Stifter und Stifterforschung im 21. Jahrhundert: Biographie - Wissenschaft - Poetik 9783110921250, 9783484109018

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Stifter und Stifterforschung im 21. Jahrhundert: Biographie - Wissenschaft - Poetik
 9783110921250, 9783484109018

Table of contents :
Vorwort
I. Biographie
Adalbert Stifters Briefe als Dokumente der Selbstdarstellung
Stifter-Biographik. Stifters Leben nach seinem Tod bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts
Grenzen der Lebensbeschreibung. Adalbert Stifters letzte autobiographische Schriften
Schulrat und Poet - Stifter zwischen Amt und Poesie
II. Wissenschaft
Philosophischer Zeitgeist. Adalbert Stifter und die Ulementaphilosophiae des Josef Calasanz Likawetz
Der Kaiserstaat, das Kronland Osterreich ob der Enns und die Bürokratie. Das Umfeld des Schulrates Adalbert Stifter
Die Pilgerreise nach Jerusalem. Adalbert Stifters Beziehungen zum Stift St. Florian. Mit einem unveröffentlichten Brief Stifters
Andreas Baumgartner und sein Werk zur ›Naturlehre‹
Stifters Physiognomik
Die Ordnung der Wirklichkeit. Zur Bedeutung der Naturwissenschaft für Stifters Realitätsbegriff
III. Poetik
Anverwandlungen und Selbststilisierungen. Zur Bedeutung Goethes für das literarische Selbstverständnis Gottfried Kellers und Adalbert Stifters
Adalbert Stifter und die Ordnungen der Gattung. Generische »Veredelung« als Arbeit am Habitus
Die Angst vor der Musik oder Statisches Erzählen
›Der Waldgänger‹. Stifters Rückblick auf die verlorene Zeit
Historizität, Modernität, Postmodernität. Überlegungen zur Bedeutung von Stifters Prosa mit Bezug auf eine Textstelle in ›Bergkristall‹
Die Dokumentation der Handschriften zu Stifters ›Nachsommer‹ und ihr textanalytisches Potential
Berg, Moor und Baum. Eine Lektüre der ›Nachkommenschaften‹
Vernunft und Begehren in Stifters »Der Kuß von Sentze«
»sagt« oder »sagte«? Editionsphilologische Überlegungen zum letzten Satz von Adalbert Stifters Erzählung ›Der Fromme Spruch‹

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Stifter und Stifterforschung im 21. Jahrhundert Biographie - Wissenschaft - Poetik Herausgegeben von Alfred Doppler, Johannes John, Johann Lachinger und Hartmut Laufhütte

Stifter und Stifterforschung im 21. Jahrhundert Biographie - Wissenschaft - Poetik

Herausgegeben von Alfred Doppler, Johannes John, Johann Lachinger und Hartmut Laufhütte

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2007

Redaktion: Johannes John und Claudia Lehner

Zur Abbildung auf dem Schutzumschlag: Adalbert Stifter: >NachkommenschaftenNaturlehre
Der Waldgänge«. Stifters Rückblick auf die verlorene Zeit

213

Martin Swales Historizität, Modernität, Postmodernität. Überlegungen zur Bedeutung von Stifters Prosa mit Bezug auf eine Textstelle in >Bergkristall
Nachsommer< und ihr textanalytisches Potential

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Konstanze Fliedl Berg, Moor und Baum. Eine Lektüre der >Nachkommenschaften
Der Fromme Spruch
Stifter-Jahr< - unter dem Titel »Stifter und Stifterforschung im 21. Jahrhundert. Biographie — Wissenschaft — Poetik« vom Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich und der Kommission für Neuere deutsche Literatur der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (München) veranstaltet wurde und vom 22. bis zum 25. Oktober 2003 in Linz-St. Magdalena stattfand. Die Tagung stand, obwohl sie mit insgesamt 19 Vorträgen diesmal ausführlicher und umfänglicher konzipiert war als ihre Vorgängerinnen, in jener Reihe von Symposien, die sich — jeweils mit einem thematischen Schwerpunkt — traditionell an die alljährlich im Oktober stattfindende Arbeitskonferenz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Historisch-Kritischen Ausgabe der Werke und Briefe Adalbert Stifters anschließen. Das erste dieser Symposien widmete sich in Linz 1996 dem Thema »Fassungen — Fragmente - Vollendungen in der Literatur von Adalbert Stifter bis Franz Kafka«; es folgten »Textgenese und Interpretation« (Salzburg, 1997), »Autorschaft und Autorisation« (München, 1998), »Edition, Rezeption und Kommentierung von Briefen« (Innsbruck 1999) und »Edition und Kommentierung von Briefen« (München 2000), »Natur bei Stifter, Lenau, Keller und Droste-Hülshoff« (Linz, 2001) sowie »Schule und Universität im Blickfeld Stifters« (Passau, 2002). Was in Linz (1996), Salzburg, Innsbruck und München (1999/2000) vorgetragen wurde, läßt sich mittlerweile in drei Sammelbänden nachlesen. 1 Die Symposien im Umkreis der Historisch-Kritischen Stifter-Ausgabe verfolgen einen doppelten Zweck: zum einen öffnen sie sich ganz bewußt über den unmittelbaren Kreis der Bandherausgeberinnen und -herausgeber hinaus, um durch kollegiale Impulse vielfältiger Art das Blickfeld zu erweitern, womit nicht zuletzt die Erfahrungen gemeint sind, wie sie etwa bei vergleichbaren Problemlagen oder Themenstellungen in anderen laufenden oder aber schon abgeschlossenen Editionsprojekten gesammelt wurden. Zum anderen bilden sie für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stifter-Ausgabe ein Forum, die über den unmittelbaren editionsphilologischen Kontext hinaus gewonnenen Erkenntnisse — also gewissermaßen den >Mehrwert< historischer-kritischer Detailar-

' Vorträge des linzer Kolloquiums >Fassungen, Fragmente, Vollendungen in der Literatur von Adalbert Stifter bis Franz Kafka. In: JASILO 4 (1997). - Textgenese und Interpretation. Aufsätze und Vorträge des Salzburger Symposions 1997. Hrsg. von Herwig Gottwald, Adolf Haslinger und Hildemar Holl. Stuttgart 2000. — »Ich an Dich«. Edition, Rezeption und Kommentierung von Briefen. Hrsg. von Werner M. Bauer, Johannes John und Wolfgang Wiesmüller. Innsbruck 2001.

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Vorwort

beit — in die wissenschaftliche Diskussion einfließen zu lassen. Sie bieten etwa Raum für grundsätzliche Überlegungen methodischer Art, verstehen sich zugleich als ein >Experimentierfeld< unterschiedlichster Interpretationsansätze, und sie wollen dies um so mehr, als Historisch-Kritische Ausgaben bei aller Divergenz hinsichtlich ihrer Editionsrichtlinien den jeweiligen Bearbeitern doch enge Grenzen setzen, was über Fragen der Textkonstitution hinaus insbesondere den Bereich von Kommentierung und Deutung betrifft. Die Historisch-Kritische Gesamtausgabe der Werke und Briefe Adalbert Stifters, herausgegeben von Alfred Doppler (Innsbruck) und Wolfgang Frühwald (München), dem im Jahr 2000 Hartmut Laufhütte (Passau) nachfolgte, hat seit dem Erscheinen des ersten Bandes (1978) bislang insgesamt 26 Bände vorgelegt, davon allein 15 im Zeitraum zwischen 1995 und 2005, und damit bereits einen wichtigen Beitrag zum Stifter-Jahr 2005 geleistet. An die Ausgabe des dichterischen Werks hat sich mittlerweile die auf 12 Bände konzipierte Edition der Briefe von und an Stifter sowie dessen >Schulakten< angeschlossen. Gleichermaßen gefördert durch österreichische wie deutsche Institutionen bildet die Stifter-Ausgabe, deren Redaktion bei der Kommission für Neuere deutsche Literatur der Bayerischen Akademie der Wissenschaften angesiedelt ist, zudem ein grenzübergreifendes bilaterales Gemeinschaftsunternehmen: ihre Bandherausgeberinnen und -herausgeber arbeiten in Linz, Salzburg, Innsbruck, Passau und München. Wobei nicht vergessen werden soll, daß wichtige Bände der Edition nicht ohne die Kooperations- und Hilfsbereitschaft der Martin-Bodmer-Fondation in Genf wie der Handschriftenabteilung der Prager Staatsbibliothek »Klementinum« hätten entstehen können: sie seien an dieser Stelle ebenso bedankt wie die Bayerische Staatsbibliothek in München und das AdalbertStifter-Institut in Linz, die ihre Stifter-Handschriften ebenfalls bereitwillig der wissenschaftlichen Forschung zur Verfugung stellen. Wenn die Historisch-Kritische Stifter-Ausgabe über die oben genannten Symposien hinaus auf unmittelbare wie indirekte Weise dazu beigetragen hat, eine Fülle weitergehender Stifter-Projekte zu initiieren, so sei neben Monographien, Habilitationsschriften, Dissertationen und wissenschaftlichen Aufsätzen insbesondere an die (diesen Publikationen oft vorgelagerten) Tagungen und Kongresse erinnert, die sich mit dem Werk, der Person und nicht zuletzt der facettenreichen Rezeptionsgeschichte Stifters befaßt haben. Denn von einem >übersehenen< oder gar >vergessenen< Autor läßt sich im Falle Stifters nicht sprechen, im Gegenteil: es dürfte nur wenige Autoren des 19. Jahrhundert geben, denen zumal in den beiden zurückliegenden Jahrzehnten eine solche Fülle internationaler Konferenzen zuteil geworden ist: sei es in London, Haute-Bretagne, München, Linz, Rom, Antwerpen, Passau und Mailand, schließlich 2003 wiederum in London und Linz-St. Magdalena. Dabei läßt sich diese Stifter->Renaissance< mit Fug und Recht als eine Wieder-, genauer: als eine Neuentdeckung beschreiben, worum sich freilich nicht nur die Literaturwissenschaft, sondern in gleichem Maße jene Autorinnen und Autoren verdient gemacht haben — zu denken ist an Peter Handke, Julian Schütting, Peter Rosei, Thomas Bernhard, Hermann Lenz, Arnold Stadler und andere die sich mit Blick auf eigene Projekte von Stifters Prosa fasziniert zeigten und in dessen Themenwahl, vor allem aber seiner Poetik der minutiösen Aufmerksamkeit für alles scheinbar Nebensächliche eine eigentümliche Modernität entdeckt und beschrieben haben. Diese Annäherungen waren zumeist lohnend, oft aufregend, und was hier in fruchtbaren Dialogen und Bezugnahmen erarbeitet worden ist, hat seinen Niederschlag in einer wissenschaftlichen Literatur gefunden, die in

Vorwort

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ihrer Breite wie ihrer Vielfalt längst einen umfassenden Forschungsbericht verdiente, der in diesem Vorwort weder geleistet werden kann noch soll. So notwendig die >Übersetzungen< Stifters in einen zeitgenössischen Verstehenshorizont waren und sind, so stoßen diese Aktualisierungen - jedenfalls im Verständnis der Herausgeber dieses Bandes — dort an ihre Grenzen, wo sich die Modernitätsdiskurse sowohl von den Quellen beziehungsweise den historischen Bedingungen und Bedingtheiten der Texte und ihres Autors zu lösen beginnen — weshalb es ein wichtiges Ziel des Linzer Symposions war, die möglichen Grenzen dieser Modernität ins Blickfeld der Überlegungen zu rücken und genauer zu bestimmen. Wenn »Wissenschaft« einen Schwerpunkt der Konferenz bildete, so sollten hier die oftmals prägenden Einflüsse näher untersucht werden, die Stifter Werken und Lehrbüchern zeitgenössischer Naturwissenschafder wie etwa Andreas Baumgartners oder Philosophen wie Joseph Calasanz Likawetz' verdankte; dem entsprach der interdisziplinäre Ansatz des Symposions: neben Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschafdern waren auch Historiker und Naturwissenschafder um Beiträge gebeten worden. Dabei wurden den Referentinnen und Referenten keinerlei methodische Einschränkungen vorgegeben. In einem zweiten Schwerpunkt »Biographie« galt das Augenmerk nicht nur autobiographischen Aufzeichnungen Stifters, sondern ebenso der Sichtung älterer wie der kritischen Prüfung neuerer Biographien dieses Autors, dessen Vita prädestiniert zu sein scheint, sich von den traditionellen Mustern der >klassischendoppelten Optik< war auch der letzte Schwerpunkt »Poetik« verpflichtet, der als Experiment insofern angelegt war, als die Referentinnen und Referenten in Form eines >re-readings< — dem >Wiederlesen< bekannter, von ihnen oder anderen schon behandelter Texte - die Gelegenheit nutzen sollten, in einem bewußten Akt methodischer Selbstreflexion einmal gewonnene Standpunkte und Einsichten zu modifizieren, zu revidieren oder zu korrigieren, um so neue Perspektiven auf vertraute Texte zu eröffnen und deren noch nicht aktualisiertes Potential zu Tage zu fördern. Ohne großzügige finanzielle Förderung wäre das Symposion selbstverständlich nicht möglich gewesen. Zu danken ist dem Land Oberösterreich, dem Adalbert Stifter-Institut Linz, der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, ebenso dem Bildungszentrum Linz-St. Magdalena als dem >Hausherrn< dieser Tagung. Ein herzlicher Dank gilt neben den Autorinnen und Autoren dieses Bandes allen Teilnehmern der Linzer Tagung für ihre engagierten Diskussionsbeiträge, die an mehr als einer Stelle in die ausgearbeiteten Fassungen der Vorträge eingeflossen sind. München, im Herbst 2004

Die Herausgeber

χ Stifters Werke werden, sofern sie bereits in der Historisch-Kritischen Ausgabe vorliegen, nachfolgend nach dieser zitiert und dabei abgekürzt mit der Sigle WuB, sowie der Bandund Seitenzahl. Adalbert Stifter: Werke und Briefe. Historisch-Kritische Gesamtausgabe. Im Auftrag der Kommission für Neuere deutsche Literatur der bayerischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben von Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald, ab 2002 von Alfred Doppler und Hartmut Laufhütte. Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1978ff. Folgende Bände sind bereits erschienen: 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1,9 2.1 2.2 2.3 2.4 3.1 3.2 4.1 4.2 4.3 5.1 5.2

Studien. Journalfassungen. Erster Band. Herausgegeben von Helmut Bergner und Ulrich Dittmann. 1978. Studien. Journalfassungen. Zweiter Band. Herausgegeben von Helmut Bergner und Ulrich Dittmann. 1979. Studien. Journalfassungen. Dritter Band. Herausgegeben von Helmut Bergner und Ulrich Dittmann. 1980. Studien. Buchfassungen. Erster Band. Herausgegeben von Helmut Bergner und Ulrich Dittmann. 1980. Studien. Buchfassungen. Zweiter Band. Herausgegeben von Helmut Bergner und Ulrich Dittmann. 1982. Studien. Buchfassungen. Dritter Band. Herausgegeben von Helmut Bergner und Ulrich Dittmann. 1982. Studien. Kommentar. Von Ulrich Dittmann. Redaktion: Walter Hettche. 1997 Bunte Steine. Journalfassungen. Herausgegeben von Helmut Bergner. 1982. Bunte Steine. Buchfassungen. Herausgegeben von Helmut Bergner. 1982. Bunte Steine. Ein Festgeschenk. Apparat. Kommentar. Teil I. Herausgegeben von Walter Hettche. 1995. Bunte Steine. Ein Festgeschenk. Apparat. Kommentar. Teil II. Herausgegeben von Walter Hettche. 1995. Erzählungen. 1. Band. Herausgegeben von Johannes John und Sibylle von Steinsdorff. Redaktion: Johannes John. 2002. Erzählungen. 2. Band. Herausgegeben von Johannes John und Sibylle von Steinsdorff. Redaktion: Johannes John. 2003. Der Nachsommer. Eine Erzählung. Erster Band. Herausgegeben von Wolfgang Frühwald und Walter Hettche. 1997. Der Nachsommer. Eine Erzählung. Zweiter Band. Herausgegeben von Wolfgang Frühwald und Walter Hettche. Redaktion: Johannes John. 1999. Der Nachsommer. Eine Erzählung. Dritter Band. Herausgegeben von Wolfgang Frühwald und Walter Hettche. Redaktion: Johannes John. 2000. Witiko. Eine Erzählung. Erster Band. Herausgegeben von Alfred Doppler und Wolfgang Wiesmüller. 1984. Witiko. Eine Erzählung. Zweiter Band. Herausgegeben von Alfred Doppler und Wolfgang Wiesmüller. 1985.

XI 5.3 5.4 5.5 6.1

6.2

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Witiko. Eine Erzählung. Dritter Band. Herausgegeben von Alfred Doppler und Wolfgang Wiesmüller. 1986. Witiko. Apparat, Kommentar. Teil I. Von Alfred Doppler und Wolfgang Wiesmüller. Redaktion: Johannes John. 1998. Witiko. Apparat, Kommentar. Teil II. Von Alfred Doppler und Wolfgang Wiesmüller. Redaktion: Johannes John. 2001. Die Mappe meines Urgroßvaters. 3. Fassung. Lesetext. Herausgegeben von Herwig Gottwald und Adolf Haslinger unter Mitarbeit von Walter Hettche. Redaktion: Johannes John. 1998. Die Mappe meines Urgroßvaters. 4. Fassung. Lesetext. Herausgegeben von Herwig Gottwald und Adolf Haslinger unter Mitarbeit von Johannes John. Redaktion: Johannes John. 2004. Die Mappe meines Urgroßvaters. 3. und 4. Fassung. Integraler Apparat. Von Herwig Gottwald und Adolf Haslinger unter Mitarbeit von Walter Hettche. Redaktion: Johannes John. 1999. Schriften zu Literatur und Theater. Herausgegeben von Werner M. Bauer. Redaktion: Walter Hettche. 1997. Wien und die Wiener, in Bildern aus dem Leben. Herausgegeben von Johann Lachinger. Redaktion: Johannes John. 2005.

Die Sigle SW verweist auf: Adalbert Stifter: Sämtliche Werke. Begründet und herausgegeben von August Sauer. Fortgeführt von Franz Hüller, Gustav Wilhelm u. a. Prag: Calve 1904ff., Reichenberg: Kraus 1925ff., Graz: Stiasny 1958ff. 25 Bände. (Reprint: Hildesheim: Gerstenberg 1972).

I. Biographie

Alfred Doppler

Adalbert Stifters Briefe als Dokumente der Selbstdarstellung

Von Adalbert Stifter sind mehr als tausend, oft sehr umfangreiche Briefe überliefert, die bis jetzt noch kaum kritisch gewürdigt worden sind. Bisher wurden diese Briefe als Interpretationshinweise ausgewertet oder als autobiographische Berichte gelesen und dienten unbefragt zur Rekonstruktion der Autorintention. Mit ihrer Hilfe wurden Lebensläufe konstruiert, die dem traditionellen Muster der Künstlerbiographie entsprachen und einen vereinfachenden Zusammenhang von Leben und Werk herstellten. Als Vorbild diente die Biographie Goethes, ein Vorbild, das Stifter selbst in seinen Briefen oft und mit Nachdruck in Anspruch genommen hat: Das gilt für die Biogaphien von Johannes Aprent angefangen, über Alois Raimund Hein, Alfred Winterstein bis zu Peter A. Schoenborn. Als Parallelen zu Goethe boten sich an: Die herzliche Bindung Stifters an seine Mutter, die Feststellung einer Sturm- und Drangzeit (Hein), die Entwicklung zu klassischer Reife und Höhe und schließlich auch die Bindung an eine geistig unterlegene Frau; denn Stifter hat nichts anderes getan, »als was Goethe im Falle von Christiane Vulpius auch getan hatte«, als er Amalia Mohaupt geheiratet hat.1 Daß auf Feststellungen von Stifter-Verehrern: »Wie wunderbar geschlossen war diese ganze Dichtergestalt,« 2 Biographen auch zu einem Gegenschlag ausgeholt haben wie Urban Roedl oder Wolfgang Matz, der die »fürchterliche Wendung der Dinge« 3 als Untertitel wählt, ist weiter nicht verwunderlich. In den älteren Biographien wird überhaupt nicht, in den neueren, wie mir scheint, zu wenig beachtet, daß es sich bei den Stifterschen Briefen nicht um schlichte Lebensberichte handelt, sondern um eine besondere Form von Literatur, um »Werke«, die nur anscheinend an einen bestimmten Adressaten gerichtet sind. Schon von Jugend an werden die Briefe von literarischen Ambitionen gesteuert und sehr bald mit dem Gedanken an eine Veröffentlichung verbunden. Sie sind daher Zeugnisse der Neigung, »sich zum Ideologen des eigenen Lebens zu machen, indem man in Abhängigkeit von einer Globalintention bestimmte signifikante Ereignisse auswählt und Verknüpfungen zwischen ihnen herstellt,« so Pierre Bourdieu in seinem Essay »Die biographische Illusion«. 4 In den Briefen wird versucht, im Leben ein zweites Leben durch Briefe hervorzubringen.

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Peter A. Schoenborn: Adalbert Stifter. Sein Leben und Werk. Bern 1992, S. 38. - Kurt Gerhard Fischers psychologische Beiträge zu einer Biographie verzichten auf die Darstellung eines Lebenslaufes. In: VASILO 10 (1961), Folge 1/2. Franz Hüller: Adalbert Stifters >WitikoAutor und Intentions Wilhelm (o. Anm. 5), S. 47 (Brief an Fanny Greipl, 15. 11. 1829). Ebd., S. 61 (Brief an Adolf Freiherrn Brenner von Felsach, 23. 8. 1833) Ebd., S. 62. Ebd., S. 63 (Brief an Adolf Freiherrn Brenner von Felsach, 20. 9. 1833). Ebd., S. 68f. (Brief an Adolf Freiherrn Brenner von Felsach, 4. 2. 1836) Ebd., S. 80 (Brief an Sigmund Freiherrn von Handel, 17. 6. 1836). Ebd., S. 70f. (Brief an Adolf Freiherrn Brenner von Felsach, 4. 2. 1836). Ebd., S. 71 (Brief an Adolf Freiherrn Brenner von Felsach, 4. 2. 1836). Ebd., S. 82 (Brief an Sigmund Freiherrn von Handel, 17. Juni 1836). Ebd., S. 96 (Brief an Sigmund Freiherrn von Handel, 20. 9. 1837).

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Alfred Doppler

die privaten, an Personen adressierten Briefe ζ. T. wörtlich in die Erzählung >Feldblumen< hinein und dienen der öffentlichen Präsentation des Autors. Neben der Differenz von tatsächlich Erlebtem und sprachlich Formuliertem enthalten die Stifterschen Selbstdarstellungen Strategien einer Selbstzensur, die naturgemäß sich einstellt, wenn Privates bewußt öffentlich gemacht wird. So sind die Briefe keine lebensgeschichtlichen Abbilder, sondern sind weithin Texte, in denen sich ein Ich erfindet, sich ästhetisch konstruiert. Allen Bemühungen zum Trotz, sich an die soziale Wirklichkeit anzupassen, erweisen sie sich auf einer deutlich erkennbaren Textebene als Alternative zu einem bürgerlichen Subjekt. Das entspricht im übrigen der literarischen Tradition seiner Zeit. Tendenzen zur Schaffung eines ästhetischen Ichs zeigen sich nicht nur in den Briefen der Romantiker, sondern auch in den in mehreren Auflagen erschienenen Briefen Wilhelm von Humboldts an eine Freundin und im Briefwechsel Goethe — Schiller; alles Briefe, die für Stifter Modellcharakter gehabt haben. Einen markanten Höhepunkt dieser Entwicklung, die bei Brentano, der Günderode und bei Heinrich von Kleist erkennbar ist, stellen die Briefe Franz Kafkas dar. Die Briefe an Feiice Bauer schreibt ein Ich, das außerhalb der Sprache nicht existiert, und dieses Ich erfindet dazu die ihm entsprechende Liebe. 22 Das ist nun exakt das Verfahren, das Stifter in den Briefen an seine Frau Amalia praktiziert hat. Wenn man die biographischen Ereignisse nicht als einen naturgegebenen Lebenslauf beschreibt, sondern als eine Abfolge von Positionen, die ein Akteur in einem ständig sich wandelnden sozialen Raum einnimmt, so wiederholen die vielen, ausführlichen Briefe an Amalia in einem anderen sozialen Umfeld das Modell der Jugendbriefe. Sie bieten eine Art Schauspiel in drei Akten. 1. Akt: 1841, das Ehepaar ist zum ersten Mal eine längere Zeit getrennt. Stifter ist zuversichtlich, daß er sich — nach extremer Not — als freier Schriftsteller wird etablieren können, und er genießt in den ersten Jahren der Ehe den offensichtlich gut geführten Haushalt. In den Briefen beschreibt er sich als verliebter Ehemann, der sich nach Ordnung und Fürsorge sehnt und der beflissen auf die Eigenarten seiner Frau eingeht. So betrauert er den Tod des Hundes »Muffi«, den er feierlich bestattet - eine ähnliche Hundegeschichte kehrt im Leben Stifters noch einmal wieder, statt Muffi ist es dann ein »Putzi«, der bestattet wird. Stifter weint um Muffi viele herzliche Tränen, »weil ich mir denken kann, daß dir das Herz weh gethan haben wird [...]. Aber denke, daß du noch mich hast.. ,«.23 Seine Tage verbringt er in höchster Kunfusion, da er vergeblich auf eine Nachricht von seiner in Ungarn weilenden Gattin wartet. Es kommt ihm der Gedanke, »daß du krank bist, oder gar schon gestorben«, er möchte beruhigt werden, damit er keine »Narrenstreiche« begehe, »denn die einmahl aufgeregte Fantasie sinnet sich die abentheuerlichsten Sachen aus — bald bist du ertrunken, bald hast du Fieber, und so weiter...« 24 Schon tags zuvor hatte

22

23 24

Vgl. Karl Heinz Bohrer: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität. München 1987. Mit literarisierten Briefen beschäftigt sich auch Anette C.Anton: Authentizität als Fiktion. Briefkultur im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart 1995. Sie versteht den Briefwechsel Herder — Caroline Flachsland als Ersatz für ein nicht gelebtes Leben. Liebe ist nur in der Verschriftlichung anwesend. SW. Bd. 17, S. 90 (Brief an Amalia Stifter, 21. 8. 1841). Ebd., S. 89 (Brief an Amalia Stifter, 21. 8. 1841).

Adalbert Stifters Briefe als Dokumente der Selbstdarstellung

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er befürchtet, daß Amalia »gar schon gestorben sei« 25 und schließlich bittet er sie, »sei so gut und stirb nur diese 14 Tage nicht«. 26 Der pathetische Lobpreis, der » w a h r e e h e l i c h e L i e b e « 2 7 feiert, und die Häufung von Todesbefürchtungen hat den Tiefenpsychologen Alfred Winterstein »verdrängte feindselige Regungen, ja Todeswünsche« vermuten lassen. 28 Doch Winterstein übersieht die Stilisierungstendenz unkontrollierter Emotionen, die diesen Briefen einen grotesk-komischen Unterton geben. 2. Akt: Stifter schreibt in den ersten Jahren seiner Amtstätigkeit als Schulrat von seinen Inspektionsreisen Briefe nach Linz. Es handelt sich dabei um sehr umfangreiche schriftliche Plaudereien, in denen Stifter die Sehnsucht nach der Bequemlichkeit seiner Wohnung artikuliert. Er lebt noch im Einklang mit seiner Amtstätigkeit und verfaßt heitere literarische Skizzen, in einem Gasthaus sitzend, hungert er ζ. B. einem »Schnizel« 25 entgegen und freut sich im Schreiben über die Möglichkeit, literarisch eine gute Ehe zu führen. 3. Akt: Von diesem leichten Plauderton ist in der dritten und weitaus umfangreichsten Gruppe der Amalia-Briefe nichts mehr zu spüren. Stifter empfindet fortan seine Amtstätigkeit als Fron, die seine eigentliche Verwirklichung als Schriftsteller verhindert, er hält mit hohem finanziellem Aufwand einen Status aufrecht, den er sich als ein Bürger, der zu den Honoratioren der Stadt zählt, glaubt schuldig zu sein, er leidet an der innen- und außenpolitischen Entwicklung (Neoabsolutismus und verlorener Krieg Österreichs in Italien) und ist 1859 zusätzlich der üblen Nachrede ausgesetzt, die ihm nach dem Selbstmord der Ziehtochter Juliane entgegenschlägt und die besonders gegen Amalia gerichtet war. Der Hang zu üppigen Mahlzeiten steigert sich zu maßlosem Essen und Trinken.' 0 All das führt schließlich zu einer Krankheit, die Stifter als »Nervenübel« 31 bezeichnet. Gegen diesen verdüsterten Alltag schreibt Stifter mit einer Intensität an, die zu einem ganzen Band (wie er selber feststellt) von Briefen an Amalia führt. Die Fiktionen der Briefe sind ihm wichtiger als die Fiktionen seiner literarischen Werke, wichtiger als das »Geschreibsel« am >WitikoAlte Meistere »Von Stifter sind nur die Briefe gut«, 78 ist insofern keine willkürliche Behauptung, weil in den Briefen Stifters deutlich wird, wie jemand »mit Haut und Haaren dieser un-

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SW. Bd. 19, S. 257 (Brief an Gustav Heckenast, 17. 12. 1860). SW. Bd. 18, S. 88 (Brief an J. Mörner, 26. 9. 1851). »Wenn mir nun von edleren und tieferen Menschen ein Zeichen kömmt...« Ein unveröffentlichter Brief Stifters. Von Helmut Bergner. In: Vasilo 28 (1979), Folge 3/4, S. 80. Vgl. SW Bd. 18, S. 89 und 284; SW. Bd. 20, S. 595, 601 und 611; SW. Bd. 21, S. 620. SW Bd. 18, S. 89 (Brief anj. Mörner, 26. 9. 1851). SW Bd. 21, S. 237 (Brief an Gotdob Christina Friedrich Richter, 21. 6.1866). Ebd,S. 266. Thomas Bernhard: Alte Meister. Frankfurt a. M. 1985, S. 82

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Alfred Doppler

heimlichen Welt ausgeliefert« 7 ' ist und im Schreiben versucht, »mit dieser Welt und ihren Widerwärtigkeiten fertig zu werden«. 80

79 80

Ebd., S. 300. Ebd., S. 302. — Das prekäre Verhältnis und Realität und Fiktion wird bei Thomas Bernhard besonders in den späten Erzählungen thematisiert, wie dies Barbara Mariacher in ihrer Arbeit (»Umspringbilder«: — Erzählen — Beobachten — Erinnern: Überlegungen zur späten Prosa Thomas Bernhards. Frankfurt a. M. 1999) nachgewiesen hat. Aus diesem Grund ist Reger mit Stifter »sehr nahe« verwandt (S. 99) und beteuert: »Mit Stifter verwandt zu sein, war mir mein ganzes Leben eine kostbare Ungeheuerlichkeit gewesen« (S. 97).

