (Prot. S. 1740). In der Begründung zum E 2. StRG (S. 8 f) wird insoweit die „Gefahr der Erstarrung der weiteren dogmatischen Entwicklung“ beschworen. Darin liegt ein beachtliches Zugeständnis an damals gewichtige Stimmen aus der Strafrechtswissenschaft, die – bereits auf der Hamburger Strafrechtslehrertagung 1964 und pointiert auf der Münsteraner Strafrechtslehrertagung 196712 – unter Berufung auf die Begründung Radbruchs zum Entwurf von 1922 geltend gemacht hatten, dem Gesetzgeber stehe eine Entscheidung in einem wissenschaftlichen Streit wie dem über die Vorsatz- oder Fahrlässigkeitsdefinition oder über die Behandlung des Erlaubnistatbestandsirrtums nicht zu13 – eine These, die auf einem kaum vertretbaren Verständnis von parlamentarischer Demokratie, insbesondere der Gewaltenteilung beruht. II. Regelungsbereich und -systematik §§ 15–18 bilden keinen gesonderten Abschnitt oder Titel des StGB, sondern gehö- 8 ren zum 2. Abschnitt „Die Tat“, 1. Titel „Grundlagen der Strafbarkeit“. Gleichwohl sind sie inhaltlich eindeutig von §§ 13, 14 StGB (Begehen durch Unterlassen, Handeln für einen anderen) einerseits und §§ 19–21 StGB (Schuld[un]fähigkeit) andererseits zu unterscheiden, behandeln nämlich Vorsatz, Fahrlässigkeit und Irrtum des Straftäters. Die gesetzestechnische Zusammenfassung der diesbezüglichen Regelungen war straftatsystematisch so lange folgerichtig, wie Vorsatz und Fahrlässigkeit als „Schuldarten“, „Schuldformen“, „Schuldstufen“ oder „Schuldelemente“ begriffen und somit – wie es dem klassischen Straftatsystem entsprach – der Schuld zugeordnet waren. Nach heutigem Stand der Straftatlehre ist diese straftatsystematische Einheit hingegen verloren gegangen. Vorsatz und vorsatzausschließender Tatumstandsirrtum haben nach heute h.A. eine Doppelstellung, gehören nämlich bereits zum personalen Unrecht, genauer zum sog. subjektiven Tatbestand, und nur der sog. Vorsatzschuldvorwurf wird weiterhin der Schuld zugeordnet (s.u. Rdn. 53 und § 15 Rdn. 78). Auch die Fahrlässigkeit hat nach heute überwiegender Auffassung eine Doppelstellung, gehört nämlich in ihrer objektiven Dimension nach h.A. bereits zum Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts und nur in ihrer subjektiven (individualisierten) Dimension zur Schuld (s.u. Rdn. 53 und § 15 Rdn. 155, 312). Lediglich der Verbotsirrtum und spiegelbildlich das Unrechtsbewusstsein werden, wie § 17 StGB klarstellt, als reine Schuldfragen aufgefasst. Trotz der verloren gegangenen straftatsystematischen Einheit lässt sich die zusam- 9 menhängende Regelung von Vorsatz, Fahrlässigkeit und Irrtum weiterhin sachlich rechtfertigen. Nach wie vor geht es um Fragen, die im Ausgangspunkt die Täterpsyche betreffen, also – in den Worten der älteren Rechtsprechung und Lehre – um die „innere Tatseite“ oder – in modernerer Begrifflichkeit – um subjektive Voraussetzungen der Strafbarkeit, um die Voraussetzungen der „subjektiven Zurechnung“ oder um die „subjektiven Elemente“ des Delikts. Dabei wird nicht verkannt, dass die Rede vom „Subjektiven“ bei Vorsatz, Fahrlässigkeit und Irrtum nicht über jeden Zweifel erhaben und jeden-

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12 Gallas ZStW 80 (1968) 1, 28 ff; Armin Kaufmann ZStW 80 (1968) 34, 37 ff; sowie den Diskussionsbericht von Friedrichs ZStW 80 (1968) 119, 122. 13 Hierauf berief sich Welzel in Niederschriften, 14. Sitzung, S. 5.

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falls erläuterungsbedürftig ist (s. Schroeder LK11 Rdn. 1). So kann im Einzelfall14 oder grundsätzlich15 bezweifelt werden, ob es sinnvoll sei, zwischen objektiven und subjektiven Unrechtselementen zu trennen; ob es einen subjektiven Fahrlässigkeitstatbestand gibt, ist durchaus zweifelhaft (§ 15 Rdn. 154); selbstverständlich muss ein täterpsychischer Befund zur Überzeugung des Gerichts als gegebene innere Tatsache und in diesem Sinne objektiv festgestellt werden, mag es sich nun um ein deskriptives oder askriptives Urteil handeln (s.u. Rdn. 66 a.E., 69); und selbstverständlich muss ein täterpsychischer Befund rechtsnormativ bewertet werden, um strafrechtlich relevanten Vorsatz, strafrechtlich relevante Fahrlässigkeit oder einen strafrechtlich beachtlichen Irrtum festzustellen (s.u. Rdn. 67). Auch ist zuzugeben, dass die Einordnung von Vorsatz, Fahrlässigkeit und Irrtum als positive oder negative subjektive Strafbarkeitsvoraussetzungen Fragen der Abgrenzung zu anderweitigen subjektiven positiven oder negativen Strafbarkeitsvoraussetzungen wie Absichten, Gesinnungsmerkmalen oder auch der Schuld(un)fähigkeit aufwirft. Gleichwohl bildet das täterpsychische Substrat von Vorsatz, Fahrlässigkeit und Irrtum einen kleinsten gemeinsamen Nenner, der Ausgangspunkt der Systembildung sein kann. Im Einzelnen enthalten §§ 15–18 StGB freilich nur eine fragmentarische Regelung 10 des Gesamtbereichs. Der unmittelbare Regelungsgehalt des § 15 StGB erschöpft sich darin, dass eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung bedarf (was nach heutigem Stand eine verfassungsrechtliche Selbstverständlichkeit sein dürfte, s.u. Rdn. 40). § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB regelt den Tatumstandsirrtum; die schon nach § 59 Abs. 2 RStGB sehr unvollkommene Regelung des möglichen Rückgriffs auf eine etwaige Fahrlässigkeitsstrafbarkeit ist in § 16 Abs. 1 Satz 2 StGB zu dem bloßen Hinweis auf das „Unberührtbleiben“ einer solchen Strafbarkeit verkümmert. § 16 Abs. 2 StGB enthält eine praktisch nicht sehr bedeutsame Sonderregelung zur irrigen Annahme von Umständen, die den Tatbestand eines milderen Gesetzes (z.B. § 216 statt § 212 StGB) verwirklichen würden (näher § 16 Rdn. 97). § 17 StGB regelt den Verbotsirrtum in sachlicher Übereinstimmung mit dem, was bereits zuvor durch richterliche Rechtsfortbildung anerkannt gewesen war (näher § 17 Rdn. 1). § 18 StGB schließlich betrifft die sog. erfolgsqualifizierten Delikte und ordnet – in der Sache in Ergänzung und auch teilweiser Durchbrechung des § 15 StGB – an, dass in Bezug auf qualifizierende Folgen wenigstens Fahrlässigkeit erforderlich, aber auch genügend ist (s. noch § 18 Rdn. 59). Demgegenüber fehlen Legaldefinitionen des Vorsatzes und der Fahrlässigkeit, auch in deren jeweils unterschiedlichen Gestalten, und allgemeine Regelungen des Irrtums über rechtfertigende oder entschuldigende Umstände (s. aber § 35 Abs. 2 StGB und hierzu u. Rdn. 13 sowie § 16 Rdn. 110, 129). 11 Eine (Binnen-) Systematik der §§ 15–18 StGB ist nur im Ansatz erkennbar. Vielmehr hat sich der Gesetzgeber schlicht an der Reihenfolge der – freilich umfassenderen (o. Rdn. 5) – Regelungen in §§ 15–22 E 1962 orientiert. Immerhin wird deutlich, dass das Gesetz zunächst das Erfordernis von Vorsatz und Fahrlässigkeit im Allgemeinen behandelt (§ 15 StGB) und dann zum Tatumstandsirrtum übergeht, der in der Tat nur die Kehrseite des intellektuellen Vorsatzelements darstellt (§ 16 StGB). Der anschließend behandelte Verbotsirrtum (§ 17 StGB) hängt mit dem Tatumstandsirrtum nur durch das Irrtumsmerkmal zusammen. § 18 StGB verlangt für erfolgsqualifizierte Delikte wenigstens Fahr-

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14 Statt aller die Beispiele bei Roxin AT I § 10 Rdn. 65: „Dem Wilde nachstellen“ (§ 292 StGB), „Widerstand leisten“ und „tätlich angreifen“ (§ 113 StGB), „vorspiegeln“ (§ 263 StGB), „verfälschen“ (§ 264 StGB), „nötigen“ (§ 240 StGB), „zueignen“ (§ 246 StGB), „sexuelle Handlungen vornehmen“ (§§ 174 ff StGB). 15 Eindrücklich Freund AT § 7 Rdn. 22 ff.

