Inhalt: Helga SCHRECKENBERGER: Einleitung Helmut PEITSCH: Das Politische zur Natur werden lassen: Vom Umgang mit dem
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German Pages 403 [400] Year 2003
Table of contents :
Inhalt
Einleitung
'Das Politische zur Natur werden lassen': Vom Umgang mit dem Vorwurf der 'Tendenz' in der Exilliteratur
Exil und Expressionismus - Kontinuitäten eines kunsttheoretischen Diskurses nach 1933
Brechts ästhetische Theorie in den ersten Jahren des Exils
Aesthetics of Internment Art in Britain During the Second World War
Anti-Nazi-Cartoons deutschsprachiger Emigranten in Großbritannien: Ein spezielles Kapitel Karikaturengeschichte
Alfred Kerr's Unknown Film Scripts Written in Exile. The Famous Critic and His Change of Genre
Der "kleine Mann" als Übermensch in Stefan Heyms Thriller Hostages (1942): Zur Genese eines sozialistischen Stereotyps
Mimikry als Erfolgsrezept: Mascha Kalé- kos Exil im Exil
Das Exil als biographischer und ästhetischer Kontinuitätsbruch: Von Hans Sochaczewer zu José Orabuena
"Light from our past" Rückbesinnung auf jüdische Traditionen im amerikanischen Exil am Beispiel der Künstlerin Lulu Kayser-Darmstädter
Hölderlin in einer gottverlassenen Zeit
Macht und Ohnmacht der Wörter. Die Innenansicht des nationalsozialistischen Alltags im Exilroman Nach Mitternacht von Irmgard Keun
Wurde Lion Feuchtwanger durch das Exil zum Trivialautor?
Der große Einschnitt: Drei Exil-Gedichte Erich Frieds aus den frühen 40er Jahren
Die wiedergewonnene Identität: Zur Funktion der Erinnerung in Anna Seghers Erzählung "Der Ausflug der toten Mädchen"
Damnatio memoriae und "Werke von langer Dauer". Zwei ästhetische Grenzwerte in Brechts Exillyrik
Reise-Erinnerungen - die nachgetragenen Exilerfahrungen Fred Wanders
Der unheimliche Dichter. Zur deutschsprachigen Rezeption von Jakov Lind
Hilde Domin: Rückkehr aus dem Exil als Ursprung und Voraussetzung ihrer Poetologie
Poetiksplitter des nicht abgelegten Exils. Paul Celans Bremer Rede (1958)
The Impact of Rescued Artists on European and American Culture
Inhalt Helga Schreckenberger: Einleitung Helmut Peitsch: ‘Das Politische zur Natur werden lassen’: Vom Umgang mit dem Vorwurf der ‘Tendenz’ in der Exilliteratur Bettina Englmann: Exil und Expressionismus – Kontinuitäten eines kunsttheoretischen Diskurses nach 1933 Robert Cohen: Brechts ästhetische Theorie in den ersten Jahren des Exils Jutta Vinzent: Aesthetics of Internment Art in Britain During the Second World War Rosamunde Neugebauer: Anti-Nazi-Cartoons deutschsprachiger Emigranten in Großbritannien: Ein spezielles Kapitel Karikaturengeschichte Deborah Vietor-Engländer: Alfred Kerr’s Unknown Film Scripts Written in Exile. The Famous Critic and His Change of Genre Reinhard Zachau: Der “kleine Mann” als Übermensch in Stefan Heyms Thriller Hostages (1942): Zur Genese eines sozialistischen Stereotyps Karina von Tippelskirch: Mimikry als Erfolgsrezept: Mascha Kalékos Exil im Exil Thomas Schneider: Das Exil als biographischer und ästhetischer Kontinuitätsbruch: Von Hans Sochaczewer zu José Orabuena Petra Weckel: “Light from our past” – Rückbesinnung auf jüdische Traditionen im amerikanischen Exil am Beispiel der Künstlerin Lulu Kayser-Darmstädter Wulf Koepke: Hölderlin in einer gottverlassenen Zeit Hiltrud Häntzschel: Macht und Ohnmacht der Wörter. Die Innenansicht des nationalsozialistischen Alltags im Exilroman Nach Mitternacht von Irmgard Keun Karl Kröhnke: Wurde Lion Feuchtwanger durch das Exil zum Trivialautor? Jörg Thunecke: Der große Einschnitt: Drei Exil-Gedichte Erich Frieds aus den frühen 40er Jahren Heike Doane: Die wiedergewonnene Identität: Zur Funktion der Erinnerung in Anna Seghers Erzählung “Der Ausflug der toten Mädchen” Jochen Vogt: Damnatio memoriae und “Werke von langer Dauer”. Zwei ästhetische Grenzwerte in Brechts Exillyrik Hannes Krauss: Reise-Erinnerungen – die nachgetragenen Exilerfahrungen Fred Wanders Ursula Seeber: Der unheimliche Dichter. Zur deutschsprachigen Rezeption von Jakov Lind
9 15 37 55 71 93 123 141 157 173 187 209 235 251 265 287 301 319 333
Dieter Sevin: Hilde Domin: Rückkehr aus dem Exil als Ursprung und Voraussetzung ihrer Poetologie 353 Leonard Olschner: Poetiksplitter des nicht abgelegten Exils. Paul Celans Bremer Rede (1958) 365 Guy Stern: The Impact of Rescued Artists on European and American Culture 387
Anschriften der Autorinnen und Autoren/List of Contributors: Prof. Dr. Robert Cohen New York University, Dept. of Germ. Lang. and Lit. 19 University Place, Room 436 USA – New York, NY 10003 Dr. Heike Doane 203 Loch View Drive USA – Cary, NC 27511 Dr. Bettina Englmann Erstes Quersachsengäßchen 13 D – 86152 Augsburg Dr. Hiltrud Häntzschel Von Erckert-Str. 40 D – 81827 München Prof. Dr. Wulf Koepke 50 Winton Street USA – Roslindale, MA 02131 Dr. Hannes Krauss GH Universität Essen, FB 3, Pf. 103 754 D – 45117 Essen Dr. Karl Kröhnke Mulanskystr. 10 D – 60487 Frankfurt am Main Dr. Rosamunde Neugebauer Neuhofstr. 39 D – 60316 Frankfurt am Main Prof. Dr. Leonard Olschner University of London, Dept. of German Mile End Road UK – London E1 4NS Prof. Dr. Helmut Peitsch University of Wales, School of Europ. Studies PO Box 908 UK – Cardiff CFI 3YQ Dr. Thomas Schneider Erich Maria Remarque Archiv
Markt 6 D – 49069 Osnabrück Prof. Dr. Dieter Sevin Vanderbilt University, Dept. of Germ. & Slavic Lang. Box 1567, Station B USA – Nashville, TN 37235 Prof. Dr. Guy Stern Dept. of Germanic & Slavic Wayne State University, 443 Manoogian Hall 906 W. Warren USA – Detroit, MI 48202 Dr. Karina von Tippelskirch 165 Prospect Park West, #2R USA – Brooklyn, NY 11215 Prof. Jörg Thunecke Marsiliusstr. 20 D – 50937 Köln Dr. Ursula Seeber-Weyrer Österreichische Exilbibliothek im Literaturhaus Seidengasse 13 A – 1070 Wien Dr. Deborah Vietor-Engländer Technische Universität Darmstadt, Sprachzentrum Hochschulstr. 1 D – 48621Darmstadt Dr. Jutta Vinzent University of Birmingham, Dept. of History of Art UK – Birmingham B15 2TT Prof. Dr. Jochen Vogt GH Universität Essen, FB 3 Pf. 103 754 D – 45117 Essen Dr. Petra Weckel Wilhelm-Fraenger-Archiv Tschaikowskiweg 4 D – 14480 Potsdam Prof. Dr. Reinhard K. Zachau University of the South, German Department USA – Sewanee, TN 37375
Einleitung Zu den gängigen Vorwürfen gegenüber der literaturwissenschaftlichen Exilforschung gehört deren Vernachlässigung ästhetischer Phänomene zugunsten biographisch orientierter Erfassung und politischen oder moralischen Interpretationsstandpunkten. Diesen Eindruck konnten auch die verschiedenen Kongresse1 und Studien2 zum Thema Exilästhetik bis jetzt nicht korrigieren, aber selbst innerhalb der Exilforschung besteht die Ansicht, daß dieses Thema bei weitem noch nicht erschöpft ist und vor allem auf dem Gebiet der exilspezifischen Textinterpretation noch weitere Debatten und Untersuchungen angesagt sind. 3 Diesen Auftrag stellte sich auch die Tagung Die Ästhetiken des Exils/ Aesthetics of Exile, die vom 17. bis 20. September 1998 an der Universität von Vermont stattfand. Dabei stand vor allem der Zusammenhang zwischen Exil und ästhetischer Praxis im Mittelpunkt der Diskussion: Welchen Einfluß haben die Exilbedingungen auf die künstlerische Produktion? Welche Verschiebungen in den ästhetischen Wertmaßstäben treten ein? Gibt es einen Wandel in den Schreibstrategien und in welchem Zusammenhang steht dieser zu der spezifischen Exilerfahrung des/der jeweiligen Künstlers/in? Welche Einflüsse sind dem jeweiligen Gastland zuzuschreiben? Gibt es eine parallele Entwicklung auf allen 1
In den Vereinigten Staaten fand bereits 1975 an der University of Alabama eine Tagung mit dem Thema “Protest-Form-Tradition” statt und auch die Tagung von 1983 an der University of California in Los Angeles mit dem Thema “Schreiben im Exil” hatte sich zur Aufgabe gestellt, exilspezifische Merkmale in der Textinterpretation herauszuarbeiten. Die Vorträge beider Tagungen wurden veröffentlicht: Protest-Form-Tradition. Essays on German Exile Literature. Hrsg. v. Joseph P. Strelka, Robert F. Bell und Eugene Dobson. Alabama 1979, sowie: Schreiben im Exil. Zur Ästhetik der deutschen Exilliteratur 1933-1945. Hrsg. v. Alexander Stephan und Hans Wagener. Bonn 1985. 2 Vgl. u.a. Joseph P. Strelka: Exilliteratur. Grundprobleme der Theorie. Aspekte der Geschichte und Kritik. Bern/Frankfurt a.M. /New York 1983. S. 51-66; Frank Trommler: Prüfstein Tragik. Fragestellungen zur Exilliteratur. In: Deutschsprachige Exilliteratur. Studien zu ihrer Bestimmung im Kontext der Epoche von 1930 bis 1960. Hrsg. v. Wulf Koepke und Michael Winkler. Bonn 1984. S. 12-24; Guy Stern: Prolegomena zu einer Typologie der Exilliteratur. In: Schreiben im Exil. A.a.O. S. 1-17; Werner Vordtriede: Vorläufige Gedanken zu einer Typologie der Exilliteratur. In: Exilliteratur 1933-45. Hrsg. v. Wulf Koepke und Michael Winkler. Darmstadt 1989. S. 23-43. 3 Vgl. Wulf Koepke: Anmerkungen zur Kontinuität der Exilliteraturforschung in Nordamerika. In: Exilforschung. Ein Internationales Jahrbuch 14 (1996). S. 75-94.
10 Gebieten der künstlerischen Produktion? Gibt es bestimmte ästhetische Verfahrensweisen, die für die Exilerfahrung charakteristisch sind? Gibt es parallele Entwicklungen auf allen Gebieten der Kunst? Die vorliegenden Aufsätze, bei denen es sich um die überarbeiteten Tagungsbeiträge handelt, befassen sich mit diesen Fragen auf verschiedenste Weise: Neben Neubewertungen der verschiedenen literaturtheoretischen Diskurse im Exil stehen Darstellungen exilbedingter künstlerischen Umorientierungen und Bewertungen der Werkentwicklung einzelner KünstlerInnen sowie Untersuchungen zu Texten, die gängige zeitliche Eingrenzung der Exilkunst auf die Jahre 1933 bis 1945 deutlich überschreiten, wobei vor allem die Themen Sprache, Identität und Erinnerungsarbeit in den Vordergrund treten. Wichtig erscheint mir auch der vergleichende Blick auf Entwicklungen in anderen Kunstformen, die die Aufsätze der Kunsthistorikerinnen Jutta Vinzent, Rosamunde Neugebauer und Petra Weckel erlauben. Die Auseinandersetzung mit den ästhetischen Diskursen, die im Exil entwickelt wurden, steht am Beginn des Bandes, da sich in diesen theoretischen Überlegungen nicht nur die allgemeinen Probleme der Exilkunst, sondern auch die unterschiedlichen Lösungsversuche abzeichnen. Helmut Peitschs Vortrag weist anhand der Debatten des literarischen Exils eine Verschiebung der Bewertungskategorien nach, nämlich die Ersetzung des Begriffs der Tendenz durch die Hierarchisierung von Charakter und Talent. Peitschs Vortrag zielt demnach auf das noch immer aktuelle Problem der ästhetischen Bewertung der Exilliteratur, das auch in verschiedenen anderen Arbeiten, z.B. in der von Ursula Seeber angesprochen wird. Bettina Englmann rekonstruiert die sogenannte Expressionismusdebatte im Rahmen der Fragestellung nach der Kontinuität der Moderne. In den literaturtheoretischen und -kritischen Äußerungen von Klaus Mann, Franz Werfel, Alfred Döblin und Hermann Broch findet Englmann diese ästhetische Kontinuität eingefordert und verwahrt sich damit gegen die Theorie einer rückwärtsgewandten, bestenfalls stagnierenden Exilliteratur. Hingegen zeigt Robert Cohens Analyse von Brechts “Gelegenheitsästhetik” eine exilbedingte Abkehr des Autors von den formalen Prinzipien der Moderne auf. Die durch die Exilsituation bedingte Anpassung an neue Lebensbedingungen, Arbeitsmärkte und deren Bedürfnisse stehen im Mittelpunkt der Beiträge von Jutta Vinzent, Rosamunde Neugebauer, Deborah Vietor-Engländer und Reinhard Zachau. Vinzent präsentiert die spezifische Ästhetik der Werke, die unter engen und deprimierenden Bedingungen in britischen Internierungslagern entstanden. Neugebauer analysiert die Hinwendung zu satirischen politischen Cartoons von in Großbritannien exilierten Malern. Während die künstlerische Neuorientierung als Folge des Exils auf dem Gebiet der darstellenden Kunst als geglückt und künstlerisch wertvoll gewertet wird, beobachten die Literaturhistoriker vorwiegend eine exilbedingte Kom-
11 merzialisierung der Kunst mit negativen Folgen. Vietor-Engländer wertet unter dem Druck der Exilbedingungen entstandenen Drehbücher Alfred Kerrs als ästhetische Misserfolge. Ähnlich kritisch sieht Zachau Stefan Heyms Versuch, das Genre des amerikanischen Thrillers in den Dienst einer VolksfrontLiteratur zu stellen. Mit den ästhetischen Konsequenzen des durch die Exilerfahrung bewirkten Identitätsverlustes oder vielmehr des durch sie notwendig erscheinenden neuen Identitätsentwurfs – ein Phänomen, das vor allem bei KünstlerInnen jüdischer Herkunft nachzuvollziehen ist – beschäftigen sich drei Beiträge. Karina von Tippelskirch zeichnet Mascha Kalékos “Wahlidentität” als Berlinerin als Folge der doppelten Exilierung nach, die die Künstlerin veranlaßte, auch in autobiographischen Gedichten Hinweise auf die ostjüdische Herkunft zu unterdrücken. Unter Betonung der Legitimation beider “Identitäten” zeichnet Thomas Schneider Hans Sochaczewers exilbedingte Identifizierung mit José Orabuena, dem Helden seines Romans Kindheit in Cordoba, nach. Petra Weckel verfolgt anhand von Lulu Darmstädter-Kaysers Kunstwerken deren Weg zurück zur jüdischen Tradition. Gemeinsamkeiten weisen auch die Beiträge auf, die sich mit dem Thema Exil und Sprache auseinandersetzen. Jedoch geht es weniger um das von den Exilanten selbst oft thematisierte Problem der Sprachnot oder der Sprachverarmung, das aus dem Verlust der gewohnten sprachlichen Umgebung oder der zwangsläufigen Aneignung einer neuen Sprache resultiert, sondern um das Ringen nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten, die der Exilerfahrung bzw. den neuen historischen Gegebenheiten gerecht werden. Wulf Koepke versucht dies in seiner Arbeit anhand einer Neubewertung von Pathos aufzuzeigen. Den Rückgriff auf Psalmen von Autoren wie etwa Karl Wolfskehl, Erich Arendt oder Paul Celan wertet er als Möglichkeit, eine emotionale Gegensprache zum Faschismus zu entwickeln. Hiltrud Häntzschel verweist auf Irmgard Keuns doppelbödige Sprache als adressatenbezogene Technik, die es dem Leser ermöglichen soll, sich aus seiner Befangenheit in der faschistischen Rede zu lösen. Jörg Thunecke wertet Erich Frieds Exillyrik, wenn auch nicht formal, so doch auf dem Gebiet der sprachlichen Umsetzung von Exilthemen als ästhetisch innovativ. Auch Karl Kröhnkes Beitrag ruft zu einem differenzierteren Umgang mit dem Thema “Exil und Sprache” auf, indem er nachzuweisen sucht, daß die Exilsituation die sprachlichen Unebenheiten in Lion Feuchtwangers Romanen zwar gefördert, jedoch nicht bewirkt hatte. Eine Anzahl von Beiträgen befaβt sich mit den Problemen von Erinnerung und Gedächtnis, wobei es nicht nur um autobiographische Texte geht. Heike Doane sieht die Funktion der Erinnerung in Anna Seghers “Ausflug der toten Mädchen” als Mittel, das Ausmaß der Zerstörung hervorzuheben. Jochen Vogt interpretiert Brechts Gedichte als Versuche, gegen die Bedrohung des kulturellen Gedächtnisses durch die Exilsituation und die Vernich-
12 tungsversuche der Nazis anzuschreiben. Eine soziologische Theoretisierung von Erinnerung findet sich in Hannes Krauss’ Beitrag zu Fred Wander. Er betont sowohl den DDR-Kontext als auch die zeitliche Position des Exils vor der Deportation, welche dem österreichischen Juden Fred Wander das französische Exil zum Idealort werden ließ, den er in seinen dem Genre der Reiseliteratur nahestehenden autobiographischen Texten beschreibt. Die Themenkomplexe Sprache, Identität und Erinnerung treffen sich in den Beiträgen, die sich mit dem Nachwirken des Exils befassen. Ursula Seeber untersucht anhand der deutschsprachigen Rezeption Jakov Linds, welche sprachlichen und weltanschaulichen Kriterien auf die im Exil entstandene Literatur angewandt werden. Dieter Sevin ortet die Voraussetzungen für Hilde Domins Poetologie, in deren Zentrum die Themen Sprache, Erinnerung und Identitätssuche stehen, in der Exilerfahrung. Auch Leonard Olschner weist anhand der intertextuellen Bezüge von Paul Celans Bremer Rede die kontinuierliche Auseinandersetzung des Dichters mit dem Exil nach. Den Abschluß bildet Guy Sterns Überblick über die Breite und Vielfalt der künstlerischen Emigration und der ästhetischen Impulse, die sie unter dem Eindruck der Exilerfahrung und im Austausch mit den verschiedenen Gastländern zu leisten vermochte. Diese Vielfalt verweist auf die Schwierigkeit, die Exilkunst als ästhetische Einheit zu erfassen. Trotz der Gemeinsamkeiten und Schwerpunkte, die sich in den vorliegenden Arbeiten abzeichnen, kann von keiner geschlossenen Exilästhetik gesprochen werden. Die Vielfalt und Vielschichtigkeit der Exilerfahrung, die die gemeinsame Basis dieser Kunst abgibt, verlangt eine Vielfalt von Ästhetiken, zu deren Erfassung die Vermonter Tagung und dieser Band beitragen sollten. Gleichzeitig liefern die in diesem Band gesammelten Vorträge Denkanstöße für weitere Untersuchungen zum Thema Exilästhetik, z.B. über die Einflüsse literarischer Strömungen, die die zeitliche Begrenzung der Exilkunst auf die Periode von 1933 bis 1945 in Frage stellen, was sich schon in den Aufsätzen von Englmann, Krauss, Seeber, Sevin und Olschner abzeichnet. Auch das Thema “Identitätsentwurf“, wie es in den Beiträgen von Schneider oder Tippelskirch zur Sprache kommt, erscheint im Zusammenhang mit vielen anderen exilierten Künstlern von Interesse. Selbst das Thema “Erinnerung”, dem in letzter Zeit große Aufmerksamkeit zukam, ist, wie z.B. der Aufsatz von Vogt beweist, gerade mit Bezug auf die Exilliteratur noch nicht erschöpft. Schließlich zeigen die Beiträge von Häntzschel, Kröhnke und Koepke auf, daß sogar das alte Thema Sprache und Exil noch neu überprüft werden muß. Aus diesen kurzen Überlegungen wird deutlich, daß das Thema Kunst und Literatur im Exil noch bei weitem nicht abgeschlossen ist. Großen Anteil an dem Zustandekommen der Tagung sowie dieses Bandes tragen meine Kollegen am Department for German and Russian der Univer-
13 sität Vermont. Sie haben dieses Projekt mit Rat und Tat enthusiastisch unterstützt. Besonderer Dank gebühren Wolfgang Mieder, dem Vorstand der Abteilung, der sich sehr um die finanzielle Unterstützung der Tagung bemüht hat und Janet Sobieski, unserer Büroleiterin, die bei organisatorischen Problemen hilfreich eingesprungen ist. Auch dem College of Arts and Sciences und dem International Studies Program der Universität Vermont und dem Austrian Cultural Forum von New York gehören mein Dank für ihre großzügige Unterstützung. Es bleiben noch zwei Namen zu nennen, die neben den Verfassern der Beiträge maßgebend zur Qualität dieses Bandes beigetragen haben: Dorothee Racette, die bei der Formatierung und Vorbereitung der Artikel effiziente und unschätzbare Hilfe leistete, sowie Anthonya Visser, die diesen Band sorgfältig und mit großem Fachwissen betreute.
Helga Schreckenberger
Helmut Peitsch
‘Das Politische zur Natur werden lassen’: Vom Umgang mit dem Vorwurf der ‘Tendenz’ in der Exilliteratur The concept of (political) tendency is central to all debates that took place in the exile journals until 1939. A subordination of talent in favor of character is particularly evident, and results in three different versions of a comprehensive moralistic politicization describing a writer's role shared across all political groups: the moralist, the educator and the fighter. By favoring the genres of the essay and the literary portrait, literary criticism in exile promoted this trend. Thus, it proved more effective than the 'great' theoretical attempts – from Lukács to Benjamin – in solving the problem of political tendency in exile literature, which has been the focus of exile scholarship.
In der Nachkriegsrezeption der Exilliteratur spielte der Vorwurf der Tendenz insofern eine entscheidende Rolle, als er die Verweigerung der Rezeption – sei es nur durch Lektüre und Interpretation oder gar produktiv – ästhetisch begründete. Von Alfred Anderschs “Deutsche Literatur in der Entscheidung”1 über das Akzente-Exilheft2 bis zur bisherigen Summe der Forschung – Exilforschung Band 14 – zieht sich der Vorwurf mit einer bemerkenswerten Kontinuität – bemerkenswert aus zweierlei Gründen: einmal gründet sie in der langen Tradition der ästhetischen Diskriminierung politisierter Literatur, die vom Jungen Deutschland und Vormärz über Naturalismus und expressionistischen Aktivismus bis in die Weimarer Vorgeschichte des Exils reicht, dann widerspricht aber diese Weiterschreibung den Versuchen von Exilschriftstellern, den Vorwurf der Tendenz außer Kraft zu setzen. Mit solchen Bemühungen reihten sich die exilierten deutschen Autorinnen und Autoren allerdings in genau die dominante Tradition der “Tendenzpsychose”3 ein, die nach 1945 zu ihrem – nur zeitweise unterbrochenen – Ausschluß aus dem Kanon führte. Im folgenden soll am Material einiger zentraler Diskussionen in Exilzeitschriften der Nachweis geführt werden, wie sich ästhetische Legi1
Alfred Andersch: Deutsche Literatur in der Entscheidung. In: Das Alfred Andersch Lesebuch. Hrsg. v. Gerd Haffmans. Zürich 1979. S. 111-134, hier S. 124. 2 Peter Laemmle: Vorschläge für eine Revision der Exilforschung. In: Akzente 20 (1973). S. 509-519, hier S. 518. 3 Max Raphael: Arbeiter, Kunst und Künstler. Dresden 1978. S. 35.
16 timationsstrategien selbst untergruben. Die Umorganisation der Literaturverhältnisse im faschistischen Deutschland konfrontierte die ins Exil gezwungenen Autoren und Kritiker nicht nur mit der Frage, wie die Veränderungen einzuschätzen seien, sondern auch mit der, ob die Literatur eine Rolle im Kampf gegen den Faschismus spielen könne und wenn ja, welche. Der enge Zusammenhang zwischen den Antworten auf beide Fragen zeigte sich in allen Debatten, die bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs in den Zeitschriften des Exils ausgetragen wurden – von den Polemiken mit den ‘Gebliebenen’ 1933 und dem Streit um die Distanzierung von Klaus Manns Sammlung sowie um Menno ter Braaks Vorwurf, “daß der ‘Betrieb’ einfach fortgesetzt wird,”4 1934 über die Anklage auf “Ausweichen oder Flucht”5 gegen den historischen Roman und seine Verteidigung 1935 bis zu der Auseinandersetzung mit Eduard Korrodis Denunziation der “jüdische[n] Romanindustrie”6 1936, der Expressionismusdebatte 1937 und den kontroversen Bilanzen von “Fünf Jahre[n]”7 Exilliteratur 1938. Diese Debatten sind von der Forschung über den ‘klassisch’ gewordenen literaturtheoretischen Texten aus nicht öffentlich ausgetragenen, also eigentlich Nicht-Debatten, von Benjamin bis Brecht, eher vernachlässigt worden – auch wenn es gewichtige Hinweise auf die Folgenlosigkeit der Theoretisierungen der ‘Großen’ für die alltägliche literaturkritische Praxis der ‘Kleinen’8 gibt.9 Im Streit um den Terminus Emigranten-Literatur lehnten diejenigen, die davon ausgingen, daß das Exil eine der Literatur äußerliche, “zufällig” aufgezwungene “Schicksalsgemeinschaft”10 darstelle, folgerichtig die Vorstellung 4
Menno ter Braak: Emigranten-Literatur. In: Deutsche Literatur im Exil 19331945. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. Bd. 1: Dokumente. Frankfurt a.M. 1974. S. 59-62, hier S. 61. 5 Franz Carl Weiskopf: Hier spricht die deutsche Literatur! Zweijahresbilanz der ‘Verbannten’ [1935]. In: Ebd. S. 82-86, hier S. 84. 6 Eduard Korrodi: Deutsche Literatur im Emigrantenspiegel. In: Ebd. S. 105-107, hier S. 106. 7 Hermann Kesten: Fünf Jahre nach unserer Abreise... [1938]. In: Ebd. S. 166-172. 8 Simone Barck: Das Wort − literarische Zeitschrift der Volksfront. In: Klaus Jarmatz u.a.: Exil in der UdSSR. Frankfurt a.M. 1979. (= Kunst und Literatur im anti-faschistischen Exil 1933-1945. Bd. 1.) S. 194-230; Hans-Albert Walter: Deutsche Exilliteratur 1933-1950. Bd. 4: Exilpresse. Stuttgart 1978. S. 126-127; Bernhard Zimmer-mann: Entwicklung der deutschen Literaturkritik von 1933 bis zur Gegenwart. In: Geschichte der deutschen Literaturkritik (1730-1980). Hrsg. v. Peter Uwe Hohendahl. Stuttgart 1985. S. 275-338, hier S. 290. 9 Vgl. dagegen als eher teleologische, auf einen in die DDR führenden “Aufschwung” setzende Darstellung Dieter Schiller: “...von Grund auf anders”. Programmatik der Literatur im antifaschistischen Kampf während der dreißiger Jahre. Berlin 1974. S. 9, 13. 10 Erich Andermann: Größere Strenge gegen die Dichter? In: Deutsche Literatur im
17 einer “Aufgabe”11 der Exilliteratur ab – als “Oberbegriff, dem die tiefere, sachliche Berechtigung fehlt.”12 Noch der vor allem von den Neuen Deutschen Blättern verfochtene Grundsatz: “Auch wer schweigt, nimmt Teil am Kampf,”13 konnte eine verbreitete Sicht auf die innerdeutschen Literaturverhältnisse bestätigen, die dort eine Politisierung vor sich gehen sah, die der von den kommunistischen Exilschriftstellern propagierten “artgleich”14 war. Kerr erklärte in der Sammlung den Verfall des Theaters in Nazideutschland so: Die Schuld liegt am linksgerichteten ‘Zeitstück’. Ich habe gewettert gegen diese Landplage: das fade politische Massenfabrikat; das flache Tendenzwerk. Diese Mißgeburten haben das Drama geschädigt. [...] Heute rächt sich’s, daß damals (von links her) die Kunst auf eine kitschpolitische Ebene geschubst worden ist. Jetzige Dramatiker tun ein Gleiches, mit anderer Lehre. Die Stücke sind in beiden Fällen erbärmlich.15
Hermann Kesten und Alfred Döblin vertraten gleichermaßen die Ansicht, daß die rechte “Tendenz” in Deutschland mit der linken im Exil zu identifizieren und gleichermaßen abzulehnen sei: “Ich verfolge keine andere Tendenz als die Wahrheit.”16 Döblin benutzte für die Gleichsetzung von Tendenz und Partei den negativen Begriff “Kurzschluß,”17 der die Gefährdung des Kunstcharakters mit den traditionellen negativen Momenten des Tendenzbegriffes belegte: einseitig, abstrakt, aktuell. Aus der grundsätzlichen Feststellung, die Faschismus und antifaschistische kommunistische Politik gleichsetzte, ergab sich die Absage an eine Aufgabe der Exilliteratur: “Gleichschaltung der Literatur mit einer politischen Richtung, ob sie sich an die Macht setzt oder erst setzen will, ist nicht möglich [...] Während einer politischen Gleichschaltung befindet sich, wie im Krieg, alle Literatur im Exil.”18 Daraus folgte: “Man soll uns in Ruhe arbeiten lassen. Wir sind ‘die deutsche Literatur im Ausland’ und lassen uns über unsere Aufgaben von keinem Politiker
Exil. A.a.O. S. 62-65, hier S. 63. 11 Ludwig Marcuse: Zur Debatte über die Emigranten-Literatur. In: Ebd. S. 66-69, hier S. 69. 12 Ebd. S. 66. 13 Neue Deutsche Blätter 1 (1933/34). S. 1. 14 Alfred Kerr, zitiert in: Hans Günther: Der Herren eigner Geist. Ausgewählte Schriften. Hrsg. v. Werner Röhr. Berlin, Weimar 1981. S. 413. 15 Ebd. S. 412/413. 16 Hermann Kesten: Fünf Jahre nach unserer Abreise... A.a.O. S. 172. 17 Alfred Döblin: Aufsätze zur Literatur. Hrsg. v. Walter Muschg. Olten, Freiburg 1963. S. 206. 18 Ebd. S. 193.
18 belehren.”19 Noch Döblins metaphorische Formulierung des Schweigen der Musen im Krieg von 1938 ist ein negatives Echo auf die Behauptung der “NDB” von 1933: “Wir befinden uns im Kriegszustand. Es gibt keine Neutralität”, und zugleich eine negative Reaktion auf deren Versicherung: “Aber nichts liegt uns ferner, als unsere Mitarbeiter ‘gleichschalten’ zu wollen,”20 denn Döblin sah den “Mund” den Musen in Nazideutschland und “nun auch in der Emigration [...] verboten.” 21 Die Auseinandersetzung um vor allem Döblins, aber auch Thomas Manns und Stefan Zweigs Verhalten in der Affäre Die Sammlung, von der sich im faschisierten Börsenblatt zu distanzieren S. Fischer seine Autoren veranlaßte, zeigte die im Begriff der Neutralität verdeckten Fronten: Döblin grenzte sich – so wie Thomas Mann – von der “Tendenz” der Sammlung ab22 und Zweig von ihrem “aggressiven Charakter:”23 Ich war sehr verärgert, daß Sie Ihre Zeitschrift gegen die seinerzeitige Ansage [einer “literarische[n], unpolitische[n] Zeitung”] politisierten, [...] weil es mir heute von äußerster Wichtigkeit schien, einen Zerfall der Literatur (so wie in Rußland) in eine Emigrantenliteratur und eine Staatsliteratur durch eine politisch neutrale und repräsentative Zeitschrift zu verhindern.24
Denselben Vergleich benutzte im August 1933 Joseph Roth, als er den “Tod der deutschen Literatur” innerhalb der Reichsgrenzen darin erblickte, daß sie “von jetzt ab wie die sowjetische Literatur sein”25 werde, nämlich “offiziell.”26 Implizit formulierte diese Gleichsetzung Robert Musil 1935 in seiner Rede auf dem Internationalen Kongreß zur Verteidigung der Kultur, als er die Literatur als “etwas Selbständiges”, ‘Unpolitisches’ in verschiedenen Ländern von “Unterordnung” unter “politisch-soziale Zweckgesinnung” bedroht sah,27 in militärischen Metaphern: mobilisiert, einberufen.28 Die verbreitete Gleichsetzung faschistischer und kommunistischer Lite19
Alfred Döblin: Aufsätze zur Literatur. A.a.O. S. 207. Neue Deutsche Blätter 1 (1933/34). S. 1/2. 21 Alfred Döblin: Aufsätze zur Literatur. A.a.O. S. 200. 22 Vgl. Exil. Literarische und politische Texte aus dem deutschen Exil 1933-1945. Hrsg. v. Ernst Loewy. Stuttgart 1979. S. 701; Klaus Mann: Briefe und Antworten. Bd. 1. Hrsg. v. Martin Gregor-Dellin. Müchen 1975. S. 133. 23 Klaus Mann: Briefe und Antworten. Bd. 1. A.a.O. S. 136 24 Ebd. S. 151. 25 Joseph Roth: Werke. Hrsg. v. Klaus Westermann. Bd. 3. Köln 1989. S. 490. 26 Ebd. S. 490, 492. 27 Paris 1935. Erster Internationaler Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur. Reden und Dokumente. Hrsg. v. Wolfgang Klein. Berlin 1982. S. 51. 28 Ebd. S. 52. 20
19 raturpolitik hatte unterschiedliche Konsequenzen; sie konnte die Fortsetzung des literarischen Betriebs legitimieren oder – wie in Heinrich Manns Diktum: “Genaugenommen gibt es in diesem Deutschland keine Literatur [...] eine ganze Literatur sieht sich gezwungen, auszuwandern mit Mensch und Buch”29 – die Gleichsetzung von Literatur mit Exil begründen; aber die Identifizierung von Faschismus und Antifaschismus lag auch noch Hermann Hesses prekärer Stellungnahme im Korrodi-Streit zugrunde, die er als einen “Versuch” beschrieb, “die deutsche Literatur als Ganzes zu sehen und zu zeigen”, ein Versuch, der “von niemand geschätzt” werde,30 was ihm bewies: “Das Kämpfen ist eine hübsche Sache, aber es verdirbt leicht den Charakter. Wir wissen es vom Weltkrieg her, daß die Heeresberichte aller Mächte immer gleich sehr gelogen sind.”31 Es war also nicht erst in den Auseinandersetzungen um die Volksfront im Zeichen der Moskauer Prozesse, daß die Gleichsetzung von roter und brauner Tendenz Evidenz zu gewinnen schien, wenn auch die Formulierungen deutlich schärfer wurden; allerdings gab es auch Widerspruch, z.B. als Ferdinand Lion, Redakteur von Maß und Wert, behauptete: “Hätten die Nazis ein eigenes Theater geschaffen, so müßte es genau wie das von Brecht aussehen.”32 In seiner Begründung verbarg sich der Tendenzvorwurf in der Gleichsetzung von ‘russischer’ Form und ‘passendem’ nazideutschen Inhalt: Brecht habe sein Theater “in Deutschland begonnen, dann in Rußland vervollkommnet, dann applizierte er das Schema auf Nazideutschland, kehrte also mit einer Form zurück, die seltsamerweise, verräterischerweise gerade dort ihren passenden Inhalt findet.”33 Obwohl Lions Artikel durch Benjamins, wenngleich vom Redakteur anonymisierten, Brecht-Essay “Was ist das epische Theater?”34 scheinbar ausgewogen wurde, fiel Klaus Manns Protest hart aus; auch er setzte gleich, wenn er in einem persönlichen Brief an Lion von dem “frechen kleinen Artikel” schrieb, “den Sie über die literarische Produktion der deutschen Exilierten à la Korrodi geschrieben haben,”35 und aus ihm die redaktionelle Linie herauslas, Ernst Glaeser zu gewinnen und Juden zu boykottieren. Zwei Briefe, die Hermann Kesten im Herbst 1933 erhielt, zeigen, wie nicht-kommunistische Autoren sich in jenem von Thomas Mann später auf 29
Heinrich Mann: Verteidigung der Kultur. Antifaschistische Streitschriften und Essays. Hrsg. v. Werner Herden. 2. Aufl. Berlin, Weimar 1973. S. 146. 30 Klaus Mann: Briefe und Antworten. Bd. 1. A.a.O. S. 242. 31 Ebd. S. 383. 32 Hans-Albert Walter: Deutsche Exilliteratur 1933-1950. Bd. 4. A.a.O. S. 538. 33 Werner Mittenzwei: Exil in der Schweiz. Frankfurt a.M. 1978. (= Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933- 1945. Bd. 2.) S. 182. 34 Walter Benjamin: Versuche über Brecht. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1966. S. 22-30. 35 Klaus Mann: Briefe und Antworten. Bd. 2. A.a.O. S. 51.
20 die Formel “Zwang zur Politik”36 gebrachten Zwiespalt bewegten: zwischen der Absage an jede, faschistische und antifaschistische Tendenz und der Unvermeidbarkeit der Parteinahme; wenn Franz Schoenberner am 6.9.1933 – polemisch gegen die NDB – schrieb: Als ob man wirklich nur immer und ewig ‘hoch’ oder ‘nieder’ schreien, ständig ‘faschistisch’, ‘gleichgeschaltet’ oder aber ‘antifaschistisch’ sein dürfe, als ob es nicht eine überpolitische Kunst gäbe, als ob die lächerlichen, ephemeren politischen Zeitschablonen jedes zeitlose Kunstwerk decken könnten! 37
so schien Ernst Weiß darauf am 19.11.1933 aus Prag zu antworten: Hier gibt Willy Haas eine nette, rein literarische Zeitschrift heraus, ‘Welt im Wort’ genannt, welche die politischen Bewegungen mit schweigender Nichterwähnung straft, aber dadurch ein gespenstisches Aussehen bekommt, denn so wie sie dasteht, könnte sie ebensogut dreitausend Jahre vor unserer Zeitrechnung geschrieben sein, man kann vor solchen Tatsachen nicht die Augen schließen.38
Wie jedoch gerade Neutralität der Literatur − Zeitlosigkeit, das Unpolitische – als Medium einer Parteinahme für einzelne Maßnahmen oder insgesamt die Politik der faschistischen Regierung fungieren konnte, zeigten 1933 die ‘Reinigung’ der Preußischen Akademie und die Antworten deutscher Autoren auf den Offenen Brief Romain Rollands. Es war möglich, sich mit dem Ausschluß Heinrich Manns einverstanden zu erklären, indem man ihm die Verletzung der Autonomie der Literatur vorwarf und auf der eigenen “Unabhängigkeit”39 beharrte, die in der “Neutralität”40 gegenüber Parteipolitik bestehe, gegen die Manns öffentliches Eintreten für die Zusammenarbeit von KPD und SPD gegen den Faschismus verstoßen habe; die Akademie, so Seidel, vertrete “jenseits aller Partei- und Privatauffassungen die deutsche Kunst als Ausdruck deutschen Geistes repräsentativ”: Aus dieser Voraussetzung ergäbe sich, daß die Mitglieder der Akademie sich einer 36
Thomas Mann [1939]: Der Zwang zur Politik. In: Exil. Literarische und politische Texte. A.a.O. S. 711-716, hier S. 711. 37 Deutsche Literatur im Exil. Briefe europäischer Autoren 1933-1949. Hrsg. v. Hermann Kesten. Wien, München, Basel 1964. S. 60. Vgl. ebenso Julius Bab und Werner Bock in Deutsche Blätter, zitiert bei Hans-Albert Walter: Deutsche Exilliteratur. Bd. IV. A.a.O. S. 370. 38 Deutsche Literatur im Exil. Briefe. A.a.O. S. 63. 39 So Alfons Paquet. In: In jenen Tagen ... Schriftsteller zwischen Reichstagsbrand und Bücherverbrennung. Eine Dokumentation. Hrsg. v. Friedemann Berger u.a. Leipzig, Weimar 1983. S. 145. 40 So Ina Seidel. Ebd. S. 145.
21 überzeitlichen Gemeinschaft verpflichtet fühlen müssen [...] und [...] sich nicht durch zeitbedingte Oberflächenvorgänge dazu bestimmen lassen sollten, sich für Strömungen einzusetzen, denen der Kampf gegen solche Oberflächenvorgänge nur als Vorwand und Scheinmanöver dient, um Machtansprüche durchzusetzen auf Gebieten, die mit Geist schließlich wenig zu tun haben.” 41
Auch Oskar Loerke meinte “Terror” nicht auf seiten der Parteigänger der Regierung, wie Benn, zu sehen, sondern derer, die von ihm einen Protest verlangten, wenn er ironisch an Heinrich Mann schrieb: “Wer also ablehnt, [...] aktiv zu sein, ist träge und feige und befürworte die Barbarei.”42 Die Abgrenzung von Parteipolitik lag auch der Identifikation mit der faschistischen Regierung zugrunde, mit deren Bekenntnis Wilhelm von Scholz, Rudolf G. Binding und Erwin Guido Kolbenheyer auf Rolland antworteten: Sie waren sich der Parteilosigkeit und des Unpolitischen43 ihrer Stellungnahme für das neue Deutschland sicher, weil das Nationale, als dessen Revolution sie Hitlers Regierung wahrnahmen, nicht als Gegensatz zum spezifisch Literarischen gesehen wurde. Dieses ästhetische Mißverständnis der ‘Machtergreifung’ prägte auch die Reden und Essays Benns, der schon in den zwanziger Jahren die Formung der autonomen Dichtung zwar für unvereinbar mit Partei und Ideologie, aber für vereinbar mit neuer Weltanschauung gehalten hatte, die er nun dem ‘neuen Staat’ als “kompositorische[s] Weltgefühl”44 zuschrieb. Die offizielle Interpretation der Bücherverbrennung entsprach hierin den ‘Feuersprüchen’, in denen die “Auswechslung der Literaturen”45 als Ersetzung durch volkhafte Dichtung programmiert wurde, der Literaten durch Dichter,46 der ideologischen Zwecksetzung durch reine Gestaltung.47 Diesem Leitbegriff der faschistischen Literaturpolitik war schon vor 1933 durch einen der Redner der Aktion vorgearbeitet worden; Benno von Wieses Monographie Politische Dichtung Deutschlands ließ alle Merkmale faschistischer Ideologie in den Begriff von “absoluter Dichtung” einwandern, so daß sich die Faschisierung des germanistischen Privatdozenten darstellen konnte als Rettung der Kultur vor der Politisierung. Bewahrt werden sollte die Autonomie der Kunst – als Kern der Kultur – durch die Entscheidung, 41
Ina Seidel. In: In jenen Tagen... A.a.O. S. 142. Oskar Loerke. Ebd. S. 147. 43 Vgl. Ebd. S. 372, 373, 376. 44 Ebd. S. 272. 45 Hermann Haarmann u.a.: “Das war ein Vorspiel nur...” Bücherverbrennung Deutschland 1933: Voraussetzungen und Folgen. Berlin, Wien 1983. S. 76. 46 Die Bücherverbrennung. 10. Mai 1933. Hrsg. v. Hans Naumann und Gerhard Sauder. Frankfurt, Berlin, Wien 1985. S. 252. 47 Haarmann u.a.: “Das war ein Vorspiel nur...” A.a.O. S. 205. 42
22 “Kultur politisch zu nehmen.”48 Dieser Grundsatz meinte die Ausschaltung der “Gesinnungs[...]dichtung,”49 als deren Zentrum Zersetzung und Negativität antisemitisch gefaßt wurden; sie beschrieb Wiese an der von drei Seiten “politisierten” Gegenwartsliteratur: der naturalistischen Tendenzliteratur marxistischer Parteidoktrin (Friedrich Wolf), dem nur scheinbar unpolitischen Impressionismus (Jakob Wassermann) und dem Expressionismus.50 Ideologische Zwecksetzung von Literatur – “gesellschaftskritische [...] Zivilisationsliteratur”51 “einer pazifistisch-aggressiven Tendenz”52 – wurde als jüdisch denunziert, wobei liberale und linke Autoren gleichermaßen der Zersetzung jenes Opferwillens für die Volksgemeinschaft angeklagt wurden, der die Kernbestimmung des ‘Ariers’ ausmachen sollte. In den Versuchen des kommunistischen Kritikers Hans Günther, sich über die Frage klar zu werden, ob die faschistische Literatur Tendenzliteratur sei, verschob sich die Antwort von einem zunächst klaren Ja, dann zu einer Differenzierung, die schließlich noch weiter abgeschwächt wurde. Die Zuordnung von liberaler Demokratie und Autonomie einerseits, von faschistischer Diktatur und Tendenz anderseits bestimmte Günthers anfängliche Analysen: “Dem politischen Ruf nach der über den Klassen schwebenden reinen Demokratie entspricht im Literarischen die Forderung des reinen, neutralen Kunstwerks.”53 Die Einsicht, daß der Faschismus die ‘reine Dichtung’ in Dienst stellen konnte und – nach der Abschwächung der sozialen Demagogie 1934 – auch auf einen ‘Schein-Realismus’, der soziale Probleme ‘zeitnah’ behandelte, verzichten konnte, ließ Günther von der Gleichsetzung Faschismus und Tendenz abrücken. Dem entsprach auf der eigenen Seite das Fallenlassen der Kategorie Parteilichkeit zugunsten der – aus der sowjetischen Diskussion bezogenen – Volksverbundenheit in der kommunistischen Kritik. Der Wechsel in der Terminologie bedeutete allerdings keinen Bruch mit der seit 1932 ausgegebenen darstellungsästhetischen Orientierung. So wie Parteilichkeit als Gestaltung definiert worden war, geschah es seit dem VII. Weltkongreß, der für das antifaschistische Bündnis die Losungen der Volks- und Einheitsfront ausgab, mit der Volksverbundenheit. Volksverbundene Gestaltung wurde von Lukács und Becher ins Spiel gebracht, um Literatur als Kunst deutlich von “Agitation” für “Tagespolitik” abzusetzen. Schon 1934 hatte Kantorowicz die Vorstellung, der “die revolutionäre Literatur [...] zur unselbständigen Unterabteilung der revolutionären 48 49 50 51 52 53
Benno von Wiese: Politische Dichtung Deutschlands. Berlin 1931. S. 124. Ebd. S. 111. Benno von Wiese: Politische Dichtung Deutschlands. A.a.O. S. 116-118. In jenen Tagen… A.a.O. S. 403. Ebd. S. 394. Hans Günther: Der Herren eigner Geist. A.a.O. S. 413/414.
23 Agitation, Tendenzliteratur in ihrem vulgärsten Begriff”54 werde, ein Beispiel der faschistischen Taschendieb – Methode ‘Haltet den Dieb!’ genannt – also der “Kongruenz zwischen Anschuldigung und eigener Handlung.”55 Am schärfsten fiel die Absage an die im Umkreis der KPD vor 1933 entstandene Literatur bei Becher aus. Seine Selbstkritik verwendete 1938 den Begriff der Tendenz, um die Literatur des BPRS als “Verfalls- und Isolierungstendenz”56 in Gegensatz zu angestrebten Volksverbundenheit zu bringen. Schon im Bericht über seine Reise durch die westlichen Exilzentren hatte Becher 1934 die Orientierung auf einen “hohen” Begriff von Literatur mit einer Kritik von Traditionen aus der Weimarer Zeit begründet: Beinahe überall kann man den Eindruck gewinnen, daß die Schriftsteller sich zu sich selbst bezw. [sic] zu ihrem eigenen Werk defaitistisch verhalten. Das Geschwätz von der Auflösung der Kunst, Ersatz der Kunst durch die Wissenschaft bis zur Neuen Sachlichkeit, zu falschen Reportagetheorien, die schematischen Ausspielungen der Publizistik gegenüber der Dichtung usw. usw. haben das ihrige dazu beigetragen – in Verbindung mit solchen Argumenten wie ‘Die Literatur im technischen Zeitalter (Radio etc.) hat keine Bedeutung mehr’–, daß [...] sie es [...] geradezu als eine Offenbarung betrachten, wenn wir von den hohen Aufgaben der Literatur etc. etc. sprechen.57
Die angestrebte Öffnung der linken Literatur über die kommunistisch organisierte Arbeiterbewegung hinaus geriet da an eine Grenze, wo nicht nur, wie Becher – unter Aufnahme einer von Bruno Frei vermittelten Äußerung Döblins – schrieb, auf “ein langsameres, vorsichtigeres Tempo in der Politisierung,”58 und zwar sowohl der verbündeten Autoren wie ihrer Leser, gesetzt wurde, sondern es zugleich zum Vorschreiben von Techniken des Schreibens kam. Gudrun Klatt hat das Ergebnis insbesondere der Festschreibung von Lukács’ Interpretation des Tendenz-Begriffs in den Briefen von Marx und Engels prägnant formuliert: “Über die Polemik gegen die ‘Tendenzdichtung’ brach [...] vehement die Idee vom organischen, ‘gestalteten’
54
Alfred Kantorowicz: Die Einheitsfront in der Literatur. In: Exil. Literarische und politische Texte. A.a.O. S. 731-739, hier S. 735. 55 Ebd. S. 734. 56 Johannes R. Becher: Von den großen Prinzipien in unserer Literatur. In: Kritik in der Zeit. Antifaschistische deutsche Literaturkritik 1933-1945. Hrsg. v. Klaus Jarmatz, Simone Barck. Halle, Leipzig 1981. S. 159-160, hier S. 159. 57 Johannes R. Becher: [Bericht über eine Reise nach Prag, Zürich und Paris]. In: Zur Tradition der deutschen sozialistischen Literatur. Eine Auswahl von Dokumenten. Bd. 1- 4. Berlin, Weimar 1979. Bd. 1. S. 807-822, hier S. 813. 58 Anmerkungen zu Johannes R. Becher: Maß und Richtung. In: Zur Tradition... A.a.O. Bd. 4. S. 171 ( vgl. Bd. 2. S. 291).
24 Kunstwerk durch.”59 In dieser wesentlich negativen Bilanz geht verloren, daß es Lukács darum ging, die Kritik darauf zu orientieren, vom Werk auszugehen60 statt von der politischen Überzeugung des Autors,61 und so auf die Autoren zu wirken, daß eine Entwicklung der Literatur vom direkten zum indirekten Ausdruck62 möglich werde. Lukács verurteilte Tendenz als “liberale Auffassung [...] des direkten Ausdrucks.”63 Einer von Lukács’ Gegenspielern in der Expressionismus-Debatte, Ernst Bloch, dem Günther vorgeworfen hatte, in der Bevorzugung der Montage “Bruchstücke [...] nur mit subjektiver ‘Tendenz’ ausgewählt,”64 an die Stelle organischer Totalität zu setzen, legte 1939 eine Bilanz der Exilliteratur vor, die bemerkenswerterweise auch an der Norm der Gestaltung maß und dabei zu einem negativen Ergebnis kam: Zwar sei die Moralität ein wichtiger Verbündeter im Kampf gegen den Faschismus, aber sie mache unfähig, die Epoche zu gestalten. Blochs Diagnose einer Vorherrschaft von Pathos und Satire in den Werken des antifaschistischen Exils erneuerte den negativen Begriff der Tendenz, wenn er in Pathos und Satire nur das “subjektive [...] Besserwissen [...] des undialektisch an die Wirklichkeit herangebrachten Postulats”65 sah, zugleich allerdings mit einem positiven, den er mit Gestaltung identifizierte: “konkrete Utopie.”66 In der Kontroverse mit Lukács griff Bloch auf Lukács’ Geschichte und Klassenbewußtsein zurück, um in der Wiederaufnahme der Tendenz als Subjekt-Objekt-Identität auf die Wiedervereinigung politischer und ästhetischer Avantgarde zu zielen, die ihm durch die Orientierung auf die Tradition von Realismus akut gefährdet schien. Nicht nur hierin lag ein Nähe zu Benjamins damals unwirksam gebliebenem Vorschlag, Tendenz – das Stichwort der “unfruchtbaren Debatte, in welchem Verhältnis Tendenz und Qualität der Dichtung stehen”67 – und Technik zu verbinden, sondern auch in der schroffen Wendung gegen Moralismus, gegen die “Gesinnung”68 des auf seine “Autonomie”69 zwischen, 59
Gudrun Klatt: Realismus in der Diskussion. In: Brecht 83. Brecht und der Marxismus. Dokumentation. Berlin 1983. S. 128-138, hier S. 134. 60 Georg Lukács: Moskauer Schriften. Hrsg. v. Frank Benseler. Frankfurt a.M. 1981. S. 141. 61 Lukács: Moskauer Schriften. A.a.O. S. 99. 62 Ebd. S. 145. 63 Ebd. S. 100. 64 Hans Günther: ‘Erbschaft dieser Zeit?’ In: Kritik in der Zeit. A.a.O. S. 53-91, hier S. 85. 65 Ernst Bloch: Originalgeschichte des Dritten Reichs. In: Exil. Literarische und politische Texte. A.a.O. S. 832-852, hier S. 850. 66 Ebd. 67 Walter Benjamin: Versuche über Brecht. A.a.O. S. 97. 68 Ebd. S. 102.
25 über oder neben den Klassen setzenden Schriftstellers. Blochs Diagnose von Moralität als subjektiver Tendenz der Exilliteratur traf zentral das dominante Verständnis von bejahter “Politisierung”70 der Literatur. So hatte Thomas Mann schon 1933 in einer nach der ‘Machtergreifung’ verlesenen Rede den ‘nationalen Sonderinteressen’ die demokratischsozialistische ‘Tendenz’ der Menschheit selbst entgegengesetzt: daß der geistige Mensch bürgerlicher Herkunft heute auf die Seite des Arbeiters und der sozialen Demokratie gehört. Als Mensch dieser Art empfinde ich tief das Falsche und Lebenswidrige einer Haltung, die auf die soziale, die politische und die gesellschaftliche Sphäre hochmütig herabblickt und sie als zweiten Ranges bezeichnet im Verhältnis zu der Welt der Innerlichkeit [...] Ich spreche als Künstler, und auch diese Form der Vertiefung ins Menschliche, die man Kunst nennt, ist eine Sache des humanen Interesses, der leidenschaftlichen Anteilnahme am Menschen.71
Bevor die verschiedenen Versionen dieser moralischen Politisierung der Schriftstellerrolle im Hinblick auf den Tendenzbegriff diskutiert werden, soll daran erinnert werden, daß es bemerkenswerterweise auch bei Lukács selbst Zweifel an der literaturpolitischen Orientierung auf volksverbundene Gestaltung gab, aber nicht des Traditionalismus oder des Moralismus wegen, sondern aus einer ganz anderen Richtung: Die Normierung der kontinuierlichen Züge der Menschheits und nationalen Geschichte in der Ästhetik des Typischen als des Volksverbundenen habe die Abgrenzung von der Agitation übertrieben. Veranlaßt durch allzu nationalistische Bekenntnisse Alfred Kurellas zu “Ewige[n] Quellen deutscher Zivilisation” als Basis künstlerischer Gestaltung, kritisierte Ernst Fischer: “Daß wir die ‘Agit’-Literatur überwunden haben, ist in jeder Beziehung begrüßenswert – nun aber sollen wir nicht ins andere Extrem verfallen und auf den direkten, vehementen literarischen Angriff gegen den Faschismus verzichten.”72 Wenn Fischer aber aus der Diagnose, “daß einige antifaschistische Schriftsteller vor der ungeheuren Schwierigkeit zurückschrecken, [...] das Unaussprechliche, das in Deutschland geschieht, auszusprechen, das Unfaßbare [...] künstlerisch zu fassen,”73 die Therapie ableitet: “Im Kampf gegen den Faschismus [...] wird es nicht immer möglich sein, die Welt nur realistisch 69
Ebd. S. 95. Thomas Mann: Der Zwang zur Politik. In: Exil. Literarische und politische Texte. A.a.O. S. 712. 71 In jenen Tagen… A.a.O. S. 131. 72 Peter Wieden [d.i. Ernst Fischer]: Einige Bemerkungen über die Zeitschrift Internationale Literatur. In: Deutsche Zeitung. 22.1.1939. 73 Ebd. 70
26 darzustellen; im Pamphlet, in der Polemik, in der leidenschaftlichen Anklage gegen den Faschismus müssen auch andere künstlerische Ausdrucksmittel gestattet ein,”74 traf er auf Lukács’ Widerspruch, der auf der realistischen Darstellbarkeit noch “des Gespenstischen”75 bestand, ohne sich damit jedoch die von Fischer angegriffene Kurellasche Einschätzung des Verhältnisses von Oberfläche und Tiefe im faschistischen Deutschland zu eigen zu machen: Es gibt auch heute in Deutschland mehr Unverändertes als Verändertes! Die faschistische Gewaltherrschaft hat vieles angerichtet. Aber ihre scheinbar starke, im Grunde aber schwächliche menschenfeindliche Ideologie der Todesbereitschaft bleibt an der Oberfläche der Dinge und der Menschen. Sie kann nicht in die Tiefe dringen, in das wirkliche Leben des Volkes, das den Großen Deutschlands die starken und lebensbejahenden Schöpfungen eingegeben hat, auf die wir und die Welt stolz sind.76
Im Gegensatz zu Kurella, der 1961 zwar zugab, daß “[s]pätere Erlebnisse [...] dazu angetan [gewesen seien], meine Auffassung zu erschüttern”, aber mit Hinweis auf die DDR, der es “in so kurzer historischer Zeit [habe] gelingen” können, “den positiven Zügen des deutschen Nationalcharakters zur Vorherrschaft zu verhelfen,”77 letztlich zu seiner Ansicht von 1938 zurückkehrte, lenkte Lukács seine eigene Arbeit als Literar- und Philosophiehistoriker in eine ahistorischen Konstruktionen eines deutschen Humanismus entgegengesetzte Richtung: auf die Analyse aller Tendenzen, die zum Faschismus geführt hatten. Entgegen der verbreiteten Meinung, daß die Lukácsianische Position die Literaturkritik des – nicht nur kommunistischen – Exils dominiert habe,78 scheint mir im Blick auf die Gesamtsituation Lukács’ Versuch, die Kritik auf das Werk als Ausgangspunkt zu verpflichten, eher wirkungslos geblieben zu sein. Zimmermann, der mit der “Hegemonie” eines Lukacianismus zugleich die “Wirkungslosigkeit” von Benjamins Vorschlag konstatiert,79 die Technik als Stellung in den literarischen Produktionsverhältnissen in den Mittelpunkt zu stellen liefert zwei Beobachtungen, die darauf hinweisen, weshalb weder 74
Georg Lukács: Grenzen des Realismus. In: Zur Tradition ... Bd.2. A.a.O. S. 565-570, hier S. 565f. 75 Ebd. S. 567. 76 Alfred Kurella: Ewige Quellen deutscher Zivilisation. In: Ebd. S.727-728, hier S. 728. 77 Alfred Kurella: Zwischendurch. Berlin 1961. S.6.f. Zitiert nach: Zur Tradition... Bd. 4. A.a.O. S. 203. 78 Zimmermann: Entwicklung der deutschen Literaturkritik. A.a.O. S. 275-338. 79 Ebd. S. 287.