Karl Wagner Stifter-Biographik. Stifters Leben nach seinem Tod bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts »Aber ich hätte ihn fast lieber oben, in der Verklärung« (Rosegger über Stifter) 1

»Was das Leben angeht, so werden das unsere Dienstboten für uns tun«, heißt es, für mich bislang leider nicht verifizierbar, bei Villiers de l'lsle-Adam. 2 Dieser schöne, aristokratischdekadente Zynismus des 19. Jahrhunderts reproduziert sich — analog — im akademischen Feld im Verhältnis von Künsderbiographik und literarischer Werkanalyse. 3 Zumindest für den deutschsprachigen Markt schien bis vor kurzem zu gelten, was auch für diesen die längste Zeit nicht galt: Akademische Reputation ist mit Dichterbiographik nur schwer zu gewinnen, weil die Biographie im Rufe steht, nicht wissenschaftsfähig zu sein. Der in jüngster Zeit wohl mühelos verifizierbare Boom an Dichterbiographien auch in den deutschsprachigen Ländern bezeugt, überspitzt gesagt, vor allem eins: den Abbau von akademischen Berufsmöglichkeiten. Die davon Ausgeschlossenen schreiben Biographien in der Hoffnung auf ein Überleben auf dem literarischen Markt, der sich hinwiederum immer konsequenter der akademisch-wissenschaftlichen Literatur verschlossen hat. Alle vom akademischen Betrieb Gekränkten hoffen indes - bis auf weiteres wohl vergebens — auf angelsächsische Verdienstmöglichkeiten in diesem Genre. Zur Illustration von symbolischem und ökonomischem Gattungskapital nur ein paar Hinweise: Im Jahre 1995 berichtete die englische Zeitung >The GuardianThe Guardian*, 31.8. 1995. Vgl. Paula R. Backscheider: Reflections on Biography. Oxford 1999, S. 182.

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Kar! Wagner

eine Biographie zu schreiben, ohne damit seinen akademischen Kredit zu verlieren, und, vielleicht wichtiger, es gibt ein ausgeprägteres akademisches Interesse, sich mit diesem nichtfiktionalen Genre analysierend zu befassen, als im deutschsprachigen Bereich, wo nichtfiktionale Gattungen prinzipiell vernachlässigt werden. In T. S. Eliots berühmtem Essay >Tradition und individuelle Begabung< aus dem Jahre 1919 heißt es: »Die Entwicklung des Künsders besteht in einem unaufhörlichen Selbstopfer, einem ständigen Auslöschen der eigenen Persönlichkeit.« 6 Diese Entpersönlichung bildet für Eliot die Voraussetzung, »daß die Kunst sich der Haltung der Wissenschaft nähere«. Und nicht ohne Absicht wird aus dem chemischen Gleichnis von der Bildung der Schwefelsäure gefolgert: »Je vollkommener der Künsder ist, um so entschiedener wird sich in ihm eine Kluft auftun zwischen dem erlebenden Menschen und dem schaffenden Geiste; um so vollkommener wird der letztere die Leidenschaften, die seinen Stoff bilden, in sich verarbeiten und verwandeln.« Der ebenso herrische wie heroische Gestus dieser Trennung von Leben und Geist lebte lange Zeit — wenngleich mit durchaus anderen Begründungen - als implizites Kriterium zumindest in der Literaturwissenschaft fort, vom New Criticism, dem Russischen Formalismus bis zum Strukturalismus und der Dekonstruktion. In der Praxis werkimmanenten Interpretierens - im universitären und schulischen Alltag - wurde dieses Kriterium dadurch umgangen, dass zumindest in den diversen Gattungen der Hochschulschriften, bei prinzipieller Absage an den »Biographismus«, den mehr oder weniger kunstvollen Exegesen eine zumeist eher kunstlos verfasste Vita des behandelten Autors vorangestellt wurde, eine leere Deutungsgeste, die lediglich auf einen früher einmal plausiblen Zusammenhang von Leben und Werk verwies. Im Falle der Dekonstruktion wurde das Verfemte, die Biographie, in einem unfreundlichen Akt gegen die Verdrängungen eines ihrer prominentesten Repräsentanten, Paul de Man, und zugleich zur Diskreditierung der Methode eingesetzt, mit dem Effekt, daß der Verteidiger, Jacques Derrida, Biographie und Historie ins Spiel bringen mußte, um de Mans kollaborative Artikel und sein nachmaliges Schweigen zu erklären. In diesem von Häme geprägten Kampf wurde Biographie als Waffe benutzt, um eine Theorie mit dem Leben eines ihrer Begründer zu diskreditieren, nicht etwa aufgrund von bestimmten Prämissen dieser Theorie. Der Rekurs auf die Trennung von Leben und Werk war für die Verteidiger de Mans nicht möglich, weil sie unter dem spezifischen Kontext nur als Verdrängung lesbar war, wie auch immer der fortgeschrittenste Stand der Freud-Dekonstruktion formuliert sein mochte. Die etwas unfeine Art, mit der sich hier das Leben am Geist, sprich: die Biographik an der Theorie gerächt hat, ist verallgemeinerbar und könnte als der Schatten von Eliots emphatischer Trennung bezeichnet werden. Eliots Essay ist im übrigen als verschwiegener Begründungstext heutiger Intertextualitätsdebatten zu lesen, denn statt des Inbeziehungsetzens von Leben und Werk plädiert er für die Konfrontation des neuen Werks mit der Reihe seiner Vorgänger. Eliots Geistesaristokratismus, nicht untypisch für die Intelligenz der 20er Jahre und damit auch für Tendenzen der Stifter-Rezeption, die durchaus als Indikator dieses geistesaristokratischen Verhältnisses der literarischen Intelligenz zu

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T.S. Eliot: Tradition und individuelle Begabung [1919], Übers, v. Hans Hennecke. In: Essays 1. Frankfurt a. Μ 1988, S. 350; die folgenden Zitate S. 351.

Stifter-hiographik. Stifters Leben nach seinem Tod bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts

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den Massen gelten darf, sucht eine Verbindung von Leben und Werk zu unterbrechen, der eine explanatorische Kraft für das Werkverständnis zugesagt wird. Merkwürdigerweise hat sich die Zunft der Biographen kaum dazu bequemt, aus diesem Interpretationsgebot oder vorsichtiger: Interpretationsvorbehalt den Schluß zu ziehen, Künstlerbiographien zu schreiben, ohne das Werk einzubeziehen. Im Falle Stifters war das schon aufgrund des Topos schwierig, der dem Leben dieses Autors Simplizität und Ereignislosigkeit bescheinigte. In Eric A. Blackaüs 1948 erschienener Studie, der ersten englischen Monographie über Stifter, heißt es: »The best biography in German [gemeint ist Alois Raimund Heins Biographie aus dem Jahre 1904, K. W ] has long been out of print. But I have not been concerned primarily with biography, for Stifter's life is only interesting for what it tells us of the mind which conceived great works of the poetic imagination. It is not a great life, and there is nothing glamorous or mystifying about Stifter as a person. But the works themselves demand special treatment ...«7 Blackalls Lakonie wird man im zeitgenössischen Kontext wohl auch als Strategie verstehen dürfen, den Aufruhr über biographische Fakten, Stifters Todesart betreffend, nicht noch weiter anzufachen und damit das Interesse vom Werk abzuziehen. Es gehört zum Bemerkenswerten der 1936 erstmals erschienenen und 1958 revidierten »Geschichte« von Stifters Leben, dass ihr Verfasser, Urban Roedl (das ist: Bruno Adler), tatsächlich auf Werkerklärungen aus der Biographie weitgehend verzichtet hat. Das heißt allerdings nicht, dass Roedl diesen Zugang prinzipiell für unzulässig gehalten hätte. Denn in einem wohl besonders für die Sparte der Dichterbiographie charakteristischen Interesse daran, was das biographierte Subjekt gedacht hat, wird sehr oft dessen Denken aus dem Werk hergeleitet. »Auf die Werke Stifters geht dieses Lebensbild nur so weit ein, als ihre Gedanken und Fragen für den Werdegang des Dichters bedeutsam sind. Daher bietet es keine erschöpfenden Analysen und keine psychologischen Deutungen; doch glaubt es das Material für diese nicht unwesentlich vermehrt zu haben«. 8 Zu Recht hat Joachim W Storck gezeigt (und mit reichem Kontextwissen untermauert), daß Roedls Satz: »Dieses Leben — ein Heldenleben, weil es mächtig im Wollen und Verzichten war und triumphierend unterging — mag überdies manchen Beitrag zu den dringendsten Anliegen von heute und morgen enthalten«, 9 in bewußtem Kontrast zu den Forderungen des nationalsozialistischen Tages steht. Entgegen dem ersten Anschein setzt Roedl nicht auf das von Carlyle am nachhaltigsten proklamierte Programm eines zur Heldenverehrung tauglichen Dichterlebens, das zu einer Dominante der Gattung Biographie schon im 19. Jahrhundert gehörte und das Genre auf das Leben der Großen verpflichtete, also zur Remythisierung im Sinne des großen Individuums. Kontrafaktisch zu dieser Heroisierungstendenz setzt Roedl Stifters Größe an, was für ihn nicht ohne Folgen blieb, wie er selbst im Vorwort zur Neuauflage schrieb und was von Storck eindrücklich bestätigt wurde: »Kennzeichnend für den kritischen Ton, der dem System von damals entsprach, war die Empfehlung eines seiner Kunstrichter, den Verfasser dieser Biographie kurzer-

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Eric A. Blackall: Adalbert Stifter. A Critical Study. Cambridge 1948, S. 2. Urban Roedl: Adalbert Stifter. Geschichte seines Lebens. Berlin 1936, S. 6. Ebd., S. 5.

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Karl Wagner

hand unschädlich zu machen.« 10 In finsterer Zeit wird ein Impuls virulent, der den »biographical appetite«, so Carlyle, des 19. Jahrhunderts entschieden stimulierte: Biographik steht im Dienste einer moralischen Nutzanwendung für das Leben des Lesers; im Falle von Roedl lief diese freilich auf eine letale Drohung hinaus, weil er die Applikation darin sah, mit Stifter Einspruch gegen die geltende Unmoral seiner Gegenwart zu erheben, statt diese mit Stifter zu befestigen. Daß eine solche Drohung von Leuten kam und kommen konnte, die sich auf Stifter beriefen, jedenfalls zu berufen suchten, zeugt von den besonderen Schwierigkeiten, von einem Leben, das zumindest posthum nur als erzähltes, angeeignetes zu haben ist, jene Eindeutigkeit zu erwarten, von der man nur wünschen kann, daß sie uns — biographisch — nicht abverlangt wird. Diese Ambivalenz der Gattung Biographie und der dokumentarischen Lebenszeugnisse - von einem oberösterreichischen Autor der Gegenwart, Walter Pilar, ingeniös mit dem Sammelbegriff »Biografföweak« bezeichnet - erklärt vielleicht, warum etwa in der jüngsten angelsächsischen Gegenwart in einem Jahr sieben Biographien von George Eliot unter Vertrag genommen werden konnten. 11 Dieses Beispiel drängt sich auch deshalb auf, weil das Leben dieser großen Intellektuellen narrativ kaum ergiebiger ist als jenes von Stifter. Sieben George-Eliot-Biographien in einem Jahr - das übertrifft die Zahl aller Stifter-Biographien in dem hier behandelten Zeitraum von grob gesprochen achtzig Jahren, von seinem Tod bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs! Die Ambivalenz selbst ist gattungsgeschichtlich gesehen eine Erbschaft des 19. Jahrhunderts, das die Biographie vornehmlich als Pendant zur zeitüblichen Denkmalsucht verstand und mit entsprechend hagiographischen Verfahren operierte. Dieser Sachverhalt mochte im übrigen den falschen Eindruck erwecken, die psychoanalytische Biographie, sprich: die Pathographie, sei als Bruch mit dem 19. Jahrhundert zu verstehen. Freuds Imperativ aus dem Jahre 1909: »Auch die Biographik muß unser werden« 12 klingt denn auch nicht nach Verwerfung, sondern nach höchst erwünschter Aneignung der Biographik zum Zwecke der Popularisierung der neuen Disziplin der Psychoanalyse, die beanspruchte, eine Wissenschaft zu sein oder doch werden zu wollen. Das Gattungsmodell der »Biographie des 19. Jahrhunderts« warf nach 1900 Popularität und öffentliche Aufmerksamkeit besonders dann ab, wenn dessen hagiographische Harmonieprämissen entzaubert werden konnten. Bei genauerem Hinsehen ist aber in der Biographik des 19. Jahrhunderts das Verfahren der Entmythisierung des Einzellebens längst vorgeprägt. David Friedrich Strauß vermochte mit seinem »Leben Jesu« theologische Gewißheiten am nachhaltigsten mit dem Genre der Biographie zu erschüttern; er wußte aber auch, daß

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Urban Roedl: Adalbert Stifter. Geschichte seines Lebens. Bern 1958, S. 7. - Vgl. Joachim W Storck: Adalbert Stifter im Exil. Urban RoedJ (Bruno Adler) als Stifter-Biograph und Stifter-Interpret. In: Adalbert Stifter. Studien zu seiner Rezeption und Wirkung II: 1931-1988. Kolloquium II. Hrsg. von Johann Lachinger. Linz 2002 (= Schriftenreihe des Adalbert-Süfter-Institutes des Landes Oberösterreich. F. 40), S. 61-74. Vgl. >Times Literary Supplement, 18. 8.1995. Sigmund Freud an Carl Gustav Jung. In: Freud, Sigmund / Jung, C.G.: Briefwechsel. Hrsg. v. William McGuire u. Wolfgang Sauerländer. Zürich 1976, S. 280.

Stifter-Biographik. Stifters lieben nach seinem Tod bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts

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mit dem religiösen Zerfall ein »Cultus des Genies« korrespondierte, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Edgar Zilsel als »Geniereligion« kritisiert wurde. 13 Stifter blieb von diesen Tendenzen der Biographik zunächst weitgehend verschont, da er mit seinem Tod im Loch des Unzeitgemäßen zu verschwinden drohte. Anläßlich der noch zu seinen Lebzeiten publizierten Lebensbeschreibung durch seinen oberösterreichischen Landsmann und Freund Heinrich Reitzenbeck, die Max Stefl 1948 neu edierte, verwahrte sich Stifter gegen die Absicht des Herausgebers der Zeitschrift >LibussaMein Leben< als »Wälder« bezeichnet hat. Es sind Dokumente, die resistent sind gegenüber psychologischen Lektüren. Ein gemeinsamer Zug zur extremen Stilisierung, Veräußerlichung und Verschwiegenheit scheint Stifters Lebenszeugnisse mit seinem künstlerischen Werk zu verbinden. Auffällig sind in dieser Hinsicht nicht nur die Briefe, die Stifter im Hinblick auf die Nachwelt einer massiven Stilisierung unterzog,16 zu denken ist auch an die sogenannten »Tagebücher«, traditionell die Geburtsstätten moderner Individualität und wertvolle Dokumente für die Beglaubigung biographischer Erzählungen. Stifters 1854 begonnenes >Tagebuch über Malerarbeiten 17 ist dagegen nichts als ein pedantisch

Wolfgang Matz: Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung der Dinge. Biographie. München, Wien 1995, S. 245. 12 Franz Baumer ( o. Anm. 10), S. 8. " Moriz Enzinger: Adalbert Stifter im Urteil seiner Zeit. Festgabe zum 29. Jänner 1968. Wien 1968, S. 302. 14 Siehe etwa das Kapitel »Ende« bei Peter A. Schoenborn: Adalbert Stifter. Sein Leben und Werk. Bern 1992, S. 5 3 7 - 5 5 9 . 15 W.G. Sebald: Bis an den Rand der Natur. Versuch über Stifter. In: W. S.: Die Beschreibung des Unglücks. Zur österreichischen Literatur von Stifter bis Handke. Salzburg 1985, S. 15—37. 16 Zur Stilisierung und Literarisierung der Stifterschen Briefe vgl. Alfred Doppler: Adalbert Stifters »Herzens- und Freundschaftsbriefe«. In: Adalbert Stifter. Tra filologja e studi cultural!. Atti del convegno di Milano 11 e 12 Novembre 1999. Hrsg. von Maria Luisa Roli. Milano 2001, S. 73-82. 17 Adalbert Stifter: Tagebuch über Malerarbeiten. In: S W Bd. 14, S. 3 4 2 - 3 5 0 . 11

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geführtes Register der Arbeitszeiten in Monaten, Tagen, Stunden, ja Minuten, in dem der Autor akribisch Buch führt über seine Malerei und ihre Gegenstände. Es stellt sich als das Dokument einer obsessiven Selbstkontrolle dar, in dem die Lebenszeit zerstückelt und archiviert wird. »Heiterkeit«, »Sehnsucht«, »Ruhe«, das sind hier tabellarisch verzeichnete Namen, die von den Landschaftsbildern gleichsam belebt werden sollen. In der letzten Tabelle dieses Tagebuchs, die sich auf den August 1867 bezieht, findet sich immer derselbe Satz in zwanzigfacher Wiederholung: »An der Ruhe gemalt«. 18 Noch befremdlicher wirkt das hypochondrische Tagebuch der letzten Lebensjahre >Mein Befinden^ in dem sich das Ich ganz in die physiologischen Funktionen von Schlaf, Appetit und Verdauung entäußert. Die peinlich banalen und zwanghaften Züge dieser Dokumente sind Effekte eines Schweigetrainings des biographischen Subjekts, das dem hermeneutischen Verständnis nach die Einheit seines Lebenslaufs, ausgehend von der »Bedeutsamkeit bestimmter Erlebnisse« stiftet, die dann in der »biographischen Erkenntnis von anderen nacherlebt und verstanden« 19 werden können. Was Stifters letzte autobiographische Schriften betrifft, erscheint nun eines bemerkenswert: Während Stifter am Ende seines Lebens in Briefen, mündlichen Erzählungen und Anekdoten bereits seine postume biographische Legende fesdegen will, spricht aus diesen Schriften der größte Vorbehalt gegen die Biographisierung des Lebens. Diese Texte geben eine andere Form der Lebensschrift zu lesen, die dazu tendiert, die individuelle Biographie, das heißt, die Bedeutsamkeit und den Zusammenhang des Erlebten auszulöschen. Es soll hier um den Versuch einer unpsychologischen Lesart gehen, die das Fremde fremd läßt, die ihm also kein vertrautes und oft nur allzu menschliches Gesicht verleiht, der Versuch — so könnte man es formulieren - einer partiellen Revision der Prosopopöie, der Trope der Gesichtsverleihung, die der Gattung Biographie zugrunde liegt.20 Physiognomisch wäre diese Lektüre nur insofern, als sie mit der Zeichenschrift des Körpers auch jenen »Rand der Natur« nachzeichnen will, an den die Lebensgeschichte Stifters grenzt und an dem sich die Gesichter des geschichtlichen Individuums verdunkeln. Ich konzentriere mich auf das Fragment >Mein Leben< und den Bericht >Aus dem baltischen Waldec, die mit Anfang und Ende des Lebens auch die Grenzen der Biographie beleuchten können. Geburt und Auslöschung des autobiographischen Ich schließen sich hier auf eine Weise zusammen, die einer narrativen Entfaltung der Lebensgeschichte keinen Raum läßt.

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Ebd., S. 350. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grund2Üge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1960, S. 210. »Der Zusammenhang eines Lebens, wie er dem einzelnen aufgeht (und in der biographischen Erkenntnis von anderen nacherlebt und verstanden wird), wird durch die Bedeutsamkeit bestimmter Erlebnisse gestiftet. Von ihnen aus, wie von einer organisierenden Mitte her, bildet sich die Einheit eines Lebensverlaufs.« Diese rhetorische Figur wird insbesondere der Autobiographie zugrundegelegt bei Paul de Man: Autobiographie als Maskenspiel. In: P. M.: Die Ideologie des Ästherischen. Hrsg. v. Christoph Menke. Frankfurt a. M. 1993, S. 131-146.

Grenzen der Lebensbeschreibung

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II. »Ein alter Mann sitzt am Tisch und schreibt. Schreibend hat er sein Leben gelebt und schreibend erfahrt er sein Ende«; dieser Satz, 21 der im Einleitungskapitel der Biographie von Wolfgang Matz leitmotivisch wiederholt wird, bezieht sich auf den September des Jahres 1866, als Stifter in das Geburtshaus nach Oberplan zurückkehrt, um - inspiriert vom genius loa — an seiner Selbstbiographie zu schreiben, die er dem Verleger im Frühjahr desselben Jahres in einer Art testamentarischer Verfügung angekündigt hatte, als »Denkmal meines Gemüthes und Herzens«. 22 Diese Antizipation einer schriftlich fixierten Selbstdarstellung, die erst post mortem der Lektüre freigegeben wird, beleuchtet nicht allein die geistige und körperliche Verfassung ihres Autors, sie verweist auch allgemeiner auf die klassische Schreibsituation der Autobiographie, die sich an der Grenzscheide von Leben und Tod ansiedelt. Von dieser angekündigten Schrift, die als Andenken bestimmt ist, existieren nur einige »alte Blätter«, herausgerissen aus dem Buch des Lebens, das Stifter niemals geschrieben hat. Unter dem Titel >Mein Leben< enthalten die das Versprechen eines autobiographischen Pakts, der nie unterzeichnet wurde. Auf der Grundlage eines ersten korrigierten Bruchstücks setzt Stifter wiederholt zu einer Umschrift an, die dann allerdings über die einleitenden Worte nicht hinauskommt. Eine der späteren Fassungen schließt etwa mit der programmatischen Erklärung: »Und so beginne ich, wie mein Dasein aus dem Dunkel hervor wuchs«; 23 eine andere Abschrift der Einleitung bricht noch vor der Erwähnung des eigenen Lebens ab.24 Mehrfach wurde schon auf die Sonderstellung hingewiesen, die dieses einmalige Bruchstück in der Geschichte der Autobiographie einnimmt: Dokument für die »Entsubjektivierung des Ich«, die »literarisch auf neue Art signifikant wird«, 25 für das psychogenetische Substrat von Stifters Zeichenwelt und deren traumatische Markierung. 26 Erzählt wird keine autobiographische Geschichte, vielmehr die Genese eines Schreibens, das an die Stelle der sozialen Geburt des Individuums tritt. »Es ist das kleinste Sandkörnchen ein Wunder, das wir nicht ergründen können«; so beginnt Stifters Fragment, um aus dieser Haltung demütigen, ja ohnmächtigen Staunens das Leben des Ich hervorgehen zu lassen: »Ich bin oft vor den Erscheinungen meines Le-

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Der Satz liest sich als Echo einer Bemerkung, die Stifter gegen Ende seines Lebens über die Spätfassung der >Mappe< machte, nämlich es gehe hier »um viel wichtigere Dinge, als daß ein alter Mann vor einem Schreibtisch sitzt« (SW Bd. 22, S. 166, Brief an Gustav Heckenast, 10. 11. 1867). SW. Bd. 21, S. 195 (Brief an Gustav Heckenast, 8. 4. 1866). Abgedruckt in: SW. Bd. 25, S. 182. Vgl. auch die Einleitung in demselben Band, S. L X X I LXXV. Für die Kopien der Manuskripte (Prager Stifter Archiv Nr. 158) möchte ich mich an dieser Stelle sehr herzlich bei Herrn Hofrat Dr. Johann Lachinger und bei Herrn Dr. Johannes John bedanken. Helmut Pfotenhauer: »Einfach.. .wie ein Halm«: Stifters komplizierte kleine Selbstbiographie. In: DVjS 64 (1990), S. 134-148, hier S. 141. Christian Begemann: Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren. Stuttgart/Weimar 1995, Kap. 11,2, S. 95-110. Vgl. dazu: Isolde Schiffermüller: Buchstäblichkeit und Bildlichkeit bei Adalbert Stifter. Dekonstruktive Lektüren. Bozen, Innsbruck, Wien 1996, Kapitel 1,4, S. 97-122. Vgl. auch den Abschnitt »Autobiographische Schriften« bei: Mathias Mayer: Adalbert Stifter: Erzählen als Erkennen. Stuttgart 2001, S. 213-216.