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lässigkeit in Bezug auf die Folge, was systematisch überzeugender im Anschluss an § 15 StGB hätte geregelt werden können (näher § 18 Rdn. 5). III. Anwendungsbereich, Sondervorschriften Gem. Art. 1 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 EGStGB gelten §§ 15–18 StGB für das gesamte Bun- 12 des- und Landesstrafrecht, soweit bundesgesetzlich oder aufgrund und im Rahmen bundesrechtlicher Zulassung landesrechtlich nichts anderes bestimmt ist. Insbesondere sind die Vorschriften im gesamten Nebenstrafrecht anwendbar, mag dies auch kriminalpolitisch angreifbar sein (s.u. Rdn. 30 f). Sondervorschriften, die §§ 15–18 StGB ergänzen oder verdrängen, finden sich in- 13 nerhalb und außerhalb des StGB. Im Allgemeinen Teil des StGB werden §§ 15–18 insbesondere durch § 35 Abs. 2 zur irrigen Annahme von Umständen, die einen entschuldigenden Notstand begründen würden, ergänzt (s. Zieschang LK § 35 Rdn. 108 ff). Vor allem aber enthält der Besondere Teil des StGB eine Fülle besonderer und als leges speciales vorrangiger Regelungen betreffend Vorsatz, Fahrlässigkeit und Irrtum. Zahlreiche Straftatbestände lassen einfachen („bedingten“) Vorsatz nicht genügen, sondern verlangen absichtliches oder wissentliches Handeln (eingehend § 15 Rdn. 86 ff, 91 ff). Die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit ist vielfach auf leichtfertiges Handeln beschränkt (eingehend § 15 Rdn. 292 ff). Besondere Irrtumsregeln enthalten z.B. § 97b StGB (s. dort), § 113 Abs. 4 StGB (s. Rosenau LK § 113 Rdn. 66 ff), § 136 Abs. 3 Satz 2 StGB (s. Krauß LK12 § 136 Rdn. 47 ff). Außerhalb des StGB ist u.a. auf die besonderen Irrtumsregeln des § 3 VStGB und der §§ 5, 22 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 und 3, 44 Abs. 6 WStG hinzuweisen. §§ 15–18 StGB sind nicht auf Ordnungswidrigkeiten anwendbar. Freilich enthalten 14 §§ 10, 11 OWiG eine im Wesentlichen inhaltsgleiche Regelung: § 10 OWiG entspricht § 15 StGB, § 11 Abs. 1 OWiG § 16 Abs. 1 StGB und § 11 Abs. 2 OWiG § 17 Satz 1 StGB.16 In der Tat ist die bußgeldrechtliche Regelung von Vorsatz, Fahrlässigkeit und Irrtum entstehungsgeschichtlich Vorläufer der §§ 15–18 StGB: Bereits das Gesetz über Ordnungswidrigkeiten v. 25.3.1952 (BGBl. I S. 177) enthielt in seinem § 11 Abs. 1 eine § 15 StGB entsprechende Vorschrift und erkannte in seinem § 12 die bußgeldausschließende bzw. -mildernde Wirkung des unvermeidbaren bzw. vermeidbaren Verbotsirrtums an. Mit den am 1.10.1968 in Kraft getretenen §§ 5, 6 Gesetz über Ordnungswidrigkeiten v. 24.5.1968 (BGBl. I S. 481) war auch der Formulierung nach im Wesentlichen der heutige straf- und bußgeldrechtliche Rechtszustand erreicht. Diese Vorläuferrolle des Ordnungswidrigkeitenrechts für die strafrechtliche Vorsatz-, Fahrlässigkeits- und Irrtumsregelung ist umso bemerkenswerter, als die gesetzgeberische Entscheidung für die sog. Schuldtheorie auch und gerade im Ordnungswidrigkeitenrecht kriminalpolitisch stark umstritten war und wohl auch noch ist.17 IV. Kriminalpolitische Grundfragen 1. Objektive („strikte“) strafrechtliche Verantwortlichkeit? Das geltende deut- 15 sche Strafrecht (vgl. §§ 15, 18 StGB) hält streng daran fest, dass jede strafrechtliche Verantwortlichkeit Vorsatz oder zumindest Fahrlässigkeit in Bezug auf sämtliche Merkmale

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16 Zu den Einzelheiten die – auch für §§ 15–18 StGB sachlich bedeutsamen – Kommentierungen der §§ 10, 11 OWiG, z.B. von Bohnert/Krenberger/Krumm; Göhler; Rengier KK-OWiG. 17 Krit. Arthur Kaufmann FS Lackner S. 185, 190; Lange JZ 1956 73 ff; Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 326; ders. ZStW 81 (1969) 869 f; Weber ZStW 92 (1980) 313, 340; ders. ZStW 96 (1984) 376, 392 f; zust. hingegen Jakobs AT 19/18 ff; Jescheck/Weigend § 41 II 2c; Göhler § 11 Rdn. 21; Rengier KK-OWiG § 11 Rdn. 6 ff.

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des objektiven Unrechtstatbestandes voraussetzt; jede anderweitige subjektive Zurechnungsform wie z.B. das „Risikoprinzip“ ist nach ganz h.A. ausgeschlossen.18 Ungeachtet der heute üblichen Zuordnung von Vorsatz und Fahrlässigkeit (auch) zum Unrecht wird das üblicherweise aus dem Schuldprinzip hergeleitet,19 das zugleich verfassungsrechtliche Bedeutung hat (s.u. Rdn. 45). Das materiell-strafrechtliche Schuldprinzip wird strafprozessual dadurch abgesichert, dass Vorsatz oder zumindest Fahrlässigkeit zur Überzeugung des Tatrichters festgestellt werden müssen (vgl. § 261 StPO). Den Beschuldigten trifft keine Darlegungs- und erst recht keine Beweislast, sondern der Tatrichter muss bei nach der freien Beweiswürdigung verbleibenden, nicht bloß theoretischen Zweifeln am Vorsatz oder an der Fahrlässigkeit „in dubio pro reo“ von deren Fehlen ausgehen (s. noch u. Rdn. 72). Folgerichtig stehen Irrtümer, die den Vorsatz in Bezug auf irgendein Merkmal des objektiven Unrechtstatbestandes ausschließen, einer Vorsatzstrafbarkeit entgegen, gleich, ob sie nachvollziehbar und vermeidbar sind oder nicht (vgl. § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB). Es genügt, dass ein derartiger Irrtum als nicht bloß theoretisch, sondern in der konkreten Situation auch realistisch möglich erscheint, wobei den Beschuldigten auch in Bezug auf Irrtümer keine Darlegungs- und erst recht keine Beweislast trifft. Allerdings darf das Gericht auch nicht ohne Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte für eine abweichende Vorstellung des Täters von einem Irrtum ausgehen und so eine verbotene Beweisantizipation vornehmen (BGH NStZ 2012 160, 161). Es sind also nicht in bestimmten Fallgruppen Irrtümer grundsätzlich zu vermuten. Weiterhin steht das geltende deutsche Strafrecht auf dem Standpunkt, aus dem Schuldprinzip folge, dass die irrige Annahme, sich rechtmäßig zu verhalten, eine strafrechtliche Verantwortlichkeit ausschließen müsse, wenn der Irrtum unvermeidbar sei (vgl. § 17 Satz 1 StGB); auch insoweit gilt der Grundsatz „in dubio pro reo“ (vgl. § 17 Rdn. 11). 16 Mit anderen Worten kennt das geltende deutsche Strafrecht im Grundsatz keine objektive („strikte“) strafrechtliche Verantwortlichkeit mehr, weder in der Form, dass in Bezug auf auch nur ein Merkmal des objektiven Unrechtstatbestandes auf das Vorsatzoder mindestens Fahrlässigkeitserfordernis verzichtet wird (s. aber zu den objektiven Strafbarkeitsbedingungen u. Rdn. 19 und § 15 Rdn. 313 ff), noch in der Form von Schuldvermutungen, durch die Vorsatz oder auch nur Fahrlässigkeit ganz oder auch nur teilweise unwiderlegbar oder auch nur widerlegbar vermutet werden, noch in der Form, dass das Fehlen von Vorsatz oder Fahrlässigkeit oder die Geltendmachung von Irrtümern strafprozessual in Art einer Einrede oder Einwendung („Verteidigung“) und verbunden mit einer Darlegungs- oder gar Beweislast ausgestaltet werden.20 Ungeachtet einer möglichen verfassungsrechtlichen Verankerung dieser einfachge17 setzlichen Rechtslage (s.u. Rdn. 45 ff) bleibt festzuhalten, dass es sich zunächst um eine kriminalpolitische Grundentscheidung des modernen deutschen Gesetzgebers handelt. Sie versteht sich nicht von selbst, sondern muss sich wie alle kriminalpolitischen Entscheidungen auf ihre Hintergründe, Gründe und Folgen befragen lassen, und sie darf die Auseinandersetzung mit abweichenden kriminalpolitischen Entscheidungen in der Geschichte oder im Ausland nicht scheuen. Ein wesentlicher Hintergrund der Strenge des deutschen Schuldprinzips dürfte die das 20. Jahrhundert überwölbende Tendenz zu einer immer stärkeren Subjektivierung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit sein,21 sie

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18 Vgl. nur Arthur Kaufmann Das Schuldprinzip S. 145; Sch/Schröder/Sternberg-Lieben/Schuster § 15 Rdn. 5; aA für das „Risikoprinzip“ Schweikert ZStW 70 (1958) 394; hiergegen u.a. Arthur Kaufmann S. 145; diff. Stein SK § 15 Rdn. 4;. 19 Nur E 1962 S. 128. 20 Zu derartigen Gestaltungsmöglichkeiten im common law s.u. Rdn. 86 f. 21 Näher Vogel Einflüsse des Nationalsozialismus auf das Strafrecht (2004) S. 16.

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wirkt sich im Rahmen der §§ 15–18 StGB zugunsten des Handelnden aus und ist deshalb auf breite Zustimmung gestoßen. Die für die Strenge des deutschen Schuldprinzips angeführten Gründe erschöpfen 18 sich nicht selten in der dogmatischen Behauptung, dass Strafe Schuld voraussetze, Schuld (normativ) als Vorwerfbarkeit zu verstehen sei und den Vorwurf voraussetze, dass der Täter hätte anders handeln können, was wiederum Vorsatz oder zumindest Fahrlässigkeit und darüber hinaus mindestens potentielles Unrechtsbewusstsein voraussetze, die auch nachzuweisen seien, weil der deutsche Strafprozess kein Parteienprozess sei und ihm eine Darlegungs- und Beweislast des Beschuldigten fremd sei. Überzeugender wäre das Argument, eine ganz oder teilweise objektive strafrechtliche Verantwortlichkeit sei materiell ungerecht, soweit sie zur Bestrafung Unschuldiger führe, und auch unzweckmäßig; bei materiell Unschuldigen bedürfe es keines Schuldausgleichs und keiner Spezialprävention, und positive Generalprävention müsse am Normbruch im Sinne eines Widerspruchs gegen die Norm, gegen deren Negation anknüpfen, wofür ein bloß äußerlich normwidriges Verhalten nicht genüge.22 Folge des strengen deutschen Schuldprinzips sind deutliche Ausweichbewegun- 19 gen. Zu ihnen gehört die (zugegebenermaßen umstrittene) Lehre von den objektiven Strafbarkeitsbedingungen, wonach bestimmte Merkmale eines Strafgesetzes (z.B. die Nichterweislichkeit der Wahrheit der Tatsache in § 186 StGB, die Folge der Schlägerei in § 231 Abs. 1 StGB oder die Rauschtat in § 323a Abs. 1 StGB) aus dem tatbestandlichen Unrecht herausgenommen und anderweitig – z.B. durch Erwägungen der Strafbedürftigkeit oder Normverdeutlichungsnotwendigkeit – erklärt werden (näher § 15 Rdn. 313f).23 Auch die mit der sog. Schuldtheorie verbundene Beschränkung des Vorsatzes auf Tatumstandskenntnis kann als Ausweichbewegung verstanden werden; sie ist jedenfalls dann kontraintuitiv, wenn die Umstände für sich genommen sozialethisch und rechtlich farblos sind (näher u. Rdn. 30; s. noch § 15 Rdn. 39). Weiterhin ist zu bemerken, dass der Gesetzgeber zunehmend Deliktsgestaltungen wählt, die den Nachweis der inneren Tatseite erleichtern, seien es abstrakte Gefährdungsdelikte, die keinen Gefährdungs- und erst recht keinen Verletzungsvorsatz voraussetzen, seien es Delikte, bei denen bereits Leichtfertigkeit oder gar einfache Fahrlässigkeit strafbar ist.24 Schließlich ist längst bemerkt und viel kritisiert worden, dass sich die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit in der Praxis namentlich im Straßenverkehrsrecht durchaus in Richtung einer objektiven strafrechtlichen Gefährdungsverantwortlichkeit entwickelt hat.25 In der (auch jüngeren) deutschen Strafrechtsgeschichte waren Ausnahmen zum 20 Vorsatz- oder Fahrlässigkeitserfordernis keine Seltenheit. So setzte die Strafbarkeit wegen erfolgsqualifizierter Delikte bis 1953 keine Fahrlässigkeit in Bezug auf die qualifizierende Folge voraus, worin in der Sache die gemeinrechtlichen Lehren vom versari in re illicita und vom dolus indirectus (oder indeterminatus) fortwirkten. Schuldvermutungen waren vor allem im Neben- und Wirtschaftsstrafrecht keine Seltenheit. So ordnete § 23 WiStG 1949, der die Verletzung der Aufsichtspflicht in Betrieben als Zuwiderhandlung mit Geldbuße bedrohte, eine echte Beweislastumkehr an.26 Auch im Kernstrafrecht ent-