27 das realistische Werk noch die avantgardistische Technik den Tendenzbegriff in der Literaturkritik verabschiedete. Er verweist darauf, daß die Literaturkritik im Exil vorrangig erstens Autorenessay und zweitens Porträt gewesen ist.80 Diese in den Literaturverhältnissen des Exils institutionalisierte Orientierung auf den Autor kann mit erklären, weshalb von 1933 bis 1945 die – nach Benjamin – unfruchtbare Debatte über Tendenz und Qualität umformuliert wurde in eine über Talent und Charakter. Wenn man die literaturkritischen Publikationen nicht-kommunistischer Autoren überblickt, dann zeigt sich die zentrale Bedeutung dieses Begriffspaares bei allen Gruppen, von den dezidierten Sympathisanten der KPD, über die antikommunistischen Linken bis zu den Sozialdemokraten, Liberalen, Christen und Konservativen. Das Verhältnis von Talent und Charakter wurde in allen literaturkritischen Debatten der Jahre 1933 bis 1939 verhandelt. In der Auseinandersetzung über das Verhalten der ‘Gebliebenen’ und ‘Gleichgeschalteten’ exponierte Ernst Tollers “Offener Brief an Herrn Goebbels” im Prager Aufruf 1933 den Unterschied zwischen Talent und Charakter81 auf eine andere Weise als Heinrich Manns Artikel “Die erniedrigte Intelligenz” im Neuen Tagebuch. Während Toller die Charakterlosigkeit der Gleichgeschalteten betonte, stellte Mann deren Talentlosigkeit in den Vordergrund: “das Regime verfügt über keine hervorragenden Kräfte [...] Es hat Brauchbare für sich, und massenhaft laufen ihm Schwache zu.”82Gegenüber den “Gleichschalter[n]”, die “an die Krippe”83 der NS-Literaturpreise drängten mit einer Literatur des “Markenfabrikat[s],”84 “die zwar ohne Klasse, aber gut gesinnt ist,”85 hob er am Beispiel ungenannter einzelner, die sich nicht auf die freigewordenen Plätze von Verfolgten setzten, die Einheit von Talent und Charakter hervor: “Über ihren persönlichen Nutzen stellten sie die Ehre des freien Gedankens. Genauer gesagt, begriffen sie die eigene Persönlichkeit nur als Auswirkung des selbstherrlichen Geistes.”86 In der Sammlung-Affäre meinte Stefan Zweig sich auf das Talent berufen zu können, nämlich den Grundsatz, “daß auf die Herabsetzung unse-
80
Ebd. S. 288, 290. Ernst Toller: Gesammelte Werke. Hrsg. v. John M. Spalek und Wolfgang Frühwald. Bd. 1: Kritische Schriften, Reden und Reportagen. München, Wien 1978. S. 77. 82 Heinrich Mann: Verteidigung der Kultur. A.a.O. S. 292. 83 Ebd. S. 291. 84 Ebd. S. 290. 85 Heinrich Mann: Verteidigung der Kultur. A.a.O. S. 288. 86 Ebd. S. 287. 81
28 rer Bemühungen die einzige Antwort Leistung ist,”87 während die Sorge des Herausgebers dem Charakter galt, wenn er Alfred Neumann schrieb: “Es ist nicht ganz leicht, das alles unter einen Hut zu bekommen, ohne charakterlos zu werden, und es ist noch weniger leicht, das Beste und Wichtigste überhaupt zu bekommen. Das historische Ereignis ist noch nicht erfunden, das aus einer Anzahl von Deutschen, die in eine Schicksalsgemeinschaft gekommen sind, auch wirklich eine Gemeinschaft machte --- ”88 In der von Menno ter Braak ausgelösten Debatte des Jahres 1934 über die Emigranten-Literatur antwortete Joseph Roth auf die Umfrage des Pariser Tageblatts lapidar: “Talent” entbinde nicht von der Pflicht zur Stellungnahme.89 Als es um den von ter Braak geförderten Konrad Merz zu einer heftigen Kontroverse kam, charakterisierte Klaus Mann den holländischen Kritiker folgendermaßen: “unbegabt ist er keineswegs, auch nicht unanständig – bei mehreren Gelegenheiten hat er sich, in kultur-politischen Fragen, äußerst fair, sogar mutig benommen.”90 Balder Olden setzte in einer vergleichenden Rezension dem bloßen Talent Peter de Mendelssohns Bruno Frank als Vereinigung von Talent und Charakter entgegen; während Mendelssohns neuer Roman “nicht gerade die Erfüllung dessen ist, was 1934 in der deutschen Emigration entstehen sollte, um künstlerisch und damit zugleich politisch für diese Emigration zu zeugen”, beweise sich Frank in seinem Cervantes als “Zeitgenosse” und damit “das Spezifische des Dichters.”91 Zur Diskussion über den historischen Roman trug Hermann Kesten eine scharfe Verurteilung von “Tendenz” bei, der er – in einer SDS-Generalversammlung – die Forderung der Deckung von Charakter und Talent entgegenstellte.92 In der Auseinandersetzung mit Korrodi warf Ernst Bloch diesem vor, “die einfältige Unterscheidung zwischen Dichter und Schriftsteller faschistisch zugespitzt”93 zu haben, und er verallgemeinerte seinen Fall: “selbst die Halbtalente liegen schief.”94 In der Kontroverse um die Volksfront war Leopold Schwarzschild, wie er in einer Aufforderung, dem Bund freier Autoren beizutreten, am 3.6.1937 formulierte, “überzeugt, daß alles, was anständig [...] ist und etwas kann, zu 87
Klaus Mann: Briefe und Antworten. Bd. 1. A.a.O. S. 136. Ebd. S. 170. 89 Joseph Roth: Werke. A.a.O. Bd. 3. S. 559. 90 Klaus Mann: Briefe und Antworten. Bd. 2. A.a.O. S. 35. 91 Balder Olden: Paradiese des Teufels. Biographisches und Autobiographisches. Schriften und Briefe aus dem Exil. Hrsg. v. Ruth Greuner. Berlin 1977. S. 266. 92 Vgl. w.f. [d.i. Wolf Franck]: Die Kulturwoche des SDS. In: Zur Tradition... Bd. 2. A.a.O. S. 810-821, hier S. 816. 93 Ernst Bloch: Vom Hasard zur Katastrophe. Frankfurt a.M. 1972. S. 112. 94 Ebd. S. 115. 88
29 uns gehören wird.”95 In seiner Sicht war die unbedingte Freiheit des Talents eine Charakterfrage; so appellierte er an das Talent: “Sie sind ein Schriftsteller, der jeden anderen in Ruhe lassen will, der jedem das Recht gibt zu schreiben, was er will”, sich den Charakteren anzuschließen: den “Leute[n], die wirklich an die Prinzipien glauben, deren Verletzung sie Hitler vorwerfen.”96 Klaus Mann verteidigte, wie er diesem schrieb, Willi Schlamm gegenüber Schwarzschild als “wirklich ganz brav, hat auch Talent”, solange, wie Schlamms Europäische Hefte auf Manns “Talent” und “moralische [...] Qualitäten” “hohe Stücke” hielten.97 In einer der 1938 vorgelegten Bilanzen der Exilliteratur – “Die deutsche Literatur [im Ausland seit 1933]. Ein Dialog zwischen Politik und Kunst” – präsentierte Alfred Döblin das Jahr 1933 als einen Test auf die Charaktere der Talente, den weder die konservativen noch die humanistischen bestanden hätten, sondern nur ein Teil der progressiven, geistesrevolutionären.98 Auch als der Krieg die debattierende Kommunikation zwischen den Zeitschriften des Exils erschwerte, setzte sich der Diskurs über Talent und Charakter fort. Thomas Mann stellte den zweiten Jahrgang von Maß und Wert unter den Leitaspekt von Qualität und Gesinnung;99 im Aufbau eröffnete Johannes Urzidil eine Artikelserie über “Die Würde der Emigration”, zu der Franz Werfel und Carl Zuckmayer beitrugen und die nicht zuletzt an Stefan Zweigs Selbstmord100 die Frage Talent und Charakter in den Mittelpunkt rückte. Hannah Arendts Abrechnung mit dem charakterlosen Talent des “Parvenu”101 stand in Gegensatz zu Klaus Manns Bewertung des Selbstmords als Tat des “Charakter[s],”102 die das Werk des Talents neu zu sehen lehre: “Zweigs Verzweiflungstat [...] scheint der flüssigen Eleganz seiner Prosa neue Schwere zu verleihen.”103 Die enge Beziehung zwischen Biographie und Werk, die von den bevorzugten literaturkritischen Genres forciert wurde, zeigt sich aber auch in einer nach Deutschland illegal verbreiteten Schrift Klaus Manns, “An die Schriftsteller im Dritten Reich”, von 1939. Als “verfehlt[en]” “Fluchtversuch” weist er die Meinung des Adressaten zurück, “daß die eigentliche
95
Klaus Mann: Briefe und Antworten. Bd.1. A.a.O. S. 304. Ebd. S. 303. 97 Klaus Mann: Briefe und Antworten. Bd.2. A.a.O. S. 93. 98 Jochen Meyer: Alfred Döblin 1878-1978. Marbach 1978. S. 418. 99 Werner Mittenzwei: Exil in der Schweiz. A.a.O. S. 178-179. 100 Ebd. S. 160-161. 101 Hannah Arendt: Die verborgene Tradition. Acht Essays. Frankfurt a.M. 1976. S. 58. 102 Klaus Mann: Briefe und Antworten. Bd.1. A.a.O. S. 326. 103 Ebd. S. 328. 96
30 Sphäre des Schriftstellers das Ästhetische sei, nicht das Politische,”104 um stattdessen einerseits negativ davor zu warnen: “Der Kompromiß mit der Barbarei [...] verdirbt das literarische Talent,”105 anderseits positiv zu fordern: “Was sind ‘Meinungen’ und wieviel Wert haben sie? Gewicht und Wirkung bekommen sie doch nur durch den Charakter, der sie vertritt. Es bedarf des Einsatzes unserer ganzen Person, um aus der ‘Meinung’ die ‘Gesinnung’ zu machen.”106 Im letzten Kriegsjahr ließ Hermann Broch die Überzeugung, “das Spielerische des Kunstwerkes [sei] in einer Zeit der Gaskammern unstatthaft,”107 davon sprechen, daß der Autor “seine Existenzberechtigung an seinem ethischen Willen zu erweisen” habe:108 “Ethische Wirkung ist zum großen Teil in aufklärender Tätigkeit zu suchen, und für eine solche ist das Dichtwerk ein weitaus besseres Mittel als die Wissenschaft.” 109 Die hier wie in allen zitierten Beispielen sichtbar werdende – wie widersprüchlich auch immer im einzelnen formulierte – Unterordnung des Talents unter den Charakter erlaubt es, von einer umfassenden Moralisierung der Schriftstellerrolle zu sprechen. Dieselbe Moralisierung läßt sich auch bei kommunistischen Kritikern beobachten, insbesondere, aber keineswegs nur in der Auseinandersetzung mit Renegaten. So bestimmt ein Gegensatz von Talent und Charakter ihre Auseinandersetzung mit dem Fall Ernst Glaeser – von einem Artikel F.C. Weiskopfs in der Neuen Weltbühne 1938110 bis zu Seghers’ Rede auf dem Ersten Deutschen Schriftstellerkongreß.111 Aber in seiner “Wiedergeburt” überschriebenen Bilanz der Exilliteratur verwendet auch Becher in der “Internationalen Literatur” 1941 das Begriffspaar, d.h. formuliert den Primat des Charakters über das Talent als moralische Verbindung zwischen Politik und Ästhetik: “Mögen Schwächen aufgedeckt werden, zugleich aber wird unsere Stärke offenbar werden, die darin besteht, daß wir einen Charakter haben.”112 104
Klaus Mann: Die Heimsuchung des europäischen Geistes. Aufsätze. Hrsg. v. Martin Gregor-Dellin. München 1973. S. 91. 105 Ebd. S. 92. 106 Ebd. S. 95. 107 Eike Midell u.a: Exil in den USA. Frankfurt a.M. 1980. (=Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933-1945. Bd. 3). S. 282. 108 Hermann Broch: Schriften zur Literatur. Bd. 1 Kritik. Frankfurt 1975. S. 393. 109 Hermann Broch: Schriften zur Literatur. Bd. 2 Theorie. Frankfurt a.M. 1975. S. 248. 110 F.C. Weiskopf: Der Fall Ernst Glaeser. In: Zur Tradition... Bd. 2. A.a.O. S. 758762, hier S. 762. 111 Siehe Anna Seghers: Über Kunstwerk und Wirklichkeit. Hrsg. v. Sigrid Bock. Bd. 1. Berlin 1971-1979. S. 71. 112 Johannes R. Becher: Wiedergeburt. In: Zur Tradition... Bd. 3. A.a.O. S. 41-44,
31 Diese allgemein geteilte Auffassung verbirgt im Singular die Mehrzahl von Konzeptionen, die dem Tendenzbegriff eine Zuordnung von Charakter zum Talent entgegensetzten. Drei durchaus unterschiedliche Charakterrollen lassen sich im Material der Schriftstelleressayistik unterscheiden: der Moralist, der Erzieher und der Kämpfer. Die Rolle des Moralisten zeigt in Hermann Kestens definitorischer Abgrenzung vom Tendenzschriftsteller, der einer bestimmten Gesinnung verpflichtet sei,113 den Wunsch nach Synthese – einerseits als Talent Poesie um ihrer selbst willen hervorzubringen, anderseits als Charakter – nach dem Vorbild Heinrich Manns – Worte und Werke zu Handlungen und Taten werden zu lassen. In der kritischen Praxis Klaus Manns, der – wie es auch Toller114 tat – Kesten selbst als Moralisten pries, aber auch Horváth und Roth,115 wurde aus der Synthese oft eine Doppel-, wenn nicht Dreierrolle. In einer Besprechung “Rene Schickeles neuer Roman”116 formulierte Mann diese Doppelrolle fast klassisch im Sinne jener von Max Raphael am Tendenzbegriff festgestellten “doppelten Buchführung”:117 Man ist Artist [...] genug, um begeistert zu sein. Freilich, man ist auch Moralist – moralistischer Politiker genug −, um mit Kummer, ja mit einem Gefühl, das fast Empörung ist, zu empfinden: Hier entzieht sich ein reifes, sicheres, sensibles, hoch entwickeltes literarisches Talent der Problematik der Zeit. Ein Künstler flieht in holde, abseitige Gegenden: es ist Fahnenflucht.118
Auch die umgekehrte Gefahr tauchte in der Einleitung der Rezension von Bruno Franks “Der Reisepaß” auf, wenn Mann beklagte, daß “so viele sich verraten oder müde werden – abseitsstehen oder dem Eifer des Kampfes ihr Künstlertum opfern.”119 Wenn Mann Franks Roman als Synthese feierte, als “politischen Roman großen Stils,” ein “die Wahrheit mit Mut und tapferer Deutlichkeit präzise aussprechendes Werk,”120 formulierte er zugleich eine Voraussetzung, die vom Talent eine besondere Moral – wenn nicht garantiert, so doch – impliziert sah: “Der Echtheit einer Gesinnung entspricht, hier S. 44. 113 Deutsche Literaturkritik. Hrsg. v. Hans Mayer. Bd. 4. Vom Dritten Reich bis zur Gegenwart (1933-1968). Frankfurt a.M. 1978. S. 126. 114 Ernst Toller: Gesammelte Werke. Bd. 1. A.a.O. S. 153. 115 Klaus Mann: Prüfungen. Schriften zur Literatur. Hrsg. v. Martin Gregor-Dellin. München 1968. S. 295. 116 Pariser Tageszeitung. 5.5.1937. 117 Max Raphael: Arbeiter, Kunst und Künstler. A.a.O. S. 37. 118 Klaus Mann: Prüfungen. A.a.O. S. 252. 119 Ebd. S. 253. 120 Ebd. S. 256.
32 in der aristischen Sphäre, die Reinheit der Form.”121 In der Aufzählung der Eigenschaften, auf die es ankomme, ist das Echo auf Talent und Charakter deutlich: “auf die Zuverlässigkeit und Festigkeit der geistig-moralischen Haltung; auf den echten Willen zur Leistung.”122 Die ‘Reinheit’ der Form dachte sich Mann – am Beispiel von “Ödön von Horváths erste[m] Roman – deshalb auf eine Weise, die es sogar erlaubte, den Tendenzbegriff zu benutzen, um den “suggestive[n] Stil” zu beschreiben: “[...] das Politische selber kommt in dieser Erzählung – die durchaus Poesie, und durchaus nicht Reportage ist – nur indirekt vor. Die politische Tendenz des Buches, die Anklage gegen den Faschismus, ist nur zwischen den Zeilen zu lesen.”123 Welche Bedeutung es für Mann hatte, den Schriftsteller als Moralisten zu begreifen, zeigt die Schärfe seines Protestes gegen Feuchtwangers Angriff auf Andre Gide als Ästheten; Mann besteht nicht nur auf dem Titel eines “Moralisten”,124 sondern weitet die Kritik aus: “Ob man denn im kommunistischen Lager den Wert großer Schriftsteller [...] nur nach ihrer Stellungnahme zu gewissen politischen Phänomenen bemißt?”125 Die Definition der Schriftstellerrolle als Synthese aus Kunstanspruch und politischer Verantwortung brachte Mann auf einen Vorschlag, der den positiven Tendenzbegriff des Moralisten als Synthese von Hoch- und Massenliteratur erweist; der Rezensent, so Mann, sollte den Maßstab angeben, nach dem er urteilte, nämlich deutlich sagen, “welchen Platz in der Hierarchie der Schriftsteller sein Autor einnimmt”: “ob es hohe Literatur oder Tendenzoder Unterhaltungs-Literatur ist.”126 Mit diesem Vorschlag landete aber auch Klaus Mann wieder bei der ‘doppelten Buchführung’, denn der Moralist als Tendenzschriftsteller geriet zwischen den “braven, aber literarisch nur ganz mäßig begabten”127 und den Autor von “Rang”, dessen Werk “durch seinen Stil bestimmt”128 werde. Thomas Mann schrieb dem Sohn am 3.12. 1936 zu dessen Mephisto einen Brief, der mit dieser Zwischenstellung zugleich das Typische der Exilliteratur zu erfassen meinte: “Ich weiß nicht, ob Du Dich hier als Moralist gefühlt hast, aber im Ganzen des Buches bist Du es, und das ist das Merkwürdige und Neue daran, das, was dem Roman sein geistesgeschichtliches Gepräge gibt und woran man ihn später einmal erkennen wird.”129Ganz ähnlich orientierte das Verlagsprogramm Emil Op121
Klaus Mann: Briefe und Antworten. Bd.1. A.a.O. S. 265. Ebd. S. 266. 123 Klaus Mann: Prüfungen. S. 292-293. 124 Klaus Mann: Die Heimsuchung des europäischen Geistes. A.a.O. S. 47. 125 Ebd. S. 48. 126 Klaus Mann: Die Heimsuchung des europäischen Geistes. A.a.O. S. 248. 127 Ebd. 128 Ebd. S. 249. 129 Ebd. S. 274. 122
33 rechts auf den Vorrang eines bestimmten Romantyps, der zwischen Hochliteratur und Massenlektüre angesiedelt wurde: “nicht den Roman als bloßes Kunstwerk, nicht als Unterhaltungslektüre [...] sondern [...] als Spiegel unserer eigenen Zeit.”130 Die Rolle des Erziehers akzentuierte noch stärker die Beziehung des Charakters des talentierten Autors auf seinen Adressaten. Paul Mayers Bilanz der im mexikanischen Exil entstandenen Literatur im Freien Deutschland begründete die mögliche “erzieherisch[e]”131 Wirkung der Werke vor allem Ernst Sommers und Seghers’ damit, daß es sich um “keine TendenzKunst”132 handele, sondern die AutorInnen Charaktere, nicht nur Talente seien. Die Rolle des Erziehers wurde in der breit geführten Diskussion um “Schuld und Strafe eines Volkes” ausgearbeitet, in der z.B. Hans Natonek aus der Differenzierung von Führern und Verführten die Verantwortung der Schriftsteller zur Erziehung ableitete.133 Dasselbe Angebot machte 1939 Klaus Mann, der auf dem Pariser Kongreß von “eine[r] pädagogische[n] Sendung”134 des Schriftstellers gesprochen hatte, sogar den in NaziDeutschland gebliebenen Autoren; Hitler sei nicht mit dem deutschen Volk gleichzusetzen: “Es soll aufgeklärt werden: dies ist des Schriftstellers Amt.”135 Unter Wiederaufnahme des Begriffs der ‘pädagogischen’ “Sendung”136 erklärte Mann den Inneren Emigranten: “Das deutsche Volk hat sich verführen lassen, nun bedarf es der neuen Führung. Gebt sie ihm.”137 Es spricht für die Nähe der drei Rollendefinitionen und zugleich für die repräsentative Bedeutung Manns, daß sich auch die dritte Charakterrolle in seiner Literaturkritik findet: der Kämpfer. Allerdings fällt auf, daß die beliebteste Metapher dieses Rollenverständnisses – die vom Kommunisten Friedrich Wolf 1927 in Umlauf gebrachte ‘Waffe’ – bei Mann nicht begegnet. Demgegenüber greifen nicht nur mit der KPD sympathisierende Autoren – von Oskar Maria Graf über Arnold Zweig bis Lion Feuchtwanger – auf die Formel “Kunst ist Waffe” zurück, sondern auch z.B. Joseph Roth, der sogar verschärft: “unsere einzige Waffe [ist] das Wort.”138 Demgegenüber zeigen Zweigs und Feuchtwangers Bestimmungen des Kämpfers einmal die Nähe zum Moralisten – gegen die “Kluft zwischen Sein und Schrei130
Werner Mittenzwei: Exil in der Schweiz. A.a.O. S. 154. Wolfgang Kießling: Alemania Libre in Mexiko. Bd. 2. Berlin 1974. S. 173. 132 Ebd. S. 172. 133 Hans Natonek: Die Straße des Verrats. Publizistik, Briefe und ein Roman. Hrsg. v. Wolfgang Schütte. Berlin 1982. S. 99-101. 134 Paris 1935. Erster Internationaler Schriftstellerkongreß. A.a.O. S. 153. 135 Klaus Mann: Die Heimsuchung des europäischen Geistes. A.a.O. S. 100. 136 Klaus Mann: Heimsuchung des europäischen Geistes. A.a.O. S. 103. 137 Ebd. S. 106. 138 Joseph Roth: Werke. Bd. 3. A.a.O. S. 712. 131
34 ben,”139 dann die zum Erzieher: “Die Erinnerung an frühere Siege und Niederlagen [...] scheint mir eine Waffe, die wir, in unserem Stadium des ewigen Kampfes [“gegen Dummheit und Gewalt”] gut brauchen können.”140 Balder Olden benutzte die Rollendefinition auf eine Weise, die die Selbstzweifel des Moralisten Klaus Mann ausräumen sollte am hohen Kunstcharakter seines Mephisto; Olden nannte ihn wie den Untertan eine “hohe Synthese aus Kampf und Kunst.”141 Wenn er diese dann allerdings näher erläuterte: “brillantes Pamphlet,”142 mußte er die Zweifel eher vermehren, zumal er sich hierfür auf Goebbels’ Haß auf den marxistischen Journalismus berief, der “tendenziös”143 und “jüdisch brillant”144 identifiziere. Der so zweifelhaft geehrte Autor verwendete ‘Kämpfer’ in adjektivischer Form in einem Geburtstagsartikel auf Bruno Frank, der dessen neuen Roman – unzweideutiger – als “ein kämpferisches Kunstwerk”145 feierte und den Autor vor allem als Charakter: er sei “sich treu geblieben: Ihrer Gesinnung und Ihrer Gesittung.”146 In Ernst Tollers Definition des charaktervollen Schriftstellers als Kämpfer wird der historisch aufgezwungene Charakter der Politisierung deutlich − den nicht nur Thomas Manns Formel vom ‘Zwang zur Politik’ traf, sondern auch Brechts gleichzeitige “Selbstkritik” der “Literatur der Emigranten”: “ein großer Teil von ihr, viele sagen, der künstlerisch qualifiziertere, ist als politisch behandelt (und ausgetrieben worden), bevor er sich politischer Handlungen bewußt war.”147 Toller erklärte auf dem Pariser Kongreß 1935: niemand kann den Kämpfen der Gegenwart entfliehen [...]. Wir lieben die Politik nicht um ihrer selbst willen. Wir nehmen heute teil am politischen Leben, aber wir glauben, daß es nicht der geringste Sinn unseres Kampfes ist, die künftige Menschheit von dem trostlosen Interessenstreit, der heute ‘Politik’ genannt wird, zu befreien.148
Tollers moralische Relativierung von Politisierung war gewissermaßen das Gegenstück zu Kestens moralischer Relativierung des Ästhetischen; so nahm Toller, wenn auch nur implizit, eine andere metaphorische Rollendefinition 139
Arnold Zweig 1887-1968. A.a.O. S. 224. Paris 1935. Erster Internationaler Schriftstellerkongreß. A.a.O. S. 298. 141 Balder Olden: Paradiese des Teufels. A.a.O. S. 321. 142 Ebd. S. 322. 143 Ebd. S. 359. 144 Ebd. S. 360. 145 Klaus Mann: Briefe und Antworten. Bd.1. A.a.O. S. 262. 146 Klaus Mann: Briefe und Antworten. Bd. 1. A.a.O. S. 263. 147 Klaus Jarmatz u.a.: Exil in der UdSSR. A.a.O. S. 224. 148 Paris 1935. Erster Internationaler Schriftstellerkongreß. A.a.O. S. 411-412. 140
35 vorweg, die gegenüber dem Pädagogen und dem Kämpfer weniger Direktheit und Militanz zeigte und die nach 1945 – in der kurzen Phase der Umerziehung – weite Verbreitung finden sollte – die des Arztes: “Was wir brauchen, ist ein Serum gegen geistige Epidemien.”149 Im Bild der Immunisierung faßte er jedenfalls eine Gemeinsamkeit, die sich zwar nicht – in dem Sinn, den die Literaturgeschichtsschreibung des kommunistischen Exils favorisiert hat – als ‘positiv’ bezeichnen läßt, die aber doch zwischen der realistischen Darstellungsästhetik und der Moralisie rung der Schriftstellerrolle eine Brücke darstellte: Sie lag im Begreifen der indirekten Wirkung antifaschistischer Literatur. Statt also nur das Scheitern der kommunistischen Bemühung um die Zentralisierung des Werks zu konstatieren und ihr die liberale Moralisierung des ‘Charakters’ bis zur radikaldemokratischen Instrumentalisierung der ‘Waffe’ entgegenzusetzen, soll abschließend ein Beispiel für die Integration der Aspekte Werk, Charakter und Waffe gegeben werden. Nur bei einer Autorin wurden die sich aus der Indirektheit ergebenden Fragen von epochaler Gestaltung, antifaschistischer Moral und Wirkung in einer intensiven Auseinandersetzung mit Lukács nicht nur in konkreter Orientierung auf das Werk, sondern auch unter dem Stichwort Tendenz behandelt. Anna Seghers hielt auch in der Nachkriegszeit an der Aufgabenstellung “Bewußt-Machen der Realität” fest, aber der spezifische “Auftrag”, unter dem sie ihr Schreiben begriff, war die Verhinderung einer Wiederholung von Auschwitz.150 Wenn sie den Begriff Tendenz durchgänig negativ verwendete, so bezog er sich zwar meist – darstellungsästhetisch – auf die “Plakate”,151 die nicht nur eine Figur, sondern auch eine von der Handlung entworfene “Richtungs- oder Entwicklungslinie”152 auf falsche, nämlich “abstrakte”,153 “didaktische”154 oder aktualistische Weise typisierten; zugleich aber galten begriffliche und metaphorische Abgrenzung von plakativer Tendenz der Zumutung, in Werken der Literatur “Meinungen zur Tagespolitik”155 zu propagieren. Nicht nur mit ihrem Hinweis auf dem V. Schriftstellerkongreß von 1961, daß eine vergangene Tendenz nicht mehr als solche wahrgenommen werde,156 bezog sie sich direkt auf die Diskussionen des Exils; die Überzeugung, daß, was heute noch als Parteilichkeit Leser zusammenzucken lasse, die 149
Ebd. S. 410. Anna Seghers: Über Kunstwerk und Wirklichkeit. Bd. 1. A.a.O. S. 80. 151 Ebd. S. 100. 152 Ebd. S. 94. 153 Ebd. S. 113. 154 Ebd. S. 159. 155 Ebd. S. 211. 156 Ebd. S. 138. 150
36 tendenzlose Literatur verlangten, eines Tages “allgemeines Besitztum der Menschheit”157 − also als “reine[s]” oder “ewige[s]” Kunstwerk 158 wahrgenommen – werde, begründete sie mit dem Charakter des Autors, der Einheit von Denken und Sein.159 Seghers’ Argumentation verschob damit den Gesichtspunkt, der Becher 1938 fordern ließ, “das Politische zur Natur werden” zu lassen”,160 von der Produktion zur Rezeption: Es hing vom geschichtlichen Handeln – auch dem der Schreibenden und Lesenden – ab, welche Politik hegemonial wurde.
157
Ebd. S. 212. Ebd. S. 202. 159 Ebd. S. 206. 160 Johannes R. Becher: Von den großen Prinzipien in unserer Literatur. A.a.O. S. 300. 158
Bettina Englmann
Exil und Expressionismus – Kontinuitäten eines kunsttheoretischen Diskurses nach 1933 This article reevaluates the famous exile debate on modern art and its relation to realism, known as ‘Expressionismus-Debatte’, in an international aesthetic context. By comparing it to the French ‘Querelle du réalisme,’ the public artists’ debate in Paris of 1936, the author concludes that theoretical discussions about the relations of art and reality in the thirties continue an aesthetic discourse that originated with the emergence of Expressionism, Cubism and Surrealism. This discourse finds its continuation in the theoretical texts of exile painters (e.g. Kokoschka, Beckmann) as well as of exile writers (e.g Broch, Döblin and Werfel) and illuminates exile art's proximity to aesthetic modernity. Wahrer Realismus heißt: nicht Gegenstände abbilden, sondern solche erschaffen. (Carl Einstein, Georges Braque)
Die Expressionismusdebatte, die 1937 und 1938 in den Exilzeitschriften Das Wort und Die Neue Weltbühne ausgetragen wurde,1 dient seit ihrer Entdeckung in den 60er Jahren zur Bestimmung der Relationen zwischen Exilliteratur und Expressionismus. Die Forschung2 hat den kunsttheoreti1
Dokumentiert ist die Debatte in: Die Expressionismusdebatte. Materialien zu einer marxistischen Realismuskonzeption. Hrsg. v. Hans-Jürgen Schmitt. Frankfurt a.M. 1973; Expressionismus. Der Kampf um eine literarische Bewegung. Hrsg. v. Paul Raabe. München 1965. Schmitts Auswahl berücksichtigt nur einen Artikel von Bloch und Eisler aus der Neuen Weltbühne, nämlich “Die Kunst zu erben”, nur im Literaturverzeichnis erwähnt werden Ernst Bloch: Der Expressionismus. In: Die neue Weltbühne 45/1937. [Nachdruck der Originalausgabe Prag/Paris 1933-1939. München u.a. 1992. S. 1415-1421] und: Hanns Eisler: Antwort an Georg Lukács. NWB 50/1938. S. 1583-84, übergangen wird: Ernst Bloch/ Hanns Eisler: Avantgarde-Kunst und Volksfront. NWB 50/1937. S. 1568-1573. Auch die Brecht-Auswahl ist unbefriedigend; zentrale Schriften wie “Notizen über realistische Schreibweise” oder “Weite und Vielfalt der realistischen Schreibweise” bleiben unerwähnt. Vgl. Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe (im folgenden BFA). Hrsg. von Werner Hecht/Jan Knopf u.a. Berlin/Frankfurt a.M. 1988. BFA 22.2. S. 620-640; und BFA 22.1. S. 424-433. 2 Vgl. z.B. David R. Bathrick: Moderne Kunst und Klassenkampf. Die Expressionismus-Debatte in der Exilzeitschrift Das Wort. In: Exil und Innere Emigration II.
38 schen Kontext dieser Debatte jedoch zugunsten einer Diskussion um literarische Politisierung vernachlässigt; so entstand das Bild einer Exilliteratur, die dem Expressionismus und der ästhetischen Moderne ablehnend gegenüberstand3, ein Bild, das zu undifferenziert ist, um eine Wertung der Ästhetik des Exils oder der Beziehungen zwischen Exil und Expressionismus zu ermöglichen. Der Fall Bertolt Brecht zeigt, daß einige Autoren sogar erst im Exil zu einer positiven Wertschätzung des Expressionismus gelangen;4 die Verfemung der Moderne im nationalsozialistischen Deutschland und schließlich auch im Einflußgebiet der Sowjetunion motiviert zahlreiche poetologische Schriften, die den Standort der Literatur und der Kunst zu klären versuchen, und dabei nicht bereit sind, auf die ästhetischen Errungenschaften des Expressionismus zu verzichten.5 Das Exil als Ort der Bewährung trägt zu grundsätzlichen theoretischen Diskursen bei Literaten und Hrsg. v. Peter Uwe Hohendahl und Egon Schwarz. Frankfurt a.M. 1972. S. 89-110. Und: Karl Menges: Georg Lukács: Die Exilliteratur und das Problem der Modernität. In: Schreiben im Exil: zur Ästhetik der deutschen Exilliteratur 1933-1945. Hrsg. v. Alexander Stephan/Hans Wagener. Bonn 1985. S. 40-53. 3 Karl Menges spricht von einer “antimodernistischen Einstellung der Exil-Autoren” und einem “formalen wie inhaltlichen Traditionalismus”, von einer besonderen Affinität zu Klassik und Aufklärung. Vgl. Menges: Die Exilliteratur und das Problem der Modernität. A.a.O. S. 47. Ähnlich Michael Winkler: Exilliteratur sei traditionsverbunden, ästhetisch konservativ, Experimenten abgeneigt und erstrebe vor allem “Identifikationsmuster und Ordnungssubstrate”. Vgl. Michael Winkler: Exilliteratur – als Teil der deutschen Literaturgeschichte betrachtet. Thesen zur Forschung. In: Exilforschung 1/1983. S. 359-366, hier S. 364. Auch Erich Kleinschmidt betont die Verfallsperspektive: Exilliteratur wird identifiziert mit Krisen, Versagen, Weltflucht, einer “konventionellen Ästhetik”. Vgl. Erich Kleinschmidt: Schreibpositionen. Ästhetikdebatten im Exil zwischen Selbstbehauptung und Verweigerung. In: Exilforschung 6/1988. S. 191-213, hier S. 208. 4 Vgl. John Willett: Brecht in Context. Comparative Approaches. London 1984. 5 Brecht stellt sich in “Über den formalistischen Charakter der Realismustheorie” gegen einen normativen sozialistischen Realismus: “Für mich ist der Expressionismus nicht nur eine »peinliche Affäre«, nicht nur eine Entgleisung. Der Grund: weil ich ihn überhaupt nicht nur als »Phänomen« betrachte und ihn mit einem Zettel versehe. Da gab es viel zu lernen für Realisten, die ja auf Lernen aus sind und den Dingen die praktische Seite abzugewinnen suchen. Bei Kaiser, bei Sternheim, bei Toller, bei Goering gab es Ausbeute für den Realisten. Offen gestanden, lerne ich leichter da, wo ähnliche Aufgaben angegangen wurden. Ohne Umschweife gesagt, dem Tod ins Auge geblickt: Ich lerne bei Tolstoi und Balzac schwerer (weniger).” Brecht: BFA 22.1. A.a.O. S. 443. Auch Ernst Bloch fordert im Exil zu einer Neubestimmung des Expressionismus auf: “Es ist wichtiger als je, über die so blutig gehassten Bilder sich klar zu werden. Was wurde 1912-22 gewollt, warum geht uns das wieder etwas an, warum erscheint die Kunst dieser Jahre Hitler so »ungesund«?” Bloch: Der Expressionismus. A.a.O. S. 1417.
39 Künstlern bei; die Frage, wie Ästhetik weiterentwickelt werden kann, wird vielfach thematisiert. Kunsttheoretische Debatten der 30er Jahre Daß die Weiterentwicklung einer Ästhetik der Moderne auch in den 30er Jahren einen kritischen Diskurs prägt, zeigt nicht nur die Expressionismusdebatte der deutschen Exilanten; 1936 diskutieren in Paris Maler und Bildhauer an mehreren Abenden öffentlich über das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit.6 Die Positionen dieser Künstler zwischen Kubismus, Surrealismus und Neorealismus werfen ein neues, anderes Licht auf die bekannte Exildebatte. Diese Querelle du réalisme ist der Expressionismusdebatte nie gegenübergestellt worden, obwohl sie weite Kontexte erschließen könnte; sie zeigt, daß die Expressionismusdebatte Bestandteil eines international geführten kunsttheoretischen Diskurses der 30er Jahre ist.7 Bekannte Namen haben sich an den Pariser Diskussionen und an der zuvor stattgefundenen Umfrage der Zeitschrift “Commune” zum Thema “Où va la peinture?” beteiligt: André Derain, Fernand Léger, Frans Masereel, Max Ernst, Alberto Giacometti, Le Corbusier, Amadée Ozenfant, Paul Signac, Yves Tanguy, Jean Labasque, Edouard Goerg, Jean Lurçat und als einer der wenigen Schriftsteller Louis Aragon. Der auffälligste Unterschied der Pariser Debatte zur Expressionismusdebatte im “Wort” ist das sehr positive Verhältnis zu einer modernen Kunst, die man weiterentwickeln will; auch die Plädoyers für Neorealismus betonen, daß sie keinen historisch gewordenen, konventionalisierten Realismus anstreben. In dieser Realismusdebatte der bildenden Kunst wäre eine vergleichbare Denunziation des Expressionismus, seiner innovativen Formen und Techniken, undenkbar gewesen.8 Man entwickelt allerdings 6
Dokumentiert in: La Querelle du réalisme. Hrsg. von Serge Faucherau. Paris 1987. 7 Man beachte auch die internationale Konferenz zum Thema Kunst und Realität, die 1934 in Venedig unter Schirmherrschaft des Völkerbundes stattfand. Vgl. L’Art et la Réalité – L’Art et l’Etat. Hrsg. von Mario Alvera. Paris 1935. 8 Georg Lukács hatte als zentrale Figur der Expressionismusdebatte die Position der stalinistischen Linie vertreten, die das ästhetische Experiment verdammte. Vgl. dazu Georg Lukács: Es geht um den Realismus. In: Schmitt: Expressionismusdebatte. A.a.O. S. 192-230. Naturalismus, Impressionismus, Symbolismus, Surrealismus und Expressionismus werden von ihm wegen ihrer “Liquidierung des Realismus” (S. 193) abgelehnt. Der Expressionismus wird als inhaltsfeindlich und formalistisch verurteilt (S. 208); mit ihm werden spezifisch moderne Techniken wie Montage oder der innere Monolog als “Dekadenz” denunziert (S. 210f). Vorbildlichen Realismus findet Georg Lukács dagegen im Roman des 19. Jahrhunderts: als Grundlage eines sozialistischen Realismus sollen wieder Totalität, Kausalität und psychologische Menschengestaltung in der Haltung eines optimistischen
40 auch kritische Positionen zu einer avantgardistischen Kunst, deren formale Perfektion zwar bewundert wird, die Folgen eines formalen Hermetismus, einer “monde fermé et incompréhensible”9 werden jedoch problematisiert: Amadée Ozenfant, der den Ideen Le Corbusiers nahestand, befürchtet eine drohende “stérilité”10 der Kunst, wenn sich diese weiterhin von der Welt abschließe und eine Sprache pflege, die nur einer kleinen Elite zugänglich sei. Daß Kunst nicht nur für wenige, sondern für möglichst viele zugänglich sein sollte, ist ein Gedanke, der immer wieder geäußert wird, und auch konkrete ästhetische Lösungen hervorbringt, wie die Wandmalerei, die in den 30er Jahren äußerst populär ist und als kollektive Kunst gilt. Somit tritt die Kunst nach einer Phase, in der vor allem technische Probleme diskutiert wurden, nun in eine Phase ein, in der neben Aspekten der Produktion auch die Rezeption, der Betrachter, und das ästhetische Material ins Blickfeld des Künstlers geraten. Der Künstler geht nicht mehr primär davon aus, daß er aus seiner Innerlichkeit Kunst produziert, die den Betrachter leiten könnte. “Ce n’est pas à l’artiste d’éduquer le peuple, mais au peuple d’éduquer l’artiste. C’est le peuple qui crée les mots, leur donne leur chair, si c’est le poète qui leur trouve un rythme.”11 André Derain, einst einer der Mitbegründer der Fauves, formuliert hier eine andere Perspektive des künstlerischen Austauschs; der Künstler braucht das Wirklichkeitsmaterial, das ihm die Welt und die Menschheit zur Verfügung stellt, seine Kunst läßt sich davon nicht isolieren. Dies sind ästhetische Fragestellungen, die eine nichtgegenständliche Kunst in den Hintergrund treten lassen,12 konkrete Relationen zu erfassen, erfordert ein Umdenken gegenüber einer Ästhetik der Dekontextualisierung, wie sie der französische Kubismus verfolgt hatte. Auch wenn die erkenntnisträchtigen Ergebnisse dieser verfremdenden Malerei gewürdigt werden, so erheben sich doch einige Stimmen, die den auf ästhetischer Negation bedachten Ansätzen positive Realitätssichten entgegenstellen wollen, der Maler Jean Lurçat argumentiert mit der antihumanistischen Kampagne des Nationalsozialismus, die unbedingt auf Widerstand stoßen müsse, Kunst dürfe den Menschen nicht mehr ignorieren. “lebendigen Humanismus” (S. 227) gelten, Garanten für die “richtige” Darstellung (S. 227) einer objektiven Wirklichkeit. Der Rezipient wird als zu Belehrender aufgefaßt; ihm sollen “Antworten” auf die Fragen des Lebens geliefert werden (S. 228). 9 Louis Aragon, in: La Querelle du réalisme. A.a.O. S. 88. 10 Amadée Ozenfant, in: La Querelle du réalisme. A.a.O. S. 217. 11 André Derain, in: La Querelle du réalisme. Aa.O. S. 221. 12 Vgl dazu Jean Lurçat, in: La Querelle du réalisme. A.a. O. S. 246 und Edouard Goerg, in: Ebd. S. 256. Beide weisen jede abstrakte Malerei zurück, um nun zu einer Kunst zu gelangen, die das sujet wieder ästhetisch aufwertet.
41 Dazu wird Widerspruch laut. Wenn die Kunst unmenschlich geworden sei, so sei dies nicht trennbar von der Erfahrung einer unmenschlichen Sozialordnung, die nicht wegretuschiert werden könne.13 Kunst dürfe nicht nur Dekoration oder Amüsement sein, sondern sie müsse als eine kritische Kunst die Erwartungen des Publikums – und damit gesellschaftliche Konventionen – gezielt durchbrechen. Die Destruktionen des Kubismus seien unverzichtbar gewesen, um neue Perspektiven auf die Realität zu ermöglichen, und daher als durchaus konstruktive Elemente zu betrachten. Der Schriftsteller Jean Cassou wertet den Mangel an Verständlichkeit nicht negativ; nur wer nicht versteht, wird ein automatisiertes Wiedererkennen von Realität im Kunstwerk vermeiden können.14 Auch der Maler Edouard Goerg führt aus, daß es nicht unbedingt allein am Künstler liege, wenn er nicht verstanden wird; der Rezipient muß sich ebenfalls weiterentwickeln, wenn Kommunikation nicht scheitern soll. Die Frage einer anzustrebenden Form wird von den bildenden Künstlern der Querelle du réalisme anders behandelt als von den Teilnehmern der primär literarischen Expressionismusdebatte, die normative Verordnung eines sozialistischen Realismus mit klaren ideologischen Identifikationsangeboten findet kaum statt. Stattdessen werden individuelle Techniken propagiert, die Vielfalt und Entwicklungsmöglichkeiten bieten, Qualitäten, die als zentrale Aufgabe jeder Kunst angesehen werden. “Le tort de toute théorie, c’est de vouloir toujours aboutir à une situation définitive. Il n’y a pas de moral qui dure toujours, c’est-à-dire qui sache se renouveler sans cesse. La volonté du définitif, c’est la mort.”15 Für Derain soll die Kunst einen spielerischen Freiraum organisieren, der Normen zurückweist: “Le jour où la culture serait générale, il n’y aurait plus d’art, nous n’aurions plus besoin d’art.”16 Dabei sind diese Künstler keineswegs unpolitisch, viele stehen dem Sozialismus nahe; allerdings wird klar zwischen Kunst und der Propagierung einer Ideologie unterschieden. Frans 13
Marcel Gromaire äußert sich kritisch gegenüber künstlerischem Optimismus: “Certains plaisantins souhaiteraient aujourd’hui, pour leur petite délectation, un art de béatitude optimiste. Répondons-leur que l’on ne peut, sans démission, être insensible au drame quotidien. S’ils veulent un art heureux, qu’ils commencent donc par en finir avec cette humanité souffrante d’hommes étriqués et craintifs, [...] Quand on en aura fini avec cela, nous reparlerons d’optimisme.” In: La Querelle du réalisme. A.a.O. S. 67. 14 Auch Brecht entwickelt ein produktives Element aus dem Nicht-Verstehen des Rezipienten; er notiert unter dem Titel “Dialektik und Verfremdung”: “Häufung der Unverständlichkeiten, bis Verständnis eintritt”, was als Reflexion über die erkenntnisträchtigen Aspekte der Verfremdung zu lesen ist. Brecht: BFA 22.1. S. 401. 15 André Derain, in: La Querelle du réalisme. A.a.O. S. 220. 16 Ebd. S. 222.
42 Masereel macht deutlich, daß Kunst nicht über ihr sujet oder ihre politische Botschaft definiert werden kann. Den Gegenpart zu derartigen formal offenen Positionen übernimmt Aragon, der Realismus unmittelbar an die Propagierung des Sozialismus anbindet, eine Auffassung der Aufgaben der Kunst, die er untermauert, indem er Stalin zitiert. Aragon erweist sich auch in seiner Zurückweisung der Moderne, die er als “fuite devant la réalité”17 charakterisiert, als der Lukács der französischen Debatte. Doch entgegen seiner Forderungen wird der Ruf nach “nouveau réalisme” ansonsten nicht als eindeutige Form gedacht, im Gegenteil: verordneter Realismus wird zurückgewiesen. Eine Definition dieses Realismusbegriffs zu erarbeiten, ist völlig unmöglich, es gibt hier nicht einen Begriff sondern mehrere, die sich diskursiv überschneiden. Es zeigt sich, daß diese französischen Künstler mit einem offeneren Realitätsverständnis arbeiten als ihre deutschen Kollegen; Ernst Bloch hatte im Kontext der Expressionismusdebatte darauf hingewiesen, daß das zentrale Problem nicht ästhetisch sondern erkenntnistheoretisch motiviert sei, es besteht in der Auffassung von Wirklichkeit.18 Realismus dient in der Querelle du réalisme als positives Etikett für die unterschiedlichsten Dinge, eine Beobachtung, die sich in den disparaten Realismusbegriffen eines Bertolt Brecht und eines Georg Lukács spiegelt. “Dans La Querelle du réalisme chacun y va de sa définition.”19 Realismus gilt hier – mit Ausnahmen – nicht als Antithese zur Ästhetik der Moderne, immer wieder wird statt einer verbindlichen Festlegung die Vielfalt des Realismus propagiert: der Maler Marcel Gromaire entdeckt überall in der Kunstgeschichte Realismus, in der griechischen Antike, im Mittelalter, im Impressionismus, in der “primitiven” Kunst.20 Der Ruf nach Realismus ist so alles andere als normativ: “[...] il n’y a pas un seul réalisme, ni une seule façon d’être réaliste [...].”21 Der Realismus der modernistischen 17
Louis Aragon, in: La Querelle du réalisme. A.a.O. S. 86. Er kritisiert Lukács wegen seines idealistischen geschlossenen Wirklichkeitskonzeptes, das die Erkenntnisse der Moderne – Diskontinuität, Dissoziation, Atomisierung, etc. – ignorierte. Vgl. Bloch: Diskussionen über Expressionismus. In: Expressionismusdebatte. A.a.O. S. 180-191, hier S. 186. Auch Brecht lehnt Lukács’ Thesen daher als ahistorisch und “wirklichkeitsfremd” ab. Vgl. Brecht: BFA 22.1. S. 456. 19 Der Herausgeber Serge Fauchereau in der Einleitung, La Querelle du réalisme. A.a.O. S. 30. 20 Anna Seghers argumentiert ebenso in ihren Briefen an Lukács. Sie versucht, Rea-lismus als künstlerisches Element aller Epochen zu werten und so Ausgrenzungen zu vermeiden und fragt, “ob es überhaupt irgendein wirkliches Kunstwerk gibt, in dem nicht eine Substanz Realismus enthalten ist, nämlich eine Tendenz zur Bewußtmachung von Wirklichkeit”. Anna Seghers an Georg Lukács, 28.6.1938. In: Expressionismusdebatte. A.a.O. S. 271. 21 Edouard Goerg, in: La Querelle du réalisme. A.a.O. S. 73. 18
43 Strömungen wird immer wieder positiv hervorgehoben. Goerg argumentiert, daß die Realität seit Ende des 19. Jahrhunderts immer komplexer und differenzierter geworden sei, so daß der Impressionismus, der insbesondere die visuelle Realitätsbetrachtung erweitert habe, als spezifisch realistische Kunst gelten könne. Fernand Léger nennt als “nouveau réalisme” explizit die vorangegangene Kunstepoche, die seit einem halben Jahrhundert eine neue Kunst geschaffen habe, und stellt so die formalen Ideale eines sozialistischen Realismus, wie er von Lukács definiert wurde, auf den Kopf. Er bindet seine ästhetischen Vorstellungen an technische, soziale und philosophische Veränderungen an. Nous vivons, depuis un demi-siècle, des temps extrêmement rapides, riches en évolutions scientifiques, philosophiques et sociales. Cette vitesse a, je crois, permis la précipitation et la réalisation du nouveau réalisme, assez différent des conceptions plastiques précédentes.22
Hier wird deutlich, daß es keine Rückgriffe auf das 19. Jahrhundert gibt, die französische Debatte verweigert sich einer Perspektive, die die Moderne als Epoche der Defizite gegenüber einem klassischen Kunstideal verorten möchte. Die Schlußfolgerung der französischen Künstler für eine ästhetische Weiterentwicklung ist der Ruf nach einem dynamischen Kunstkonzept, Kunst soll die Realität und ihre eigenen Formen erweitern23 und so auch die Moderne fortschreiben.
22
Fernad Léger, in: Ebd. S. 103. Mit der Dialektik von Kunst und Wissenschaft argumentieren auch Bloch und Eisler, deren “Kunstfreund” gegen Lukács die Ikonen der Moderne ins Feld führt: “Ich brauche hier nicht auf moderne Künstler vom Range Picassos, Strawinskis, Schönbergs, Eislers, Bartoks, Dos Passos’, Brechts hinzuweisen. Auch wird nur eine platt-idealistische Perspektive die Großtaten der neuen Physik übersehen [...]. Zwar wird die moderne Physik sehr gern mit der modernen Technik zusammengestellt, und dieser konzedieren die Theoretiker des totalen Niedergangs ja selbst eine Ausnahme; zum Unterschied von der hundertprozentigen Verworfenheit aller künstlerischen und anderen Ideologie.” Vgl. Ernst Bloch/ Hanns Eisler: Die Kunst zu erben. In: Expressionismusdebatte. A.a.O. S. 258-263, hier S. 262. 23 Laut Jean Labasque muß Kunst neue Realitäten entwerfen und entdecken: “Sans réalité, dirai-je, il n’est pas d’art véritable; mais où commence et où s’arrête la réalité? N’est-ce-pas le rôle même de l’artiste que de passer outre à ses limites visuelles et, en peignant les images nouvelles d’un monde qu’il découvre, de révéler une réalité inaperçue et qui ne cesse pas, cependant, d’être réellement vivante?” In: La Querelle du réalisme. A.a.O. S. 147. Dieses Argument findet sich auch bei Brecht: “Andrerseits sind Werke, die der Wirklichkeit keine neuen Seiten abgewinnen, kaum große realistische Werke: kein Realist begnügt sich damit, immerfort zu wiederholen, was man schon weiß; das zeigt keine lebendige Beziehung zur Wirklichkeit.” Vgl. Brecht: BFA 22.1. S. 422f.
44 Die französischen Diskussionen um Realismus zeigen, daß der Diskurs um eine Weiterentwicklung der Ästhetik – und damit auch eine kritische Überprüfung der Moderne als eigener künstlerischer Vorgeschichte – ein wichtiges Thema der 30er Jahre ist; diese theoretischen Reflexionen verbinden Kunst und Literatur des deutschen Exils mit der Kunst anderer Nationen. Allerdings darf dieser Diskurs nicht auf die 30er Jahre begrenzt werden; daß über Realismus diskutiert wird, ist die zentrale Kontinuität, die in ästhetischen Theorien seit dem Ende des 19. Jahrhunderts fortgeführt wird. Seitdem zeigt sich in kunst- und literaturtheoretischen Texten ein kritisches Verhältnis zu einer angeblich objektiven Wirklichkeit; die Aporien einer stabilen Realitätsvorstellung motivieren eine Ästhetik der ständigen Metamorphosen realer und künstlerischer Welten, zentral wird die künstlerische Reflexion auf das eigene Material, auf Formen, Farbe und Sprache. In der Expressionismusdebatte wird dieser Diskurs ebenso reflektiert und fortgeführt wie in der Querelle du réalisme; daß die französischen Künstler über Impressionismus, Kubismus und Surrealismus debattieren, während die deutschen Exilanten sich mit dem Expressionismus beschäftigen, entspricht der jeweiligen nationalen Tradition in bezug auf die zentralen Phasen der Moderne. Trotz aller Unterschiede lassen sich diese Strömungen in ihrem Realität neu denkenden Ansatz vergleichen, den Kunst und Literatur des Exils fortführen. Während die Expressionismusdebatte durch die normativen Lesarten der Forschung ein eher negatives Bild der Moderne transportiert, macht die Lektüre der Querelle du réalisme viele produktive Ansätze zu einer modernen Ästhetik sichtbar. Der Diskurs um die Moderne in der Exilliteratur Zumindest ein deutscher Exilant hat die Diskussionen der französischen Künstler unmittelbar registriert; in Walter Benjamins Leseliste fungiert die Dokumentation der Querelle du réalisme als Nummer 1584. Benjamins theoretische Schriften aus der Zeit des Exils tragen zum Diskurs um eine moderne Ästhetik bei, die französische Debatte wird von ihm in Texten um 1936 erwähnt, und hat so direkt auf seine Arbeit eingewirkt. In einem Fragment zum Text “Malerei und Photografie” erörtert er Positionen des Architekten Le Corbusier zum Thema Rezeption, um diese in seine Überlegungen zum Zeitalter der Reproduzierbarkeit des Kunstwerks zu integrieren. Benjamin installiert dieses Zeitalter in einer “Veränderung des menschlichen Raumgefühls,”24 somit einer Veränderung der Wahrnehmung, der Perspektiven. “[...] die Rezeption verändert sich. Von der Rezeption der Malerei sprechen, heißt an erster Stelle sich von ihrem 24
Walter Benjamin: Gesammelte Schriften VII.2. Hrsg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser. U.a. Frankfurt a.M. 1989. S. 817.