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bens, das einfach war, wie ein Halm wächst, in Verwunderung geraten«. 27 Hier spricht ein Pathos des Daseins, das, fern von jedem modernen Selbstbewusstsein, weniger psycho-, als theologisch motiviert wird. Während allerdings seit dem 18. Jahrhundert der Topos des Erhabenen zum Sprungbrett emphatischer Selbstdarstellung wird - vor Gott oder vor sich selbst — verzichtet Stifter auf alle spezifisch autobiographischen Sprechakte der Rechtfertigung des Selbst - Beichte, Bekenntnis oder Geständnis —, die die »abendländische Herzensschrift« 28 begründen. Statt dessen wird das natürliche Wachstum zum Gesetz des Lebens erhoben - ein ambivalentes Gesetz, das die Grenzlinie zwischen »Natur und Schicksal« verwischt 29 und das Stifter bekanntlich das »sanfte« nannte. Großartig tauchen dann auch in Stifters Fragment die Bilder jener Schwelle auf, die der Trennung von Natur und Schicksal vorausliegt, wie »Inseln« aus dem »leeren Nichts« der Vergessenheit. »Glanz« und »Gewühl«, »Wonne und Entzüken«, 30 das Zusammenwirken »von Entsezlichem und Zugrunderichtendem« 31 — das sind keine individuellen Erinnerungen, es sind anthropologische Konstanten, »Urerinnerungen eines Volkes«, die »gewaltig fassend, fast vernichtend« 32 in das Wesen des Ich dringen. Erst nachträglich wird diesen Bildern die Trennungslinie von innen und außen eingezeichnet: »Es waren dunkle Fleke in mir. Die Erinnerung sagte mir später, daß es Wälder gewesen sind, die außerhalb mir waren«. 33 Bezeichnend für Stifters retrospektive Selbstwahrnehmung ist, daß die »dunklen Flecken« im Inneren nicht erhellt, sondern gleichsam nach außen gewendet werden. Schon vom Ansatz her gibt es bei Stifter keinen Raum der Innerlichkeit. Das Auftauchen der Außenwelt und ihre sprachliche Benennung hält das Fragment dagegen als eine kleine traumatische Szene im Gedächtnis. Es ist eine Gartenszene mit Mutter und Großmutter, erinnert wird ein »Klingen, Verwirrung, Schmerz in meinen Händen und Blut daran« und die nachfolgende »Erleichterung« auf »das Weichen des Entsezlichen und Zugrunderichtenden« mit den ersten Worten des Ich: »Mutter, da wächst ein Kornhalm«. 34 Diese Worte, in denen der Kornhalm im Fragment ein zweites Mal genannt wird, gehören einer Urszene der Sprachwerdung an, sie repräsentieren die Eröffnung der Welt in der Deixis der Sprache, in der die sinnliche Gewißheit nach Hegel aufgehoben und in gewissem Sinn auch aufbewahrt wird. 35 Die vielzitierte »fürchterliche

Zitiert wird nach der Druckfassung von >Mein Leben< in: SW. Bd. 25: Erzählungen, 3. Teil. Gedichte und Biographisches. Mit Benutzung der Vorarbeiten von Franz Hüller hrsg. von Klaus Zelewitz. Hüdesheim 1979, S. 176—181, sowie S. 181f. (»Eine der späteren Fassungen«.) 28 Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. Stuttgart, Weimar 2000, S. 74. Der Topos wird aufgegriffen bei: Manfred Schneider: Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert. München, Wien 1986. 29 Auf diesen Aspekt bezieht sich im besonderen die Kritik von Walter Benjamin: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser. Bd. 11,2. Frankfurt a. Μ. 1977, S. 608—610. Vgl. dazu den Aufsatz: Isolde Schiffermüller: Die Provokation des Unzeitgemäßen. In: Adalbert Stifter. Tra filologia e Studi culturali (o. Anm. 16), S. 195-207. 50 SW. Bd. 25, S. 177. " Ebd., S. 178. 52 Ebd., S. 177. 33 Ebd., S. 178. 34 Ebd., S. 179. 35 G.W F. Hegel. Phänomenologie des Geistes. Werke in 20 Bänden. Hrsg. v. Eva Moldenhauer und Markus Michel. Bd. 3, Frankfurt a. M. 1986, S. 85. 27

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Wendung der Dinge« findet dann ihre autobiographische Begründung im vernichtenden Urteil der Großmutter: »Mit einem Knaben, der die Fenster zerschlagen hat, redet man nicht.«36 Mit kindlicher Naivität hält dieser Satz das erste Urteil im Gedächtnis, das die Anerkennung des Ich im Medium der Sprache verweigert; es bewirkt die Enteignung jenes Lebensraums, der sich soeben aufgetan hatte: »Ich verstand zwar den Zusammenhang nicht, aber das Außerordentliche, das eben von mir gewichen war, kam sogleich wieder...«. 37 Die Bedrohung des Eigenen durch das Außerordentliche, die in Stifters Werk in vielfacher Form wiederkehrt, wirft ein erstes Licht auf das rätselhaft Einfache dieses Lebens: es meint keine naturhafte Simplizität, vielmehr das Bewußtsein, daß die einfache Tatsache eigenen Lebens prekär ist, die Angst, es könne dieses einfache Dasein auch nicht sein. Nach dieser Urszene traumatischer Sprachwerdung taucht der Kornhalm ein drittes Mal im Fragment auf, jetzt vor dem Auge des Schreibenden: »Ich sehe den hohen schlanken Kornhalm so deutlich, als ob er neben meinem Schreibtische stände.. ,«38 Am Schauplatz des Schreibens wird er zum Zeichen für die traumatische Fixierung auf den ersten Akt der Benennung, der immer von neuem eine eigene Welt eröffnen soll, um sich zu retten vor dem »Entsetzlichen und Zugrunderichtenden«. Im affektiv besetzten, »pathographischen« Fortschreiben dieses Aktes geht das biographische Subjekt als Referent der Rede unter. »Vernehmlich und bleibend«39 zeichnet sich dagegen von nun an die Stube von Stifters Geburtshaus ab, der Ursprungsort des Schreibens, zu dem der Autor sodann auch konkret zurückkehrt, um am Bruchstück seiner Lebensgeschichte zu arbeiten. Während die Biographien der Klassiker sonst ganze Schatzhäuser des kulturellen Gedächtnisses eröffnen, zeigt uns Stifters Fragment einen kargen und menschenleeren Raum, in dem sich die »großen dunkelbraunen Tragebalken der Diele«40 abzeichnen, eine tragfahige und stabile Topographie, in der sich das Ich nun verankert. Zur Grundlage solcher Absicherung werden auch die Gegenstände der Stube, insbesondere der Stubentisch: »Der Tisch war genau vierekig, weiß und groß, und hatte in der Mitte das röthliche Osterlämmlein.. .«41 Dieser Tisch ist in gewissem Sinn auch ein Schreibtisch, der poetologisch lesbar wird, denn mit den rötlichen Gestalten in seinem Holz verknüpft sich die Erinnerung an ein doppeldeutiges Wort: »Als dazumal sehr oft das Wort >Conscription< ausgesprochen wurde, dachte ich, diese rothen Gestalten seien die Conscription.«42 In der kindlichen Imagination sind dies die Gestalten einer wortwörtlich verstandenen Schrift, die den physiognomischen Dingcharakter der Namenssprache im Gedächtnis hält und die verschlossenen Affekte aufbewahrt. Das eigentlich »Leuchtende« der Erinnerung verbindet sich mit einem anderen »Ding«, dem Fenster der Stube, an dem das Kind das Lesen lernt: »Ich nahm ein Buch, machte

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SW. Bd. 25, S. 179. Ebd., S. 179. Ebd., S. 179. Ebd., S. 180. Ebd., S. 180. Ebd., S. 180. Ebd., S. 180.

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es auf, hielt es vor mich, und las: >Burgen, Nagelein, böhmisch Haidel.Da geht ein Mann nach Schwarzbach, da fahrt ein Mann nach Schwarzbach, da geht ein Weib nach Schwarzbach, da geht ein Hund nach Schwarzbach, da geht eine Gans nach Schwarzbach.(ä 44 Diese repetitive verbale Geste repräsentiert so etwas wie die Matrix von Stifters Beschreibungskunst; in ihr wird das Hinausgehen in die Welt nur beschworen, es erstirbt in einem Sprachspiel, das den Ortsnamen festhält, während die Subjekte austauschbar sind, um schließlich den unerreichbaren Ort selbst zu erbauen. »Auf diesem Fensterbrette legte ich auch Kienspäne ihrer Länge nach an einander hin, verband sie wohl auch durch Querspäne, und sagte: >Ich mache SchwarzbachSonnenfinsternis< als den »Balsam des Lebens« bezeichnet, fallt vielmehr — wie die Fensterszene zeigt - auf die Seiten des Lesebuchs und die Konstruktion der Namen, es ist ein erstmaliges Aufleuchten des Mediums, in dem sich Stifters episches Lebenswerk realisiert. 47 Stifters Prosa kennt transparente und opake Aggregatzustände dieses Mediums. Die Kehrseite jener Helligkeit, die im Fragment

die schöpferische Matrix von Stifters großer Epik

sichtbar macht, zeigt sich im Erlebnisbericht >Aus dem bairischen Walde< in der »weißen Finsternis«, 4 8 die die Stiftersche Topographie zum Verlöschen bringt.

III. D e r Erlebnisbericht >Aus dem bairischen WaldeDie katholische Welt< geschrieben wurde und darin postum erschien, erzählt von einem realen Ereignis, von dem Stifter auch in umständlichen mündlichen Schilderungen berichtet haben soll 49 und das auch im Briefwechsel jener Monate wiederholt Erwähnung findet, nämlich dem großen Schneesturm, der ihn im November 1866 während eines Kuraufenthalts in den sogenannten Lackerhäusern überraschte und dort mehrere Tage festhielt.

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Ebd., S. 180. Ebd., S. 181. Ebd., S. 181. Ebd., S. 182. Vgl. W.G. Sebald: Helle Bilder und dunkle. Zur Dialektik der Eschatologie bei Stifter und Handke. In: W. S.: Die Beschreibung des Unglücks (o. Anm. 15), S. 165-186. Nach Sebald hat Stifter »zeit seines Lebens in einer Art literarischer Autotheraphie an der Darstellung einer helleren Welt sich abgearbeitet« (S. 174). So in Stifters Erzählung, Bergkristall< (WuB. Bd. 2.2, S. 216). Vgl. die Einleitung zum Bericht in: SW. Bd. 15, S. XXXV.

Grenzen

derhebembescbreibung

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Die nach Thomas Mann »unvergeßliche Schilderung des gewaltigen Dauer-Schneefalls im Bayrischen Wald«, die Stifters »Neigung zum Exzessiven, Elementarischen, Katastrophalen, Pathologischen« 50 bezeugt, kann sicherlich als fiktionale Erzählung gelesen werden. In unserem Kontext, in dem es um die Grenzen des Biographischen geht, erscheint jedoch wesentlich, daß Stifter den Text ausdrücklich anders motiviert und legitimiert, nicht als dichterische Konstruktion, sondern als authentischen Erlebnisbericht: »Es möge mir erlaubt sein, ein Ereigniß aus meinem Leben zu erzählen, in welchem eine Naturerscheinung und eine Schickung so seltsam verbunden waren, daß, wenn die Sache eine Dichtung wäre, man ihr den Vorwurf der Absichtlichkeit machen würde, und doch hat sich das Alles zugetragen, und ich werde es erzählen, wie es sich zugetragen hat.« 51 Geht es im autobiographischen Bericht im allgemeinen um eine retrospektive Sinngebung des Erlebten, so macht sich das Ich dieser Zeilen zum Zeugen seltsamer Koinzidenzen zwischen Natuereignis, Schicksal und Geschichte, die sich seiner Kontrolle entziehen. »Es wurden« - so heißt es im folgenden — »Wirkungen, die weit über mein Wissen gingen.« 52 Sie stellen die Bedeutsamkeit des Selbst-Erlebten radikal in Frage und unterminieren damit auch jenen Begriff der »Selbigkeit«, den Wilhelm Dilthey der biographischen Erkenntnis zugrunde legt, wenn es bei ihm heißt: »Wie der Lebensverlauf durch das Bewußtsein der Selbigkeit in seiner Abfolge zusammengehalten wird, haben alle Momente des Lebens in dieser Kategorie der Selbigkeit ihre Grundlage. [...] Die einzelnen Zustände dieses Selbst und ebenso die Einwirkungen auf dasselbe haben in ihrem Verhältnis zu dem Lebensverlauf und dem, was sich in demselben gestaltet, eine Bedeutung. Der literarische Ausdruck dieser Besinnung des Individuums über seinen Lebensverlauf ist die Selbstbiographie.« 53 Eingeleitet wird Stifters Bericht >Aus dem baltischen Walde< durch das pedantische Protokoll einer Reise, deren Ziel der Kurort im Bayerischen Wald ist. Wie aus den Briefen hervorgeht, ist es der Ort einer ärztlich verordneten »Waldeinsamkeit«, 54 wo Stifter seinem »Drang nach Höhen« nachgeht, um sich all das, »was in der Welt geschieht« aus dem Sinn zu schlagen«. 55 Stifters Topographie der körperlichen und seelischen Genesung wird hier als eine eigene Form biographischer Zeichenschrift lesbar, die den »Komplex« der letzten Lebensjahre bezeichnet. Im ersten Teil zeichnet sie sich durch die »Mannigfaltigkeit der Gestaltungen« aus, das »breite bläuliche, schwärzliche, grünliche Band« des »dichten« und »schweren« Waldes im Norden säumt »ungemein ernst« die sanfte »Lieblichkeit des

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Thomas Mann: Die Entstehung des Dr. Faustus. Roman eines Romans. In: Τ. M. Gesammelte Werke in 13 Bänden. Frankfurt a. M. 1960, Bd. 11, S. 237f. Zitiert wird der Bericht >Aus dem bairischen Walde< nach: SW. Bd. 15: Vermischte Schriften 2, S. 321—356, hier: S. 321. Zum folgenden vgl. Isolde Schiffermüller: Buchstäblichkeit und Bildlichkeit (o. Anm. 26 ), das Kapitel 1,3, S. 73-96. SW.Bd. 15,S. 338. Wilhelm Dilthey: Die Biographie. In: W. D..: Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Gesammelte Schriften, Bd. 7. Stuttgart 1961, S. 247. SW. Bd. 21, S. 1 (Brief an Gustav Heckenast, 7. 7. 1865). Ebd., S. 219 und S. 221 (Brief an Adolf Freiherrn von Kriegs-Au, Mai/Juni 1866): »Was in der Welt geschieht, das suche ich mir aus dem Sinne zu schlagen, doch schmerzen mich sehr die öffentlichen Verbrechen, die jezt begangen werden.«

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südlichen Kreises«. 56 Das Wilde und Ungeheure, das sich im »Bild des weißen Ungeheuers« 57 des Schneefalls manifestieren wird, ist anfangs nur potentiell als bloßes Attribut der Landschaft angelegt. 58 Noch einmal malt sich Stifter seine epische Landschaft aus, gewissermaßen sein Lebenswerk, um im zweiten Teil dessen Auslöschung zu inszenieren. Die »Einfachheit dieses Waldes« erscheint ihm »wie ein gemessenes episches« 59 Gedicht und er erzählt, wie »gesundheitbringend, [...] stillend und seelenberuhigend« 60 die Landschaft auf den Wanderer wirkt, der in die Ruhe des »großen Waldes« eingeht, um dort nur noch »ein schwaches erhabnes Sausen« zu vernehmen, »das Athemholen des Waldes«. 61 Stifter sucht Genesung in der erhabenen Stimme der Natur, die sich ins Namenlose zurückzieht und die Semantik der Sprache leer laufen läßt: »Und wenn man fortwandert, ändert sich Alles und bleibt doch Alles dasselbe.« 62 Die Maßstäbe und Differenzen der menschlichen Sprachwelt haben ihre Geltung verloren, wo auch die kleinste Pflanze und die unbedeutendste Kreatur zum Zeichen jener undarstellbaren Macht wird, die »das Leben« heißt — ein naturhaft begriffenes Leben, von dem das Ich gleichsam aufgesogen wird: »Da zeigt sich im Kleinsten die Größe der Allmacht.« 63 Den plötzlichen Umschlag vom Kleinsten ins Maßlose und Hyperbolische hat Walter Benjamin als Merkmal der Stifterschen Prosa erkannt und in seiner Kritik am sanften Gesetz die Relativierung von Großem und Kleinen zurückgeführt auf die »heimliche Bastardisierung« von natürlicher und sittlicher Welt. Daß Stifter die »Grenze zwischen Natur und Schicksal« nur »mit schwächlicher Hand« 64 zeichnet, das zeigt sich im Bericht >Aus dem bairischen Walde< nicht nur in der Rebellion der Natur, sondern auch an den eigenartigen Wirkungen, die das biographische Ich ergreifen und das autobiographische Schreiben entstellen. »Ergriffenheit« und »Erschütterung« — das sind die Schlüsselwörter, die den Erlebnisbericht durchziehen und die auch in den Briefen der letzten Jahre wiederkehren. Stifter bezieht sie unterschiedslos auf die Erkrankung des Körpers wie der Seele, auf physiologische wie weltgeschichtliche Ereignisse, »die Nachwehen des Krieges« oder »die Seuche der Brechruhr«. 65 Er erkennt im übrigen auch selbst »das Wesen hypochondrischer Leiden« als ein »einziges Übel [...], welches Übel eben im Zeitverflusse wechselt« und er stellt ihm eine typisch österreichische Diagnose: es sind »die Nerven« ,66 die Benjamin in seinem Kraus-Aufsatz als die »letzten Wurzelfäserchen« der Muttererde 67 bezeichnet.

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SW Bd. 15,S. 325. Ebd., S. 353. Vgl. Eva Geulen: Worthörig wider Willen. Darstellungsproblematik und Sprachreflexion in der Prosa Adalbert Stifters. München 1992, S. 27. Zur Ambivalenz der Natur vgl.: Johann Lachinger: Adalbert Stifter — Natur-Anschauungen. Zwischen Faszination und Reflexion. In: Adalbert Stifter. Dichter und Maler (o. Anm. 10), S. 96-104. S W B d . 15, S. 331. Ebd., S. 326. Ebd., S. 327. Ebd., S. 328. Ebd., S. 328. Walter Benjamin (o. Anm. 29), S. 608. SW. Bd. 21, S. 311 (Brief an Gustav Heckenast, 13. 10. 1866). SW. Bd. 21, S. 315 (Brief an Johann Aprent, 18. 10. 1866). Walter Benjamin: Karl Kraus. In: W B.: Gesammelte Schriften (o. Anm.29 ), Bd. 11,1, S. 334367, hier S. 342.

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Ihre Erregung kann sich direkt aufs Papier übertragen, wenn — so Stifter an Heckenast - »bei Zittern der Nerven die Buchstaben auf dem Papiere zitterten« 68 oder sie erfaßt den Pinsel und Zeichenstift, wie die nervöse Strichführung in einigen Skizzen aus den Lackerhäusern bezeugt. 6 ' I m Erlebnisbericht >Aus dem bairischen Walde< wird die »nervöse Ergriffenheit« durch einen B r i e f des Arztes ausgelöst, der Amalies Erkrankung mitteilt. »Ich schrieb sofort an meine Gattin...« 7 0 — dieser Satz, der leitmotivisch wiederkehrt, kündigt den eigenartigen Schriftverkehr an, in dem der Erzähler seiner »unbeschreiblichen Angst« vor der namenlosen Krankheit Herr zu werden sucht: »Ich schrieb, man solle mir den Namen der Krankheit nennen. Man nannte ihn nicht. Ich war zu nichts mehr fähig, als Briefe zu schreiben und Briefe zu erwarten. Und die Briefe mußte ich freundlich und gelassen schreiben.« 71 E i n vergebliches Warten auf die Erlösung der Physis im Namen treibt den pathographischen Briefverkehr weiter in einen obsessiven Schreibzwang, in dem der Schreibende um Fassung ringt. Die Dokumente dieses Schreibzwangs sind uns erhalten, ein uferloser Strom von über 20 Briefen, die Stifter aus den Lackerhäusern an Amalie sendet. U m den 19. November, als der Schneesturm erneut einsetzt, steigert sich die Frequenz der Briefe bis zum Stundenrhythmus. E s sind Briefe, die sich im Verschweigen der inneren Erregung üben, sie registrieren die äußere Chronologie, die metereologischen und physiologischen Wechselfälle, vor allem aber sprechen sie vom Briefeschreiben selbst, vom Papiervorrat und von den Botengängen, von den Wegen der Post und von der Ankunft der Briefe, vom Angst- und Trostschreiben, das zum dominanten Lebensinhalt wird. 72 Während die Konturen der Waldlandschaft - Stifters epischer Lebensraum — unter den Schneemassen begraben werden, hält sich das Ich nur noch am Faden dieser Korrespondenz am Leben. »Zum Malen ist es zu finster«, so Stifter am 22. 11. 1866, dem »ärgste[n] Tag« des Schneetobens, an Amalie. 73 Übt sich der reale Briefverkehr in einer beklemmend repetitiven Rhetorik der B e schwichtigung, so fällt im Erlebnisbericht eine seltsame Korrespondenz der Wörter auf, in der - gleichsam hinter dem Rücken des Erzählers - die semantischen Differenzen zusammenzufallen drohen: die Koinzidenz von Kriegsfall, Krankheitsfall, Rückfall, Barometerfall und Schneefall ist das Beispiel einer Sprache, die der Intention des Schreibenden entgleitet und die dem Erzähler zum unkontrollierbaren Naturereignis gerät. D e m E r eignis, das Stifter den »weißen Fall« nennt, entspricht im Erlebnisbericht eine schrittweise Wendung zum Außer-sich-Sein des Erzählers. E r kehrt seine »Aufmerksamkeit nach Außen«, um im »Gemische [...] von undurchdringlichem Grau und Weiß, von Licht und

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SW Bd. 20, S. 215f. (Brief an Gustav Heckenast, 28. 8. 1864). Vgl. Stefan Schmitt: Adalbert Stifter als Zeichner. In: Adalbert Stifter. Dichter und Maler (o. Anm. 10), S. 261-308. SW. Bd. 15, S. 335. Ebd., S. 336. Zur Chronologie dieser Briefe und ihrem Bezug zur Erzählung >Aus dem bairischen Walde< vgl.: Arno Dusini: Wald. Weiße Finsternis. Zu Stifters Briefen und Erzählung Aus dem bairischen Walde. In: Euphorion 92 (1998), Heft 4, S. 439^155. Dusini liest den Text als »Versuch über die Grenzen des episch Erzählbaren« (S. 447), einer Auslöschung des Epischen, die nur die Briefe übrig läßt. SW Bd. 22, S. 57 und S. 55 (Brief an Amalie Stifter, 22. 11.1866).

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Dämmerung, von Tag und Nacht, das sich unaufhörlich regte und durcheinander tobte« 74 nur noch die Entstellung der heilsamen Naturlandschaft wahrzunehmen. Erzählt wird die Verfinsterung des leuchtenden Mediums, aus dem Stifters epische Weltaneignung hervorging. 75 Das naive Staunen vor dem Wunder des Daseins, mit dem das autobiographische Fragment einsetzte, wendet sich vor dem »Außerordentlichen« ins Furchtbare und schließlich ins fassungslose Entsetzen: »Ich konnte nichts thun, als immer in das Wirrsal schauen. Das war kein Schneien wie sonst, kein Flockenwerfen, nicht eine einzige Flocke war zu sehen, sondern wie wenn Mehl von dem Himmel geleert würde, strömte ein weißer Fall nieder.. ,«76 Die erlösende Selbststiftung im Erhabenen, von der noch die >Sonnenfinsternis< erzählte, bleibt aus. Während Stifter dort explizit Bezug nahm auf das Wort, das Gott ins Herz der Menschen schrieb, das Wort »ich bin«, wird hier jede heilsgeschichtliche Erwartung zunichte gemacht. 77 Gottes Verheißung an Moses - »Siehe, ich will euch Brot vom Himmel regnen lassen« - stellt Stifter ein Kontastbild entgegen: das weiße »Mehl vom Himmel«, ein verkehrtes Wüstenwunder, das die Menschen — wie es im folgenden heißt — »erhungern« lässt und das auch auf den Erzähler seine unmittelbare Wirkung ausübt: »Mir klebte die Zunge an dem Gaumen, ich aß nichts mehr, sondern träufelte nur Liebigs Fleischextract in warmes Wasser, und trank die Brühe.« 78 Der Liebigsche Fleischextrakt, den Stifter in einem Brief an Heckenast als »namenlos segensreich« 79 bezeichnete, soll das physische Uberleben garantieren. Der Körper des Erzählers meldet sich in Stifters Erlebnisbericht massiv zu Wort; er besetzt die Grenze zwischen innen und außen, einerseits erlebte Physis und andererseits Gegenstand der Welt. Erst an dieser Schwelle, auf die sich Stifters Schilderung zurückzieht, stellt sich eine greifbar nahe Erzählpräsenz her, eine nackte kreatürliche Stimme, aus der — wie W. G. Sebald schreibt — ein »erschütternder Materialismus« 80 spricht. Stifters massive Leiblichkeit entblößt hier ihre Kehrseite: die Angst vor dem Verhungern. Den Bann dieser stummen, ins Physiologische versunkenen Welt durchbricht nur ein Gedankenblitz: »der Gedanke, wenn etwa, wie die Knechte fahrlässig sind, in den Scheuern des Hauses Feuer ausbräche, was dann?« 81 Erst Kafka, der Antipode und zugleich der legitime Erbe von Stifters Schriftverkehr, wird das Tor dieser Scheunen aufstoßen, um »mit irdischem Wagen« und »unirdischen Pferden« 82 in die Tiefendimension jener Angst

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SW.Bd. 15, S. 338. Zur »weißen Finsternis« als Grenze sprachlicher Repräsentation vgl. Martin Swales: Litanei und Leerstelle. Zur Modernität Adalbert Stifters. In: VASILO 36 (1987), Folge 3/4, S. 71-82. S W B d . 15, S. 340f. Ausführlicher dazu: Arno Dusini (o. Anm. 44), S. 448f. SW.Bd. 15, S. 344. SW. Bd. 21, S. 13 (Brief an Gustav Heckenast, 29. 7. 1865): »Ich machte im Herbste den ersten Band Witiko zurecht [...] Der Band wurde fertig, und ich fiel in Nervenzustände zurük, daß ich zum Unkenntlichen abmagerte und die Leute erschrekte. Ruhe und der Liebig'sche Fleischextrakt (für mich namenlos segensreich) brachten mich wieder so w e i t . . . « W. G. Sebald: Bis an den Rand der Natur (o. Anm. 15), S. 18. S W B d . 15, S. 342. Franz Kafka: >Ein Landarzfc. In: Schriften Tagebücher. Kritische Ausgabe. Hrsg. von Jürgen Born, Gerhard Neumann u. a. Dort in: Drucke zu Lebzeiten. Hrsg. von Wolf Kittler u. a. Darmstadt 1994, S. 261.

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aufzubrechen, die Stifter lähmt. Anstelle solch schöpferischen Aufbruchs schließt Stifters Bericht mit einer wahrhaft grotesken Heimreise. Eine Gruppe von »Schneereifenmännern« 83 stampft ihm einen Pfad über »Schneehügel, Schneewülste, Schneefelder«, 84 den er mit aufgespanntem Regenschirm zurücklegt, in einem Fuhrschlitten und einem alten »Kirchenwagen« kommt er schließlich nach Hause, in »einer Lage, die Glieder zu verrenken«. 85 Von einer Heimkehr im eigentlichen Sinn kann kaum die Rede sein: »Das Glück des nun folgenden Zusammenlebens zu schildern liegt nicht in dem Zwecke dieser Zeilen« 86 — so Stifter lapidar über die wieder hergestellte häusliche Normalität. Nach knapp zwei Tagen soll er die gemeinsame Linzer Wohnung erneut verlassen haben, um — wie er im neu einsetzenden Briefverkehr bekennt 87 — der Gefahr einer ausbrechenden Seuche zu entgehen. Im Bericht >Aus dem bairischen Walde* steht davon nichts mehr; er endet mit einem Genesungsprozeß des Erzählers, der von seltsamen Halluzinationen begleitet wird: »Eines war aber da, merkwürdig für den Naturforscher; mir jedoch hätte es, wenn es sich nicht täglich gemindert hätte, wirkliche Verzweiflung gebracht. Ich sah buchstäblich das Lakerhäuserschneeflirren durch zehn bis vierzehn Tage vor mir. Und wenn ich die Augen Schloß, sah ich es erst recht. Nur durch geduldiges Fügen in das Ding und durch ruhiges Anschauen desselben als eines, das einmal da ist, ward es erträglicher, und erblaßte allmählich. Ich kann die Grenze seines Aufhörens nicht angeben, weil es, wenn es auch nicht mehr da war, doch wieder erschien, sobald ich lebhaft daran dachte. Endlich verlor es sich, und ich konnte daran denken und davon erzählen.« 88 Von der unbeteiligten Haltung des Naturforschers unterscheidet sich die Selbstwahrnehmung dieses Erzählers allein durch die Verzweiflung des Ich, das seine Stellung nur noch in passiver Akzeptanz und Duldung bewahrt. Bei Stifter ist allein eine wahnhafte Rekonvaleszenz des biographischen Subjekts möglich; ihr entspricht eine schrittweise Restauration der Waldlandschaft, ein Prozeß, in dem sich die Stratifikationen von Stifters Bildwelt entfalten: das Ungeheure des »weißen Falls« formt sich zum zoomorphen Phantasma eines »weißen Ungeheurs«, u m erst dann wieder das »edle Bild« hervortreten zu lassen, in dem der Erzähler seine Heilung sucht. Es ist das vom Wahnsinn bedrohte Phantombild einer natürlichen Humanität und humanen Natur, von dem Stifter dann wieder erzählen kann. Die »weiche Stille« solch ambivalenter Rekonvaleszenz scheint sich auch in Stifters letzten Photographien zu vermitteln, in denen der starre energische Blick und die derbbehäbigen Züge der Physiognomie verschwunden sind. A n ihre Stelle tritt mit dem Leidens- und Dulderzug, den schon Franz Hüller festgestellt hat, 89 das lautlose Versinken in eine immer maskenhafter wirkende Leiblichkeit. Kehrseite dieser Stille war — wie Zeitgenossen berichten — ein unbändiger Mitteilungsdrang, der sich unterschiedslos auf die Krankheit des Körpers wie der Seele bezog, 90 eine Indifferenz von Seelischem und So83 84 85 86 87 88 89 90

S W B d . 15, S. 349. Ebd., S. 347. Ebd., S. 351. Ebd., S. 352. SW Bd. 22, S. 78—81 (insgesamt drei Briefe an Amalie Stifter, 30. 11. 1866). S W B d . 15, S. 353. Franz Hüller zur Büdbeüage in: SW Bd. 11, S. XXIV. Johann Aprent: Adalbert Stifter. Eine biographische Skizze (1869). Mit Einleitung und Anmerkungen von Moriz Enzinger. Nürnberg 1955, S. 86.

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matischem, in der im übrigen auch die Differenz von Bewußtem und Unbewußtem, von Tod und Selbstmord ihre Bedeutung verliert. Abschließend soll festgehalten werden: Stifter hat mit seinen autobiographischen Schriften den Anfang und das Ende seines Lebens an die Grenze zwischen Natur und Geschichte gerückt. So wie er den Ort seiner seelischen Genesung als Natur begreift, so sind ihm die Schreckensjahre seines Lebens nicht Geschichte, sondern Natur geworden. Der »Dichter, Maler, Denkmalpfleger und Schulmann« konnte sich in der gesellschaftlichen Realität seiner Zeit kaum realisieren. Die Matrix seines epischen Lebenswerks aber liegt an jener Schwelle, wo die soziale Landschaft in Naturlandschaft übergeht. Geburt und Auslöschung des biographischen Subjekts berühren sich dort, u m einer narrativen Entfaltung der Lebensgeschichte keinen Raum mehr zu lassen. Stifters Autorschaft entzieht sich dem Maskenspiel der Biographie, sie betreibt die Selbstauslöschung individueller Geschichte. Erst da, wo die sozialen Rollenbilder des geschichtlichen Individuums verblassen und wo auch die Psychologie schweigt, tritt die singuläre Physiognomie dieses großen Epikers ans Licht.