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22 Vgl. Jakobs AT 1/9 ff. 23 Vgl. auch Bülte JZ 2014 603 ff. 24 Zur Funktion der Leichtfertigkeitsstrafbarkeit als „Auffangtatbestand“ für nicht nachweisbare Vorsatzfälle s.u. Rdn. 74; Bülte JZ 2014 603 ff. 25 Volk GA 1976 161, 171 ff. 26 Die Tat war ahndbar, „wenn der Inhaber […] nicht nachweist, dass er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt angewandt hat, um die Zuwiderhandlung zu verhüten“; s. hierzu BVerfGE 9 167 und noch u. Rdn. 47.

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hielt z.B. der Hehlereitatbestand des § 259 Abs. 1 StGB in der bis zum 31.12.1974 geltenden Fassung eine Vorsatzbeweisregel, die nach h.L. verfassungsgemäß war.27 – Schließlich ist im Rechtsvergleich zu bemerken, dass eine ganz oder teilweise objektive („strikte“) strafrechtliche Verantwortlichkeit nicht nur in den Strafrechtsordnungen der common law-Rechtsfamilie, sondern auch in kontinentalen Rechtsordnungen durchaus verbreitet war und ist; sie beschränkt sich im Grundsatz auf leichte und mittlere Kriminalität, wobei traditionell die Wirtschaftskriminalität im Vordergrund steht (näher u. Rdn. 80 f). Ob dem strengen Schuldprinzip deutscher Prägung die kriminalpolitische Zukunft 21 gehören wird, bleibt abzuwarten. Gegenüber dem zentralen Argument, eine ganz oder teilweise objektive strafrechtliche Verantwortlichkeit ermögliche die ungerechte und unzweckmäßige Bestrafung materiell Unschuldiger, könnte darauf hingewiesen werden, dass auch das geltende Straf- und Strafprozessrecht dies nicht schlechterdings ausschließt (Rechtskraft auch von Fehlurteilen!), auch wenn die Belastbarkeit dieses Arguments sehr eingeschränkt sein dürfte. Gewiss empfiehlt sich kriminalpolitische Zurückhaltung gegenüber einer Objektivierung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit. Sie dürfte aus rechtsstaatlichen Gründen ausschließlich zulässig sein, soweit es um mäßige Strafen geht, vorsätzliches oder fahrlässiges Verhalten der Erfahrung nach nahe liegt und dem Beschuldigten hinreichende Verteidigungsmöglichkeiten verbleiben, um eine Bestrafung materiell Unschuldiger möglichst zu vermeiden (s.u. Rdn. 94). In diesem Rahmen kann sie aber die methodenehrlichere und für den Beschuldigten im Vergleich zum geltenden Recht sogar vorteilhaftere Lösung sein.28 21a Im Übrigen ist zu bemerken, dass das strenge deutsche Schuldprinzip unter Reformdruck seitens der Europäischen Union gerät. Das Europäische Recht geht oftmals (vgl. nur Art. 1 Abs. 6 RL [EU] 2015/849) davon aus, dass das Vorliegen des Vorsatzes auch aus objektiven Tatumständen abgeleitet werden darf. Auch die Richtlinie zum Schutz der finanziellen Interessen vom 28.7.2017 (ABl. EU L198/29) erlaubt in den Erwägungsgründen 11 und 12 den Schluss auf den Vorsatz aus objektiven Umständen und geht im Übrigen davon aus, dass Vorsatzvermutungen nach nationalem Recht nicht gegen Unionsrecht verstoßen. 22

2. Vorsatz als Regel, Fahrlässigkeit als Ausnahme? § 15 StGB nennt den Vorsatz zuerst und macht die erst sodann genannte Fahrlässigkeitsstrafbarkeit von der ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung abhängig. Daraus leitet die h.A. das kriminalpolitische Postulat ab, dass strafbares Verhalten grundsätzlich vorsätzlich sein müsse und eine Strafbarkeit bloßer Fahrlässigkeit nur als Ausnahme in Betracht komme.29 „Echtes“ kriminelles Unrecht sei nur der bewusste und gewollte Verstoß gegen die Rechts-

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27 „Sachen, von denen er“ – scil. der Hehler – „den Umständen nach annehmen muss, dass sie mittels einer strafbaren Handlung erlangt sind“; s. hierzu statt aller Sch/Schröder17 § 259 Rdn. 50 mit Nachw.; in der Begründung des neuen § 259 StGB wurde jedoch von der Verfassungswidrigkeit d.a.F ausgegangen BTDrs. VI/3250, S. 242; 7/550, S. 253; vgl. auch Hillenkamp FS Wassermann S. 861, 868. 28 So leuchtet es nicht ein, dass der Vorschlag, bei abstrakten Gefährdungsdelikten wie der schweren Brandstiftung (§ 306a Abs. 1 StGB) dem Beschuldigten den Gegenbeweis zu eröffnen, die Tat sei konkret ungefährlich gewesen und er habe hinreichende Sorgfalt geübt, um konkrete Gefahren auszuschließen (so z.B. Schröder ZStW 81 [1969] 7, 17), kategorisch als rechtsstaatswidrige Schuldvermutung und Verstoß gegen den Grundsatz „in dubio pro reo“ abgelehnt wird (so z.B. Sch/Schröder/Heine/Bosch Vorbem. §§ 306 ff Rdn. 4 m.w.N.), obwohl das geltende Recht, in dem die Gefährlichkeit nach h.A. abstrakt und somit in der Sache unwiderlegbar (!) vermutet wird, nach gleichfalls h.A. verfassungsrechtlich unbedenklich sein soll. Das geltende Strafprozessrecht ist durchaus auf Gegenbeweise eingerichtet (s. § 244 Abs. 3 StPO), die z.B. bei § 186 StGB auch in der Praxis eine Rolle spielen. 29 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 11 Rdn. 3; Puppe NK § 15 Rdn. 11; Sch/Schröder/Sternberg-Lieben/ Schuster § 15 Rdn. 1.

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ordnung, und nur bei besonders wertvollen Rechtsgütern – namentlich höchstpersönlichen wie dem Leben, § 222 StGB, oder der körperlichen Integrität, § 229 StGB – könne es gerechtfertigt sein, auch die nur fahrlässige Verletzung unter Strafe zu stellen. Demgegenüber komme eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit bei Straftaten gegen Eigentum und Vermögen grundsätzlich nicht in Betracht; erst recht sei es ein Missbrauch des Strafrechts, wenn wirtschaftsstrafrechtliche Tatbestände die Fahrlässigkeit oder Leichtfertigkeit strafbar stellen.30 Hieran trifft zu, dass die Vorsatzverantwortlichkeit jedenfalls bei Absicht oder Wis- 23 sentlichkeit in aller Regel schwerer als die Fahrlässigkeitsverantwortlichkeit jedenfalls bei unbewusster, nicht grober Fahrlässigkeit wiegt, weshalb die Vorsatzstrafe in aller Regel höher ist als die Fahrlässigkeitsstrafe (eingehend § 15 Rdn. 8 ff). Auch spricht die kriminalpolitische Leitlinie, wonach Strafrecht „ultima ratio“ sein müsse, nicht selten dafür, dass fahrlässige Eigentums- und Vermögensbeschädigungen als bloßes „Zivilunrecht“ lediglich eine zivilrechtliche Verantwortlichkeit auslösen sollen.31 Weiterhin ist zu bedenken, dass eine Fahrlässigkeitsverantwortlichkeit den Normadressaten insoweit stärker belastet, als er Sorge dafür tragen muss, dass er normrelevante Sachverhalte erkennt und vermeidet, mag diese Sorgfaltspflicht freilich häufig bereits vorstrafrechtlich (zivil- oder berufs- oder öffentlichrechtlich) begründet und somit ohnehin zumindest von einem rechtstreuen Bürger zu erfüllen sein. Im Übrigen ist die These vom Ausnahmecharakter der strafrechtlichen Verant- 24 wortlichkeit für bloße Fahrlässigkeit aber einerseits überholten willenstheoretischen Vorstellungen verpflichtet32 und andererseits zu pauschal. Im StGB ist Fahrlässigkeit außer bei §§ 222, 229 u.a. bei den Aussagestraftaten, bei der Geldwäsche und beim Subventionsbetrug als Leichtfertigkeit, bei den Insolvenzstraftaten und durchweg bei den gemeingefährlichen Straftaten sowie den Straftaten gegen die Umwelt strafbar (s. noch § 15 Rdn. 145). Im Nebenstrafrecht ist fahrlässiges Verhalten – teils beschränkt auf Leichtfertigkeit – sogar regelmäßig (wenn auch mit gegenüber dem Vorsatzdelikt gemilderter Strafdrohung) strafbar, was einer alten Rechtstradition entspricht.33 Ein wesentlicher Grund hierfür lässt sich der vor Inkrafttreten des § 15 StGB ergangenen Rechtsprechung entnehmen, wonach „polizeiliche“ Delikte, d.h. Gefährdungsdelikte insbesondere zum Schutze überindividueller Rechtsgüter, regelmäßig auch ohne ausdrückliche gesetzliche Anordnung bei bloßer Fahrlässigkeit strafbar seien: Eben weil die geschützten Rechtsgüter nicht konkreten, individuellen Rechtsgutsträgern als Sachwalter zugeordnet seien, ständen sie in besonderer Gefahr, vernachlässigt zu werden, und seien somit gerade bei fahrlässigen Beeinträchtigungen strafschutzbedürftig und -würdig.34 Der Gedanke kann in der Weise verallgemeinert werden, dass in einer Risikogesellschaft strafbedürftig und -würdig bereits die – auch nur fahrlässige – Risikoschaffung sein kann. Besonders deutlich kommt das bei der Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB) zum Ausdruck, bei der Vorsatz und Fahrlässigkeit mit demselben Strafrahmen bedroht sind (s. § 316 Abs. 2 StGB und König LK12 § 316 Rdn. 181, 210 ff). Darüber hinaus liegt eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit nahe, wenn es – wie weithin im Neben- und Wirtschaftsstrafrecht – um die Verletzung von Berufspflichten bei Berufstätigkeiten geht, bei denen in beson-

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30 Günther/Samson SK7 § 264 Rdn. 12, 16 ff; vgl. auch Ceffinato MK § 264 Rdn. 108; Matt/Renzikowski/Gaede § 266 Rdn. 7. 31 Vgl. zur aktuellen Diskussion über die Bedeutung des verfassungsrechtlichen Ultima-ratioGrundsatzes im Strafrecht Jahn/Brodowski JZ 2016 696 ff; dies. ZStW 129 (2017) 363 ff m.w.N. 32 S. hierzu Jescheck/Weigend § 54 I 4 und, vgl. auch § 15 Rdn. 17. 33 Näher Vogel Fahrlässigkeit in Krekeler/Tiedemann/Ulsenheimer/Weinmann (Hrsg.) Handwörterbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 5. Ergänzungslieferung (1990). 34 RGSt 38 104, 105; BGHSt 6 131, 134.