45 Verhältnis zur Architektur Rechenschaft geben.”25 Le Corbusier wollte die Architektur als die zentrale Kunst der Gegenwart betrachtet wissen. Auch die Rolle der Technik für eine moderne Ästhetik hebt Benjamin hervor – die Querelle du réalisme zitierend und erörternd.26 Es fällt auf, daß er die Expressionismusdebatte dagegen im “Wort” nie schriftlich diskutiert hat. Seine ästhetischen Reflexionen weisen eine inhaltliche Kunstbetrachtung im sozialistischen Realismus zurück; er setzt dagegen, daß Künstlern in Deutschland das Malen verboten wird, nicht wegen ihrer Themen, sondern “wegen der Art, wie sie malen”.27 Diesem wie, der künstlerischen Technik, gehört seine volle theoretische Aufmerksamkeit. Derartige kunsttheoretische Ansätze, in denen eine moderne Ästhetik fortgeschrieben wird, zeigen sich vielfach in Schriften deutscher Exilanten; die Exilforschung hat ihnen bisher wenig Raum gegeben, da die Urteile der Expressionismusdebatte so offensichtlich schienen. Ein Aspekt, der nie thematisiert wurde, ist die eigentlich so auffällige Tatsache, daß viele einstige Expressionisten den Weg des Exils gingen: Walter Hasenclever, René Schickele, Franz Werfel, Alfred Döblin und viele andere. Da sie sich zur Expressionismusdebatte nicht direkt äußerten, wurden sie von der Forschung in diesem theoretischen Kontext nicht berücksichtigt. Doch auch andere Autoren, die nie mit dem Expressionismus identifiziert wurden, beschäftigen sich im Exil mit ihrer literarischen Vorgeschichte und thematisieren genuin expressionistische Techniken. Obwohl die einstige Aufbruchsstimmung der jungen Expressionisten lange tot war und mit ihr das Pathos der expressionistischen Sprache und die Utopie des ‘Neuen Menschen’, werden formale Innovationen fortgeführt. Daß es Gemeinsamkeiten, Kontinuitäten zwischen Expressionismus und Exil gibt, zeigen jene kunst- und literaturtheoretische Schriften des Exils eindeutig, Schriften, deren ästhetische Problemstellungen ähnliche diskursive Linien aufweisen wie die jahrzehntealten Theorien des Expressionismus. Viele fragmentarische Äußerungen des Exils sind erst über die Nachlässe ans Licht der Öffentlichkeit gelangt; man kann bei diesen Texten nicht von einer ästhetischen Debatte sprechen, auch kaum von einer Wirkung; stattdessen liegen vielschichtige poetologische Monologe vor, deren Interdiskursivität erst rekonstruiert werden muß. Die Unterscheidung zwischen einer öffentlichen Expressionismusdebatte und einem in der Stille des Exils geführten Diskurs um den Expressionismus soll hier zu einer Fokussierung auf den letztgenannten führen. Das Jahr 1933 markiert nicht nur Zäsuren im künstlerischen Bereich, die Kontinuität der Moderne wird auch im Exil fortgeschrieben. Keines25 26 27
Ebd. S. 816. Ebd. S. 818ff. Ebd. S. 822.
46 wegs läßt sich von einer Überwindung des Expressionismus sprechen. Die Expressionismusdebatte zeigt sowohl Affirmation als auch Negation gegenüber einer modernen Ästhetik, alle ihre Beiträge sind als Teilnahme am Diskurs um die Moderne zu werten. Dieser Diskurs hat im Exil keine zeitlichen Begrenzungen; die Thematisierung des Expressionismus ist kein isoliertes Phänomen der Jahre 1937 und 1938. Es wurde darauf hingewiesen, daß die Debatte im “Wort” als Reflex auf die Verordnung des sozialistischen Realismus in der Sowjetunion zu verstehen ist, im selben Kontext steht auch Lukács’ Aufsatz von 1934: “Größe und Verfall des Expressionismus”. Ein einziger Exilant verfaßte 1934 eine direkte Antwort auf diesen Verfalls-Aufsatz von Lukács, in dem von Größe gar nicht die Rede ist: Klaus Mann. Sein Aufsatz “1919 – Der literarische Expressionismus” blieb jedoch unveröffentlicht und damit unbeachtet, ein starker Kontrast zu der Aufmerksamkeit, die den ebenfalls unveröffentlichten Notaten Brechts zuteil wurde. Mann versucht, auch in ästhetischer Hinsicht ein differenziertes Bild des Expressionismus zu entwerfen, da ihm politisches Taktieren mangelt. Jenseits einer nur gesellschaftspolitischen Argumentation hebt er die künstlerische Bedeutung des Expressionismus hervor und macht die Nähe der Literatur zur bildenden Kunst deutlich. Ausgehend von der Malerei wurde demnach eine Ästhetik initiiert, die den Primat der Inhaltlichkeit durch die Konzentration auf ihr Material, auf Formen, Farbe und Sprache ersetzte. So durchbreche die Kunst der Abstraktion die Konventionen der literarischen Gattungen, Texte sollen Kunstwerke auf dem Gebiet des Sprachlichen werden. Auch ein emphatisches Sprechen wird möglich, hin zum Utopischen, zum Visionären; Klaus Mann spricht von einer “neuen Sprache” des Expressionismus.28 Die Steigerung des poetischen Sprachbewußtseins ist ein Phänomen, das auch für das Schreiben im Exil von größter Bedeutung ist. Eine weitere künstlerische Errungenschaft des Expressionismus, die nachwirkt, ist die Erweiterung der literarischen und künstlerischen Kontexte in Zeit und Raum, seine Traditionen findet der Expressionismus auch in der Gotik oder in afrikanischer Kunst. Neben vielen anderen Details betont Mann diese Aspekte künstlerischer Entwicklung in der Moderne und urteilt so hellsichtiger über den Expressionismus als viele Zeitgenossen, die ästhetische Entwicklungen angesichts der politischen Bedrohung aus den Augen verlieren – was im historischen Kontext verständlich ist. Man muß ihm zustimmen, wenn er schreibt:
28
Klaus Mann: Zahnärzte und Künstler. Aufsätze, Reden, Kritiken 1933-1936. Hrsg. v. Uwe Naumann und Michael Töteberg. Reinbek 1993. S. 171.
47 Am ungerechtesten ist man gegen die Vergangenheit, die noch nicht lange her ist. Man neigt dazu, ihre Verdienste, ihre ganze Großartigkeit zu übersehen – nur bestrebt, ihre Irrtümer und Übertreibungen zu überwinden.29
Ernst Weiß hat 1932 in einer Hemingway-Rezension von einer unbedingten Notwendigkeit zu sprachlicher Schlichtheit gesprochen und dies mit der Distanzierung vom Expressionismus begründet, dessen Exaltiertheit im Schreiben über den Menschen und seine Aporien unerträglich geworden sei.30 Deutlich wird so die Ablehnung eines utopischen Messianismus, der sich nur allzuschnell abgenutzt hatte; ganz ähnlich schreibt auch Franz Werfel im Rückblick aus dem Exil von expressionistischen “Sonderlinge[n]”, deren “Lallen” er verurteilt.31 Doch gerade Werfel und Weiß schreiben im Exil literarische Techniken fort, die auch den Expressionismus prägten: die sezierende Subjektbetrachtung, die Weiß über den inneren Monolog vermittelt, hat ihre Vorbilder in der Prosa Gottfried Benns oder Robert Musils. Werfels antirealistische Poetik, seine Sprache des Traums oder der Vision, ist ohne den Expressionismus gar nicht denkbar. Bei diesen beiden politisch eher unverdächtigen Schriftstellern wird ein Aspekt deutlich, der auch die politisch motivierte Expressionismusdebatte im “Wort” prägt: Expressionismus ist im Exil vielfach zu einem negativ konnotierten Schlagwort geworden. Das vielschichtige und fundierte Bild, das die Expressionismusforschung bis heute erarbeitet hat, darf für Texte des Exils nicht vorausgesetzt werden. Man muß diese historisch bedingten Begrenzungen berücksichtigen, um die Aussagen zum Expressionismus im Exil richtig einordnen zu können. Dabei gibt es durchaus positive Rückblicke. Als exemplarisches Beispiel für Schreiben im Exil mag hier Walter Mehrings Autobiographie einer Kultur “Die verlorene Bibliothek” gelten: Mehring versucht mit diesem Werk, der gezielten Vernichtung des kollektiven Gedächtnisses, die im nationalsozialistischen Deutschland nach 1933 durchgeführt wurde, etwas entgegenzusetzen. Schreibend bewahrt er ein Bild von der Literatur seit dem 19. Jahrhundert, auch von der Literatur des Expressionismus und des Dadaismus, und rekonstruiert so die verlorene Bibliothek durch eine Poetik der Memoria. Die ästhetischen Verfahren, die Klaus Mann in seinem Artikel positiv hervorgehoben hat, sind nur einzelne Steinchen im großen Mosaik des Diskurses um die Moderne und ihre Ästhetik, zahlreiche Autoren haben
29
Ebd. S. 164. “[...] keine Sentimentalität. Man ehre den Untergang durch schicksalstreuen Bericht und darüber hinaus schweige man.” Vgl. Ernst Weiß: Gesammelte Werke. Bd. 16. Hrsg. v. Peter Engels und Volker Michels. Frankfurt a.M. 1982. S. 404. 31 Franz Werfel: Zwischen Oben und Unten. Prosa, Tagebücher, Aphorismen, Literarische Nachträge. Hrsg. v. Adolf D. Klarmann. München. U.a. 1975. S. 549. 30
48 weitere Aspekte beigetragen. Einige sollen exemplarisch dargestellt werden. Von großer Bedeutung im Blick auf eine Weiterführung der modernen Ästhetik im Exil sind die Theorien von Hermann Broch. Seine fragmentarische Schrift “Hofmannsthal und seine Zeit” von 1947/48 stellt eine Abrechnung mit der Literatur seit dem 19. Jahrhundert dar. Er macht deutlich, daß es keine Verbindung mehr mit den künstlerischen Konventionen des 19. Jahrhunderts geben dürfe, und stellt dem ein positives Bild der ästhetischen Moderne gegenüber. Eine “neue Epoche” sei angebrochen, definiert durch eine “neue Realitätsansicht”, die zuerst bei Picasso und Braque sichtbar geworden sei.32 “Der künstlerische Ausdruck hatte eine ungeheuere Realitätserweiterung zu bewältigen, und der damit eingeleitete Prozeß ist sicherlich noch lange nicht abgeschlossen [...]”33 Wie Fernand Léger bindet so auch Broch seine eigene Zeit und damit die Exilliteratur an die Anfänge der Moderne an, hier an den Kubismus, für ihn definiert sich dieses halbe Jahrhundert über gemeinsame ästhetische Tendenzen. Er schreibt 1943 an Friedrich Torberg, die neue Ästhetik der Abstraktion sei der “schärfste Einschnitt in der Kunstgeschichte seit der Antike.”34 Dabei bezieht er sich keineswegs nur auf die bildende Kunst. Auf der einen Seite erfährt die Wissenschaft, auf der andern, der praktischen Seite, erfährt das soziale und politische Leben eine völlige Umstülpung. Kann man da von der Kunst etwas anderes erwarten? Idiotisch und kindisch ist es aber zu meinen, daß sich jene theoretischen und praktischen Umstülpungen in der Kunst zu »spiegeln« hätten. Nein, die Kunst vollzieht ihre – allerdings parallele – Revolution nach ihren eigenen Gesetzen, und diese sind lediglich an der Kunstentwicklung und an der Entwicklung ihrer Technik, respektive an deren Trägern (Joyce, Strawinsky, Picasso) abzulesen. »Stofflich« gibt die Revolution der Epoche nichts her.35
Broch weist einen statischen Realismus zurück zugunsten eines dynamischen Realitätsbegriffs, der die Veränderungen der Moderne positiv wertet. Wenn er über die “Revolution” der Kunst spricht, so meint er damit keine neuen Inhalte, zentral sind die Veränderungen technischer Verfahren in Kunst, Literatur und Musik. Diese Veränderungen sieht er in der künstlerischen Abstraktion, in Hermetisierung und steigender “Unverständlichkeit” der Werke.36 Wie das konkret im literarischen Text aus32 Hermann Broch: Kommentierte Werkausgabe. Hrsg. v. Paul Michael Lützeler. Frankfurt a.M. 1974. Bd. 9/1. S. 236. 33 Ebd. S. 236. 34 Broch: KW 13/2. Brief an Friedrich Torberg, 10.4.1943. A.a.O. S. 319. 35 Ebd. S. 319. 36 “[...] wir sind am Ende einer Kunstepoche, und gerade ehrliche Kunstwerke [...] zeigen dieses Ende vermittels »Unverständlichkeit« an −, nicht nur Joyce ist hiefür
49 sehen kann, wird von Broch im Kontext seiner romantheoretischen Schriften diskutiert, die ab 1933 entstehen. Demnach sind zwei Dinge für den Roman zentral: zum einen betont Broch die kompositionelle Bedeutung des point of view – das literarische Element des Sehens. Zum zweiten müsse das erstarrte “Sprachsystem”37 des Romans aufgebrochen werden, womit Broch auf traditionelle Gattungsgrenzen anspielt. Die neue Sprache des Romans soll sich den Konventionen des psychologischen Romans entziehen und stattdessen z.B. ein traumhaftes Sprechen integrieren; daß Broch hier auf Kafka und Döblin hinweist, ist naheliegend. Frühe Anfänge der von Broch des Expressionismus, z. B. in Carl Einsteins Bebuquin oder in Döblins Ermordung einer Butterblume; dennoch haben diese Thesen nichts an Aktualität verloren. Brochs Theorien sind bedeutsam für die Literatur des Exils, eine komplexe Konstruktion des point of view zeigt sich im Exil z.B. bei Brechts “Cäsar”-Fragment oder in Thomas Manns “Doktor Faustus”. Trotz derartiger Entwürfe ist Brochs Verhältnis zu artistischer Arbeit im Exil ambivalent; er kündigt nach 1933 immer wieder an, er werde aufhören mit dem literarischen Schreiben, Fiktionen seien unmoralisch geworden.38 Er schreibt dennoch bis zu seinem Tod. Im Gegensatz zu Broch hat Franz Werfel sich keineswegs geschämt, die Kunst der Fiktion zu propagieren. In der Exilliteratur artikuliert sich vielfach ein schlechtes Gewissen, Kunst zu machen und zu genießen, während Millionen Menschen in Krieg und Vernichtung involviert sind. Die starke ideologische Codierung der Exilliteratur muß auch als Versuch gelesen werden, dieses schlechte Gewissen zu verarbeiten. Werfel weist diesen Weg zurück.. Der primitive Realist ist von allen Träumern derjenige, welcher am tiefsten träumt, denn er ist so rettungslos in den Traum seiner vermeintlichen Wirklichkeit verwickelt, daß er gar nicht auf den Gedanken kommt, er träume.39
Dieser Angriff auf einen konventionellen Realismus ist anders als der von Broch oder Brecht. Werfel geht davon aus, daß eine objektiv erkennbare Realität ein individuelles Konstrukt darstellt, eine Fiktion. Den verordneten Realismus der “Schriftstellereifeldwebel”40 in der Sowjetunion lehnt er ab, da so nur eine Literatur der Eindimensionalität und der Erstarein Beispiel, auch Picasso etc. ist es; [...]” Brief an Ernst Polak, 30.5.1944. A.a.O. S. 390. 37 Broch: KW 9/1. A.a.O. S. 241. 38 Vgl. Broch: KW 13/1. Brief an Frank Thiess, 26.11.1937. A.a.O. S. 475. KW 13/2. Brief an Ernst Polak, 27.11.1939. A.a.O. S. 153. KW 13/3. Brief an Egon Vietta, 14.11.1947. A.a.O. S. 187. 39 Werfel: Oben und Unten. A.a.O. S. 164f. 40 Ebd. S. 28.
50 rung entstehen könne. Stattdessen propagiert er ein Schreiben, das die Möglichkeiten der Fiktion produktiv einsetzt, das eine Ästhetik der Polysemie gegen jede künstlich stabilisierende Eindeutigkeit stellt und so nicht nur lustvoll ist, sondern auch Erkenntnisse schafft, da es vielfältige Diskurse etabliert. Werfel hebt die autonome Praxis von Texten gegenüber einer Referenz auf die Wirklichkeit des Lesers hervor. Die Forderung nach Erweiterung und Dekonstruktion von Realität steht nicht nur den expressionistischen Theorien aus seiner Jugend nahe, sondern auch der künstlerischen Forderung nach Polyperspektivismus bei Broch. Werfels Kritik am literarischen Realismus ist ein Plädoyer für eine moderne Kunst, aber nicht für “Weltflucht”, wie der ungerechte Vorwurf gegen ihn oft lautete. Er schreibt 1937: Ich bekämpfe in dem Begriff »Realismus« nicht die wahrheitsgetreue Schilderung der Wirklichkeit zugunsten irgendeiner verblasenen Symbolik. Die Welt dehnt sich vor dem Künstler und Dichter aus, wie sie ist, in ihrer ganzen grausamen Schärfe, damit er sie gestalte und nenne. Wer sich ihr mit längst ausgelaugten Gleichnissen und überkommenen Metaphern nähert, ist ein fader Epigone oder Dilettant. Der echte Künstler und Dichter erhebt das tatsächlich Gesehene zum Gesicht.41
Für Werfel definiert sich Poetizität durch eine unabhängige literarische Welterzeugung. Seine Thesen können neben einen Autor gestellt werden, dessen Romane und kunsttheoretischen Essays zu den wichtigsten der Epoche gehören: Alfred Döblin. Der 1936 entstandene Aufsatz “Der historische Roman und wir” schreibt die Kontinuität seiner Essays seit 1910 weiter. Döblin hat sich selbst, auch im Exil, immer sehr deutlich in die Kontinuität der Moderne eingeordnet, in die von ihm so bezeichneten “geistesrevolutionären Strömungen”; er nennt in diesem Kontext “Futurismus, Expressionismus, Neue Sachlichkeit, usw.”42 In seinen Texten hat er stets die eigenständige Wirklichkeit eines jeden Kunstwerks propagiert. 1928 formuliert er prägnant: “Die Abspiegelung einer Realität im Literarischen gibt es nicht, weil es keine literarische »Realität« gibt.”43 Wie vielschichtig das Verhältnis zwischen Text und Wirklichkeit sein kann, ist auch im Exil sein Thema. In “Der historische Roman und wir” nennt er den Autor “eine besondere Art Wissenschaftler”, dessen Aufgabe der “Wirklichkeitsentdeckung” mit der traditionellen Form des Romans nicht mehr möglich sei. Der Roman müsse deshalb 41
Ebd. S. 105 f. Alfred Döblin: Schriften zur Ästhetik, Poetik und Literatur. Hrsg. v. Erich Kleinschmidt. Olten 1989. S. 319. 43 Ebd. S. 203. 42
51 “Experimentalcharakter” annehmen; nur in neuartigen, technisch bewußten Kompositionen könne noch “Erkenntnis der Wirklichkeit” betrieben werden.44 Dieser erkenntnistheoretische Ansatz ist auch bei Broch zentrales Element der Romantheorie, Döblin konkretisiert ihn, indem er das autonome Produzieren von fiktionalen Welten im Roman propagiert, von Welten, die aus Phantasien und Sprachspielen entstehen. Er hat das freie Fabulieren als einen zentralen Anspruch des Romans verteidigt und sich explizit gegen Georg Lukács und gegen politische Dressurversuche der Literatur ausgesprochen.45 Damit wendet er sich gegen ein Literaturkonzept, das die Prozeßhaftigkeit literarischer Ästhetik ignoriert und so jede Kunstentwicklung von vornherein unterbindet. Kontinuitäten in der bildenden Kunst des Exils Jenseits explizit literarischer Theorien des Exils erweist es sich bezüglich kunsttheoretischer Kontinuitäten als fruchtbar, auch die Produktion der exilierten Künstler in diesen Diskurs einzubeziehen.46 Die Malerei der 30er und 40er Jahre zeigt deutlicher als die Literatur, deren Sprachreflexionen oft eher unauffällige Pfade einschlagen, daß man an künstlerischen Fortschritten festhält; sie zeigt auch, wie stark sich ästhetische Kontinuitäten auswirken. Einige Künstler bezogen Position für die verdrängte Moderne, als offenkundig wurde, daß Künstler und Literaten auch wegen ihrer ästhetischen Formen aus Deutschland vertrieben wurden; erkenntnisträchtige verfremdende Sichtweisen wurden im nationalsozialistischen Deutschland nicht mehr geduldet. Bei der Ausstellungseröffnung der “Entarteten Kunst” in München, die fast ausschließlich Werke des Expressionismus zeigte, hatte Hitler visuelle Abstraktionen in der Kunst als “Sehstörungen” bezeichnet, deren Vererbung zu verhindern sei. Stattdessen verdiene die neue Wirklichkeit in Deutschland eine “ewige”, “deutsche” Kunst, die Zeit für eine “sogenannte »moderne« Kunst” sei vorüber.47 Dies war als offenkundige Drohung gegen die Künstler selbst zu verstehen.
44
Ebd. S. 307. Ebd. S. 548. 46 Die Kunst des Exils ist erst seit einigen Jahren in den Fokus der Exilforschung gerückt. Vgl. z.B. Exil: Literatur und die Künste nach 1933 (= Studien zur Literatur der Moderne 17). Hrsg. v. Alexander Stephan. Bonn 1990. Oder auch die Beiträge zum Jahrbuch Exilforschung 10/1992, das unter dem Titel “Künste im Exil” erschien. 47 Vgl. Führer durch die Ausstellung “Entartete Kunst”. Nachdruck der Ausgabe Berlin/ München 1937, Köln 1988. S. 8. 45
52 Exilierte Künstler, wie Oskar Kokoschka oder Max Beckmann, haben sich dem entgegengestellt.48 Ihre Bilder demonstrieren ein Weitermalen der Moderne, deren stilistische Vielfalt die internationale Kunst der 30er und 40er Jahre prägt; auch spezifisch expressionistische Elemente leben weiter. Kokoschkas Bilder sprechen von einer verfremdeten Realität, einer doppelbödigen Welt; er evoziert gleichnishafte, mythische Kontexte, die über eine Deutung der Gegenwart hinausgehen. Realität wird in ihren Brüchen und ihrer Scheinhaftigkeit gezeigt. Ähnliche Kunstvorstellungen vertrat Beckmann, der 1938 in der Londoner Ausstellung Twentieth Century German Art in seiner Rede “Über meine Malerei” sagt, er sei nun angesichts der auch künstlerischen Katastrophensituation der Welt gezwungen, seine erkämpften ästhetischen Ideen zu formulieren und zu verteidigen. Es handelt sich für mich immer wieder darum die Magie der Realität zu erfassen, und diese Realität in Malerei zu übersetzen. – Das Unsichtbare sichtbar machen durch die Realität. [...] Entscheidend ist nicht der Gegenstand, – aber seine Übersetzung mit den Mitteln der Malerei in die Abstraktion der Fläche. Ich brauche daher kaum ungegenständliche Dinge da mir der gegebene Gegenstand bereits unwirklich genug ist, und ich ihn nur durch die Mittel der Malerei gegenständlich machen kann.49
Beckmann macht hier ein komplexes und abstraktes Verhältnis zur Realität und zu ihrer künstlerischen Darstellung deutlich. Er betont auch die Notwendigkeit der Weiterführung künstlerischer Neuerungen und nennt explizit einen vielfältigen Perspektivismus. Es sind die ästhetischen Errungenschaften der Moderne, für die er sich einsetzt; seine Formulierungen stehen expressionistischen Theoretikern nahe.50 Wichtig ist seinen 48
Kokoschkas “Selbstbildnis eines entarteten Künstlers”, das 1937 in Prag entstand, stellt eine individuelle Antwort auf die “Entartete Kunst” dar, die kurz zuvor eröffnet worden war. Hunderte seiner Bilder waren aus deutschen Museen entfernt worden, einige wurden nun in München angeprangert. Er malt sich mit verschränkten Armen und direktem Blick ins Auge des Betrachters und vermittelt kein Zurückweichen, sondern eine Demonstration der Stärke der modernen Kunst. Vgl. den Ausstellungskatalog Oskar Kokoschka: Emigrantenleben Prag und London 1934-1953. Hrsg. v. Jutta Hülsewig-Johnen. Bielefeld 1994. S. 31. 49 Max Beckmann: Die Realität der Träume in den Bildern. Aufsätze und Vorträge – Aus Tagebüchern, Briefen, Gesprächen 1903-1950. Leipzig 1984. S. 135. 50 Deutlich wird die Nähe zu Kandinskys programmatischer Schrift “Über das Geistige in der Kunst”, die die künstlerische Komposition zwischen den Polen Abstraktion und Realistik ortet. Die Kontinuität einst expressionistischer Theorien erstreckt sich über die 20er Jahre und auch auf die Literatur. Döblins Aufsatz “Der Bau des epischen Werks” von 1928 entwirft ein episches Modell, das mit vielschichtigen Wirklichkeiten im Text arbeitet: “[...] die phantastische und
53 Kompositionen im Exil, verschiedene Realitätsschichten ineinander zu projizieren, was sich als Vieldeutbarkeit auswirkt. Dies prägt besonders seine Triptychen, die ab 1932 entstehen. Sie sind mythisch und allegorisch verschlüsselt, die Dreiteilung ermöglicht Beckmann ein vielschichtiges Umgehen mit der Wirklichkeit.51 Auch Beckmanns zahlreiche Zirkus- und Theaterszenerien zeigen in erster Linie die Abgründe und die Doppelbödigkeit der Realität. In einem Vortrag von 1944 hat Kokoschka abstrahierende Wirklichkeitsperspektiven als den künstlerischen Erfolg des Expressionismus gewertet.52 Auch seine theoretischen Schriften machen die Konzepte sichtbar, die hinter seiner Kunst stehen. Die “Bittschrift eines ausländischen Künstlers” von 1945 führt aus, daß für eine Epoche der dissoziierten Wirklichkeitssicht künstlerische Ganzheit und Harmonie unmöglich seien, Widerspiegelungs-Realismus wird deshalb entschieden zurückgewiesen. Im Exil in Prag und England hat er stattdessen sein ästhetisches Ziel, “sehen zu lernen”, propagiert.53 Dieses Sehen soll dem Betrachter neue Erkenntnisse und Einblicke in die Wirklichkeit verschaffen, und so erstarrte Konventionen überwinden.54 Kokoschkas Rückgriff auf den erkenntnisorientierten Begriff der aisthesis, der eine Ästhetik des Wahren, Schönen und Guten durch eine Kunst der sinnlichen Wahrnehmung und der Perspektiven ersetzt, spiegelt sich in den Schriften verschiedener exilierter Literaten, wie Walter Benjamin, Broch oder Brecht.55 Diese Wahrnehmungsästhetik führt einen artistischen Kunst – und Literaturbegriff fort, der sich über ein abstraktes und komplexes Verhältnis zu vielschichtigen Realitäten und über eine intensive Reflexion auf das eigene Material Fabuliersphäre, das ist nur die Negation der realen Sphäre und garantiert ein Spiel mit der Realität – die überreale Sphäre, das ist die Sphäre einer neuen Wahrheit und einer ganz besonderen Realität.” Vgl. Döblin: Schriften zur Ästhetik, Poetik und Literatur. A.a.O. S. 223. 51 Vgl. den Ausstellungskatalog Max Beckmann: Die Triptychen im Städel. Hrsg. v. Klaus Gallwitz. Frankfurt a.M. 1981. 52 Oskar Kokoschka, “Zu einer Ausstellung – Zum Expressionismus”. In: Oskar Kokoschka: Das schriftliche Werk. Hrsg. v. Heinz Spielmann. Hamburg 1975. Bd. 4. S. 273-276. 53 Kokoschka: Bild, Sprache und Schrift. In: Das schriftliche Werk. Bd. 3. A.a.O. S. 19-36, hier S. 33. 54 Zum Sehen äußert sich z.B. auch Carl Einstein im Exil: “[...] das sehen besitzt nur menschlichen sinn, wenn hierdurch die welt verlebendigt wird. schauen heißt handeln und sehen bedeutet mehr als wahrnehmen, nämlich ein aktivieren der noch unsichtbaren wirklichkeit.” Vgl. Carl Einstein: Über Georges Braque II. In: Avantgarde – Weltkrieg – Exil: Materialien zu Carl Einstein und Salomo Friedländer. Hrsg. v. Klaus H. Kiefer. Frankfurt a.M. 1986. S. 40. 55 Zur Rolle der aisthesis in Kunst und Philosophie vgl. Paragrana 4/1995. H. 1. zum Thema “Aisthesis”.
54 definiert. Exil und Expressionismus sind als Stationen der Moderne nicht nur theoretisch eng verflochten, diskursive Verbindungslinien ziehen sich auch durchTexte und Bilder. Ästhetisches Ziel war und ist die Erweiterung der Realität – immer gibt es Unsichtbares, Unbewußtes zu entdecken – aber auch die Erweiterung der künstlerischen Mittel und Formen. Trotz der Anstrengungen deutscher Exilanten ist es dem Nationalsozialismus gelungen, diese Kontinuität der deutschen Kultur zu zerstören; daß Manuskripte und Bilder unwiederbringlich vernichtet wurden, kann angesichts organisierter Massenvernichtung nur eine Randbemerkung sein. Deutschland war nach 1945 ein auch kulturell verwüstetes Land, aus den Museen war die Kunst der Moderne entfernt worden. Es gab nach zwölf Jahren kaum noch Erinnerungen an Texte oder Autoren der Moderne, die vielfach auch als Juden verdrängt worden waren; diese Situation ist symptomatisch für die Nachkriegszeit, sie betrifft auch die Exilliteratur. Exilanten wie Karl Otten, Kasimir Edschmid und Kurt Pinthus, einst selbst Expressionisten, haben durch ihre Anthologien und Texte zum Expressionismus nach 1945 Gedächtnis zurückerobert und so dazu beigetragen, daß der Expressionismus keine vergessene Epoche wurde, die wegen ihrer Spurlosigkeit nie stattgefunden hat. In bezug auf Kunst und Literatur bestand und besteht die Möglichkeit der Rekonstruktion der kulturellen Kontinuität und ihrer historischen Diskurse.
Robert Cohen
Brechts ästhetische Theorie in den ersten Jahren des Exils Brecht’s theoretical texts are never ‘pure’, but were always influenced by the social and political demands of the day. These demands experienced a fundamental shift with the Nazi takeover and the beginning of exile. From theorizing about (and practicing) new forms of art for the masses, Brecht turned his attention to the central theoretical concepts of fighting fascism. The notion of ‘truth’ as evolved by Hegel and Lenin became central to his aesthetic in exile, as did the notion of ‘causality’. Brecht’s reflections on causality shed light on his Marxist avantgardism equidistant from high modernism and from Lukácsian socialist realism.
Verarmt, vereinsamt, in Untermiete wohnend, das Mittagessen an einem Freitisch einnehmend, wie einst jene Hofmeisterlein des achtzehnten Jahrhunderts, denen die deutsche Literatur einige ihrer großen Werke verdankt, schrieb Walter Benjamin 1935, im dritten Jahr der Emigration, in der Bibliothèque Nationale in Paris, jenen Aufsatz über das nachauratische Kunstwerk, auf dem die moderne Philosophie und Theorie einige ihrer emsigsten Zweigniederlassungen errichtet hat. Die Kanonisierung dieses Texts, wie alle Kanonisierung, hat ihren Preis. Dieser Preis ist die historische und politische Konkretion. Benjamins Text, das wird in den zahllosen Lektüren kaum mehr wahrgenommen, ist eine von marxistischer Theorie und kommunistischem Engagement angetriebene antifaschistische Kampfschrift. Und das auf unmittelbare Weise: der Aufsatz setzt ein mit einer Anrufung Marx’ und schließt mit einer programmatischen Anweisung für den Kampf gegen den Faschismus. Der vielzitierte Schluß lautet: “So steht es um die Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt. Der Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierung der Kunst.”1 Die Brechtforschung hat den letzten Satz, scheinbar einleuchtend, als einen Reflex Benjamins auf die künstlerische Praxis Bertolt Brechts gelesen.2 Die Ausarbeitung dieser Praxis hatte Benjamin seit mehreren Jahren in der Haltung eines Verbündeten begleitet, zuletzt im Sommer und Herbst 1934, im dänischen Svendborg, als Nachbar Brechts. Im Kunstwerkaufsatz hat Benjamin auf Parallelen einiger seiner 1
Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1991. Bd. I.2. S. 471-508, hier S. 508. (Her-vorhebung im Original). 2 Vgl. Günter Hartung: Einleitung in Brechts Ästhetik. In: Weimarer Beiträge 6 (1982). H. 28. S. 70-83, hier S. 72.
56 Theoreme zu Konzepten Brechts ausdrücklich hingewiesen3 – sehr zum Ärger Adornos übrigens, der “völlige Liquidierung der Brechtischen Motive” empfahl.4 Benjamins mot d’ordre von der “Politisierung der Kunst” soll als Ausgangspunkt dienen für eine Rekonstruktion von Brechts Umgang mit ästhetischen Fragen, in seinen Notaten und theoretischen Schriften, in der ersten Phase des Exils. Faßt man Brechts ästhetisches Verfahren nach der Machtübergabe als “Politisierung der Kunst”, so wird gerade das verhüllt, was enthüllt werden soll. Denn es macht wenig Sinn, von Politisierung zu sprechen beim Verfasser des Lehrstücks von der Maßnahme und des Traktats über den “Dreigroschenprozeß”. Mit diesen Werken ist schon vor 1933 ein Grad von Politisierung erreicht, der sich kaum mehr steigern läßt. Worin besteht nun aber die “Politisierung” etwa in der Maßnahme? Wohl nicht allein, nicht einmal in erster Linie in ihrem Inhalt, dieser groß herausgestellten Geste eines épater-le-bourgeois, diesem Frontalangriff auf einen zur Rhetorik verkommenen bürgerlichen Humanismus. Auf eine sehr viel weitreichendere Art politisch ist da das dem Stück unterliegende Konzept, das ohne das bürgerliche Individuum auskommt. Und zwar nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Zuschauerraum. Der neue Stücktypus ist nicht für Zuschauende gedacht, sondern für Mitwirkende. An die Stelle der (bürgerlichen) Objekte der Veranstaltung treten (proletarische) Subjekte. Auf Brechts Lehrstückbühne wird für eine neue gesellschaftliche Wirklichkeit trainiert. Eine “Kunst ohne Zuschauer” hat Werner Mittenzwei, nicht ohne einen gewissen Vorbehalt, dieses Konzept genannt.5 Womit allerdings nicht gemeint ist, daß hier etwas wegfällt, nämlich die Masse. Im Gegenteil. Die neue Kunst ist eine Massenkunst, als Mitwirkende hat man sich etwa jene großen Arbeiterchöre vorzustellen, welche bei der Uraufführung der Maßnahme die Bühne füllten (3, 440).6 Mit ihrem Auftreten wird, nach einem bevorzugten Terminus von Brecht und Benjamin, die Schaubühne ‘umfunktioniert’. Brechts Politisierung der Kunst, zu Beginn der dreißiger Jahre, geht an die Wurzel der Sache. Die von der Industrie produzierte Vermassung hatte den Bereich der Kunst nicht unangetastet gelassen. Brecht, weit davon entfernt, sich dieser Entwicklung zu widersetzen, sucht sie zu beschleunigen: indem er die Institution Kunst als ganzes in den Bereich der 3
Vgl. Benjamin: Gesammelte Schriften. A.a.O. Bd. I.2. S. 484, Fußn. 12 u. S. 488, Fußn. 17. 4 Adorno, zitiert bei Benjamin: Gesammelte Schriften. A.a.O. Bd. I.3. S. 1005. Vgl. auch S. 1002. 5 Werner Mittenzwei: Brecht und die Schicksale der Materialästhetik. In: Brechts Tui-Kritik. Hrsg. v. Wolfgang Fritz Haug. Karlsruhe 1976. S. 175-212, hier S. 199. 6 Brecht wird im Text fortlaufend zitiert nach: Bertolt Brecht Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hrsg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus-Detlef Müller. Berlin und Weimar 1988ff.
57 Politik hineintreibt. In der Schrift über den “Dreigroschenprozeß” von 1932 wird die theoretische Dimension dieser Entwicklung vorgestellt. Im Zentrum von Brechts Überlegungen stehen die neuen Medien und zwar in ihrer spezifischen Eigenschaft als Massenmedien. Masse, Publikum, Kollektiv bilden die Kategorien, die Brechts Denken leiten, nicht nur nach der Seite der Rezeption, sondern auch nach der Seite der Produktion. “Die ganze Schriftstellerei wird eben, von einzelnen betrieben, immer fragwürdiger”, liest man hier (21, 449). Die quantitative Veränderung des Publikums – von isolierten bürgerlichen Individuen zur Masse der Arbeiterinnen und Arbeiter – macht eine Veränderung auf der Schöpferseite notwendig. Auf die Vermassung der Rezipienten reagieren die Gestalter mit der Bildung von Kollektiven. Darin galt der Film, der ohne ein Gestalterkollektiv nicht auskommt, Brecht als wegweisend.7 Die Arbeit im Kollektiv hat Brechts schriftstellerische Praxis vor wie nach dem Exil bestimmt. Was ihm, nicht zu Unrecht, den Vorwurf der Ausbeutung seiner Mitarbeiter, insbesondere der Frauen, eingetragen hat. Doch sollte bei solcher Kritik auch der Gewinn, das Zukunftsweisende solcher kollektiver Arbeitsweise bedacht werden. “Vor wie nach dem Exil”, wurde eben gesagt. Im Exil selbst fehlen die Kollektive zunehmend, auf der Rezeptions- wie auf der Produktionsseite. Über die Tragweite dieses Verlusts für Brechts Produktion kann kein Zweifel bestehen. “Außerhalb des allgemeinen Produktionsprozesses”, heißt es im “Dreigroschenprozeß”, sei “ein Erkenntnisakt nicht mehr möglich. Man muss produzieren, um zu erkennen, und produzieren heißt im Produktionsprozeß stehen” (21/503). Mit Produktionsprozeß ist hier der umfassende Prozeß der industriellen, taylorisierten Produktion gemeint. Brecht hat im Exil weiterproduziert, aber eben abgetrennt vom Produktionsprozeß, vom Austausch mit der Masse der Produzierenden. Der Entzug dieser Kontakte, so Herbert Claas, habe den Verfasser der Lehrstücke auf den “Status des bürgerlichen Literaten” zurückgeworfen.8 Claas’ Charakterisierung läßt den jähen Bruch hervortreten, den das Exil in einem zentralen Bereich von Brechts Lebens- und Schaffenspraxis bewirkt hat. Der Blick auf Brechts Produktion ab 1933 zeigt, daß entgegen seinen Befürchtungen, ein – wie auch immer problematischer – “Erkenntnisakt” weiterhin möglich war, auch im Bereich der Theorie. Die Schriften und Notate aus der Exilzeit füllen gegen tausend Seiten. Theoretische Arbeiten Brechts mit nachhaltiger Wirkung, wie der Traktat über die Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit, das Konvolut der Schriften zur Ex7
Brecht kritisiert allerdings auch, daß unter den Bedingungen des Kapitalismus Kollektive nur “genormte Dutzendware” hervorbringen könnten (21, 479). 8 Herbert Claas: Die politische Ästhetik Bertolt Brechts vom Baal zum Caesar. Frankfurt a.M. 1977. S. 75.
58 pressionismusdebatte und das Kleine Organon für das Theater (mit dem Vorgängerwerk vom “Messingkauf”), entstehen in dieser Periode. Doch ist da nun ein unübersehbares Mißtrauen gegenüber solcher Theoriearbeit. Gelegentlich der Expressionismusdebatte meint Brecht, er wolle Lukács im “theoretischen Bezirk nicht entgegentreten”, wie Walter Benjamin berichtet.9 Die Abwehr gilt weniger der Theorie, als ihrem Bezirk, wie er von Lukács und den Seinen verstanden wird: als eine eigene, von der Produktion abgetrennte Sphäre.10 Brechts Theoriearbeit dagegen ist eingebettet in die Wirklichkeit. Sie geht stets von unmittelbar vorliegenden Aufgaben aus, die nach Lösungen verlangen. Für sie gilt, was Brecht Meti über das Denken sagen läßt: “Denken ist etwas, das auf Schwierigkeiten folgt und dem Handeln vorausgeht” (18, 62). Brechts theoretische Texte sind Interventionen in die Praxis, die ihrerseits in die Texte interveniert. Diesem Prinzip folgte der Bericht über den “Dreigroschenprozeß”, diesem Prinzip folgen auch im Exil entstandene Schriften wie “Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen” und “Weite und Vielfalt der realistischen Schreibweise” aus dem Umfeld der Expressionismusdebatte. Im Disput mit Lukács insistiert Brecht mehrfach auf Konkretion, auf dem “Einzelfall” (22.1, 423 u.ö.), wodurch, auch darin ist Brecht emphatisch, die Theorie keineswegs aufgegeben werde (ebd.). Brecht hat durchaus “Lust zu theoretischen Untersuchungen” (29, 91), wie er während der Arbeit an der Theorieschrift “Die Strassenszene” schreibt, die ebenfalls in die Zeit der Expressionismusdebatte fällt. Aber anders als im “theoretischen Bezirk” üblich, vermeiden Brechts Theoriearbeiten alle normativen Festschreibungen. Sie führen die Theorie in Bewegung vor, zeigen ihr Funktionieren in einem nachprüfbaren Kontext. Der Untersuchungsgegenstand wird auf der Ebene der Konzeption verhandelt; als Ergebnis sollen, nach einem weiteren Terminus aus dem Brechtlexikon, “praktikable” Anweisungen vorliegen. Deren Konkretion bleibt den Adressaten überlassen. Man ist hier von den in traditionellen Kategorien und Argumentationsformen unterkommenden Schriften Georg Lukács’ weit entfernt. Bisher war eher unspezifisch von ‘Theorie’ die Rede. Offen blieb, ob an ästhetische Theorie im engeren Sinn, oder an eine auf gesellschaftliche Verhältnisse und wissenschaftliche Erkenntnisse ebenso, wie auf Literatur und Theater sich beziehende Theorie gedacht war. Die Forschung hat für den von Brecht und der marxistischen Avantgarde der Weimarer Republik konstituierten Bereich neue kategoriale Bestimmungen vorgeschlagen. Mittenzwei spricht von ‘Materialästhetik’, Claas verwendet, in Anlehnung an die Marxformel von der ‘politischen Ökonomie’, den Be9
Benjamin: Gesammelte Schriften. A.a.O. Bd. VI. S. 535. Vgl. Brechts emphatische Zurückweisung eines eigenen “Bezirk[s] der Kunst” (22.2, 620-21).
10
59 griff ‘politische Ästhetik’. In der Zeit der Lehrstücke und des “Dreigroschenprozesses” wurde der Bereich des Ästhetischen im unmittelbaren Austausch Brechts mit den im Produktionsprozeß Stehenden bestimmt. Mit der Machtübergabe an Hitler wird dieses Beziehungsgeflecht zerrissen. Brecht ist nun einer jener Intellektuellen, die getrennt von den Massen weiterzukommen hatten. Von ihnen hatte er im “Dreigroschenprozeß” warnend gesagt, sie “erzielen keinen Fortschritt, sondern leben nur vom Vorsprung” (21, 484). Diesen leeren Vorsprung, das zeigen die Schriften, hat Brecht zu vermeiden gesucht. Nach den ersten Exiljahren entstehen, bis zum “Kleinen Organon” von 1948, kaum mehr geschlossene, systematische Theorietexte, die mit dem “Dreigroschenprozeß” vergleichbar wären. Brechts Notate tragen den Charakter des Vorläufigen, Transitorischen, Kursorischen der isolierten Exilexistenz. Eine Gelegenheitsästhetik aus Einzeltheoremen, fragmentarischen Gedanken und aphoristischen Setzungen. Selbst wo geschlossene Resultate vorliegen, hält Brecht sie meist zurück (die Schriften zur Expressionismusdebatte). Sie dienen vor allem der Selbstverständigung, da doch die Adressaten fehlen. Wo einzelne Texte dennoch veröffentlicht werden, kann es allerdings geschehen, daß ihnen die “unbegrenzte Konservierbarkeit durchaus klassischer Schriften” zugesprochen wird. Das hohe Lob stammt von Walter Benjamin, bezieht sich auf Brechts Text “Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit” (1935), von dem Benjamin weiter meint, er sei “in einer Prosa geschrieben, die es im Deutschen noch nicht gegeben hat.”11 Brechts Studie interveniert in mehreren Diskursen zugleich, seine Denkvorschläge und Handlungsanweisungen beziehen sich auf den antifaschistischen Kampf und die marxistische Gesellschaftsanalyse ebenso, wie auf die ästhetische Sphäre. Zusammengehalten wird die Schrift durch den Begriff der Wahrheit. Darüber mag man sich wundern, ließe sich von der Wahrheit doch sagen, was ein verärgerter Brecht, im Zusammenhang mit der Expressionismusdebatte, über Lukács’ Berufung auf den ‘Klassenkampf’ notiert: der Klassenkampf sei ein “ausgehöhlter, verhurter, ausgeplünderter Begriff, ausgebrannt bis zur Unkenntlichkeit” (26, 313). Durch die Diktion von Brechts Schrift wird der Wahrheitsbegriff wieder zur Kenntlichkeit gebracht. Die definitorischen Glanzpunkte in “Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit” sind das Ergebnis eines intensiven Umgangs mit dem Wahrheitsbegriff, der seit 1933 zunehmend ins Zentrum von Brechts Überlegungen zu einer Ästhetik im Exil rückt. 11
Walter Benjamin: Briefe. Hrsg. v. Gershom Scholem und Theodor W. Adorno. Frankfurt a.M. 21993. Bd. 2. S. 658. Zu “Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit”, vgl. Herbert Claas: Bertolt Brechts Schreibweisen der Wahrheit. In: Antifaschistische Literatur. Hrsg. v. Lutz Winkler. Kronberg/Ts. 1977. Bd. 2. S. 101-24; sowie Jürgen Schutte: ‘Die Wiederherstellung der Wahrheit’. Vorüberlegungen zu Brechts ‘Aufsätzen über den Faschismus’. In: Bertolt Brecht. Die Widersprüche sind die Hoffnungen. Kopenhagen 1988. S. 130-160.
60 Ein frühes Fragment Brechts zum Wahrheitsbegriff erscheint als ein Einschmelzen von Hegelschen und Marxschen Theoremen, woraus andeutungsweise eine neue Legierung hervorgeht. In Hegels “Vorrede” zur Phänomenologie des Geistes, in einer Passage über den Charakter der Wahrheit, findet sich das anschauliche Bild, “daß die Wahrheit nicht eine ausgeprägte Münze ist, die fertig gegeben und so eingestrichen werden kann.”12 Bei Brecht liest man, im ersten von zwei kurzen Abschnitten eines 1929 entstandenen Notats, die Wahrheit sei nicht “‘an sich vorhanden’” und brauche nur “entdeckt” zu werden (21, 360). Daraus folgert Brecht im zweiten Abschnitt, scheinbar unvermittelt: “Also die Wahrheit ist eine Frage der Praxis”. Hinter dieser Formel steht Marx’ 2. Feuerbachthese: “Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme – ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit […] seines Denkens beweisen”. Beide, das Hegelsche wie das Marxsche Wahrheitsaxiom, werden schließlich von der 11. Feuerbachthese aus gelesen (“Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern”).13 Was zur Konklusion führt, an den Objekten sei jene Seite “herauszustellen”, die sie den “Änderungen durch den Beschauer” unterwürfen. Dadurch sei “die Wahrheit einzig erkennbar” (21, 360). Das Konzept von der “Änderbarkeit” der Welt durch die Menschen wird zum Angelpunkt von Brechts Wahrheitsbegriff. Die Notwendigkeit, ändernd in die Wirklichkeit einzugreifen, erhält im Exil eine neue Evidenz. Jetzt handelt es sich darum, jene Stellen zu markieren, wo Änderungsmöglichkeiten sich auftun. Dazu bedarf es einer bestimmten Darstellungsweise der Wirklichkeit. Von den Dichtern werde verlangt, schreibt Brecht in einem 1934 veröffentlichten ersten Versuch über die Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit, die “Dinge so zu beschreiben, daß sie handhabbar werden” (22.1, 72). Daß Wahrheiten handhabbar oder “praktikabel” auszufallen hätten, wird dann in “Fünf Schwierigkeiten” zu einem mehrfach wiederholten Postulat (22.1, 78, 80 u.ö.), das in der Feststellung mündet: “[...] die Wahrheit hat nur diesen Zweck, keinen andern” (22.1, 77). Was es mit dem Begriff der Praktikabilität auf sich hat, beginnt sich gleich zu Beginn des Exils abzuzeichnen. Im Gedicht “Ich habe lange die Wahrheit gesucht” beschreibt sich das lyrische Subjekt als einer, der die Wahrheit gesagt habe und deshalb von den Nazis verjagt worden sei. Auch das Haus und den Wagen habe man ihm genommen. Das Gedicht schließt mit der Feststellung: “Und seitdem / Ist die Wahrheit für mich wie ein Haus und ein Wagen” (14, 192). Was etwa 12
G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. (Werke. Bd. 3). Frankfurt a.M. S. 40. 13 Karl Marx: [Thesen über Feuerbach]. In: Marx Engels Werke (MEW). Bd. 3. Berlin 1983. S. 5, 7. (Hervorhebungen im Original). 51996.
61 heißen kann: etwas Nützliches, etwas Lebensnotwendiges, auf jeden Fall aber: etwas Konkretes. Wo die Auffassung von der Wahrheit als etwas Konkretem ihren Ursprung hat, wird deutlich in einem späteren Gedicht, worin Brecht sich an seine erste Exilstation Dänemark zurückerinnert. Das lyrische Ich fragt sich, ob wohl nach den Bombardierungen jenes Haus noch stehe, in das es einst den “alte[n] Satz DIE WAHRHEIT IST KONKRET” eingemauert habe (12, 99; Hervorhebung im Original). Der Exilant Brecht hatte diesen Satz, wie Walter Benjamin überliefert, in seinem Haus in Svendborg auf einen Balken gemalt.14 In ihrer Essenz stammt die Formulierung von Hegel. In der Einleitung zum ersten Band der Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie heißt es, in einem Abschnitt über den “Begriff des Konkreten”, es sei das “Geschäft des Philosophierens” zu zeigen, “daß das Wahre, die Idee nicht in leeren Allgemeinheiten besteht”. Hegel fährt fort: “Ist das Wahre abstrakt, so ist es unwahr. Die gesunde Menschenvernunft geht auf das Konkrete”. Brecht besaß den 1928 erschienenen 17. Band von Hegels Sämtlichen Werken, der diese Passage enthält15 und hat sich darin zu Hegels Wahrheitsbegriff Anstreichungen gemacht (22.2, 1035). In dem zitierten Brechtvers wird die Formel von der konkreten Wahrheit ein “alter Satz” genannt. Diese Wendung signalisiert bei Brecht Historisierung und verweist oft weniger auf entlegene Zeiten, als auf die marxistischen Klassiker. Ihre prägnante Zuspitzung hat Hegels Formulierung denn auch bei Lenin erhalten. In der großen Schrift von 1904 Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück bezieht sich Lenin neben Marx ausdrücklich auf Hegel, wenn er als einen “Hauptgrundsatz der Dialektik” formuliert: “Eine abstrakte Wahrheit gibt es nicht. Die Wahrheit ist immer konkret.”16 Die Formulierung hat für Lenin axiomatischen Wert und wird in den Schriften aus jener Periode mehrfach wiederholt. So noch im gleichen Jahr in einer Replik auf Rosa Luxemburg, die an Lenins Schrift von den Vorwärts- und Rückschritten Kritik geübt hatte,17 ebenso in einer programmatischen Schrift von 1905.18 14
Vgl. Benjamin: Gesammelte Schriften VI. S. 526; vgl. auch Brecht (12, 396). G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Bd. 1. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Hermann Glockner. Stuttgart 1927-1940, 319491959. S. 53, ähnlich auch S. 55; hier zitiert nach Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I. (Werke. Bd. 18). Frankfurt a.M. 1996. S. 43 u. 45. 16 W.I. Lenin: Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück. In: Ders.: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Bd. I. Berlin 121986. S. 583-829, hier S. 815. (Abschnitt: r. Einiges über Dialektik. Zwei Umwälzungen). 17 Vgl. W.I. Lenin: Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück. Eine Antwort N. Lenins an Rosa Luxemburg [1904]. In: Ders.: Werke. Bd. 7. Berlin 1971. S. 480-91, hier S. 484. 18 Vgl. W.I. Lenin: Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution. In: Ders.: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Bd. II. Berlin 91982. 15
62 In seinen Aufsatz über die “Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit” hat der “Leninist” (Ernst Bloch) Brecht die Formel nicht wörtlich übernommen. Was in den Begriff “konkret” eingepackt ist, wird ausgepackt: die Wahrheit ist “etwas Praktisches, Tatsächliches, Unleugbares, das, um was es sich handelte” (22.1, 75). Die durch Lenin adaptierte Hegel-Formel bleibt für Brechts Umgang mit dem Wahrheitsbegriff bestimmend.19 1938, in der Expressionismusdebatte, kommt er darauf zurück. Die “marxistischen Klassiker”, heißt es da, hätten dem “Satz des alten Hegel, daß die Wahrheit konkret ist, viel Beachtung geschenkt”, er bewahre eine “außerordentliche Sprengkraft” (22.1, 422; Hervorhebung im Original). Diese Sprengkraft bezieht der Satz noch aus weiteren definitorischen Formulierungen Hegels. Etwa aus dem emphatisch wiederholten Axiom: “Die Wahrheit aber ist eine”. Diese Einsicht ist nach Hegel der “Ausgangspunkt” der Philosophie.20 Brecht, Ende 1934 ein analytisches Instrumentarium für den Kampf gegen die Nazis bereitstellend, übersetzt sich Hegels Gedanken: “Es gibt eine Wahrheit. / Das heißt: es gibt nur eine Wahrheit, nicht zwei oder ebenso viele, als es Interessentengruppen gibt” (22.1, 96). Von solchen Vorstellungen hat sich das Denken einer posthistorischen Gegenwart weit entfernt. In einem Nachruf vom Mai 1998 auf Jean-François Lyotard war vom “Terror verpflichtender Wahrheit” die Rede.21 Dem Verfasser dieses Artikels müßten Hegel und Brecht als Terroristen gelten – womit immerhin die anhaltende Sprengkraft ihrer Wahrheitsdefinitionen bestätigt wäre. S. 15-156, hier S. 97 (am Schluß des 10. Abschnitts). Ausführlicher als in den hier zitierten Arbeiten hat sich Lenin in der 1909 erschienen Abhandlung Materialismus und Empiriokritizismus zum Wahrheitsbegriff geäußert und zwar in den Abschnitten “Gibt es eine objektive Wahrheit” und “Absolute und relative Wahrheit”. Brecht war im Besitz dieser Schrift (vgl. Schreiben des Brechtarchivs an mich vom 1.4.1998), doch scheint er vom hier gegen die westlichen wie russischen Empiriokritizisten definierten Wahrheitsbegriff und von Lenins Unterscheidung zwischen absoluter und relativer Wahrheit kaum Gebrauch gemacht zu haben. Vgl. W.I. Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus. Berlin 1977 (identisch mit Bd. 14 der Werke). S. 116-323. 19 Lutz Danneberg und Hans-Harald Müller haben bereits auf die Bedeutung des Wahrheitsbegriffs bei Brecht aufmerksam gemacht. Brechts Wahrheitskonzept wird hier – unter Hinweis auf Hegel, aber ohne Lenin – nach den Kriterien der “Relevanz”, der “Praktikabilität” und der Abhängigkeit von “gesellschaftlichen Bedin-gungen” analysiert. Vgl. Danneberg/Müller: Wissenschaftliche Philosophie und literarischer Realismus. Der Einfluss des Logischen Empirismus auf Brechts Realismuskonzeption in der Kontroverse mit Georg Lukács. In: Exil. Sonderband 1, 1987. S. 50-63, hier S. 52-53. 20 Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Frankfurt a.M. 1992 1970 (Suhrkamp-Ausgabe). S. 36 u. 38, Hervorhebung im Original. 21 Theodor Heinze: Laßt uns in Ruhe spielen. Zum Tod von Jean-François Lyotard (1924-1998). In: Freitag. Nr. 19. 1.5.1998. S. 17.