Walter Seifert

Schulrat und Poet — Stifter zwischen Amt und Poesie

In einem Albumeintrag für Marie Ringseis formulierte Stifter 1849 die für ihn gültige Beziehung zwischen Amt und Poesie: »Es gibt nur zwei göttliche Dinge auf dieser Welt: das Eine göttlich an und für sich, die Religion, das andere göttlich in dem Kleide des Reizes, die Kunst. Diese zwei sind das Höchste auf Erden. Wer etwas anderes über sie stellt, etwa Gewerbe, Wissenschaft Staatseinrichtungen, der verkehrt die Ordnung der Dinge, und sezt das Mittel über den Zwek.«1 Diese Absolutsetzung der Kunst verstrickt ihn von vornherein in Widersprüche. So muß er umgekehrt seine Poesie als Ware auf den Markt bringen, um durch den Verkauf seiner Bücher den Lebensunterhalt zu sichern, wobei seine Werke nicht genug einbringen. Als Schulrat macht er die Kunst zum Mittel, um Bildung und dadurch eine Humanisierung der Gesellschaft zu erzielen. Die doppelte Bindung an Amt und Poesie verursachte in beiden Bereichen Probleme und führte zu Spannungen zwischen beiden. Allerdings sind auch die Einflüsse von Amtserfahrungen auf die literarische Produktion sowie der Literaturauffassung und Bildungsidee auf die Amtstätigkeit zu berücksichtigen. Privatunterricht und Poesie Seit seiner Schulzeit in Kremsmünster bis 1846 konnte Stifter seinen Lebensunterhalt, von temporären Finanznöten abgesehen, durch Privatstunden sichern. Eigentlich hatte die Rolle des Hofmeisters ihren Höhepunkt im 18. Jahrhundert, wo fast alle großen Schriftsteller durch Hauslehrer erzogen wurden oder als Privadehrer tätig waren. Zur Zeit Stifters war »die Tradition der gelebten Hauslehrer-Pädagogik«2 zwar zu Ende, doch sie lebte in den höheren Ständen teilweise fort, »welche ihre Kinder noch privatim unterrichten lassen, den Lehrern ihre Achtung und ihren Dank bezeigen und ihnen ihre schwierige Lage erleichtern.«1 Die Tätigkeit als Privadehrer war für Stifter mehrfach bedeutsam, und zwar indem sie ihm bis 1846 eine Existenzgrundlage für seine Poesie bot und indem sie ihm Zugang

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SW Bd. 18, S. 2 (vom 23. 4.1849); außerdem fast wörtlich in einem Stammbuchblatt vom 21. 4. 1851 (ebd., S. 77); Brief an Auguste von Jäger vom 20. 12. 1852 (ebd., S. 141). Fertig, Ludwig: Die Hofmeister. Ein Beitrag zur Geschichte des Lehrerstandes und der bürgerlichen Intelligenz. Stuttgart 1979, S. 97. Fertig erwähnt Stifter nicht. Dok. I vom 4. 4.1851, in: Kurt Vancsa (Hrsg.): Die Schulakten Adalbert Stifters. Graz/Wien 1955, S. 21. Auch Lehrer geben Privatunterricht, doch »ist dieser Erwerbszweig bloß in Linz und Steyr nennenswert, sonst unbedeutend und für die Landlehrer ganz und gar nicht vorhanden.« (S. 27)

Walter Seifert

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zu einflußreichen Kreisen und Ansehen verschaffte, was ihm bei der Erlangung des Amtes behilflich war. 4 Seine Erfahrungen als Privatlehrer prägten sein Weltbild so stark, daß er auch in der Zeit seiner Schulratstätigkeit Privatlehrer zu Zentralfiguren seiner Werke machte. Und als Privadehrer erwarb er jene pädagogischen und fachdidaktischen Kenntnisse, die ihn später für das Amt eines Schulrats befähigten. Er beschränkte sich dabei nicht bloß auf verstandesmäßige Übung der Geisteskräfte, sondern trachtete in erster Linie danach, den Sinn für das allgemein Menschliche und die Begeisterung für das Ideale in den jungen Seelen auszubilden. Aber auch Stifters Frauen- und Schülerbild hat sich in dieser Zeit ausgeprägt. So stellte er 1837 über seine Schülerinnen fest, daß sie »bei weitem mehr« sind, »als ich ihnen bei meiner ersten Bekanntschaft zumuthete«. Entsprechend stellte er ein anspruchsvolles Programm auf und »fing auf eigene Faust an, sie zu bilden«. Mit der damals 13 Jahre alten Sophie von Lebzeltern »fing ich Geographie, Naturgeschichte, Diktandoschreiben, Briefstellen und Rechnen an, und in lezterem befriedigte sie mich so, daß wir jezt in allem Feuer in einer compendiösen Algebra begriffen sind, die sie recht artig versteht und mir die Beweise bündiger liefert, als es mancher Schüler that. Mit den beiden andern begann ich Seelenlehre, die ich jezt für sie schriftlich verfasse, um sie ihnen als Andenken zu hinterlassen. Dann nahm ich die Grundzüge des Naturrechtes als Vorbereitung zu Rottecks Geschichte, in der wir jezt sind. Diese und Physik, und Ästhetik (nach J. Pauls Vorschule, die sie entzükt) wechseln ab. Ich traf so guten Grund und Boden, daß sie Dinge verstehen und nota bene lieben, die ich Mädchen nicht zugetraut hätte.« 5 In der Erzählung >Feldblumen< (1841) hat Stifter die Erfahrungen mit diesen Mädchen auf die drei weiblichen Figuren übertragen, 6 und noch in der späten Erzählung >Waldbrunnen< stehen Schülerinnen im Zentrum. Seinen letzten Privatunterricht gab Stifter bis 1846 dem Fürsten Richard im Hause Metternich. 7 Er rechnete zwar damit, auch Metternichs zweitem Sohn Paul noch Privatstunden zu geben, 8 doch die Revolution von 1848 zerschlug diese Pläne und beendete seine Privatlehrertätigkeit. Konflikt zwischen Amt und Poesie in frühen Werken Stifter wollte, wie er bereits 1846 kundtat, »kein Beamter werden«, sondern »ganz frei von jedem Bande nur mir selber leben«. 9 Die gleiche Einstellung findet man schon bei Figuren in seinen frühen Werken, und zwar im >Julius< (1827) und in >Der Hagestolz< (Journalfassung 1844, Buchfassung 1850). Julius erklärt nach erfolgreichen juridischen Studien im dritten Jahr, »daß es ihm unmöglich sey, sich in eine Kanzley zwischen Actenberge einzukerkern, er tauge nichts zum Ius, habe aber zu nichts solche Anlage und solche

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Vgl. dazu Alois R. Hein: Adalbert Stifter: sein Leben und seine Werke. Nachdruck der Ausgabe von 1904. 2 Bde. Wien 1952. Bd. 1, S. 59. SW. Bd. 17, S. 66 (Brief an Sigmund Freiherrn von Handel, 8. 2. 1837). Ebd., S. 350. Vgl. dazu Hein (o. Anm. 4), Bd. 1, S. 160ff. Ebd., S. 121; Anm. S. 374. Vgl. Peter A. Schoenborn: Adalbert Stifter. Sein Leben und Werk. Bern 1992, S. 326ff. Ebd., S. 1 7 7 , 2 0 0 , 397. Ebd., S. 186 (Brief an Hermann Meynert, 16. 11. 1846).

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Liebe, als zur Mahlerey.« 1827 wollte auch Stifter noch Maler werden. Julius entschließt sich zur Selbstverwirklichung ausschließlich in der Kunst: »Trotz dem, daß er sich durch eigene Arbeit und Mühe die Mittel seiner Existenz herbeyschaffen müsse, habe er sich doch kühn und fest entschlossen, dem Genius im Herzen zu folgen, und von nun an auf immer und ewig der schönen Kunst zu leben.« 10 I m >HagestolzLinzer Zeitung< vom 17. 1. 1854 über Neu- und Umbauten von Schulhäusern in den Jahren 1851, 1852 und 1853. Eine Auflistung aller Bauten bei Jungmair (o. Anm. 41), S. 90—92, der resümiert, daß sich »133 Schulhäuser im Neubau« befanden (S. 92). Vgl. dazu SW. Bd. XVI, S. 323f. Vancsa (o. Anm. 3), S. 36 (Dok. I vom 4. 4. 1851). Zum Streit um die Mittelschule Harrachsthal entstanden sechs umfangreiche Gutachten Stifters: eins von 1856 (nicht erhalten); Vancsa (o. Anm. 3), S. 175-177, Dok. XXVII vom 16. 1. 1857; Fischer (o. Anm. 84), S. 430-437, Dok. 276 vom 27. 5. 1859, ebd., S. 453f., Dok. 289 vom 17.11.1859; ebd., S. 491f., Dok. 323 vom 17.12.1860; ebd., S. 548-550, Dok. 379 vom 25. 6. 1863. Vancsa (o. Anm. 3), S. 175 (Dok. XXVII vom 16. 1. 1857).

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weil »der Besuch der eigenen Pfarrschule zu Weitersfelden in geographischer und klimatischer Beziehung höchst beschwerlich u bei andauerndem Regenwetter insbesondere aber im Winter bei tiefem Schnee gerade unmöglich ut,«96 so setzte es sich 1859 für deren Auflassung und für die Einschulung der betreffenden Schüler nach Weitersfelden ein, »da der Weg zu jeder Zeit im Winter u Sommer als ordentlicher Kirchen- u Hauptcomunicationsweg gut ausgetreten, u für die Kinder leicht gangbar ist.« 97 Angesichts solcher Widersprüche und Widerstände wären zunächst einmal genaue amtliche Erhebungen nach dem Gesetz notwendig gewesen, um eine definitive Entscheidung zu treffen, was die Belastungen des Staates durch den Krieg mit Italien, der 1859 zur Niederlage von Solferino führte, verhinderten. 98 1863 war die Situation so ausweglos, daß Stifter resigniert aufgab, »es der Zeit überlassend, daß die Leute die Erfahrung machen, sie haben nicht gut genug für ihre Kinder gesorgt, daß mit fortschreitender Bildung im öffentlichen Leben und im gesteigerten Verkehre auch eine größere Einsicht in jene Gegend komme, und dann die Gründung einer lebensfähigen Mittelschule mit entschiedener Aussicht auf geistigen Erfolg in die Hand genommen werden könne.«' 9 Die Schule wurde geschlossen, und etliche Schüler mußten künftig Schulwege von bis zu 1 Vz, ja 1 3A Stunden zur Pfarrschule in Weitersfelden auf sich nehmen, »und dies in einer rauhen winterlichen Gegend.« 100 Die schöne Utopie der Erzählung >Kalkstein< ließ sich in der harten Realität des Schulrats oft nicht verwirklichen. Bildungsgefüge in Stifters Roman >Nachsommer< Wie die Erzählung >Kalkstein< ist auch der Roman >Nachsommer< (1857), der 1849 unter dem Titel >Der alte Hofmeister< im Almanach >Iris< erscheinen sollte, dann aber zurückgezogen wurde, bereits in der Grundstruktur fertig, als Stifter Schulrat wird, so daß Erfahrungen des Schulrats nicht mehr strukturbestimmend, sondern nur auf Details einwirken konnten. Nach Laufhütte ist der >Nachsommer< vom Anfang der Entstehungsgeschichte »die Katastrophengeschichte Gustav Risachs.« 101 Während der Hagestolz die doppelte Katastrophe erlebte, daß nicht nur seine Liebesbeziehung gescheitert war, sondern daß er auch nicht zum Hofmeister seines Neffen wurde, um diesen nach seinem Bilde zu erziehen, kann Risach trotz der Liebestragödie einen »Nachsommer« erleben, auch indem er in doppelter Hinsicht zum Hofmeister wird, einmal von Gustav, dem Sohn Mathildes, zum andern von Heinrich Drendorf, den er für eine ideale Ehe mit Natalie, der Tochter Mathildes, erzieht. Wie in der Erzählung >Kalkstein< kommt auch im Roman >Nachsommer< ein IchErzähler zu einem vorbildlichen Menschen und lernt dessen Vergangenheit kennen, die

Fischer (o. Anm.84), S. 430 (Dok. 276 vom 27. 5. 1859). Ebd., S. 431. 98 Ebd., S. 436. 99 Ebd., S. 550 (Dok. 379 vom 25. 6. 1863). ,ü0 Ebd., S. 549. "" Hartmut Laufhütte: Der >Nachsommer< als Vorklang der literarischen Moderne. In: Adalbert Stifter. Dichter und Maler, Denkmalpfleger und Schulmann. Neue Zugänge zu seinem Werk. Hrsg. von Hartmut Laufhütte und Karl Möseneder. Tübingen 1996, S. 486f. %

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jeweils in Ichform erzählt wird. Über die Erzählung >Kalkstein< hinausgehend, ist im >Nachsommer< aber auch der Bildungsgang des Ich-Erzählers detailliert ausgeführt, so daß ein komplexes und hierarchisches Bildungsgefüge entsteht, welches sich als Kommunikationsgefüge von Menschen konstituiert, die durch einen selbständigen Bildungsdrang bestimmt werden, sich aber auch gegenseitig in den Bildungsprozessen fördern. Die Spitze des hierarchischen Bildungsgefüges ist Risach, welcher selbst den höchsten Bildungsgrad erreicht und in seiner Lebenswelt entfaltet hat. Er formuliert die obersten Bildungsprinzipien und legt für Gustav die Regeln von dessen Bildungsgang fest. Der Ich-Erzähler Heinrich wird, sobald er in diese Lebenswelt eintritt, Teil des Bildungsgefüges, welches »das Herz den Verstand und das ganze Wesen eines jungen Mannes so zu bilden geeignet« ist.102 Sobald eine Person in ein Bildungsgefüge eintritt, erhält sie einen variablen Stellenwert in der Hierarchie. So wird Heinrich zuerst durch das Bildungsangebot seines Vaters geprägt, bis er in das höhere Bildungsgefüge Risachs kommt. Das Verhältnis zum Vater dreht sich nun um, insofern Heinrich für seinen Vater zum Lehrmeister wird und ihm den Bildungszuwachs aus dem Rosenhaus vermittelt. Sobald aber Heinrich einen höheren Bildungsstand erreicht hat, erfahrt er, daß sein Vater einen höheren Bildungsstand besitzt, als er vorher wahrnehmen konnte. Außerdem wird Heinrich in seiner Familie zum Lehrmeister für seine Schwester, im Bildungsgefüge am Rosenhof zum Lehrmeister und Vorbild für Gustav. Daneben gibt es noch ein drittes Bildungsgefüge, in welchem Mathilde als Lehrmeisterin von Natalie wirkt. Im »Rückblick« 103 Risachs erfährt man überwiegend seinen Werdegang als Hofmeister von Alfred und Mathilde, wobei er für die Erziehung zuständig war und »weniger unterrichten« sollte, denn »dazu sind Lehrer da, welche das Haus besuchen.« 104 Neben seiner Erziehertätigkeit hatte er »Kraft genug«, autodidaktisch Mathematik und Naturlehre zu betreiben, 105 sowie seine musische Bildung zu fördern. 106 Aus der Hofmeisterbeziehung entwickelte sich wie im >Hofmeister< von Lenz eine Liebeskatastrophe. 107 Risachs Scheitern war eine Folge seiner engen Moralvorstellung, seiner Orientierungsschwierigkeit, seines Mangels an Bildung und Führung. Nach Laufhütte hat es »an allem« gefehlt, »was unverstörte gesellschaftliche Formung zur Selbstfindung und Wirklichkeitskenntnis junger Menschen beitragen kann.« 108 Durch eigene Katrastrophenerfahrung geläutert, bemühen sich Risach und Mathilde, der nächsten Generation ein ähnliches Schicksal zu ersparen, indem sie durch die Organisation von Bildungsprozessen und durch Führung die Voraussetzungen für eine souveräne Lebensgestaltung begründen helfen. Einerseits

102 103 104 105 106 107

108

WuB. Bd. 4.2, S. 119. WuB. Bd. 4.3, S. 150. Ebd., S. 167. Ebd., S. 158. WuB. Bd. 4.1, S. 218. >Der Hofmeister oder Vortheile der Privaterziehung< von Jakob Michael Reinhold Lenz, anonym erschienen 1774, Uraufführung 1778. Risach und Mathilde scheitern jedoch nicht so wie die Figuren bei Lenz, wo Gustchen ein Kind bekommt und einen Selbstmordversuch unternimmt, sondern an ihrer eigenen überzogenen Moral, welche zum Streit und zur Trennung fuhrt. Allerdings gibt es auch bei Lenz eine überzogene Moral, indem Läuffer sich selbst entmannt. Laufhütte (o. Anm. 101), S. 494.

Schulrat und Poet — Stifter %wischen Amt und Poesie

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bestimmt Risach als Hofmeister den Bildungsgang von Gustav, schreibt ihm Lehrgegenstände vor oder verbietet sie und ordnet den Zeitplan, andererseits lernt Gustav unter Anleitung und Hilfe »völlig frei. Das Gesez, welches seine Arbeiten regelte, war nur einmal gegeben, es war sehr einfach, der Jüngling hatte es zu dem seinigen gemacht, er hatte es dazu machen müssen, weil er verständig war, und so lebte er darnach.« 109 Die Erziehung zur Selbstbildung und Eigenverantwortung erfolgt hier wie im gesamten Roman nach dem Prinzip des entdeckenden Lernens, indem Risach ζ. B. an Heinrich nicht die Schönheit der antiken Statue vermittelt, sondern wartet, bis dieser sie selbst entdeckt hat. 110 Der Bildungsgang Heinrich Drendorfs ist, was die Schulbildung betrifft, detaillierter dargestellt als der Risachs, doch insgesamt sind beide Bildungsgänge weitgehend identisch. Während Stifter auf die Figur Risachs seine Erfahrungen als Privatlehrer übertragen hat, hat er den Bildungsgang Heinrichs mit dem Programm der Schulfacher ausgestattet, mit Mathematik, 111 Naturgeschichte, 112 Pflanzenkunde und Mineralogie, 113 mit Zeichnen 114 und über die Schule hinaus mit der »Wissenschaft der Bildung der Erdoberfläche« und dadurch mit »der Bildung der Erde selber.« 115 Er durchläuft einen selbstgeplanten Bildungsprozeß, in welchem er selbst die Inhalte der Schulfacher souverän zu einem ganzheitlichen Bildungsprozeß anordnet. Heinrich wurde in seiner Jugend zunächst »in dem Hause« 116 von Privatlehrern in Fächern unterrichtet, »die man in unseren Schulen als Vorkenntnisse und Vorbereitungen zu den sogenannten Brodkenntnissen betrachtet«; er erhielt also »in den Gegenständen Unterricht [...], die man Kindern beibringen läßt, welche zu den gebildeteren oder ausgezeichneteren Ständen gehören sollen.« 117 Die Erziehung durch den Vater 118 bezieht sich auf strenge Regelmäßigkeit der Lebensführung sowie auf die Fesdegung eines hierarchisch aufgebauten Stufenplans. Trotz der festen Arbeitsaufträge, Vorschriften und Verbote dominiert ein pädagogisches Prinzip, welches mit Rousseaus >EmileFühren oder WachsenlassenWaldbrunnen< Auch nach seiner Pensionierung im Jahre 1865 behält das Motiv der Hofmeistererziehung zentrale Bedeutung für Stifter. In dem Entwurf einer Erzählung von 1865 übernimmt ein »Mann vom >StandeDer fromme Spruch* (1867) hingegen, in welcher es wieder u m einen Hofmeister geht, fehlt die Verbindung von Amt und Poesie. Allerdings haben der Oheim, der einst im Staatsdienst erfolgreich tätig war und »alle Staatsschulden« 154 beseitigt hat, sowie eine Tante, beide Adlige aus dem Hause von der Weiden, den Erfolg, daß Neffe und Nichte, Dietwin und Gerünt, sich miteinander verehelichen und den Fortbestand der Familie sichern, nachdem sie eine gute Erziehung erhalten haben, ohne daß diese Erziehung hier ausgeführt wird. Die ausgesparte Erziehung verstärkt das Motiv der Selbstverdoppelung der älteren eingeschränkten Generation in den ihre Identität findenden Nachkommen. 155 Auch die Erzählung >Waldbrunnen< (1866) handelt in der Binnengeschichte von einem adligen Hofmeister, der das Amt verlassen hat und sich der Erziehung seiner Enkel widmet, doch in der Rahmengeschichte tritt ein amtierender Schulrat auf, wobei der Zusammenhang zwischen Amt und Poesie in der Weise in Erscheinung tritt, daß dieser Schulrat zugleich Poet ist und als Ich-Erzähler seine eigene Geschichte erzählt. Dieser Schulrat begegnet auf einer Dienstreise einem außergewöhnlich schönen Zigeunermädchen, »schöner als die raphaelische Madonna«, 156 und wird dadurch an eine schöne Frau

153 154 155

156

SW Bd. 20, S. 282ff. (Brief an Friedrich Uhl, 4. 4. 1865). WuB. Bd. 3.2, S. 209. Martin Beckmann: Stifters Erzählung >Der fromme Spruch*. Die Verdoppelung der Wirklichkeit. In: JASILO 3 (1996), S. 70-92, schreibt dazu: »Was dem Bruder und der Schwester äußerlich verschlossen bleibt, das öffnet sich ihnen innerlich in der Selbstverdoppelung durch den Neffen und die Nichte als Möglichkeit. Dietwin und Gerlint verwirklichen im beschränkten Lebenskreis von Oheim und Tante in den Augen des Lesers das Ganze.« (S. 86) WuB. Bd. 3.2, S. 99.

Scbulrat und Poet — Stifter ^wischen Amt und Poesie

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erinnert, die ihn früher einmal beeindruckt hat. Das Motiv der schönen Frauen verbindet den Rahmen mit der Binnengeschichte. Daß es sich im Rahmen um einen Schulrat handelt, geht aus dem sozialen Umfeld hervor: »[...] denn da man mich hatte ankommen sehen, so sendete man mir sofort die Botschaft, die anderen Herren warteten schon auf mich in dem Pfarrhofe. Ich ging also in den Pfarrhof, und später an das, was in Neukirchen meines Amtes war. Um drei Uhr des Nachmittages kam ich erst in den Gasthof zurück; denn wir hatten sämmtlich das Mittagessen bei dem Pfarrer einnehmen müssen.«157 Der Ich-Erzähler geht hier nach demjenigen Inspektionsplan vor, welchen Stifter in seinem ersten Inspektionsbericht festgelegt hat: »Was den Besuch einzelner Schulen anlangt, machte ich mir in dieser Hinsicht folgendes Verfahren zur Regel. Ich besuchte zuerst den geistlichen Ortsschulaufseher. [...] Hierauf besuchte ich den Director oder Oberlehrer. [...] Nach dem Oberlehrer hatte ich ein Gespräch mit dem Bürgermeister, oft auch mit Gemeinderäten und mit dem weltlichen Ortsschulaufseher.«158 Entsprechend geht der Ich-Erzähler zuerst auf den Pfarrhof, wie der Schulrat Stifter »zuerst den geistlichen Ortsschulaufseher« aufsuchte. Auf dem Pfarrhof trifft der Ich-Erzähler »die anderen Herren«, und zwar nach Stifters Darstellung im Inspektionsbericht den »Director oder Oberlehrer«, den Bürgermeister, die Gemeinderäte und/oder den weltlichen Ortsschulaufseher. Uber das, was seines »Amtes war«, erfährt man nichts, doch in der Binnengeschichte wird diese Amtstätigkeit eines Schulrats auf den Hofmeister übertragen. Zentralfigur in der Binnengeschichte ist ein Adliger, Herr von Heilkun, welcher Ärger im Amt hatte, in welches er »freiwillig«159 gegangen war, und deshalb, wie der Herr von Risach im >NachsommerHochwald< daher in enger und eben die Erzählung strukturierender Beziehung. In jedem der sieben Wald-Kapitel reicht die sprachliche Darstellung von den Konnotationen der Einsamkeit, der Trauer und der erschreckend hervortretenden Zeichen des Todes bis zu Bildern der Hoheit und der Unberührtheit: Die sprachliche Darstellung des Waldbodens nährt sich aus lexikalischen Bereichen des Vermoderns und der Sichtbarkeit der Reste des Lebens (»Dämmerstreifen westwärts« 9 — »dem dunklen Todtenbette« — »bleiche Schädel« — »das

WuB. Ebd., 8 Ebd., ' Ebd., 6 7

Bd. 1.4, S. 306. S. 307f. S. 306. S. 211.

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weiße Gerippe eines gestürzten Baumes« 10 — aber auch: »ein glänzender Himmel spannt sich darüber weg«. 11 ) Diese in der Stifter-Forschung beinahe zum Interpretationstopos gewordene Doppelgesichtigkeit der Naturbilder ist nicht mehr Symbol des Innenraums eines sich seiner erlebten Emotionen erinnernden Subjekts wie in der romantischen Naturpoesie seit Goethe für diese Darstellungsstrukturen üblich. 12 Sie geht vielmehr auf eine Ambivalenz zurück, die der Megatext der europäischen Aufklärungsbewegung selbst enthielt und daher dem Natur erforschenden und erblickenden Dichter Stifter als ernst zu nehmendes, ja geradezu bedrohliches Denkmodell vertraut war. Es war dies der Zweifel an der für das Heil der menschlichen Vernunft erbauten und dem Menschen übergebenen Welt, die in der Geborgenheit und Harmonie nicht mehr möglich, aber durch Evokation klassischer Verhaltenswerte vielleicht doch noch zu retten war. Dieser Zweifel durchzieht daher sein ganzes CEuvre: als Bildlichkeit, als Strukturproblem und als Thema. Es herrschen Idylle und Schrecken, Vertrauen und Verzweiflung sowie die Spannung zwischen ungeheurer allmächtiger Größe und menschlich-kreatürlicher Winzigkeit. Überblickt man die Interpretationen der ambivalenten Wirkungen dieser Naturbilder auf die Protagonisten und die intendierten Leser, 13 wird man den Verdacht nicht los, daß sich der große sozialgeschichtliche Prätext der Stifterschen künstlerischen, d. h. episch geschaffenen Welt dem Blick der Rezipienten weitgehend entzog. Trotz der sichtbaren Faszination durch den als harmonisierende Orientierung aufgefaßten deutschen Klassizismus, trotz allen rhetorischen und szenischen Einflüssen von Seiten der deutschen Romantik - vielberufen durch die Namen Tieck und Jean Paul - verbirgt sich hinter dem widersprüchlichen Konzept der »schrecklich schönen Welt« die Aufklärung. Das kann besonders gut sichtbar gemacht werden an den Grenzziehungen, wo der Blick der Vernunft auf die Verfaßtheit ihrer eigenen Vorbedingungen fällt. Das kosmische Grauen des vor der Größe, der gleichgültigen Rücksichtslosigkeit und Gewalttätigkeit der Natur und des Alls völlig allein gelassenen Menschen entspringt dem Blick in den Abgrund vor sich und in sich. Die ersehnten Lösungen entpuppen sich entweder als nur mehr theologisch möglich oder als Rücknahme der Souveränität des Ich. Es soll hier ein Beispiel in aller Kürze herangezogen werden, das den geschichtlichen Ursprung der von Stifter gestalteten Ambivalenzen zeigt. Es ist unter den Aussagen der berühmten Gedichtsammlung von Barthold Heinrich Brockes (1680—1747), im >Irdischen Vergnügen in Gott< (1721—48) zu finden, wo schon auf dem ersten Gipfel der deutschen Aufklärung das Gottvertrauen durch das Erlebnis einer hier und jetzt so

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Ebd., S. 212. Ebd., S. 218. Die Natur in allen ihren Erscheinungen konnte ihren Schrecken und ihre Fremdheit nur verlieren, wenn man sie zum Ausdrucksspektrum des Innenraums des bürgerlichen Subjekts machte. Goethes berühmtes Gedicht >Willkommen und Abschied< mit seinem Eingang, in dem sich die Naturbilder und die leidenschaftliche Verfaßtheit des lyrischen Ichs gegenseitig ausdrücken, steht eigentlich am Beginn als mit Recht exemplarisch angesehenes Exempel dieser Entwicklung. Vgl. dazu die ältere Arbeit von Joachim Müller: Adalbert Stifter - Weltbild und Erzählkunst. Reflexion und Integration. In: Neue Beiträge zum Grillparzer- und Stifterbild. Hrsg. von Aldemar Schiffkorn und Alois Großschopf. Graz 1965, S. 83-105.