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derer Weise Vertrauen in Anspruch genommen wird. Aber auch im Kernstrafrecht erscheint es kriminalpolitisch durchaus diskutabel, Fahrlässigkeits- oder Leichtfertigkeitsstrafbarkeiten in weitergehendem Umfange als nach geltendem Recht vorzusehen, z.B. im Umweltstrafrecht. Dass das ungeborene Kind nach h.A. keinen Strafrechtsschutz gegen fahrlässige oder leichtfertige Tötung oder Körperverletzung genießt, ist eine diskussionswürdige Rechtslage.35 Da die sexuelle Selbstbestimmung gewiss kein weniger bedeutendes Rechtsgut als die körperliche Integrität ist, erscheint es durchaus diskutabel, die sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung in der leichtfertigen Annahme eines Einverständnisses des Opfers36 oder den sexuellen Missbrauch von Kindern bzw. Jugendlichen in der leichtfertigen Annahme, das Opfer sei älter als vierzehn oder achtzehn Jahre, mit Strafe zu bedrohen. Warum leichtfertige Geldwäsche strafbar (§ 261 Abs. 5 StGB), leichtfertige Hehlerei hingegen straflos ist, lässt sich nicht einmal mit der fragmentarischen Natur des Strafrechts in dem von Binding gemeinten pejorativen Sinn begründen. Allerdings wird der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für Fahrlässigkeit bis heute 25 entgegengehalten, sie enthalte eine „verschämte Zufallshaftung“,37 weil die Strafbarkeit von dem zufälligen Umstand abhänge, ob der Erfolg eintrete oder nicht. Der Einwand verfängt nur für fahrlässige Erfolgsdelikte und ist auch dort fragwürdig, weil zwischen fahrlässigem Verhalten und Erfolg ein Zurechnungszusammenhang bestehen muss, der eingetretene Erfolg also gerade kein „Zufall“ ist, und das zufällige Ausbleiben des Erfolgs auch beim Vorsatzdelikt zur Straflosigkeit führt, wenn der Versuch nicht strafbar ist. Als Abhilfe gegen das verbleibende Missbehagen daran, dass folgenlose Fahrlässigkeit straflos bleiben kann, wird kriminalpolitisch die Einführung vorsätzlicher Gefährdungsdelikte empfohlen,38 was freilich wiederum auf erhebliche Kritik an der modernen Tendenz zu einem „Risikostrafrecht“ gestoßen ist39 und nicht als Königsweg gelten kann. 26

3. Hinreichende Differenzierung Vorsatz – Fahrlässigkeit? §§ 15–18 StGB unterscheiden nur zwischen Vorsatz einerseits und Fahrlässigkeit andererseits. Ob diese „Zweiteilung“ hinreichend differenziert ist oder ob de lege ferenda an ihre Stelle – mindestens – eine „Dreiteilung“ zu setzen ist, wird seit Ende des 19. Jahrhunderts kontrovers diskutiert.40 Zugunsten der Zweiteilung des geltenden Rechts lässt sich anführen, dass sie der gemeinrechtlichen Tradition (dolus – culpa), der deutschen Strafrechtstradition und der Rechtslage in vielen ausländischen Strafrechtsordnungen entspricht. Gegen sie werden in neuerer Zeit zahlreiche Argumente vorgebracht:41 Die Zweiteilung zwinge zu der theoretisch fragwürdigen und praktisch kaum durchführbaren Abgrenzung zwischen bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit, die sich in ihrem intellektuellen Element – der Vorstellung, das Verhalten erfülle möglicherweise den Tatbestand – nicht unterschieden.42 Aber auch in den Fällen grober und gröbster unbewusster Fahrlässig-

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35 Krit. Jung NStZ 1985 316, 317; Armin Kaufmann JZ 1971 569 ff; Maurach/Schroeder/Maiwald/Hoyer/Momsen BT I § 5 Rdn. 20 ff. 36 In diesem Sinne Duttge/Hörnle/Renzikowski NJW 2004 1065, 1067. 37 So die berühmte Formulierung von Radbruch VDA V S. 185, 201 Fn. 2. 38 Baumann Weitere Streitvorschriften zur Strafrechtsreform (1969) S. 187, 196. 39 Hassemer/Neumann NK Vor § 1 Rdn. 260; Felix Herzog Gesellschaftliche Unsicherheit und strafrechtliche Daseinsvorsorge (1990) S. 70 ff; Prittwitz Strafrecht und Risiko (1993) S. 364 ff; ders. ZStW 113 (2001) 774, 796 f. 40 Instruktiv v. Hippel VDA III S. 536 ff, 576 (der sich im Ergebnis zugunsten der traditionellen Zweiteilung ausspricht). 41 Vgl. auch die Diskussion über den Tötungsvorsatz in den sog. Raserfällen, hierzu nur Walter NJW 2017 1350 ff. 42 S. nur Roxin AT I § 12 Rdn. 4: „haarscharf und kaum unterscheidbar“.

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keit, der sog. „Tatsachenblindheit“, überzeuge sie nicht; es sei axiologisch nicht zu rechtfertigen, den grob oder gröbst verantwortungslosen „Tatsachenblinden“ gegenüber dem skrupulösen Täter zu privilegieren, der die Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung (sei es auch am Rande) bedenke.43 Die axiologische Unhaltbarkeit verschärfe sich durch die unverhältnismäßigen Strafrahmendifferenzen zwischen Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikten im Besonderen Teil, paradigmatisch bei §§ 211, 212 StGB einerseits (lebenslange Freiheitsstrafe oder Freiheitsstrafe von fünf bis fünfzehn Jahren) und § 222 StGB andererseits (Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis fünf Jahre). Der geltende Vorsatzbegriff vereine axiologisch nicht mehr Vereinbares von der bloßen Möglichkeitsvorstellung bis zum sicheren Wissen und von dem Unerwünschtsein bis zur Absicht; ebenso vereine der geltende Fahrlässigkeitsbegriff axiologisch nicht mehr Vereinbares von der leichten oder leichtesten unbewussten bis zur groben oder gröbsten oder bewussten Fahrlässigkeit. Angemessen sei vielmehr eine Dreiteilung, wie sie sich teilweise im ausländischen Recht finde.44 Abzuschichten seien erstens der direkte Vorsatz (Absicht und Wissentlichkeit – „intent“, „intention“), zweitens eine den bedingten Vorsatz und die bewusste bzw. grobe Fahrlässigkeit oder Leichtfertigkeit vereinende Kategorie nach dem Vorbild der „recklessness“ des common law (s.u. Rdn. 89) oder der „mise en danger déliberée“ des neuen französischen Rechts (s.u. Rdn. 79 f) und drittens die unbewusste bzw. nicht grobe Fahrlässigkeit. Die Argumente zugunsten einer Dreiteilung haben kriminalpolitisches Gewicht. Es 27 grenzt ans Tragische, mit welchem hohen Scharfsinn es die deutsche Strafrechtswissenschaft unternommen hat und unternimmt, eine axiologisch offenbar hoch problematische, möglicherweise gar nicht überzeugend begründbare Grenze zwischen noch bedingtem Vorsatz und bloßer, wenn auch bewusster oder grober bzw. gröbster Fahrlässigkeit zu ziehen (eingehend § 15 Rdn. 96; ähnlich T. Walter Der Kern des Strafrechts [2006] S. 193 ff, 195). Hängt hiervon die Strafbarkeit ab, so ist nicht selten zu beobachten, dass der bedingte Vorsatz in der praktischen Handhabung bis an oder gar über die Grenze der Leichtfertigkeit hinaus ausgedehnt wird. Freilich zeigt ein Blick auf den Besonderen Teil des StGB, dass sich das geltende Recht dem Differenzierungsanliegen keineswegs verschließt. Zahlreiche Tatbestände stellen nur absichtliches und/oder wissentliches Verhalten unter Strafe (s. § 15 Rdn. 86, 91). Die übermäßige Strafrahmendifferenz zwischen Vorsatzdelikten wie §§ 211, 212 StGB einerseits und Fahrlässigkeitsdelikten wie § 222 StGB andererseits wird in der Praxis häufig dadurch überbrückt, dass VorsatzFahrlässigkeits-Kombinationen, namentlich erfolgsqualifizierte Deliktstatbestände wie § 227 StGB eingesetzt werden, um bei nicht nachweisbarem (z.B. Tötungs-) Vorsatz einen angemessenen Strafrahmen zu eröffnen.45 Weiterhin trägt die zunehmende Beschränkung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit auf leichtfertiges Handeln (s. § 15 Rdn. 292) dem Differenzierungsanliegen Rechnung, zumal eine neben der Vorsatz- angeordnete Leichtfertigkeitsstrafbarkeit einer Überdehnung des bedingten Vorsatzes entgegenwirken kann. Auf diesem Weg kann de lege ferenda vorangeschritten werden. Das österreichische StGB sieht etwa in § 81 eine eigene Strafbarkeit für die grob fahrlässige Tötung vor.46

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43 Jakobs AT 8/5a m.w.N. in Fn. 9. 44 Vogel in Tiedemann (Hrsg.) Wirtschaftsstrafrecht in der Europäischen Union (2000) S. 125, 141 f; Weigend ZStW 93 (1981) 657, 687 ff. 45 Zu der Funktion der erfolgsqualifizierten Delikte, „Tatsachenblindheit“ zu erfassen, s. nur Jakobs AT 8/5a. 46 Vgl auch den Reformvorschlag von Rostalski GA 2017 585, 598; ferner Freund FS Frisch S. 677, 694.