63 Zur Herstellung der einen Wahrheit gibt Hegel eine Anzahl von Ausführungsbestimmungen. So wird zum Beispiel die Meinung, daß “das Wahre in einem Satze [...] bestehe”, als “Dogmatismus” zurückgewiesen, ebenso die Vorstellung, daß die Wahrheit “unmittelbar gewußt” werden könne; dazu, so Hegel, sei “Kenntnis” nötig.22 Brecht übernimmt Hegels Wahrheitskonzept nahezu wörtlich in ein Notat von 1930: “Die Wahrheit ist nie in einem Satze zu sagen”. Diese Aussage wird umstellt von anderen Aussagen mit gleichfalls axiomatischem Charakter: “Die Wahrheit über ein Ding bedingt die Wahrheit über andere Dinge” und: “Jeder Satz ist in seiner Wahrheit vom Zweck abhängig” (21, 428). Mit dieser letzten Formulierung allerdings schleicht sich, quasi durch die Hintertür, eine gewisse Relativierung wieder ein. Denn wenn es nur eine Wahrheit gibt, wie Brecht mit Hegel argumentierte, kann diese nicht von einem Zweck abhängig sein. – Vier Jahre später, im Exil, drängt der aktuelle Kampf Brecht zu einer Aktualisierung seiner definitorischen Bemühungen. Neben dem Insistieren auf dem “Zweck” der Wahrheit (22.1, 96) beschäftigt ihn nun ihre Relationalität: “Jede Wahrheit bedarf des Wahrerwerdens durch andere Wahrheiten” (22.1, 97). Daß die Wahrheit nicht aus einem, sondern aus einer Kette von Sätzen besteht, ist ihre Stärke, aber auch ihre Schwäche. Indem die Wahrheit in eine Kettenstruktur ein- und in ihr aufgeht, kann die Kohärenz der Struktur allein schon als Ausweis für Wahrheit erscheinen.23 Das Problem liegt darin, daß auch die Lüge in einer kohärenten Struktur dargeboten werden kann.24 Anläßlich seiner Gegenlektüre einer Göringrede notiert Brecht, daß “der Zusammenhang Sätzen oft einen Anschein von Richtigkeit verleiht” (22.1, 90). Um von den Lügen der Göringsätze jene Wahrheit zu erfahren, die sie verdecken, sei es nötig, diesen Zusammenhang zu zerstören (Ebd.). Was dann an der Göringrede in einem ebenso mühevollen wie erhellenden Verfahren Satz um Satz demonstriert wird. Daß das Finden der Wahrheit Mühe bereitet, daß dazu überhaupt ein Verfahren nötig ist, erscheint als Reflex auf Hegels Feststellung, daß die Wahrheit nicht “unmittelbar gewußt” werde, sondern daß dazu “Kenntnis” nötig sei. Zu Beginn des Exils hatte es Brecht noch scheinen können, als sei die Wahrheit mindestens für einige nicht allzu schwer zu finden (14, 192). In der Studie “Dichter sollen die Wahrheit schreiben”, die den “Fünf Schwierigkeiten” unmittelbar vorausgeht, sind dann jedoch nicht nur “Kenntnisse”, sondern sogar “Methoden” nötig. Wobei in einer gewissen 22
Hegel: Phänomenologie. S. 41 u. 42 (Hervorhebung im Original). Im Abschnitt über “Relationale Wahrheit” seines Buches über Brecht und Gramsci bezieht Wolfgang Fritz Haug denn auch Brechts Theoreme auf die Kohärenztheorie der Wahrheit. Vgl. Haug: Philosophieren mit Brecht und Gramsci. Berlin 1996. S. 61. 24 Vgl. “Wahrheit”. In: Metzler Philosophie Lexikon. Stuttgart 1996. S. 563. 23
64 Ambivalenz konzediert wird, daß zumindest Teile der Wahrheit auch ohne Methode gefunden werden könnten (22.1, 72). In “Fünf Schwierigkeiten” wird die Ambivalenz nicht völlig ausgeräumt. Auch hier heißt es noch, man könne auch ohne Methode finden. Aber Brecht präzisiert, daß auf solche Weise kaum praktikable Wahrheiten entstünden (22.1, 77). Denn, so wird in einem weiteren Notat erläutert, die Wahrheit sei nicht nur eine “moralische Kategorie”, noch eine Frage der “Gesinnung”, sondern auch eine des “Könnens”, sie müsse “produziert werden” (22.1, 96). In “Fünf Schwierigkeiten” wird daraus, die Wahrheit sei etwas, “was zu finden Mühe macht und Studium verlangt” (22.1, 75), etwas “Zahlenmäßiges, Trockenes, Faktisches” (ebd.) – eben das, was Lenin als “konkret” bezeichnet hat. Was hat das alles mit Ästhetik zu tun? Daß Brecht seine Schwierigkeiten hatte mit dem institutionalisierten Bereich des Ästhetischen wird schon in den theoretischen Schriften der zwanziger Jahre deutlich. In einem öffentlichen Briefwechsel mit Fritz Sternberg übernimmt er 1927 in ästhetischen Fragen ohne weiteres den soziologischen Standpunkt des Briefpartners. Einen Standpunkt, von dem aus die Frage “Sollten wir nicht die Ästhetik liquidieren?” (so die Überschrift von Brechts Brief) nur mit Ja zu beantworten ist. Allerdings gilt die Absage weniger der Kategorie des Ästhetischen, als jenem historisch herausdividierten Bereich des bürgerlichen Lebens, den Brecht hier als “alte Ästhetik” bezeichnet (21, 204). Der Bereich des Ästhetischen bleibt in Geltung. Er fehlt auch im Umgang mit dem Wahrheitsbegriff keineswegs. Doch wird man eher beiläufig darauf verwiesen, gewissermaßen mit einer Geste leichter Verlegenheit. Etwa wenn, in “Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit”, jene Schöngeister zurechtgewiesen werden, die für Wahrheit nur halten, “was schön klingt” (22.1, 75). Soll demnach die Wahrheit nichts sein, was schön klingt? Verleugnet Brechts Theorie seine eigene schriftstellerische Praxis, da doch, nach Benjamin, ausgerechnet der Traktat über die Wahrheit zur hohen Prosa deutscher Sprache gehört? Brecht hat in den ersten Jahren des Exils mehrfach versucht, in der Frage nach dem Kunstschönen festen Boden unter die Füße zu bekommen. So verteidigt im Buch der Wendungen der Dichter Kienleh die auf Ästhetik zielende Metapher “Schön wie die Wahrheit” gegen den rein inhaltsbezogenen Einwand, daß die Wahrheit auch häßlich sein könne (18, 130). Daß sie die Wahrheit ist (im Gegensatz zur Lüge), darin besteht offenbar, unabhängig vom Inhalt, ihre Schönheit. Da ‘Schönheit’ ein auf ähnliche Weise ausgehöhlter Begriff ist wie ‘Wahrheit’ oder ‘Klassenkampf’, erweist es sich als nötig, ihm Konturen zu verschaffen. Abermals geht das nicht ohne Anleihe bei außerästhetischen Kategorien. Bereits 1927 hatte Brecht etwa bei der Lyrik auf dem “Gebrauchswert” bestanden (21, 191), sich bei der Beurteilung lyrischer
65 Gebilde gar auf den “Nützlichkeitsstandpunkt” (21, 193) gestellt. Dieses Verfahren, den Bereich des Ästhetischen zu erweitern, wird in den ersten Jahren des Exils vorangetrieben. “Schön ist, was nützlich ist” lautet der Titel eines um 1936 entstandenen Fragments (das sowohl dem Tuiroman als auch dem Buch der Wendungen zuzuordnen ist). Untersucht wird diese These am Beispiel von Baumeistern, die, begeistert von der Schönheit der Maschinen, die von deren Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit komme, Häuser bauen “nach dem Vorbild der Maschine” (17, 94; vgl. 18, 58). In diesen Baumeistern werden kaum verhüllt die Architekten des Bauhauses kritisiert. Sie erscheinen als Tuis, deren Verbindung des Schönen mit dem Nützlichen, wie der Fortgang des Texts zeigt, einzig dem Profit dient. Die Polemik gegen den Bauhausstil und gegen eine Verschmelzung des Schönen mit dem Nützlichen war von Brecht nicht unbedingt zu erwarten. Was sollte schon dagegen einzuwenden sein, daß Häuser “schmucklos, einfach und praktisch” sind (17, 94)? In einem weiteren Fragment zu diesem Themenkreis lehnen die Arbeiter die ihnen zugedachten Wohnungen ab. Doch wird Ambivalenz signalisiert, wenn die Arbeiter konzedieren: “Vielleicht ist wirklich schön, was nützlich ist” (18, 148). Ihre Haltung (wie die ihnen entgegengesetzte der Baumeister) ist bestimmt durch ihre Lebenspraxis. Die Arbeiter können die nach dem Nützlichkeitsprinzip gebauten Häuser solange nicht schön finden, als sie von den nach dem leichten Prinzip gebauten Maschinen ausgebeutet werden. Ändert sich dies, zu dieser Folgerung laden Brechts Notate ein, so wird sich auch die Haltung der Arbeiter gegenüber der Ästhetik ihrer Häuser ändern.25 Brechts Konstruktion des Begriffsfelds von Wahrheit, Schönheit und Nützlichkeit kommt in formaler Logik nicht unter. Ob Wahrheit = Schönheit und Schönheit = Nützlichkeit, deshalb Wahrheit = Nützlichkeit, kann nur die menschliche Praxis erweisen. Georg Lukács hat Brecht in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre “Utilitarismus” vorgeworfen (diesen Vorwurf allerdings später wieder fallengelassen).26 Hinter diesem Vorwurf, der sich auf die Lehrstücke bezieht, steht wohl Lukács’ Verständnislosigkeit gegenüber einer Ästhetik, die der Kunst ein Nützlichkeitskriterium zumutet. Brecht selbst hat den Begriff des Utilitarismus keineswegs zurückgewiesen, sondern einige Jahre später, im finnischen Exil, genauer zu bestimmen versucht (26, 457). Insofern von der Wahrheit ein bestimm25
Eine frühe Kritik Brechts am Funktionalismus des Bauhausstils findet sich in der Kurzgeschichte von 1926 “‘Nordseekrabben’ oder Die moderne Bauhauswohnung”. Allerdings stammt dieser Titel vermutlich nicht von Brecht. Der später von Brecht verwendete ironische Titel “Die gottgewollte Unordnung der Dinge” (19, 638) verweist auf Ambivalenz. Die Unordnung ist sowenig Natur, wie der Funktionalismus Unnatur. 26 Vgl. Georg Lukács: Marx und das Problem des ideologischen Verfalls. In: Internationale Literatur 8 (1938). H. 7. S. 103-143, hier S. 133. Vgl. dagegen Lukács, Essays über Realismus (Werke. Bd. 4), Neuwied u. Berlin 1971. S. 285.
66 barer Zweck und ein erkennbarer Nutzen verlangt werden, kann bei Brecht ohne weiteres von Utilitarismus gesprochen werden. Bei Lukács allerdings erhält der auf Brecht gemünzte Terminus einen Beiklang von Voluntarismus, so als würden bei Brecht die Begriffe nach dem ideellen Zweck fixiert. Davon sind Brechts definitorische Ansätze weit entfernt, wie das Beispiel der Baumeister und der Arbeiter zeigt. Die Wahrheit bleibt konkret.27 In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre wird für die marxistische Linke der ästhetische Bezirk zunehmend durch die Begriffe des sozialistischen Realismus bestimmt.28 Entsprechend stehen in der Expressionismusdebatte Fragen des Realismus, der Volkstümlichkeit und des künstlerischen Erbes im Vordergrund.29 Fragen, für die sich auch Brecht interessierte, wie etwa der Aufsatz über “Volkstümlichkeit und Realismus” belegt. In der Form allerdings, in der diese Konzepte von der Gruppe um Lukács in die Diskussion gebracht wurden, empfand Brecht sie als präskriptiv und einengend. Unter anderem irritierte ihn, daß die Leistungen des Kapitalismus auf dem Gebiet der Wissenschaft anerkannt, auf dem Gebiet der Ästhetik dagegen zurückgewiesen wurden. Eine Ästhetik im Zeitalter Einsteins und Heisenbergs konnte nicht mehr an die Schreibweisen von Balzac und Tolstoi anknüpfen, wie Lukács dies forderte. Da schien, bei aller kritischen Distanz, bei Schriftstellern wie Joyce und den verpönten Expressionisten (22.1, 441ff) oder bei Dos Passos (22.1, 484) mehr zu holen. In deren Werken fand Brecht Reflexe auf jene neue Physik, der auch bei der Entwicklung eines Theaters des wissenschaftlichen Zeitalters zunehmend die Funktion einer Leitwissenschaft zukam. Ohne sie waren praktikable Darstellungen nicht länger möglich. Das Denken der neuen Physik hat Brecht seit Beginn der dreißiger Jahre rezipiert, vor allem in der Vermittlung durch Vertreter des logischen Empirismus, deren Arbeiten er ebenso neugierig wie kritisch verfolgt.30 Brechts definitorische 27
Daß der Wahrheitsbegriff in der marxistischen Linken in den ersten Jahren des Exils virulent war, mag die Tatsache belegen, daß zur gleichen Zeit wie Brecht auch Lukács sich mit dem Wahrheitsbegriff in seinem Verhältnis zur Ästhetik und Literatur befasste. Lukács bezog sich dabei ebenfalls auf Lenin und zwar auf dessen “Konspekte zu Hegels ‘Wissenschaft der Logik’“ von 1914. Vgl. Lukács: Kunst und objektive Wahrheit [1934]. In: Ders.: Probleme des Realismus. Berlin 1955. S. 5-46; über Lenins Wahrheitsbegriff S. 6ff. 28 Vgl. Hans Günther: Verstaatlichung der Literatur. Entstehung und Funktionsweise des sozialistisch-realistischen Kanons in der sowjetischen Literatur der 30er Jahre. Stuttgart 1984. 29 Zur Expressionismusdebatte vgl. zuletzt Robert Cohen: Expressionismus-Debatte. In: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus. Hrsg. v. Wolfgang Fritz Haug. Bd. 3. Berlin 1997. S. 1167-83. 30 Vgl. dazu den instruktiven Aufsatz von Ulrich Sautter, bei dem allerdings Brechts Kritik an den Vertretern des Logischen Empirismus, etwa die Charak-
67 Anstrengungen zielen darauf, sein Begriffsgefüge für die neuen Erkenntnisse offenzuhalten – darin besteht der antidogmatische Impetus seiner theoretischen Schriften und Konzepte. Das Eingehen von Erkenntnissen der Physik in den Bereich des Ästhetischen soll hier am Beispiel des Kausalitätsbegriffs vorgeführt werden. Im Zusammenhang mit der Expressionismusdebatte hat Brecht wiederholt versucht, sich über das Konzept eines sozialistischen Realismus Klarheit zu verschaffen. Der wichtigste definitorische Versuch beginnt mit der Formel, realistisch heiße, “den gesellschaftlichen Kausalkomplex aufdeckend” (22.1, 409). Der Begriff der Kausalität tritt hier an bedeutsamer Stelle, aber doch eher beiläufig auf. Brechts Text entstand im Juni 1938. Im Juli 1938 erschien Lukács’ Aufsatz “Marx und das Problem des ideologischen Zerfalls”, dem Brecht viel Beachtung schenkte. In diesem Aufsatz kritisiert Lukács unter anderem, daß im Kapitalismus die Entdeckungen der Naturwissenschaften den Massen durch eine “reaktionären Philosophie” und in verzerrter Form vermittelt werde, nämlich als “Relativismus, Kampf gegen das kausale Denken, Ersetzen der Kausalität durch statistische Wahrscheinlichkeit, ‘Verschwinden der Materie’.”31 Die hier inventarisierten Konzepte lassen vermuten, daß es sich bei der “reaktionären Philosophie” um jenen logischen Empirismus des Wiener Kreises handelt, für den sich auch Brecht interessierte.32 Unbesehen seiner konträren Position ist Lukács hier dieselbe Aufmerksamkeit und dasselbe Sensorium für tiefgreifende Veränderungen im Weltbild der Moderne zuzugestehen, wie Brecht. Der muß sich auf fast unheimliche Weise als von Lukács gemeint gefühlt haben. Jedenfalls treten von diesem Zeitpunkt an die Begriffe Kausalkomplex, “soziale[n] Kausalität” (22.1, 419) Bert Brechts Festhalten an einem Kausalitätsbegriff in der Nachfolge von Marx, Engels und Lenin (22.1, 419) und in der Nähe zu Lukács kann kein Zweifel bestehen. terisierung Hans Reichenbachs als Tui (17, 39), oder die Kritik am Vortrag Reichenbachs in Kalifornien (27, 69) zu kurz kommt. Sautter: “Ich selber nehme kaum noch an ei-ner Diskussion teil, die ich nicht sogleich in eine Diskussion über Logik verwan-deln möchte.” Der Logische Empirismus Bertolt Brechts. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 43 (1995). H. 4. S. 687-709, über Brecht und Reichenbach bes. S. 692-93. Vgl. auch Danneberg/Müller. A.a.O. 31 Lukács: Marx und das Problem des ideologischen Verfalls (Werke. Bd. 4). S. 266. 32 Ausführlich hat sich vor allem der späte Lukács mit dem logischen Empirismus/ Neopositivismus auseinandergesetzt; vgl. Georg Lukács: Prolegomena. Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. 1. Halbband (Werke. Bd. 13). Darmstadt, Neuwied 1984. S. 343-70. Vgl. dazu Jörg Schreiter: Lukács’ Kritik des Neopositivismus als ‘höchste Stufe der Durchführung des Bellarminischen Programms’. In: Geschichtlichkeit und Aktualität. Beiträge zum Werk und Wirken von Georg Lukács. Hrsg. v. Manfred Buhr und József Lukács. Berlin/DDR 1987. S. 138-44.
68 Seine bemerkenswerteste Formulierung findet Brechts Kausalitätsbegriff in einem Notat mit dem Arbeitstitel “[Die Essays von Georg Lukács]”. Hier führt das Insistieren auf Kausalität zu einer jener seltenen Passagen, in denen Brecht seine Übereinstimmung mit Lukács proklamiert. Im Tonfall des Einverständnisses fasst Brecht die Einwände gegen den zeitgenössischen Roman zusammen, die Lukács von “Abstieg” und “Zerfall der Romantechnik” reden ließen. Als Vertreter dieser Richtung nennt Bert Brecht, außer André Gide, auch den von ihm geschätzten Alfred Döblin und selbst James Joyce, an dem er sich doch gerade noch so interessiert gezeigt hatte. Die Schreibweise dieser Schriftsteller wird von Brecht wie folgt charakterisiert: Sie machen die “Fortschritte” der Physik mit. Sie verlassen die strenge Kausalität und gehen über zur statistischen, indem sie den einzelnen Menschen, als dem Kausalnexus streng folgend, aufgeben und nur über größere Einheiten Aussagen machen. Sie haben sogar den Schrödingerschen Unsicherheitsfaktor, auf ihre Weise. Sie nehmen dem Beobachter die Autorität und den Kredit und mobilisieren den Leser gegen sich selber, nur noch subjektive Aussagen vorlegend, die eigentlich bloß den Aussagenden charakterisieren (Gide, Joyce, Döblin).
Und Brecht fügt hinzu: “Man kann Lukács in all diesen Wahrnehmungen folgen und seinen Protest unterschreiben” (22.1, 456; Hervorhebung im Original). Kann man, soll man das? Zweifellos hat Brecht eine Literatur abgelehnt, die nur “subjektive Aussagen” vorzulegen und damit höchstens den “Aussagenden” zu charakterisieren vermag. Aber sonst? Welchen Anlaß hatte Brecht 1938, die Fortschritte der Physik durch Anführungszeichen in Frage zu stellen? (Nach dem Zünden der Atombombe sollte sich das ändern.) Wie verhält es sich mit dem Übergang von der “strengen” zur “statistischen” Kausalität? Anders als bei Lukács erscheint hier der bislang gültige Kausalitätsbegriff durch das Beiwort “streng” eher negativ besetzt, während der Hinweis auf eine statistische Kausalität neugierig macht. Den Übergang vom isolierten Individuum zu den “größeren Einheiten” des Kollektivs und der Masse, der hier angeprangert scheint, hatte Brecht, wie eingangs dargelegt, schon vor dem Exil vollzogen. Und was hat es auf sich mit literarischen Texten, die den “Schrödingerschen Unsicherheitsfaktor” enthalten oder den Status des Produzenten wie des Rezipienten in Frage stellen? Der Tonfall der Schilderung dessen, was hier in seinem Namen abgelehnt wird, hätte Georg Lukács beunruhigen müssen.33 Die kurze Passage enthält eine der bedeutendsten und prägnantesten Charakterisierungen der Literatur der Moderne. Gleichzeitig erscheint der Text wie ein 33
Es sei daran erinnert, daß dieser Text, wie fast alle Aufsätze und Notate Brechts zur Expressionismusdebatte, erst nach seinem Tod veröffentlicht wurde.
69 Programm für Brechts eigene Schreibweise. Der Stückeschreiber – so meine These − bedient sich hier jener “List”, die er in “Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit” empfohlen hat. In “Fünf Schwierigkeiten” wird ein anonymer “ägyptischer Schriftsteller” zitiert, der die Zustände im Land auf so ambivalente Weise verurteilt, daß sie den Unterdrückten als erstrebenswert erscheinen. Der ägyptische Dichter, so Brecht, sei “schwer faßbar”, denn: “Er verurteilt ausdrücklich diese Zustände, wenn auch schlecht.” (22.1, 85). So auch Brecht: er verurteilt die von den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen sich herleitende Schreibweise der Moderne, wenn auch schlecht. Als Beweis dafür, daß Brechts sich hier einer Tarnsprache bedient, mag ein im gleichen Zeitraum entstandener Text dienen. In “Die Kausalität in nichtaristotelischer Dramatik” (22.1, 395-96) wird ebenfalls die Kausalitätsthematik verhandelt, aber gleichsam ohne daß Lukács Bert Brecht über die Schulter schaut. Brecht untersucht die Frage, wie auf dem Theater mit der Kausalität umzugehen sei. Ausgangspunkt sind auch hier die Erkenntnisse der Physik. Das Methodologische solchen Vorgehens wird mit dem Hinweis auf Reziprozität gerechtfertigt: so wie die Physik viele von ihren Beobachtungen der “sozialen Umwelt” verdanke, könnten umgekehrt auch bei ihr Beispiele geholt werden. Das geschieht hier mit dem Bild von “Gestirnbahnen”, deren Bewegungen in ihrer Summe “mathematische[n] Figuren” wie “Kreisen oder Ellipsen” entsprächen, ohne daß doch ein einzelner Stern je eine solch perfekte Bewegung ausführe. Weshalb, so hat man zu folgern, über die Bewegungen einzelner Himmelskörper keine festen Voraussagen gemacht werden können. Und wie Voraussagen über einzelne Gestirne, würden auch Voraussagen über das einzelne Individuum “zunehmend unsicher”. Das Interesse gehe über auf die “Bewegungen der Massen”, nur noch im Bezug auf sie sollen “Voraussagen befriedigender Art” gemacht und die “kausale Gesetzlichkeit” gefunden werden können. Bei dieser Interessenverlagerung werde das Individuum keineswegs fallengelassen, auch könne bei ihm weiterhin von Kausalität gesprochen werden. Nicht länger brauchbar allerdings sei die Vorstellung einer “absolute[n] Kausalität”. An ihre Stelle trete, in der Folge der Erkenntnisse der Physik, die “statistische.”34 Hier wird vollzogen, was Brecht im Text über Lukács scheinbar zurückweist: der Fortschritt in der Physik wird nicht abgewiesen, sondern benutzt, der Übergang von der strengen zur statistischen Kausalität proklamiert, der Wechsel vom isolierten Individuum zu den “größeren Einheiten” begrüßt und der Unsicherheitsfaktor einbezogen. Angesichts der Umwälzungen, die sich in einem solchen Programm ankündigen, läßt 34
Zu diesem Brecht-Notat und zum Einfluss des Logischen Empirismus auf Brechts Kausalitätskonzept, vgl. Sautter. A.a.O. S. 701-704. Vgl. auch Haug, A.a.O. S. 54-57.
70 Brecht aber auch keinen Zweifel daran, daß damit die Kausalität nicht aufgegeben werde; das zu tun wäre “Unsinn”. Im Gegenteil werde durch die Erkenntnisse der neuen Physik eine “tiefergehende Meisterung” der Kausalität erreicht. Über die Tragweite der neuen Erkenntnisse allerdings kann kein Zweifel bestehen: man ist bei einer “neuen Definition der Kausalität angelangt” (sämtliche Zitate 22.1, 395-96). Brecht hat den Kausalitätsbegriff weiterhin mit dem Gestus der Selbstverständlichkeit benutzt (22.1, 461; 26). Andererseits scheint zu Beginn der vierziger Jahre der Übergang zu den “größeren Einheiten”, zur statistischen Kausalität und zum Konzept der “Unsicherheit” endgültig vollzogen (22.2, 692). Im Hollywoodexil verliert das Problem an Virulenz. Ein Vortrag, in dem der logische Empirist Hans Reichenbach, mit dem Brecht freundschaftlichen Umgang pflegte, 1942 an der University of California (UCLA) den Begriff der Kausalität weitgehend aufgibt, wird von Brecht kritisch aufgenommen (27, 69 u. 70, 71-72). Brechts ganzer Hohn gilt allerdings den “strikten Kausaliker[n]” Horkheimer und Adorno, die auch nach Reichenbachs Vortrag an einem metaphysischen Kausalitätsbegriff festhielten (27, 70). Die Diskussion verkommt zur Polemik. Die Frage nach der Kausalität, wie die Frage nach der Wahrheit und andere drängende Fragen, war ohne den Austausch mit der Masse der Produzierenden kaum mehr voranzubringen. In Hollywood ist Brecht von der Sphäre der materiellen Produktion endgültig abgetrennt. Der Erkenntnisakt hat seine Grenzen erreicht. Auch für Brecht besteht nun die Gefahr, daß er nur noch vom “Vorsprung” gegenüber den Massen lebt. Dieser Gefahr hat er sich entzogen. Die theoretischen Bemühungen kommen nahezu zum Stillstand. Erst 1948, in der Schweiz, mit Blick auf Deutschland und in Erwartung der endlich wieder zustande kommenden Verbindung zu den Massen der Produzierenden, unternimmt Bert Brecht erneut eine große Arbeit zum ästhetischen Bezirk. Das Kleine Organon für das Theater ist der letzte theoretische Text des Exils und zugleich der erste Text der Rückkehr nach Deutschland. Mit ihm begannen für Brecht die Mühen der Ebenen.
Jutta Vinzent
Aesthetics of Internment Art in Britain During the Second World War The analysis of works of art produced by German and Austrian refugees, who were interned as enemy aliens by the British government for several months in 1940 show that surprisingly, the restriction of freedom did not result in a limitation of the number of works. On the contrary, the output was enormous, although characterized by the confinement to (or, more positively put, concentration on) a single subject, i.e. the experience of internment. All the artists’ creative power was put in improvising material and developing techniques. As topics and artistic execution are determined by the experience of internment, these works can be labelled as internment art.
One of the most far-reaching experiences undergone by émigrés in Britain during the war years was their detention in British internment camps. Since the works of art produced at that time represent a significant part of their entire output, it is legitimate to consider the extent to which the prevailing circumstances led to the development of a particular aesthetic.1 In May 1940 the British government decided to imprison most of the socalled “enemy aliens” in camps because of the increasing threat of a possible German invasion. The internees were German and Austrian refugees, officially aged between 16 and 60,2 but also national socialists and their sympathisers, who were soon detained separately.3
1
I would like to thank Dr. Klaus E. Hinrichsen, an art historian interned at Hutchinson Square and champion of internment art throughout his life (see below), for his help and advice. I am also indebted to William Kaczynski, the son of Martin Kac-zynski, who was interned in Onchan camp, for an inspiring discussion on this sub-ject. Last but not least, I am grateful to Dr. Jean Michel Massing, Sheila Russell and Dr. Kevin Laland for their invaluable assistance. 2 See Michael Seyfert: His Majesty’s Most Loyal Internees. In: Exile in Great Britain: Refugees from Hitler’s Germany. ed. Gerhard Hirschfeld. Leamington Spa 1984. p. 163-193, 171. Klaus E. Hinrichsen points out that although officially the upper limit was 60, older men were also interned (see Klaus E. Hinrichsen, letter to the author, London, 1 September 1998). 3 See Ronald Stent: A Bespattered Page? The Internment of His Majesty’s ‘Most Loyal Enemy Aliens’. London 1980. p. 84.
72 At the beginning of July almost 27,000 refugees were interned.4 The imprisonment lasted several months and was ended as a result of public pressure, many internees being released from August 1940.5 Most of them had first been brought to a transit camp such as Warth Mill (near Manchester). They were then taken to different camps, established throughout the Commonwealth countries. Though some of the émigré artists were even sent to Australia and Canada, most were interned on the Isle of Man, which had already housed civilian internees during the Great War.6 At the start of August 1940, the highest figure on the Isle of Man was reached: approximately 14,000 men, women and children were housed in 11 camps.7 On average, 8.6 % were artists, writers and authors.8 The internees were in a difficult situation. On the one hand, their status and acceptance in their host country “which many already regarded as a new home” was at stake.9 They were now afraid that, if Hitler invaded Britain, they would be handed over, a prospect which was almost as vivid as a concentration camp for some of the artists. On the other hand, the camps formed virtually German-speaking cultural enclaves in a foreign country,10 a situation they had not experienced in exile before or after that 4
See Michael Seyfert: Im Niemandsland. Deutsche Exilliteratur in britischer Internierung. Ein unbekanntes Kapitel der Kulturgeschichte des Zweiten Weltkrieges. Berlin 1984. p. 30. 5 See Miriam Kochan. Britain’s Internees in the Second World War. London and Basingstoke 1983, p. 147. Ibid. p. 175: “In the summer of 1942 fewer than 5000 enemy aliens remained in [sic!] the Isle of Man. See Klaus E. Hinrichsen: Visual Art Behind the Wire. In: The Internment of Aliens in 20th Century Britain. Eds. David Cesarani and Tony Kushner. London 1993. pp. 188-209, p. 190 about the internment: “Not all refugees were interned, the whole exercise had been ill-considered and haphazard, and some were quickly released for more essential tasks – Joseph Otto Flatter to draw anti-fascist posters and leaflets for the Department of Psychological Warfare and Henrion to work on exhibition design for the Ministry of Information.” 6 Some internees had been imprisoned there before, for example the journalist Heinrich Fraenkel (see Michael Seyfert: His Majesty’s Most Loyal Internees. Op. cit. p. 173.). 7 See Connery Chappell: Island of Barbed Wire. London 1984. p. 43. 8 See François Lafitte. The Internment of Aliens. With a new introduction by the author, London 1988 (London 1940), p. 77. The percentage is based on a typical men’s camp carried out by interned statisticians (ibid. p. 76.). Unfortunately, the name of the camp is not mentioned. 9 Michael Seyfert: His Majesty’s Most Loyal Internees. Op. cit. p. 171.
73 period. Furthermore, the internees “enjoyed free board and lodging, had no financial worries, no family obligations,”11 but also no freedom. These conditions resulted in many activities, often developed during the very first days of internment,12 such as open universities, the publication of internment newspapers, and last but not least, the production of a vast number of works of art, some of which were then shown in organized exhibitions in the camps themselves. Although these works have already aroused interest,13 they have not so far been the subject of a systematic aesthetic analysis. Three areas will be discussed in this article: limitation, concentration and creativity. As most of the artistic activities in internment took place in the largest camp on the Isle of Man, the Hutchinson Square in Douglas, the following analysis takes its starting-point from there followed by comparisons with other camps.14 1. Limitation Internment means first of all a limitation of personal freedom. It is perhaps surprising that there was no corresponding limitation in the vol10
Hellmuth Weissenborn, an interned artist, reports an inmate’s description of the camp: “Nobody can get out, nobody can get in” (see ibid. Civilian Internment in Britain 1939-1945. Transcribed interview, Imperial War Museum, Department of Sound Records, Accession No. 003771/04. p. 23.). 11 Klaus E. Hinrichsen: Visual Art Behind the Wire. Op. cit. p. 195. See ibid.: “For artists life in internment, especially after having been granted studio space, was less onerous than for former lawyers, civil servants, businessmen, clerical or even manual workers. Artists could follow their vocation, albeit in far from ideal circumstances − but then, life in Britain under bombing was far from ideal as well!” 12 See Michael Seyfert. His Majesty’s Most Loyal Internees. Op. cit. p. 180. 13 See Freimut Schwarz: Kulturarbeit in den englischen Internierungscamps. In: Kunst im Exil in Großbritannien 1933-1945. Hrsg. v. Neue Gesellschaft für Bildende Kunst Berlin, Ausstellungskat., Orangerie im Schloß Charlottenburg. Berlin (10 January - 23 February 1986). p. 283-288 and ‘His Majesty’s Most Loyal Internees.’ Op. cit. pp. 277-282; Klaus E. Hinrichsen: Visual Art Behind the Wire. Op. cit. p. 188-209 [= Immigrants and Minorities iii (November 1992)]; and Living With the Wire. Civilian Internment in the Isle of Man During the Two World Wars. Exhibition. cat. Ed. Manx National Heritage. Isle of Man 1994. 14 Hutchinson Square was the seventh camp to open on the Isle of Man. The first internees arrived on 14 July 1940. Although it operated until the end of 1944, “originally holding German and Austrian internees and later holding military prisoners of war” (Living With the Wire. Op. cit. p. 48.), most of the artists in question were released at the end of 1940 or in 1941.
74 ume of works of art produced during this period. On the contrary, the output was enormous. However, there was a noticeable confinement in subject-matter, as the catalogue to the second art exhibition held at Hutchinson Square reveals.15 Although there are no illustrations of the exhibits,16 the entries giving title, genre or technique clearly indicate this limitation of scope. The catalogue, alphabetically ordered, starts with the works of Hermann Fechenbach, who had emigrated to Britain in 1939 because of his Jewish ancestry and was interned from May 1940 to February 1941:17 His images are entitled Internment, Released and Douglas, all suggesting that they deal with views of the camps or scenes connected with the internment. The list continues with four portraits, followed by three of his oil paintings, which also seem to be limited to internment subjects, since they are entitled Flower Still Life, View out of a Window and Back-Yards. Next to Fechenbach, works by Peter Fleischmann, who later changed his name to Peter Midgley, include portraits, houses and a still life. The catalogue continues listing works by further 20 internees including prominent artists such as Kurt Schwitters. However, even he, who is known for his Dada collages, only participated with portraits.
15
See Second Art Exhibition. Hutchinson Camp Douglas. 19 November 1940. Reproduced in: Fred Uhlman: Erinnerungen eines Stuttgarter Juden. Stuttgart 1992. p. 11. See for the Campfather’s address to the Commander on the occasion of the opening of the second art exhibition: The Camp, 24 November 1940. Richard Friedenthal: Die Welt in der Nußschale. Munich 1956. p. 312-323 devotes a chapter in his novel to the opening of the exhibition. Hardly any material has survived from the first exhibition which closed on 19 September 1940 according to Klaus E. H[inrichsen]: Preview. The Second Exhibition. In: The Camp, 13 November 1940. A review of the show, published in The Camp (A.Z.: Art Exhibition. In: The Camp, 21 September 1940.), concentrates more on the technique of the exhibits than on their subject-matter. Further camps, including Onchan, Prees Hearth and Huyton, also staged exhibitions. However, the best documented show is the 2nd exhibition at Hutchinson Square (see Klaus E. Hinrichsen: Visual Art Behind the Wire. Op. cit. p. 199f.). 16 A photograph of the exhibition, reproduced in Living With the Wire. Op. cit. p. 49 gives only a rough idea of the show. It depicts two works hanging on the wall that seem to be landscapes or townscapes and a few sculptures of figures standing on a piano. Further exhibits are shown, but only from their side, so it is impossible to draw conclusions as to what they represent. Above all, the photograph is overex-posed. 17 See Zwischen Heimat und Exil. Der Künstler Hermann Fechenbach 1897-1986. Ed. Deutschordenmuseum Bad Mergentheim. Exhibition cat. Bad Mergentheim 1997. p. 36.
75 With a few exceptions therefore, the exhibits can be classified as firstly, representations of the internment camp and its every-day life; secondly, portraits and lastly, still lifes. The exceptions include Gerd Hertel’s political sketches on the German Anti-Nazi Fight and the Spanish Fight for Liberty. However, these are outnumbered by the exhibits falling into the categories mentioned above. Beside the catalogue, a number of actual works of art produced at Hutchinson Square and other camps have survived, either in collections or published in internment papers such as The Camp18 or The Onchan Pioneer.19 How far these works follow the same pattern must also be considered. Hellmuth Weissenborn, former professor at the Academy of Graphic Arts in Leipzig and interned for six months, depicts the Hutchinson camp in a linocut (see fig. 1). He chose an aerial viewpoint showing the camp situated close to the seaside. The internees lived in hotels and guest-houses normally occupied by holiday-makers in peace time, the owners of which had now been evacuated by the War Office.20 Groups of houses were surrounded by barbed wire fences so as to form small towns with terraces and squares as depicted in a stencil print by Bruno Ahrends,21 architect who left Germany in 1937 after the Nazis had closed his architectural practice. 22 Weissenborn, the artist named above, writes that “ours was really a suburban square with houses, everybody was housed in a room. Of course we had to accommodate more than perhaps were usually in a room, five or three people depending on the size of room. But anyhow it was tolerable, you could exist.” 23 18
This newspaper also includes the Almanac, a special issue of The Camp published in 1940/41 as “a cross section through the artistic and cultural life in Hutchinson Camp” (ibid. front page). 19 See for a complete list of the internment papers, Michael Seyfert: Im Niemandsland. Op. cit. p. 235. 20 See Ronald Stent: A Bespattered Page? Op. cit. p. 158f. 21 See Bruno Ahrends: View of Hutchinson Camp, n.d., stencil print, reproduced in: Living With the Wire. Op. cit. p. 49. 22 Hutchinson Camp was described by the internee Fritz Hallgarten as “a big square with four inner squares rows of houses [...]. And then there was a front line of houses which went to a main street, opposite of which was a very big famous wine merchant at the corner” (ibid. Civilian Internment in Britain 1939-1945. Transcribed interview, Imperial War Museum, Department of Sound Records, Accession No. 003967/06. p. 18.). 23 Hellmuth Weissenborn: Civilian Internment in Britain 1939-1945. Transcribed interview. p. 22.
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Figure 1: Hellmuth Weissenborn: Invitation (cover of a concert held in Hutchinson Camp, 7 Nov. 1940), 1940, linocut, reproduced in: Living With the Wire. Civilian Internment in the Isle of Man During the Two World Wars. Exh. cat. Ed. Manx National Heritage. Isle of Man [n.d.]. p. 55.
77 Other internment camps are also known through images including those at Lingfield and Huyton drawn by Reinhold Nägele, an internee of both camps, who filled a sketchbook with internment scenes.24 René Graetz and Heinz Worner, both sent to Canada, produced linocuts of their Canadian camps.25 Events held in the camps also provided sources for illustrations. For example, concerts, given almost every week,26 led Hellmuth Weissenborn to design an invitation card depicting a harp and three open books with lines alluding to musical notes.27 In the background, two islands hint at the
24
See Reinhold Nägele (interned in Lingfield): Lingfield Internment Camp, 1940, drawing from his sketchbook, 1940, reproduced in: Kunst im Exil in Großbritannien 1933-1945. Op. cit. p. 278; Huyton/Lancashire, drawing from his sketchbook, 1940, reproduced in: ibid. p. 274. 25 See, for example, René Graetz: Camp A, 1940, linocut, reproduced in: Kunst im Exil in Großbritannien 1933-1945. Op. cit. p. 284. He was released in September 1940 and Heinz Worner, Camp Q, 1940, linocut, reproduced in: Cordula Frowein: Bildende Künstler im Exil in Großbritannien 1938-1945. PhD thesis. Frankfurt a.M. 1993. Microfiche, fig. 10. The Onchan Pioneer announced it would publish in each the current and each subsequent issue a drawing “showing an interesting view of the camp and its surroundings” (The Onchan Pioneer. No. 14 [published be-tween 29 November and 8 December 1940]. p. 5. The resulting series of 8 draw-ings, published between 29 November 1940 and 18 January 1941, was entitled “Our Camps in Pictures” and included works by F. Kleemann (Derby Castle, 8 December 1940, front page), K. F. M. (Royal Avenue, 15 December 1940, front cover), “bertram” (Our New Café, 22 December 1940, 3), [F. H. K.] Henrion (Back Street in the Camp, 29 December 1940, 3 and n.t., 5 January 1941, p. 5) and [M.] Schreck (n.t., 19 January 1941, p. 7), who had a portrait exhibition in the camp in April 1941 (see Onchan Pioneer. 13 April 1941. p. 8.). The artist of the first drawing was identified only as W. with which the work was signed and the seventh drawing published in no. 20 of The Onchan Pioneer could not be found as the issue is lost. 26 See Hellmuth Weissenborn: Civilian Internment in Britain 1939-1945. Transcribed interview. p. 20: Soon “some of our inmates started to make the concerts [...]. There were Rawicz and Landauer [...]. Sluzewski got even his violin from outside. So we had almost every week or every few days a concert which was quite outstanding.” 27 See ibid. Invitation (cover of a concert held in Hutchinson Camp, 7 Nov. 1940), 1940, linocut, reproduced in: Living With the Wire. Op. cit. p. 55. See Hellmuth Weissenborn: Civilian Internment in Britain 1939-1945. Transcribed interview. p. 21: “Then there was a concert and they wanted to have a program, they printed it in the washing machine [sic!] on linocuts.”
78 place where the concert would be given, namely the camp situated on the Isle of Man. Erich Kahn, who fled to England in 1939 after being arrested and sent to a concentration camp by the Nazis, designed a coloured stencil print entitled The Philosophers,28 which may well be the work with the same title listed in the catalogue to the second art exhibition at Hutchinson Square.29 It refers to the lectures held at the camp university, an academic enterprise established soon after the first internees had arrived. There were about 30 professors from Oxford and Cambridge, as well as further internees proficient in all kind of fields, so as to cover a wide variety ranging from specialised subjects such as the pronunciation of C or K in Caesar or Kaiser to more general themes such as wine.30 Hermann Fechenbach captured the release of an internee in a linocut, a work probably identical with the one listed in the exhibition catalogue of the second art exhibition at Hutchinson Square.31 Referring to the internees’ liberation one after the other from 1940 onwards, Fechenbach depicts the inmates from their back, so that it is impossible to tell their mood. Only the one released is shown in profile, neither looking back nor waving a farewell to those left behind. He looks in the direction where he is going: freedom. Hellmuth Weissenborn’s release was a cause for celebration. For his farewell party, Richard Friedenthal drew a menu full of implications.32 For example, the “risotto” is called ‘A la dame absente’, because of the absent women in the male internment camp, while the salad is specified “Cantinoiserie” referring to the canteen food. Hutchinson Square was not the only camp where life was documented. Similar records exist for others. At Huyton, for example, numerous drawings, including a number of the camp kitchen, were produced by Walter Nessler, interned there at Whitsun 1940,33 and by Reinhold Nägele 28
See Erich Kahn: The Philosophers, n.d., hand coloured stencil, reproduced in: The Camp Almanac 1940-1 and in Living With the Wire. Op. cit. p. 56. 29 See Second Art Exhibition. Hutchinson Camp Douglas, 19 Nov. 1940. 30 See Fritz Hallgarten: Civilian Internment in Britain 1939-1945. Transcribed interview. p. 27. 31 See Hermann Fechenbach: Release, 1940 linocut, reproduced in: Living With the Wire. Op.cit. p. 68. For the catalogue, see Second Art Exhibition. Hutchinson Camp Douglas, 19 November 1940. 32 See Richard Friedenthal: Menu. Fare-Well Party of Hellmuth Weissenborn, December 1940, drawing with typewritten text, reproduced in: Kunst im Exil in Großbritannien 1933-1945. Op. cit. p. 279. 33 See Walter Nessler: Feldküche (Field Kitchen), pen drawing, 1940, reproduced in: Kunst im Exil in Großbritannien 1933-1945. Op. cit. p. 279.
79 in his sketchbook.34 Sometimes the same themes are depicted, as Fred Uhlman’s drawing of a lecture held at Ascot, his first internment camp.35 Besides these scenes of internment life, which provided a revealing insight into the camp’s daily routine, internees also produced portraits, in some cases as gifts36 and in others for purely financial motives.37 The works themselves served an important role in reassuring or establishing identity, a topic also dealt with in internment literature.38 In any cases this identity, no matter who the sitter might be, was essentially one of imprisonment. Thus, some of the portraits and selfportraits include the depiction of the fence. For example, Paul Henning, originally a photographer, depicts the pianist Maryan Rawicz, in an Artist, very concentrated39 with the barbed wire fence, clearly indicating that the internment has already become part of the artist’s identity. In addition, the sitter Maryan Rawicz carves wood, an activity he had only started in the camp,40 while a further portrait, this time by Kurt Schwitters, shows Fred Uhlman with two books alluding to his reading.41 Both works stress the fact that the sitter was able to pursue an artistic activity as a direct result of internment. Further portraits hint at the imprisonment in the title, as for example Schwitters’s portrait of an Internee.42 Despite the fact that not all portraits allude to the internment,43 those, mentioned above, clearly indicate that imprisonment played an important factor in their selfdepiction. Although they had the chance of devoting time to artistic activities, their identity was nevertheless an impri34
See, for example, Reinhold Nägele: Potato Pealers, drawing from his sketchbook, 1940, reproduced in: Kunst im Exil in Großbritannien 1933-1945. Op. cit. p. 278. 35 See Fred Uhlman: Professor Cohen Talks about Chinese Art, June 1940, drawing, reproduced in: Kunst im Exil in Großbritannien 1933-1945. Op. cit. p. 280. 36 See Living With the Wire. Op. cit. p. 54. 37 See for Kurt Schwitters, Klaus E. Hinrichsen: Visual Art Behind the Wire. Op. cit. p. 202. 38 See Michael Seyfert: His Majesty’s Most Loyal Internees. Op. cit. p. 186. 39 See Paul Henning: Artist, very concentrated, 1940, linocut, reproduced in: Living With the Wire. Op. cit. p. 55. 40 See Living With the Wire. Op. cit. p. 55. 41 See Kurt Schwitters: Portrait of Fred Uhlman, 1940, oil painting, reproduced in: Fred Uhlman: Erinnerungen eines Stuttgarter Juden. Op. cit. p. 15. 42 See ibid. Internee, 1940, drawing, reproduced in: The Camp. Almanac 1940-1 and as entitled Portrait of an Unknown Man, reproduced in: Kunst im Exil in Groß-britannien 1933-1945. Op cit. p. 288. 43 See for example, Erich Kahn: Self-Portrait, n. d., pen-and-ink drawing, private collection, reproduced in: Living With the Wire. Op. cit. p. 53 and Paul Felix Nietsche: Portrait of Martin Kaczynski, 1941, drawing, private collection, reproduced in: Ibid. p. 55.
80 soned one. This is also true of portraits designed in other camps including Alva’s Campflowers, 13 ball-pen drawings of his fellow internees.44 A further genre taken up by the internees was still life. An example is a linocut of 1940 by Hellmuth Weissenborn,45 who depicts items left behind in the evacuated houses where the internees now lived. The owners had locked their valuables in their attics “and had left only the most basic necessities for the use of the internees – beds, sparse furniture and kitchen utensils.”46 A further linocut by the same artist depicts the utensils used at a Washing Day in the Camp.47 The scenes of internment life, portraiture and still lifes document the physical circumstances of internment. The psychological circumstances barely discernible from the titles of the catalogue mentioned above, provided another theme. As in works of concentration camps,48 the most often depicted motif is a barbed wire fence. Although it sometimes seems to be just a symbol to characterize the setting as in Paul Henning’s linocut,49 it often goes beyond this. In Hermann Fechenbach’s Internee (see fig. 2), the centrally placed fence takes up more than half of the picture. The lower part depicts two figures sitting and lying leisurely on straw palliasses, apparently beds.50 They do not look up to the sky depicted on the top of the linocut, and seem to be without hope and interest in anything beyond their present existence. With their backs to each other, they are unable to communicate. Here the fence is clearly used as a symbol of imprisonment causing depression and isolation. Hermann Fechenbach’s linocut is designed from a perspective of inside
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See, for example, the title page of Campflowers, reproduced in: Alva: With Pen and Brush, London 1973. Op. cit. p. 17 depicting an internee standing in front of a fence. 45 See Hellmuth Weissenborn: Still Life with Kitchen Utensils in Douglas, 1940, linocut, private collection, reproduced in: Klaus E. Hinrichsen: Visual Art Behind the Wire. Op. cit. p. 194. 46 Michael Seyfert: His Majesty’s Most Loyal Internees. Op. cit. p. 173. 47 See Hellmuth Weissenborn: Washing Day in the Camp, n.d., linocut, reproduced in: Living With the Wire. Op. cit. p. 61. 48 See Zira Amishai-Maisels: Depiction and Interpretation: The Influence of the Holocaust on the Visual Arts. New York 1993. p. 131f. 49 See Paul Henning. View of Hutchinson Square Internment Camp, Douglas, Isle of Man, 1940, linocut, private collection, reproduced in: Klaus E. Hinrichsen: Visual Art Behind the Wire. Op. cit. p. 189. 50 See Klaus E. Hinrichsen: Visual Art Behind the Wire. Op. cit. p. 204f.
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Figure 2: Paul Henning: Artist, very concentrated, 1940, linocut, reproduced in: Living With the Wire. Civilian Internment in the Isle of Man During the Two World Wars. Exh. cat. Ed. Manx National Heritage. Isle of Man [n.d.]. p. 55.
82 the camp as opposed to Fred Uhlman’s People behind barbed wire of 1940,51 in which figures with individual features are lined up behind the fence, suggesting that the artist drew it from outside. As this is unlikely,52 the drawing may well represent not only the message of internment, but also the hope of release. Uhlman also expressed the feeling of imprisonment using Christian iconography. His Madonna in the “Rosegarden” is modelled on a common medieval theme, the closed garden mentioned in the Song of Songs, although the Virgin is now shown behind a barbed wire fence.53 For other artists, internment induced claustrophobia. Erich Kahn, for instance, suffered from the milling crowd, expressing this in a stencil pencil, entitled Aesop,54 the ancient Greek poet known for his animal Fables. Kahn depicts a figure on the right hand side holding a lamp as if he were “searching for a human being among the grotesque multitude, among them the artist himself and a large fish skeleton.”55 Apparently he mistook Aesop for Diogenes, the 4th century Greek philosopher,56 who is known to have searched for an honest man with a lamp at the market place during daytime, hinting at the difficulty of finding such one. Other artists interned elsewhere were similarly affected by their imprisonment such as Klaus Meyer, interned at Onchan,57 Samson Schames, interned at Huyton,58 and Hugo Dachinger, also at Huyton, whose claustrophobia is reflected in works such as Dead End produced in 1940.59 For some, internment led to such deep depression that they committed su51
See Fred Uhlman: Menschen hinter Stacheldraht (People behind Barbed Wire), 1940, drawing, reproduced in: Fred Uhlman: Captivity. London 1946. n.p. 52 The image was produced in 1940, yet Uhlman was only released on 31 December 1940 (see F. Uhlman: Erinnerungen eines Stuttgarter Juden. Op. cit. p. 174.). 53 See Fred Uhlman: Madonna in the “Rosegarden”, 1940, drawing, Imperial War Museum, Department of Art, LD 7542. Klaus E. Hinrichsen, interview with the author, London, 8 September 1998, told the author that this is identical with the work he entitled in his article Madonna behind Barbed Wire (Klaus E. Hinrichsen: Visual Art Behind the Wire. Op. cit. p. 205.). 54 See Erich Kahn: Aesop, 1940, stencil print, reproduced in: The Camp. Almanac 1940-1 and in: Klaus E. Hinrichsen: Visual Art Behind the Wire. Op. cit. p. 206. 55 Klaus E. Hinrichsen: Visual Art Behind the Wire. Op. cit. p. 206. 56 See ibid. interview with the author, London, 8 September 1998. 57 See Klaus Meyer: Christmas card, n.d., reproduced in: Living With the Wire. Op. cit. p. 54. 58 See Samson Schames: Behind Barbed Wire (Hinter Stacheldraht), 1940, mixed technique on cardboard, reproduced in: Kunst im Exil in Großbritannien 19331945. Op. cit. p. 17. 59 See Hugo Dachinger: Dead End, 1940, mixed technique on newspaper, reproduced in: Kunst im Exil in Großbritannien 1933-1945. Op. cit. p. 18.
83 icide. Four cases were reported at Huyton60 and documented by Walter Nessler.61 Although the fence was perhaps the most characteristic motif of internment art, two others frequently occurred: the suitcase and the watchtower. The former, symbolizing travel and the temporary stay, is found, for example, in an anonymous drawing published in the Onchan newspaper in 194062 and in Samson Schames’s Sleeping Place at Huyton of 1940.63 The watchtower, often depicted together with the fence, emphasizes constant observation and detention, and occurs in Walter Nessler’s In the Internment Camp and other artists’ works.64 The expression of their inner needs was not a means of escape from their situation,65 but a way of dealing with it. Putting their fears and feelings on a piece of paper, a linocut or on a canvas relieved the internees’ distress. The process of producing art was in itself a form of therapy. The works discussed so far solely express what the artists saw and felt in internment, and are representative of the main body of art produced in these circumstances. Exceptionally, a few artists worked on other themes. Fred Uhlman, for example, who took up political subject-matter, published twentyfour drawings designed in internment in 1946, of which nineteen are mainly dedicated to two themes: the destruction of Man and his world and the clergymen taking part in it.66 The former can be seen in a drawing67 depicting a mass grave with numerous anonymous scalps lying on top of each other, reminding the viewer of massacres. Vultures are already circling over the dead. In the background on the left, three gallows suggest how they died. On the right three crosses probably hint at the Crucifixion and 60
See Connery Chappell: Island of Barbed Wire. Op. cit. p. 37. These happened in particular shortly after the camp had been installed and lacked adequate living conditions, which became better. 61 See Walter Nessler: Im Internierungslager. 1940, coloured pen drawing, reproduced in: Kunst im Exil in Großbritannien 1933-1945. Op. cit. p. 283. 62 See Anonymous: n.t., The Onchan Pioneer, 16 March 1941. p. 5. 63 See Samson Schames: Sleeping Place, watercolour, pastel, gouache on paper, reproduced in: Samson Schames, 1998-1967. Bilder und Mosaiken, Frankfurt a.M. 1989. Pl. 26. 64 See Walter Nessler: In the Internment Camp, mixed technique, 1940/41, reproduced in: Kunst im Exil in Großbritannien 1933-1945. Op. cit. p. 14. 65 This is pointed out in Living With the Wire. Op. cit. p. 53. 66 See for the fact that the latter drawings do not refer to internment Raymond Mor-timer: Introduction. In: Fred Uhlman: Captivity. Op. cit. n. p. 67 See Fred Uhlman: n.t., July 1940, drawing, reproduced in: Fred Uhlman: Captivity. Op. cit. n. p.