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beschaffenen Welt manchmal ins Wanken kommt, so ζ. B. in dem Text >Das Firmament< (1738): (Motto): Man siehet seine Herrlichkeit an der mächtigen großen Höhe, an dem hellen Firmament, an dem schönen Himmel (Sir. XLIII,1). Als jüngst mein Auge sich in die Sapphirne Tiefe, die weder Grund noch Strand, noch End, noch Ziel umschrenckt, ins unerforschte Meer des holen Lufft-Raums senckt, Und mein verschlungner Blick bald hie, bald hin liefe, Doch immer tiefer sanck; entsatzte sich mein Geist, Es schwindelte mein Aug, es stockte meine Seele, Ob der unendlichen, unmäßig tiefen Hole, Die wol mit Recht ein Bild der Ewigkeiten heißt, So nur aus Gott allein, ohn End und Anfang stammen, Es schlug des Abgrunds Raum, wie eine dicke Fluth Des boden-losen Meers auf sinckend Eissen thut, In einem Augenblick auf meinen Geist zusammen. Die ungehewre Grufft voll unsichtbaren Lichts, Voll lichter Dunckelheit, ohn' Anfang, ohne Schrancken, Verschlang sogar die Welt, begrub selbst die Gedancken, Mein gantzes Wesen ward ein Staub, ein Punct, ein Nichts, Und ich verlor mich selbst. Dieß schlug mich plötzlich nieder; Verzweiflung drohete der ganz verwirrten Brust; Allein, ο heilsams Nichts! Glückseliger Verlust! Allgegenwärtiger Gott, in Dir fand ich mich wieder.14

Die fromme und nützliche Betrachtung im i r d i s c h e n Vergnügen in Gott< des Barthold Heinrich Brockes wurde urplötzlich zum Ausdruck des Erschreckens vor dem »Horror vacui«, das lachende, sonnendurchflutende Firmament zum Abgrund des Alls, in den das lyrische Ich schaudernd zu stürzen droht. Der Gebrauch der Oxymora (»unsichtbares Licht, lichte Dunkelheit« etc.) drückt die paradoxe Situation der Verzweiflung und den jähen Schritt in die Geborgenheit des weit von jeder Vernunft situierten Glaubens aus. Der fromme protestantische Christ Brockes sieht die in dem zitierten Gedicht gegebene Situation als Fingerzeig zu Gottes Gnade und Größe. Wie das dem Text vorangestellte Motto des Psalmisten andeutet, ist letztlich das erschreckende Grenzerlebnis der Leere und des Abgrunds ein Indiz dafür, sich Gott spontan zuzuwenden. Allerdings beweisen die Metaphern der Angst und des Ich-Verlusts durch ihre sprachliche Intensität die erschütternde Wucht dieses Erlebens, dessen Bewältigung in der konventionellen Gesangsbuchsprache erfolgt. Diese Rücknahme eines differenzierten Erlebens in Einfachheit und Demut, durch die antithetische Kraft des Alexandriners noch verstärkt, läßt den Riss in der Welt Sprache werden: Das liebliche Phänomen des durchsonnten Firmaments erweist sich als Oberfläche, unter der die Leere und die Verlassenheit hervortreten: Alltägliche Naturphänomene können keine Schauplätze der Vernunft und Frömmigkeit mehr sein. Blickt man hinter sie, so eröffnen sich Tore zur Vernichtung, die für den Menschen ohne die Hilfe eines erträumten Gottes nicht zu schließen sind.

14

Zitiert nach: Barthold Heinrich Brockes: Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem irdischen Vergnügen in Gott. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1738. Mit einem Nachwort von Dietrich Bode. Stuttgart 1965, S. 477.

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Diese Widersprüche, die durch die Französische Revolution, die erste spekulative und die zweite nationale deutsche Romantik weder philosophisch noch politisch zu lösen waren, sind unter die Grundlagen der Restauration in Osterreich zu zählen. Sie bildeten jene Basis, auf der der durch den Schock der Revolution gegangene Josephinismus weiter leben konnte. Als Lösung dieser Widersprüche bot sich ein Lebens- und Gesellschafsbild an, in dem alles, das Schöne und das Häßliche, die Geborgenheit und der Schrecken, gleichsam zur gebändigten Oberfläche der Welt wurden. In der empirischen Erscheinung des literarischen Lebens äußerte sich dies in einer Verengung der Perspektive, die sich in der erneuten drückenden Handhabung der Zensur im deutschsprachigen Raum unter Metternich äußerte. Verengung und Vereinfachung um Denken war angesagt, wenn die wieder hergestellte Wirklichkeit der Restauration als »Reich Gottes« erscheinen sollte. 15 Man erinnere sich an das später durch das Fortschreiten des Erzählens aufgeheiterte Zwielicht der Gewitterwolken im dritten Kapitel des >Nachsommers< (»Die Einkehr«): Als ich von dem Hange dieser Berge herab ging und eine freiere Umsicht gewann, erblickte ich gegen Untergang hin die sanften Wolken eines Gewitters, das sich sachte zu bilden begann, und den Himmel umschleierte. Ich schritt rüstig fort, und beobachtete das Zunehmen und Wachsen der Bewölkung."

Als der Protagonist in die an sich liebliche Ebene hinunter gelangt, deren Beschreibung wiederum ein idyllisches Bild des oberösterreichischen Bauernlandes ergibt, manifestiert sich nicht der Gedanke an Heimat oder Geborgenheit, sondern an Einkehr und Unterschlupf. Immer ist in diesen Bildern ein Element des Umschlagens enthalten: Umschlagen von Heiterkeit und strahlender Inkarnation des Göttlichen hin zum Schreckhaften und Ungeheuren; Umschlagen von der Erhabenheit zum Graun im ungeheuren Raum, in dem sich der >Condor< bewegt; Umschlagen des Farbenspiels der Natur in die bleierne Todesnähe der >Sonnenfinsternis< oder bis in das erschreckende Schneeschütten des >Bairischen WaldesWitiko< weder vordergründig noch allzu groß gewesen. Allerdings diente im >Witiko< die politische Idee der Evokation antiker Epik, die laut Aussage der aufgeklärten Ästhetik den politischen Spielraum und die soziale Identität des Menschen in der Polis zum Gegenstand hatte. Friedrich von Blanckenburg hatte schon 1774 in seinem >Versuch über den Roman< den Unterschied zwischen Epos und Roman, eine der Kernfragen der säkularisierten Poetik der Aufklärung, folgend definiert: das Epos stelle die Taten des Bürgers dar, der Roman dagegen die innere Entwicklung des »Herzens« der Menschen. 17 Die politische Implikation dieser Theorie ist klar, wenn man sich die Bedeutungen der Begriffe »Bürger« und »Mensch« vor Augen hält. Witiko ist in diesem ursprünglichen Sinn ein Bürger, der eine Polis begründen hilft und dabei zum Menschen 15

16 17

Roger Bauer. Die sozialen, politischen und ideologischen Voraussetzungen der österreichischen Literatur des frühen 19. Jahrhunderts. In: Lenau-Forum 2, H. 3 - 4 (1970), S. l f l - \ l . WuB. Bd. 4.1, S. 45. Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Faksimileausgabe der Originalausgabe von 1774. Mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert. Stuttgart 1965, S. XIII und S. 19ff.

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wird. Im Vordergrund des Gestaltungsprozesses steht daher die das Lesepublikum bis heute irritierende Formelhaftigkeit der Sprache, das empfindsame Element tritt spürbar zurück, wofür auch die bedenkenlose Einmontage von Stellen aus der zeitgenössischen historischen Literatur spricht. 18 Äußert sich hier die Staatsnähe Stifters genuin als poetologisches Problem, so ist inhaltlich in seinen anderen dichterischen Texten nicht allzuviel davon zu sehen. Die pädagogische Provinz des >Nachsommers< hat sehr viel mit der Einverleibung der Realität in ein Subjekt zu tun, das sich in konzentrischen Kreisen von seinem Ausgangspunkt weg bewegt, wie die Titelgebung der einzelnen Kapitel ja bestätigt. Sehr wenig hat der >Nachsommer< im konkreten Sinn mit Staat und Politik zu tun. Das Lokalkolorit fehlt in inhaltlicher und sprachlicher Hinsicht, der Leser bekommt vage Hinweise, daß man sich in einem Kaiserreich, bzw. in dessen Residenzstadt befinde. Die Kutsche, die den ehemaligen, nun zurückgetretenen Staatsdiener Risach zum Kaiser bringt, um diesem, nachdem er von einer schweren Krankheit genesen ist, eine Aufwartung zu machen, ist eher ein die epische Handlung vorwärts treibendes Motiv (Vorausweis auf die beiden Liebenden Heinrich und Natalie) als ein Hinweis auf eine historisch fixierbare Situation. Zweifellos enthält der >Nachsommer< aber eine Fülle von Anspielungen und Zitaten politischer Gedanken und Meinungen »klassischer« Autoren aus Stifters Jugendfundus, wie die erstellten Kommentare und Interpretationen beweisen, die den Roman in einem historisch-politischen Kontext ortbar machen und ihn — zu unrecht und mißverständlich — in eine epigonale und »nachklassische« Situation stellen. 19 Gerade dieser Tadel des Epigonenhaften liegt allerdings in einer Eigenart des Stifter'schen Werks begründet, die oben schon angedeutet wurden. Es gibt in seinem Werk eine glatte, moralisierende Oberflächenstruktur mit einem scheinbar harmonischpädagogischen Selbstverständnis und eine Tiefenstruktur des Scheiterns, einer nie ruhenden Annäherung an ein geschautes Vollkommenheitsbild, das an eines der romantischen Weltprogramme erinnert und wohl die bis ins Unbewußte reichende Ursache der oft recht schwierig überschaubaren Variantensituation seiner Texte ist. So kommt es beim Versuch, die Ambivalenz der Welt zwischen Schönheit und Grauen, wie sie die bekannte Einleitung zum >Abdias< erzählt, durch die Zitation der »aurea catena Homeri« erklären, bzw. auflösen zu können. Dieses durch oberflächliches Zitieren berühmt gewordene »sanfte Gesetz« erscheint einerseits in der idyllischen Erscheinung des in der Sonne schimmernden Baches. Andererseits lockt gerade die glänzende Wasseroberfläche die Kinder an das Ufer und ein Opfer wird gleichsam gefordert. Nachdem der unbeaufsichtigt gebliebene Knabe im Bach ertrunken ist, schließt sich der Wasserspiegel und das liebliche Bild ist wie vorher. Die Doppelbödigkeit dieser Bilder - ihr gehört ja

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"

Zum Verhalten Stifters zu seinen Quellen und der Arbeitsweise im >Witiko< vgl. die ausgezeichnete ältere Arbeit von Karl Flöring: Die historischen Elemente in Adalbert Stifters >WitikoWilhelm Meister* ist natürlich spürbar, doch der Ausgangspunkt von Heinrich Drendorfs »Lehrjahren« ist nicht die soziale Repräsentanz des Theaters, sondern die Beschäftigung mit den Naturwissenschaften. Zur Unterscheidung der Voraussetzungen Stifters zu einem »Klassik«-Begriff vgl. Eric A. Blackall: Adalbert Stifter. A critical Study. Cambridge 1948, S. 150-154.

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auch die illustrierende Funktion des Blitzes in der >AbdiasElementa philosophiae< des Piaristenpaters Josef Calasanz (eigentlich Franz Xaver) Likawetz (25. 11. 1773-13. 1. 1850). Likawetz stammte aus dem böhmischen Schinkau, 23 sein Vater war auf der gleichnamigen Adelsherrschaft als Verwalter tätig. Likawetz beendete das Gymnasium und trat als Amtsschreiber in das Prager Militär-Verpflegsamt ein. Nach zweimaligem Verlust seiner Stellung und einer Wiedereinstellung und nach dem Tod seines Vaters trat er 1791 in den Orden der frommen Schulen ein. 1798 zum Priester geweiht, lehrte er in den verschiedensten Städten und Klöstern seines Ordens in Böhmen. Professorenstellen der Theologie und Rhetorik in Leitomischl, Brünn und Prag folgten. Als Höhepunkt seiner Karriere ist eine Professur aus theoretischer und praktischer Philosophie am Lyceum in Graz anzusehen. An der Grazer Universität wurde Likawetz 1825 zum Dr. der Philosophie promoviert. 1828 war er Rektor der Universität Graz und 1832 ehrenamtlicher Leiter der steirischen Gymnasien. Ab 1836 finden wir ihn als Generalbibliothekar des Lyzeums in Laibach (Ljubljana). Die >Elementa philosophiaeKritik der reinen Vernunfo 1827 in Rom auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt worden war. Dieser Zusammenhang ist wiederum kennzeichnend für die österreichische Situation. Franz Exner (1802-1853), Philosophieprofessor in Prag, 1844 und dann 1848 als Ministerialrat an das neu gegründete Unterrichtsministerium nach Wien berufen, hat dies 1833 genau ausgesprochen: Gegen das Schulbuch von Likawetz, seit 1820 eingeführt, ist jetzt vom Nuntius des römischen Hofes zu Wien, eine so heftige Klage erhoben worden, daß man die Absetzung des Likawetz furchtet, und der gegenwärtige Referent ist beauftragt, bis zur Abfassung eines neuen Schulbuches irgend ein altes »orthodoxes Werk< vorzuschlagen. 24

Exner, der verdienstvolle Reformator der ungarischen und lombardischen Gymnasien, war nicht nur mit seinen Prager Vorlesungen, sondern auch mit seinen hauptsächlichsten Abhandlungen als Gegner der Hegeischen Philosophie hervorgetreten. Dem oben benannten Zeitgeist folgend, transponierte er dabei seine Fragestellungen auf das Mittelalter in >Ueber Nominalismus und Realismus< (Prag 1843), baute noch einmal die Utopie einer Gesamtheit des menschlichen Wissens durch die Aufklärung in >Ueber Leibnitzens Universalwissenschaft< (Prag 1845) und versuchte unter diesem Aspekt die seit der Französischen Revolution verlorene Einheit von Individuum und Gesellschaft wieder herzustellen: >Ueber die Lehre von der Einheit des Denkens und des Seins< (Prag 1848).

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24

Über Likawetz vgl.: Oesterreichische Narionalencyklopädie. Hrsg. von Gräffer und Czikann. Bd. III. Wien 1835, S. 451 sowie Wurzbach 15, S. 1 9 0 - 1 9 1 . Zitiert nach einem Brief Exners aus: Siegfried Frankfurter. Graf Leo Thun-Hohenstein, Franz Exner und Hermann Bonitz. Wien 1893, S. 67f.

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Obwohl Likawetz nun durchhaus ein Vertretet dieser Strömung war, welche die Aufklärung mit den Harmonisierungsaspekten einer katholisch gesehenen Gesamtwirklichkeit verbinden wollte, wurden die >Elementa< eines zu stringenten Rationalismus bezichtigt. Sie unternahmen in naiver Weise das Unmögliche, die zeitgenössische katholische Glaubenslehre in ihrer Universalität durch die Philosophie der Aufklärung und des deutschen Idealismus zu untermauern. Die grundsätzliche Widersprüchlichkeit dieses Unternehmens fiel weder dem Autor noch den Verantwortlichen der k. k. Unterrichtsbehörde auf. Unter diesem Aspekt bewies der Vatikan durch die Indizierung des Werks die schärfere Urteilskraft über die Brüchigkeit des ganzen Unternehmens als das österreichische Ministerium. 25 Das Werk gliedert sich in fünf Bände: I. II III. IV. V.

Elementa psychologiae empiricae. Systema philosophise theoreticae: Pars I.: Logica. Systema philosophiae theoreticae: Pars II.: Metaphysica. Systema philosophiae practicae: Pars I.: Ethica seu Aretologia. Systema philosophiae practicae Pars II.: Jus naturae. 26

Die Darstellungsweise ist rein scholastisch, mit stark formal ausgerichteter Gliederung und offenbar für den damaligen Schulbetrieb gedacht, in dem das Memorieren ganzer Kapitel die hauptsächlich angewendete Lehrmethode war. Innere Zusammenhänge der einzelnen Kapitel sind oft gar nicht gegeben. Der Aufbau des ganzen Werkes folgt, wie der Verfasser offen zugibt, einem zusammenfassenden Lehrbuch der Fundamentalphilosophie des Kant-Nachfolgers in Königsberg, nämlich Wilhelm Traugott Krugs (1770-1842) >Fundamentalphilosophie. System der theoretischen und System der praktischen Philosophie< (Königsberg 1803). Für die Rezeption des Werkes in Österreich war offenbar der Nachdrucker Franz Härter in Wien die Basis, den Likawetz gekannt haben dürfte. 27 Likawetz schreibt über sein Verhältnis zu dem Werk Krugs in der »Praefatio« des ersten Bandes der >ElementaStudienStudien< stellt eine künsderische Absicht in Abrede. Auf eine vorteilhafte Zusammenstellung der Arbeiten habe ich nicht gesonnen [...] Auf Schriftstellerthum macht das Vorliegende keinen Anspruch, sondern sein Wunsch ist nur, einzelnen Menschen, die ungefähr so denken und fühlen wie ich, eine heitere Stunde zu machen, die dann vielleicht weiter wirkt, und irgend ein sittlich Schönes fördern hilft. 29

Wort- und sinngemäß gilt diese Aussage auch für die Vorrede zu den >Bunten SteinenDe poetis praeclarissimis Germaniae< in 120 lateinischen Distichen für den deutschen Literaturunterricht. 34 Likawetz' Lehrbuch ist eine einzige Kompilation. Allerdings fällt die häufige Zitation und Nennung Kants auf. Schon in der oben genannten Einleitung zum II. Teil, den »Prolegomena«, denen die angeführten Sätze über den Gegenstand und den Endzweck des Philosophierens entnommen sind, gibt er einen historischen, sehr summarischen Abriß seines Gegenstandes, den er in der Gegenwart, d. h. mit Kant, enden läßt. Dort heißt es ausdrücklich, daß die zeitgenössische Philosophie durch Kants unsterbliche Werke wieder auf solide Grundlagen gestellt worden sei: »Studium istud [d. h. der Philosophie, Anm.] nostra demum aetate operibus immortalis Kant ad certa principia reductum et solidis fundamentis superaedificatum est.« 35 Dieses Lob wird durch das gesamte Werk fort geführt. Likawetz verweist auch auf erklärende und Kants Gedankengänge weiter entwickelnde oder kritisierende Werke aus der zeitgenössischen Philosophenszene, ζ. B. von Gottlieb Ernst Schulze (1761-1833): >Einige Bemerkungen über Kants philosophische Religionslehre< (1795) und dessen >Kritik der theoretischen Philosophie< (1801, 2 Bde.) und die für das Weltbild des österreichischen Vormärz wichtige Abhandlung »Über die Entdeckung, daß Leibnitz ein Katholik gewesen< sei. Ferner nennt Likawetz natürlich den Schwiegersohn Wielands, Karl Leonhard Reinhold (1758-1823) und dessen >Briefe über die Kantische Philosophie< (179092) sowie Johann Gottfried Karl Kiesewetter (1766—1819) und dessen populäre Darstellungen der Kantischen Philosophie in den Werken >Grundriß einer reinen allgemeinen Logik nach Kantischen Grundsätzen, zum Gebrauch für Vorlesungen< (2 Bde., 1791 und 1796) und im >Versuch einer faßlichen Darstellung der wichtigsten Wahrheiten der neuen Philosophie für Uneingeweihte< (2 Bde., 1795 und 1803). Offenkundig entnahm Likawetz Kants Abhandlungen >Gedancken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte< und >Einzig möglicher Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseyns Gottes
NachsommerLinzer Zeitung< Stellung nahm. Es ist dies ein Aufsatz, der sich an weitere Kreise wendet, in dem er sich mit dem Begriff der Freiheit auseinandersetzt und diese mit dem Maß der Vernunftentwicklung in Verbindung setzt. Er zeigt sich hier auch als Kenner der amerikanischen Verfassung, die aus einem revolutionären Geist entstanden ist, aber für den Kaiserstaat Osterreich sah er 1849 keine stabile Situation gegeben, die dazu Voraussetzung wäre, daß sich das Volk selbst eine Verfassung gibt. 27 Stifters Beamtenlaufbahn begann erst, nachdem er Wien im Revolutionsjahr 1848 verlassen hatte, um sich nach Oberösterreich zu begeben, wo er ja im Stift Kremsmünster seine Schulbildung empfangen hatte und das er auch später immer wieder aufsuchte. Dort kam er in Kontakt mit dem zum Landeschef bestimmten Alois Fischer, aber er unterhielt auch Beziehungen zu maßgeblichen Kreisen im Umkreis des Ministers Thun. Dieser hatte ja bedeutende Persönlichkeiten nach Wien zum Aufbau des Bildungswesens berufen, unter anderem den Prager Universitätsprofessor Franz Exner, mit dem Stifter einen brieflichen Gedankenaustausch pflegte. 28 In dieser Zeit war seine literarische Produktion weitgehend stillgelegt. Auch in Wien eröffneten sich für den Dichter Karrierechancen. Er mag seine Entscheidung für das ruhigere Linz, wo die Auswirkungen der Revolution weniger zu spüren waren, später gelegentlich bereut haben, aber er zog seine Wirkungsstätte in der oberösterreichischen Landeshauptstadt vor, denn Fischer schlug ihn schon

Vgl. Karl Bardachzi: Andreas Freiherr von Baumgartner als Vorbild und Wegweiser Adalbert Stifters. In: Anzeiger der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, phil. hist. Klasse 87 (1950), S. 525-543; Waltraud Heindl: Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich 1780-1848. Wien-Köln-Graz 1991, S. 296f. 26 Vgl. SW Bd. 20, S. 165ff (Nr. 267). Grillparzer verfaßte wohl einen Text, hatte aber keine Freude an dieser Tätigkeit. Vgl. dazu auch Franz Grasberger: Die Hymnen Österreichs. Tutzing 1968, S. 72-76. 27 Vgl. Starnberger (o. Anm. 3), S. 92ff. 2* Ernst von Frisch: Stifter im Dienst der Unterrichtsreform. Briefe an Dr. Franz Exner. In: Mitteilungen des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung, Ergänzungsbd. 11 (1929), S. 751-758. 25

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Georg Heilingset^er

am 22. März 1849 in einem Schreiben an den Minister Stadion als provisorischen Schulrat für Oberösterreich vor.25 Es dauerte allerdings noch bis zum Jahr 1850, bis er den Dienstposten tatsächlich erhielt, durch ein Dekret des Unterrichtsministers Leo Thun. Er wurde gleich in die VII. Diätenklasse eingereiht. A m 18. Juni konnte er seinen Diensteid auf den Kaiser ablegen. Nach etwa viereinhalb Jahren wurde aus dem provisorischen ein »wirklicher« Schulrat, der dann statt 1.500 Gulden 1.800 jährlich als Gehalt bezog. Schon ein Jahr vorher hatte man ihm auch das Ritterkreuz des Franz Josef Ordens verliehen, wobei die Liste der gleichzeitig bedachten Persönlichkeiten durchaus bemerkenswert ist, befanden sich doch darunter Arzte wie Karl von Rokitansky, der erste Vorstand des Institutes für österreichische Geschichtsforschung, Albert Jäger und Künsder wie die Architekten van der Null und Siccardsburg und der Maler Führich. Schon 1859 fallt dann das harte Wort von der Zwangsarbeit, die ihm auferlegt sei, da er das Wahre verleugnen und das Gegenteil fördern müsse. Infolge seines angegriffenen Gesundheitszustandes erhielt er ab 1864 mehrmals Sonderurlaub und der Gedanke an Versetzung in den Ruhestand wurde erwogen. Der Statthalter Spiegelfeld befürwortete dies und verwies auf die Verdienste des Mannes und seinen Rang als Dichter, der zu würdigen sei. Ein Problem bestand darin, daß Stifter nur etwas mehr als 15 Dienst jähre aufzuweisen hatte, wofür ihm eigentlich nur eine Pension von einem Drittel seines Aktivbezuges zugestanden wäre. Es war nun ein besonderer Glücksfall, daß damals Adolf Freiherr von Kriegs-Au die Agenden des Unterrichtswesens im Staatsministerium führte, der Stifter schon von seiner Tätigkeit bei der Linzer Statthalterei her kannte und hochschätzte. So kam es, daß der 60-Jährige seinen vollen Aktivitätsgehalt (1890 Gulden) als Pension erhielt, wie es von Kaiser Franz Josef in einer allerhöchsten Entschließung am 25. November 1865 festgesetzt wurde. Gleichzeitig wurde ihm auch taxfrei der Titel eines k.k. Hofrates verliehen und so kann man feststellen, daß damit das Kapitel der Beamtenlaufbahn des Dichters versöhnlich endete, wobei sich Kaiser und Staat in diesem Fall als äußerst großzügig erwiesen hatten.

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Ober die amtliche Laufbahn Stifters bietet die beste Übersicht: Alois Raimund Hein: Stifters Beamtenlaufbahn. In: Wiener Zeitung 1902, Nr. 172,175,178.

Friedrich Buchmayr

Die Pilgerreise nach Jerusalem Adalbert Stifters Beziehungen zum Stift St. Florian. Mit einem unveröffentlichten Brief Stifters

Adalbert Stifters Beziehungen zum Stift St. Florian sind bisher nicht Thema einer Studie gewesen. Das überrascht, weil regionalgeschichtliche Belange in der Stifterforschung immer von großer Bedeutung waren und mit entsprechendem Aufwand untersucht wurden. Freilich waren Stifters Kontakte zu St. Florian nicht so auffällig und häufig wie zu anderen Stiften, vor allem Kremsmünster, wo Stifter seine prägenden Gymnasialjahre verbracht hat. Für Kremsmünster liegen auch — ganz im Gegensatz zu St. Florian — vielfältige Reminiszenzen in Stifters eigenen Werken und Briefen vor.1 Die im Stift St. Florian vorhandenen Stifter-Zeugnisse lassen auf ein deutliches, wenn auch kein spektakuläres zeitgenössisches Interesse am Leben und Werk dieses Autors schließen. In der Stiftsbibliothek befinden sich einige wichtige Erstausgaben. Das früheste Werk ist bezeichnenderweise kein literarisches, sondern ein kunsthistorisches: der Sonderdruck >Über den geschnitzten Hochaltar in der Kirche zu Kefermarkt< (1853). Aus dem gleichen Jahr liegt die Erstausgabe der Sammlung >Bunte Steine< (1853) vor. Verstärktes Interesse am literarischen Werk Stifters setzte erst in den 1860-er Jahren ein. Hier sind die noch zu Lebzeiten Stifters erschienenen Werke >Der Nachsommer< (2. Aufl. 1865) und >Witiko< (1865-67) vorhanden. Der Tod Stifters im Jahr 1868 führte zu einer nochmaligen vermehrten Auseinandersetzung mit seinem Leben und Werk. In der Stiftsbibliothek finden sich die Ausgaben >Briefe< (1869), >Erzählungen< (1869) und >Vermischte Schriften< (1870), herausgegeben von Johann Aprent, und die durchwegs mehrbändigen Werke >Studien< (1870, weitere Ausg. von 1873), >Der Nachsommmer< (1877) und Ausgewählte Werke< (1887). Von den Sekundärwerken sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen: Emil Kuh, Zwei Dichter Österreichs: Franz Grillparzer — Adalbert Stifter (1872) und Jordan Kaj. Markus, Adalbert Stifter. Ein Denkmal (2. ill. AuiTri879). Das Interesse an Stifter beschränkte sich aber nicht auf sein literarisches und kunsthistorisches Oeuvre. In den Kunstsammlungen des Stifts befinden sich zwei Gegenstände, die aus Stifters Nachlaß erworben wurden. Das Ölgemälde >Mondlandschaft mit Windmühle* ist in der Mitte unten mit »Ad. Stifter 1842« signiert. Auf der Rückseite findet sich der Vermerk: »Erworben aus Stifters Nachlaß 1868 Wilhelm Pailler, Skizze von Adalbert Stifter 1842«. Demnach erwarb der Augustiner-Chorherr Wilhelm Pailler (1838-1895) 2

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Vgl. Moriz Enzinger: Adalbert Stifter und Kremsmünster. In: Μ. E.: Gesammelte Aufsätze zu Adalbert Stifter. Wien 1967, S. 3 5 ^ 7 . Vgl. zuletzt Friedrich Buchmayr: Wilhelm Pailler. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Hrsg. von Friedrich Wilhelm Bautz und Traugott Bautz. Bd. 20. Nordhausen 2002, Sp. 1141-1146.