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4. Hinreichende Differenzierung bei den Irrtümern? Das geltende Recht erkennt in §§ 16, 17 StGB im Grundsatz nur zwei Irrtumsformen an, nämlich den Tatumstandsirrtum einerseits und den Verbotsirrtum andererseits, und schließt sich damit der sog. Schuldtheorie an (eingehend § 15 Rdn. 37 ff), die wiederum im gesamten Bundes- und Landesstrafrecht (und in der Sache auch im Ordnungswidrigkeitenrecht, §§ 10, 11 OWiG) gilt (o. Rdn. 12 ff). Diese Rechtslage ist dem kriminalpolitischen Einwand unzureichender Differenzierung ausgesetzt. Der Einwand bezieht sich intern auf die in §§ 16, 17 StGB getroffene Irrtumsregelung als solche (Rdn. 29) und gleichsam extern auf deren Anwendungsbereich gem. Art. 1 EGStGB (u. Rdn. 30 f). 29 Intern wird seit langem als kriminalpolitisch verfehlt gerügt, dass der Gesetzgeber keine ausdrückliche Regelung des sog. Erlaubnistatbestands- oder -umstandsirrtums – die irrige Annahme von Umständen, die, lägen sie vor, die Tat rechtfertigen würden – getroffen hat, zumal sich hierfür Vorbilder sowohl in den Reformentwürfen, als auch im ausländischen Recht und nicht zuletzt in Sonderregeln des StGB finden.47 In der Tat handelt es sich um einen Irrtum eigener Art, der weder ohne Weiteres nach § 16 StGB noch nach § 17 StGB behandelt werden kann und einer eigenständigen Rechtsfolgenregelung bedarf, wie der um das geltende Recht geführte Streit belegt (s. § 16 Rdn. 111, 114 ff). Weiterhin regelt § 35 Abs. 2 StGB nur einen Teilbereich der durchaus regelungsbedürftigen Problematik des Irrtums über entschuldigende Umstände (o. Rdn. 10, 13 und § 16 Rdn. 129). Ungeregelt geblieben ist weiterhin der Irrtum über strafzumessungsrelevante Umstände, der nicht nur für § 46 StGB, sondern, wenn benannte Regelbeispiele mit der h.A. als vertypte Strafzumessungsgründe angesehen werden, angesichts des Vordringens der Regelbeispieltechnik auch insoweit von großer praktischer Bedeutung ist (näher § 16 Rdn. 133 f). Entgegen der Auffassung des historischen Gesetzgebers ist es problematisch, Rechtsprechung und Lehre hier freie Hand zu lassen oder sich auf eine bewährte Praxis zu verlassen; vielmehr liegt es in der Verantwortung des Gesetzgebers, die wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen.48 Extern steht bis heute im Brennpunkt der kriminalpolitischen, teils aber auch ver30 fassungsrechtlichen und strafrechtsdogmatischen (s.u. im Text) Diskussion die in Art. 1 EGStGB (s.o. Rdn. 12) angeordnete Anwendbarkeit der §§ 16, 17 StGB auch im Nebenstrafrecht.49 Wird das Gesetz beim Wort genommen, so setzt der Vorsatz auch im Nebenstrafrecht lediglich Kenntnis von den Umständen voraus, die zu dem jeweiligen nebenstrafrechtlichen Tatbestand gehören bzw. ihn verwirklichen. Weiß der Täter hingegen nicht, dass sein Verhalten verboten ist, kennt er z.B. die (Verhaltens-)Norm nicht oder irrt er über deren Reichweite oder Anwendbarkeit auf den ihm bekannten Sachverhalt, so kommt nur ein Verbotsirrtum in Betracht, der nur bei Unvermeidbarkeit die Strafbarkeit ausschließt und bei Vermeidbarkeit die Vorsatzstrafbarkeit bei nur fakultativer Milderungsmöglichkeit bestehen lässt. Hieran wird kritisiert,50 diese der sog. Schuldtheorie entsprechende Rechtslage sei nur dann legitim, wenn bloße Umstandskenntnis hinreichenden Anlass gebe, das Verhalten in rechtlicher Hinsicht zu überprüfen, insbesondere

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47 S. zu den Reformentwürfen § 20 E 1962, § 19 AE (s.o. Rdn. 6); zum Ausland § 8 öStGB (s.u. Rdn. 67), Art. 19 schweiz. StGB (s.u. Rdn. 68); Art. 59 Abs. 1 ital. CP (s.u. Rdn. 71). 48 Vgl. nur BVerfGE 32 346, 362 f; 105 135, 153 f. Dannecker/Schuhr LK § 1 Rdn. 115 ff. 49 Erst recht kritisiert wird die sich aus §§ 10, 11 OWiG ergebende Anwendung der sog. Schuldtheorie im Ordnungswidrigkeitenrecht, s.o. Rdn. 14 bei und mit Fn. 14. 50 Lange JZ 1956 73 u. 519; ders. JZ 1957 233; Roxin ZStW 78 (1966) 214, 258; Tiedemann Tatbestandsfunktionen (1969) S. 327 ff; ders. ZStW 81 (1969) 869, 876; ders. ZStW 83 (1971) 792, 819 f; ders. FS Geerds S. 95 ff; Weber ZStW 96 (1984) 376, 392 f; aus neuerer Zeit Bülte NStZ 2013 65 ff; Kuhlen FS Kargl S. 297 ff.

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wenn sich Verhalten nach den erkannten Umständen als sozialschädlich oder zumindest sozial bedenklich oder sozialethisch fragwürdig darstelle. Nur dann könne von der Tatumstandskenntnis eine „Appellwirkung“ ausgehen, welche die Anwendbarkeit der strengen Verbotsirrtumsregelung des § 17 StGB rechtfertige. So liege es häufig im Kernstrafrecht, aber nur selten im Nebenstrafrecht. Dort gebe es vielmehr eine große Zahl von Ver- und Geboten, von deren Existenz viele Juristen nichts wüssten und mit denen Laien nicht zu rechnen bräuchten. Es handele sich um einen unübersehbaren, ständiger Veränderung unterliegenden und sozialethisch wenig fundierten, farblosen Bereich, auf den die sog. Schuldtheorie nicht passe, sondern nur die sog. Vorsatztheorie, wonach fehlendes Unrechtsbewusstsein auch bei Vermeidbarkeit den Vorsatz(schuld)vorwurf ausschließe und nur ggf. ein Fahrlässigkeitsvorwurf verbleibe. Demgegenüber wird in Verteidigung des Art. 1 EGStGB geltend gemacht,51 dass sich Kern- und Nebenstrafrecht ihrem Wesen nach nicht unterschieden, viele nebenstrafrechtliche Ver- und Gebote (wie z.B. Kursbetrug, Steuerhinterziehung, Tierquälerei oder Weinpanscherei) durchaus im allgemeinen Bewusstsein verankert seien und jedenfalls von Wirtschaftsteilnehmern sehr wohl erwartet werde, sich über die für ihre Tätigkeit bedeutsamen Rechtsvorschriften und damit auch über Sachverhalte, die rechtlich relevant sein könnten, zu unterrichten (Berufs-, Unterrichtungs- und Fortbildungspflichten). Der zunächst kriminalpolitische Streit hat mittlerweile die Ebene des Verfassungsrechts erreicht. So meint Tiedemann,52 man begebe sich an den Rand einer Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes (Art. 3 GG), wenn eine an den Tatbeständen des Mordes und der Körperverletzung entwickelte Irrtumsregel auch für das Weinrecht der Europäischen Union für richtig gehalten werde, und es folge zwingend aus dem strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 Abs. 2 GG), dass das abstrakte Verbot oder Gebot dort zum Tatbestand gehören müsse, wo der Tatbestand wie nicht selten im Nebenstrafrecht ohne diesen Normbezug unrechtsneutral sei.53 Schließlich spiegelt sich der kriminalpolitische Streit in den strafrechtsdogmatischen Ansätzen, zur Irrtumslehre des RG zurückzukehren (s. § 16 Rdn. 10), den Vorsatzgegenstand bei Blanketten gesetzestreu zu bestimmen (s. § 16 Rdn. 36 ff) oder im Sinne einer sog. „weichen Schuldtheorie“ die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums i.S.v. § 17 StGB im Nebenstrafrecht großzügiger zu handhaben und dort angeordnete Fahrlässigkeitsstrafbarkeiten auch auf die sog. Rechtsfahrlässigkeit zu beziehen (s. § 17 Rdn. 39). In der Tat dürfte der Gesetzgeber in seinem in Art. 1 EGStGB zum Ausdruck gekommenen Vereinheitlichungsstreben kriminalpolitisch über das Ziel hinausgeschossen sein. Ersichtlich widerstrebt es dem Rechtsgefühl, z.B. einem Exporteur, der von einem vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschlossenen Embargo keine Kenntnis hat, allein deshalb einen vorsätzlichen Embargoverstoß nach § 19 AWG vorzuwerfen, weil er weiß, welche Güter er wohin exportiert. Freilich ist zu bedenken, dass es einerseits durchaus nebenstrafrechtliche Tatbestände gibt, die auf der Hand liegendes Unrecht vertypen (z.B. beim Handeltreiben mit Antipersonenminen, § 20a Abs. 1 Nr. 1 KrWaffKG), so dass die Anwendung der §§ 16, 17 StGB ersichtlich legitim ist, und dass andererseits das Sachproblem für sich genommen unrechtsneutraler oder -ferner Tatbestände längst das Kernstrafrecht erreicht hat (s. z.B. § 327 Abs. 2 Nr. 3 StGB). Mit Recht betont Tiedemann,54 dass das Problem „quer durch die Gesamtmaterie des Strafrechts“ verläuft. Es

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Welzel JZ 1956 238, 240 f. Tiedemann FS Geerds S. 95, 103. Vgl. auch Bülte NStZ 2013 65 ff. Tiedemann FS Geerds S. 95, 106.