84 symbolize suffering. In the middle of the drawing, a small child is depicted carrying a balloon. This figure appears in many of Uhlman drawings as his invention of an iconographic symbol of hope.68 At first it represented his daughter, Caroline, born while he was interned.69 Then, as he writes in a letter, it “grew into the figure of everybody’s child marching through despair and death and horror with sure, unfaltering steps, held back by no power on earth, ageless and timeless, into a future that may or may not be happier for the unborn. From this it was a short step to ponder over [sic] responsibility for all the misery and horror of our time; and out of the dark marched a long line of war-criminals, the sinister shapes of false priests (hence the whole sequence inspired by the Spanish Church), capitalists, kings, dictators, fanatics.”70 These false priests, are depicted, for example, in a drawing entitled “Ecclesia militans.”71 According to the artist, it refers to the Church in Spain, which, “corrupted by wealth and power, has mocked Christ by its cruelty, from the time of Torquemada to the time of Guernica.”72 Uhlman translates the mocking of Christ into two clergymen juggling with crosses. A further exception is H. Ranks’s series Dunera Sketches of 1940, depicting scenes he had observed on the boat Dunera, which took him among 2500 internees to Australia.73 These include armed searches of the internees and their luggage for valuables by British guards. A political statement is also given by Fred Solomonski, while using religious subjectmatter in his stencil engraving Elijah and the Angel.74 To the right, a text hints at the story of the picture. Elijah, the first of the Israelite prophets concerned with defending Jewish faith against the Baal cult, went into the wilderness in fear of his life and prayed for his death and release to fight: “And the angel of the Lord came, and touched him and said, arise and eat, because the journey is great for thee, Elijah.” Elijah’s strengthening by God to continue with his struggle against the cult of Baal can be inter68
See also Klaus E. Hinrichsen: Visual Art Behind the Wire. Op. cit. p. 205. Uhlman dedicated this drawing together with a few more and the book itself to his child Caroline (see Fred Uhlman: Captivity. Op. cit. n. p.). 70 Ibid. letter, quoted from: Raymond Mortimer: Introduction. In: Fred Uhlman, Captivity. Op. cit. n. p. 71 See ibid. Ecclesia Militans, Aug. 1940, drawing, reproduced in: Fred Uhlman: Captivity. Op. cit. n. p. 72 Fred Uhlman in the words of R. Mortimer (see ibid. Introduction. In: Fred Uhlman: Captivity. Op. cit. n. p.) 73 See H. Ranks: Dunera Sketches, drawings, 1940, reproduced in: Kunst im Exil in Großbritannien 1933-1945. Op. cit. p. 281. 74 See Fred Solomonski: Elijah and the Angel, 1940, stencil engraving, reproduced in: The Camp. Almanac 1940-1. Op. cit. n. p. 69
85 preted as the artist’s personal defence against Hitlerism, and hence that of the Jewish refugees as a whole.75 Given these exceptions, most of the works of art deal directly with internment, whether with views of the camp, scenes of internment life, the feeling of being interned, portraiture of internees or guards connected with the camp. The artists appear to have been absorbed in what was around them and hardly concerned with anything else. For example, they did not refer to their home country, as interned writers did to create a feeling of “Heimat,”76 and despite the prevailing war in Europe, this too was rarely depicted.77 The close, almost claustrophobic society produced by internment led to a confined range of subject-matter and genre. This is understandable as the internees had no knowledge of their future and wished only for a speedy release. Only in a few cases do other circumstances appear to have been influential. Uhlman was married to an Englishwoman, Diana Croft, and was about to become a father. His native country no longer bore the only ties of a homeland. The other exception, Fred Solomonski, seems to have felt secure in his religion. H. Ranks series, the only direct criticism of British guards’ behaviour so far found in works of art, stands out because this treatment was unique. Nowhere else did the internees suffer similar conditions and treatment.78 More astonishing is the internees’ failure to refer to their past.79 They expressed themselves in the 75
It is unlikely that Solomonski’s engraving is directed against the British internment authorities. The British treated the Jews well. As Klaus E. Hinrichsen writes in a letter to the author, London, 1 September 1998: “From the days of the Empire it was a tradition in the British Army to respect any religious rituals etc. Thus, kosher food was available in the camps of the Isle of Man.” 76 See Michael Seyfert: His Majesty’s Most Loyal Internees. Op. cit. p. 186. 77 An exception is, for instance, Bertram: n.t., drawing, The Onchan Pioneer. June 1941. 1. p. 29 in which he depicts a burning globe. The drawing illustrates A. G. Bennett’s article on war news. 78 The boat’s commander, Colonel W. P. Scott, was in favour of the “Nazi Germans”, the national socialist internees on board, who were “of a fine type, honest and straightforward, and extremely well-disciplined”, whereas the “German and Austrian Jews”, the refugees, “can only be described as subversive liars, demanding and arrogant, and I have taken steps to bring them into my line of thought. They will quote any person from a Prime Minister to the President of the United States as personal references, and they are definitely not to be trusted in word or deed” (W. P. Scott, Memorandum, quoted from Peter and Leni Gillman: “Collar the Lot!” How Britain Interned and Expelled its Wartime Refugees. London 1980. p. 254.). 79 See for the exceptions Ernst Blensdorf (= Müller-Blensdorf), who showed works entitled Fugitives, Refugee Family, and Fugitive Children at the second art exhibition at Hutchinson Square.
86 language of their country of exile.80 The catalogue is written in English and so is their newspaper, The Camp. On the one hand these are signals of assimilation; on the other, the internees may well not have wanted to arouse any suspicion. For probably the same reason, the artists did not refer to their home country in their paintings since this could result in an allegation of sympathy for national-socialism. This may also be the reason for the small number of political and religious works. This leads to the question of non-representational art, which has no obvious religious or political subject-matter. Kurt Schwitters who designed collages and abstract paintings before, after and also during his internment, only showed portraits at the exhibition mentioned above.81 He kept his collages and porridge sculptures in his room, where only a few were allowed to see them.82 Klaus E. Hinrichsen, interned at Hutchinson camp, reports that it was argued that “Exile and War [...] were too serious matters for such frivolous, non-representational, formalistic games as gluing together bits of rubbish found in the streets.”83 This quotation makes clear that the internees created limitations for themselves. In order to avoid arousing suspicion while at the same time producing serious images, they limited their subject-matter for the most part to a single theme, that of internment. 2. Concentration The limitation of subject-matter in the internment can also be interpreted as a concentration on a confined number of themes designed over and over again. Ludwig Meidner, for example, first interned at Huyton and Mooragh and then at Hutchinson Square, drew 80 portraits and stated that he had never designed such lively portraits before.84 For him, the internment proved to be a progressive time as he admits in a letter: “Übrigens habe ich 80
See Hellmuth Weissenborn: Civilian Internment in Britain 1939-1945. Transcribed interview. p. 23f., who reports that his inmates even wanted to introduce English conversation in the house, where he lived. 81 While interned, Schwitters produced an abstract painting which was included in the Almanac given to the Commander Daniel as a present from the interned artists (see Klaus E. Hinrichsen: Interview with the author, London, 8 September 1998). 82 See Klaus E. Hinrichsen: Visual Art Behind the Wire. Op. cit. p. 202. 83 Ibid. p. 201. 84 See Ludwig Meidner, letter to Hilde Rosenbaum, Mooragh Camp, Ramsey, 10 November 1940, manuscript, Institut Mathildenhöhe, Darmstadt, published in: Ines Wagemann und Gerda Breuer: Ludwig Meidner. Zeichner, Maler, Literat, 18841966. Vol. ii. Stuttgart 1991. p. 471 and L. Meidner, letter to Hilde Rosenbaum, Huyton Camp, 20 August 1940, manuscript, Institut Mathildenhöhe, Darmstadt, published in: ibid. p. 471.
87 einen zeichnerischen Fortschritt gemacht in der Klausur der 1½ jährigen Internierung, die darum von grossem [sic] Nutzen war. Ich hatte sehr viele lebende Modelle u. [sic] zeichnete mit Bleistift kleine Meisterwerke der Portraitkunst.”85 For Meidner, the internment was a seclusion, where he was not disturbed by everyday concerns. Finding many models, he could practice and draw little masterpieces. Meidner enjoyed the internment so much that he successfully applied to stay longer after having received the allowance for release.86 In the camp, the artists lived closely together. They met in the artists’ coffee shop in the basement of the laundry room, which became a venue where politics were discussed87 and ideas developed such as the planning of the art exhibition. The arguments and rivalries among the artists are best described by Richard Friedenthal in Die Welt in der Nußschale, a novel about internment including the Hutchinson camp.88 They also developed close relationships, in some cases the internment even caused life-long friendships as for example Weissenborn with Friedenthal and Heinrich Fraenkel, a successful journalist and a film script writer.89 The interned artists also could take advantage of each other’s knowledge. For example Erich Kahn, who developed a technique of producing lithographs and etchings with duplicator wax stencils and household utensils, taught it to other artists including the painter Fred Uhlman, the sculptor and graphic artist Paul Hamann, who emigrated to Britain in 1936, a further sculptor, Ernst Müller-Blensdorf, who had taught at the state art school in Wuppertal before emigrating with Kurt Schwitters to Britain in
85
Ibid. letter to H. and W. Rosenbaum, London, 8 March 1942, manuscript, Institut Mathildenhöhe, Darmstadt, published in: ibid. p. 473. See also Alva, who compares the internment with an excursion that “may have saved my life, because when I returned to London at the end of 1940, I found that my studio had been destroyed by German bombs” (Alva: With Pen and Brush. Op. cit. p. 18.). 86 See Helen Adkins: Ludwig Meidner in England – Vierzehn Jahre eines erbärmlichen Lebens. Ludwig Meidner. Zeichner,Maler,Literat, 1884-1966. Stuttgart 1991. Vol. I. pp. 172-181, p. 178. 87 For example, the letter to the New Statesmen & Nation, a protest signed by sixteen painters and sculptors against the internment of artists and published in the issue of 24 August 1940, 185 had been drafted there (see Klaus E. Hinrichsen: Visual Art Behind the Wire. Op. cit. p. 196.). 88 See Richard Friedenthal: Die Welt in der Nußschale. München 1956. pp. 275292. 89 See Hellmuth Weissenborn: Civilian Internment in Britain 1939-1945. Transcribed interview. p. 32.
88 1940, the Viennese Carlo Pietzner and even the famous Dadaist Kurt Schwitters.90 These examples demonstrate the positive side of internment: in the camp, the artists experienced a close exchange of skills and ideas and established relationships among themselves. Furthermore, they could develop specific skills in practising the same subject-matter over and over again. These positive attributes resulted from the restrictions of camp life, here regarded as a concentration physically and spiritually experienced. 3. Creativity Despite the fact that the camp conditions caused both a limitation and a concentration, they also encouraged creativity. Prior to the artists receiving art material from organisations such as the Artists International Association, they improvised and invented new techniques. Oil paint was produced from crushed minerals and dyes extracted from food rations mixed with the olive oil from sardine tins.91 Ernst Blensdorf took wood for carving “from a mahogany upright piano.”92 Linoleum, which was needed for linocuts, was “found in the attic in little pieces”93 or simply taken from the corridors and kitchens.94 Although Hellmuth Weissenborn had brought his engraving tools with him,95 he was in need of printing ink and a press. Hence, he mixed margarine and graphite and used a laundry mangle as a press, which he “discovered […] in the utility room of his house.”96 Many of the linocuts at Hutchinson Square were designed in this way.97 At Huyton, Samson Schames’ strong and wire beard was transformed into a paint brush.98 Some artists did not only improvise supplies, they were also inspired by new materials. The most striking example is Kurt Schwitters’s porridge sculpture, described by the internee Klaus E. Hinrichsen: “I must have been one of only half a dozen people to have seen and smelled the 90
See Klaus E. Hinrichsen: Visual Art Behind the Wire. Op. cit. p. 195. See ibid. p. 192. 92 Living With the Wire. Op. cit. p. 53. See photograph depicting Ernst Blensdorf working on a carved mahogany bas relief panel, reproduced ibid. p. 53. 93 Hellmuth Weissenborn: Civilian Internment in Britain 1939-1945. Transcribed interview. Op. cit. p. 31. 94 Living With the Wire. Op. cit. p. 53. 95 See Hellmuth Weissenborn: Civilian Internment in Britain 1939-1945. Transcribed interview. Op. cit. pp. 31 and 25. 96 Klaus E. Hinrichsen: Visual Art Behind the Wire. Op. cit. p. 193. 97 Ibid. 98 See Cordula Frowein: Samson Schames – Leben und Werk. In: Samson Schames, 1998-1967. Bilder und Mosaiken. Frankfurt a.M. 1989. pp. 27-53, p. 33. 91
89 quivering, mouldy heaps of porridge, the leftovers from breakfast in 40 houses which he had collected in buckets. He had festooned this mess with stones, shells, matchboxes, postage stamps and objects trouvées, and foulsmelling liquids kept dripping on the beds of the room below.”99 For this reason, his neighbours from downstairs kept on complaining and one day, the sculpture collapsed.100 Weissenborn, Blensdorf and Neunzer, an animal trapper, engraved the windscreens of the houses at Hutchinson Square. This decoration101 was rendered possible, because for air raid protection all the windows had been painted blue in order to prevent any light shining through. For Weissenborn, it “looked as if we were all under water, we couldn’t see [...]. I immediately took a razor blade and [...] made a few figures from the classical mythology.”102 Among them were “the goddess Artemis, centaurs, a unicorn, a dolphin and rider and some arabesques.”103 Blensdorf engraved “slightly erotic nubile nymphs splashing water over a youth” and Neunzer a series of animal drawings,104 which have been captured in a photograph, the only pictorial record of any of these engravings.105 This engraving method was so widespread that houses “became known rather by their illustrations than by their numbers.”106 These improvisations and inventions demonstrate a creative side of the interned artists, which is all the more astonishing in the light of the restricted subject-matter and genres.
99
Klaus E. Hinrichsen: Visual Art Behind the Wire. Op. cit. pp. 201f. As neither the sculpture nor a photograph of it have survived, Hinrichsen’s description is utilized here. 100 See Klaus E. Hinrichsen: Master of Merz. Review of Gwendolen Webster in: Kurt Merz Schwitters. Cardiff 1998. p. 21. 101 See Hellmuth Weissenborn: Civilian Internment in Britain 1939-1945. Transcribed interview. Op. cit. p. 20. 102 Ibid. p. 19. 103 See Klaus E. Hinrichsen: Visual Art Behind the Wire. Op. cit. p. 190. 104 Ibid. p. 191. 105 See Neunzer: Exotic animals scratched into blue-painted windows, 1940, photograph in the possession of P. Daniel, reproduced in: Living With the Wire. Op. cit. p. 54. 106 Klaus E. Hinrichsen: Visual Art Behind the Wire. Op. cit. p. 191 and ibid.: Nail, Knife and Razor-Blade (The Windows of the Camp), The Camp, 27 October 1940 and the continuations in The Camp. 3 November 1940., 13 November 1940, 17 November 1940 and 24 November 1940.
90 Conclusion The majority of works of art produced in internment camps are characterised by the aesthetic features of limitation and concentration in their subjects on the one hand and creativity and innovation in their material and technique on the other. The purpose of this art varied from documentation, establishing identity, psychological and financial needs, to practising artistic skills. Because of these characteristics, the fact that such works were produced by internees while imprisoned and that the artists themselves referred to their productions in a similar way,107 these works can justifiably be labelled internment art.
107
See, for example, the exhibition Camp Art in Canada, organized by the Free German League of Culture in London from 6-13 April 1941 and Hugo Dachinger’s one-man show Art behind Wire with the subtitle “Internment Life”, exhibited from 9-26 April 1940.
91 Appendix: According to Klaus E. Hinrichsen, ‘Visual Art Behind the Wire.’ In: The Internment of Aliens in 20th Century Britain. Ed. David Cesarani and Tony Kushner. London 1993. pp. 188-209 and Kunst im Exil in Großbritannien 1933-1945. Ed. Neue Gesellschaft für Bildende Kunst Berlin. Berlin 1986. p. 113-168 and various other sources given below in brackets, the following artists were interned: Hutchinson Square: Bruno Ahrends; Ernst M. Blensdorf (from April 1940, a few months), Siegfried Joseph Charoux (six months, released at the end of November 1940, see Fred Uhlman, Erinnerungen eines Stuttgarter Juden. Stuttgart 1992. p. 173.), Georg Ehrlich (released at the end of November 1940, see Fred Uhlman: Erinnerungen eines Stuttgarter Juden. Stuttgart 1992. p. 173.), Hermann Fechenbach (May 1940 – February 1941, see Zwischen Heimat und Exil. Der Künstler Hermann Fechenbach 1897-1986. Ed. Deutschordenmuseum Bad Mergentheim. Exh. cat. at the Deutschordenmuseum Bad Mergentheim. 19 April - 15 June 1997. p. 36.), Carl Felkel, Peter Fleischmann, Paul Hamann (1940-41), Erich Kahn, Fritz Kraemer, Herbert Mankiewicz, Ludwig Meidner (beginning of November 1941, for six weeks; he had been interned at Ramsey before, see Helen Adkins: ‘Ludwig Meidner in England – Vierzehn Jahre eines erbärm-lichen Lebens’, Ludwig Meidner. Zeichner, Maler, Literat, 1884-1966. Stutt-gart 1991. Vol. i. p. 172-181, 178.), Neunzer, Hermann Roessler, Kurt Schwit-ters, Fred Solomonski, Erich A. Stern (his release was announced in The Camp. 27 October 1940), Fred Uhlmann (12 July - 31 December 1940, see Fred Uhlman: Erinnerungen eines Stuttgarter Juden. Stuttgart 1992. p. 164 and 174; he had been first interned at Ascot) and Hellmuth Weissenborn (six months). Illustrations: See Bruno Ahrends: View of Hutchinson Camp, n.d., stencil print, reproduced in: Living With the Wire. Civilian Internment in the Isle of Man During the Two World Wars. Exh. cat. Ed. Manx National Heritage. Isle of Man [n.d.]. p. 49. Hellmuth Weissenborn: Invitation (cover of a concert held in Hutchinson Camp, 7 November 1940), 1940, linocut, reproduced in: Living With the Wire. Civilian Internment in the Isle of Man During the Two World Wars. Exh. cat. Ed. Manx National Heritage. Isle of Man [n.d.]. p. 55. Erich Kahn: The Philosophers, n.d., hand coloured stencil, reproduced in: The Camp. Almanac 1940-1 and in Living With the Wire. Civilian Internment in the
92 Isle of Man During the Two World Wars. Exh. cat. Ed. Manx National Heritage. Isle of Man [n.d.]. p. 56. See Hermann Fechenbach: Release, 1940 linocut, reproduced in: Living With the Wire. Civilian Internment in the Isle of Man During the Two World Wars. Exh. cat. ed. Manx National Heritage. Isle of Man [n.d.]. p. 68. Paul Henning: Artist, very concentrated, 1940, linocut, reproduced in: Living With the Wire. Civilian Internment in the Isle of Man During the Two World Wars. Exh. cat. Ed. Manx National Heritage. Isle of Man [n.d.]. p. 55. Hellmuth Weissenborn: Washing Day in the Camp, n.d., linocut, reproduced in: Living With the Wire. Civilian Internment in the Isle Man During the Two World Wars. Exh. cat. Ed. Manx National Heritage. Isle of Man [n.d.]. p. 61. See Fred Uhlman: Menschen hinter Stacheldraht (People behind Barbed Wire), 1940, drawing, reproduced in: Fred Uhlman: Captivity. London 1946. n. p. See Fred Uhlman: Madonna in the Rosegarden, 1940, drawing, Imperial War Museum, Department of Art, LD 7542. See Fred Uhlman: n.t., July 1940, drawing, published in: Fred Uhlman: Captivity. London 1946. n. p. Fred Solomonski: Elijah and the Angel, 1940, stencil engraving, reproduced in: The Camp. Almanac 1940-1. Photograph depicting Ernst Blensdorf working on a carved mahogany bas relief panel, reproduced in: Living With the Wire. Civilian Internment in the Isle of Man During the Two World Wars. Exh. cat. Ed. Manx National Heritage. Isle of Man [n.d.]. p. 53.
Rosamunde Neugebauer
Anti-Nazi-Cartoons deutschsprachiger Emigranten in Großbritannien: Ein spezielles Kapitel Karikaturengeschichte The essay focuses on anti-Nazi cartoons created by German emigrants in Great Britain that so far have received little attention in research. The author presents cartoons by different artists and analyzes their makeup and contribution to fighting Hitler through satire and propaganda. The case of the cartoonist Josef Otto Flatter documents the difficulty of transferring strategies of pictorial rhetoric into another cultural sphere. The author used unpublished material for her research.
Welchen Anteil hatten die nach Großbritannien, dem für seinen Humor und die Satire berühmten Land, emigrierten Zeichner und Zeichnerinnen am Kampf gegen Hitler mit den Waffen der Satire oder der Propaganda?1 Wir wissen, daß sich die Engländer bis heute nicht so recht mit dem deutschen Expressionismus anfreunden können, dem Stil, den Künstler wie Ludwig Meidner und Oskar Kokoschka im künstlerischen Gepäck ins britische Exil mitbrachten. Deutsche Kunst, das war und ist für viele bestenfalls der Ausdruck romantischer Seele und schlechterdings Expression des furor teutonicus. Auch heute noch werden solche Werke als typisch deutsch gewertet, die wie die Arbeiten von Georg Baselitz und Anselm Kiefer das Markenzeichen der Ernsthaftigkeit und der Schwere tragen. Man nimmt sie immerhin interessiert zur Kenntnis, aber bleibt weiterhin in Reserve. Wieviel konnte man in Großbritannien mit dem Humor oder gar mit der bissigen Satire – wohl nicht “made in Germany”, aber “made by Germans” – anfangen? Die Karikaturen der Emigranten aus der Kriegszeit sind heute kaum noch bekannt; haben sie jemals Erfolg gehabt? Waren sie in einer anderen Bildsprache formuliert als die Cartoons des Gastlandes 1
Die Autorin arbeitet an einem Forschungsprojekt mit dem Titel “Zeichnen im Exil – Zeichen des Exils? Handzeichnung und Druckgraphik deutschsprachiger Emigranten ab 1933”, das sich u.a. mit den bildrhetorischen Strategien der von deutschsprachigen Emigranten geschaffenen Cartoons im Vergleich mit denen der sogenannten “War Cartoons” der internationalen Szene befaßt. – Zur Abgrenzung der Begriffe Karikatur, Satire, Propaganda u.ä. siehe das Kapitel: Karikatur und Satire. In: Rosamunde Neugebauer: George Grosz. Macht und Ohnmacht satirischer Kunst. Die Graphikfolgen “Gott mit uns”, Ecce homo und Hintergrund. Berlin 1993 (= Diss. Heidelberg 1990).
94 und stießen deswegen vielleicht auf geringere Akzeptanz? Hatten und haben die Deutschen – könnte man ketzerisch fragen – überhaupt Humor und Sinn für Ironie? Zumindest was die Produzentenseite betrifft, sei das Bild von der ernsten, humorlosen deutschen Kultur ein “dümmliches Klischee, von Generation zu Generation ungeprüft weitergereicht”. Dies stellte einmal Marcel Reich-Ranicki in einem im “Spiegel” erschienenen Essay2 fest. Er wagte darin sogar die kühne Behauptung, “daß, von der englischen abgesehen, keine Literatur soviel Humor habe wie die deutsche”. Es sei erlaubt hinzuzufügen, daß sich auch die Satire, die bissige Schwester des Humors, in Deutschland – außer während der Nazizeit, die mehr als nur ein schlechter Witz war – bester Konstitution erfreute und erfreut, und zwar sowohl auf der literarischen als auch auf der bildkünstlerischen Ebene. Unleugbar haben allerdings bis 1938 die nach Großbritannien emigrierten Karikaturisten einen kaum mehr als marginal zu bezeichnenden Anteil am Kampf gegen Nazideutschland mit satirischen Waffen. Vicky (Victor Weisz) beispielsweise, der bereits 1936 die britische Staatsbürgerschaft erhielt und seit den 40er Jahren bis zu seinem Freitod zu den führenden Cartoonisten Englands gehörte, schuf in den ersten Jahren anscheinend keine Karikaturen. Erst 1941 wurde der einst in Berlin erfolgreiche Pressezeichner beim News Chronicle angestellt und durfte wöchentlich einen politischen Cartoon veröffentlichen.3 Der geringe Anteil der deutschsprachigen Emigranten an der britischen Karikaturenszene resultiert nur zum Teil daraus, daß in den ersten Jahren nach der national-sozialistischen Machtergreifung die meisten politischen Pressezeichner nach Prag und Paris emigrierten. Bis zum Einmarsch der deutschen Truppen in die Tschechoslowakei 1939 und der Besetzung Nordfrankreichs waren diese verhältnismäßig problemlos erreichbaren Exilorte zugleich die Zentren der antifaschistischen Satire gewesen. In den meisten westlichen Ländern, so auch in Großbritannien, hielten sich die einheimischen Karikaturisten in den 30er Jahren gemäß der Appeasement-Politik mit satirischen Bildkommentaren zu den Nazis deutlich zurück,4 und von den “Gästen” 2
Marcel Reich-Ranicki: Hamlet im falschen Zug. In: Der Spiegel 9/1995, 25. 2.1995. S. 184-188, hier S. 184. 3 Im Nachlaß-Konvolut von insges. 3817 Orig.-Zeichnungen im Centre for the Study of Cartoons and Caricature der University of Kent in Canterbury sind jedenfalls kaum Cartoons aus der zweiten Hälfte der 30er Jahre vorhanden, und in den veröffentlichten Cartoon-Sammelbänden und Publikationen über Vicky wird man ebenfalls nicht fündig. 4 Natürlich finden sich bereits vor Kriegsbeginn auch aggressive Anti-Nazi-Cartoons in der internationalen Presse (siehe z.B. die beiden Sammelbände: Hitler in der Karikatur der Welt. Tat gegen Tinte. Ein Bildsammelwerk von Ernst Hanf-
95 dieser Länder wurde natürlich auch politische Zurückhaltung erwartet. Dies änderte sich jedoch jeweils nach der Kriegserklärung der Staaten an NS-Deutschland. Auch das britische Ministry of Information – so die etwas euphemistische Bezeichnung des britischen Propagandaministeriums – bekundete nun großes Interesse an der politischen Mitarbeit der “friendly enemy aliens” (soweit sie nicht kommunistisch waren) und akzeptierte entsprechende Angebote zur Mitarbeit gegen Hitler aus den Internierungslagern. Greifbarstes Ergebnis ist das deutschsprachige Exilorgan Die Zeitung, das, im Auftrag des Informationsministeriums und von diesem subventioniert, ab März 1941 zuerst als Tageszeitung, später als Wochenblatt erschien.5 Die Zeitung vertrat eine liberal-gemäßigte, englandfreundliche Linie – wie freiwillig, läßt sich allerdings heute nicht mehr eruieren. Die fest angestellten und die kontinuierlich frei mitarbeitenden Zeichner und Zeichnerinnen waren Joseph Otto Flatter, Erna Pinner, Walter Trier und Richard Ziegler (siehe Abb. 1). Ziegler schuf unter dem Pseudonym Robert Ziller für die Zeitung vor allem zahlreiche Porträts von Politikern und Militärs der am Krieg beteiligten Nationen. Ob er die Köpfe von Nazigrößen, Sowjets oder von herausragenden Vertretern der alliierten Seite wie Roosevelt, Churchill und Montgomery zeichnete, Feder oder Stift gerieten ihm immer zu Sezierinstrumenten, machten die Porträtierten zu “Gezeichneten”. Wie George Grosz besaß er kein “Talent” für positive Gegenbilder, somit kein “Talent” für primitive Freund-Feind-Propaganda. Erna Pinner war die einzige, die für die Zeitung keine Karikaturen zeichnete, sondern wie vor ihrer Emigration zeitlos wirkende Reise- und Tierbilder, als könne sie noch wie einst mit Kasimir Edschmid exotische Plätze in einer friedlichen Welt besuchen und als sei der für sie wichtige Londoner Zoo nicht von der deutschen Bombardierung bedroht gewesen.6 Die anderen Zeichner jedoch leisteten staengl. Berlin 1933; fortgesetzt unter dem Titel: Tat gegen Tinte. Hitler in der Karikatur der Welt. Neue Folge. Ein Bildsammelwerk von Ernst Hanfstaengl. Berlin 1934). Gleichwohl sind Zurückhaltung und eine unparteiische Haltung viel mehr die Regel. 5 Die Idee dazu entwickelte Sebastian Haffner während seiner Internierung. Dazu ausführlich: Gerd Greiser: Exilpublizistik in Großbritannien. In: Presse im Exil. Beiträge zur Kommunikationsgeschichte des Exils 1933-1950. Hrsg. v. Hanno Hardt u.a. München, New York, London Paris 1979. S. 223-253, hier S. 232; Lieselotte Maas: Handbuch der deutschen Exilpresse 1933-1945. Hrsg. v. Eberhard Lämmert. 4 Bde. München, Wien 1976-90. Bd. 2. S. 630-641. – Sämtliche Jahrgänge der Zeitung sind (fast) vollständig in der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt a.M. vorhanden. 6 In London illustrierte Pinner u.a. den Londoner Zoo-Führer (ZOO. Offical Guide. Map of Geographical Distribution. London 1937) und schuf auch später
96 mit ihren Cartoons einen durchaus bemerkenswerten Beitrag zur Geschichte der satirischen und im geringeren Umfange auch der propagandistischen Anti-Nazi-Karikatur. Sie schufen Cartoons zu den aktuellen politischen Ereignissen und Konstellationen, zur Kriegsentwicklung und karikierten die einzelnen Figuren im blutigen Mächtespiel der Nationen, wobei Hitler und die NS-Führungsriege eindeutig im Mittelpunkt standen.7 Aber auch das vermeintlich “deutsche Wesen” zwischen Biedersinn und Barbarei war ein häufiges Thema. Ein am 23. 4.1943 in der Zeitung erschienener Cartoon Walter Triers gewinnt seine Pointe aus der (vermeintlichen) Naivität des Zeichenstils als These und dem Textzitat als Antithese (siehe Abb. 2). Ohne den Begleittext wäre die Zeichnung nicht als Anti-Nazi-Cartoon zu entziffern, wirkte bloß wie eine der typischen und bis heute beliebten Illustrationen Walter Triers zu den Kinderbüchern Erich Kästners. Erst im Zusammenhang mit dem Text erkennt man – sozusagen auf den zweiten Blick –, daß die Flecken des Kuhfells, auf das die Lehrerin mit ihrem Schirm deutet, um ihren Schülern beim Klassenausflug etwas zu erklären, die Konturen von Europa haben. Ihre Erläuterung “Hier bietet sich Gelegenheit, Euch die Lage am Kriegsschauplatz zu erklären”, erhält gerade durch den Kontrast mit der idyllischen Szene und den lustigen Figuren ihre Brisanz, veranschaulicht witzig pointiert die Alles und Jeden erfassende “geistige Mobilmachung” in Nazideutschland. Auffällig ist, daß Vertreibung und Flucht aus Deutschland, die Internierung der Emigranten in und die innenpolitischen Verhältnisse von Großbritannien sowie das Schicksal der Juden kein einziges Mal in den Cartoons der Zeitung thematisiert werden. In den Presseberichten der Zeitung war dies hingegen, wenn auch marginal, sehr wohl ein Thema. Die politisch-satirischen, vereinzelt auch propagandistischen Bildkommentare der Emigranten erschienen nicht nur in dem deutschsprachigen Exilblatt Die Zeitung. Unter dem Titel Jesters in Earnest präsentierte ein Londoner Verlag 1944 aktuelle Cartoons aus der Kriegszeit von Zeichnern, die aus zahlrei-che Zootierstudien (zur Bombardierung des Londoner Zoos siehe: Julian Huxley: The Zoo’s First Blitz. In: Lilliput 9 (Sept. 1941) Nr. 3. S. 193.). Das Exil war für die Jüdin Pinner kein Thema; entsprechend wenig Berücksichtigung finden in der Sekundärliteratur die 52 Jahre (!) ihres Lebens und Arbeitens in London, wo sie als Künstlerin gescheitert und vereinsamt 1987 starb. Siehe vor allem: Ich reise durch die Welt. Die Zeichnerin und Publizistin Erna Pinner. Hrsg. v. Verein August Macke Haus. Bonn 1997. 7 Einige Holocaust-Cartoons und Klagebilder (zu Hitlers Mein Kampf) sind im Nachlaß von Josef Otto Flatter erhalten; es findet sich kein Hinweis, daß sie je veröffentlicht worden wären. Siehe Inv. Nr. C003, C016, C 237 in: J. O. Flatter Estate, Pulborough/England sowie Inv. Nr. LD 7082, LD 7090, LD 7092, Imperial War Museum, London.
97 Prag vor dem Einmarsch der Deutschen nach Großbritannien und in die USA geflohen waren, und die ein Jahr nach Kriegsende herausgegebene Sammlung The Pen is Mightier. The Story of War in Cartoons mit Nachdrucken aus der internationalen Presse, enthält unter anderem Arbeiten deutschsprachiger Emigranten wie Oscar Berger, Lea Grundig, John Heartfield, Walter Trier und Vicky.8 Teils bei unabhängigen Londoner Verlagen, teils im Auftrag des Ministry of Information konnten Walter Trier,9 Richard Ziegler10 und Vicky11 außerdem Anti-Nazi-Karikaturen in Einzelpublikationen oder als Illustrationen für – allerdings vor allem für das Ausland gedachte – Propagandaschriften veröffentlichen (siehe Abb. 3). Ohne zu übertreiben, kann man sagen, daß Vicky, neben David Low, über Jahrzehnte zu den berühmtesten politischen Karikaturisten Englands zählte. Bis zu seinem Tod in den 60er Jahren erschienen fast täglich Cartoons von ihm in der Tagespresse, vor allem im Evening Standard und im Daily Telegraph. In einem der Cartoons von Vicky (siehe Abb. 3), der 8
Jesters in Earnest. Cartoons by the Czechoslovak Artists Z. K., A. Hoffmeister, A. Pelc, Stephen, Walter Trier. With a Preface by David Low. London 1944; The Pen is Mightier. The Story of the War in Cartoons. Ed. Joachim J. Lynx. London 1946. 9 The German Military Dictionary. London 1944; U.a. auch als franz. Ausgabe: London 1944; Nazi-German in 22 Lessons...: London o.J. (1944); U.a. auch niederländ. Ausgabe: London um 1944. 10 Robert Ziller [d. i. Richard Ziegler]: We Make History. London 1940 (Reprod. von Monotypien); 2. Aufl. Ebd. 1941; weitere Ausgaben der Folge mit dem ursprünglichen Titel “Führer sehen Dich an” erschienen in Holländisch, Dänisch, Russisch und Serbokroatisch. Die 35 Monotypien (U.a. Porträts von Göring, Goebbels, Ludendorff und Hitler) waren 1935 in Jugoslawien zu Texten aus deutschen Zeitungen entstanden und wurden zusammen mit den von Ziegler und seinem Cousin Erwin Weber ausgewählten Texten gedruckt (siehe den von Ziegler ausgefüllten Sternfeld-Fragebogen im Exilarchiv Frankfurt a.M.: EB 75/177). Die Orig.Graphiken sowie etliche Buchausgaben befinden sich in der Richard-Ziegler-Stiftung, Calw. Neuaufl. unter dem Orig.-Titel: Richard Ziegler/Martin BeheimSchwarzbach: Führer sehen Dich an. Hilversum und Selva/Mallorca 1973; verkleinerte Neuaufl. mit einem Nachwort von Ingeborg Drewitz. Worms 1975 (= Deutsches Exil 1933-45. Bd. 8); Los nazis y el intelecto. Trato dado por los nazis... Ohne Ort, Verlag und Jahr (wohl 1943); The New Order. London 1943; R. Ziegler: Faces behind the News. London 1946. Reprod. von 61 Monotypien, die zuerst in der Zeitung erschienen waren; die Originalgraphiken befinden sich zusammen mit weiteren, unveröffentlichten Porträts (Mappe “Köpfe”) in der Richard-Ziegler-Stiftung, Calw. 11 I Couldn’t Help Laughing. An Anthology of War-time Humour. Ed. Wyndham Lewis. London 1941; Drawn by Vicky. 100 Cartoons from the News Chronicle. Foreword by Ariel J. Cummings. London 1944; Aftermath. Cartoons by Vicky. London 1946; The Editor Regrets. Unpublished Cartoons by Vicky. Introduction by Gerald Barry. London 1947.
98 zuerst 1944 brandaktuell, im News Chronicle erschienen war, warten General Eisenhower und Feldmarschall Montgomery mit einer Phalanx von Panzern vor dem Eingang der sogenannten Siegfried-Linie. Höflich antworten sie auf die unausgesprochene, rhetorische Frage nach ihrem Begehren dem verkniffen blickenden Türwächter, Feldmarschall Model (dabei den Jargon der Nazis zitierend): “Military idiots, with junk from the decadent democracies, to see the Fuehrer”12 (siehe Abb. 4). Doch nicht alle fanden für ihre Anti-Nazi-Karikaturen ein Publikum. Walter Nessler hatte bereits 1937 in Dresden ein satirisches Hitler Alphabet und 1941 während seiner Stationierung in Frankreich als Angehöriger des britischen Pioneer Corps eine weitere Folge mit dem Titel Diary of Hitler13 geschaffen, die er dem Ministry of Information als Vorlagen für Propaganda-Flugblätter anbot. Als die zuständige Behörde sie mit der Begründung ablehnte, es werde darin das Oberhaupt eines anderen Landes lächerlich gemacht, schuf Nessler keine weiteren politischen Arbeiten mehr.14 Walter Nesslers Hitler Alphabet buchstabiert von “A” wie Adolf bis “Z” wie Zukunft das Phänomen Hitler sowie Gegenwart und Zukunft Deutschlands unter seiner Herrschaft durch und präsentiert Hitler als Hauptdarsteller eines absurden Spektakels. Der Buchstabe formt dabei entweder seinen Körper mit und betont dessen Habitus, wie etwa das geschnörkelte A die gespreizt geckige Haltung des devot Beifall heischenden Schmierendarstellers “Adolf” (siehe Abb. 4), oder möbliert das Tableau. Die Cartoons setzen auf jene Komik, die – nach Henri Bergson – durch das Posenhafte, Unechte, Mechanische im Lebendigen entsteht.15 Bewußt verzichtet Nessler – so wie Walter Trier übrigens auch – auf Porträtähnlichkeit und kennzeichnet seine “Witzfigur” allein mit den beiden bekannten “Markenzeichen” – Schnauzer und Stirnlocke. Die Treffsicherheit dieser Hitlerkarikaturen beruht – vor allem im Unterschied zu den Vorkriegscartoons der internationalen Presse – auf der genauen, einst
12
Zu den konkreten militärpolitischen Hintergründen siehe den Abbildungskommentar in: Russell Davies/Liz Ottaway: Vicky. London 1987. S. 58. 13 Walter Nessler: [Hitler] ABC. Dresden 1937, 21 Tuschfederzeichnungen, Kl.8°, im Besitz der Walter-Nessler-Stiftung, Pulsmitz (Veröffentlichung für 2000 geplant); Ders.: A Diary of Hitler. London 1941, Vorsatzpapier mit Titel und 25 lose Blätter mit lavierten und aquarellierten Tuschfederzeichnungen in Packpapierumschlag, Kl.-8°, unveröffentlicht, im Besitz der Nessler-Stiftung, Pulsmitz. 14 Mitteilung des Künstlers in einem Gespräch mit der Verfasserin am 17.7.1997 in London Hampstead. 15 Siehe das Kapitel: Die Charakterkomik. In: Henry Bergson: Das Lachen. Darmstadt 1988 (E.A. Le Rire, 1900.).
99 noch vor Ort erworbenen Kenntnis von Hitlers mediengerechter Selbstinszenierung für Pressefotos und für die Wochenschauen (siehe Abb. 5). Von der teils in der Internierung, teils danach in Oxford und London geschaffenen Linolschnittfolge My Impressions as Refugee fertigte Hermann Fechenbach nur fünf Abzüge. Noch 1985 wurde eines dieser Exemplare aus dem Besitz des Künstlers in der Londoner Galerie “Blond Fine Art” zum Kauf angeboten – nicht gerade eine Erfolgsstory.16 Diese expressiven Graphiken sind wohl die aggressivsten von einem Emigranten in Großbritannien geschaffenen Anti-Nazi-Cartoons. Für sie dürfte sich der englische Geschmack, selbst zur heißen Kriegszeit, kaum erwärmt haben (siehe Abb. 6). Ein Blatt der Folge erschien im Mai 1944 in der Emigrantenzeitung Freie Tribüne zu des Führers “55. Geburtstag”17 (siehe Abb. 6). Es zeigt den Demagogen Hitler mit typisch beschwörender Redegestik und Mimik, jedoch nackt und – je nach Betrachtungsweise – entweder aus einem wüsten Acker des Schreckens und der Zerstörung emporwachsend oder in seine Untaten versinkend. Im Vordergrund ist der Boden, aus dem “dies kroch”, übersät mit zerrissenen Büchern und zerbrochenen Thora-Rollen. Weiter hinten erheben sich Grabkreuze auf dem zerfurchten Schlachtfeld, die sich bis zum Horizont fortsetzen, als Bild eines ins Unendliche erweiterten Golgatha. Hitlers Brust ziert an der Stelle des Herzens ein Eisernes Kreuz, und seine Scham wird verdeckt von einem gerupft wirkenden Adler, der als Hoheitszeichen mit dem Schriftzug “The Leader” bezeichnend tief hängt. Standarten mit kleinen Hakenkreuzen kippen aus dem Dunkel der mit einem großen Hakenkreuz geschmückten Rückenwand und umfangen des Führers Haupt wie eine vielzipflige Narrenkappe. Trotz begrenzter Absatzmöglichkeiten im britischen Exil war nach 1940 zumindest die Produktion satirischer Anti-Nazi-Karikaturen durch deutsch-
16
Diese Angabe in: Hermann Fechenbach. Wood Engravings and Lino Cuts. Ausstellungs- und Verkaufskatalog Blond Fine Art. London 1985. Laut Katalog druckte der Künstler in den 80er Jahren fünf weitere Exemplare und plante eine Neuauflage von 50, die aber wohl auf Grund seines Todes 1986 nicht mehr verwirklicht wurde. 17 Hermann Fechenbach: Der Führer. Blatt 2 aus: ders.: My Impressions as Refugee, 1941-46, Folge von 21 Linolschnitten. Mit der Überschrift “Zum 55. Geburtstage!” [gemeint ist Hitlers Geburtstag] und dem Untertitel “So sieht ihn der Hass aller freien Menschen” abgedruckt in: Freie Tribüne (London). VI. Nr. 4/5. Mai 1944. S. 13 (nachgedruckt in: Kunst im Exil in Großbritannien 1933-45. Ausstellungskatalog der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst Berlin. Berlin/West 1986. S. 67.).
100 sprachige Zeichner18 – ob im Dienst des Ministry of Information oder für die freie Presse – keineswegs mehr ein randständiges Phänomen. Augenscheinlich produzierten sie weit mehr, als sie veröffentlichen konnten. Weder das offensichtliche Bedürfnis der deutschsprachigen Karikaturisten, Stellung zu beziehen, noch die etwas reservierte Haltung der potentiellen Auftraggeber ihnen gegenüber wurde und wird von den Historikern aber bisher als ein mentalitätsgeschichtlich interessantes Phänomen zur Kenntnis genommen. Karl-Ludwig Hofmanns Feststellung von 1986, zur antifaschistischen Satire der Emigranten in Großbritannien läge bisher keine Untersuchung vor,19 ist nach wie vor aktuell. Daß den Erfolglosen kein Kapitel in der Geschichte der englischen Karikatur gewidmet wird, ist durchaus begreiflich, warum aber auch der Beitrag der erfolgreichen Karikaturenzeichner Trier, Ziegler und Vicky kaum gewürdigt wird, ist weniger verständlich. Die populärwissenschaftliche britische Darstellung Heckling Hitler widerlegt wohl mit ihrer Präsentation zahlreicher Hitlerkarikaturen aus der Weimarer Zeit, darunter etliche aus dem Simplicissimus und aus der Prager Exilzeit deutschsprachiger Zeichner, das übliche Vorurteil, daß die Deutschen keine bedeutende humoristisch-satirische Tradition besäßen. Im begleitenden Text aber bekräftigt der Autor gerade das gängige Ressentiment und wertet die Satire der 20er Jahre als Ausnahmeerscheinung.20 Als Beitrag Großbritanniens zum bildsatirischen Kampf gegen Hitler sind vor allem David Lows (zweifellos herausragende) Anti-Nazi-Cartoons abgebildet.21 Lapidar befindet der Autor Zbynek Zeman:
18
Es ist mir keine emigrierte Zeichnerin bekannt, die Anti-Nazi-Karikaturen geschaffen hat. 19 Karl Ludwig Hofmann: Zur Geschichte der deutschen antifaschistischen Pressesatire. In: Kunst im Exil in Großbritannien. A.a.O. S. 65-72, hier S. 71. Anm. 3. 20 Zbynek Zeman: Heckling Hitler. Caricatures of the Third Reich. London 1984. S. 10. (deutsche Ausgabe unter dem Titel: Das Dritte Reich in der Karikatur. München 1984.). 21 Vicky, den Zeman allerdings als britischen Pressezeichner präsentiert, ist immerhin mit zwei Cartoons vertreten und Walter Trier (dessen Vorname dem Autor nicht bekannt zu sein scheint) sowie der immerhin als Emigrant wahrgenommene Österreicher Josef Otto Flatter mit je einem Cartoon – letzerer allerdings mit fehlerhafter Namensangabe, zudem ohne Quellennachweis und ohne den (englischen) Begleittext des Künstlers. Siehe die Abb. S. 65, 120 (Vicky), S. 111 (Trier) und der Cartoon von Joseph. O. Flatter auf S. 61. Sämtliche Abb. bei Zeman entweder ohne oder mit lückenhaften Quellenangaben. − Die Orig.Zeichnung Flatters mit masch. schrift. Begleittext befindet sich im Imperial War Museum London, Inv. Nr. LD 6813.
101 Of all artists working during the war, David Low was probably the most effective interpreter of the German home front. The Art of the German and many other continental artists did not prosper in exile.22
Frank Whitford dagegen betonte einmal – wie ich meine zu Recht −, daß “die beiden wirklich großen Karikaturisten” Großbritanniens, Vicky und Low, Ausländer waren und die besondere Qualität ihrer Cartoons das Resultat ihrer Außenseiterperspektive sei.23 Doch dieser Hinweis ist eine Ausnahme. Nicht nur in den einschlägigen britischen Publikationen über Kriegscartoons und Kriegspropaganda,24 sondern auch in den Kompendien zur Arbeit der sogenannten “War Artists” des II. Weltkrieges werden kaum Werke von Emigranten berücksichtigt25 (siehe Abb. 7). Der Fall Joseph Otto Flatter Bezeichnend für das komplizierte Verhältnis Großbritanniens zur Karikatur seiner deutschsprachigen Immigranten ist der “Fall” Joseph Otto Flatter. Der bis dato eher konventionelle Porträtmaler Flatter zeichnete zwischen 1937 und 1938 sechzig äußerst bissige Cartoons zu Hitlers Mein Kampf, die zum Teil vor Kriegsausbruch, vor allem dann aber während des Krieges auf einer von Wohltätigkeitsvereinen organisierten Wanderausstellung in verschiedenen englischen Städten gezeigt wurden. Nachdem die Ausstellung zum großen Teil oder ganz bei einem Bombenangriff auf das Londoner Kaufhaus Selfridge vernichtet worden war, rekonstruierte und erweiterte der Künstler die Serie.26 Am Leitfaden von Hitlers Selbstdarstellung führt Flatter in dem umfangreichen Bildzyklus den 22
Ebd. S. 112. Frank Whitford: Entstaubter Alltag – aus der Praxis der Karikaturisten. In: “Nervöse Auffangorgane des inneren und äußeren Lebens”. – Karikaturen. Hrsg. v. Klaus Herding und Gunter Otto. Gießen 1980. S. 302-317, hier S. 307. (Low war gebürtiger Neuseeländer). 24 Siehe u.a. das Kapitel: Britain Improvises, 1936-1945. In: Anthony Rhodes: Propaganda. The Art of Persuasion. World War II. Ed. Victor Margolin. London 1984; Joseph Darracott: A Cartoon War. World War Two in Cartoons. London 1989; Mark Bryant: World War II in Cartoons. London 1989. 25 Vgl. den Hinweis bei Michael Nungesser: Die bildenden Künstler im Exil. In: Die Kunst im Exil in Großbritannien. A.a.O. S. 27-34, hier S. 34, Anm. 16. Das gleiche gilt für die dort nicht genannte, spätere Publikation: Images of War. The Artist’s Vision of World War II. Eds. Ken McCormick and Hamilton Darby Perry. London 1991. 26 Siehe das zweiseitige Typoskript Joseph O. Flatter: Mein Kampf illustriert und andere satirische Zeichnungen und Malereien. Interview mit dem Künstler anläßlich der Eröffnung seiner Ausstellung im Künstlerhaus Wien am 8.1.1981. In: Joseph O. Flatter Estate, Pulborough/England. 23
102 “Führer” als größenwahnsinnigen, monströsen und zugleich närrischen Selbstdarsteller vor27 (siehe Abb. 7). In vielfältigen Varianten, in kolorierten Einzelszenen sowie comicstripartigen Szenenfolgen mit Untertiteln (siehe Abb. 8), wird Hitler zuerst als durch germanomane Kriegshetze verdorbener Schuljunge und durchtriebener Bengel (siehe Abb. 9), dann vor allem als haßverzerrter Fanatiker und entfesselter Agitator präsentiert (siehe Abb. 10). So treffsicher wird er von Flatter der Lächerlichkeit preisgegeben, daß man von einer “Tötung in effigie” sprechen kann. “I »drew, hanged and quartered« them [die Nazis]”, schrieb Flatter bezeichnenderweise in seiner Autobiographie.28 Es ließe sich darüber streiten, ob es sich auf Grund der eindeutig diffamierenden Tendenz mehr um Propaganda als um Satire handelt gesprochen werden sollte. Nach dem hier präferierten Propaganda-Begriff müßte aber das, wofür Propaganda betrieben wird (z.B. Werbung für eine Partei, Aufforderung zum Kriegsbeitritt) grundsätzlich deutlich sein. Doch bei Flatters Serie fehlt, wie bei den satirischen Graphiken von George Grosz, das “Positive”, an dem die “Minuspartei” gemessen wird. Allgemein akzeptiert wurden diese Arbeiten vom Publikum erst nach Kriegsbeginn, wie Flatter selbst in seinen unveröffentlichten Memoiren berichtet: When I have given up portrait painting in 1938 and turned to pillorying the enemy, people accused me of warmongering. Some, hypnotised by enemy propaganda, thought I was endangering my life. A visitor to one of my exhibitions was heard to remark that he could not condemn the German people for their patriotic fervour, but would condemn me, the artist, for my barbarity. Later, during the phoney period of the war, before the bombs fell on London, a newspaper critic found my cartoons »reminiscent of those of the lowest gutter
27
Eine Variante dieses Motivs mit deutschem Text wurde in der Zeitung abgedruckt. Joseph O. Flatter: Zum Jahrestag der Machterschleichung (Cartoon). In: Die Zeitung, 26.1.1945. 28 Joseph O. Flatter: A Painter’s Monologue. Unveröff. Typoskript. London 1974 und 1981. 103 Seiten. Joseph O. Flatter Estate, Pulborough/England. S. 57. – Zur bildmagischen Wirkung von Bildsatire äußerten sich eingehenden Ernst H. Gombrich und Ernst Kris. Siehe u.a. Ernst H. Gombrich/Ernst Kris: The Principles of Caricature. In: E. Kris: The Psychoanalytic Explorations in Art. 3. Aufl. New York 1965 (EA. 1952). S. 189-203 (Erstdruck in: The British Journal of Medical Psychology. XVII. 1938); Ernst H. Gombrich: Magic, Myth and Metaphor: Reflections on Pictorial Satire. In: L’Art et les révolutions. Conférence plénières. XXVIIe congrès international d’histoire de l’Art. Strasbourg 1-7 septembre 1989. Actes. Straßburg 1990. S. 24-66.
103 press on the Continent«. However in the later stages of the war my work was in great demand. 29
Flatter betonte wiederholt in Interviews und Gesprächen mit der Historikerin Dorothea McEwan vom Warburg Institute, die über ihn mehrere Artikel verfaßte, und auch in seiner unveröffentlichten Autobiographie, daß er nicht nur für das deutsche Exilblatt Die Zeitung, die Exilregierung Belgiens und für die französische Exilpresse Anti-Nazi-Cartoons gezeichnet, sondern gleich nach der Entlassung aus der Internierung (wohl im Sommer 1940)30 bis kurz vor Kriegsende geheimdienstlich für das britische “Ministry of Information” Propagandaflugblätter geschaffen habe31 und auch offizieller Kriegsmaler gewesen sei. In einem Interview von 1981 äußert Flatter, er habe “als offizieller Kriegsmaler” den Nürnberger Kriegsverbrechergericht beigewohnt und die Porträtskizzen befänden sich im Imperial War Museum.32 In der Tat war Flatter in Nürnberg anwesend und schuf dort zahlreiche Bleistiftskizzen und später eine darauf aufbauende Gouache (alles im Familiennachlaß im südenglischen Pulborough), aber nicht im Auftrag Großbritanniens, denn die beiden einzigen 29
Flatter /A Painter’s Monologue. A.a.O. S. 57. – Zu späteren, positiven Reaktionen, zumindest von Emigrantenseite, siehe die anonyme Pressemeldung über J. O. Flatters Ausstellung seiner Serie “Mein Kampf Illustrated” (hier als “The Life of Hitler” bezeichnet). In: Free Austria (London). Mai 1941 (nachgedruckt in: Österreicher im Exil. Großbritannien. 1938-1945. Eine Dokumentation. Hrsg. vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands. Wien 1992. S. 471.). 30 Seine nach eigenen Angaben bereits nach drei Monaten erfolgte Entlassung aus der Internierung verdankt Flatter (der dies nirgends erwähnt) u.a. seinem Kollegen David Low. Siehe Anonyme Pressemeldung über Joseph O. Flatter. In: World’s Press News (London). 2.1.1941. In dem Artikel wird der Beginn von Flatters Internierung mit Mai 1940 angegeben, d.h. er müßte einer der ersten gewesen sein. 31 Siehe u.a.: Joseph O. Flatter. Heft zur Ausstellung in der Künstlerhaus-Passage vom 8.1.-20.2.1981. Wien 1981: “Während der Kriegsjahre von 1939-1945 arbeitete er als Karikaturist für das Britische Ministerium [...].”− Siehe außerdem die Besprechung der Ausstellung in: Die Presse (Wien). 29.1.1981 und Dorothea McEwan: Sein Kampf. Der Zeichner Otto Flatter (1894-1988). In: tendenzen. Zeitschrift für engagierte Kunst 30 (April-June 1989). Nr. 166. S. 60-65, hier S. 61f. sowie Joseph O. Flatter: A Painter’s Monologue. A.a.O. S. 55-59. 32 Siehe das oben genannte Interviewtyposkript vom 8.1.1981. Siehe auch: Dorothea McEwan: Vom Porträtisten zum Propagandisten. Leben und Werk des Malers Joseph Otto Flatter – geb. Wien 1894, gest. London 1988. In: Mit der Ziehharmonika. Zeitschrift für Literatur des Exils und des Widerstands 10 (Mai 1993). Nr. 1. S. 15-19, hier S. 18 (auch in Englisch erschienen unter dem Titel: From Portraiture to Propaganda: The Life and Work of Joseph Otto Flatter. In: German Studies Library Group Newsletter [Jan. 1994] Nr. 15. S. 21-31.).
104 offiziell zugelassenen britischen Vertreter waren Laura Knight und David Low. Offizielle Kriegsmalerei im strengen Sinne des Wortes findet sich von Flatter weder in der großen Kunstsammlung des Imperial War Museums in London, noch in dem vom Sohn Peter Flatter verwalteten Nachlaß. Ein Beleg für seine inoffizielle Propagandatätigkeit scheinen die ins Imperial War Museum als Schenkung des Künstlers gelangten, ca. 200 großformatigen Zeichenkartons mit seinen Anti-Nazi-Cartoons zu sein. Die Mehrzahl sind satirische Illustrationen zu Passagen aus Hitlers Mein Kampf.33 Da sie alle mit seinem Namen deutlich signiert und größtenteils mit Zitaten aus Hitlers ideologischer Programmschrift in englischer Übersetzung34 (nie in Deutsch) unterlegt sind, können sie nicht – wie von Flatter behauptet – für einen millionenfachen Abwurf über Deutschland bestimmt gewesen sein.35 Entsprechend findet sich auch kein Beleg in der mehrbändigen Flugblatt-Dokumentation zum II. Weltkrieg von Klaus Kirchner.36 Sie hätten sich auch kaum zur Motivierung von Überläufern in den Reihen deutscher Soldaten geeignet, richteten sie sich doch nicht an ein Publikum, daß erst von der Hohlheit der Phrasen und der Anmaßung des angeblich Heil bringenden Führers überzeugt werden mußte, sondern
33
Joseph O. Flatter: Mein Kampf Illustrated und andere Anti-Nazi-Cartoons. Konvolut von ca. 200 meist undatierten (wenige mit Datierung aus dem Zeitraum 1939-44), großformatigen Tuschezeichnungen; Tusche, Feder, Pinsel und Schraffurgerät über Bleistift, vereinzelt mit blauer Wasserfarbe oder blauem Farbstift Flächen eingefärbt, auf leichtem Karton, fast alle mit hand- oder maschinenschriftlichen Zitaten aus Mein Kampf in Englisch, oft Doppelszenen, jeweils in schwarzer Rahmung auf einem Blatt, zwischen 34 x 51 cm und 46,5 x 58,5 cm, IWM London, Dept. of Art, in diversen Mappen und Kästen mit Einzelsignaturen. – Eine noch größere Sammlung solcher Zeichnungen ist Bestandteil seines über 900 Zeichnungen und Gemälde umfassenden Nachlasses. 34 Die in London 1933 und 1938 unter dem Titel My Struggle von Hurst und Blackett verlegte und von Flatter verwendete Ausgabe ist eine gekürzte und sprachlich leicht modifizierte Fassung der von Edgar T. S. Dugdale übersetzten ameri-kanischen Ausgabe mit dem Titel My Battle (Boston, New York 1933.). 35 Dorothea McEwan: Joseph Otto Flatter. The Politicisation of a Portrait-Painter. In: Austrian Exodus. The Creative Achievements of Refugees from National Socialism. Eds. Edward Timms and Ritchie Robertson. Edinburgh 1995. S. 104-119, hier S. 107 (= Austrian Studies VI). 36 Siehe: Klaus Kirchner: Flugblätter aus England. 1939/1940/1941. Bibliographie. Katalog. Erlangen 1978; ders.: Flugblätter aus England. G-1942. Bibliographie. Katalog. Ebd. 1974; ders.: Flugblätter aus England. G-1943, G-1944. Bibliographie. Katalog. Erlangen 1979; ders.: Flugblätter aus England und den USA. G-1944/45. Bibliographie. Katalog. Ebd. 1979.