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Friedrich Bttchmajr

das Ölbild 1868 aus Safters Nachlaß. Es handelte sich dabei um eine kleine Ölskizze auf Papier, die später auf Leinwand aufgezogen wurde. 3 In der Kunstsammlung des Stifts St. Florian befindet sich auch ein Rosenkranz mit zehn Jaspiskugeln (»Rosenkranzzehner«) aus dem 17. Jahrhundert. Als Memento mori ist ein Doppelkopf angebracht, der auf der einen Seite ein Mädchengesicht und auf der anderen einen Totenschädel zeigt. Auch dieser Gegenstand soll aus dem Nachlaß Adalbert Stifters stammen und ist vielleicht bei gleicher Gelegenheit von Wilhelm Pailler angekauft worden. 4 Der vorliegende Aufsatz ist eine erste biografische Spurensuche, die durch den Fund eines unbekannten Stifterbriefs im Stiftsarchiv St. Florian im Jahr 1998 ausgelöst wurde. Dieser Brief und die Ereignisse rund um diesen Brief werden Thema des 1. Teils sein. Im Mittelpunkt des 2. Teils steht der Kontakt Stifters zu einigen St. Florianer Historikern, der mit der Stoffsuche zu >Witiko< zusammenhing. Dabei kann auf profunde Vorarbeiten zurückgegriffen werden, nicht zuletzt auf die schon vorliegenden >WitikoWiener Kirchenzeitungc 23 A m 29. August 1853 traten Marineiiis Gefährten die Heimreise an, während er selbst noch im Heiligen Land blieb, um Land und Leute zu studieren. Marinelli wurde in Jerusalem feierlich zum Ritter vom Orden des Heiligen Grabes geschlagen. Mitte September erkrankte er wie sein Gefährte zuvor in Beirut an einem hartnäckigen Sumpffieber. Er sollte ein halbes Jahr lang darunter zu leiden haben. Da ihm der Arzt zur Genesung von seinem Fieber die milde, trockene Wärme Ägyptens empfahl, bestieg Marinelli am 30. Oktober in Jaffa einen französischen Dampfer, um nach Alexan-

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Anton Kerschbaumer: Kaleidoskop. Biographische Erinnerungen eines Achtzigjährigen. Wien 1906, S. 79. Ernst Marinelli: Des Sängers Pilgerfahrt. Wien 1855, S. 71-72 (Hervorhebungen wie im Druck). Vgl. Wiener Kirchenzeitung 1853: Nr. 71, 76, 89, 90,91,103,104 und 105. Die Berichte wurden neuerlich als Anhang in Marineiiis Lyrikband >Des Sängers Pilgerfahrt (1855) publiziert.

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dria überzusetzen. Dort brachten ihn heftige Ruhranfalle an den Rand des Todes. Erst zu Weihnachten 1853 kehrte Marinelli per Schiff über Triest nach Österreich zurück. Die während der Pilgerreise entstandenen Gedichte, die seine Ergriffenheit an den heiligen Stätten spiegeln, erschienen Anfang 1855 unter dem etwas gespreizten Titel >Des Sängers Pilgerfahrt in Linz. Marinelli kam damit dem Wunsch des Statthalters nach einer literarischen Verarbeitung der patriotischen Wallfahrt nach. Ein ausformulierter Reisebericht, der auf seinen Tagebucheintragungen basierte, fand keinen Verleger. 24 Weder im Tagebuch noch im Prosabericht erwähnte Marinelli übrigens die briefliche Einladung Adalbert Stifters. Ein Widmungsexemplar des Gedichtbandes sandte Marinelli an Kaiser Franz Joseph, der ihn daraufhin am 27. März 1855 mit dem Ritterkreuz des Franz-Joseph-Ordens auszeichnete. Es ist zu vermuten, daß Marinelli auch Stifter ein Exemplar von >Des Sängers Pilgerfahrt zukommen ließ. 25 Es gibt aber keinerlei Hinweise auf einen weiteren Kontakt zwischen Marinelli und Stifter. Für ein zumindest punktuelles weiteres Interesse Marinellis an Stifter spricht eine Literaturnotiz aus späteren Jahren, die er in sein Pilgertagebuch einlegte. 2 ' Marinelli wirkte nach seiner Rückkehr von der Pilgerreise als Professor für Rhetorik und Deutsche Literatur an Militärschulen in Straß (Steiermark), Eisenstadt, Bruck bei Znaim (Mähren) und Wien, wo er ab 1871 auch Militärpfarrer war. 1869 nahm er mit dem biblischen Drama >Saul< einen neuen literarischen Anlauf. Das Stück erlebte zwei Auflagen und bekam viele lobende Rezensionen. Burgtheaterdirektor Heinrich Laube stellte sogar eine Aufführungsmöglichkeit für den Fall einer Umarbeitung des fünften Aktes in Aussicht, die Marinelli allerdings nie vornahm. Wien 30. Aug. 68 Ich habe Ihren Saul, werther Herr, mit vollem Interesse gelesen. Er ist eine warme poetische Arbeit, bei welcher ich bis in den 4. Akt sogar an die Möglichkeit der Darstellung gedacht. Von da zersplittert er sich ein wenig durch Detail, und verdiente er den Versuch einer einfacheren, nachdrücklichen Fassung. Ergebenst

Laube?1 In der Folge trat Marinelli nur mehr mit Gelegenheitsversen als eine Art Hausdichter des Stifts St. Florian an die Öffentlichkeit.

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Tagebuch und Manuskript befinden sich im Stiftsarchiv St. Florian (Nachlaß Ernst Marinelli). In Stifters nicht erhaltener und freilich nur unvollständig rekonstruierter Bibliothek finden sich keine Werke Marineiiis. Vgl. Erwin Streitfeld: Aus Adalbert Stifters Bibliothek. Nach den Bücher- und Handschriften-Verzeichnissen in den Verlassenschaftsakten von Adalbert und Amalie Stifter. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1977, S. 1 0 3 - 1 4 8 . Auf dem Zettel steht: »Über Stifter N. 21 (21 Mai 881) der Siloah, Beilage d. Sion.« Dieser Artikel ließ sich bisher in keiner Stifter-Bibliografie und auch sonst nicht verifizieren. Stiftsarchiv St. Florian: Nachlaß Ernst Marinelli: Brief Heinrich Laubes an Marinelli vom 30. 8. 1868.

Friedrich Buchmayr

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Adalbert Stifters Stoffsuche für >Witiko< und die St. Florianer Historiker Mit dem St. Florianer Chorherrn und Stiftsarchivar Franz Kurz (1771-1843) begann die wissenschaftliche Geschichtsschreibung in Österreich. 28 Er stellte seine Biografien österreichischer Herrscher von König Ottokar bis Kaiser Friedrich IV. (III.) und seine vielen weiteren historischen Buchpublikationen auf eine solide Quellenbasis und versah sie mit einem eigenen Urkundenanhang. Kurz sah sich auch nach wissenschaftlichem Nachwuchs im eigenen Haus um und gilt als Ahnherr der so genannten »St. Florianer Historikerschule«. Jodok Stülz (1799-1872) trat 1820 nicht zuletzt aus Verehrung für den Historiker Franz Kurz in das Stift St. Florian ein und wurde sein gelehriger Schüler. Er ordnete das Stiftsarchiv und viele weitere Archive in Oberösterreich, erstellte Repertorien und publizierte 1835 eine Stiftsgeschichte, die bis heute durch keine neuere ersetzt ist. Stülz gehörte ab 1835 dem Verwaltungsausschuss des Landesmuseums an und gab die ersten fünf Bände des OO. Urkundenbuchs (zwischen 1839 und 1868) heraus. Neben seiner Tätigkeit als Stiftspfarrer (ab 1843) und als Propst des Stifts St. Florian (1859-1872) brachte er es zu einer umfangreichen Publikationsliste. 29 Ein weiterer Schüler von Franz Kurz war Joseph Chmel (1798-1858). Der passionierte Quellenforscher gilt heute als einer der bedeutendsten Geschichtsforscher des österreichischen Vormärz. 30 Jodok Stülz und Joseph Chmel zählten zu den ersten Mitgliedern der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien und zu den renommiertesten österreichischen Historikern des 19. Jahrhunderts. Auf weitere St. Florianer Historiker wie Joseph Gaisberger, Engelbert Mühlbacher und Albin Czerny kann in diesem Zusammenhang nur hingewiesen werden. Welche Faszination und Aura das Stift St. Florian als Heimstätte dieser großen Historiker von nicht nur regionaler, sondern überregionaler Bedeutung nach außen hin ausstrahlte, geht aus einer Passage in den 1844 veröffentlichten Memoiren der Wiener Schriftstellerin und Salondame Caroline Pichler hervor. »Hier lernte ich auch den, nachmals durch seine historischen Forschungen so sehr ausgezeichneten Chorherrn Franz Kurz kennen, wie denn überhaupt in diesem Stifte Männer von hoher Geistesbildung und mannigfacher wissenschaftlicher Richtung lebten und zum Teil noch leben, so daß es mich oft bedünkte, ich befände mich nicht in einem Kloster, sondern in einer Akademie, in der mehrere Gelehrte oder sonst gebildete Männer sich in ihren Bestrebungen zu höhern literarischen Zwecken vereinigt hätten.« 31 Freilich handelte es sich - vom Ziel einer auf Quellenstudien basierenden Geschichtsschreibung abgesehen — um alles andere als eine homogene »Schule« im engeren Sinn. Während Franz Kurz noch aufklärerisch geprägt war, sprach Jodok Stülz einem strengen romantischen Katholizismus zu, und Joseph Chmel vertrat eher liberale Ansichten.

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Vgl. Karl Rehberger: Die St. Florianer Historikerschule. Hundert Jahre Geschichtsschreibung. In: Ostbairische Grenzmarken 21 (1979), S. 144-154, hier S. 146f. Zu Jodok Stülz vgl. ebd., S. 150f. Vgl. zuletzt Friedrich Buchmayr: Joseph Chmel. In: Kirchenlexikon (o. Anm. 2). Bd. 14. Herzberg 1998, Sp. 878-885. Caroline Pichler: Denkwürdigkeiten aus meinem Leben. Hrsg. von Emil Karl Blümml. Bd. 1. München 1914, S. 288f.

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Bei den St. Florianer Historikern gab es übrigens durchaus unterschiedliche Auffassungen über das Verhältnis von Geschichtsforschung zu historischer Literatur (historisches Drama, historischer Roman). Franz Kurz hatte freilich freundschaftliche Auseinandersetzungen mit Caroline Pichler, weil er sich grundsätzlich gegen die Verwendung historischer Stoffe in literarischen Werken aussprach. Pichler sah es als »kleine Neckerei« gegen den ansonsten geschätzten Historiker, daß sie »ihm zum Trotze, der alle Vermischung von Poesie und Geschichte als strenger Wahrheitsfreund haßte, und der neueren Dichtkunst, Ossian ausgenommen, überhaupt abhold war«, 32 Passagen aus der Passio Floriani in ihren historischen Roman >Agathokles< einbaute. Bei aller Verehrung für die wissenschaftlichen Leistungen von Kurz war Pichler mit seinem noch aufklärerisch geprägtem, nüchternen Mittelalterbild nicht einverstanden. 33 Mit dem 1843 verstorbenen Franz Kurz kam Adalbert Stifter nie in Kontakt, wohl aber mit seinen Schülern Chmel und Stülz. Die Stoffwahl und Joseph Chmel Die Stoffsuche zum >Witiko< reicht bis in das Jahr 1847 zurück. A m 3. August 1847 schrieb Stifter an seinen Verleger Heckenast von einem »historischen Roman aus unserer babenbergischen Heldenzeit«, 34 für den ihn der Linzer Syndikus Anton Ritter von Spaun (1790-1849) vorbereitete. Spaun hatte 1833 den Musealverein und in weiterer Folge des Landesmuseum in Oberösterreich begründet und damit Anregungen des St. Florianer Historikers Franz Kurz aufgegriffen. 35 Ganz im Sinne von Kurz und seinen St. Florianer Schülern betätigte sich Spaun auch als landesgeschichtlicher Quellenforscher. Stifter lobte im genannten Brief an Heckenast eine Publikation Spauns aus dem Jahr 1840, in der er das >Nibelungenlied< Heinrich von Ofterdingen zugeschrieben und am Hof des Babenbergers Leopold des Glorreichen angesiedelt hatte. Damit wollte Spaun, den Hans Sturmberger als »>Klassiker< der Romantik in Oberösterreich« 36 apostrophierte, das Epos für Österreich reklamieren. Stifter begrüßte die Thesen Spauns, dem er 1849 auch einen Nachruf widmen sollte, und interessierte sich folglich offenbar so für die mittelalterliche Geschichte Österreichs, daß er selbst an die Bearbeitung eines Babenberger-Stoffes dachte. Einzelne Passagen in >Witiko< II konnten als »Relikt eines solchen Vorhabens« 37 identifiziert werden. Ab Dezember 1847 erwähnte Stifter wiederholt einen der Babenbergerzeit benachbarten Stoff, die Ottokarzeit (13. Jahrhundert), speziell das südböhmische Geschlecht

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Ebd., S. 291. Vgl. u. a. dazu Pichlers Urteil über Kurz' Rudolf IV. im Brief an Josef Gugger vom 25. 1. 1822 (zitiert bei Engelbert Mühlbacher: Die literarischen Leistungen des Stiftes St. Florian bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Innsbruck 1905, S. 216). SW. Bd. 17, S. 243-246, hier S. 245f. (Brief an Gustav Heckenast, 3. 8. 1847). Rehberger (o. Anm. 28), S. 146. Hans Sturmberger: Anton von Spaun und der Geist des Barockzeitalters. In: H. S.: Land ob der Enns und Österreich. Aufsätze und Vorträge. Linz 1979, S. 482-497, hier S. 482. WuB. Bd. 5.4, S. 219. Darin wird auf die Schilderungen des Wiener Hofs und auf die Erzählung der Markgräfin Agnes in >Witiko< II/2 verwiesen.

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der Rosenberger. 38 Um diese Zeit verwies Anton v. Spaun Stifter an den St. Florianer Augustiner-Chorherrn Joseph Chmel, der als Vizedirektor des Haus-, Hof- u. Staatsarchivs in Wien lebte. Joseph Chmel hatte selbst ausgiebige Studien zur mittelalterlichen Geschichte Österreichs gemacht, wenn auch vorwiegend zur spätmittelalterlichen und nur vereinzelt zur Ottokarzeit. Spaun und Chmel verband eine langjährige Freundschaft, die bis in das Jahr 1815 zurückreichte, als Chmel noch das Kremsmünsterer Gymnasium besuchte. Anton v. Spaun fungierte zu dieser Zeit als Leitfigur eines Freundschaftsbundes und spornte die Mitglieder — u. a. auch Joseph Chmel — zum Patriotismus, zum Studium der mittelalterlichen Geschichte und zu einem tugendhaften Lebenswandel an. 1818 wurde dieser Verein aus politischen Gründen verboten. 39 Im Nachlaß Chmels im Stiftsarchiv St. Florian haben sich insgesamt 53 Briefe von Anton v. Spaun erhalten, die den regen wissenschaftlichen Gedankenaustausch der beiden dokumentieren. Ein Hinweis auf Stifter ist darin aber nicht enthalten. Am 16. Dezember 1847 berichtete Stifter seinem Verleger von seiner Arbeit am Rosenbergerstoff, die »im Zusammenstellen des Materiales und im Färben desselben mit dem Dufte des Zeitalters« bestünde. Inzwischen hatte er sich auch mit Joseph Chmel getroffen. »Ich war bei Chmel, derselbe hat mich nicht nur sehr freundlich aufgenommen, sondern mein Vorhaben höchst glüklich genannt, und hat mir alle zu Gebote stehende Quellen zugewiesen. Ja, da er selber über die Ottokarzeit die ausgebreitetsten Studien gemacht hat, kamen wir darin überein, daß ich eine Reihe Werke über diese Zeit arbeiten werde, wozu er mir das Materiale und die Quellen zugänglich machen wird.« 40 Die lobenden Worte Stifters für Chmel sind deshalb bemerkenswert, weil sich ein anderer literarischer Bearbeiter historischer Stoffe, Franz Grillparzer, wiederholt höchst negativ über Chmel geäußert hat. Chmel versuchte 1838 mit einem Zeitschriftenprojekt ein breiteres Interesse für literarische und urkundliche Geschichtsdenkmäler zu wecken und wandte sich gegen die herrschende Tendenz, »eine Novelle, einen Roman, [...] hunderte und abermals hunderte von Geburten und Mißgeburten der Phantasie« höher zu schätzen »als ein gründlich gearbeitetes Geschichtswerk«, 41 kurz: gegen die epigonale romantisch-patriotische Literatur. Fühlte sich der Autor von »König Ottokars Glück und Ende< (1825), der in diesem Geschichtsdrama bei aller »äußeren, detailrealistischen« Quellentreue doch an der unhistorischen »Grund-Antithese zwischen dem guten deutschen Kaiser und dem übermütigen böhmischen König« 42 festgehalten hatte, dadurch angegriffen? Grillparzer reagierte jedenfalls mit dem Spottgedicht >Der Geschichtsforsche«, in dem er Chmel als Quellenforscher wenig schmeichelhaft mit einem Miststierler verglich, und mit einigen ätzenden Epigrammen.

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Ebd., S. 219. Vgl. Michael Kohlhäufl: Poetisches Vaterland. Dichtung und politisches Denken im Freundeskreis Franz Schuberts. Kassel 1999, bes. S. 43ff. SW. Bd. 17, S. 268-272, hier S. 270 (Brief an Gustav Heckenast, 16. 12. 1847). Vgl. Wolfgang Häusler: »Geschichtsforschung«, »Humanität« und »Nationalität«. Franz Grillparzer und der Historiker Joseph Chmel. In: MIÖG 100 (1992), 376-409, hier S. 393. Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815-1848. Bd. 3. Stuttgart 1980, S. 90.

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Der Geschichtsforscher Ich gehe mit meinem Kober Und meinem Hackenstab Und wo von Mist ein Schober Setz' ich die Bürde ab Da wird geforscht, gestochen Der Kehricht weit und tief, Ob irgend ein Abfall ein Knochen Sich etwa hinein verlief Und was ich da gefunden Trag' ich vergnügt nach Haus Und sied' in einsamen Stunden Manch schöne Notiz heraus.

Zur Erläuterung muß freilich hinzugefügt werden, daß Grillparzer diese Invektiven nur für die Schublade schrieb und dem Archivar- und Akademiekollegen offiziell immer korrekt gegenübertrat. 43 Von einer Konkurrenz oder gar Rivalität zwischen dem Geschichtsforscher und dem Geschichtsschreiber bzw. literarischen Bearbeiter historischer Stoffe ist jedenfalls bei Stifter und Chmel nichts zu bemerken. Chmel scheint Stifter im Gegenteil höchst verständnisvoll und motivierend gegenübergetreten zu sein, vielleicht auch deshalb, weil er Stifters Bemühen um Quellentreue bemerkte, und umgekehrt scheint Stifter durchaus die Nähe Chmels gesucht zu haben. Im Vorwort zum >Witiko< wird der Autor schreiben: »Mögen die Männer der Geschichte, wenn einige aus ihnen die folgenden Blätter einer Durchsicht würdigen, nicht zu viel Unrichtiges in ihnen finden.«44 Ob und in welchem Ausmaß Chmel Stifter tatsächlich Quellen übermittelt hat, läßt sich nicht feststellen. Es ist auch nicht bekannt, ob Chmel je den >Witiko< gelesen hat. Die nächsten Äußerungen Stifters zur Stoffwahl stammen erst aus den Jahren 1850 und 1851 und zeigen, daß sich der Autor langsam aus dem 13. Jahrhundert zum Ahnherrn der Rosenberger, Witiko, ins 12. Jahrhundert zurücktastete. 45 Genealogische Quellen von Jodok Stülz 46 Einen wichtigen Handlungs faden im Roman >Witiko< bildet die Freundschaft Witikos mit Bertha von Jugelbach, die er schließlich auch heiratet. Aus den spärlichen Geschichtsquellen zu Witiko ist über seine Frau und ihren Namen nichts bekannt. Es handelt sich dabei also um »eine selbständige Erfindung des Dichters«. 47 Auch die Zuordnung zum Geschlecht der Herren von Jugelbach erfolgte ausschließlich durch Stifter.

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Vgl. dazu Häusler (o. Anm. 41). S. 387. Das Epigramm ist zitiert nach ebd., S. 377. WuB.Bd. 5.1, S. 11. WuB. Bd. 5.4, S. 223. Ich stütze mich für diesen Themenbereich auf die fundierenden Forschungen von Karl Flöring: Die historischen Elemente in Adalbert Stifters >WitikoWitiko< 1/1 im Oktober 1860 führten die Eltern Berthas noch nicht den Namen von Jugelbach. Sie lebten in einfachen Verhältnissen mitten im Bayerischen Wald, und nichts wies auf eine Zugehörigkeit zu einem mächtigen österreichischen Adelsgeschlecht hin. In den Jahren 1861 und 1862 erschienen die beiden Aufsätze von Jodok Stülz. Bei der Durchsicht der Druckvorlage des 1. Bandes im Herbst 1864 setzte Stifter die Namen Heinrich und Wiulfhild, die er den Aufsätzen von Stülz entnommen hatte, für die Eltern Berthas ein. 49 Größere Änderungen, etwa was die nicht mehr ganz passenden Familienverhältnisse betrifft - darauf wird weiter unten noch einzugehen sein —, nahm Safter aber bei dieser Gelegenheit nicht mehr vor. Im 2. und 3. Band von >Witiko< erscheint Bertha dann eindeutig als Mitglied der Familie von Jugelbach. Warum ließ Stifter die Frau Witikos der Familie Jugelbach entstammen? Zunächst gab es einige historische Anhaltspunkte, die zumindest nicht dagegen sprachen. Stülz vermutete, daß ein Heinrich von Schaunberg ohne männliche Nachkommen gestorben wäre, 50 was Stifter offenbar zur Annahme führte, daß eine Erbtochter - eben Bertha - da gewesen sein könnte. Für das 13. Jahrhundert ist tatsächlich eine eheliche Verbindung der Häuser Rosenberg und Schaunberg nachgewiesen. 5 ' Auch das wird Stifter als gewisse historische Stütze für seine Vermutung empfunden haben. Außerdem wird es für Stifter reizvoll gewesen sein, Witiko mit dem Haus Jugelbach-Schaunberg zu verknüpfen, das Stülz als das »mächtigste und reichste Geschlecht, welches im Lande ob der Ens ansässig war«, 52 bezeichnete. In >Witiko< II kommt Stifter an zwei Stellen 53 auf das Geschlecht der von Jugelbach zu sprechen und greift dabei auf die Arbeiten von Stülz zurück. In >Witiko< III verarbeitet Stifter die Hinweise von Stülz auf die Errichtung der Schaunburg. 54 Stifter beschreibt die Burg während ihres Baus 55 und nach ihrer Fertigstellung als Schauplatz der Brautwerbung Witikos. 56 Er übernahm von Stülz auch den Wechsel des Familiennamens zu Schaunberg mit der Errichtung der gleichnamigen Burg. Auch bei den Namen der Dienstmänner folgte er Stülz. 57

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Jodok Stülz: Ueber die Abstammung der Herren und Grafen von Schaunberg, in: 21. Bericht über das Museum Francisco-Carolinum. Linz 1861. S. 1 - 1 3 ; Jodok Stülz: Zur Geschichte der Herren und Grafen von Schaunberg. In: Denkschriften der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Classe. Bd. 12 (1862), S. 1 4 7 - 3 6 8 . WuB. Bd. 5.4, S. 242. Vgl. Stülz: Abstammung (o. Anm. 48), S. 9 und Stülz, Geschichte (o. Anm. 48), S. 148 (in WuB. Bd. 5.4, S. 242 irrtümlich 147) und S. 155. Wok von Rosenberg heiratete Hedwig von Schaunberg. Vgl. Stülz: Geschichte (o. Anm. 48), S. 166. Dieses Faktum war Stifter schon 1850, also vor der Lektüre der Arbeiten von Stülz, bekannt. Vgl. Flöring (o. Anm. 46), S. 61 und WuB. Bd. 5.4, S. 242. Stülz, Abstammung (o. Anm. 48), S. 3. WuB. Bd. 5.2, S. 155f. und S. 181 f. Stülz, Geschichte (o. Anm. 48), S. 153. WuB. Bd. 5.3, S. 83f. Ebd., S. 1 9 4 - 2 0 5 Ebd., S. 196 nach Stülz, Geschichte (o. Anm. 48), S. 150 und 156.

Die Pilgerreise ηach Jerusalem.

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Beim Namen der Mutter Berthas, Wiulfhilt von Dornberg, verknüpfte Stifter zwei Vermutungen von Stülz. Die Gemahlin Heinrichs von Jugelbach hätte demnach Wiulfhilt (de scovenberc) heißen können, 58 und zwischen den Grafen von Dornberg und den Herren von Jugelbach hätte »eine nahe und innige Verwandtschaft« bestanden. 59 Daß Stifter Stülz auch bei gewissen Namensformen, z.B. »Ens« statt »Enns«, folgte, sei hier nur am Rande erwähnt. 60 Es gibt übrigens auch einen eindeutigen Hinweis von Stifter selbst auf die Lektüre eines des beiden Stülzaufsätze. Im September 1866 schrieb der verkühlte Dichter von den Lackerhäusern an seine Frau: »Ich schreibe diese Zeilen an dich im Bette, und habe Stülz Schauenberge als Unterlage«. 61 Wenn man bedenkt, daß der Museumsbericht nur eine dünne Broschüre ist, die Denkschrift hingegen ein umfangreiches, 30 cm hohes und wohl auch gebundenes Werk, dann kann es sich bei Stifters »Unterlage« wohl nur um den zweiten Aufsatz von Stülz gehandelt haben. Schriftliche Spuren seiner Arbeit mit den Stülzaufsätzen, also Exzerpte etc., sind im Nachlaß nicht erhalten geblieben. Zuletzt soll noch auf eine interessante Doppelgleisigkeit hingewiesen werden, die Stifter im Zusammenhang mit der Verarbeitung der Stülz-Quellen unterlief. Es geht dabei um die Charakteristik Heinrichs von Jugelbach, des Vaters Berthas. 62 Im 1. Kapitel von >Witiko< I tritt er als friedlich dahinlebender Mann auf, der sein Landgut im Böhmerwald verwaltet und ein trautes Familienleben führt. Die bei Stülz wiedergegebenen Quellen hingegen berichten von einem Abt, dessen Kloster vom »gehässigen« Heinrich Unrecht angetan wird. Im übrigen scheint Heinrich ein unstetes Wanderleben geführt zu haben. Er hatte den sprechenden Beinamen »Fahrirre« und nahm an zwei Kreuzzügen teil. 63 Stifter übernahm vieles aus den Quellen in den >Witiko< II,64 blieb aber gleichzeitig bei seiner verklärenden Charakteristik Heinrichs aus >Witiko< I. Dadurch kam es zu Widersprüchen, die Stifter nur notdürftig kaschieren konnte. Der Bischof von Passau berichtet über Heinrich: »Er ist ein gewaltthätiger ehrenhafter Mann [...] und beschützt, wen er beschützen will.« 65 Ein Knecht beteuert: »Unser Herr ist strenge, er hat die ganze Welt gesehen [...] Sonst ist er auch gut.« 66 Heinrich weist auf seine weiten Reisen und sagt im nächsten Satz von sich: »Ihr seht aber an meinem Waldhause, daß ich auch stille lebe.« 67 Stifter hat im Zusammenhang mit seinem >Witiko< gerne das umfangreiche Quellenstudium und die historische Treue seiner Arbeit betont. Gerade am Beispiel seines

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Stülz, Geschichte (o. Anm. 48), S. 155. Ebd., S. 147. Stifter schreibt wie Stülz Eferdingen statt Efferdingen und Ens statt Enns. Vgl. Flöring (wie Anm. 46), S. 63. SW. Bd. 21, S. 2 9 2 - 3 0 0 , hier S. 295 (Brief an Amalia Stifter, 3.-5. 9. 1866). Vgl. dazu Flöring (o. Anm. 46), S. 62f. Stülz, Geschichte (o. Anm. 48), S. 149 und 151. Der Hinweis auf den unersättlichen Geiz und die Charakterisierung als »Räuber« bezieht sich aber auf Heinrichs Vater Wemhart von Julbach und nicht auf Heinrich, wie dies irrtümlich bei Flöring (o. Anm. 46), S. 62 und in der Folge auch bei WuB. Bd. 5.4, S. 242 interpretiert wird. Vgl. die bereits erwähnten Passagen WuB. Bd. 5.2, S. 155f. und S. 181 f. Ebd., S. 180f. Ebd., S. 157. Ebd., S. 155.