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sollte deshalb de lege ferenda nicht durch eine Einschränkung des Art. 1 EGStGB, sondern durch eine Ausdifferenzierung der §§ 16, 17 StGB gelöst werden.55 5. Berechtigung der erfolgsqualifizierten Delikte? Das geltende deutsche Strafrecht kennt eine Fülle von erfolgsqualifizierten Delikten (s. noch § 18 Rdn. 10), die in § 18 StGB (zu dessen Entstehungsgeschichte s. § 18 Rdn. 1) allgemein als VorsatzFahrlässigkeits- bzw. („wenigstens“) Vorsatz-Vorsatz-Kombinationen bestimmt werden. Im Besonderen Teil sind erfolgsqualifizierte Delikte durch sehr erhebliche Strafrahmenschärfungen im Verhältnis zu den jeweiligen Grunddelikten auch unter Berücksichtigung möglicher Tateinheit (§ 52 StGB) mit einer gegebenenfalls strafbaren (§ 15 StGB) fahrlässigen Herbeiführung der schweren Folge gekennzeichnet.56 Hieran knüpft seit langem kriminalpolitische Kritik an, die Jakobs auf den Punkt gebracht hat: Die erfolgsqualifizierten Delikte seien ein „Ärgernis“.57 In überwiegend kritischer Absicht wird gerügt, in den erfolgsqualifizierten Delikten 36 hätten die gemeinrechtlichen Lehren vom versari in re illicita, dolus indirectus und dolus indeterminatus (s. hierzu noch u. Rdn. 65) in einer modernem Tat- und Schuldstrafrecht unangemessenen Weise überlebt.58 Auch in der Strafrechtsreform wurde vielfach gefordert, sie abzuschaffen und bei tateinheitlicher Verwirklichung des vorsätzlichen Grunddelikts und strafbarer fahrlässiger Herbeiführung der schweren Folge in Abweichung von dem in § 52 StGB angeordneten Absorptionsprinzip eine Strafrahmenschärfung zuzulassen, die unterhalb der im Besonderen Teil angeordneten „Sanktionssprünge“ liegen sollte.59 Demgegenüber hielt und hält die Praxis erfolgsqualifizierte Delikte für unverzichtbar, und der Gesetzgeber hat an ihnen nicht nur festgehalten, sondern immer mehr erfolgsqualifizierte Delikte mit immer schärferen Strafrahmen geschaffen. Letzteres erscheint in der Tat kriminalpolitisch nicht unproblematisch. Jedoch bleibt zu bedenken, dass erfolgsqualifizierte Delikte dazu dienen können, die problematische „Zweiteilung“ Vorsatz – Fahrlässigkeit funktional abzumildern (s.o. Rdn. 26 f). Dazu sollten sie aber zumindest grundsätzlich de lege ferenda auf eine „vorsatznah“ zu handhabende Leichtfertigkeit beschränkt werden, wie es z.B. in §§ 178, 239a Abs. 3, 251 StGB im Ausgangspunkt zutreffend vorgesehen ist.60 35

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6. Strafbarkeit der leichten oder geringfügigen Fahrlässigkeit? Wenn der Gesetzgeber die Strafbarkeit fahrlässigen Verhaltens anordnet (vgl. § 15 StGB), umfasst das

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55 Seit langem weist Tiedemann (z.B. FS Geerds S. 95, 97) auf die vorbildliche Regelung in Art. 16 Abs. 1 Código penal português v. 23.9.1982 hin. Auf deren Grundlage könnte folgender § 16 Abs. 3 in das StGB eingefügt werden: „Wer bei Begehung der Tat einem Verbotsirrtum (§ 17 StGB) unterliegt, handelt nicht vorsätzlich, wenn die Kenntnis der zum Tatbestand gehörenden Umstände nicht ausreicht, sondern vernünftigerweise Verbotskenntnis unerlässlich ist, um Unrechtsbewusstsein gewinnen zu können. Die Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung bleibt unberührt.“ 56 Eklatante Beispiele sind die einfache Körperverletzung bzw. Freiheitsberaubung mit Todesfolge, die gem. § 227 bzw. § 239 Abs. 4 StGB mit Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren bedroht ist, während sich aus §§ 223, 222, 52 StGB bzw. §§ 239 Abs. 1, 222, 52 StGB ein Strafrahmen von Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe ergäbe. 57 Jakobs ZStW 114 (2002) 584, 598. 58 Statt aller Paeffgen NK § 18 Rdn. 19 ff m.w.N. 59 So bereits Radbruch VDA II S. 243, 249; sodann Jescheck Niederschriften S. 246 mit Anhang Nr. 59 (Strafrahmenverdoppelung); § 64 Abs. 1 AE (Strafrahmenschärfung auf das Eineinhalbfache) und bereits AE S. 45 (Vorbem. zu § 18). 60 Die genannten Vorschriften gehen freilich insofern sehr weit, als sie fakultativ lebenslange Freiheitsstrafe androhen, was besorgen lässt, dass es in der Praxis zu „Mordverdachtsstrafen“ bei nicht nachweisbarem Tötungsvorsatz kommt; krit. Paeffgen NK § 18 Rdn. 82 ff.

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nach h.A. jede Fahrlässigkeit, gleich, ob sie bewusst oder nur unbewusst ist, und gleich, ob sie grob oder nur leicht ist (s. § 15 Rdn. 144 mit Nachw.). Diese Rechtslage ist seit jeher kriminalpolitischen Einwänden ausgesetzt. Bereits v. Hippel61 hatte darauf verwiesen, es trete „in der Rechtsentwicklung des In- und Auslandes (…) die sehr richtige Tendenz hervor, eine Überspannung des Gebiets strafbarer Fahrlässigkeit zu verhüten“. § 16 Abs. 2 AE schlug Straffreiheit bei „geringfügig fahrlässigem Verhalten“ vor, wobei die Geringfügigkeit im Einzelfall zu bestimmen sei und weder mit unbewusster noch leichter Fahrlässigkeit gleichgesetzt werden dürfe, und begründete das mit rechtsstaatlichen Argumenten: Bei geringfügig fahrlässigem Verhalten sei kriminelle Schuld nicht nachweisbar,62 auch dem Sorgfältigsten unterliefen Fehler; und aus der Vermeidbarkeit des Erfolgs könne nicht zwingend auf die Fähigkeit des Täters zu fehlerfreiem Verhalten geschlossen werden. In der Literatur63 wird vielfach de lege ferenda eine Straffreistellung leichter oder auch mittlerer Fahrlässigkeit oder ihre Beschränkung auf eine bewusste Herbeiführung schwerer Gutsgefahren bzw. offensichtliche und rücksichtslose Überschreitung des erlaubten Risikos gefordert. Zipf64 hat gar die vollständige „Entkriminalisierung“ der fahrlässigen Körperverletzung verlangt. Das kriminalpolitische Anliegen dieser Kritik ist berechtigt, da das „Verlangen ei- 38 ner lebenslänglichen maschinenhaften Präzision“ in der Tat unzumutbar erscheint und eine Schuld, die auch den Gewissenhaftesten auf das Ganze der Lebensführung gesehen treffen kann, mit Kriminalstrafe nicht wirksam bekämpft werden kann.65 Auch erscheint es nicht restlos überzeugend, die materiell-rechtlich notwendigen Korrekturen ausschließlich im prozessualen Weg (Einstellung wegen Geringfügigkeit, § 153 StPO) vorzunehmen (so aber Schroeder LK11 § 16 Rdn. 215). Auf der anderen Seite dürfte es zu weit gehen, die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit de lege ferenda auf bewusste Fahrlässigkeit, Leichtfertigkeit oder Rücksichtslosigkeit zu beschränken, da bei gefahrgeneigten Tätigkeiten (z.B. Flugsicherung) auch unbewusste Fahrlässigkeit schwer wiegen und schwerwiegende Folgen haben kann. Kriminalpolitisch erwägenswert ist es hingegen, leichte oder geringfügige Fahrlässigkeit de lege ferenda ausdrücklich straflos zu stellen (vgl. auch Matt/Renzikowski/Gaede § 15 Rdn. 31), mag es auch durch eine mit Blick auf Art. 103 Abs. 2 GG verfassungskonforme restriktive Handhabung der Fahrlässigkeit, wie es Duttge66 befürwortet, durch die Unzumutbarkeit beständiger äußerster Sorgfalt, wie Roxin67 meint, oder durch das allgemeine Verbot der Überspannung von Sorgfaltspflichten bereits de lege lata möglich sein, dasselbe Ergebnis zu erzielen. Die Statuierung lebensnaher und erfüllbarer Sorgfaltspflichten hat auch Gaede (Matt/Renzikowski § 15 Rdn. 31) angemahnt. V. Verfassungsrechtliche Grundfragen 1. Gesetzlichkeitsprinzip. In der Literatur werden vielfach verfassungsrechtlich 39 motivierte Bedenken gegen die auch nach der Strafrechtsreform bloß fragmentarische

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61 V. Hippel VDA III S. 373, 595. 62 AE2 (1969) S. 55. 63 Zusammenfassend Duttge Zur Bestimmtheit des Handlungsunwerts von Fahrlässigkeitsdelikten (2001) S. 30 f mit umf. Nachw. für das Verkehrsstrafrecht Bockelmann Verkehrsstrafrechtliche Aufsätze und Vorträge (1967) S. 216 ff; Cramer DAR 1974 317, 322; Volk GA 1976 161, 177; nachdrücklich auch T. Walter Der Kern des Strafrechts (2006) S. 134 f. 64 Zipf FS Krause S. 437 ff. 65 Treffend Roxin AT I § 24 Rdn. 85, 119. 66 Duttge Bestimmtheit des Handlungsunwerts S. 146 ff. 67 Roxin AT I § 24 Rdn. 92 f.