105 an ein – und das ist typisch für die Satire – der Aussage gewogenes Auditorium37 (siehe Abb. 11). Allgemein eignen sich Satiren nicht für den Zweck der Feindpropaganda, wie die Flugblatt-Dokumentationen zum II. Weltkrieg auch indirekt belegen. Diese Flugblätter und Flugschriften bestehen hauptsächlich aus (nichtsatirischen) Texten, und die Bildbeiträge sind zumeist Fotos oder Agitpropgraphiken, die mit der typischen Antithetik von Kampfbildern (gut – böse, schön – häßlich) und mit den hinlänglich erprobten Pathosformeln der Agitation arbeiten. Das hier abgebildete antithetische Flugblatt vom Dezember 1944 (siehe Abb. 11) appelliert an den merkantilen Instinkt der GIs an der Westfront, indem es ihnen vorrechnet, daß es sich im Sinne des Wortes nicht lohnt, sein Leben im Kampf gegen Hitler zu riskieren, da man zu Hause in den USA das dreifache gefahrlos verdienen könne. Unterschwellig wird dabei zum Ausdruck gebracht, daß die amerikanischen Soldaten eigentlich keine Feinde NS-Deutschlands seien, sondern Leute, die bedauerlicherweise den falschen Job gewählt haben und nun freundlicherweise auf ihren Irrtum aufmerksam gemacht werden.38 Davon unterscheiden sich die im Auftrag des Ministry of Information auch in Buchform veröffentlichten Anti-Nazi-Cartoons von Trier und Ziegler deutlich. Sie richteten sich an die Verbündeten und an die Bevölkerung in den von Deutschland besetzten Ländern, von denen man naturgemäß eine gewisse Empfänglichkeit für die Tendenz der Karikaturen erwarten konnte. Flatters angeblich streng geheime, direkt an seine Entlassung aus der Internierung anschließende Tätigkeit für das Ministerium wird in einer Pressenotiz in World’s Press News Anfang des Jahres 1941 wie folgt kommentiert: Of the power of his drawings there is no question – so powerful indeed, that when offered to the M. of I. [Ministry of Information] for propagandist
37
Die eigentliche Aufgabe der Satire, “to preach the converted”, wie Gombrich so trefflich formuliert und als sinnvoll verteidigt (Gombrich/Magic. A.a.O. S. 88f.), wird bei der Beurteilung ihrer Wirksamkeit gerne übersehen oder zu gering geachtet. 38 Abgebildet in: Klaus Kirchner: Flugblätter – Psychologische Kriegsführung im Zweiten Weltkrieg in Europa. München 1974. S.109. – Siehe auch: Heil Beil! Flugblattpropaganda im zweiten Weltkrieg. Dokumentation und Analyse. Hrsg. von Ortwin Buchbender und Horst Schuh. Stuttgart o.J. Diese Publikation befaßt sich allerdings vor allem mit der deutschen Propaganda und deren Wirkung. Das Ministry of Information als wichtiger Auftraggeber von der britischen Seite ist der Aufmerksamkeit der Autoren unbegreiflicherweise entgangen.
106 purposes, they were rejected because, in the view of the Ministry, they were ‘too bitter’. What a gentlemanly war this is!”39
Dieser Kommentar ist in sozialpsychologischer und mentalitätsgeschichtlicher Hinsicht interessant: Er zeigt, daß auch zu Kriegszeiten eine der Politik des eigenen Landes kritisch gegenüberstehende Presse von der Staatsgewalt nicht unterdrückt wurde40 und man sich zugleich nach außen um fair play bemühte. Bei meiner Archivrecherche im Imperial War Museum konnte ich eine bisher nicht zugängliche Geheimakte des Ministry of Information einsehen, die noch etwas genauer Auskunft über dessen Haltung gibt. In einem Memorandum des Ministeriums vom 3.1.1940 – also noch vor Flatters Internierung – werden seine Cartoons als “not quite suitable for the British public”, aber in einigen Fällen als “very good [...] for propaganda in Germany”41 charakterisiert. Erst ein Jahr später, vom März bis Mai 1941, wurde er dann nachweislich auf Probe als Propagandazeichner für das Ministerium angeworben, zeichnete in dessen Auftrag wöchentlich fünf Blätter, von denen jeweils zwei bis drei ausgewählt werden sollten. Sein Auftraggeber war jedoch nicht zufrieden, hielt seine Zeichnungen für zu kompliziert – der Maßstab dabei war die Sprache der Cartoons von David Low42 −, und so wurde Flatter nach der Probezeit nicht fest übernommen: “Having now reached the end of the term during which Flatter was retained by us, I am afraid we shall have to discontinue the regular payments. Unfortunately during this period there has been practically no demand for his kind of work [...]”43 Spätere Aufträge des Ministeriums lassen sich nicht belegen.44 Nachweislich (jedoch nicht von ihm selbst 39
Zit. aus World’s Press News (London). 2.1.1941. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die in der anarchistischen Freedom Press erschienene radikalpazifistische, gegen den britischen Staat scharf oppo-nierende Cartoonfolge: The March of Death. Drawings by John Olday. London 1943. 41 Memorandum von R. A. Bevan, M. of I, Institute of Education, London, an Mr. Surrey Dane, M. of I., vom 17.10.1939 mit Eingangsstempel vom 3.1.1940. In: Geheimakte des M. of I., Konvolut von Briefen, Fotos, Notizen betr. Flatters Tätigkeit für das M. of I. 1941. IWM London. Dept. of Art. Inv. Nr. GP/46/51/1. 42 Die Erwähnung eines Low-Cartoons (“this is the kind of thing I have in mind”) in einem internen Schreiben von George Butler an E.M. O’R. Dickey, dat. 1.4.1941 und in einem weiteren, dat. 24.3.1941, heißt es: “None of the sketches so far produced by Flatter have been used [...].” In: Geheimakte des M. of I. A.a.O. 43 Ebd. Internes Schreiben von Butler an Dickey, dat. 8.5.1941. Möglicherweise wurde Flatter über die wahren Gründe seiner Ablehnung nicht informiert. 44 Siehe Public Record Office, Kew, London. Der bei McEwan (McEwan/Joseph Otto Flatter. A.a.O. S. 110.) erwähnte dort befindliche, angebliche Nachweis für 40
107 erwähnt) arbeitete er nur für das National Jewish Monthly,45 und während des Krieges wurden seine Hitler-Karikaturen noch einmal im Zentrum der österreichischen Emigranten in London ausgestellt.46 Es ist nicht ganz auszuschließen, daß Flatter später doch wieder in britischen Diensten arbeitete, auch wenn keine entsprechenden Archivalien überliefert sind. Dafür spricht die enorme Zahl seiner Cartoons, die in der Mehrzahl die gleichen typischen, reprofähigen Gestaltungsmerkmale aufweisen wie beispielsweise die Originalzeichnungen von Vicky.47 Offensichtlich jedenfalls bewerteten der Produzent und die Auftraggeber die Arbeiten ganz unterschiedlich. Flatter war stolz auf seine Zeichnungen, sah diesen Teil seines Oeuvres – ich denke, zu recht – als seinen wichtigsten an. Für den englischen Geschmack freilich waren sie wohl allgemein zu drastisch, ließen sie das gewisse Understatement vermissen. Außerdem waren die von Flatter und anderen Exilierten auffällig häufig verwendeten, elaborierten satirischen Kunstgriffe des ironischen Zitierens oder des Visualisierens von Metaphern nicht unproblematisch, weil dafür ein Publikum benötigt wurde, das Herkunft von Zitat und Metapher kannte. Dies war die Voraussetzung, um die komische Brechung nachvollziehen zu können. Also zuviel Nibelungensage und Richard Wagner, zuwenig Shakespeare, zu viele Insider-Wortspiele (z.B. “Die Schicklgrube”, in die die deutschen Soldaten fallen, eine Anspielung auf Hitler alias Schicklgruber auf den sie “reinfallen”),48 zu wenig antideutsch, zu differenziert antinazistisch, oder wie der für Flatter zuständige George Butler vom seine undercover-Mitarbeit ist ein von ihm illustriertes Titelblatt des “Messager de la Liberté. Une Revue anglo-belge” (FO 898/498), das nur belegt, daß er für die von britischer Seite unterstützte, belgische Exilregierung einmal tätig war. 45 Siehe das oben genannte Schreiben vom 24.3.1941. 46 Ausstellung des Austrian Centre im Swiss Cottage, London vom 3.-25.6.1944 (siehe: Österreicher im Exil. A.a.O. S. 355.). 47 Querformatige Tuschezeichnungen auf leichtem Karton (strapazierfähiger als Papier): schwarzer Rahmen, Figuren mit geschlossenem Kontur und Schattierungen mit Schraffurgerät über Bleistift, vereinzelt Einfärbung von Flächen mit blauer Wasserfarbe, blauem Farbstift oder Graphitschattierung (dient üblicherweise für den Drucker als Hinweis, daß diese Partie grau zu drucken, d.h. entsprechend dicht zu rastern ist), vereinzelt Korrekturen mit Deckweiß und Zahlenangaben außerhalb des Bildrahmens mit Bleistift (typische Druckervermerke), häufig maschinen-schriftliche Bildtexte montiert. – Die meisten Zeichnungen sind allerdings nicht nur als Reprovorlagen für den Druck, sondern – vor allem die aquarellierten Cartoons – auch zur Präsentation in einer Ausstellung geeignet. 48 Walter Trier: Die Schicklgrube (Cartoon). In: Die Zeitung, 12.11.1941. Mit dem Wortspiel wird auf die uneheliche Herkunft von Hitlers Vater und auf das (nie verifizierte) Gerücht von dessen jüdischer Abstammung angespielt.
108 Ministry of Information in bezug auf dessen abgelieferte Proben formulierte: “Most of this [last batch of sketches] are a bit too complicated”?49 (siehe Abb. 12). Viele Cartoons von Flatter sind komplexe, mehrfach verschränkte visuelle Metaphern. Bereits der Titel des hier gezeigten Cartoons “A horse, a horse, the Third Reich for a horse” (siehe Abb. 12)50 ist ein sowohl emphatisch metaphorisches als auch wörtlich lesbares und zugleich ironisch aktualisiertes Zitat aus Shakespeares King Richard III. Der Clou beruht nicht allein darauf, daß eine Analogie zwischen Hitlers und Richards Schicksal hergestellt wird. Flatter mag auch an die unglaubliche Geschichte Münchhausens gedacht haben, der erst als er sein Pferd tränkte und das Wasser aus diesem sogleich wieder herausplätscherte, bemerkt haben will, daß er auf einem halben Pferd saß. Lügenbaron Hitler redete sogar noch vom Endsieg, als nach Ansicht der verantwortlichen Militärs bereits alles verloren war. Eine Liste der von seinem Auftraggeber gewünschten, von Flatter aber nicht aufgegriffenen Themen zeigt, daß man mehr an tagespolitisch Konkretem, aus britischer Perspektive außenpolitisch Relevantem – wie z.B. der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung in Vichy-Frankreich – interessiert war51 als an allgemeinen Statements zur NS-Ideologie oder an einem Psychogramm von Hitler und Konsorten. Deswegen war Vicky auch ungleich erfolgreicher: er las nicht Mein Kampf, sondern die britische Presse und Alice in Wonderland, lernte englische Kinderreime sowie Shakespeare auswendig, war ein Musterbeispiel perfekter Akkulturation. Der Preis dafür war allerdings zu hoch: Um dem Zustand der ihn seit seiner Emigration quälenden Schlaflosigkeit und der permanenten Angst vor Kreativitätsverlust zu entrinnen, wählte er 1966 den Freitod. Vicky, als Cartoonist im britischen Exil so erfolgreich wie kein anderer Emigrant, scheiterte letztendlich am Exil. Wie Flatter hatte er seine Cartoons auch (allerdings seltener) mit Shakespeare-Zitaten unterlegt, hütete sich aber – so weit ich sehe −, sie Hitler in den Mund zu legen, denn auch der blutigste Tyrann besitzt bei Shakespeare noch tragische Größe. Zweifelsohne gab es nicht nur für die Dichter, sondern auch für diejenigen, die auf die Sprache des Bildes setzten, im Exil ein Kommunikationsproblem. Die angewandte Graphik der Emigranten, vor allem im Be49
Internes Schreiben von George Butler an E.M. O’R. Dickey, dat. 1.4.1941. In: Geheimakte des Ministry of Information. A.a.O. 50 “A horse, a horse, my kingdom for a horse [...]. A horse, a horse, a kingdom for a horse.” Zitiert aus: William Shakespeare: King Richard III. 5. Akt. 4. Szene. 51 Internes Schreiben von Butler an Dickey, dat. 24. 3.1941. In: Geheimakte des M. of I. A.a.O.
109 reich der Buchgestaltung und Textillustration, fand wesentlich leichter Anerkennung und trotzdem hatten Zeichner und Graphiker gerade im Exil das Bedürfnis, sich mittels satirischer Cartoons mitzuteilen. Fechenbach, Nessler, Flatter, Trier, Vicky und Ziegler fühlten sich aufgefordert, Stellung zum Zeitgeschehen zu beziehen – ein Faktum, das nicht nur in der Exil-Forschung entsprechend gewürdigt werden sollte. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die satirische Darstellung Hitlers zu den bevorzugten Sujets der Emigranten zählte. Auf Grund ihres “Insider”-Wissens – etwa durch die Lektüre von Mein Kampf oder die Kenntnis der Hitlerschen Selbstinszenierungen für Pressefotos und für die Wochenschauen aus den NS-Medien – gehören ihre Cartoons gerade im internationalen Vergleich zu den psychologisch überzeugendsten und, da sie kaum Tagesaktualitäten illustrierten,52 zu den über den Tag hinaus interessanten Resultaten. Den Fotomontagen Heartfields im englischen Exil wird ein Qualitätsverlust nachgesagt, der gerade auf mangelndem Nachschub an entsprechendem Fotomaterial beruhe. Dies mag gleichwohl zutreffen, erhielt er als Kommunist doch nicht die offizielle, geschweige denn geheimdienstliche Unterstützung, die den Cartoonisten der Zeitung nach dem britischen Kriegsbeitritt zuteil wurde. Trotz der keineswegs randständigen Produktivität der Emigranten auf dem Gebiet der War-Cartoons, tat sich Großbritannien, wie der Fall Flatter damals und die englische Geschichtsschreibung heute zeigt, schwer mit deren Cartoons. Es war keine Frage des Stils, wie beim deutschen Expressionismus, mit dem viele Briten sich bis heute nicht anfreunden mögen. Und es lag nicht daran, daß die Exil-Cartoons entweder zu harmlos bieder oder aber zu agitatorisch gewesen wären – auch wenn etliche Cartoons nicht nur mit dem Gift der Satire, sondern auch mit einer Dosis tödlichen Haßes imprägniert waren. Vor allem die deutschsprachigen Cartoonisten im britischen Exil verwendeten antithetische Bildprinzipien, und zwar nicht bloß in emotionell aufputschender, agitatorischer Intention, sondern weit häufiger im Sinne einer visuellen Argumentation von Ursache und Wirkung. Sie setzten wohl auch wie alle Cartoonisten auf die bildmagische Wirkung von Karikatur (“Tötung in effigie”) und visualisierter Metaphorik, jedoch innerhalb einer Strategie der Verfremdung. Mit Verfremdung im engeren Sinn wird ein dialektisches ästhetisches Verfahren bezeichnet, bei dem vermeintlich Selbstverständliches (These) mit Unbekanntem konfrontiert (Antithese) und dadurch in Frage gestellt, 52
Dies bestätigt aus Produzentensicht auch Flatter: “Though I had read much of the enemy’s literature and had listened regularly to his propaganda, the subjects I drew had seldom a direct connection with what I read or heard.” (Flatter: A Painter’s Monologue. A.a.O. S. 57.)
110 somit beim Rezipienten eine kritische Aufmerksamkeit erzeugt wird, die dann – geglückten Falls – in Erkenntnis (Synthese) umschlägt.53 Wesentlich für den sogenannten V-Effekt, wie ihn Bertolt Brecht bezeichnete,54 ist die seinem Einsatz zu Grunde liegende kritische Intention, der aufklärerische Impetus. Trotz aller Unterschiede im Einzelnen appellierte das Gros der Cartoons von Trier, Flatter, Nessler und Ziegler tendenziell eher subtil psychologisierend an den Intellekt, statt plump agitierend an das Gefühl. Aus der indirekten Sprechweise der bildsatirischen Kritik sollten die Betrachter selbst ihre (naheliegenden) Schüsse ziehen. Die Bildrhetorik der Emigranten war differenziert und kaum mit einem kurzen Blick zu erfassen. Ihre satirischen Cartoons standen der Tradition deutscher Aufklärung nahe und lassen sich auf keinen Fall in eine anti-aufklärerische Entwicklungslinie einordnen, die nach einer nicht selten anzutreffenden angelsächsischen Sicht angeblich von der Romantik des 19. Jahrhunderts über Hitler bis Beuys reicht.55 Eher ist auch hier das am Werk, was Martin Warnke als Spezifikum des Lebenswerkes von Ernst Gombrich diagnostizierte und darüber hinaus in der von der “Gesamtheit der in die Emigration gezwungenen Kunsthistoriker” praktizierten “Umgangsform mit Kunst und visueller Kultur” zu erkennen meinte – der rationalistisch kritische Geist. “In dieser Umgangsform ist [...] das mündige Denken und Urteilen nicht ausgeblendet und beruhigt, sondern herausgefordert,” so Warnke in seiner Laudatio zur Verleihung des Frankfurter Goethe-Preises an Gombrich.56 Die Erfahrung des Exils schafft notgedrungen den Abstand, der unabdingbar ist, um kritisch urteilen zu können.
53
In Ernst Blochschen Metaphern ausgedrückt: “Wonach gegebenenfalls die Schuppen von den Augen fallen [...]. Eben mittels des Verfremdungs-Effekts, der dialektisch umschlagend eines des Aha-Erlebnisses werden kann [...]”. Ernst Bloch: Entfremdung, Verfremdung (Kapitel aus: Verfremdung I, Janusbilder). In: ders.: Literarische Aufsätze. Frankfurt a.M. 1965. S. 277-283, hier S. 278 und S. 283. 54 Bertolt Brecht: Kurze Beschreibung einer neuen Technik der Schauspielkunst, die einen Verfremdungseffekt hervorbringt. In: ders.: Versuche 11. Berlin (West), Frankfurt a.M. 1960. S. 89-105, hier S. 96 und S. 102. 55 Siehe die 1994, bei der zweiten Station der Ausstellung “The Romantic Spirit in German Art 1790-1990” in der Londoner Hayword Gallery entbrannte Kontroverse um das “Wesen” deutscher Kunst (Christoph Vitali/Hubertus Gaßner: Einführung in die Ausstellung in München. In: Ernste Spiele. Der Geist der Romantik in der deutschen Kunst 1790-1990. Ausstellungskatalog Haus der Kunst München. Hrsg. von C. Vitali. Stuttgart 1995. S. 8-11, hier S. 10f.). 56 Martin Warnke: Aufklärung gegen Andacht. Der Kunsthistoriker Ernst H. Gombrich erhielt den Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main. In: Die Zeit. 2. 9.1994.
111
Abb.1: Robert Ziller (d.i. Richard Ziegler): Roosevelt (Cartoon). Zum heutigen amerikanischen Unabhängigkeitstag. In: Die Zeitung, 4.9. 1941, Stadt- und Univ. Bibliothek Frankfurt a.M.
112
Abb. 2: Walter Trier: “Hier bietet sich Gelegenheit, Euch die Lage am Kriegsschauplatz zu erklären” (Cartoon). In: Die Zeitung, 23.4.1943, Stadt- und Univ. Bibliothek Frankfurt a.M.
113
Abb. 3: Vicky (d.i. Victor Weisz): Into Germany (Cartoon). In: The Pen is Mightier. The Story of the War in Cartoons. Edited by Joachim Joe Lynx. London: Lindsay Drummond 1946. S. 124.
114
Abb. 4: Walter Nessler: A(dolf), 1. Seite aus: Ders.: [Hitler] ABC. Dresden 1937. 21 gebundene Blätter aus braunem Karton mit kreisrunden, mont., aquarellierten Tuschfederzeichnungen, Kl.-8°, im Besitz der Walter-Nessler-Stiftung, Pulsmitz.
115
Abb. 5: Heinrich Hoffmann: Hitler übt eine Rede (Fotografie). 1927. Bayerische Staatsbibliothek München.
116
Abb. 6: Hermann Fechenbach: Der Führer = Blatt 2. Aus: Ders.: My Impressions as Refugee. Isle of Man, Oxford, London 1941-46. 21 Linolschnitte, 19,8 x 13,8 cm. Stadtarchiv Stuttgart.
117
Abb. 7: Joseph Otto Flatter: ohne Titel. (Hitler besteigt den Thron, vor ihm verbeugen sich Wissenschaft, Kunst, Verwaltung, Armee, Kirche, Junker u.a.), undat., wohl Januar 1945. Tuschfeder, Schraffurgerät, Wasserfarbe koloriert, 48 x 58 cm. Imperial War Museum London.
118
Abb. 8: Joseph Otto Flatter: MEIN KAMPF. Chapter VIII. The Beginning of My Political Activities, dat. 1939. Tuschfeder, Schraffurgerät, Wasserfarben, Texte montiert, 58,8 x 43,4 cm. Imperial War Museum, London.
119
Abb. 9: Joseph Otto Flatter: ohne Titel (Hitler als Schuljunge), sign., undat. (um 1940). Tuschfeder und Schraffurgerät, mit Wasserfarbe koloriert, 48,1 x 55,6 cm. Imperial War Museum, London.
120
Abb. 10: Joseph Otto Flatter: Titelblatt zu “Mein Kampf Illustrated”, 1938. Tuschfeder und Schraffurgerät, mit Wasserfarbe koloriert, 32 x 52 cm. J. O. Flatter Estate, Pulborough/England.
121
Abb. 11: Deutsches Propaganda-Flugblatt für die Amerikaner an der Westfront, Dez. 1944, aus: Klaus Kirchner: Flugblätter – Psychologische Kriegsführung im Zweiten Weltkrieg in Europa. München 1974. S. 109.
122 Abb. 12: Joseph Otto Flatter: “A horse, a horse, the Third Reich for a horse”. (Shakespeare, Richard III), sign. und undat. (1945?). Tusche, Feder, Schraffurgerät, hellblaue Kreide, 33,5 x 51 cm. Imperial War Museum London.
Abb. 12: Joseph Otto Flatter: “A horse, a horse, the Third Reich for a horse”. (Shakespeare, Richard III), sign. und undat. (1945?). Tusche, Feder, Schraffurgerät, hellblaue Kreide, 33,5 x 51 cm. Imperial War Museum London.
Deborah Vietor-Engländer
Alfred Kerr’s Unknown Film Scripts Written in Exile The Famous Critic and His Change of Genre Before he went into exile, Alfred Kerr was the most prominent theatre critic of the Weimar Republic and had also published lyric poetry, travel books, and opera libretti. In exile be began to write film scripts and works connected with Judaism. He chose topics for his films, which were connected with his host countries’ history. Several of these film scripts were discovered recently and have never before been examined. This paper analyzes the true tragedy of what was destroyed when he was forced into exile, the tragedy of his change of genre evident in unsuccessful film scripts. Ich schäme mich nicht zu sagen, daß ich gern (aber halten Sie sich fest) einen Versuch als Filmschauspieler machen würde.1 Alfred Kerr
Not long ago, the author of When Hitler stole Pink Rabbit, Judith Kerr, found an old suitcase of her mother’s. Among other things it contained copies of three film scripts that her father wrote which had never been seen before. Three of his other scripts are not completely unknown, two are in the Alfred-Kerr-Archiv and one was published in an exile periodical in 1938, but these three are entirely new. What caused a well-known theatre critic who had also written literary criticism, lyric poetry, and travel books to begin writing film scripts? If not precisely riches to rags, it was something very close to that. Alfred Kerr, at the height of his power, if not his popularity, was forced to flee Germany at the age of 65. Warned by a police official who admired his works that his passport was about to be confiscated, he left for Prague on 15th February 1933 despite a severe attack of influenza and went on from there to Zurich. His wife and children joined him in Switzerland and they had settled in Paris by the end of 1933. Not only was Kerr at an age when people start to think of retirement, he had unusual responsibilities for a man of that age, since his wife, a composer, was thirty-one years younger than he was and he had two children of twelve and nearly ten. 1
Alfred Kerr to Rudolf Kommer, 21 July 1934. Alfred Kerr Archiv, Akademie der Künste Berlin, in the following abbreviated as AKA.
124 To exacerbate the situation, Kerr received particularly shabby treatment from his former employer, Hans Lachmann-Mosse of the Berliner Tageblatt, who sent him his notice (received on 20th March) and even tried to avoid paying him his salary for March, although Kerr had been the paper’s star critic for nearly fourteen years. Kerr had never been particularly concerned with money. Ever since he began writing for the Magazin für Literatur and other papers in 1894 at the age of 27 he had had ample for his own needs and had helped to support his parents as well. He had never attempted to buy a house or to accumulate wealth but had made an excellent living for his family throughout the years of the Weimar Republic. Now the shock was all the greater, as he was obliged to think primarily of how to earn a living for four people by his pen outside of his linguistic background. In addition to this he was not a particularly practical man. He wrote to his wife on September 9th 1933 from Paris (to Küsnacht): “Ich zweifle nicht, daß auch das Finanzielle, worin ich Außenseiter bin und bleibe, sich in dieser Stadt machen wird.”2 While he was still in Switzerland, Kerr wrote a desperate letter on April st 1 1933 from Lugano-Cassarate Hotel du Midi Pension to Señor Luis Araquistain, a dramatist who was evidently the Spanish Ambassador in Berlin: Lieber Herr Araquistain, meine Familie und mich hat ein furchtbares Schicksal getroffen. Die nat.-soz. Behörde verbietet, daß irgendein Beitrag von mir in der Presse erscheint. Darauf hat das „Berliner Tageblatt” (wahrscheinlich unter Zwang) sofort jede Beziehung mit mir abgebrochen und meinen Vertrag (der seit 14 Jahren besteht) fristlos gelöst – mitten im Monat. Heute, am 1. April, erfolgt keine Zahlung mehr. In wenigen Tagen werden meine Kinder hungern, und wir fliegen aus dem Hotel. Dazu ist meine kleine Tochter schwer krank. Wenn die Not der nächsten Tage beseitigt ist (ich weiß nicht wie!) muß ich mir eine neue Existenz gründen. Hat Ihre Regierung die Möglichkeit zur Hilfe für jemanden, der ein Buch über Spanien geschrieben hat? Giebt es ein Stipendium für politische Flüchtlinge? Oder kann ich für die spanischen Filmunternehmungen das Amt eines dramaturgischen Beraters ausüben? (ich habe – verzeihen Sie die Unbescheidenheit – als Kritiker einen europäischen Ruf), ich könnte u.a. sogar Dialoge und Zwischentitel für den Tonfilm schreiben. Nötigenfalls pseudonym. Oder wissen Sie ein anderes Mittel? Das Dasein hat mir einen bösen uppercut gelandet – aber ich bin gewillt, mich nicht auszählen zu lassen. Mir selbst wäre zwar alles wurst; aber für die Meinen ist es eine Sache sozusagen auf Leben und Tod. Ich grüße Sie und Frau A. herzlich. (Nachsatz Maschine:) Ist es Ihnen möglich, selbst oder durch eine Mittelsperson in diplomatischen Kreisen, die literarisch interessiert sind, unter Discretion 2
AKA.
125 einen Betrag zu sammeln, der meine Angehörigen aus dieser schrecklichen Lage befreit, und ihnen das Notdürftigste zum Leben giebt. Ich wäre Ihnen für immer dankbar.” Handwritten postscript: “Es ist grauenhaft solche Worte schreiben zu müssen. And Julia Kerr added a note: “Liebe Frau Araquistain, es geht uns unglaublich schlecht! Ich bin verzweifelt! Ihre Julia Kerr.3
After six weeks of exile the Kerrs had little or no money left. One of the reasons for the disastrous financial situation was the illness of their daughter Judith. She was in critical condition, making it impossible for the family to leave the hotel. “Anna Judith, genannt Puppi, zehn. Schwerste Wochen in Lugano; Puppi wird krank; Angina; Fieber; Lebensgefahr. Furchtbare Zeit.”4 Araquistain replied on April 8th 1933 on writing paper of the Spanish Embassy in Berlin (writing paper Embajada de España en Berlin): Lieber Dr. Kerr! Die Umstände, die Sie mir in Ihrem Briefe schildern, berühren mich tief, und ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, abzuhelfen. Ich werde nach Madrid schreiben und ganz besonders Ihren Fall empfehlen. Da ich jetzt nach Spanien zurückkehre – auf Grund eines neuen Gesetzes, daß das Mandat eines Abgeordneten und meinen Posten hier als für unvereinbar erklärt, und in Anbetracht eines Abkommens meiner Partei, auf diesen Posten zu verzichten, – werde ich mich persönlich mit Ihrem Falle beschäftigen, falls Sie vorher noch nichts Günstiges darüber in Erfahrung gebracht haben sollten. Sie wissen ja, wie alt und tief meine Zuneigung und Verehrung für Sie ist. Ich vergesse auch nicht die überaus feine Art, mit der Sie meiner Ernennung begegneten. Noblesse oblige. Daraus können Sie verstehen, wie tief mein Mitempfinden jetzt ist, und was ich tun werde um Ihnen in irgend einer Weise nützlich sein zu können. Herzliche Grüße für Frau Kerr und ihnen einen ergebenen Gruß von Ihrem Freund 3
Alfred Kerr: Werke in Einzelbänden. Vol. 1. 2. Erlebtes, Reisen in die Welt. Berlin 1989. On p. 357 we find: “mit uns war Araquistain”, and p. 362 : “Araquistain, Mitte Dreißig, der in der Neuen Welt und in London gelebt hat, versucht im Drama, was Pedroso kritisch versucht: den Stoß vorwärts. Auf zwei Bühnen hintereinander wurde sein Stück “Remedios heróicos” gespielt.” The letter is in the AKA. 4 Alfred Kerr: Die Diktatur des Hausknechts. Frankfurt a.M. 1983. p. 34.
126 Luis Araquistain Luis Araquistain´s wife has added, by hand: Auch ich bin so traurig, hege aber einen leisen Hoffnungsschimmer, Sie in Spanien wieder zu sehen. Von Frau B. Bermann wußte ich, daß Ihre Kleine so krank war, hoffentlich geht es ihr wieder besser. Viel Liebes für Sie beide Ihre Tr. A.5
But Araquistain does not seem to have been able to do anything. After his daughter’s recovery, Kerr took his family to Paris. France was an obvious first choice for him as he had spoken fluent French from childhood and had always felt at home in France: “Chaque homme a deux pays, le sien et puis la France.”6 The exile newspaper Pariser Tageblatt printed his articles, but the compensation he received was inadequate for the support of a family of four in Paris. He also wrote for French papers such as Aux Écoutes and Les nouvelles littéraires, Le Soir, Le Rempart and Le Temps but publications were sporadic, and did not provide much income. Given his financial situation, Kerr obviously had to investigate other ways of making a living. One of his first ideas for earning extra income was to write film dialogues. And it is not surprising that he thought of writing film scripts. He had always been interested in film as a genre. An essay on film in Pan as early as 1913 described the attraction silent films had for him. He discovered a world of images where he could be genuinely moved by them without language – language would turn the scene into Kitsch, a mood was created by the images which would be destroyed by language: Ich bin ein abgehärteter Theatergast, kenne viele Sorten von Wirkungen – und fliege doch auf eine Lichtspielbegebenheit [...]. Hier wird aber kein Wort geredet, die stärkste Möglichkeit zur Störung somit ausgeschaltet.7
Eight years later, in 1921, he wrote several essays on film for the Berliner Tageblatt and in 1927 he wrote a 25 page foreword to a volume of stills entitled Russische Filmkunst.8 Kerr was important enough in the film world to be one of the members of the Filmprüfstelle and hence one of the judges
5
AKA. Alfred Kerr: Ich kam nach England. Bonn 1979. p. 181. 7 Alfred Kerr: Werke in Einzelbänden. Vol. 3 Essays. Berlin 1991. p. 345. 8 Alfred Kerr: Der Russenfilm. Foreword to: Russische Filmkunst. Reprinted in: Werke. Vol. 3 (see note 7) pp. 368ff. 6
127 for Panzerkreuzer Potemkin which was made in 1925 and shown in Germany in 1926.9 It was “das tiefste Filmerlebnis der gesamten zwanziger Jahre”.10 Kerr resigned from his position in the Filmprüfstelle when it was forbidden. It is typical of him that he commented on this in a poem “Der Potemkin-Film”: Ich habe darum auf alle Fälle Heiter-bewegt Mein Amt in der Film-Oberprüfstelle Niedergelegt. Wenn wir völlig vergebens berieten: Wenn über Kino-Treffer und -Nieten Jesuiten gebieten - Soll sich das Reich einen andren mieten!11
As a member of the Filmprüfstelle he was very concerned with the new medium and saw a great many films. Consequently, when he began to write scripts he had a very clear idea of what films should achieve, for example “Tatsachenfilme” rather than “Dichtungsfilme”.12 The degree of his reflection on the comparatively new medium film is also evident in his exile essay on the influence of German nationalism and militarism on the theatre and film of the Weimar Republic.13 To further understand his motives to write film scripts, one must consider Kerr’s complete confidence in his own powers. In his first article after his flight from Germany he has suddenly become aware of his own situation: In Prag seh’ ich zwei Franzosenstücke... beide deutsch gespielt... Hinten in einer Loge versink’ ich in Düsternis; jählings fällt mir auf: ich bin nicht mehr Kritiker in Berlin! Nun – man dürfte doch die Wahrheit schwerlich dort sagen. Im übrigen (pathosfrei gesprochen) ich weiß, daß es keine Rückkehr gibt. Ich frage mich: “Was sollen bloß die Theater in Berlin ohne mich anfangen!” (my emphasis, DVE) Ulkig – was? (Nicht ganz für den, der es fühlt.) 9
Ibid. p. 373. Ibid. p. 411. 11 Werke. Vol. 4 Gedichte. pp. 62-3. 12 Werke. Vol. 3. p. 378. 13 Ilse Newbery: Alfred Kerr und die BBC. German Life and Letters 38 (1984-5). pp. 268-9, says he started working on this on 24 April 1944 for the BBC. 10
128 […] Man geht nicht zum Vergnügen ins Exil.14
The excerpt shows his shock, but also the vanity of his selfperception. Having lived by his pen since his twenties, he had now been deprived of what was most basic to him: the written language. He had lost his audience, and that may have provided another impetus to enter a world of film images as an alternative. While in Paris, he was able to write theatre criticism for a minimal audience, but this became impossible in London. Kerr tried to establish contact with film producers at an early stage. On September 17th 1933 he wrote to his wife about a planned meeting with the film producer Erich Pommer in Paris: Maus, was machst Du? Ich habe ziemlich oft eine blöde Sehnsucht nach Dir. Ich bin ein alleinstehender Jüngling; dazu eine Vollwaise; sehe kaum einen Menschen; und Herrn Pommer, dessen Brief mich für morgen zu sich bittet, kann ich doch nicht abknutschen! Viel lieber Dich – darin bin ich komisch.15
And he was just as confident that he would be able to achieve a great deal on the other side of the footlights. He wrote to Berthold Viertel: Ich werde den Film – wie er heut zwischen Europa und Hollywood lebt – auf neue Beine stellen. Er hat schlagend (im volkstümlichen Sinn), aber zugleich dichterisch zu sein. Eine Arbeit (Ausarbeitung), die ich so gut wie beendet habe, macht den Anfang.16
Not only was Kerr convinced of his own powers, he was always ready to try something new and was eager for new experiences (This was evident after the war, shortly before his death when, at the age of eighty, he was given the chance of flying for the first time, to Germany, and grasped it with both hands. The flight could have been one of the reasons for the final stroke he suffered after arriving in Hamburg.) As far as films were concerned, he commented in a letter to Rudolf Kommer on July 21st 1934: “Ich schäme mich nicht zu sagen, daß ich gern (aber halten Sie sich fest) einen Versuch als Filmschauspieler machen würde.”17
14
Alfred Kerr: Empfindsame Flucht. Die ersten Worte nach dem Weggang aus Deutschland. In: Les Nouvelles Littéraires. 1 July 1933 under the title “Voyage Sentimentale” (AKA) and in: Die Diktatur des Hausknechts. 1934 and Frankfurt a.M. 1983. pp. 28-29 and 35. 15 AKA. 16 Letter to Viertel, 30 July 1935, AKA. 17
Letter to Rudolf Kommer, 21 July 1934, AKA.
129 He was prepared to try anything once. And it would not be true to say that he had been only a theatre critic before 1933. After completing a Ph.D. on Clemens Brentano in 1894 he began his career as a literary critic and later progressed to theatre criticism. He also published two volumes of lyric poetry and a number of travel books, one of which became important for his first film script. According to his daughter's fictionalized version of these years (When Hitler stole Pink Rabbit) the first film script was inspired by a conversation with the children about Napoleon.18 In the novel, Kerr was listening to his children learning vast quantities of dreary facts about Napoleon by heart as part of their homework,19 not realizing how exciting it was. He then told them about it “‘It’s just like a film,’ said Max. ‘Yes’, said Papa thoughtfully. ‘Yes, it is.’”20 This is of course a fictionalized version, in fact he was trying to use his own experience of Corsica. He had taken a lengthy trip to Corsica from May to August 1932 and published a number of articles about it in the Berliner Tageblatt.21 He turned these articles into the travel book Eine Insel heißt Korsika, his last book published in Germany in 1933, the copyright is dated 1932. A good deal of the material he used for the script is already in this book. He had always been interested in the figure of Napoleon: “Ich habe die Stätten seiner Kindheit durchstöbert; den Eindruck seiner Eindrücke gesucht.”22 While it would not be fully accurate to say that the exile experience alone inspired Kerr to write the film script, the transitory nature of power, fame and wealth emphasized in the text were certainly inspired by the exile situation. On the other hand, he was trying to use the history of his host country France with concrete hopes to make the script marketable. Ultimately, however, it was not sold in France, but purchased by Alexander Korda in London. Kerr devotes large sections of Eine Insel heißt Korsika to Napoleon’s mother Letizia,23 and she became the main figure of his film script: Alles ein ungeheures Sinnbild: für Aufstieg, Gipfelung, Sturm. Höhe und Tiefen. Ein großes Gleichnis irdischer Vergänglichkeit. (Aber nicht ohne Humor). 18
Judith Kerr: When Hitler stole Pink Rabbit. London 1971. 1974 paperback ed. p. 173. 19 Ibid. pp. 165-6. 20 Ibid. note 18, p. 166. 21 Articles in the Berliner Tageblatt on 29 May; 8 June; 13 June; 25 June; 11 July (Napoleon); 18 July; 8 August; 16 August; and 25 August (1932). 22 Alfred Kerr: Eine Insel heißt Korsika. Berlin 1933. p. 62. 23 Ibid. note 22, pp. 67-70.
130 Der Kern ist: DIE MUTTER. Die Vorgänge spielen zum Teil in einer Natur von schroffster Bergwildnis und Meeresschönheit; mit Maultierglocken, Sonnenglut und Wirbelwind. Auch mit heimattreuen Banditen und Schießkünstlern...” And he notes on the typescript by hand: “Ich habe hier dem Historischen manches zugefügt. Doch jeder (Sonder-) Zug ist historisch berechtigt. Im Kern beweisbar. Historischer Film – mit Beigaben. Copyright 1935 by Dr. Alfred Kerr.”24
Kerr summarizes at the beginning: Dieser Entwurf will den Film auf eine neue Basis stellen (in seinem Gemisch von Tragik und Humor): Er will das Volkstümliche verschmelzen mit dem Dichterischen; Er will die Repliken schlagend machen; Er will dem Wort einen ernsteren Platz einräumen.25
This introduction to the script expresses self-confident goals similar to those stated in his letter to Viertel, but also emphasizes his opinion that there was room for improvement in the quality of language used in films. Kerr was convinced he could do better than other scriptwriters and, the text, indeed, is of high quality. It is particularly effective in the sequence of the scenes, the changes between poverty, wealth and poverty again and the atmosphere of Corsica which pervades the entire script. Kerr’s own sudden realization of the transitory nature of wealth gives the script a passionate depth complemented by the portrayal of the strength of women in critical situations. It is possible that Julia Kerr’s support of her husband in the early years of their exile influenced the text here. Alexander Korda may have been aware of Kerr’s desperate financial situation and purchased the script out of charity, but it is more probable that he realized that it could be the basis for a successful film. Berthold Viertel, whom Kerr also approached about the film, certainly showed no signs of a charitable reaction. His treatment of Kerr as described in the letter already quoted made Kerr realize how his position in exile had changed: Sehr geehrter Herr Viertel, mein Brief aus Paris blieb ohne Antwort. Ich staune. Sind Sie sich über den Sachverhalt klar? Der Sachverhalt: 24 25
MS in the AKA. MS in the AKA.
131 Sie kommen in ein Hotel, wo ich einen Filmplan entwickeln soll. Ich weiß nichts von Ihrer bevorstehenden Anwesenheit, die ich nicht erbeten habe, doch ist sie mir durchaus erwünscht. Das Thema hat Ihnen Francesco mitgeteilt. Sie sagen, daß Ihre Frau einen verwandten Stoff bearbeitet. Sie erklären, während Sie meinen Filmplan bis in die Einzelheiten anhören, über den Ihrer Gattin keinerlei Auskunft geben zu können. Sie ersuchen mich das Mscpt zu übersenden. Sie würden es einer Gesellschaft empfehlen, aber nicht Regie führen. II Ich unterlasse die Zusendung. Grund: es wirkt ungünstig auf eine Filmgesellschaft, wenn jemand sagt: “Hier ist ein Projekt – aber ich mache nicht mit”. Dies ist auch die Ansicht meiner Freunde. Die Zusendung unterbleibt. III Darauf kommen Sie (im Savoy-Hotel) an mich heran; ersuchen nochmals um die Zusendung des Mscrpts (auch eines andren). Jetzt sagen Sie: es sei garnicht ausgeschlossen, daß Sie Regie führten. Erst daraufhin erhalten Sie am nächsten Tage das Mscpt. (Das andre zugleich). IV Von jetzt ab erfolgt nichts. Ich schreibe von Paris an Sie: was aus der Sache geworden ist. Sie antworten mit keinem Brief, mit keiner Zeile, mit keinem Wort. Das ist gegen meine Gewohnheiten. Ihr Anteil an dem Filmplan war sehr freundlich; die Nachwirkungen sind es weniger. Es ist ein Irrtum, meinen Fall auf die leichte Achsel zu nehmen. Ich werde den Film – wie er heut zwischen Europa und Hollywood lebt – auf neue Beine stellen. Er hat schlagend (im volkstümlichen Sinn), aber zugleich dichterisch zu sein. Eine Arbeit (Ausarbeitung), die ich so gut wie beendet habe, macht den Anfang. Ich habe bei dem kurzen Besuch in London zwar Beziehungen zur englischen Presse, jedoch im Film nichts erreicht. Das wird vermutlich anders, wenn ich im September (oder Ende August) wieder in England bin. Es ist wahrhaftig nicht zuviel verlangt: in einer Sache, die auf Ihre Veranlassung erfolgt ist, wenigstens ein Wort der Auskunft zu haben. Hochachtungsvoll Kerr Menschlich fesselt mich bei alledem die (vielleicht auch Sie fesselnde) Frage: ob Sie vor zehn oder zwölf Jahren einen Brief von mir unbeantwortet gelassen hätten.26
Ultimately, Alfred and Julia Kerr went to London in October 1935 and moved there more or less permanently in December 1935, the contract with
26
Letter of 30 July 1935, in: Deutsches Literaturarchiv Marbach 69.2512/2
132 Korda was signed in January 1936.27 As late as 1946, Kerr was still hoping that Korda would make the film.28 Korda’s film The Private Life of Henry VIII in 1933 was extremely successful. This success might have influenced Kerr’s next choice of subject, a film about Henry II and Thomas Becket. (Heinrich und Thomas, 1936). In a letter to Kommer he remarked that his vocation was not necessarily theatre criticism: “Ich merkte spät bei der Filmfassung, daß ich Dramen hätte schreiben müssen statt blödere zu begutachten – und daß die geliebte Kürze für den Sprechfilm (mit seiner zwangsmäßigen Ökonomie) das zufällig gefundene Fressen ist.”29 The Friends of Canterbury commissioned T.S. Elliot’s Murder in the Cathedral for production at the Canterbury Festival in June 1935, its second impression was in November, with a second edition January 1936, reprinted June and December 1936. The Friends commissioned a second play (Charles Williams, Thomas Cranmer of Canterbury) which was performed in 1936. Kerr moved to England in late 1935. There is no evidence that he knew about the commissions, if he did, it certainly made him more inclined to work on Henry II and Thomas Becket. In a review of Eliot’s play he remarked that he had been told that the play had been on in a small theatre for six months and was excellent.30 He was quite able to understand plays in English, his problem was speaking it. The scene before the murder of Becket was particularly strongly influenced by Murder in the Cathedral,31 here Archbishop Thomas preaches a sermon urging peace, but “not peace as the world gives”.32 Kerr’s script, written in 1936, claims to be “Ein (moderner) Film für die Friedensbewegung – in dichterischem Gewand” which in 1936 is quite plausible. It is historically reasonably accurate: Henry II was king of England from 1154 to 1189, a long reign of 35 years. He was 22 when he came to the throne. Becket became Henry´s Chancellor in 1154. He was consecrated Archbishop of Canterbury in 1162, went into exile in France for six years (1164 until his 27
Korda was in acute financial difficulties during the 30’s, see the article by Kevin Gough-Yates, in: Theatre and Film in Exile. German Artists in Great Britain. Ed. Günter Berghaus. Oxford 1989. p. 135 and 148. According to a letter from Kerr to Kommer of 23 January 1939, Korda evidently paid the one thousand pounds in installments: “denn die tropfenden Zahlungen von Korda stießen jedesmal auf allerhand vorgegessenes Brot und verdampften bei der Ankunft.” 28 Letter Kerr received from the literary agent L. Mohrenwitz, 14 May 1946, AKA. 29 Letter to Kommer, 13 September 1935, AKA. 30 Pariser Tageblatt. 14 April 1936. 31 Reference to Eliot´s play in Alfred Kerr: Ich kam nach England. Op.cit. See note 6. p. 118. 32 T.S. Eliot: Murder in the Cathedral. London 1961. p. 36.
133 return to England on November 2nd 1170) and was murdered on December 29th 1170. Henry II did penance at Becket´s tomb in 1174. Despite his historical interest, Kerr’s descriptions of Henry’s court are shallow and unconvincing. He tries to introduce a love-interest, Marieli in the German, little June in the English version, without much success. His Henry is portrayed as brutal, sensual, promiscuous, full of energy and totally insensitive to other people’s feelings. At the beginning he sounds like Hitler and his behavior like that of the Nazis when they came to power: Ich will ein Reich der Ordnung aufrichten, ein Reich des Friedens [...]. Es muß jedoch ein Reich der Strenge, der Stärke, ja der Härte sein, damit wir das Glück in aller Christenheit nähren und fördern. Ein Reich der festen Gewalt, die jeden Widerstand bricht. Mit dem Schwert und mit der Peitsche will ich den Segen schaffen. Ja, den Frieden durch Gewalt! [...] Friede durch das Schwert.33
There are numerous parallels with the Third Reich in the conflict between Normans and Saxons in England. Thus, Becket is horrified by the way the Normans treat the Saxons and the way they deprive them of rights. When the Saxons complain bitterly about this policy and call for “Friede durch Barmherzigkeit!” Henry’s brutality becomes evident in his reply: “Ich mußte, beispielshalber, 140 Burgen meiner lieben Untertanen niederbrennen. Die Kerls waren eine Landplage.”34 Henry’s secret service is reminiscent of the Gestapo. Becket, on the other hand, changes from a rich wastrel to a protector of the unfortunate and the poor when Henry makes him Archbishop of Canterbury. He goes into exile and when he returns he tries to establish rules to favor the oppressed Saxons legally.35 This script was written before the promulgation of the Nuremberg laws, but there are undertones which seem to refer to the treatment of Jews in Germany after 1933. Becket, the lover of justice and promoter of peace through mercy36 is murdered in Canterbury cathedral, but his murder leads to the victory of the spirit in the conflict between spirit and brute force. Henry allows himself to be scourged at Becket’s tomb and the life spiritual is triumphant. However, the script does not show the same richness of atmosphere which pervaded Letizia. The only convincing sections are the sections for peace, and they are extremely overdone. While trying to find a historical subject to capture Korda’s interest, (Heinrich und Thomas) Kerr also attempted to produce scripts which might 33 34 35 36
MS AKA. p. 3. MS AKA. p. 6. MS AKA. p. 40. MS AKA. p. 27.
134 attract famous actresses with whom he was acquainted. Marlene Dietrich was an obvious choice. He wrote two letters to her in November 1936 describing his film Nadia and hoping to interest her in it: Vielleicht werden Sie, ob auch platonisch, von irgend etwas an dieser Gestalt angezogen: von der Mischung aus Eleganz und Intellektualität. “Nadia” ist eine junge Amerikanerin, die in Paris ein Liebeserlebnis und einen wissenschaftlichen Berufsstreit bis an die Grenze des Kriminellen durchkämpft. (8 November 1936) Dieser zweite Film enthält eine moderne junge Frauengestalt mit großer Scala: halbtragisch bei heiterem Ausgang. Die Elemente darin sind: aristokratisches Lebensgefühl, verhalten, fast widerstrebend, Eleganz und ein heutiger Intellekt mit dem Rückfall in das Sehr-Frauliche. (30 November 1936)37
I have been unable to trace a reply from Marlene Dietrich to date. However, another script which, like Nadia, was discovered in the recently found suitcase entitled Die Witwe and is also marked “Ein Film für Marlene – oder für eine Darstellerin von gleicher Anmut.” Die Witwe consists of only three manuscript pages. Two brothers, twenty years old, twins and inseparable, have come from Canada to Oxford to study the history of art. They have two introductions, one to a young professor (mid-thirties) and the other to a distant aunt (widow of a dead cousin). Both brothers fall in love with the aunt and become rivals. Their professor recognizes their suicidal state and tells them a Renaissance story about a widow who looks like their aunt, and two friends which ends in the execution of the friends for her murder. The young men leave and the professor resumes his relationship with their aunt. The brief MS is totally unrealistic. Nadia is considerably longer; it consists of 27 manuscript pages in German with some handwritten notes in English. Judging from the letters to Marlene Dietrich.it was started at the end of 1936 but is dated 1937. There are two parts. Nadia Mdobami, a rich and intellectual woman of 27, with, “sex appeal and brains” wants to follow her role model Marie Curie and become a scientist. When Jean Lagarde from the same Radiological Institute falls in love with her and she with him she feels that she has become less of a person by falling in love and experiences a strong conflict between her sensual feelings and her ambition and independence. They both discover the same rays in different ways but she leaves him and builds up her own institute, steals his formulae and develops the rays herself. Ultimately there is an extremely forced happy end: the Nadia and Jean rays. The script is 37
Both these letters were published in: Filmexil Berlin (Stiftung Deutsche Kinema-thek) 8 November 1996. pp. 38-9.
135 remarkable for its naiveté with regard to scientific fact. According to Kerr’s English note on the manuscript, the proper technical explanations etc. were to be supplied by an expert. Even though the fundamental female conflict of love versus intellectual life was in fact used in many films, it is evident that the script was not suited for the screen. Kerr’s fifth attempt at a film script was also written in 1936-7. The exposé Cagliostro der große Scharlatan appeared in Das Wort in 1938.38 The German manuscript version has 19 closely typed pages and is dated 1936, the English version has 37 (not closely typed) pages and is dated 1937. The German version contains a two-page foreword later crossed out by Kerr which provides a good deal of information on his original intentions when writing the script. He decided against using the historical figure of Cagliostro as a whole, preferring to concentrate on the more noble qualities, be they proven or not and to leave out the fact that he prostituted his own wife, for example, for the sake of a more effective film. He suggests describing Cagliostro’s motives in the film as follows: 1. the motives of a person who wants the good things of life but even more to be someone 2. a cynic’s pure delight in deception and in the art of achieving it (l´art pour l’art) 3. the smiling plebeian´s revenge on the higher social classes, he assumes that the money is ill-gotten and that he can achieve solidarity with the poor – the class he himself comes from – by giving them some of what he gets by confidence tricks. In Rome, Cagliostro meets the beautiful Lorenza, a girl of great simplicity from a very humble background. Her social status probably accounts for her later love of luxury. To Lorenza Cagliostro says: “Ich habe dich geliebt, weil du aus dem Volk bist. Was bist du jetzt! Eine falsche Dame.”39 Lorenza is quite prepared to be a widow, provided she is a wealthy one. She betrays him and gives him up to the Inquisition (MS. S.19). The film treatment ends with him being led off to prison for life. It is set in Sicily, Malta, Rome, London, St. Petersburg and the Court of the Inquisition. This script is rich in atmosphere and in potentially effective scenes – for example, when women ask him for rejuvenation tonics in Rome and the
38
Das Wort Jg. 1938, September issue, pp. 55-72, basically the German MS version (AKA). 39 MS AKA. p. 10.
136 alchemistic scenes in London. It is unfortunate that this promising treatment was never considered for production. The lack of success of his previous scripts did not prevent Kerr from from trying again. His script Mamma (1937)40 (MS 34pp.) was strongly influenced by the way his own situation in exile developed. The “Vorgeschichte” (the first 13 pages) begins with Sheila’s wedding to a much older man, the Colonel, who dies when their two children are ten and nine years old. The script also contains a very accurate description of life in a pension in France with very little money. The strong Oedipal relationship of Jim, the son, to his mother is evident very early on.41 There is a reference to a letter containing money from “Rudolf Lommer... Pappis bester Freund; Herr Lommer ist der edelste Mensch den ich kenne”,42 this is obviously Kerr’s friend and supporter Rudolf Kommer. The second part describes life at a British public school (based on Aldenham, Michael Kerr’s school in Hertfordshire) and includes comments made by the headmaster in Michael Kerr’s school reports).43 Kerr includes an endless list of school requirements (clothes and sports equipment), which is totally irrelevant for a film, and long descriptions of public school rules customs in far too much detail and with a total lack of subtlety. The real tragedy is that one can see how odd he thought all these customs were, but he was unable to understand that this was too much part of British public school life to interest anyone else. The son’s obsession with his mother is overemphasized and unconvincing. He tries to prevent her relationship with one of the teachers at the school by forcing him to leave. Klaus Täubert in his essay “‘Mamma!’ – ein unbekannt gebliebenes Film-Exposé Alfred Kerrs” claims that it was accepted by Wilhelm Dieterle in California.44 There is no evidence for this except for the fact that a copy of the text was found among Dieterle’s papers. Kerr told many of his correspondents about Korda’s acceptance of Letizia and it is most unlikely that he would have remained silent, had Dieterle accepted Mamma. And Täubert makes a number of other factual errors in his essay, since it was Julia and not Judith Kerr who wrote the music for Der Chronoplan, nor was Mamma Kerr´s first film treatment.45 But Mamma shows all too clearly how desperately the aging critic, deprived of material and living in comparative isolation in London, was trying to find themes which might sell and hence relying 40 41 42 43 44 45
MS 34 pp. AKA. MS AKA. p. 6. MS AKA. p. 6. MS AKA. p. 14. Schlesien 31 (1986). p. 24. Op. cit. note 44. p. 23.
137 heavily on his sixteen-year-old son’s descriptions of public school life. Nor was Mamma his last attempt. In a letter to Rudolf Kommer in early 1939 he wrote: Ich hatte, seit wir draußen sind, sozusagen selbst das eine Mal, als ich Geld hatte, keins, – denn die tropfenden Zahlungen von Korda stießen jedesmal auf allerhand vorgegessenes Brot und verdampften bei der Ankunft. [...] Ich gebe die Hoffnung auf einen großen Schlag im Film nicht auf und habe jetzt einen (‘das Erbe, the patrimony’) geschrieben. Er kommt mir in seiner Einfachheit etwas dumm vor, hat aber vielleicht wegen dieses geistig schlichten Zuges Möglichkeiten der Annahme.”46
To date, this script written in 1939 has not been traced. To conclude, we have to ask how much of Kerr’s film work was written for purely commercial purposes and how much of it communicates what he really felt in his exile situation. All six of the scripts were written before the Second World War, and all six deal with the theme of exile, of wandering, of changing countries. “Aus so ziemlich allen Ländern sind wir verjagt worden”, says Cagliostro.47 Becket lives in exile in France, Sheila and her family live in France in the first section of Mama, Nadia is an American girl in Paris, the twins come from Canada to Oxford in Die Witwe. Letizia’s motto “Pourvu que ça dure” emphasizes the transitory nature of power, fame and wealth and was certainly written with his own situation in mind. On the other hand, Kerr was trying to adjust his work to what he thought producers like Korda, Viertel and Pommer were looking for, an accurate use of historical fact with extra episodes to enrich the films. In addition, four of the six scripts concentrate on female figures, this could be because he thought they might be easier to sell, given the fact that actresses like Marlene Dietrich required vehicles in the thirties. It is trite to say that the country Kerr was living in affected to some extent the quality of his film scripts but in this case it is justified. The first script written in Paris is by far the best, in my opinion, because it was based on authentic material collected before 1933, and the Corsican atmosphere from Kerr’s notes successfully pervaded the script, it is hence much less of a pot-boiler. In Paris he was living in poverty but in a town he loved and in a far more congenial environment than later in London. In London his extreme linguistic isolation made him feel his dire poverty more. His daughter wrote later when she returned to where they had lived:
46 47
Letter to Rudolf Kommer, 23 January 1939, also quoted in note 26, AKA. Das Wort. Op.cit. Note 38. p. 65.