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Friedrich Bucbmayr

Umgangs mit den historischen Aufsätzen von Jodok Stülz läßt sich aber auch »Stifters ambivalentes Verhältnis zur historischen Überlieferung« 68 ablesen. Einerseits bemühte er sich um historische Quellentreue, um »eine ins Detail gehende historische Fundierung des Witiko«; 6 ' andererseits blieb doch die dichterische Verklärung des Stoffes im Vordergrund, und Stifter war durchaus bereit, »die Quellentreue der Realisierung bestimmter eigener Intentionen zuliebe preiszugeben«. 70 Was das Quellenstudium betrifft, arbeitete Stifter beim >Witiko< nicht nach mittelalterlichen Primärquellen, sondern hielt sich an moderne Bearbeitungen dieses Materials wie hier durch Jodok Stülz. Adalbert Stifter kannte Jodok Stülz nicht nur aus der Literatur, sondern auch persönlich. Man traf sich wiederholt bei Ausschußsitzungen des Landesmuseums. A m 9. Dezember 1856 nahm Stifter eine Inspektion der Volksschule in St. Florian vor und hatte in diesem Zusammenhang auch ein Gespräch mit dem Stiftspfarrer und geistlichen Ortsschulaufseher Jodok Stülz, in dem es u. a. um das Verhalten der Kinder in und außerhalb der Schule und um das »religiöse, sittliche und häusliche Benehmen des Lehrers und der Gehilfen« ging. 71 Auch bei der ersten Inspektion vom 25. Juni 1852, zu der kein Bericht Stifters vorliegt, wird es ein ähnliches Gespräch mit Stiftspfarrer Stülz gegeben haben. 72 Weitere biografische Bezüge Stifters zu St. Florian Adalbert Stifter kam bei verschiedenen Gelegenheiten mit Augustiner-Chorherren von St. Florian in Kontakt. Daß er beruflich bei seinen diversen Volksschulinspektionen in den St. Florianer Pfarren (z.B. Ansfelden, Lasberg, St. Peter am Wimberg) auch mit den jeweiligen Ortspfarrern zu tun hatte, soll hier nur erwähnt werden. A m 26. Juni 1863 traf Stifter beispielsweise beim Dechant in Enns auch den St. Florianer Chorherrn Franz X. Aitenberger (1803-1864), der Pfarrer in Hargelsberg war. Stifter dürfte den Neffen seines Wiener Hausarztes Alois Aitenberger schon länger gekannt haben. Beim Treffen unterhielt man sich ausgiebig über den Arzt. Nachdem Stifter im Gasthaus »aus großer Ausschweifung des Gaumens« ein Schnitzel gespeist hatte, fuhr er mit dem Chorherrn Aitenberger nach Hargelsberg und Kronstorf. 73 Bei einem Sommeraufenthalt in Kirchschlag im Jahr 1866 empfing Stifter in seinem Gastzimmer einen »jungen Florianer Priester, der Profeßor ist«, und unterhielt sich mit ihm. 74 Es ist unklar, wen er damit gemeint haben könnte.

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WuB. Bd. 5.4, S. 240. Ebd., S. 243. Ebd., S. 241. Kurt Vancsa (Hrsg.): Die Schulakten Adalbert Stifters. Graz/Wien 1955, S. 1 8 1 - 1 8 3 . Vgl. Kurt Gerhard Fischer (Hrsg.): Documenta Paedagogica Austriaca. Adalbert Stifter. 2 Bde. Linz 1961 (Schriftenreihe des Adalbert Stifter-Institutes des Landes Oberösterreich 15), S. 247. SW. Bd. 20, S. 1 2 0 - 1 2 4 , hier S. 121 (Brief an Amalia Stifter, 26. 6. 1863). SW Bd. 21, S. 2 5 3 - 2 5 5 , hier S. 255 (Brief an Amalia Stifter, 23. und 24. 7. 1866). Der Pfarrer von Ried in der Riedmark, der St. Florianer Chorherr Vinzenz Blumauer, wohnte zu diesem Zeitpunkt im Zimmer unterhalb jenem Stifters. Vgl. S W Bd. 21, S. 2 5 8 - 2 6 5 , hier S. 261 (Brief an Amalia Stifter, 24.-27. 7. 1866).

Die Pilgerreise nach Jerusalem.

Ill

A m 28. März 1854 nahm Adalbert Stifter am Begräbnis des St. Florianer Propstes Michael Arneth (1771-1854) 7 5 teil. In Stifters Bibliothek befand sich eine Publikation Michael Arneths aus dem Jahr 1849, in der sich der Propst mit der Gymnasialreform befaßte. 76 Michael Arneth hatte diese seine Vorschläge als Generaldirektor der Gymnasialstudien in Oberösterreich und Salzburg (bis 1848) schon 1838 auf Wunsch der Studienhofkommission formuliert. Arneth übte freimütig Kritik am formalistischen Lehrziel der Jesuitengymnasien und trat für eine umfassende christlich-klassische Gymnasialbildung ein, in deren Lektüreplan neben den unzensurierten Werken der Griechen und Römer auch einzelne Stücke des Neuen Testaments stehen sollten. Konkrete Forderungen wie die Achtklassigkeit der Gymnasien fanden elf Jahre später auch Eingang in die Gymnasialreform und zeugen von Arneths pädagogischem Weitblick. Stifter setzte sich seit 1848 intensiv mit der Reform des Unterrichts- und Erziehungswesens auseinander, sowohl publizistisch als auch politisch beratend, und avancierte am 3. Juni 1850 zum k.k. Schulrat. 77 In diesem Kontext dürfte auch die Beschäftigung mit Arneths Vorschlägen zur Gymnasialreform gestanden sein. Vielleicht hat Stifter den St. Florianer Propst auch persönlich über dessen Bruder, den Historiker, Numismatiker und Archäologen Joseph v. Arneth (1791—1863), kennen gelernt. Die Verbindung Stifters mit dem Ehepaar Joseph und Antonie v. Arneth »dürfte schon von seiner Wiener Zeit herrühren«. 78 Adalbert Stifters Mündel Josephine Mohaupt fand auf Vermittlung von Antonie v. Arneth Aufnahme in einem der Fürsorge der Kaiserin Maria Anna unterstehenden Waiseninstitut. 79 Antonie v. Arneth ermöglichte Stifter einen persönlichen Audienztermin bei der Kaiserin, den Stifter aber dann aufgrund der politischen Ereignisse am 13. März 1848 nicht wahrnehmen konnte. 80 Der bis zu ihrer Eheschließung erfolgreichen Schauspielerin und Sängerin Antonie Arneth (geborene Adamberger) verdankte Stifter den Stoff für die Erzählung >Der Pförtner im Herrenhauses die 1848 entstand und 1852 im Jahrbuch >Libussa< erschien. Stifter schrieb einleitend zu dieser Erzählung: »Wir erzählen folgende Geschichte aus dem Munde einer Freundin, die sie uns mitgetheilt hat, und die selber ein kleiner Theil von ihr gewesen ist.« 81 Im Sommer 1852 arbeitete Stifter die Journalfassung um. Die Buchfassung erschien dann mit dem Titel >Turmalin< in der Sammlung >Bunte SteineTurmalinNaturlehre< von Baumgartner als ein auf der Höhe der Zeit stehendes wichtiges Werk in Experimentalphysik gesehen werden, und der »Supplementband« als eines der ersten Werke zur »Mathematischen Physik« (heute als »Theoretische Physik« bezeichnet) gelten. Es muß jedoch angemerkt werden, daß Baumgartner, da er stets einen engen Zusammenhang zu durch Messung nachprüfbaren Tatsachen herstellen will, eine auf Universalität abzielende mathematische Darstellung im »Supplementband« nicht betont. Zum Beispiel wird die wichtige »Analytische Mechanik« von Lagrange, die vorher im 2. Abschnitt hier erwähnt wurde, nicht angesprochen. Die Geschlossenheit der mathematischen Darstellung der Physik, wie dies fünfzig Jahre später zum Beispiel in den Vorlesungen von Kirchhoff 13 zum Ausdruck kommt, ist daher im »Supplementband« von Baumgartner noch nicht erreicht. 4. Andreas Baumgartner und Adalbert Stifter Die Rolle, die der Physiker und Staatsmann Andreas Baumgartner für Adalbert Stifter eingenommen hat, ist von dafür berufener Seite mehrfach dargestellt worden. Wir führen dazu hier die wichtigen Arbeiten von Bardachzi 14 und Lachinger 15 an. Hier soll nur

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Gustav Theodor Fechner: Repertorium der Experimentalphysik, Bde. 1—3. Leipzig 1832. Kirchhoff (o. Anm. 8). Bardachzi, Karl: Andreas Freiherr von Baumgartner als Vorbild und Wegweiser Adalbert Stifters. In: Anzeiger der phil.-hist. Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. 87. Jahrgang (1950), Nr. 232, S. 522-543. - Κ. B.: Andreas Freiherr von B a u m g a r t n e r als Risach in Adalbert Stifters »Nachsommer«. In: Anzeiger der phil.-hist. Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 88. Jahrgang (1951), S. 139-149. Johann Lachinger: Andreas Freiherr von Baumgartner. Naturwissenschaftler, Minister und Förderer Adalbert Stifters. In: Informationsbrief für sudetendeutsche Heimatarchive und Heimatmuseen. Sudetendeutsches Archiv München, 22. Folge (November 1982), S. 51—65.

Frati^ Pichler

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versucht werden, den (möglichen) Einfluß, den Baumgartners >Naturlehre< auf Adalbert Stifter in seinen Jugend- und Studienjahren sowie auch in den Jahren danach, als er noch als Hauslehrer seinen Unterhalt verdiente (dies war bis zu den Jahren nach 1840 der Fall), zu besprechen. Aus dem Buch von Enzinger 16 lernen wir, daß Adalbert Stifter in Kremsmünster im Schuljahr 1825/26 von Professor Marian Koller in Physik unterrichtet wurde, wobei die >Naturlehre< von Baumgartner als Lehrbuch diente. Wir wissen auch, daß Stifter dieses Fach (wie auch die übrigen Fächer) sehr erfolgreich absolviert hat (1. Semester »erste mit Lob«, 2. Semester »erste mit Vorzug«). Wir wissen weiter, daß Stifter neben seinen juridischen Studien an der Universität Wien dort auch Vorlesungen in den Naturwissenschaften und speziell solche in Physik bei Baumgartner besucht hat (angemerkt in der autobiographischen Skizze Stifters vom Jahre 1867). Neben der Motivation zum Besuch dieser Vorlesungen durch das sicher vorhandene wissenschaftliche Interesse für das Fach Physik konnte Stifter tiefere Kenntnisse in Physik, aber auch für seine Arbeit als Hauslehrer bei adeligen Familien gut gebrauchen. Gerade die sorgfältige bis ins Detail gehende Darstellung und Beweisführung physikalischer, auf empirischer Basis erhaltener Fakten, wie dies in der >Naturlehre< geschieht (wir können annehmen, daß auch der Vortrag von Professor Baumgartner in dieser Weise gestaltet war), vermittelte Stifter die nötigen tiefergehenden Kenntnisse in Physik, die für seine erfolgreiche Unterrichtstätigkeit als Hauslehrer notwendig war. Baumgartner schätzte sicher Adalbert Stifters Kenntnisse in Physik. Hätte er sonst seine Bewerbung um eine Stelle als (wohl Adjunkt) Professor für Physik in Prag unterstützt? Über den Einfluß von Andreas Baumgartner auf Adalbert Stifters naturwissenschaftliches Weltbild wurde bereits anderweitig genau berichtet (ζ. B. Bardachzi 17 ), von Begemann 1 8 wurde in jüngster Zeit insbesondere das Wechselspiel von Metaphysik und Empirie in Stifters Werk behandelt. Baumgartners >Naturlehre< zusammen mit dem »Supplementband« haben hier gewiß zu der philosophischen Sicht, die Adalbert Stifter vom Wesen der Natur und ihrer Erscheinungen hatte, einen wesentlichen Beitrag geliefert. 5. Schlußwort Es wurde versucht, das physikalische Werk >Naturlehre< zusammen mit dem zugehörigen »Supplementband« in seinem Inhalt und seiner Bedeutung darzustellen. Dies geschah im wesentlich durch Skizzierung seines Inhaltes und dem Vergleich mit existierenden anderen deutschsprachigen Werken der gleichen Zeitperiode. Eine nähere philosophische Einordnung, vor allem aus der Sicht der Wissenschaftstheorie, wurde dabei nicht versucht. Baumgartner erweist sich in diesem Werk jedoch als modern denkender Physiker, bei dem die empirisch durch Messungen und Experimente gewonnenen Fakten im Vordergrund stehen, wobei er induktiv auf die Grundgesetze schließt. Die mathematische Formulierung der Problemstellung und der Modelle sind bei ihm vorwiegend »instrumental«

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Enzinger (o. Anm. 2). O. Anm. 14. Christian Begemann: Metaphysik und Empirie. Konkurrierende Naturkonzepte im Werk Adalbert Stifters. In: Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt). Tübingen 2002, S. 91-126.

Andreas Baumgartner und sein Werk %ur >Natur/ehre
begrenzte< Leben durchaus als Vertreibung aus der geistigen Heimat erkannt und, im Wissen um seine Unumkehrbarkeit, trotzig akzeptiert: »Es ist nicht wahr, das Paradies ist nicht / Vergangen — nun erst ist es.. .«10 Noch bedarf es freilich einiger >Geduld< (so der Titel des folgenden Gedichts), bis die Erde diesen weltanschaulichen Aspekt erfüllt — »Nicht ungeduldig! [...] / Alles wird noch alles!« —, wobei der Appell dem Ich gilt. Denn seiner »vollen Brust« fallt es schwer, dieses neue, noch reliktär geistige und doch schon als >ruhiges< Wirkungsprinzip gezeichnete >A11< wahrzunehmen. 1 1 Gerade diese Wahrnehmung aber wird zur Aufgabe des Wissenschafders. Reportagen über die Realität Objektivitätserfahrungen sind für die Nachgeborenen der Goethezeit zunächst Bedingtheitserfahrungen. Zur >Wirklichkeit< wird Natur dort, wo sie als Ein-Wirkendes begegnet. »Ein Objekt, ein wirkliches Objekt wird mir nämlich nur da gegeben«, wo ein »auf mich wirkendes Wesen« der geistigen Selbsttätigkeit sinnlichen >Widerstand< bietet, schreibt Feuerbach 1843 in seinen Grundsätzen der Philosophie der ZukunftWien und die Wiener, in Bildern aus dem Leben< entstanden — und also geschrieben für eine an Lebenswirklichkeit interessierte und nach Sachlichkeit der Berichterstattung verlangende Leserschaft 13 —, verdankt die >Sonnenfinsternis< ihre Berühmtheit dem Umstand, daß es hier nicht um einen Teilbereich der Lebenswelt geht, sondern um die Revision ihrer weltanschaulichen Grundlagen. So zeigt sich der Reporter zunächst derart umfassend über die Planetenkoinzidenz informiert, daß er glaubt, »sie bereits gesehen« 14 zu haben. Und doch übertrifft die >wirkliche< Wahrnehmung Vorstellung und Wissen, selbst jede künstlerische Darstellung. 15 Paradigmatisch für die Objektivitätserfahrung der Epoche schildert Stifter die Verfinsterung der Erde als einen verstörenden Prozeß der Enteignung. Eine »seltsame fremde Empfindung« 1 6 überkommt den Betrachter, als die im Sonnenlicht »freundlich« 17 scheinende Welt sich verschattet, und diese Irritation steigert sich in dem Maß, wie mit dem Licht das vertraute Lebensbild entschwindet. Es war »ein lastend unheimliches Entfremden unserer Natur«: 18 Was Besitz schien, entzieht sich und erhält Eigenbedeutung, ja es gewinnt eine ungeahnte Dominanz. Im Schwinden des Lichts erweist sich die Abhängigkeit des Lebensraums von der kosmischen Strahlung, denn »Sterben« 19 überzieht Landschaft wie Kultur: »es war die Ohnmacht eines riesenhaften Körpers, unserer Erde«. 20 Damit verschiebt sich das Gewicht: Stand >unser< Leben bislang im Zentrum, so wird es nun als Teil eines natürlichen Welt-Alls erkennbar. Stifters Reportage macht anschaulich, was man im Blick auf die Philosophie als epochenspezifischen Wechsel im Begründungssystem bezeichnen kann: Grund der Welt ist nicht mehr der Geist, sondern die Natur. Vergleichsweise zitiert Stifter tradierte religiöse Bilder, um die Bedeutung des Erlebnisses zu artikulieren. »[E]s war nicht anders, als hätte Gott auf einmal ein deutliches Wort gesprochen [...]. Ich stieg von der Warte herab, wie [...] etwa Moses von dem brennenden Berge herabgestiegen sein mochte...« Doch handelt es sich um eine dezidiert empirische Erfahrung: »die Körper«, heißt es bezeichnenderweise, »stehen in solchen Abständen« und »sind so riesengroß, daß sie über alles, was wir groß heißen, hinaus schwellen...« Das Vorstellungsvermögen bietet »kein Maß mehr« für diese Dimension der Natur; sie relativiert die geozentrische wie die anthropozentrische Perspektive. Und man kann hinzufügen, das reale Universum übertrifft selbst die >Unendlichkeit< der Phantasie. 21

Zur Epochentypik dieses frührealistischen Interesses an Skizzen und Bildern aus dem »wirklichen« Leben vgl. Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Bd. II: Die Formenwelt. Stuttgart 1972, S. 743ff. 14 SW. Bd. 15, S. 5. 15 »Wir hatten uns das Eindämmern wie etwa ein Abendwerden vorgestellt.« (Ebd., S. 10) Aber: »Es gibt Dinge, die man fünfzig Jahre weiß, und im einundfunfzigsten erstaunt man über die Schwere und Furchtbarkeit ihres Inhaltes«, schreibt der selbst erst 38-jährige Berichterstatter über die Epoche dieser realen Erfahrung. Von keiner Kunst, gesteht der Reporter, sei er je »so ergriffen und erschüttert« worden. (Ebd., S. 15.) 16 Ebd., S. 8. 17 Ebd., S. 7. 18 Ebd., S. 10. " Ebd., S. 10. 20 Ebd., S. 12. 21 Ebd., S. 6. 13

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Gebannt verfolgt eine ganze Generation diese zunehmende Substituierung religiöser Vorstellungen durch die Faktoren der Realität. »Welch ein Ersatz für das hergebrachte begriffslose Wort Ewigkeit ist die Kenntnisnahme von der Entfernung der Himmelskörper und der Schnelligkeit des Lichtes«, heißt es im Bildungskapitel von Kellers >Grünem Heinriche22 Stifters Apotheose des lebensbedingenden Sonnenlichts — »Wie heilig, wie unbegreiflich und wie furchtbar ist jenes Ding, das uns stets umfluthet, das wir seelenlos genießen, und das unseren Erdball mit solchen Schaudern überzittern macht, wenn es sich entzieht, das Licht«23 — findet eine nahezu zeitgleiche Parallele in Feuerbachs Sakralisierung der Lebensbedingungen. Man braucht »nur den gewöhnlichen [...] Lauf der Dinge zu unterbrechen«, heißt es im >Wesen des Christentums (1841), »um dem Gemeinen ungemeine Bedeutung, dem lieben als solchem überhaupt religiöse Bedeutung abzugewinnen. Heilig sei uns darum das Brot, [...] aber auch heilig das Wasser!«24 Der Mensch ist als Lebewesen Teil dieses natürlichen Universums — aber er kann es aufgrund seiner spezifisch menschlichen Funktionen zugleich erkennen und steuern. Mehrfach weist der Reporter auf die Berechenbarkeit des astrophysikalischen Vorgangs hin, die ein ganz neues Bewußtsein für die Universalität der Naturgesetze mit sich bringe. Wenn »draußen in der Entfernung von Tausenden und Millionen Meilen, wohin nie ein Mensch gedrungen, an Körpern, deren Wesen nie ein Mensch erkannte, nun auf einmal etwas zur selben Secunde [geschieht], auf die es schon längst der Mensch auf Erden festgesetzt«,25 so erschließt diese Prognostizierbarkeit eine in ihrer Expansion schier unfaßbare Gesetzmäßigkeit der Welt. Der Akzent liegt auf der Nomothetik des Universums, die solches >Nachrechnen< überhaupt möglich macht. Wenn Stifter in diesem Kontext die Dialektik des Erhabenen zitiert, so zielt dies nicht mehr auf die Subjektivitätsvergewisserung des 18. Jahrhunderts, sondern auf die Bedeutung des Verstandes, der die Gesetzmäßigkeit der Natur zu begreifen vermag. Es ist dieser neue Begriff eines pragmatischen Intellekts, der den Fortschrittsoptimismus des beginnenden Realismus stützt. So heißt es in Stifters erster >WienStudien< verschiedentlich zu findende Charakterisierung der Natur als »Wüste« signalisiert das Vakuum an humanen Kategorien. Feuerbach: Werke (o. Anm. 12), Bd. 10: Kleinere Schriften III. Berlin 2 1982, S. 345. Feuerbach: Werke (o. Anm. 12), Bd. 9, S. 325f. WuB. Bd. 1.4, S. 265f. Feuerbach: Werke (o. Anm. 12), Bd. 6: Vorlesungen über das Wesen der Religion. Berlin 3 1984, S. 158. WuB. Bd. 1.4, S. 268f. Ebd., S. 245. »... und das Zittern der Espe kommt gewiß nur von den gar langen [...] Stielen, auf die sie ihre Blätter, wie Täfelchen stellt, daß sie jeder Hauch lüftet und wendet.« (Ebd., S. 246) Dieser Beobachtung, die den (mythologisch isolierten) Baum aus der Gesamtheit der natürlichen Phänomene heraus verständlich macht, kommt eine so fundamentale Bedeutung zu, daß sie dem Pfingstsonntag zugeordnet wird.

Die Ordnung der

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Die so gesehene Natur hat in sich Zweck und Zusammenhang — aber es ist ein Zweckzusammenhang, der menschlichen Erwartungen nicht entspricht. 40 So verteidigt Gregor den Geier, den sie »draußen ein Raub thier heißen«, obgleich er, nahrungssuchend, Fleisch frißt, »wie wir Alle auch«. Jahre vor Darwin zeigt Stifter wie selbstverständlich den Funktionszusammenhang der Natur: »Es muß wohl so Verordnung sein in der Welt, daß das Eine durch das Andere lebt.«41 Ästhetische oder ethische Aspekte der Natur bleiben daher stets menschliche Projektionen, wie der Erzähler hier mit Nachdruck betont. So liegt zwar in der Stille des unerschlossenen Hochwalds »ein Ausdruck von Tugend [...] und doch ist es zuletzt wieder die Seele allein, die all ihre innere Größe hinaus in das Gleichniß der Natur legt«.42 Das heißt: Der Wirkungskonnex der Natur beeindruckt den Menschen, vor allem im Kontrast zur Destruktivität des Kriegs; doch sind die Kategorien für diese Qualität menschlicher Art. »Ordnung, Zweck, Gesetz sind Worte, mit denen der Mensch die Werke der Natur in seine Sprache übersetzt, um sie zu verstehen«, heißt es entsprechend bei Feuerbach. 43 Das aber bedeutet auch: Die Natur ist, gerade fur den Realisten, ein >ungemütlicher< Ort, wie Feuerbach in Abgrenzung gegen die romantische Subjektivierung der Natur formuliert. Für Stifters Figuren bildet der Rückzug in eine nur-natürliche Natur daher keine Alternative. Wenn Gregor die Liebesbegegnung zwischen Clarissa und Ronald im Blick auf die rein biologische Funktion billigt — »es ist schon so Natur«, 44 der Schöpfer binde die Geschlechter durch Gefühle, damit sie »seinem Zwecke dienen« 45 —, dann übersieht er, wie das Liebespaar selbst, das Defizit an sittlichen Werten und Formen, die solch biologische Funktionen erst kultivieren würden. Und so ist es jenes Defizit an Kultur — wie Stifter in der Initialszene des Kampfes zeigt —, das mit natürlicher Konsequenz zum Untergang führt. Man muß die Natur kennen, die äußere wie die innere, um sie zu gestalten. Kein Werk zeigt deutlicher die Effizienz der Naturwissenschaft für diese Gestaltung als der scheinbar so düstere >AbdiasVerdichtung< der Natur: Gregors >NachDichtung< ist subjektiv, wie jede menschliche Weltsicht, basiert aber auf dem Wesen der Dinge (ebd., S. 259). Ebd., S. 264. Ebd., S. 241. Feuerbach (o. Anm. 33), S. 345f. WuB. Bd. 1.4, S. 290. Ebd., S. 298. WuB. Bd. 1.5, S. 240.

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materiellen Gütern vertraut, verharrt Abdias in einer Art sinnlicher Egozentrik, die seine Ehe instabil macht; die Kompensierung dieses Verlustes durch Besitz und Macht ziehen ihm Neid und Rache der Beduinen zu, die sein Haus verwüsten. Aber all dies scheint ja zugleich Teil der Lebensumstände, die das Individuum kaum zu steuern vermag. Es ist daher kein Wunder, daß Kindlers Literaturlexikon »die das Frühwerk des Dichters bestimmenden [...] fatalistischen Akzente« hervorhebt und eine »ursprünglich als sinnendeert erfahrene Welt« konstatiert. 47 Als sperrig erweist sich nur Stifters Vorrede, die mit programmatischer Intention Abdias' Lebensweg als Exempel dafür ankündigt, daß menschliche Schicksale selten jene Brüche aufweisen, die man auf den ersten Blick wahrzunehmen glaubt. »Es gibt Menschen«, heißt es in der diskursiven Einleitungspassage, »auf welche eine solche Reihe Ungemach aus heiterm Himmel fällt«, daß sie endlich resignieren, »so wie es auch andere gibt, die das Glück mit solch ausgesuchten Eigensinne heimsucht, daß es scheint, als kehrten sich [...] die Naturgesetze um, damit es zu ihrem Heile ausschlage«. Angesichts solcher Häufung von Unglück oder Glück kann sich der Betrachter kaum des Eindrucks von Absichtlichkeit erwehren. Dazu kommt der Schauder über die Gleichgültigkeit der Vorgänge, die hier »Segen«, dort »das Entsetzliche« bewirken. So sucht man nach Möglichkeiten des Begreifens, indem man sich Bilder von Geschehniszusammenhängen macht, die menschlichen Kategorien, Willen und Vernunft, entsprechen: »uns ist, als lange ein unsichtbarer Arm aus der Wolke, und thue [...] das Unbegreifliche«, 48 oder wir erstarren vor der scheinbaren »Unvernunft des Seins«. 49 Beide subjektivistischen Weltmodelle aber, Bestimmung wie Kontingenz, transzendieren die Ebene der »Naturgesetze«; sie externalisieren damit das Prinzip des Lebens, mit Konsequenzen für die menschliche Verantwortung. Kritik an diesen >menschlichen< Kategorien bedeutet nicht Sinnverzicht, sondern die Öffnung für neue Sinndimensionen. Was statt dessen wahrzunehmen wäre, zeigen Formulierungen wie »Unschuld« der Naturgesetze oder »Unbefangenheit« der Natur. Stifters Einleitung fuhrt, wie im >HochwaldNachsommer< in: Kindlers Literatur Lexikon im dtv in 25 Bdn. Bd. 15, München 1974, S. 6569. WuB. Bd. 1.5, S. 237. Ebd., S. 238. Ebd., S. 238.

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wahrzunehmen versteht, erkennt Zusammenhänge (»Folgen«) und damit auch Zurechenbares (»Verschulden«). Ich zeige kurz an zwei Textstellen, wie Stifter im Entwurf dieses Weltbilds auf die Naturwissenschaft rekurriert. Zur ersten Textpassage: Abdias, zurückgekehrt von Eroberungszügen und überrascht von der Plünderung seines Domizils, versucht das Leben seiner von der Geburt geschwächten Frau Deborah mit den beschränkten Mitteln des zerstörten Hauswesens zu retten. Da er mit dieser Fürsorge zugleich seine Egozentrik überwindet, geht die Erzählung, verstärkt noch in der Zweitfassung, vom gerafften Bericht zur detaillierten Beschreibung über, die in ihrer Sachlichkeit und Konsekutivität das veränderte Weltverhältnis des Helden reflektiert. Ich kürze hier ab, da ich die Zusammenhänge bereits andernorts dargestellt habe: 51 Stifter zeigt minutiös, wie Abdias aus dem »verdichteten Stoff einer guten Brühe« 5 2 Nahrung für die Kranke zubereitet. Der Held ist also mit einem vorpräparierten Nahrungsmittel unterwegs, das bis ins 20. Jahrhundert als >Liebigs Suppenwürfel· figurieren wird, und demonstriert damit in nahrungsphysiologischer Hinsicht den neusten Stand. Sein Autor konnte sich darüber in den >Chemischen Briefen< informieren, die Justus Liebig ab Herbst 1841 in der >Augsburger Allgemeinen* veröffentlichte, um einem breiteren Publikum nicht nur den Erkenntnisstand, sondern vor allem Weltbild und Denkweise der modernen Naturwissenschaft zu vermitteln. Stifter war vom Bildungswert dieses Unternehmens so beeindruckt, daß er eine Zeitlang an die parallele Abfassung »ästhetische[r] Briefe« dachte." Liebigs >Thierchemie< vermittelt dem Interessierten zunächst den zeittypischen Schock über die chemisch-physikalischen Grundlagen menschlichen Lebens. Doch versöhnt er diesen biologistischen Aspekt durch die Einsicht in die Funktionalität und interne Systematik der vitalen Prozesse. Liest man Liebigs gezielt um Verständnis werbende Darstellung, so verwundert es nicht, daß Stifter später den Helden seines Bildungsromans zum »Wissenschafder im Allgemeinen« 54 bestimmt. Liebig propagiert nämlich die Wissenschaft von der Natur, noch vor allem praktischen Interesse, als das Mittel nicht nur zu zeitgemäßer Erziehung, sondern prinzipiell zu »höherer Geistescultur«. Sie wirkt disziplinierend, indem sie das Denken von spekulativer Unverbindlichkeit auf den Boden der Naturbeobachtung zurückfuhrt, vermittelt die Erkenntnis der natürlichen Wirkungszusammenhänge, an denen der Mensch als Lebewesen partizipiert, und schafft dadurch die Voraussetzungen für ein >gebildet< kultiviertes Leben. Dem gebildeten Menschen ist diese Kenntniß ein Bedürfniß, insofern sie die Vervollkommnung seines geistigen Lebens in sich schließt; fur ihn ist das Bewußtwerden der Ursachen und Kräfte [...] an sich schon Gewinn, weil durch das Geschehene das Bestehende erst klar und das Auge für das Zukünftige empfanglich gemacht wird. Mit ihrer Bekanntschaft [...] verliert sich [...] das

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Monika Ritzer: Von Suppenwürfeln, Induktionsstrom und der Äquivalenz der Kräfte. Zur Bedeutung kulturhistorischer Kontextanalyse am Beispiel Stifters. In: KulturPoetik Bd. 2.1. (2002), S. 44-67. WuB. Bd. 1.5, S. 260. SW Bd. 17, S. 247 (Brief an Aurelius Buddeus, 21. 8.1847). Stifter wurde wohl noch von anderer Seite auf Liebig aufmerksam. Liebig, der 1838 im Aufsatz >Der Zustand der Chemie in Oesterreich die Rückständigkeit der Naturwissenschaften geißelte und eine neue Objektivität einforderte, befand sich 1840/41 unter Beteiligung des Kaisers in Sondierungsgesprächen über einen Wechsel nach Wien. Wilhelm Strube: Justus von Liebig. Eine Biographie. Beucha 1998, S. 126ff. WuB. Bd. 4.1, S. 17.