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Regelung von Vorsatz, Fahrlässigkeit und Irrtum in §§ 15–18 StGB (s.o. Rdn. 10) erhoben. Zusammenfassend hat Schroeder LK11 Rdn. 468 festgehalten, die Unvollständigkeit des Gesetzes stehe „in bedenklichem Gegensatz zu dem Gebot der Bestimmtheit von Strafvorschriften nach Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB“ und es erscheine kaum tragbar, die Lösung so grundsätzlicher und für die Strafbarkeit folgenreicher Fragen der Lehre und der Rechtsprechung mit den für sie unvermeidbaren Kontroversen zu überlassen; die dogmatische Entwicklung könne nicht auf Kosten der Rechtssicherheit geschützt werden. In der Tat ist es mittlerweile anerkannt, dass sich der Schutzbereich des Art. 103 40 Abs. 2 GG auch auf subjektive Tatbestandsmerkmale und auch auf im Allgemeinen Teil des StGB enthaltene, positive wie negative Strafbarkeitsvoraussetzungen bezieht.69 Dem damit festgeschriebenen strafrechtlichen Gesetzesvorbehalt auch hinsichtlich der Vorsatz- und Fahrlässigkeitsstrafbarkeit tragen §§ 15, 18 StGB Rechnung (s. § 15 Rdn. 1). Ob sich Art. 103 Abs. 2 GG geradezu eine verfassungsrechtliche Pflicht des Gesetzgebers entnehmen lässt, gesetzliche Vorschriften zu anderen als den in §§ 16, 17 StGB geregelten Irrtümern zu erlassen (was kriminalpolitisch wünschenswert wäre, s.o. Rdn. 29), erscheint fragwürdig. Insbesondere ließe es sich kaum begründen, dass der Grundgesetzgeber mit Art. 103 Abs. 2 GG intendiert hätte, über die noch weit fragmentarischere Irrtumsregelung in § 59 RStGB (s.o. Rdn. 2) das Verdikt der Verfassungswidrigkeit auszusprechen. Eher diskutabel sind Bedenken, die gegen die hinreichende gesetzliche Bestimmt41 heit der im Gesetz nicht legaldefinierten Begriffe des Vorsatzes und der Fahrlässigkeit erhoben werden (vgl. Dannecker/Schuhr LK § 1 Rdn. 219).70 Gegen die Annahme einer Verfassungswidrigkeit des geltenden Rechts spricht freilich bereits die soeben erwähnte, für die Justizgrundrechte besonders bedeutsame historische Auslegung des Art. 103 Abs. 2 GG. Das BVerfG71 zwingt den Gesetzgeber auch im Strafrecht nicht zu größtmöglicher Bestimmtheit oder gar zu einer Kasuistik, sondern lässt abstrakt-generelle Strafnormen zu, die die Vielgestaltigkeit des Lebens erfassen. Deshalb dürfen von Verfassungs wegen auch im Strafrecht unbestimmte Rechtsbegriffe verwendet werden, sofern sich ihre Tragweite und ihr Anwendungsbereich durch Auslegung ermitteln lassen, so dass jedermann vorhersehen kann, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist.72 Dass in Grenzfällen zweifelhaft sein kann, ob ein Verhalten noch strafbar ist oder nicht, nimmt das BVerfG als „unvermeidlich“ hin. Nach diesen Maßstäben dürfte der Verzicht des geltenden Rechts auf eine Legaldefinition des Vorsatzes und der Fahrlässigkeit verfassungsrechtlich noch hinzunehmen sein. Es handelt sich um Rechtsbegriffe, die der Auslegung bedürftig, aber auch zugänglich sind, was es den Normadressaten ermöglicht, ihre Tragweite und ihren Anwendungsbereich vorherzusehen, zumal der Gehalt der alltagssprachlichen Begriffe Vorsatz und Fahrlässigkeit keineswegs weit von dem der Rechtsbegriffe entfernt ist. Zudem ist zu bedenken, dass Vorsatz und Fahrlässigkeit Gegenstand einer langjährigen, seit dem Durchbruch zur sog. Schuldtheorie

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68 Mit Verweis auf Nowakowski Probleme der österreichischen Strafrechtsreform (1972) S. 13 f; Dreher FS Heinitz S. 207, 208, 227; Roxin JuS 1973 197, 202. 69 BGHSt 40 235, 241; Dreier/Schulze-Fielitz III Art. 103 Abs. 2 Rdn. 23; Maunz/Dürig/Remmert 81. EL, Art. 103 Abs. 2 Rdn. 68 ff; Sachs/Degenhart Art. 103 Abs. 2 Rdn. 58; Dannecker LK § 1 Rdn. 821 ff; Schmitz MK § 1 Rdn. 13 ff; Sch/Schröder/Hecker § 1 Rdn. 6; Fischer § 1 Rdn. 2a. 70 S. zum Vorsatz Behrendt in Schwarze/Graf Vitzthum (Hrsg.) Grundrechtsschutz im nationalen und internationalen Recht (1983) S. 11 ff; zur Fahrlässigkeit statt aller Duttge Bestimmtheit des Handlungsunwerts S. 30 ff, 135 ff m.w.N. 71 BVerfGE 73 206, 238 f; 75 329, 342; 92 1, 12. 72 Hierzu grundlegend BVerfGE 143 38 ff.

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durch BGHSt 2 194, 209 ff auch im Wesentlichen gefestigten Rechtsprechung sind, an der sich die Normadressaten orientieren können und dürfen.73 Heikel bleibt allerdings, dass der Gesetzgeber die Untergrenze des Vorsatzes, d.h. 42 die Grenze zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit,74 nicht bestimmt. Dieses Unterlassen tangiert jedenfalls dann, wenn die Strafbarkeit der Fahrlässigkeit nicht ausdrücklich angeordnet ist (§ 15 StGB), die staatsrechtliche, nämlich gewaltenteilungssichernde Funktion des Art. 103 Abs. 2 GG, der gewährleisten soll, dass der Gesetzgeber, nicht die Rechtsprechung, über die wesentlichen Voraussetzungen (das „Ob“) einer Strafbarkeit entscheidet.75 Es lässt sich durchaus hören, dass insoweit eine bestimmte(re) gesetzliche Regelung (z.B. nach dem Vorbild des § 16 letzter Halbsatz E 1962, des § 17 Abs. 2 AE, s.o. Rdn. 6 oder § 5 öStGB) verfassungsrechtlich geboten erscheint.76 Unabhängig von der Frage der abstrakten Verfassungsmäßigkeit der §§ 15–18 StGB 43 ist bei ihnen – wie überall – das Gebot der verfassungskonformen Auslegung und Anwendung auch im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG zu beachten. Dabei steht das Analogieverbot, nämlich das Verbot, den möglichen Wortsinn einer den Täter belastenden Norm zu dessen Nachteil zu überschreiten oder den eindeutigen Wortsinn einer den Täter begünstigenden Norm zu unterschreiten („Gegenanalogie“), bei §§ 15–18 StGB allerdings nicht im Vordergrund. Vielmehr liegt der Schwerpunkt auf dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz in seiner den Rechtsanwender bindenden Funktion:77 §§ 15–18 StGB dürfen nicht in einer Weise ausgelegt und angewendet werden, dass die durch sie bewirkte Eingrenzung der Strafbarkeit durch den Gesetzgeber wieder aufgehoben wird. So darf der Vorsatz nicht in einer Weise interpretiert und angewendet werden, die eine Bestrafung bloß fahrlässigen Verhaltens (einschließlich bewusster Fahrlässigkeit) ermöglicht (s. § 15 Rdn. 5). Auf den gesetzlichen Tatbestand bezogene Irrtümer, auch Rechtsirrtümer, dürfen nicht in einer Weise verstanden und angewendet werden, die dazu führt, dass statt der dem Täter günstigeren Irrtumsregelung des § 16 StGB die strengere des § 17 StGB angewendet wird (s. § 16 Rdn. 6 ff), wie es nach der derzeit herrschenden Ansicht zum Irrtum über das Blankettmerkmal der Fall ist. § 18 StGB darf nicht in einer Weise ausgelegt und gehandhabt werden, dass die Fahrlässigkeit in Bezug auf die schwere Folge schlicht aus der Verwirklichung des Grundtatbestandes hergeleitet wird (s. § 18 Rdn. 28 ff). Insbesondere ist Tiedemann78 darin zuzustimmen, dass die Lehre von Vorsatz und 44 Tatumstandsirrtum (§§ 15, 16 StGB) durch Art. 103 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich überformt ist. Allerdings unterscheidet die h.L. den von Art. 103 Abs. 2 GG geforderten „Garantietatbestand“ von dem „Systemtatbestand“ im Sinne der Straftatlehre, d.h. dem ver-

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73 Ob eine ständige fachgerichtliche Rechtsprechung ein an sich zu unbestimmtes Strafgesetz gleichsam „bestimmt genug“ machen kann, ist allerdings umstritten; bejahend BVerfGE 45 363, 372; 48 48, 65; 126 170 ff; v. Mangoldt/Klein/Starck/Nolte6 Art. 103 Abs. 2 Rdn. 139; Sch/Schröder/Hecker § 1 Rdn. 20; verneinend BVerfGE 92 1, 14 ff; Maunz/Dürig/Schmidt-Aßmann, 78. EL, Art. 103 Abs. 2 Rdn. 229; v. Münch/ Kunig Art. 103 Abs. 2 Rdn. 29; Rüping BK, 189 AL, Art. 103 Abs. 2 Rdn. 46. 74 Bei Straftatbeständen, die Absicht oder Wissentlichkeit voraussetzen, stellt sich das gleiche Problem für die Untergrenze dieser Vorsatzformen. 75 Vgl. Sachs/Degenhart Art. 103 Rdn. 50 mit Verweis auf Art. 20 Rdn. 113. 76 Wer das so sieht, müsste an sich alle nicht näher spezifizierten Vorsatzstrafdrohungen des geltenden Rechts für zu unbestimmt, also verfassungswidrig und nichtig halten. Ersichtlich wäre eine solche Konsequenz praktisch nicht akzeptabel; das BVerfG müsste vielmehr bei einer möglichen Feststellung der Verfassungswidrigkeit des geltenden Rechtszustandes dem Gesetzgeber eine Frist zur Nachbesserung setzen und bis dahin die (ggf. verfassungskonforme restriktive) Anwendung der derzeitigen Vorsatzstrafdrohungen zulassen; zu dieser Möglichkeit BVerfGE 109 190, 235 ff. 77 Grundlegend BVerfGE 92 1, 12. 78 S. bereits Tiedemann Tatbestandsfunktionen S. 183 ff, 308 ff; ders. Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 410.

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typten materiellen Unrecht, einerseits und dem für die Vorsatz- und Irrtumslehre maßgeblichen „Irrtumstatbestand“ andererseits.79 Daran trifft zu, dass der „Irrtumstatbestand“ im Sinne des Tatbestandes, auf den sich der Vorsatz i.S.v. § 15 StGB bzw. Irrtum i.S.v. § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB bezieht, der objektive Tatbestand ist, während zum „Systemtatbestand“ nach heutiger Straftatlehre auch der subjektive Tatbestand zählt (u. Rdn. 52 ff) und Art. 103 Abs. 2 GG im Grundsatz alle materiell-rechtlichen Strafbarkeitsvoraussetzungen auch auf der Ebene der Rechtswidrigkeit und Schuld erfasst. Demgegenüber ist aber die materielle Dimension des Art. 103 Abs. 2 GG zu bedenken, wonach das Strafgesetz sicherstellen muss, dass nur strafwürdiges Verhalten bestraft wird80 und ein Strafgesetz insbesondere dann zu unbestimmt ist, wenn es die Bestrafung zweifellos nicht strafwürdigen Verhaltens zulässt. Deshalb hat die Vertypung materiellen Unrechts – des „Systemtatbestands“ – auch im Rahmen des Art. 103 Abs. 2 GG – des „Garantietatbestandes“ – eine herausgehobene Bedeutung.81 Zu dem vertypten materiellen Unrecht gehören sowohl aus verfassungsrechtlicher als auch strafrechtsdogmatischer Sicht die subjektiven Unrechtselemente. Gerade weil das so ist, müssen sie sich – und muss sich der „Irrtumstatbestand“ – am materiell verstandenen strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzip orientieren, wonach nur strafwürdiges Verhalten erfasst werden darf.82 Auch die Lehre von der Fahrlässigkeit ist, wie Duttge83 gezeigt hat, maßgeblich von Art. 103 Abs. 2 GG in seiner formellen und materiellen Dimension geprägt. 2. Schuldprinzip. §§ 15–18 StGB sind Ausprägungen des Schuldprinzips („nulla poena sine culpa“), das nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG84 und – soweit ersichtlich – allgemeiner Auffassung85 Verfassungsrang hat, nämlich aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG, dem Rechtsstaatsprinzip und dem Übermaßverbot folgt. Hiernach setzt jede Strafe Schuld voraus. Das BVerfG hat darüber hinaus bestätigt, dass der Schuldgrundsatz im Strafrecht Teil der Verfassungsidentität und damit unionsfest ist.86 Tatbestand und Rechtsfolge müssen sachgerecht aufeinander abgestimmt sein, wobei das BVerfG allerdings nicht überprüfen darf, ob der Gesetzgeber die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung gefunden hat (BVerfGE 120 224, 256 f). Jede Strafe muss in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der Straftat und zum Verschulden des Täters stehen, und die verhängte Strafe darf die Schuld des Täters nicht übersteigen. Wo die Tat verschiedene Grade des Verschuldens und der Schwere aufweisen kann, muss dem Richter grundsätzlich die Möglichkeit gelassen werden, die Strafe dem anzupassen; er darf nicht gezwungen werden, schuldunangemessene Strafen zu verhängen (BVerfGE 120 224, 253). Dass Strafe Schuld auch im Sinne vorsätzlichen oder mindestens fahrlässigen 46 Verhaltens voraussetzt, ist – soweit ersichtlich – bislang weder vom BVerfG noch von der Verfassungsrechtslehre ausdrücklich ausgesprochen worden. Da aber zu der Zeit, als die Rechtsprechung des BVerfG begründet wurde, Vorsatz und Fahrlässigkeit noch überwie45