138 The only thing that had been the same was the bench at the end of the street where Papa had sometimes sat in the sun with his pipe. He had eked out the tobacco with dried leaves and rose petals, and for lunch he had eaten bread toasted over the gas ring and spread with exactly one-seventh of a jar of fish paste.48
His powerful and vitally important anti-Nazi book Die Diktatur des Hausknechts and his biography of Walther Rathenau were both written in Paris. In London he produced a very considerable body of work in a number of different genres (anti-Nazi leaflets, broadcasts in French for the BBC South American Service, the long novella Der Dichter und die Meerschweinchen written during the war and his diary Ich kam nach England ) but in many cases his age, his poor health, and lack of creative impulse are evident in these writings. His attempts at writing about English history (Heinrich und Thomas, Marx and Disraeli) are somewhat disastrous. His relationship to French history was closer and hence the script Letizia was of higher quality. He might possibly have assumed that it would be easier to sell films in his host countries if he selected topics relating to their history, without realizing how strong the competition was. The recently discovered scripts confirm the evidence of those already available. It never seems to have occurred to Kerr that he was a critic, a political writer, a lyric poet, even a biographer (his Rathenau book published in 1935 is impressive), but he was simply not a creative writer in the sense that he could write successful historical or contemporary fiction suitable for films. And the novella Der Dichter und das Meerschweinchen is just as disastrous. Despite his false view of his own powers, one cannot but admire his tenacity and above all his determination to try to support his family in exile and not to allow himself to be defeated by it. As the title of this paper shows, he was quite prepared to try his luck as a film actor if given the chance. “In the fight between worldly power and spiritual force the spirit was triumphant.” This is the ending of Henry and Thomas. But by the time the spirit was triumphant Kerr had been dead for nearly fifty years. It is tragic that neither Letizia nor Cagliostro, the two scripts which might have been successful, were ever filmed, as they might have given him a little more financial security in exile. But basically he was not a writer of fiction, unlike his daughter Judith, who achieved fame with her trilogy beginning with When Hitler stole Pink Rabbit, in which the figure of her father is one of the most, if not the most important. Until recently, her name was better recognized than her father's. In 1997, a volume of his unknown early 48
Judith Kerr: A Small Person Far Away. London 1978. pp. 9-10.
139 “Kulturbriefe” from Berlin written for the Breslauer Zeitung between 1895 and 1900 was published: Wo liegt Berlin? Briefe aus der Reichshauptstadt and a second is to appear in 1999.49 A nine hundred page volume of his early theatre criticism also appeared in 1998 – the title could apply to his own opinion of his film scripts: Ich sage, was zu sagen ist.50 Thanks to these volumes he has re-entered people’s consciousness as a writer nearly fifty years after his death. This is the true tragedy of what was destroyed when he was forced into exile, his work in the genre in which he could not be bettered. One should perhaps be grateful that his powers as a cultural historian as well as a theatre critic have been rediscovered, even if this came nearly fifty years too late for him.
49
Berlin 1997. The second volume will be entitled: Warum fließt der Rhein nicht durch Berlin. Berlin 1999. 50 Frankfurt a.M. 1998.
Reinhard K. Zachau
Der “kleine Mann” als Übermensch in Stefan Heyms Thriller Hostages (1942): Zur Genese eines sozialistischen Stereotyps The paper discusses the influence of American literature on the work of Stefan Heym, who developed a unique form of “Socialist Realism” in the United States. Heym began his career in 1942 with the instant bestseller Hostages (1942) that blends a European topic, the Prague underground resistance against Nazi occupation, with an American political thriller. Since Heym was more interested in political causes than in aesthetic experimentation, he used successful literary genres for his political purpose.
Als Stefan Heyms schriftstellerische Karriere 1942 mit dem Buch Hostages begann, war er 29 Jahre alt. Er hatte von 1933-1935 zwei Jahre in Prag gelebt, nachdem er den Nazis nach dem Reichstagsbrand nur knapp entkommen war, und war von hier 1935 nach Amerika gegangen, um dort sein Studium an der University of Chicago fortzusetzen. In einem Gedicht hatte der Oberprimaner 1931 die Pläne der Reichswehr kritisiert, deutsche Offiziere und Waffen nach China zu schicken,1 wofür der Achtzehnjährige von seinem Gymnasium in Chemnitz relegiert wurde. Dieses Gedicht aus dem Jahre 1931 sollte der eigentliche Anlaß für Heyms Vertreibung aus Deutschland werden,2 die ihn am 12. März 1933 zu einer abenteuerliche Flucht in Halbschuhen aus dem schlesischen Hirschberg über das Riesengebirge auf die tschechische Seite nach Spindlermühle nötigte, von wo er am gleichen Tag mit einem Ausflugsbus nach Prag fahren konnte. Mit neunzehn Jahren war er einer der jüngsten politischen Emigranten Deutschlands. In seiner Autobiographie Nachruf schreibt Heym von seiner spontanen Entscheidung, in der ersten Nacht in Prag das Pseudonym Stefan Heym zum Schutz für die in Deutschland verbliebenen Eltern anzunehmen – Heyms ursprünglicher Name ist Helmut Flieg. Es ist gemutmaßt worden, er habe mit diesem von ihm erfundenen Pseudonym an die expressionistische Tradition eines Georg Heym anknüpfen wollen, doch wahrscheinlicher ist die tiefenpsychologische Bedeutung des Namens Heym (= Heim, von Haus oder Heimat). Mit seinem Namen hat er sich schon an seinem ersten Exiltag ein Programm gegeben, der andauernden Suche nach einer neuen Heimat. Im Gegensatz zu den älteren vertriebenen
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“Exportgeschäft”. In: Chemnitzer Volksstimme. 7. September 1931. Stefan Heym: Nachruf. München 1988.
142 Schriftstellern, deren Karriere vor 1933 begonnen hatte, machte Heym im Prager Exil die ersten prägenden Erfahrungen, und verklärte fortan die Tschechoslowakei als das Exilland schlechthin, als ein mögliches Heimatland.3 Diese Verklärung wurde die wichtigste Bedingung für den Roman Hostages. Die zweite Bedingung war Heyms fortschreitende Eingewöhnung in die amerikanische Sprache und Kultur, die er als offen auch für sozialistische Vorstellungen verstand. Seine Magisterarbeit an der University of Chicago über Heinrich Heine hatte er noch auf deutsch verfaßt, viele seiner folgenden journalistischen Arbeiten aber bereits auf englisch veröffentlicht. Während seiner Ausbildung als Journalist bei der marxistischen deutschamerikanischen Volksfrontzeitung Deutsches Volksecho hatte er gelernt, die Welt in der Schwarz-Weiß-Manier der Marxisten zu sehen, und diese Sehweise wollte er auf die Literatur übertragen. Die Aufgabe des Volksecho bestand auf der einen Seite darin, die in Amerika eingewanderten deutschen Neubürger zu sammeln, auf der anderen Seite wollte es die amerikanische Öffentlichkeit über Vorgänge in Deutschland informieren, besonders über prominente Konzentrationslagerinsassen wie Ossietzky, Thälmann und Niemöller. In einem Leitartikel faßte Heym diese doppelte Aufgabe zusammen: Wir Deutschamerikaner können dem deutschen Volke helfen, sich zu befreien, indem wir Hitler in Amerika eine empfindliche Niederlage bereiten, indem wir die Arbeit der Nazi-Agenten hier unmöglich machen und unsere deutschamerikanischen Mitbürger fest auf der Seite des Fortschritts zusammenschließen.4
Heym lag mit seiner Zeitung auf der von der Moskauer Komintern beschlossenen Parteilinie der Volksfrontpolitk, die er in Amerika durchsetzen wollte. Schreiben verstand Heym seit der Volksecho-Zeit als operatives Schreiben, bei dem sich die literarische Form dem (sozialistischen) Inhalt unterzuordnen hatte. Somit wollte Heym, ausgehend von der Grundidee einer Volksfront, die Amerikaner mit seinem Schreiben von sozialistischen Gedanken überzeugen. Er war als Journalist erfolgreich gewesen und jetzt galt es, die literarische Domäne zu erobern. Heym hatte den Beginn seiner schriftstellerischen Karriere in den USA genau kalkuliert, indem er sich überlegt hatte, welche Bücher die Amerikaner schätzten und besonders die Frage bedacht hatte, wo er in Ame-
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Exil und Literatur. Antifaschistische deutsche Literatur in der Tschechoslo-wakei 1933-1938. Autorenkollektiv unter Leitung von Miroslav Beck und Jiri Vesely,´ . Berlin 1981. S. 195-201. 4 In: Deutsches Volksecho. 12.11.1938.
143 rika auf die wenigsten Widerstände treffen würde.5 Sein Buch sollte kein politischer Roman im engeren Sinne sein, wo der Autor eine These ausprobierte, sondern er wollte den Leser zu eigenen Schlußfolgerungen zwingen.6 Daß diese Schlußfolgerung immer eine sozialistische sein mußte, stand für ihn außer Frage. Heym wandte sich von der deutschen Sprache als literarisches Medium ab, da sie ihn (wie er an dem wegen seiner Zweisprachigkeit nur mäßig erfolgreichen Volksecho gesehen hatte) in ein sprachliches Getto gebracht hätte. Auch hatte er kein Interesse an einer Veröffentlichung in einem typischen Exilverlag. Sprache war und ist für Heym ein Medium ohne größeren emotionalen Wert. Er kam möglichen Kritiken an dieser Entscheidung, die er nicht als anti-deutsche Entscheidung bezeichnet sehen wollte, zuvor: “(Ich) war nie Narr genug gewesen, (mich) von einer Sprache abzuwenden, nur weil auch Verbrecher sich ihrer bedienten und sie entstellten.”7 Der Hauptgrund für den Wechsel zum Englischen wurde die Bekanntschaft mit seiner späteren Frau Gertrude Gelbin, einer intellektuellen New Yorker Sozialistin und selbst Schriftstellerin, die ihm bei der Korrektur seines Erstlings zur Hand ging. Das Stefan-Heym-Archiv in Cambridge enthält das Original-Manuskript von Heyms amerikanischem Erstlingswerk Hostages mit Gertrude Gelbins Korrekturanmerkungen, die seine Germanizismen sorgfältig ins Englische korrigierte.8 Ohne die rigorose Kritik und Hilfe seiner späteren Frau wäre aus dem Exilanten Helmut Flieg niemals der Amerikaner Stefan Heym geworden, der seine erfolgreichen Bücher wie Der König-David-Bericht und Lenz oder die Freiheit bis in die siebziger Jahre auf englisch verfaßte. Die für eine Unterhaltungsgeschichte erforderliche schlichte Sprache konnte dem Literaturneuling für seine ersten Versuche in der englischen Sprache gerade recht sein, ebenso dem traditionelle Kriminalroman inhärente Gegenüberstellung von Verbrecher und Detektiv in Form von schablonenhaft negativ und positiv gezeichnete Gestalten. Dies alles waren Überlegun-
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Stefan Heym: Wie der Fall Glasenapp entstand. In: Eröffnungen. Schriftsteller über ihr Erstlingswerk. Hrsg. v. Gerhard Schneider. Berlin 1974. S. 83. 6 “It is not a political novel in the usual sense: that the author has a thesis and uses his characters as types to prove his thesis”. Stefan Heym: Hostages (Outline). 1942. Stefan-Heym-Archiv Cambridge. 7 Nachruf. A.a.O. S. 207. 8 So wurde aus Heyms Satz “Preissinger slumped (together) in his chair” nach Gelbins Korrektur “Preissinger slumped forward in his chair” und Heyms Satz “One more day the hostages would have to live” wurde zu “The hostages had one more day to live” korrigiert. In Stefan Heym: Hostages (Manuscript). New York 1942. Stefan-Heym-Archiv Cambridge.
144 gen, die ihn von den anderen deutschen Exilanten absetzten, die nach Heym eine romantisch erhöhte Vorstellung von Literatur als Ausdruck ihrer Herkunft mit sich herumschleppten. Heym stellte in seinem Vorwort für eine besondere Armee-Ausgabe seines Romans dessen operative Elemente heraus, die er jetzt in einen allgemeineren antifaschistischen Kontext stellen wollte – das Projekt einer “Volksfront” war seit dem deutsch-sowjetischen Nicht-Angriffspakt vielen suspekt geworden.9 Das Buch sei als psychologische Waffe gegen die Nazis und ihre perverse Ideologie zu sehen, als ideologische Waffe im antifaschistischen Kampf überhaupt. Heym behauptet hier, die angeberischen Nazis gut zu kennen, und ihre perverse Mentalität den Amerikanern erklären zu müssen: “If we know what makes the Nazis tick, (and if we) know that deep below the swaggering and threatening bully’s surface, deep beneath his fox-like cleverness, lies a great and basic cowardice – we know what to expect.”10 Schon hier deutet sich der spätere amerikanische Propagandaoffizier Stefan Heym an, der den erfolgreichen Soldatentyp Joe Jones für die Psychological Warfare Unit der amerikanischen Armee erfand. Er wollte einen sozialistischen “kleinen Mann” einführen, wie ihn Hans Fallada in seinem Roman Kleiner Mann – was nun? seit der Weltwirtschaftskrise popularisiert hatte.11 Heyms Biographie und sein Exilhintergrund machten ihn und sein Buch für Amerikaner interessant, die seit Kriegsausbruch 1941 mehr über Europa wissen wollten. Mit seinem äußerst erfolgreichen Buch Hostages war Heym einer der ersten Deutschen, der die deutsche Exilliteratur in das Bewußtsein der Durchschnittsamerikaner brachte, allerdings auf Kosten der etablierten Alt-Exilanten wie Thomas Mann, Franz Werfel und Lion Feuchtwanger, von denen das amerikanische Publikum eigentlich die Behandlung der Gegenwartsprobleme erwartet hätte.12 Thomas Mann, so Heym später, habe damals wohl zu “fest in seinem biblischen Ägypten” gesessen. Die amerikanischen Kritiker sahen dieses Dilemma klar, allen voran Orville Prescott von der New York Times, der Heyms Namen zu den
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Heym bezeichnete seine publizistische Tätigkeit seit dieser Zeit als “operatives Schreiben”. Nach Willi Jasper: Mit verrutscher Krawatte im Gewühl. Ein Porträt des Publizisten Stefan Heym. Köln, Deutschlandfunk. 8.12.1987. Feature. Abschrift im Stefan-Heym-Archiv Cambridge. 10 Stefan Heym: Hostages, Preface. 2 pp. 8.8.1943. Stefan-Heym-Archiv Cambridge. 11 Anonym: Zu Hostages. In: Aufbau. 23.10.1942: “Stefan Heym ist auf dem besten Wege, der Kunst des 20. Jahrhunderts – der Kunst des “Common man” – Gestalt zu verleihen.” 12 Samuel Putnam: Stefan Heym’s Powerful, Human Novel of Five Who Await Death in a Gestapo Cell. In: The Worker. 22.11.1942.
145 hervorragenden deutschen Exilschriftstellern zählte,13 sowie der Kritiker Samuel Putnam, für den die Exilanten “a new breath of life to American literature and to the American novel in particular” gebracht hätten.14 Die Alt-Exilanten zahlten es dem Emporkömmling mit Häme heim, wie Thomas Manns Reaktion auf Heyms Buch zeigte: “(Ich) las in Heyms Hostages. Unzuträglich. Gefühl von Illegitimität und unlauterem Wettbewerb.”15 Diesen Neunundzwanzigjährigen wollte er nicht in seinem altehrwürdigen Club sehen. Hostages16 behandelt den Untergrundkampf im besetzten Prag in der Form eines politischen Thrillers. Eine persönliche Motivation für den Roman findet sich in Heyms Widmung für seinen Vater in dem Buch, “because my father was a hostage,” der nach Heyms Flucht nach Prag im Februar 1933 von der Gestapo in Chemnitz als Geisel festgehalten worden war, und der sich später das Leben genommen hatte. Für die Amerikaner war der Freiheitskampf der Tschechen seit Heydrichs Ermordung im Mai 1942 in den Blickpunkt ihres Interesses gerückt,17 als im Anschluß an das Attentat auf Heydrich Hunderte von Tschechen als Geiseln gefangengenommen und ermordet worden waren. Den Höhepunkt dieser Grausamkeiten bildete die Ausrottung des Dorfes Lidice am 10. Juni 1942. Für Heym spiegelt Prag mit seiner Geschichte und seinen politischen Problemen besser als jede andere europäische Stadt die europäische Lage im Krieg wider – die Stadt enthalte viel von dem “charming” und morbiden alten Europa. Wie gut Heym die Atmosphäre des besetzten Prag in seinem Roman eingefangen hatte, wird schon daran deutlich, daß das Attentat auf Reinhard Heydrich erst nach Erscheinen des Buches stattfand. Heym gestaltete seinen ersten Roman als einen “regelrechten Detektivroman” oder Thriller. Oder doch nicht ganz, da hier ja die Rollen vertauscht werden: Die im normalen Detektivroman sich vollziehende Identifikation mit dem Helden, dem Detektiv, kann in diesem Roman nicht stattfinden, da es sich nicht um einen Helden im traditionellen Sinne handelt, sondern um den Gestapo-Offizier Reinhardt. Heym schrieb, daß er einen Detektiv wählen mußte, der am Ende als Verlierer dastand, und das habe
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Orville Prescott: Books Of Our Times. New York Times. Zitiert nach: Beiträge zu einer Biographie. Eine Freundesgabe für Stefan Heym zum 60. Geburtstag am 10.4.1973. München 1973. 14 Samuel Putnam: Stefan Heyms Powerful, Human Novel. A.a.O. S. 42. 15 Stefan Heym: Nachruf. A.a.O. S. 224. 16 Amerikanische Ausgabe Hostages. New York 1942. DDR: Der Fall Glasenapp. Leipzig 1958. Westdeutsche Ausgabe: München 1976. 17 Vgl. besonders Heinrich Manns Roman Lidice und Bertolt Brechts Film Hangmen also Die.
146 der Natur der Dinge nach nur ein Nazidetektiv sein können.18 Die gewählte Form verlangte die traditionelle Gegenüberstellung des Verbrechers mit dem Detektiv, zwei schablonenhaft negativ und positiv gezeichnete Gestalten. Gerade die holzschnittartige Zeichnung des “Guten” und “Bösen” ist zum Verständnis des frühen Schriftstellers Heym wichtig. Die Darstellungsform traf mit den Ansprüchen seines amerikanischen Publikums zusammen, und machte den Roman zu einem der erfolgreichsten Bücher Heyms – es wurde zum ‘Book-of-the-Month’ gewählt, im Reader’s Digest nachgedruckt und schließlich verfilmt.19 Außer von der Gestalt des Gestapo-Offiziers Reinhardt wird die Aufmerksamkeit des Lesers schon zu Beginn von Heyms Erzähltechnik gewonnen. Obwohl niemand etwas zur Aufklärung von Glasenapps Verschwinden beitragen kann, scheint für den Leser von Anfang an alles klar zu sein: Nach dem Verschwinden Glasenapps wird in dem Roman – anscheinend völlig unmotiviert – von einer Seitentür berichtet, die auf die Moldau hinausgeht. Es schaltet sich hier kein allwissender Erzähler ein, sondern die Tür wird vom Blickwinkel des Toilettenwärters Janoshik beschrieben, der die an der Moldau gelegenen Toiletten zu geheimen Treffen für Untergrundkämpfer benutzt. Ein solches Treffen wird sofort im Anschluß an die Reflektion durchgeführt: der Untergrundkämpfer Breda kommt und eine Adresse wird ausgetauscht, die für die Sprengung am Schluß des Buches von größter Wichtigkeit ist. Dieses meisterhaft gestaltete Anfangskapitel enthält in komprimierter Form alles, was für die Entwicklung des Romans wichtig ist: Neben der Information des Lesers über die Seitentür zum Wasser, dem wichtigen Treffen zwischen Breda und Janoshik und dem einzigen Auftreten des Leutnants Glasenapp werden vier weitere der Hauptpersonen vorgestellt, die späteren Geiseln Lobkowitz, Prokosch, Wallerstein und Preissinger. Aber schon im zweiten Kapitel erschöpft sich die durch Glasenapps Verschwinden hervorgerufene Spannung, als auch Reinhardt den Selbstmord Glasenapps erkennt. Der klassische Detektivroman ist jetzt beendet, aber wegen des Komplotts zwischen Heydrich (der im Roman auftritt) und Reinhardt werden diese selbst zu Verbrechern an den tschechischen Geiseln. Das einzige, was der “Detektiv” Reinhardt jetzt noch ausführt, ist die Nachforschung nach Milada, deren Namen er bei Glasenapp gefunden hat. Es geht ihm nur noch darum, Milada als mögliche Mitwisserin von Glasenapps Selbstmord auszuschalten. Durch dieses geschickte Überwechseln vom Detektivroman zu einem zeitgeschichtlichen Roman kann
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Stefan Heym: Wie der Fall Glasenapp entstand. In: Eröffnungen. A.a.O. S. 83. Hostages. Paramount Pictures im Jahre 1943. Filmskript: Lester Cole und Frank Butler. Regie: Frank S. Tuttle. Mit Luise Rainer (Milada), William Bendix (Janoshik) und Paul Lukas (Reinhardt). 19
147 Heym das Interesse seiner Leser an dem Freiheitskampf der Tschechen gewinnen. Der Roman teilt sich nach dieser Eingangsphase in drei Handlungsstränge auf: (1) die Untersuchungen Reinhardts, (2) die Vorgänge zwischen den Geiseln in der Zelle, und (3) die Aktionen der Untergrundkämpfer um Breda. Dabei liegt die Hauptanziehungskraft in der Charakterisierung des negativen Helden und Detektivs, des SS–Offiziers Reinhardt, dem die Nachforschung nach dem verschwundenen Leutnant Glasenapp übertragen wird. Mit den Geiseln Lobkovitz, Prokosch, Preissinger und Wallerstein, die sich zufälligerweise im selben Restaurant aufhielten, aus dem Glasenapp verschwand, treibt er seine sadistischen Spiele. Als Preissinger schließlich Janoshik fälschlich als Mörder denunziert, ruft Reinhardt den Schauspieler Prokosch herein, der sich ebenfalls als Mörder bezeichnet hatte. Reinhardt weidet sich im vollen Bewußtsein seiner Macht an dem Versuch der beiden, sich nun voreinander als Mörder zu beweisen. Immer stärker wird der grausame Charakterzug Reinhardts, je mehr er versteht, daß er gegen eine unsichtbare Wand ankämpft: “Is it possible that there is no bottom, that there is no root, that there is no master mind in back of it all? Just the people?”20 Auch hier ist Reinhardt auf dem richtigen Wege und ahnt die Zusammenhänge, aber er nimmt wieder zu Gestapo-Methoden Zuflucht. Diese Methoden werden immer grausamer, je weiter der Roman fortschreitet, und gipfeln in der Folterung Janoshiks, der als blutiges Bündel Fleisch zurückbleibt. Am Ende gibt Reinhardt angesichts der Stärke der tschechischen Untergrundkämpfer auf und wird dafür von Heydrich an die Ostfront versetzt. Die anderen sieben Hauptgestalten des Romans sind Tschechen, die sich zufällig zur Zeit von Glasenapps Verschwinden in dem Café Mánes aufhielten: ein Toilettenwärter, ein Schauspieler, ein Journalist, ein Arzt und ein Großindustrieller. Mit Ausnahme von Janoshik sind alle Intellektuelle – der Ort des Verbrechens war ja das Prager Literatencafé Mánes am Moldauufer gewesen, das noch heute am Masarykboulevard besteht. Der beabsichtigte Querschnitt durch die tschechische Bevölkerung mußte so einseitig ausfallen, denn er ist bedingt durch Heyms eigene Erfahrungen in einem ähnlichen Café während seiner Prager Zeit, dem Café Continental an der Moldau, wo er die Gruppe um Ernst Ottwalt, F.C. Weiskopf und John Heartfield kennenlernte. Janoshik ist nun allerdings kein normaler Toilettenwärter, sondern ist von Anfang an als politische Figur angelegt. Er hatte die Stellung dort für sehr wenig Geld angenommen und hätte sogar Geld bezahlt, um diese an der Moldau gelegenen Räume zur Konspiration nutzen zu können. Jano-
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Hostages. A.a.O. S. 268.
148 shik ist der eigentliche Held und Gegenspieler Reinhardts, der den als langsam und dumm erscheinenden Tschechen anfangs nicht ernst nimmt. Heym konstruiert die Todeszelle zu einem mikroskopischen Abbild der Gesellschaft um und kann hier, mitten in der Höhle des Löwen, dem Gestapo Gefängnis in dem von den Nazis besetzten Prag, eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft vornehmen: Janoshik, dessen Körper von den Nazis völlig zerschlagen worden ist, kann seinen Mitgefangenen Mut zusprechen: “When they shoot us tomorrow, somebody [...] will hear the shots. Bullets through good people’s hearts make a long echo.” (H 342) Heyms Absicht war es, mit dieser kleinen Geiselgruppe einen repräsentativen Ausschnitt aus der bürgerlichen Gesellschaft zu zeigen, die auch oder gerade unter den extremen Haftbedingungen zu gesellschaftlich bewußter Handlungsweise kommt. Janoshiks Biographie erschließt sich im Laufe des Buches: Er war Soldat im Ersten Weltkrieg gewesen, zwischen den Kriegen war er als Bergarbeiter in Kladno tätig gewesen, hatte sich dort als politischer Agitator erwiesen und war schließlich als Wanderarbeiter und Landstreicher von Ort zu Ort gezogen. Ist Janoshik ein politischer Agitator und positiver Held, wie Otto Ernst befriedigt feststellte, oder ist er ein unglaubhafter und übertriebener Supermann, wie es der Rezensent der New Republic schrieb?21 Mit seiner groben Gestalt, seinen roten Haaren, der breiten Nase, den dicken Lippen und seiner langsamen Denkart erinnert Janoshik an die berühmteste Gestalt der tschechischen Literatur, Haseks Schwejk. Heym berichtet, daß er den Hasekschen Schwejk immer geliebt habe.22 Der Reiz dieses Charakters besteht in seinem Schwanken zwischen angeborener Schläue und Blödheit, dessen Ambiguität den Schwejk für den Leser undurchschaubar macht. Es zeigt sich, Heym hat die Gestalt des sozialistischen Übermenschen nicht erfunden; sie basiert auf der Schwejk-Figur des Hasek-Romans, die Brecht ebenfalls in seiner literarischen Adaption Schwejk im zweiten Welttkrieg weiterentwickelt hatte.23 Brechts Schwejk durchläuft ähnliche Situationen wie Haseks, er hat aber weniger Glück als sein literarischer Vorläufer. Brechts Schwejk endet schließlich als Soldat im Zweiten Weltkrieg und wird vor Stalingrad eingesetzt. Auch die zweideutige Naivität, mit der Brecht seinen Schwejk ausstattet, erweist sich als zu schwach und letztlich untaugliches Mittel gegen die maßlose Macht des Faschismus. Mit Janoshik gibt uns Heym ein anderes Porträt von dieser Figur. Heym fragte sich, ob diese Gestalt sich im Zweiten Weltkrieg bewußter und politischer
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Anonym: Hostages. In: New Republic. 9.11.1942. S. 618. In: Eröffnungen: Schriftsteller über ihr Erstlingswerk. A.a.O. S. 84. 23 Bertolt Brecht: Schwejk im zweiten Weltkrieg. Stück in acht Bildern. Geschrieben 1941-44. Zuerst veröffentlicht in: Stücke X. Frankfurt a.M. 1953. 22
149 verhalten würde, und er bejahte diese Frage. Trotz seiner Gefangenschaft kann sich Janoshik als aktiver Kämpfer durchsetzen. Neben Schwejks Aussehen und seiner bedächtigen Wesensart gibt es noch eine weitere wichtige Übereinstimmung zwischen Schwejk und Janoshik, wie Robert Pick zu Recht bemerkte,24 der Vorliebe zum Erzählen von anscheinend unnötigen Anekdoten. Janoshik erzählt seine erste langatmige Geschichte dem Barkeeper, als ihm klar geworden ist, daß Glasenapp verschwunden ist. Der Bartender ist von den im Café anwesenden Nazi-Soldaten beauftragt worden, Glasenapp zurückzuholen. Janoshik erzählt seine Geschichte hier aus zwei Gründen: Einmal will er den Bartender auf die Wahrheit vorbereiten und außerdem Breda einen Vorsprung zur Flucht verschaffen. Diese von Janoshik taktisch eingesetzten Anekdoten geben seinem Charakter eine zusätzlich poetische Dimension. Trotz seiner Übermenschenzüge ist Janoshik der vollste Charakter des Romans. Er vertritt eine “sozialistische Perspektive”, wie Willi Kohlmeyer in einer Zuschrift an das SED-Blatt Neues Deutschland bemerkte.25 Janoshiks marxistische Überzeugung ist so stark, daß sie ihn gegenüber den faschistischen Folterungen schmerzunempfindlich macht. There was the urge to scream; deep down from within something seemed to push up against his vocal chords, forcing itself through his throat. [...]. And it was this around which he rallied all his conscious forces: I won’t scream! 26
Diese Anstrengung des Willens funktioniert und Janoshik schreit nicht bis an das Ende der Folterungen. Einer der SS-Schläger bemerkt, um sein Erstaunen über ein derartiges Verhalten zu verbergen: “These uncultured races, they got no nerves.” Die gesamte Szene ist aus der Perspektive Janoshiks gesehen – wieder wird der innere Monolog als Mittel eingesetzt, um den Leser mit Janoshik fühlen und leiden zu lassen. Früher schon beweisen sich Janoshiks übermenschliche Fähigkeiten, denn als einziger der fünf Geiseln ist er in der Lage, das Rätsel um Glasenapps Verschwinden zu lösen, durch langsames und beharrliches Nachdenken. Es ist sicherlich nicht übertrieben, das Lösen dieses Rätsels als ein Symbol für das Finden von “Wahrheit” überhaupt zu verstehen, die keiner der anderen Geiseln zu sehen in der Lage ist. Janoshik gelingt es als einzigem, für einige Stunden aus der Zelle herauszukommen und in das Café Mánes zurückzukehren. Er hat die SSOffiziere unter einem Vorwand dorthin gelockt, wollte in Wirklichkeit 24
Robert Pick: Hostages to the Dark Ages. In: The Saturday Review. 24.10.1942. S. 20. 25 Willi Kohlmeyer: Eine falsche Einschätzung. In: Neues Deutschland (Beilage). 14.3.1959. 26 Hostages. A.a.O. S. 27.
150 jedoch die für die Sprengung der Munitionsschiffe notwendige Adresse weitergeben, was ihm auch gelingt. Auf dem Weg dorthin singt er fröhlich, Prag, seine Stadt, wiederzusehen, während Reinhardt sich in dieser unheimlichen Stadt unbehaglich fühlt. Wie Jan Hus fünfhundert Jahre zuvor stirbt Janoshik mit denselben Worten auf den Lippen: “Pravda vitezi” – Die Wahrheit wird siegen. Diese Worte stehen auch als Motto über dem gesamten Roman und drücken so Heyms eigene Wünsche aus. Wie sehr diese sozialistische Vaterfigur Heyms eigene Gedanken widerspiegelt, erkennt man an dem folgenden Zitat: In his heart Janoshik had hoped to see the future he had worked for. In the petty, detailed daily struggles, this had given him direction [...]. He knew that people would have to be reformed, that this was a process of years and years [...]. To see the day when men and women would work and eat and live as human beings should, when the kids would have a chance to develop whatever was in them, when people would own the world they had created – that would have been fun.27
Der andere Bösewicht neben Reinhardt ist Preissinger, der Direktor des Böhmisch-Mährischen Kohlensyndikats. Er hat diesen Posten erst seit einigen Jahren inne, denn beim Einmarsch der Deutschen in die Tschechoslowakei waren die ursprünglichen jüdischen Besitzer vertrieben worden und Preissinger hatte das gesamte Syndikat unter seine Herrschaft 27 gebracht. Auch als Politiker hatte er sich für das Münchner Abkommen stark gemacht, denn er wußte, daß mit dem Einmarsch der Russen sein gesamtes Vermögen beschlagnahmt würde − er ist ein “Quisling”. Der ebenfalls gefangene Psychoanalytiker Dr. Wallerstein wird zu einer interessanten Figur, als er Reinhardt den absonderlichen Vorschlag macht, die Beobachtungen, die er als Arzt und Psychoanalytiker in der Todeszelle machen kann, unter dem Titel “Notes on Death and the Disintegration of Psychic Standards” schriftlich niederzulegen. Er bittet Reinhardt, den Aufsatz nach seinem Tode in einer “Psychologischen Monatsschrift” zu veröffentlichen. Reinhardt geht auf Wallersteins Vorschlag ein. Somit nimmt Wallerstein im Roman eine doppelte Funktion ein. Einmal ist er Geisel und weiß, daß er mit den anderen erschossen werden wird, auf der anderen Seite versucht er, neutraler Beobachter zu sein. Dadurch hat er für die Romanperspektive eine entscheidende Funktion, denn er erscheint über weite Strecken als Erzähler. Wallerstein fragt sich, ob Janoshik Kenntnis von einer Zukunft habe, von der die anderen nichts wissen. Mit dieser Aussage setzt Heym die Ideologie seines Volkshelden Janoshik gegen die Wahrheitssuche des Intellektuellen. Man kann die Gestalt des
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Hostages. A.a.O. S. 149.
151 Dr. Wallerstein als Brücke zu seinem amerikanischen Publikum betrachten, für das das strahlende Bild des Edelkommunisten Janoshik kaum Identifizierungsmöglichkeiten bot. Das Problem des intellektuellen Schriftstellers, der wie Wallerstein an der Literaturproduktion verzweifelt, aber vergeblich die Situation kontrollieren will, hat den Schriftsteller Heym auch später nicht mehr losgelassen. Ähnlich wie es Sartre mit dem jungen Hugo in Les Mains Sales darstellte, wollen diese Hamlet-Charaktere ihre idealistische Unschuld im politischen Kampf behalten. Dieser Zweikampf zwischen den Intellektuellen und den vom politischen Handeln überzeugten Aktivisten wird von Heym in Hostages zum ersten Mal thematisiert. So muß auch Wallerstein an seiner selbstauferlegten Isolierung scheitern, denn er befindet sich in der typischen Blindheit des bürgerlichen Wissenschaftlers, selbst in der Siuation gefangen zu sein, die er analysieren will. Der dritte Handlungsstrang in Hostages umfaßt die Handlungen der um Breda gescharten Widerstandsgruppe. Zu dieser Gruppe stößt auch Milada. Bredas und Janoshiks Charaktere sind ähnlich gestaltet; Breda erscheint allerdings flacher. Er ist wie niemand sonst in dem Roman in der Lage, die Pläne der Faschisten zu erkennen und zu vereiteln. “You seem able to think with their logic,”28 bemerkt Milada einmal. Breda erkennt die Kleinheit der Nazi-Verbrecher, die ihr eigenes Parlament niederbrennen, aber keinen Mut haben, zu ihrer Tat zu stehen. Auch Milada, die einzige weibliche Hauptgestalt im Roman, macht keinen überzeugenden Eindruck. Ihre Gestalt gründet sich auf eine Bekannte Heyms in Prag, die er später in seinem Memoirenband Nachruf beschrieb.29 Milada ist Studentin der Germanistik, Tochter des Herausgebers einer tschechischen Zeitung, der jetzt zu den Deutschen übergelaufen ist. Aus diesem Grund löst sich die Tochter vom Elternhaus und arbeitet in einer Munitionsfabrik. Sie wird die Geliebte Pavels, der bei Studentenunruhen erschossen wurde, bei denen auch Glasenapp eingesetzt war. Auch Milada wird verletzt, Glasenapp bringt sie nach Hause und pflegt sie, ohne ihr allerdings von Pavels Tod zu berichten. Als sie schließlich davon erfährt, wirft sie Glasenapp hinaus; das wird der Anlaß zu seinem Selbstmord. Milada spielt in dem Roman nur eine Rolle wegen ihrer sexuellen Beziehungen zu Reinhardt und Breda. Schließlich kommt auch sie zu der rechten Überzeugung, als sie sich vor Reinhardt zu den tschechischen Freiheitskämpfern bekennt: “We are here, there, everywhere!”30
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Hostages. A.a.O. S. 189. Nachruf. A.a.O. S. 111. 30 Hostages. A.a.O. S. 34. 29
152 Mit der Veröffentlichung seines Romans war Stefan Heym in Amerika über Nacht zu einem bekannten Schriftsteller geworden. Hostages rief ein weites Spektrum an unterschiedlichen Kritiken hervor. Am höchsten wertete der bereits erwähnte Orville Prescott Heyms Buch in seiner New York Times Kritik; für ihn war Hostages “the finest novel of 1942, if not of a much longer period”.31 Selbst Anna Seghers’ Siebtes Kreuz habe kein besseres Bild von der pervertierten Psychologie der Nazityrannen und vom Heroismus ihrer Opfer gegeben. Heym bezeichnete diese Rezensionen später als Glück und Wunder. Sie bedeuteten für ihn den Durchbruch schlechthin, wodurch er mit einem Schlag in die Reihen der Unsterblichen aufgenommen worden war.32 Der Kritiker Vincent McHugh stellte Hostages in die Tradition der Gefängnisromane,33 die mit Malraux’ The Conquerors in den zwanziger Jahren begonnen hatte und ihren Höhepunkt mit dem zwei Jahre vor Hostages erschienen Roman von Arthur Koestler, Darkness at Noon fand,34 wo ebenfalls die Gefängnissituation Anlaß zum Wandel des Helden wird. Während Koestler den Helden jedoch zum Antikommunisten wandelte, trat in Heyms Roman genau das Gegenteil ein, und alle Gefangenen glauben am Schluß an Janoshiks sozialistische Idylle, “da den Menschen die Welt gehörte.” Was die amerikanischen Kritiker besonders beeindruckte, war die gelungene Mischung von Spannung und oberflächlicher Geschichtscollage, von brutalen Sexszenen und dem Idealismus der Volksmythosfigur Janoshik, die wohl unrealistisch aber doch enorm wirksam war. Die Figurenkonstellation in Hostages ist zwar holzschnittartig unpsychologisch aufgebaut – doch enthält das Buch bereits die Heym-Gestalten des Bösewichts, des proletarischen Helden und des zaudernden intellektuellen Außenseiters der späteren Bestseller Der König-David-Bericht, 5 Tage im Juni oder Collin, Gestalten, die als meisterhafte Typisierung der gesellschaftlichen Kräfte gelten. Heym hat wohl recht, daß er bei der Abfassung seines Erstlings keinen dogmatischen Richtlinien gefolgt war, doch diese Figurenkonstellation sollte dennoch für die neu entstehende Literatur der DDR von großem Einfluß werden, wie die Bücher von Karlheinz Jakobs oder von Erich Loest bezeugen. Heym selbst gibt zu, bei der Abfassung seines Buches Hostages großes Glück gehabt zu haben:
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Prescott. In: Beiträge. A.a.O. Nachruf. A.a.O. S. 223. 33 Vincent Hugh. In: The New Yorker. 17.10.1942. 34 Arthur Koestler: Darkness at Noon. Novel. New York 1941. Deutsch unter dem Titel: Sonnenfinsternis. Stuttgart 1948. 32
153 As with regards (to) Hostages [...]; I simply was lucky [...]. I didn’t know how to write a novel, [...] I just wrote. An author and his subject meet at a certain time, [...] and a singular relationship develops which never existed before and can never be repeated [...].35
Ganz so naiv war er doch nicht, denn sein Prinzip, das sich hier entwickelt, läßt sich als individuelles operatives Schreiben verstehen, wie Heym es in seiner Rezension von Alfred Hays Roman als “kollektiven Roman” selbst beschrieben hatte, “[...] a collective novel – each of his characters gets a number of scenes, and these scenes are loosely interconnected. [...] They are caught in something much bigger than their own individual hopes,”36 – ein Kompositionsprinzip, das sich auf Lukács’ Theorien des historischen Romans zurückführen ließ. In Hostages hatte Heym bewußt das dialektische Prinzip der gesellschaftlichen Repräsentation durchbrochen, da dieser Roman von einer Führungsgestalt, Janoshik, dominiert wurde. Letztlich zeigte Hostages die Unvereinbarkeit von Heyms theoretischen Vorstellungen vom demokratischen Sozialismus mit den Anforderungen des amerikanischen Bestseller-Marktes, wo Heldendarstellungen verlangt werden, je holzschnittartiger, desto besser. Heym beweist mit seinem Buch Hostages, daß er in der Praxis einen publikumswirksamen Thriller schreiben konnte, ihn auch von seiner marxistischen Perspektive rechtfertigen konnte, doch keine literaturtheoretische Begründung und auch kein Rezept für sein Vorgehen liefern konnte. Die Tatsache, daß es sich um ein marxistisches Propagandabuch handelte, konnte dank der kraftvollen Handlungs- und Personenführung zeitweilig zurücktreten. Die negativen Reaktionen der westdeutschen Kritik auf die Erstausgabe des Romans 1976 drücken die Enttäuschung über die Entdeckung des damals idealisierten sozialistischen Heym als Meister von Trivialliteratur aus; Janoshik war für diese Kritiker eine “heroisierte Demonstrationsfigur” in einem Gangsterstück.37 Es bleibt zu diskutieren, inwieweit der Trivial-Charakter Janoshik als Ausdruck von Heyms eigenem Verständnis von Sozialismus zu dieser Zeit gelten konnte, das ja auch ein Großteil Naivität enthielt. Heym selbst mußte die Unmöglichkeit, literarische Übermenschengestalten mit sozialistischen Ideen zu verbinden, bei seinem nächsten Romanprojekt, No Turnpike Gates, einsehen. Es handelte sich dabei um ei-
35 Stefan Heym: Sometimes people ask me which of my books I like most. Manuskript 1959. Stefan-Heym-Archiv Cambridge. 36 Stefan Heym. About Alfred Hays’s All Thy conquests. Speech delivered in Brooklyn YWCA. Manuskript 1947. Stefan-Heym-Archiv Cambridge. 37 Hans Daiber: Der Fall Glasenapp. In: Die Zeit. 14.5.1976. S. 13.
154 nen reißerischen politischen Sexroman mit der Senatorin Elaine Barrows und dem jungen Spencer Somerset als Hauptgestalten, der Elemente aus Heyms eigenem Liebesleben auf die politische Szene Washingtons übertrug.38 Derselbe Orville Prescott, der sich so enthusiastisch über Hostages mit seiner melodramatischen Handlung als “integral part of the tragedy of Europe today” geäußert hatte, verurteilte diesen Roman (der niemals gedruckt wurde) in seiner beißenden Kritik als “utterly unconvincing study of what the author fondly believes is American life.”39 Trotz seiner reißerischen Qualitäten enthält dieser Roman auch politische Elemente, die Heym in seiner Autobiographie Nachruf anpries – er habe einen Vorgeschmack auf die Hexenjagd des Senators McCarthy gegeben.40 Auch in seinen folgenden in den USA entstandenen Romanen − dem Kriegsroman The Crusaders, dem Roman über den Prager Umsturz von 1948, The Eyes of Reason, oder seinem klassischen amerikanischen Arbeiterroman Goldsborough − erreichte Heym nicht wieder die melodramatische Höhe seines Erstlingswerks. Goldsborough, der letzte vielleicht interessanteste Roman Heyms aus dieser Periode, führt die überlegene Arbeitergestalt Janoshik in dem Amerikaner Carlisle Kennedy während der Kommunistenverfolgungen der McCarthy-Zeit fort. Die nach dem Vorbild des Hays-Romans theoretisch geforderte gesellschaftliche Repräsentation ist im Goldsborough-Roman verwirklicht, doch ist ihr die überzogene und reißerische Spannung von Hostages genommen. Das Buch wirkt dadurch zwar weniger aufregend, schlichter, langsamer und “deutscher” als das reißerische Hostages, doch mit diesem Konzept konnte Heym seine Vorstellung von sozial wirksamer Literatur auch in die DDR einbringen. Goldsborough sollte Stefan Heyms Eintrittskarte in die Literatur der DDR werden, wohin er 1952 übersiedelte. Eine der ersten Handlungen der DDR-Regierung war die englische Originalausgabe des Buches, das vor der McCarthy-Kommission nicht bestanden hatte. Goldsborough wurde von der DDR-Kritik dagegen als Meisterwerk des amerikanischen sozialistischen Realismus beschrieben, der die DDR-Literatur noch lange beeinflussen sollte.41
38
Stefan Heym: No Turnpike Gates. Manuskript 1943. Stefan-Heym-Archiv Cambridge. 39 Orville Prescott: Evaluation of No Turnpike Gates. Manuskript 1943. StefanHeym-Archiv Cambridge. 40 Nachruf. A.a.O. S. 230. 41 Johanna Rittinghaus: Heym, Stefan: Goldsborough (Vorausbesprechung). In: Buchbesprechung 10 (1953). S. 25-26; B. Nowak: Eine Stadt als Beweis. Stefan Heyms Roman Goldsborough ein wahres Bild der Vereinigten Staaten. In: Berliner Zeitung. 31.7.1954. S. 3; Ulrich Ditzel: Literatur über und aus Amerika.
155
In: Heute und Morgen. 9 (1954). S. 551-552; W. Rubin: Roman über das heutige Amerika. In: Neue Zeit (1954). S. 27-30; A. M. Uhlmann: Stefan Heym: Goldsborough. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. Leipzig 12.6.1954. S. 528-529; Gerhard Wolf: Der Mensch braucht Zeit, um klüger zu werden. In: Neue Deutsche Literatur 12 (1954). S. 154-163.
Karina von Tippelskirch
Mimikry als Erfolgsrezept: Mascha Kalékos Exil im Exil Mascha Kaléko belonged to a group of authors to whom the flight from Nazi Germany already meant a second exile. Along with many other Eastern European Jews, she came to Germany during WWI. There, she assumed the elective identity of a "typical” Berliner whose poetry showed no trace of her roots. The essay analyzes the impact of repeated emigration on the poet during different phases of her life. It focuses on the uneasy relationship between Eastern und Western Jews in Germany and on the effect it has had on German Exile Studies.
Mascha Kalékos Verse für Zeitgenossen erschienen in Buchform erstmals 1945 in Amerika.1 Im Gegensatz zur wesentlich später in Deutschland gedruckten Ausgabe2 enthält die Erstausgabe auch Gedichte, die für das deutsche Lesepublikum offenbar ungeeignet erschienen und nicht in die deutsche Edition aufgenommen wurden. In den beiden Gedichten ‘Bittgesuch an eine Bombe’ und vor allem in dem an das ‘Schma’ Jisrael’3 angelehnte ‘Höre, Teutschland’ drückt die Dichterin Ihren Haß auf das einst geliebte Heimatland offen aus.4 Stattdessen ist dem in Deutschland gedruckten Buch jedoch gleichsam als Motto ein Gedicht vorangestellt, das in der amerikanischen Ausgabe fehlt. Für diesen Beitrag, der die Aufmerksamkeit auf den von der Forschung bisher vernachlässigten Aspekt ihrer Herkunft lenken möchte, kann das Gedicht als Motto dienen:
1
Mascha Kaléko: Verse für Zeitgenossen. Cambridge, Mass. 1945. [Im folgenden zitiert als M.K.: Verse, 45.] 2 Mascha Kaléko: Verse für Zeitgenossen. Hamburg 1958. 3 Das nach seinen Anfangsworten aus Dtn 6,4, ‘Schma’ Jisrael’ [Höre Israel], benannte jüdische Hauptgebet, das täglich am Morgen und am Abend im Gottesdienst gesprochen wird und auch in der Todesstunde gebetet werden soll. 4 ‘Bittgesuch an eine Bombe.’ In: M.K.: Verse, 45, S. 28; ‘Hoere, Teutschland’, zu-sammen mit der ersten, englischsprachigen Version, die Mascha Kaléko am 14. März 1943 im New York Times Magazine veröffentlicht hatte. In: M.K.: Verse, 45 S. 22f. Auf Teile dieses Gedichtes geht die bisher einzige Dissertation über Mascha Kaléko ein: Irene Astrid Wellershoff: Vertreibung aus dem kleinen Glück: Das lyrische Werk von Mascha Kaléko. Diss. Aachen 1982. S. 171f.
158 Quasi ein “Januskript” Wie Janus zeigt zuweilen mein Gedicht Seines Verfassers doppeltes Gesicht: Die eine Hälfte des Gesichts ist lyrisch, Die andere hingegen fast satirisch. Zwei Seelen wohnen, ach, in mir zur Miete − Zwei Seelen von konträrem Appetite. Was ich auch brau in meinem Dichterkopf, Stets schüttelt Janus einen halben Kopf; Denn, was einst war, das stimmt uns meistens lyrisch, Doch das, was ist, zum großen Teil satirisch.
Wie zahlreiche andere Schriftsteller emigrierte die 1907 im galizischen Chrzanów geborene Mascha Kaléko mehrfach. Daß es sich dabei um kein Einzelschicksal, sondern um ein für zahlreiche Exilkünstler relevantes Problem handelt, machen Namen wie Rose Ausländer, Lili Körber, Elisabeth Bergner, Mischket Liebermann, Alexander Granach, H.W.Katz, Soma Morgenstern und Manes Sperber deutlich: sie alle kamen aus Osteuropa nach Deutschland, bzw. Österreich. Sie stammten aus in unterschiedlichem Maße assimilierten Elternhäusern, hatten in jedem Fall jedoch wenigstens in ihrer Kindheit und Jugend direkten Kontakt mit einem alltäglich praktizierten Judentum. Hierin unterscheiden sie sich von den meisten ihrer in Deutschland aufgewachsenen jüdischen Schriftstellerkollegen. Diese kamen oftmals aus seit mehreren Generationen assimilierten Elternhäusern und wendeten sich erst später in ihrem Leben wieder dem Judentum zu. In diesem Zusammenhang kann verallgemeinernd von zwei Wellen der sekundären Auseinandersetzung mit dem Judentum gesprochen werden: zum einen handelt es sich um Autoren, die sich bereits in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, besonders unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges und der nach Deutschland eingewanderten Ostjuden, wieder verstärkt mit ihrem eigenen Judentum auseinandersetzten.5 Hier wären beispielsweise Else Lasker-Schüler, Gertrud Kolmar, Arnold Zweig, Alfred Döblin, José Orabuena, Georg Hermann, 5
Neben Steven E. Aschheims Grundlagenwerk: Brothers and Strangers: The East European Jew in German and German Jewish Consciousness, 1800-1923. Madison, Wisconsin 1982, sei hier nur auf zwei jüngere Beiträge zu diesem Themenkomplex verwiesen, die zahlreiche weitere Literaturhinweise enthalten: Heather Valencia: Else Lasker-Schüler und Abraham Nochem Stenzel: Eine unbekannte Freundschaft. Frankfurt, New York 1995; sowie Delphine Bechtel: Milgroym, a Yiddish magazine of arts and letters, founded in Berlin by Mark Wischnitzer. In: Yale Companion to Jewish Writing and Thought in German Culture, 1096-1996. Ed. Sander L. Gilman and Jack Zipes. New Haven and London 1997. S. 420-426.
159 Franz Kafka, und natürlich Martin Buber und Franz Rosenzweig zu nennen. Neben diesen und zum Teil mit ihnen befreundet, begegnen uns Autoren, Schauspieler und andere Künstler, die selbst aus dem Osten Europas stammen und die dessen vielsprachige und religiös vielfältige Kultur bevor sie nach Westeuropa kamen bereits bewußt erlebten. An erster Stelle steht hier natürlich Joseph Roth. Erinnert sei aber auch an die zahlreichen jiddischen Künstler, die sich zeitgleich in Wien und Berlin und in anderen Städten Deutschlands aufhielten. Eine zweite Welle der Auseinandersetzung mit der jüdischen Herkunft und Identität bewirkte der Nationalsozialismus, und dies auch bei Autoren, für die die jüdische Abstammung bis zum Dritten Reich keine oder kaum eine Rolle gespielt hatte. – Erinnert sei an Nelly Sachs sowie an die ‘harte Minimaldefinition’, die Hilde Domin, nach ihrem Judentum befragt, gegeben hat: “Jude ist, wen Hitler dazu gemacht hat.”6 – Was sicher nicht auf jene Juden zutrifft, die sich bereits vor Hitlers Machtantritt als solche verstanden. Hierzu gehören die Eltern aller anfangs genannten Autoren, die als Kinder oder Jugendliche aus Osteuropa nach Deutschland oder Österreich emigrierten: Rose Ausländers Vater war Chassid und Anhänger des Wunderrabbis von Sadagora. Seine Entscheidung, sich “dajtsch” zu kleiden und deutsch zu sprechen erfolgte erst im Alter von 17 Jahren, und die Gedichte Rose Ausländers geben vom religiösen Judentum, das auch in ihrer Familie praktiziert wurde, ein beredtes Zeugnis. Von den Identitätswechseln, die H. W. Katz durch mehrmalige Emigrationen erfuhr, zeugen schon allein die Initialen seiner beiden, beziehungsweise fünf Vornamen: Herz Wolf wurde nach der Flucht aus Galizien in Thüringen zunächst zu Hermann und nach der erneuten Flucht aus Nazideutschland zu Henry William.7 H.W. Katz schrieb sein erstes Buch, Die Fischmanns, in Lyon im französischen Exil. In dem Roman, für den er 1937 den ersten Heinrich-Heine-Preis des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller im Exil erhielt, thematisierte er eben jene Fluchterfahrungen, die er als Kind im Ersten Weltkrieg gemacht hatte und die sich nun, angesichts des Nationalsozialismus, nochmals für ihn wiederholten. So wie seine Eltern mit ihm aus Galizien, so floh er wenig später mit seiner Frau und der 1938 in Paris geborenen Tochter über die Pyrenäen. Dank Varian Fry und dem Emergency Rescue Committee konnte sich die Familie nach New York retten. Die Psychologie würde in einem solchen Falle von Retraumatisierung spre6
Hilde Domin. In: Mein Judentum. Hrsg. v. Hans Jürgen Schultz. 4. überarb. Aufl. Stuttgart 1991. S. 106. 7 Zu der für viele Emigranten zentralen Frage der Namensänderung vgl. die diesbezügliche Passage in H. W. Katz’ Roman: Die Fischmanns. Frankfurt a.M. 1988. S. 172.
160 chen. Auch ohne ihr analytisches Instrumentarium fällt es nicht schwer festzustellen, daß unter dem Eindruck der neuerlichen Flucht die alten Fluchterlebnisse zu Tage gefördert wurden, gleichsam eruptionsartig. H.W. Katz standen nach eigenen Aussagen beim Schreiben des Romans weder Geschichtsbücher noch andere Hilfsmittel zur Verfügung, sondern nur das eigene Gedächtnis, in das die frühen Kindheitserlebnisse offensichtlich tief eingebrannt waren.8 H.W. Katz hat das Schreiben seines Romans “eine Art Therapie” genannt, die ihm half, die “ungemein schweren Jahre in Lyon zu überstehen.”9 Sein Buch gibt ein eindringliches Bild vom Leben im Schtetl, der Flucht in den Kriegswirren und der Ankunft in Deutschland. Lesen wir Mascha Kalékos Biographien in den einschlägigen Nachschlagewerken der Exil- und Frauenliteratur, so entsteht der Eindruck, daß ihre Kindheit – sie ist ein halbes Jahr jünger als Katz und stammt wie er aus Galizien – von ähnlichen Erlebnissen bestimmt war: Mascha Kaléko, die aus einer russisch-jüdischen Familie stammte, kam auf der Flucht vor Pogromen 1914 mit ihrer Familie nach Deutschland. Nach Aufenthalten in Frankfurt/M. und Marburg/Lahn zog die Familie 1918 nach Berlin, wo Mascha Kaléko nach der Mittleren Reife eine Lehre bei der jüdischen Gemeinde absolvierte.10
Bei Ludger Heid hört sich der Anfang der Biographie noch dramatischer an: “Auf der Flucht vor blutigen Pogromen in Galizien kommt die Familie Engel zu Beginn des ersten Weltkriegs nach Deutschland.”11 Ludger Heids Kurzbiographie hat im folgenden jedoch den Vorteil größerer Genauigkeit. Zu nennen sind als wesentliche Stationen der Kindheit: 1914 kommt Mascha Kaléko, damals noch Golda Malka Aufen, mit ihren Eltern und ihrer Schwester nach Deutschland. Der Vater wird während des Ersten Weltkrieges, also unmittelbar nach der Ankunft der Familie in Deutschland, als “feindlicher Ausländer” interniert. Die Mutter lebt mit den beiden Töchtern zunächst in Frankfurt am Main und während der zwei folgenden Jahre, 1916-1918, in Marburg. Golda Malka Aufen ist elf Jahre alt, als sie nach Berlin umzieht. Nachdem der Vater aus der Internierung 8
Zur Entstehung des Romans vgl. H. W. Katz: Nachwort. In: Ders: Die Fischmanns, A.a.O. S. 194-204, hier S. 202f. 9 Ebd. S. 203. 10 Renate Wall: Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen im Exil 1933-1945. Bd 1. Freiburg i. Br. 1995. S. 162. 11 Ludger Heid: Kaléko, Mascha. In: Jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert: Lexikon zu Leben und Werk. Hrsg. v. Jutta Dick und Marina Sassenberg. Reinbeck bei Hamburg 1993. S. 200-202, hier S. 200.