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Monika Ritter anscheinend Zufallige und Räthselhafte [...], und in dem natürlichsten, notwendigsten Zusammenhange erscheinen ihm die neuesten und gesteigerten Geistesrichtungen der Zeit. Indem er Besitz von den [...] Gütern nimmt, erwächst ihm der Vortheil, sie nach seinem Willen und Vermögen zu seinem Nutzen zu verwenden, [...] ihre Segnungen zu verbreiten.55

Dazu kommt der weltanschauliche Gewinn. Denn indem die Wissenschaft die Ursachen der Naturerscheinungen wie der uns alltäglich umgebenen Veränderungen erkundet, erschließt sie die Wirklichkeit in der ihr eigenen »wunderbaren Ordnung und Regelmäßigkeit«. Sie gewährt somit Einblick »in die Wunder der Schöpfung, [...] an die unser Dasein, Bestehen und unsre Entwicklung auf's engste geknüpft sind«. 56 Die religiösen Bezüge sind generationsbedingt; auch die naturwissenschaftliche Argumentation durchläuft in den 40er Jahren einen Säkularisierungsprozeß, und Liebigs ambivalente, mitunter theodizistische Diktion 57 dürfte Stifters Mentalität ebenso entgegenkommen wie sein Rückbezug auf den >natura-loquiturChemischen Briefe< vor. Nur kurz zu diesem Punkt: 63 Wie kaum ein anderer Bereich dokumentiert der Diskurs der Elektrizität die für die 40er Jahre charakteristische Überlappung der Weltbilder. Denn das zunehmend erkannte Wirkungsspektrum führt auch in der postromantischen Wissenschaft zu Überlegungen hinsichtlich der Universalität einer (nun physikalisch-chemisch erklärbaren) Elektrizität, und diese Überzeugung leitet, ungeachtet mancher naturphilosophischer Reminiszenz, Faradays Experimente zur Erforschung der Interaktion von elektrischen Strömen, Magnetismus und chemischen Faktoren. Dabei konkretisiert sich sein Wirklichkeitsmodell in der >FeldFelder< macht die alte Äthertheorie überflüssig und gibt zugleich eine natürliche Erklärung für die energetische Interaktion von Phänomenen. An die Stelle diskreter Körper treten die in einem räumlichen Wirkungsfeld verbundenen Kraftkomponenten; Wirkungen unterliegen also nicht mehr der unmittelbaren Kausalität, ohne daß es zur Erklärung spiritueller Impulse bedarf. Stifters Bild von den >Kräften der Natur, in denen unser Leben schwimmtNaturlehre< Stifter studierte, läßt bereits in seinen frühen Auflagen keinen Zweifel an dieser Ergründbarkeit: »Der B/iQ ist ein electrischer Funke, [...] wie der Funke aus dem Conductor großer Electrisirmaschinen [...]. Der Weg, den er nimmt, seine Farbe, seine Wirkungen [...], z.B. [...] das Durchbohren [...] schlechter Leiter [...], sind genau so, wie sie sich von einem so verstärkten, electrischen Funken erwarten lassen«. Andreas Baumgartner: Die Naturlehre nach ihrem gegenwärtigen Zustande mit Rücksicht auf mathematische Begründung. Wien 4 1832, S. 791. 62 WuB. Bd. 1.5, S. 318. 65 Vgl. Ritzer (o. Anm. 51), S. 55ff. " Während Baumgartner in der 4. Ausgabe (1832) noch unterschiedliche Auffassungen über Ursprung und Richtung des elektrischen Impulses (Wolken oder Erde) referiert, konstatiert er wenig später unter Bezug auf Faraday die Interaktion durch die »inducirende Wirkung«: »Im Jahre 1831 machte Faraday die wichtige Entdeckung, daß ein elektrischer Strom unter gewissen Umständen in einem nahen Leiter einen anderen elektrischen Strom zu erzeugen vermöchte«, wobei magnetische Objekte analoge Wirkungen aufweisen (»magneto-elektrischer Strom«). Baumgartner (o. Anm. 61), Wien "1845, S. 485ff. 61

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wissenschaftliche Verständnis interaktiver Prozesse, das der Dichter seinem Naturmodell zugrundelegt. Einen weiteren wissenschaftlichen Bezugspunkt für Stifters Naturmodell kann ich hier nur erwähnen:' 5 Mit dem Satz von der Erhaltung der Kraft - erstmals von Robert Mayer 1842 in Liebigs >Annalen< publiziert — gewinnt der bereits bei Faraday vorhandene Gedanke einer Wechselwirkung von elektrischen, magnetischen und chemischen Prozessen Berechenbarkeit, also wissenschaftliche Präzision. 66 Zum Text: Beiden Blitzschlägen gehen Hinweise auf bioelektrische Funktionen voraus, die durch das Defizit der zwei Protagonisten an seelischer Entwicklung und sozialem Kontakt verstärkt werden. Unmittelbar vor dem ersten Blitzschlag kommt es zur Krise: Das Mädchen erlebt eine Art Wachstumsschub und kann diese physische Energie (in der Absenz des Vaters) weniger denn je ableiten. Sie reagiert daher mit einem »Zittern« 67 der Glieder auf die atmosphärischen Spannungen und >induziert< während des folgenden Gewitters die elektrische Ladung der Wolken. Der Blitz durchschlägt ihr Zimmer und bewirkt, wie ein medizinischer Elektroschock, die Aufhebung ihrer Sehnerv-Lähmung. Auch der spätere tödliche Blitzschlag hat derart natürliche Voraussetzungen: Mit der Pubertät kulminiert die biologische »Spannung« 68 der partnerlosen Ditha und forciert ihre Sensibilität für die atmosphärische Elektrizität, die zur erneuten Reaktion führt. Durch diese Endogenität werden die kausalen Reaktionen ebenso zur >Blumenkette< wie durch die Wesensgemäßheit beider Vorgänge. So öffnet der erste >blitzartige< Kontakt dem weldosen Mädchen die Augen für »Anderes«; der zweite aber holt das weiterhin pflanzengleich vegetierende Naturwesen in den Naturzusammenhang zurück. Beide Male realisiert sich im elektrischen Kontakt zugleich jener Bezug zur Außenwelt, den Abdias und Ditha, die Abkömmlinge des >ausschließendsten Geschlechtsharte< Variante des Realitätsbezugs bezeichnen, den alle Realisten zur Bedingung erheben. Stifters positive Figuren nehmen ihn als >sanftes Gesetz< in ihr Handeln auf, die anderen demonstrieren die Lebensgesetze ex negativo. Der Sinn des >Abdias< liegt in der Konsistenz der Biographie, die auf diese Weise schlüssig >Folgen< und >Verschulden< demonstriert. Schuldzuweisungen wären ebenso unangebracht wie das endastende Argument, daß die Weltferne des Juden schon in Geschichte, Umwelt und Erziehung wurzelt. Was den realistischen Autor interessiert, ist stets der Zusammenhang von Bedingung und Konsequenz. Denn nur diese Folgerichtigkeit — die, wie gesagt, mit menschlichen Moralvorstellungen nichts zu tun hat69 — macht das natürlich 65

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Zu den Einzelheiten vgl. Ritzer (o. Anm. 51), S. 59ff. Mayers Entdeckung setzt sich mit Verspätung durch. Baumgartner beklagt noch 1845, daß es »bis jetzt an einer auf klare Begriff gegründeten Zusammenfassung beider Wirkungsweisen«, der elektrischen und magnetischen, »unter einerlei Gesichtspunct« mangele. Baumgartner (o. Anm. 64), S. 498. WuB. Bd. 1.5, S. 3 1 9 und 320. Ebd., S. 336. Dies unterscheidet das wissenschaftsgestützte Weltbild des 19. Jahrhunderts grundsätzlich vom wissenschaftlich harmonisierten des 18. Jahrhunderts. Die in der Forschung beliebten Rück-

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dimensionierte Leben verläßlich. »Gerade die Unerbittlichkeit, aber auch die Folgerichtigkeit, Notwendigkeit der tausend ineinandergreifenden Bedingungen [...] müssen uns reizen, das Steuer nicht fahren zu lassen«, heißt es entsprechend im >Grünen Heinrichnatürlichen< Rechten der Individuen und soziale Institutionen entsprechend neu zu begründen sind. Von der Notwendigkeit politischer Veränderungen im rigiden Staatsapparat Metternichs überzeugt und daher die »neugewonnene Freiheit« der Märztage euphorisch begrüßend, erkennt Stifter doch — wie übrigens auch Hebbel — sehr rasch die Gefahren, die die implizite >Naturalisierung< birgt. Dem »Menschenbeobachter«, schreibt Stifter am 25. Mai 1848 an Heckenast, zeige sich nun allenthalben die »Thatsache«, »daß so viele, welche die Freiheit begehrt haben, nun selber von Despotengelüsten heimgesucht werden«. 71 Gegen diese Depravation der Freiheit aber gibt es, wie Stifter in den folgenden Monaten zunehmend erkennt, »nur das einzige Mittel: >Bildung!Bildung< meint nun die Selbstbeschränkung individueller Ansprüche durch das Wissen um die Maßgeblichkeit — weil Lebensnotwendigkeit — von Funktionszusammenhängen. Der Bildungsbegriff erinnert daher nur noch von ferne an das Humanitätsideal der Klassik, denn nun gelten reale Voraussetzungen. Der nüchterne Bück orientiert sich an sozialen Grundbedingungen und historischen Erfahrungen. 7 5 »Kenntniß der Dinge und Verhältnisse, also die Wissenschaften«, auf dem einfachsten Wege gewonnen und für Jedermann verständlich dargelegt, sollen entsprechend die Bildung des Volkes fördern. 74 In Zeitungsartikeln mit ausgeprägt pädagogischer Tendenz sucht Stifter das Bewußtsein zunächst für die Notwendigkeit gesellschaftlicher Ordnung überhaupt, dann für die einzelnen Formen staatlicher Organisation zu schärfen. Denn Politik hat mit »lauter wirklichen, ins' Leben greifenden Dingen« 75 zu tun und ist somit kein Betätigungsfeld für »Phantasten« 76 — das ist Konsens der >NachmärzlerVerständigeDie WissenschaftsschuleStudien< w i r d n u n ein systematisch angelegter Bildungsroman. Die B e z u g s p u n k t e erläutert Stifter in seiner Vorrede zu d e n >Bunten Steinern, i n d e m er i m Rückgriff auf die Naturwissenschaft eine neue N a t u r a n s c h a u u n g entwickelt. Als >groß< galten bisher P h ä n o m e n e w i e Blitz, S t u r m oder Vulkan, weil m a n ursächliche Kräfte a m Werk sah: Beeindruckte i m mythologischen Stadium der M e n s c h h e i t ihre » w u n d e r bare« Gewalt, so imponierte i m 18. J a h r h u n d e r t ihre A f f i n i t ä t zu den B e s t i m m u n g s k a tegorien des Subjekts. D i e s e m »Blik des U n k u n d i g e n « stellt Stifter nun einen objektiven N a t u r b e g r i f f gegenüber, und zwar i m Rekurs auf ein m o d e r n e s Forschungsprojekt. Wenn ein Mann durch Jahre hindurch die Magnetnadel, deren eine Spize immer nach Norden weist, tagtäglich zu festgesezten Stunden beobachtete, und sich die Veränderungen [...] in einem Buche aufschriebe, so würde gewiß ein Unkundiger dieses Beginnen für ein kleines und für Spielerei ansehen: aber wie ehrfurchterregend wird dieses Kleine [...], wenn wir nun erfahren, daß diese Beobachtungen wirklich auf dem ganzen Erdboden angestellt werden, und daß aus den daraus zusammengestellten Tafeln ersichtlich wird, daß manche kleine Veränderungen an der Magnetnadel oft auf allen Punkten der Erde gleichzeitig und in gleichem Maße vor sich gehen [...].» E s könnte sein, d a ß Stifter sich hierbei auf den >Verein z u m Zwecke erdmagnetischer Beobachtung< bezieht. Uber A l e x a n d e r von H u m b o l d t k a m Carl Friedrich Gauß, ein allem Spekulativen abholder Mathematiker, in B e r ü h r u n g mit diesem Verein u n d b e g a n n sich für E r d m a g n e t i s m u s zu interessieren. Von 1836/37 an g a b G a u ß z u s a m m e n mit d e m j u n g e n Physiker W i l h e l m W e b e r die Hefte mit >Resultaten aus den B e o b a c h t u n g e n des m a g n e t i s c h e n Vereins< heraus. Sie enthielten 1 8 3 9 / 4 0 unter a n d e r e m die Gaußsche >Allgemeine T h e o r i e des Erdmagnetismusc A u f der Basis eines neuen M e ß v e r f a h r e n s - die Ä n d e r u n g e n des erdmagnetischen Feldes w a r e n in der Tat alle fünf M i n u t e n festgehalten w o r d e n — u n d exakter R e c h n u n g e n gelangte G a u ß zur A n g a b e der u n g e f ä h r e n L a g e der magnetischen Pole der Erde; w e n i g später w u r d e n seine B e r e c h n u n g e n durch Schiffsexpeditionen bestätigt. 8 4 Stifter fasziniert dieses wissenschaftliche Ergebnis, weil es ein globales W i r k u n g s feld »lehrt«, w o m a n bisher spontan-einzelne Kräfte, das W i r k e n »einseitiger Ursachen« 8 5

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Zit. nach Alois Raimund Hein: Adalbert Stifter. Sein Leben und seine Werke. Prag 1904, S. 232 (>Gutachten der Vertrauensmänner bezüglich der Errichtung eines provisorischen Landesschulrathes für Ober-Österreich und SalzburgVorrede< geschmähte Konkurrent Hebbel kommt mit den Jahren zu vergleichbaren Ergebnissen. 90 ) Daß Stifter die Unabschließbarkeit dieses wissenschaftsgestützten Weltbilds betont, bezeugt nur dessen Realität. Mit Comte könnte man sagen, daß der Verstand, aufgrund der »relativen Natur des positiven Geistes«, nicht zu universellen Erklärungen, sondern nur zu »systematischen Theorien« gelangt. Im Rahmen dessen aber sind alle Phänomene, »ob es sich um die geringsten oder die höchsten Wirkungen, um Stoß und Schwerkraft oder um Denken oder Sittlichkeit handelt«, einer »systematischen«, an der Gesetzmäßigkeit der Beziehungen orientierten Beurteilung zugänglich. 91 In dieser Systematik liegt auch bei Stifter das tertium comparationis für den Übergang von der Natur zur Kultur, den er mit einer erstaunlich radikalen Gleichsetzung vollzieht: »So wie es in der äußeren Natur ist, so ist es auch in der inneren, in der des menschlichen Geschlechtes.« 92 Die Basis dieser Ubertragbarkeit von Methode wie Resultat bildet die fundamentale Natürlichkeit menschlicher Lebensformen. Der Zweck der quasi naturwissenschaftlichen Analyse sozialer Relationen und Prozesse aber liegt darin, daß die nomothetische Erschließung der >äußeren< Natur — vor dem Hintergrund einer für beide Bereiche geltenden Gesetzmäßigkeit, die nichts anderes meint als die Die »Wissenschaft [...] lehrt uns, daß die electrische und magnetische Kraft auf einem ungeheuren Schauplaze wirke, daß sie auf der ganzen Erde und durch den ganzen Himmel verbreitet sei, daß sie alles umfließe, und sanft und unablässig verändernd bildend und lebenerzeugend sich darstelle.« (WuB. Bd. 2.2, S. 11.) "7 Ebd., S. 10. ** Auguste Comte: Rede über den Geist des Positivismus (1844). Fr./dt. Hrsg. von Iring Fetscher. Hamburg 1979, S. 67, 71 und andernorts. *" Dem anthropomorph-theologischen Weltbild entspricht die Supposition einer »einseitigen Ursache«, die »keine Wirkung eines anderen Wesens ist«, statt die »all- und gegenseitigen Wechselwirkung der Natur« anzuerkennen. Feuerbach: Vorlesungen (o. Anm. 36), S. 115f. 90 »Mit Blitzen kann man die Welt erhellen«, notiert Hebbel 1842 im Tagebuch, »aber keinen Ofen heizen« (T 2492). Friedrich Hebbel: Sämtliche Werke. Hist.-krit. Ausgabe. Hg. von Richard Maria Werner. I. Abteilung: Werke. 12 Bde. II. Abteilung: Tagebücher. 4 Bde. Berlin 1904-1907. 91 Comte (o. Anm. 88), S. 27ff. 92 WuB. Bd. 2.2, S. 11 f. 86

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Systemfunktion' 3 - in der >inneren< zur Normbildung taugt. Der »Menschenforscher« oder Sozialwissenschaftler »sieht [...] überall nur dieses Gesez allein, weil es das einzige Allgemeine das einzig Erhaltende und nie Endende ist«.94 Von daher ist >Sittlichkeit< nur der Wertbegriff für die dem (biologischen wie sozialen) Leben inhärente Funktionalität, und aus den Strukturen der sozialen Ökonomie wären die Rahmenbedingungen sozialen Verhaltens abzuleiten. Die Konsequenzen dieser >positiven< Normbegründung aber sind weitreichend und in ihrer eigentlichen Bedeutung nur vor dem Hintergrund der die ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchziehenden Institutionenkrise zu begreifen, die 1848 kulminiert. 95 In den Kontext dieser natürlichen Begründung kultureller Formen gehört auch Stifters ebenso bekannter wie mißverstandener Terminus des >sanften Gesetzes^ Er erscheint zunächst im Umfeld der Analyse — »Wir wollen das sanfte Gesez zu erbliken suchen, wodurch das menschliche Geschlecht geleitet wird« 96 —, wird aber dann, aufgrund seiner gattungskonstitutiven Funktion (>menschenerhaltendes GesetzRegel notwendigen Daseins< (Kant) darstellt, gewinnt für das Handeln den Wert eines Regulativs. Stifters Ethik aktiviert also den Doppelsinn von >Gesetz< als naturnotwendigem Sachverhalt und als Verhaltensvorschrift. In dieser Konvergenz von Notwendigkeit und Norm liegt zugleich die >SanftheitNachsommerAnlageNatur< des Individuums bezeichnen kann. Ihre Faktizität wird klar akzentuiert: Sie ist zum einen >gegeben< und insofern kein Gegenstand von Wahl oder Willkür; zum andern äußert sie sich mit einer Bestimmtheit, die Vergleiche mit einem »Naturgesez« zitiert. 98 Dies impliziert im Kontext eines realistischen Persönlichkeitsbegriffs keine Heteronomie, weil die individuelle Bedingtheit als Konstituens des eigenen Wesens erfahren wird. Deutlich macht dies etwa der Naturvergleich, mit dem Risach die Inadäquatheit auferlegter Handlungsformen beklagt.™

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Auch in der Menschheitsgeschichte sind die Taten »nur Hervorbringungen einzelner und einseitiger Kräfte«, die als Teil der vorgängigen sozialen Interaktionen (Liebe, Gerechtigkeit, Erziehung) das Leben konstituieren. »So ist dieses Gesez, so wie es in der Natur das welterhaltende ist, das menschenerhaltende.« (Ebd., S. 15.) Ebd., S. 13. Mit gleicher Zielsetzung fordert Hebbel im bekannten Vorwort zu >Maria Magdalene< (1844) die Fundierung der Institutionen »auf Nichts, als auf Sittlichkeit und Nothwendigkeit, die identisch sind«. Hebbel (o. Anm. 90), Bd. 11, S. 43. WuB. Bd. 2.2, S. 12. Vgl. WuB. Bd. 4.1, S. 218. WuB. Bd. 4.3, S. 58. »Wie tief aber mein Wesen litt, wenn ich in Arten des Handelns, die seiner Natur entgegengesezt sind, begriffen war, das kann ich Euch jezt kaum ausdrücken [...]. Mir fiel in jener Zeit immer un-

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Die >Natur< der Veranlagung bedingt auch ihre soziale Funktion. »Jedes D i n g und jeder Mensch«, pflegt Heinrichs Vater zu sagen, »könne nur eines sein, dieses aber muß er ganz sein.« 100 Alles Wirkliche ist ja, als raumzeitlich Bestimmtes, relativ. Man ist in der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr »Mensch überhaupt«, so Feuerbach, »sondern dieser bestimmte, besondere Mensch«. 1 0 1 Gerade in der Eigentümlichkeit seiner Wirkungsmöglichkeiten ist der Einzelne Teil eines arbeitsteiligen Funktionszusammenhangs, dessen Modell die Ö k o n o m i e einer korrelativ strukturierten, auf funktioneller Differenzierung basierenden Natur bildet. Nützlichkeitserwägungen wären daher schon pragmatisch gesehen kurzsichtig, weil sie die natürliche Zweckfahigkeit stören. Bestand hat die »Ordnung der Dinge« gerade, wenn sie »auf das Wesentliche ihrer Natur gegründet« ist. 102 Gelingt es, ein diesen natürlichen Grundlagen entsprechendes Leben zu führen, dann entwickelt sich alles Weitere folgerichtig: »Es ist gekommen, wie es k o m m e n mußte«, sagt Nathalie über ihre wesensgemäße Verbindung mit Heinrich. 1 0 3 D o c h behält der Realist stets zugleich die Gegebenheiten der Umwelt im Blick. So k o m m t es leider auch »auf den Umstand an, daß der rechten Anlage der rechte Gegenstand zugeführt wird, was so oft nicht der Fall ist.« 104 Z u berücksichtigen ist weiter die Komplexität der inneren und äußeren Faktoren, die - wie gerade Risachs Schicksal zeigt - eine klare Orientierung erschwert. Und schließlich sind die gegenwärtigen »gesellschaftlichen Verhältnisse« 105 kaum geeignet, Selbstfindungsprozesse zu fördern. 1 0 6 I m Wissen um diese Unkalkulierbarkeit des konkreten Lebens entwirft Stifters Roman den idealtypischen Fall einer dem Programm des Realismus entsprechenden Entwicklung. So ist der Held des realistischen Bildungsromans nicht Künstler, sondern >NaturforscherWissenschaftlichkeit< fungiert viel-

abweislich die Vergleichung ein, wenn etwas, das Flossen hat, fliegen, und etwas, das Flügel hat, schwimmen muß.« (WuB. Bd. 4.3, S. 141.) Mit einem ähnlichen Vergleich entwickelt Feuerbach die Konturen >vernünftigerNaturforscher< als solchen qualifiziert: Gegenstandsinteresse und Sachlichkeit. Diese Objektivität bedarf freilich, wie jede Naturanlage, der Kultivierung. Heinrichs positive Voraussetzungen müssen also unter der Einwirkung des Risach-Kreises die nötige Bildung erhalten. Zum einen nämlich zeigt sich Heinrich noch >einseitig< fixiert auf Stoffe und Fakten; er nimmt also Wirkungszusammenhänge nicht wahr. (Die Korrektur setzt ein mit Risachs Hinweis auf die Komplexität der Wetterkunde.) Zum andern stagniert seine Sachlichkeit in einer Form teilnahmsloser Beobachtung, die das auch für Comte unabdingbar subjektive Moment, Aktivität der Wahrnehmungskräfte und geistiges Synthesepotential, nicht reflektiert. Beide Mängel münden in Heinrichs >EmpirismusnaturalistischemEmpirismus< der frühen Restaurationszeit ab, die Phase der Datenerhebung und des theorielosen Versuchs. Vorbei sei die Zeit, wo die Naturwissenschaft »nichts als eine durch Erfahrung ausgemittelte und in Regeln gebrachte Experimentierkunst war«. Jetzt eruiere sie die Ursachen und Gesetze und stoße auf dieser Basis zur Theoriebildung vor. Erst dieses Begreifen der Natur biete die Möglichkeit zur Gestaltung der Lebensprozesse, wogegen der »Empiriker« dem Naturgeschehen verhaftet bleibe. Liebig (o. Anm. 55), S. 31 und andernorts. WuB. Bd. 4.1, S. 30. Ebd., S. 43. Ebd., S. 44. Dort heißt es auch: »Ich begann [...] als [...] Zusammenfassung aller meiner bisherigen Arbeiten die Wissenschaft der Bildung der Erdoberfläche und dadurch vielleicht der Bildung der Erde selber zu betreiben.«

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mit der Heinrich vor dem Eintritt in den Risach-Kreis sein wissenschaftliches Grundstudium abschließt. Zum zweiten konvergieren für ihn in der geologischen Forschung Wahrnehmung und Formerkenntnis: Der über die Gebirgszüge schweifende Blick erfaßt die Strukturen des Irdischen und demonstriert damit eine Transparenz der Wirklichkeit, die für Stifter wie für Keller grundlegend ist. 114 Das dritte Moment schließt hier an: Die Felsformationen dokumentieren, geologisch gesehen, zugleich Genese und Modifikation der Strukturen und komplettieren damit die Erkenntnis des Wirklichen um die historische Dimension. 115 Heinrich strebe, so Risach, »die Berge und das Land zu erforschen, und zur Kenntniß des Bestehenden und zur Herstellung der Geschichte des Gewordenen etwas beizutragen«. 116 Erweitert um die »Bedeutung der Erdgeschichte« ist diese Wissenschaft daher, wie es heißt, »eine sehr weite«; 117 denn es sind ja, wie der junge Geologe erkennt, die gleichen physikalischen Kräfte, die den Eiskristall dezimieren und in Jahrmillionen verändernd auf Gebirgszüge eingewirkt haben. Hier liegt die Aktualität und zeitgeschichtliche Brisanz von Heinrichs Berufswahl. Seine Naturforschung kulminiert in der Geologie, weil diese sich eben anschickt, die Einheitlichkeit und Allgemeingeltung der Naturgesetze nicht nur global, sondern auch historisch zu erweisen. Schon der ausfuhrliche Titel von Charles Lyells epochalem Werk (1830-33) ist daher Programm: >The Principles of Geology: being an Attempt to Explain the Former Changes of the Earth's Surface by Reference to Causes now in Operations Lyells >Erklärung< geht von der Kontinuität der naturgesetzlichen Veränderungen aus und erschließt auf diesem Weg nicht nur die Universalität und Invariabilität der Naturgesetze, sondern vor allem die Immanenz der Ordnung. Dies hat weltanschauliche Bedeutung; Feuerbach zitiert daher begeistert Lyells Forschungen als Widerlegung der Schöpfungsidee. 118 Wichtiger noch ist der Nachweis der Evolution: Drei Jahrzehnte vor Darwin, der sich ebenfalls auf

" 4 Das Theorem von der Transparenz der Wirklichkeit trennt die erste von der zweiten Generation der Realisten. Vgl. hierzu Monika Ritzer: Rätsel des Daseins und verborgene Linien. Zu C. F. Meyers literarischer Philosophie. In M. R. (Hrsg.): Conrad Ferdinand Meyer: Die Wirklichkeit der Zeit und die Wahrheit der Kunst. Tübingen 2001, S. 9-35, bes. S. 14f. Auch bei den Spätrealisten wird die Erscheinungswelt allerdings nie >zeichenhaftRealismus< oder >Idealismus