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79 Zusammenfassend Roxin AT I § 10 Rdn. 4 ff; Sch/Schröder/Eisele Vor §§ 13 ff Rdn. 43 ff. 80 Vgl. BVerfGE 92 1, 12; 143 38 ff. 81 In diesem Sinne auch Roxin AT I § 10 Rdn. 20. 82 Zu den Auswirkungen dieses Ansatzes auf die Vorsatz- und Irrtumslehre s. § 15 Rdn. 39, § 16 Rdn. 30, 40. 83 Duttge Bestimmtheit des Handlungsunwerts S. 146 ff. 84 Vgl. nur BVerfGE 20 323, 331; 91 1, 27. 85 Appel Verfassung und Strafe (1998) S. 109; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 16 Rdn. 2; Dreier/SchulzeFielitz Art. 20 (Rechtsstaat) Rdn. 194; Roxin AT I § 3 Rdn. 52; Sachs/Degenhart Art. 103 Abs. 2 Rdn. 94; Sch/Schröder/Eisele Vor §§ 13 ff Rdn. 103/404. 86 BVerfGE 140 317, 336 f; zur Verfassungsidentität auch BVerfGE 133 227, 316.

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gend als Schuldformen galten (s.u. Rdn. 53), verbietet sich straftatsystematische Engstirnigkeit, zumal bereits RGSt 71 193, 195 klar ausgesprochen hatte, es sei eine „selbstverständliche […] Forderung, dass dem Angeklagten eine Schuld, sei es Vorsatz oder bedingter Vorsatz, sei es Fahrlässigkeit, nachgewiesen sein muß. Eine Bestrafung ohne Schuld kennt das StGB … nicht“ (Herv. v. Verf.).87 Eine besondere Bereitschaft der Verfassungsrechtsprechung der Strafgesetzge- 47 bung im Hinblick auf den Schuldgrundsatz – anders als mit Blick auf das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot (vgl. nur BVerfGE 143 38, 52 ff) – Grenzen zu setzen und unter diesem Topos in die strafrechtliche Dogmatik einzugreifen kann man jedoch bislang aber nicht konstatieren. Das BVerfG hat (soweit ersichtlich) bislang keinen Straftatbestand wegen Verletzung des Schuldprinzips für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Es hat nie ausdrücklich ausgesprochen, dass sich Vorsatz und Fahrlässigkeit auf alle Tatbestandsmerkmale beziehen müssten (auch wenn das mit Blick auf die Bedeutung des Tatbestandes als verfassungsrechtlicher Garantietatbestand zwingend sein dürfte). Die in der Lehre88 durchaus verfassungsrechtlich in Frage gestellten objektiven Strafbarkeitsbedingungen hat das BVerfG bislang nicht beanstandet. Schließlich hat das Gericht die heute vielfach vertretenen These, dass Schuldvermutungen im Sinne von Vorsatz- oder Fahrlässigkeitsvermutungen schlechterdings verfassungswidrig seien, 89 in BVerfGE 9 167, 169 nicht bestätigt: Nicht jede Form der Schuldvermutung widerstreite rechtsstaatlichen Grundsätzen; es komme vielmehr auf die Gestaltung des gesetzlichen Tatbestandes im Einzelfall an. Insbesondere wenn eine gewisse tatsächliche Vermutung für ein Verschulden bestehe und dem Beschuldigten nichts Unzumutbares auferlegt werde, insbesondere wenn es um die Darlegung von Betriebsinterna gehe, zu der er besseren Zugang habe als die Verfolgungsbehörde, sei eine Schuldvermutung rechtsstaatlich noch akzeptabel.90 Allerdings ist zu konstatieren, dass das BVerfG in der weiteren Begründung (S. 171 ff) betont hat, es handele sich „nur“ um eine Ordnungswidrigkeit, und die Schuldvermutung sei zum Zeitpunkt ihres Erlasses auch von Vertretern streng rechtsstaatlicher Auffassungen nicht missbilligt worden; das lässt vermuten, dass das BVerfG heute Schuldvermutungen in Straftatbeständen nicht mehr hinnehmen würde. Das BVerfG (E 41 121, 124 f,)91 hat sich ferner mit Recht geweigert, von Verfassungs wegen die strafrechtsdogmatische Frage zu entscheiden, ob das Unrechtsbewusstsein zum Vorsatz gehört (sog. Vorsatztheorie) oder nicht (sog. Schuldtheorie). Für beide Standpunkte ließen sich sachliche Gründe anführen; es sei Sache des Gesetzgebers, darüber zu entscheiden, welche der beiden Theorien er der gesetzlichen Regelung zugrunde lege; das BVerfG prüfe nicht, ob die vom Gesetzgeber gewählte Lösung die „gerechteste“ denkbare Lösung sei, sondern schreite erst bei Willkür ein. – In derselben Entscheidung (S. 125 f) hat das BVerfG keine verfassungsrechtlichen Einwände dagegen erhoben, dass § 17 Satz 2 StGB bei vermeidbaren Verbotsirrtümern die Bestrafung aus dem Strafrahmen des Vo satzdelikts zulässt; die fakultative Strafmilderungsmöglichkeit nach § 49 Abs. 1 StGB genüge, um dem verfassungsrechtlichen Schuldgrundsatz gerecht zu werden.

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87 Das Urteil ist umso bemerkenswerter, als es in nationalsozialistischer Zeit unter Geltung des „Analogiegebots“ in § 2 S. 2 RStGB zwischen dem 28.6.1935 und dem 4.2.1946 erging; vgl. hierzu Kohlrausch-Lange RStGB39/40 Einl. zu § 1 S. 23. 88 Vgl. etwa Roxin AT I § 23 Rdn. 12; Frister Schuldprinzip S. 59 ff; Rönnau/Bröckers GA 1995 549, 553 ff. 89 Vogel Limites constitucionales a las presunciones del Derecho penal económico alemán in Luis Arroyo Zapatero u.a. (Hrsg.) Estudios de Derecho penal económico (1994) S. 43 ff; offener Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Rdn. 234 ff. 90 Vgl. Bülte JZ 2014 603, 610. 91 Krit. hierzu Koriath Jura 1996 113, 124 f; Schmidhäuser JZ 1979 361, 362 f.

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Im Übrigen hängt die Reichweite des verfassungsrechtlichen Schuldprinzips für §§ 15–18 StGB davon ab, ob der Grundsatz in Art. 1 Abs. 1 GG verankert und damit „unantastbar“ und nach h.A. abwägungsfrei gestellt (so BVerfGE 123 276 413; BVerfG NJW 2016 1149, 1152 f) oder ob er „nur“ im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1, 3 GG angesiedelt und im Schwerpunkt als Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes angesehen wird.92 Die im deutschen Recht h.A. argumentiert, der im strafrechtlichen Schuldvorwurf enthaltene „sozialethische Tadel“ taste die Menschenwürde an, wenn er ohne vollen, auf alle Tatbestandsmerkmale bezogenen Nachweis strafrechtlicher Schuld, insbesondere eines Vorsatz- oder Fahrlässigkeitsschuldvorwurfs, erhoben werde. Auch sei es nicht nur kraft Natur der Sache, sondern auch wegen Art. 1 Abs. 1 GG zwingend geboten, dem unvermeidbaren Verbotsirrtum schuldausschließende Wirkung beizumessen. Demgegenüber findet sich im europäischen Strafrecht die Auffassung, Vorsatz- und Fahrlässigkeitserfordernisse sowie die Beachtlichkeit von (bestimmten) Irrtümern sicherten lediglich die Verhältnismäßigkeit staatlichen Strafens – was einen gewissen Spielraum für eine ganz oder teilweise objektive („strikte“) strafrechtliche Verantwortlichkeit und auch für die traditionelle Unbeachtlichkeit des (Straf-)Rechtsirrtums („error iuris nocet“) eröffnet. Auch in der deutschen Diskussion ist die These, der strafrechtliche Schuldspruch berühre nicht bloß das Persönlichkeitsrecht, sondern sogar die Menschenwürde, kritisch hinterfragt worden.93 Einem künftigen Unternehmensstrafrecht würde Art. 1 Abs. 1 GG keine Schranken setzen. Insgesamt bleibt abzuwarten, wie sich die Diskussion fortentwickelt.94 Mit Blick auf die allgemeine Irrtumsdiskussion im Strafrecht wird besonderes (kritisches) Augenmerk auf Ansätze zu richten sein, wonach die Menschenwürdegarantie nur in ihrem Kernbereich schlechterdings abwägungsfrei garantiert sein soll.95 In diesen Kernbereich dürfte jedenfalls die willkürliche Bestrafung eindeutig oder wahrscheinlich Schuldloser fallen; sie dürfte ausnahmslos und abwägungsfrei durch Art. 1 Abs. 1 GG verboten sein. VI. Strafrechtsdogmatische Grundfragen

1. Einfluss des Besonderen Teils auf die Lehren von Vorsatz, Fahrlässigkeit und Irrtum? Nicht nur im StGB, sondern auch in vielen ausländischen Strafgesetzbüchern (s.u. Rdn. 76 ff) sind die Vorschriften über Vorsatz, Fahrlässigkeit und Irrtum im gesetzestechnischen Allgemeinen Teil enthalten, und nicht nur die deutsche Stra