161 entlassen worden war, hatte dieser eine Anstellung bei einer jüdischen Gemeinde gefunden. Die Familie lebt im Scheunenviertel, dem ebenso bekannten wie damals berüchtigten Quartier der Ostjuden. Die jüngste mir bekannte Kurzbiographie der Dichterin setzt einen anderen Aspekt an den Anfang des Lebenslaufs: Mascha Kaléko wurde als uneheliches Kind des russischen Kaufmanns Fischel Engel und der Österreicherin Shoshana Aufen geboren. Erst 1922 heirateten die Eltern.12
Das klingt nach Bohéme, vielleicht aber auch nach ungeordneten Verhältnissen; auf jeden Fall nicht nach einem bieder-bürgerlichen Lebenslauf. Ein Russe, eine Österreicherin, zwei uneheliche Kinder. Und alle drei Nachschlagewerke geben, wie übrigens auch Irene Wellershoffs Dissertation, als Geburtsort “Schidlow”, bzw. “Szydlow”, heute polnisch “Chrzanow” an.13 Allein Gisela Zoch-Westphals Biographie “Aus den sechs Leben der Mascha Kaléko”14 nennt den wirklichen Geburtsort der Dichterin: Chrzanow, das mit Schidlow, dem Geburtsort von Mascha Kalékos Vater, nicht identisch ist. Diese Information ist seit der im Buch reproduzierten Geburtsurkunde jedermann zugänglich.15 Gisela Zoch-Westphal beschreibt außerdem, wo Chrzanow auf der Landkarte zu finden ist: in Westgalizien, nahe Krakau, im Dreiländereck Rußland-Österreich-Preußen.16 Der Hinweis auf diesen in allen Nachschlagewerken überlieferten Fehler geschieht nicht in der Absicht, um meine Kollegen der Ungenauigkeit zu bezichtigen oder des Irrtums zu überführen. Daß der Geburtsort offenkundig außer von Gisela Zoch-Westphal, die Mascha Kaléko persönlich kannte, verwechselt wird, nehme ich vielmehr als Symptom einer Fremdheit. Zum anderen werden hier aber auch – unbewußte – Schreibstrategien der Exilforschung sichtbar. Würde es sich nicht um den österreichischen Teil Galiziens handeln, so könnten wir von “böhmischen Dörfern” sprechen, zu denen Chrzanow für die deutsche Exilforschung gehört. Es ist wie so viele Provinzen, in denen einst “Menschen und Bücher lebten” zur 12
Petra Budke und Jutta Schulze: Schriftstellerinnen in Berlin 1871 bis 1945: Ein Lexikon zu Leben und Werk. Berlin 1995. S. 202-205, hier S. 202. 13 So auch die Artikel: Mascha Kaléko. In: Literaturlexikon: Autoren und Werke deutscher Sprache. Hrsg. v. Walter Killy. Bd. 6. Gütersloh 1990. S. 199. 14 Gisela Zoch-Westphal: Aus den sechs Leben der Mascha Kaléko: Biographische Skizzen, ein Tagebuch und Briefe mit 62 Fotos und Zeichnungen sowie 19 Dokumenten. 2., durchgesehene Aufl. Berlin 1988. 15 Ebd. S. 16f. 16 Ebd. S. 15.
162 terra incognita geworden und “der Geschichtslosigkeit anheimgefallen”, um mit Paul Celan zu sprechen,17 und dies nicht allein geographisch, sondern auch als geistige Landschaft. Wollte man Chrzanow heute orten, so müßte man wohl sagen, daß es etwas weniger als 25 km von Auschwitz entfernt liegt. 1907, im Geburtsjahr der Dichterin, lag Chrzanow am Verkehrsknoten-punkt zweier Hauptstraßen von Ost nach West und Nord nach Süd: The city lay on the main highway connecting Eastern and Western Europe. The railroad line from Czernowitz through Lemberg to Vienna passed through the town, connecting Galicia to Germany and St. Petersburg to Rome. Naturally, the influences of eastern and western cultures were felt among the Jews of Chrzanow, both intellectually and economically.18
Dies und wesentlich mehr erfahren wir aus einem Jisker-Buch, das als eines der ersten Gedenkbücher für ein während der Shoa vernichtetes Schtetl 1949 in Regensburg auf jiddisch erschien, und das 1989 mit einer englischen Übersetzung neuaufgelegt wurde. Dort läßt sich ebenfalls lesen, daß es bis 1918 keine Pogrome in Chrzanow gab. Diese fanden jenseits der allerdings nahegelegenen russischen Grenze statt. Als sich jedoch Ende 1914 russische Truppen dem Schtetl näherten, flohen große Teile der jüdischen Bevölkerung westwärts, vor allem nach Wien, Prag und Berlin. Es stand zu befürchten, daß es nach der Eroberung der Stadt zu einem Pogrom kommen würde. Diese Sorge wurde jedoch erst nach Ende des Ersten Weltkrieges blutige Realität. In dem bis 1918 zur Donaumonarchie gehörigen Chrzanow hatten die Juden ähnlich wie im besser bekannten Czernowitz gleiche Bürgerrechte und waren daher entsprechend kaisertreu. Bereits vor Kriegsausbruch gab es wie überall aus Osteuropa eine starke jüdische Auswanderungsbewegung. Zu ihren beliebtesten Zielen gehörte Berlin.19 Daß es sich bei der vielzitierten “Flucht vor Pogromen” um einen Topos sowohl der Emigranten als auch der späteren Forschung handelt, hat bereits Arthur Hertzfeld deutlich gemacht. Die – allerdings äußerst reale – 17
Paul Celan: Ansprache anläßlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen. In: Ders: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Hrsg. v. Beda Allemann und Stefan Reichert. Bd. 3. Frankfurt a.M. 1986. S. 185f. 18 Chrzanow: The Life and Destruction of a Jewish Shtetl. Ed. Mordechai Bochner. New York 1989. S. 8. – Eine Kopie des Buches ist im New Yorker YIVO Institute for Jewish Research vorhanden. Den Mitarbeitern des YIVO, insbesondere Zachary M. Baker, danke ich für Ihre freundliche Unterstützung bei meinen Recherchen. 19 Ebd. S. 14.
163 Angst vor Pogromen gehörte zu den in den Gastländern am ehesten akzeptierten Emigrationsgründen – anders als die erdrückende Armut oder die Angst vieler Männer vor der Konskription ins russische Heer. Gerade letzteres wäre im Falle von Fischel Engel, dem Vater Mascha Kalékos, am Vorabend des Ersten Weltkrieges ein naheliegender Grund, sich nach Westen zu bewegen. Er ist russischer Staatsbürger, seine Frau der Staatsbürgerschaft nach jedoch Österreicherin. Im Falle eines bewaffneten Konfliktes, der absehbar wurde, hätte Fischel Engel wie so viele Ostjuden gegen seine eigenen Angehörigen kämpfen müssen. Ob die Familie Aufen/Engel vor oder unmittelbar nach Kriegsausbruch Chrzanow verließ, muß offen bleiben. Die Russischen Truppen erreichten erst Ende 1914 Chrzanow. Zu dieser Zeit ist die Familie Aufen/Engel bereits in Frankfurt. Ebenso unklar ist, ob Mascha Kalékos Familie Berlin zum Ziel hatte und warum sie sich zunächst in Frankfurt und Marburg ansiedelte. Möglicherweise hängt dies mit der Internierung des Vaters zusammen. Keines der erwähnten Werke gibt hierüber Auskunft. Ein Umstand, der nicht den Biographen anzulasten ist, sondern der in Mascha Kalékos Umgang mit der eigenen Biographie begründet liegt. Sie tilgte vom Anfang ihrer Karriere an bewußt jegliche Spur der ostjüdischen Herkunft, z.B. auch in den Klappentexten ihrer beiden ersten Bücher, und ebenso in ihrem Werk. Ihr erstes Buch, Das lyrische Stenogrammheft, eröffnet eines der wenigen “autobiographischen” Gedichte mit dem Titel ‘Interview mit mir selbst.’ Es beginnt wie folgt: Ich bin vor nicht zu langer Zeit geboren In einer kleinen, klatschbeflissnen Stadt, Die eine Kirche, zwei bis drei Doktoren Und eine große Irrenanstalt hat. Mein meistgesprochnes Wort als Kind war “nein”. Ich war kein einwandfreies Mutterglück. Und denke ich an jene Zeit zurück: Ich möchte nicht mein Kind gewesen sein. Im letzten Weltkrieg kam ich in die achte Gemeindeschule zu Herrn Rektor May. Ich war schon zwölf, als ich noch immer dachte, Daß, wenn die Kriege aus sind, Frieden sei.20
“Eine Kirche, zwei bis drei Doktoren, und eine große Irrenanstalt” – und keine “Schul”, wie die Synagoge auf Jiddisch heißt. Wer würde nach Lek20
M.K.: Interview mit mir selbst. Zitiert nach: Das lyrische Stenogrammheft. Hamburg 1988. S. 10f.
164 türe dieser Selbstaussagen auf eine galizisches Schtetl und eine Flüchtlingskindheit schließen? Daß Mascha Kaléko jedoch ein auffallend begabtes Kind war, daran erinnerte sich in Israel noch 1975 ihre frühere Deutschlehrerin aus Marburg.21 Retuschiertes und Dokumentarisches werden zu einer passablen Selbstbiographie verwoben, die sich kaum von denen anderer deutscher Kleinstädter unterscheidet. Als Mascha Kaléko zwölf Jahre war, war der Erste Weltkrieg zwar zu Ende, aber Chrzanow inzwischen Ende 1918 zum Platz des ersten Pogroms im soeben befreiten Polen geworden. Es war von langer Hand und mit Duldung und Unterstützung staatlicher Behörden vorbereitet worden und fand am 5. und 6. November 1918 statt. Beteiligt waren polnische Nationalisten und Antisemiten aus allen sozialen und politischen Schichten, Katholiken ebenso wie Angehörige der polnischen Intelligenz, Arbeiter ebenso wie gewöhnliche Kriminelle. Viele waren eigens aus umliegenden Orten angereist. Besonders enttäuschend war für die jüdischen Arbeiter, daß sich auch Mitglieder und Parteiführer der Polnischen Sozialistischen Partei aktiv an den Ausschreitungen beteiligten, unter ihnen der spätere Parlamentsabgeordnete Zhulawski.22 – Kaum ein Grund also für die Familie Aufen/Engel, um in das nun polnische Schtetl zurückzukehren. 1918 ließ sich die Familie in Berlin nieder. Sie kehrte nie nach Chrzanow zurück. Damit bewegt sich die Familiengeschichte Mascha Kalékos in einer für die ostjüdische Emigration im allgemeinen und die aus Chrzanow im speziellen, nicht ungewöhnlichen Bahn: The first place the emigrating tailors went to was Berlin. [...] The Chrzanow tailors in Berlin did not forget their home town. They created a Chrzanow Society in Berlin in 1918, which did a great deal to help the Jews of Chrzanow as they arrived in Berlin, and which also raised money to benefit the existing philanthropic institutions in Chrzanow.23
Auch hinsichtlich der Geschlechterrollen ist der Emigrationsverlauf typisch: während die Frauen oftmals auf Integration und Assimilation drängten und daher eher bereit waren, außerhalb der einem Getto ähnlichen jüdischen Ballungszentren zu leben, drängten die oftmals deutlich konservativeren Väter – Patriarchen, die von der Tradition profitierten − in die Sammelpunkte jüdischer Orthodoxie. Die Niederlassung von Kalékos Vater im Berliner Scheunenviertel kann auch als Indiz für ein solches Verhaltensmuster betrachtet werden, zumal der Vater dort die Funktion
21
Vgl. G. Zoch-Westphal: Aus den sechs Leben. A.a.O. S. 22f. Zu Hergang und Beteiligung am Pogrom vgl.: Chrzanow. A.a.O. S. 10f. 23 Ebd. S. 14. 22
165 eines “Maschgiech” versah, eines Kultusbeamten, der über die Kaschrut, die rituelle Reinheit der Speisen, wacht.24 Wie aber paßt die in der Geburtsurkunde erwähnte uneheliche Geburt in dieses Bild? – Als berufener Sachverständiger sei Joseph Roth zitiert, der in seinem Essay “Juden auf Wanderschaft” auch auf die jüdischen Namen und Familienverhältnisse eingeht: Alle Christen haben verständliche europäische Namen. Juden haben unverständliche und jüdische. Nicht genug daran: sie haben zwei und drei durch eine false und recte verbundene Familiennamen. Man weiß niemals, wie sie heißen. Ihre Eltern sind nur vom Rabbiner getraut worden. Diese Ehe hat keine gesetzliche Gültigkeit. Hieß der Mann: Weinstock und die Frau: Abramofsky, so hießen die Kinder dieser Ehe Weinstock recte Abramofsky oder auch Abramofsky false Weinstock. Der Sohn wurde auf den jüdischen Vornamen: Leib Nachman getauft. Weil dieser Vorname so schwierig ist und einen so aufreizenden Klang haben könnte, nennt sich der Sohn: Leo. Er heißt also: Leib Nachman genannt Leo Abramofsky false Weinstock.25
Die ostjüdischen Namen und Verhältnisse bereiteten nicht nur der damaligen Polizei Schwierigkeiten, wie Roth fortfährt, sondern offensichtlich auch der auf deutsche Lebensläufe spezialisierten Germanistik und Exilwissenschaft. Es liegt nahe, daß Fischel Engel und Chaja Rejsel Aufen unter einer Kuppa in Galizien nach jüdischen Ritus und ohne gesetzliche Wirkung miteinander getraut worden waren, zumal Fischel Engel in Berlin als Kultusbeamter arbeitete. Auch wenn es hierüber zumindest bisher keine letzte Sicherheit gibt, möchte ich in diesem Zusammenhang anregen, “Dokumenten” mit Vorsicht und kritisch zu begegnen. Die Geburtsurkunde, die die uneheliche Geburt Golda Malka Aufens sowie das Vaterschaftsbekenntnis Fischel Engels vermerkt, wurde 1938 in Polen, in Chrzanow, ausgestellt. Mascha Kaléko benötigte sie zur erneuten Emigration. Beschreibt Mascha Kalékos Gedicht ‘Interview mit mir selbst’ ironisch-distanziert die Naivität der Zwölfjährigen, die noch immer meinte, das “wenn die Kriege aus sind, Frieden sei”, so wußte die zweiundzwanzigjährige literarische Debütantin eines mit Sicherheit: daß es nicht von Vorteil war, aus Chrzanow, bzw. Galizien zu stammen. Pogromopfer, “feindlicher Ausländer”, nichts davon lud zur Identifikation oder zum Vorzeigen ein. Außerdem hatte sich nach Kriegsende in Deutschland die Stimmung bezüglich der Ostjuden nicht etwa verbessert, sondern ver24
Vgl. G. Zoch-Westphal: Aus den sechs Leben. A.a.O. S. 24. Joseph Roth: Juden auf Wanderschaft. In: Ders: Orte: Ausgewählte Texte. Leipzig 1990. S. 243f.
25
166 schlechtert. Juden waren infolge der Dolchstoßlegende ohnehin zu Sündenböcken gestempelt. Der allgemeine Antisemitismus wurde während der Weltwirtschaftskrise und der Inflation angestachelt. Ostjuden waren seine beliebteste und am leichtesten identifizierbare Zielscheibe. Da sie auch von Teilen der assimilierten deutschen Juden abgelehnt oder sogar offen angegriffen wurden, waren sie zudem das schwächste Glied in der Kette. Daß daneben von einigen wenigen Intellektuellen ein Kult um den idealisierten Typus des “Ostjuden” betrieben wurde, änderte an der realen Lage der ostjüdischen Zuwanderer wenig. Sie wurden sowohl wegen ihrer Erscheinung als auch aufgrund ihres jiddischen “Jargons” oder “Mauschelns” verachtet – Begriffe, die in ihrer Abschätzigkeit für sich sprechen. Bei einem Blick durch die Presse der Weimarer Republik fallen all jene Schlagworte des aggressiven Antisemitismus ins Auge, der sich bald darauf gegen alle Juden richten sollte: ‘Schnorrertum, Parasiten, arbeitsscheu, schmutzig, unhygienisch, Krankheiten verbreitend, kriminell, Prostitution, nur am Geld interessiert’, selbst die Ritualmordbeschuldigung wurde wiederholt geäußert.26 Von politischer Seite kamen außerdem Verdächtigungen als Revolutionäre und Kommunisten hinzu. Auf der anderen Seite, d.h. im jiddischen Sprach- und Kulturraum, existierte eine weitverbreitete Verehrung und Hochschätzung der deutschen Kultur. Dies machen schon allein die intensive Lektüre und die zahlreichen zeitgenössischen Übersetzungen deutscher Literatur deutlich. Itsik Manger legte sich gar eine fiktive Vita zu, bei der er seinen Geburtsort kurzerhand nach Berlin verlegte und vorgab, dort eine deutsche Schulausbildung erhalten zu haben. Erst im Alter von vierzehn Jahren sei er, so Manger, in das rumänische Jassy gekommen und habe dort gelernt, Jiddisch zu sprechen – was keineswegs den Tatsachen entsprach.27 Wen wundert es vor diesem Hintergrund, daß Mascha Kaléko sich konsequent als das präsentierte, was sie selbst so sehr sein wollte und wie ihr Lesepublikum sie gern sah: eine “waschechte Berlinerin”: Hol aus dem Schrank die Frühjahrsmäntel, Jrete! Die ollen Wintafetzen pack in Naftalin! − Und ihr wascht euch man dalli alle beede: 26
Trude Maurer: The East European Jew in the Weimar Press: Stereotype and Attempted Rebuttal. In: Studies in Contemporary Jewry. Vol. I. Bloomington 1984. S. 176-198, hier S. 177-181. 27 Diese erste und falsche Version der Jugendzeit ist eingegangen in das von Zalmen Rejzen herausgegebene Leksikon fun der jidisher literatur, prese un filologje. 4 Bde. Wilna 1928-1929. Vgl. David G. Roskies: A Bridge of Longing: The Lost Art of Yiddish Storytelling. Cambridge, Mass. 1995. S. 264.
167 Et jet in Mutta Jrien! Die Stullen ha’ck in’n Koffa schon vastochen, Hast du’t Serwie un die Zichorie auch? In Tejel kenn wa denn jemietlich Kaffee kochen Nach altem Brauch!28
Das Eintrittsbillet in die literarische Welt der Weimarer Republik verschaffte ihr die Wahlidentität der “typischen Berlinerin”. Sie schrieb Großstadtdichtung, Zeitungsgedichte im Stil der “Neuen Sachlichkeit”, Gebrauchslyrik also für ein breites Publikum. Eine ihrer liebsten Denkfiguren ist die des “möblierten Herrn”. Ihre Lyrik wird begeistert aufgenommen. Hermann Hesse ist einer ihrer ersten Bewunderer und Förderer. Er lobt ihren Stil als “eigenwillig-ironisch”, “schnoddrig-unsentimental”, die Mischung aus “Skepsis und Trauer, Humor und Wehmut”.29 Gerade letzteres aber ist auch bezeichnend für die jiddische Dichtung; eine Verbindung, auf die Gisela Zoch-Westphal ganz zu recht hinweist.30 Ein Gebrauchslyriker braucht ein Publikum, das seine Lyrik gebrauchen kann. Mascha Kaléko war rezipientenabhängig. Erst nachdem sie ihr deutsches Lesepublikum verloren hatte, setzte sie sich offen und intensiv mit ihrem Judentum auseinander. Das dies auch unter dem Druck des Hitlerfaschismus und später der Judenvernichtung geschah, ist unbestritten. Sowohl Irene Wellershoff als auch Sigrid Bauschinger stellen in ihren Kaléko-Studien fest, daß es in Mascha Kalékos Frühwerk keine Indizien für ihr Judentum gäbe. Der Schluß, den beide Autorinnen daraus ziehen und die daraus abgeleiteten Betrachtungen, sind meines Erachtens nach unrichtig. Sigrid Bauschinger fragt nach Mascha Kalékos Judentum und beantwortet diese Frage folgendermaßen: Dies war, wie in so vielen Fällen, der reinste Hohn, denn nirgends in ihren ersten beiden Büchern ist auch nur eine kleine Spur von Judentum zu finden. Da ist Deutschland, Preußen, Berlin, deutsche Landschaft, deutsche Feste. ‘Lediger
28
M.K.: ‘Piefkes Frühlingserwachen’. In: Das lyrische Stenogrammheft. A.a.O. S. 105f. – Bei diesem Gedicht handelt es sich um eine der ersten beiden Veröffentlichungen Mascha Kalékos, und wie viele ihrer ersten Publikationen berlinert es besonders heftig. – Vgl: Irene Astrid Wellershoff: Vertreibung. A.a.O. S. 258. (“Erstveröffentlichungen”). 29 Hermann Hesse. In: Neue Deutsche Bücher (1935-36), hier zitiert nach: G. Zoch-Westphal: Aus den sechs Leben. A.a.O. S. 36-38. 30 Ebd. S. 36.
168 Herr am 24. Dezember’ heißt ein Gedicht im Lyrischen Stenogrammheft und nicht ‘am Sederabend’.31
Anläßlich ihres ersten nach dem Publikationsverbot entstandenen Gedichtes schreibt Irene Wellershoff: Die ersten Exilgedichte nach der zwangsweisen Stille von vier Jahren überraschen den Leser durch ihre Thematik und ihren Ton, in denen man die kesse Berliner Großstadtdichterin der frühen dreißiger Jahre nicht wiedererkennt [...]. In keinem ihrer frühen Gedichte spielt die jüdische Religion irgend eine Rolle, ja man kann nicht einmal aus Bildern oder Anspielungen nebenbei erkennen, daß ihre Autorin jüdischer Herkunft ist. Offensichtlich war diese Tatsache für Mascha Kaléko vor 1933 völlig unwichtig.32
Einige Indizien mögen veranschaulichen, daß diese Schlußfolgerungen auf Mascha Kaléko keineswegs zutreffen: Mascha Kaléko lebt bis zu ihrer eigenen Berufstätigkeit im Berliner Scheunenviertel. Sie absolviert eine Lehre beim “Arbeiterfürsorgeamt der jüdischen Organisationen Deutschlands.”33 Mascha Kaléko ist in erster Ehe mit dem Hebraisten Saul Kaléko verheiratet. Er ist der Autor des Standardsprachkurses für Zionisten und andere, die sich in Deutschland in den 30er Jahren auf die Emigration nach Palästina vorbereiten. Mascha Kaléko reist 1938 selbst nach Palästina und erkundet das Land, sicher auch unter Aspekten der möglichen Einwanderung.34 Seit 1937 lebt sie mit Chejmjo Vinaver zusammen. Dieser ist, wie bereits erwähnt, Musikwissenschaftler und sammelt chassidische Synagogalgesänge. Er wird in späteren Jahren eines der Standardwerke auf diesem Gebiet veröffentlichen. Chemjo Vinaver ist der Vater von Mascha Kalékos einzigem, am 28. Dezember 1936 in Berlin geborenen Sohn, der nach Hinzuziehung der Bibel die Namen “Evjatar Alexander Michael” bekommt.35 Das Kind wird von den Eltern mit dem jiddischen Kosenamen “Avitarele” gerufen.36 Lesen wir Mascha Kalékos Tagebuch aus dieser Zeit, so muß angenommen werden, daß Vinavers Deutsch ebenso gebrochen war, wie in 31
Sigrid Bauschinger: Mascha Kaléko. In: Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933. Hrsg. v. John M. Spalek und Joseph Strelka. Bd. 2. Tl. 1. Bern 1989. S. 410420, hier S. 418. 32 Irene Astrid Wellershoff: Vertreibung. A.a.O. S. 148f. 33 Zu diesen und den folgenden Informationen vgl. nochmals Ludger Heids Artikel: Mascha Kaléko. In: Jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert. A.a.O. 34 Vgl. nochmals Irene Astrid Wellershoff: Vertreibung. A.a.O.S. 148-151; sowie G. Zoch-Westphal: Aus den sechs Leben. A.a.O. S. 70-76. 35 Vgl. G. Zoch-Westphal: Aus den sechs Leben. A.a.O. S.55 sowie S. 85f. 36 Vgl. die Tagebuchseite “Avitar” von Mascha Kaléko. In: G. Zoch-Westphal: Aus den sechs Leben. A.a.O. S. 66.
169 späteren Jahren bekanntermaßen sein Englisch. Wenn die Dichterin ihren Mann in den zumindest am Anfang der Ehe fortwährend stattfindenden Auseinandersetzungen zitiert, so begegnen uns zahlreiche Jiddismen wie “zermischt”, “Zimess machen”, “meschugge” oder “ein Gaslen” sein.37 – Es sei nochmals daran erinnert, daß Vinaver aus Warschau stammt. Daß Mascha Kaléko von zu Hause aus Jiddisch verstand, ist selbstverständlich. Daß sie es auch las, machen spätere Texte deutlich, etwa, wenn sie die Lower Eastside beschreibt und die in hebräischen Buchstaben geschriebenen Ladenschilder liest.38 Auch in New York hatte die Familie Kontakt zu jiddischen Autoren. So schreibt Mascha Kaléko am 15. Mai 1950 in einem Brief an Johannes Urzidil: Wir hoffen, Euch oder Sie, auf jeden Fall aber YOU, diesen Sonntag abend erwarten zu duerfen. Inclusive verehrten Logierbesuchs. Ausser Euch und den Vinavers wird nur noch ein Mann da sein, namens Schlomo Grodzenski, seines Zeichens Editor des “Yiddisher Kemfer” [...]39
Das stärkste Zeichen einer Existenz weniger in als zwischen zwei Kulturen ist jedoch Mascha Kalékos Tagebuch. Es beginnt am 1.1.1938 und ist in jiddischen Buchstaben jedoch auf Hochdeutsch geschrieben.40 Es ist nach beiden Seiten hin gleichermaßen fremd wie vertraut: obwohl auf Deutsch abgefaßt, ist es dem Auge deutschsprachiger Leser nicht entzifferbar; jiddischen Lesern begegnet es mit den vertrauten hebräischen Lettern jedoch nicht auf Jiddisch. Seit der Einwanderung nach Amerika sind die Aufzeichnungen auf Deutsch in lateinischen Lettern verfaßt und 37
Ebd. S. 67-71. Vgl. Mascha Kalékos Schilderung der Lower Eastside, die um die Jahrhundertwende zu Manhattans Ballungszentrum der ostjüdischen Einwanderer wurde: ‘Lower Eastside’. In: Dies.: Der Gott der kleinen Webfehler. München 1981. S. 17-40. 39 Der Brief Mascha Kalékos befindet sich zusammen mit anderen Briefen der Autorin an den mit ihr befreundeten Dichter im New Yorker Leo Baeck Institut im Nachlaß von Johannes Urzidil: AR7110, Folder 3/49, “Mascha Kaléko”. An dieser Stelle gilt mein Dank den Mitarbeitern des New Yorker Leo Baeck Institutes, insbesondere Diane Spielmann, für ihre stets freundliche Unterstützung. Die im Brief erwähnte Zeitschrift, “Jidischer Kemfer”, erscheint seit 1906 einmal wöchentlich. Sie ist eine Publikation der “Labor Zionists”. Vgl. Irving Howe: World Of Our Fathers: The Journey Of The East European Jews To America And The Life They Found And Made. New York 1994 (1. Aufl. 1976.). u.a. S. 544. 40 Das Tagebuch wurde von dem in Zürich lebenden jiddischen Dichter Lejzer Ajchenrand transkribiert und ist in Gisela Zoch-Westphals Biographie aufgenommen worden. Dort kann man ebenfalls drei faksimilierte Seiten des in hebräischen Buchstaben geschriebenen Tagebuches lesen. Vgl. Zoch-Westphal: Aus den sechs Leben, A.a.O. S. 62 u. 102f. 38
170 nur einmal, mitten im Text, fällt die Autorin für zwei Seiten in den ihr eigenen und einzigartigen Stil zurück und schreibt die deutsche Sprache in hebräischen Buchstaben. Seit Beginn der vierziger Jahre finden immer mehr englische Wörter und Wendungen Aufnahme, und am 22. Januar 1944 endet das Tagebuch, das inzwischen fast vollständig ins Englische hinübergewechselt ist.41 Mascha Kaléko teilte das Schicksal vieler, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in die westlichen Metropolen strömten: sie wurde nach 1933 ein zweites Mal vertrieben und in ein Judentum zurückgestoßen, aus dem sie gerade versucht hatte, sich zu emanzipieren. Zwischen 1914 und 1921 kamen etwa 100 000 Ostjuden ins Deutsche Reich, von denen 40% im Laufe der späteren Jahre in ihre alte Heimat zurückkehrten oder weiterwanderten.42 Gerade jene, die als Kinder nach Deutschland kamen, hatten einen starken Wunsch nach Zugehörigkeit.43 Wie deutlich wurde, handelte es sich dabei nicht um ein Geburtsrecht. So müssen wir Mascha Kalékos lyrische Diktion eher als Ausdruck eines unbedingten Integrationswillens als einer geglückten Integration ansehen. Jene Ostjuden, die ihrer traditionellen Herkunft den Rücken wandten, bezahlten im übrigen oftmals einen hohen Preis: Der Schritt aus dem Getto, auch wenn es inzwischen in Berlin lag, führte oftmals nicht nur zum Verlust der dort verbleibenden Freunde. In frommen jüdischen Familien konnte dies bis zur vollkommenen Aufgabe und dem Für-tot-erklären der Tochter führen.44 Mascha Kaléko gehörte zu jenen, die sich bewußt für eine Lösung aus der ostjüdischen Tradition ihres Elternhauses entschieden. In einem Brief an Martin Buber vom 23. Oktober 1957 schildert sie ihre frühere Entfremdung. Interessanterweise spricht der Brief gleich zu Anfang auch jenes Schweigen hinsichtlich jüdischer Themen in der Öffentlichkeit an, das keineswegs als Desinteresse gegenüber diesen interpretiert werden darf und das im “engeren Kreise” offenkundig nicht galt: 41
Ebd. S. 62-132. Vgl. Trude Maurer: The East European Jew. A.a.O. S. 176. 43 G. Zoch-Westphal: Aus den sechs Leben. A.a.O. S. 27f. 44 Vgl. etwa die entsprechenden Passagen in Alexander Granachs Autobiographie, die die von beiden Seiten, Juden und Christen, angefeindete Verliebtheit zwischen Granachs Schwester Rachel und dem christlichen Nachbarssohn Iwan schildern. Alexander Granach: Da geht ein Mensch: Roman eines Lebens. München und Zürich 1993. S. 41f., 47f. und 54f. Während Granachs Schilderung sich noch auf Osteuropa bezieht, berichtet die stark ideologielastige Lebensbeschreibung Mischket Liebermanns vom Prozeß ihres eigenen Abschieds aus dem Scheunenviertel. – Vgl. Mischket Liebermann: Aus dem Getto in die Welt: Autobigraphie. Berlin (DDR) 1976. S. 51 u. 59. 42
171 Ich habe Ihnen all diese Jahre hindurch schweigend, und in meinem engeren Kreise etwas weniger schweigend, Dank gezollt, denn der Chassidismus, dem ich elterlicher Abstammung nach zugehörte, dem ich aber durch Erziehung und Umgebung entrückt war, ist mir durch Sie wieder so nahe gerückt, wie er offenbar seit Urbeginn meines Lebens geplant war.45
Erst durch Buber und seine “Chassidischen Geschichten” habe sich ihr das Tor zur jüdischen Mystik geöffnet – zu einer Welt, der sie sich elterlicherseits einmal verbunden fühlte. Wenn wir Mascha Kalékos Hinwendung zu jüdischen Themen im Exil verstehen wollen, so am ehesten als Rückkehr, und nicht als eine allein von außen erzwungene Identifikation mit einem Judentum, das ihr zuvor vollkommen fremd und unwichtig war. Das Bild der so vollständig assimilierten deutschen Juden, die gar nicht mehr wußten, daß sie Juden waren, und erst durch Hitler wieder zu solchen gemacht wurden, ist zu einem Topos der Exilforschung geworden. – So zutreffend diese Analyse in vielen Fällen ist, so falsch ist ihre unbesehene Übertragung auf nahezu jeden deutsch-jüdischen Exilautor. Er trifft zumindest nicht auf jene zu, die wie Mascha Kaléko aus dem Ostjudentum stammten und sich Deutschland nach einer ersten Emigration oder Flucht zur Wahlheimat erkoren hatten, ehe sie aus dieser erneut verstoßen wurden.
45
“Brief 376. Mascha Kaléko an Martin Buber”, In: Martin Buber: Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten. Bd. III: 1938-1965. Heidelberg 1975. S. 440f.
Thomas F. Schneider
Das Exil als biographischer und ästhetischer Kontinuitätsbruch: Von Hans Sochaczewer zu José Orabuena Because of the exile experience, the Jewish born German writer Hans Sochaczewer (1892-1978) changed his name to José Orabuena when he took British citizenship in 1948. This name change indicates not only a shift in his writings from the social problems of the late Weimar Republic to metaphysical questions of the background of pre-World War I Jewish community in Vilnius, but also implies a complete change of his biographical and poetic values. The case of Hans Sochaczewer/José Orabuena exemplifies the problem of aesthetical and biographical rupture caused by exile. It also raises the question of reliability of autobiographical testimonies on exile with regard to continuity and discontinuity of the author's personality and aesthetical concepts before, during, and after exile. [...] das erste Exemplar einer soeben in Wien erschienenen Arbeit [...], die mir wie die meisten meiner (und anderer) Bücher vollkommen fremd geworden ist. Es gibt kaum eine Seite, auf der ich mich noch wiedererkenne. Dies ist übrigens eine der Ursachen, daß ich, erst einige zwanzig Jahre später, meinen Namen zu ändern innerlich gezwungen war. Ich lehnte die Verbindung und Beziehung zu früheren Veröffentlichungen von mir so sehr ab, daß ich in keiner Weise als der nämliche noch vor mir galt. José Orabuena über Hans Sochachzewer 1
Im Zuge seiner “Überlegungen zu Stand und Perspektiven der literaturwissenschaftlichen Exilforschung” hat Bernhard Spies2 unlängst am Beispiel Joseph Brodskys auf die “Tendenz zur retrospektiven Stilisierung” bei Exilschriftstellern hingewiesen, die “durchaus der kontrafakti1
José Orabuena: Im Tale Josaphat. Zürich, München, Paderborn, Wien 1964. S. 185. 2 Bernhard Spies: Exilliteratur – ein abgeschlossenes Kapitel? Überlegungen zu Stand und Perspektiven der literaturwissenschaftlichen Exilforschung. In: Exilforschung 14 (1996). S. 11-30.
174 schen Überzeichnung fähig” sei und “sich auch im deutschsprachigen Exil nach 1933 nachhaltig geltend” mache. Spies fordert: Statt solche Selbstinterpretationen wie Fakten aufzufassen, wozu die politischmoralische wie die anthropologische Sichtweise des Exils gleichermaßen neigen, gilt es, die Stilisierungen als Projektionen aufzufassen, um die Befangenheit, die ihnen eingeschrieben ist, aufzulösen. Erst dann ist es möglich zu bestimmen, wo jene Projektionen eine die Befangenheit überwindende Produktivität entwickeln.3
Setzt man Spies’ Überlegungen fort, folgt aus der Konstatierung der “Stilisierungen” für den Betrachter die Problematik der Verortung von Selbstaussagen des exilierten Autors: Aussagen über die Zeit vor dem Exil, die während oder nach dem Exil getätigt werden, stehen unter der einschränkenden Perspektive der “Stilisierungen”, während Aussagen über die Exilsituation selbst sich wiederum aus ihnen herleiten und ohne sie nicht denkbar sind. Der biographische Standpunkt und Ort des Exils wird ausschlaggebend für ästhetische und Ästhetisches normierende Aussagen. Der biographische und vielfach auch ästhetische Kontinuitätsbruch, der derart durch die Exilsituation entsteht, wirkt zurück auf die Bewertung der künstlerischen Produkte, die vor dem Exil entstanden: als Überbewertung der eigenen Position des oder der Exilierten im Literatursystem der Vor-Exilzeit oder als Überbewertung der Position im Literatursystem der Exilzeit, die die Produktion des Vor-Exils aus ästhetischen und/oder politischen Gründen abwertet (wobei Spies diese Variante der “Stilisierung” außer Acht läßt). Die “Ästhetiken des Exils” lassen sich derart nicht nur lesen als die künstlerischen Produkte betreffend, die während des Exils, in seiner zeitlichen Folge oder als dessen Konsequenz entstanden, sondern auch als Ästhetisierung des Exils – und radikal − als Ästhetisierung des oder der Exilierten selbst. Die Ausnahmesituation des Exils, das zunächst durch den Künstler selbst als Kontinuitätsbruch empfunden oder bewertet werden muß, führt zur (Selbst-) “Stilisierung” als künstlerischer und ästhetischer Neubeginn. Für den Literaturwissenschaftler als idealiter außenstehendem Beobachter ist zwar scheinbar weiterhin eine als Kontinuität beschreibbare biographische und ästhetische Identität des Gegenstandes gegeben, die sich jedoch auflöst in klar voneinander trennbare und zu trennende Phasen des Vor-Exils bzw. der Prä-“Stilisierung” und des Exils selbst; eines letzthin Kontinuitätsbruches, der sich in dieser Radikalität und alle Bereiche des Lebens umfassend in anderen Künstlerbiographien kaum findet. Einher geht hiermit die Schwierigkeit, den Gegenstand überhaupt angemessen zu 3
Ebd. S. 21-22.
175 beschreiben und dabei gewohnte Kontinuitäts-, Kontingenz- und Identitätsvorstellungen fallen zu lassen. Anhand meines Gegenstandes Hans Sochaczewer / José Orabuena möchte ich versuchen, einige Implikationen dieser Problematik zu skizzieren, ohne in der Lage zu sein, darauf hinreichende Antworten geben zu können. Antworten – sollen sie nicht einer psychologisierenden Betrachtungsweise verfallen – erforderten nicht nur eine interdisziplinäre Herangehensweise, sondern auch eine Neudefinition des Begriffes des Gegenstandes der Literaturwissenschaft. Eine Annäherung: zunächst eine ebenso banale wie weitreichende Feststellung: Der Schriftsteller José Orabuena (1892-1978) ist heute vergessen. Diese Feststellung allein hilft im allgemeinen und im vorliegenden Fall jedoch nicht sehr viel weiter, führt der genannte Name doch bereits zu Irritationen die Nationalität des Autors betreffend, die eine Präzisierung verlangen: Der deutsche Schriftsteller britischer Staatsangehörigkeit José Orabuena (geboren am 10. August 1892 in Berlin, gestorben am 16. Februar 1978 in Ascona) ist heute vergessen. Eine weitere Präzisierung wird notwendig: Der deutsche Schriftsteller Hans Sochaczewer erwarb als José Orabuena 1948 die britische Staatsangehörigkeit und lebte unter diesem Namen nach dem Zweiten Weltkrieg im Tessin. Bei dem Namenswechsel, als der er zunächst erscheint, handelt es sich jedoch nicht um ein Pseudonym, sondern um eine durch den Erwerb der Staatsangehörigkeit legitimierte Namensänderung: aus Hans Sochaczewer wurde José Orabuena. Der jüdische Autor Hans Sochaczewer ist heute ebenso vergessen wie der 1952 zum Katholizismus konvertierte José Orabuena. Die Gründe dafür, daß ein Autor “vergessen” wird, mögen in der literarischen Qualität seiner Werke liegen, die jedoch hier nicht diskutiert werden soll. Sie mögen in seiner geringen Bedeutung für die Entwicklung und die Strömungen der Literatur zu finden sein, in der geringen Rezeption seiner Werke. Ein kurzer Blick auf die Verlage, in denen Sochaczewer publizierte (Gustav Kiepenheuer, Paul Zsolnay), ein weiterer Blick auf die Periodika, in denen der Autor als Feuilletonist Essays, Kurzprosa und Rezensionen veröffentlichte (Der Feuerreiter,4 Pan,5 Vossische Zei-
4
Der Exhibitionist. In: Der Feuerreiter 2 (1922/1923). S. 80-82; Kinderkreuzzug. In: Der Feuerreiter 3 (1923/1924). S. 49-52. 5 Trio. In: Pan 2 (1911/1912). S. 486-489.
176 tung,6 Die Literatur,7 Die Weltbühne,8 Berliner Tageblatt,9 Die Sammlung10) lassen eher vermuten, daß mit Hans Sochaczewer einer jener Fälle vorliegt, deren schriftstellerische Existenz durch den Nationalsozialismus und das Exil vernichtet wurde. Hans Sochaczewer sucht man in den einschlägigen Publikationen der Exilforschung dagegen vergeblich, mit der Ausnahme, daß seine drei Veröffentlichungen in Klaus Manns Sammlung Erwähnung finden und ein kurzes, von der eingangs skizzierten Problematik der Verortung des Beobachters gekennzeichnetes Portrait in dem von Willy Dähnhardt und Birgit S. Nielsen herausgegebenen Band Exil in Dänemark enthalten ist.11 Hans Sochaczewer entstammte einer assimilierten jüdischen Kaufmannsfamilie. Die Eltern reagierten auf die schriftstellerischen Pläne des Sohnes mit der Einweisung in eine psychiatrische Anstalt. Nach dem Kriegsdienst an der Ostfront in Wilna 1916-1918 kehrte Sochaczewer nach Berlin zurück, engagierte sich zunächst politisch (“Bürgertum und Bolschewismus” in den Revolutions-Flugschriften 1919),12 war in die erste Weimarer Nationalversammlung involviert, gab 1922 einen literarischen Bericht über seinen Anstaltsaufenthalt unter dem Titel Die Grenze13 und lebte schließlich als freier Schriftsteller und Feuilletonist in Berlin, ab 1925 auch in Kopenhagen. Nach expressionistischen Anfängen (in Der Feuerreiter und Pan)14 behandeln Sochaczewers Publikationen in den 20er
6 Z.B.: Herr von Lichtenau scheidet. In: Vossische Zeitung. 12.5.1929; Nachlaß im Schreibtisch. In: Vossische Zeitung. 07.2.1933. 7 Z.B.: Bücher, die den Frieden schildern. In: Die Literatur 33 (1930/31). S. 190192; Das zweite Buch von Remarque. In: Die Literatur 33 (1930/31). S. 552-553. 8 Z.B.: Literaturgeschichte im Rundfunk. In: Die Weltbühne 21 (1925) 2. S. 70-71. 9 Z.B.: Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz. In: Berliner Tageblatt. 18.10.1929; Neues Buch von Hans Carossa. In: Berliner Tageblatt. 22.11.1931; Schriftsteller in dieser Zeit. In: Berliner Tageblatt. 29.07.1932. 10 Kopenhagen. In: Die Sammlung 1 (1934). S. 665-667; Die Botschaft der Ermüdeten. In: Die Sammlung 2 (1935). S. 182-200; Der Abend mit den Feuerkugeln. In: Die Sammlung 2 (1935). S. 484-487. 11 Henriette Riskær Steffensen: José Orabuena (1892-1978) (Hans Sochaczewer). Schriftsteller. In: Exil in Dänemark. Deutschsprachige Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller im dänischen Exil nach 1933. Hrsg. v. Willy Dähnhardt und Birgit S. Nielsen. Heide 1993. S. 583-589 [zuerst dänisch: Kopenhagen 1986]. 12 Bürgertum und Bolschewismus. In: Revolutions-Flugschriften des Generalsekretariats zum Studium und zur Bekämpfung des Bolschewismus. Berlin 1919. Heft 3. o. S. 13 Die Grenze. Erzählung. Konstanz 1922. 14 Siehe die unvollständige und bibliographisch unzuverlässige Liste der Publikationen Sochaczewers und Orabuenas in Andreas Heinecke: Das Ostjudentum im
177 Jahren aktuelle gesellschaftliche Themen; u.a. das von der Inflation auch politisch verunsicherte Berliner Subproletariat in Sonntag und Montag, 1927,15 oder die Identitätsprobleme der Nachkriegszeit in Menschen nach dem Kriege, 1929.16 Die “Machtergreifung” der Nationalsozialisten überraschte Sochaczewer im Schweizer Porto Ronco, wo er sich auf Einladung von Erich Maria Remarque befand. Sochaczewer, dessen Bücher am 10. Mai 1933 verbrannt wurden und der seiner finanziellen Lebensgrundlage als Feuilletonist beraubt war, ging ins Exil nach Kopenhagen, wohin ihm seine Mutter folgte. Zunächst reagierte er als einer der ersten Autoren auch literarisch auf die Exilsituation mit seinen Publikationen in der Sammlung. Von der finanziellen Unterstützung durch seinen ebenfalls exilierten Bruder Ernst nahezu völlig abhängig, siedelte Sochaczewer 1935 (nach anderen Quellen 1938) nach England über. Nach einer letzten Publikation in der Londoner Zeitung17 verstummte der Autor Hans Sochaczewer. Aus dem in Kopenhagen und Manchester betriebenen Studium der Geschichte insbesondere des spanischen Judentums resultierte eine Wandlung des Werkes und der Persönlichkeit des Autors. Sochaczewer benannte sich nach dem Oberlandesrabbiner von Navarra Joseph Orabuena (um 1400).18 Er verwarf das Werk Sochaczewers und lehnte spätere Nachdrucke ab. Er konzentrierte seine Arbeit äußerlich einerseits auf das Thema des Ostjudentums, mit dem er während des Ersten Weltkrieges in Wilna in Kontakt gekommen war, bzw. auf das Leben seines Protagonisten David Orabuena, dem er insgesamt vier Romane widmete, und andererseits auf zentrale Begriffe der christlichen Moralethik. Zunächst entstand von 19351938 Gross ist deine Treue. Der Roman des jüdischen Wilna, der jedoch nach Angaben des Autors keinen Verlag fand. Orabuena kehrte aus dem Exil nicht nach Deutschland zurück: fast seine gesamte Familie wurde in den Konzentrationslagern ermordet, sondern ging, weiterhin von der
Werk von José Orabuena. Frankfurt a.M. 1990 (Europäische Hochschulschriften I, 1182). S. 257-260. 15 Potsdam 1927. 16 Berlin, Wien, Leipzig 1929. 17 Die Zeitung (London) 1 (1941/1942) Nr. 125 (15.7.1941). 18 Vgl. Steffensen. A.a.O. S. 585; Heinecke. A.a.O. S. 104-106. Quelle soll die Lektüre von Fritz Baer: Die Juden im christlichen Spanien. Berlin 1929-1936 gewesen sein. Vgl. Im Tale Josaphat. Eigene Lebensgeschichte. Zürich, München, Paderborn, Wien 1964. S. 211. In anderen Texten nennt Orabuena keine Quelle. Heinecke sieht in der Namensänderung eine Anspielung auf die Vertreibung der Juden aus Spanien 1492, die Orabuena als Analogie zur aktuellen Situation der Juden interpretiert habe; vgl. Heinecke, A.a.O. S. 216.
178 finanziellen Unterstützung durch seinen Bruder abhängig, in die Schweiz, wo er 1963 endgültig seinen Wohnsitz in Ascona nahm. 1951 hatte Orabuena mit Kindheit in Cordoba19 noch einmal an seine publizistischen Erfolge der Weimarer Zeit anknüpfen können und zumindest unter deutschen Kritikern Aufsehen erregt.20 Die folgenden, bzw. zuvor während des Exils entstandenen Texte erschienen sämtlich in der Verlagsgemeinschaft Thomas (Zürich) und Ferdinand Schöningh (München, Paderborn, Wien), darunter auch 1959 Gross ist Deine Treue. Orabuenas Werke sind heute im Buchhandel nicht mehr erhältlich. Mit Ausnahme von zwei wenig informativen, dafür fast als hagiographisch zu bezeichnenden Essays von Walter Nigg21 und einer 1990 erschienenen Dissertation von Andreas Heinecke zur Problematik des Ostjudentums im Werk von José Orabuena, worunter einzig der Wilna-Roman verstanden wird, ist sowohl Hans Sochaczewer als auch José Orabuena bislang nicht Gegenstand einer auch noch so geringen literaturwissenschaftlichen Forschung gewesen. Biographische Informationen über Sochaczewer und Orabuena sind kaum zu bekommen. Zwar liegt eine “eigene Lebensgeschichte” unter dem Titel Im Tale Josaphat vor,22 doch verdeutlicht gerade sie die zur Diskussion stehende Problematik. Orabuena berichtet aus der Perspektive Orabuenas über Sochaczewer, wobei Orabuenas Schriften nicht nur eine völlig andere ästhetische Konzeption zugrunde liegt als denen Sochaczewers, die sich in der Dichotomie vom “Schriftsteller” und “Dichter” äußert, sondern auch divergierende, wenn nicht diametrale Lebenskonzeptionen, die mit “Glauben” und “Unglauben” klassifiziert werden können. Die “eigene Lebensgeschichte” wird so zur Beschreibung eines mentalen Wandels, der zwischen zwei Buchdeckel zu passen scheint und die Identität der Person suggeriert. Deutlich wird bei der Lektüre dagegen die Diskontinuität in Formulierungen über Sochaczewer wie “Mag ich nun in jenen für mein Leben äußerst ernsten letzten Monaten des Jahres 1932 noch einige Kapitel der als sehr umfangreich gedachten Erzählung geschrieben haben”23, die die damalige schriftstellerische Tätigkeit als Autor Sochaczewer, dessen 19
Frankfurt a.M. 1951. Heinecke listet 39 Rezensionen auf. Vgl. Heinecke. A.a.O. S. 262-264. 21 Walter Nigg: Vom Morgenstern beschienen: José Orabuena. In: Ders.: Was bleiben soll. Zehn biographische Meditationen. Bonn 1973. S. 98-123; Ders.: Der helfende Dichter. In: Walter Nigg: Heilige und Dichter. Freiburg/Br. 1982. S. 203226. Anzuführen sind auch die Vor- und Nachworte Niggs zu den Neuausgaben der Texte Orabuenas und in einem Fall Sochaczewers (Henri Rousseau, 1984) nach dem Tod Orabuenas. 22 Zürich, München, Paderborn, Wien 1964. 23 Ebd. S. 204. Hervorhebung T.S. 20
179 Existenz von Orabuena aufgekündigt wurde, zugleich abwerten und als nicht zentral für die Biographie darstellen. Immerhin bringt die “eigene Lebensgeschichte” eine Kontinuität und Entwicklung in ein publizistisches Verwirrspiel der Exil- und Nachkriegszeit, daß der zeitgenössische Leser kaum zu entwirren in der Lage war. Als zentraler Roman für den Kontinuitätsbruch wird Gross ist Deine Treue. Der Roman des jüdischen Wilna ausgegeben, der 1935-1938 während des Exils entstanden sein soll, aber erst 1959 einen Verleger fand.24 Hatte bereits Walter Nigg den geneigten Leser der Erstausgabe in seiner “Einführung”25 auf eine “nicht veröffentlichte Schrift ‘Betrachtungen über einen eigenen Roman’”26 hingewiesen, den er gewissermaßen als ‘Steinbruch’ für seine Ausführungen nutzte, so erschien diese Schrift 1963, vier Jahre nach der Publikation des Romans, unter dem Titel Zur Geschichte meines Wilna-Romans Gross ist Deine Treue.27 Hier findet sich ein Vorwort Orabuenas von 1963 zu diesem Essay,28 der laut Text im Oktober 194229 verfaßt wurde. Der während des Exils entstandene, aber erst zwanzig Jahre später publizierte Roman wird derart retrospektiv aus dem Exil heraus legitimiert. Treue Orabuena-Leser hatten den Protagonisten des Romans, David Orabuena, jedoch bereits 1951 in Kindheit in Cordoba kennengelernt, die dem Titel gemäß die Kindheit des spanischen Juden schildert, der in Gross ist Deine Treue als Greis die ostjüdische Gemeinde Wilnas besucht. Kurz vor der Publikation des Essays nun hatte Orabuena mit Ebenbild • Spiegelbild die biographische Lücke seines Namensvetters gefüllt: der 1962 erschienene und mit “Erinnerungen” untertitelte Band enthielt neben der Kindheit in Cordoba auch Jugend in Palermo und letztlich Ebenbild • Spiegelbild.30 Dies alles würde noch kein Phänomen der Ästhetisierung des Exils dar stellen, würde – über die signifikante Namensgleichheit von Autor und Protagonist hinaus, die durch die Untertitelung mit “Erinnerungen” und entsprechendem Vorwort als Konstruktion des aufgefundenen Manuskriptes eine fiktionale Wendung zum Authentizitätsanspruch erhält,31 – der Autor Orabuena nicht auch theoretisch ein biologischer Sohn David Orabuenas sein können und dieser Autor in seinen Aussagen, die Selbst24 25 26 27 28 29 30 31
Zürich, München, Paderborn, Wien 1959. Walter Nigg: Zur Einführung. Ebd. S. 5-13. Ebd. S. 6. Zürich, München, Paderborn, Wien 1963. Ebd. S. 5-6. Ebd. S. 13. Zürich, München, Paderborn, Wien 1962. Ebd. S. 4.
180 beschreibungen sind, eine solche, zumindest geistige Verwandtschaft nicht nahelegen: “Die Aufzeichnungen des David Orabuena wurden im Jahre 1923 beendet. Der Herausgeber hat somit mehr denn ein Vierteljahrhundert gezögert, sie bekanntzugeben.” Der fiktionalen Figur wird eine reale Existenz zugesprochen, die zugleich den Autor legitimiert. Hier tritt die metaphysische Komponente hinzu, die einerseits den Namenswechsel begründet, andererseits die Figuren der Orabuena-Romane und vor allem deren Protagonisten zu in der Vorstellungswelt des Autors realen Figuren stilisiert. In seinem Essay Zur Geschichte meines Wilna-Romans berichtet Orabuena über eine Schreibkrise oder -hemmung, die durch den Auftritt seiner Figuren in einem Traum umgehend behoben wird: [...] in einem großen Traume erschienen alle bisher in das Leben gerufenen Geschöpfe des Romans “Gross ist Deine Treue” vor meinen erstaunten Augen, einzeln bald und bald gemeinschaftlich traten sie an mich heran und baten mit einer Inständigkeit, die mich bereits während des Träumens tief bewegte, ihrer nicht zu vergessen; und ihr weiteres Geschick mit Liebe und Neigung zu erzählen. Ich sah mich zur Antwort kaum aufgefordert; als wäre sie gegeben; als hätte keiner auch nur vermutet, ich könnte widerstehen.32
Oder: Schuf wirklich ich die Figuren, die gestern noch nicht gewesen waren, die gestern noch keiner gekannt hatte auf unserer Erde? war derlei je geschehen? Hatte je einer geschaffen zuvor? war nicht alles neu, alles erstmalig?33
Die poetologische Konzeption, die dieser Identifikation mit den eigenen fiktionalen Figuren zugrundeliegt, ist eine deutlich formulierte Abkehr von den als Hans Sochaczewer verfaßten Texten: Lange war ich der Ansicht untertan, eine künstlerische Arbeit habe sich genau an die alltägliche Wahrheit zu halten; während doch, wie ich später, soll ich sagen: lernte, ahnte, spürte, begriff? wie, jedenfalls, ich nunmehr weiß, die Dichtung mit der Wiedergabe der Wirklichkeit nichts zu schaffen hat. Sobald man das einmal weiß, ist es ein großes, ein weit größeres Unternehmen denn zuvor, einen Roman zu schreiben.34
Die Dichtung ist kein – wie Orabuena polemisiert – mimetisches Abbild der Wirklichkeit, sondern ein schöpferischer Akt, das “Wesen der 32 33 34
Zur Geschichte meines Wilna-Romans. A.a.O. S. 58. Ebd. S. 36. Ebd. S. 25. Hervorhebung, T.S.
181 Menschheit” und damit die “Wahrheit” zu schaffen. So entsteht für Orabuena eine Welt mit Figuren, wie sie sein könnten, die sich idealiter – mit zugestandenen kleinen Schwächen und Fehlern, die durch Vorzüge ausgeglichen werden – verhalten und so eine in der Vergangenheit angesiedelte Utopie schaffen. Über die Gegenwart dagegen wird die “Weltgeschichte erzählen.”35 Zwar greifen die “äußeren Schwierigkeiten”36 oder “denkbar ungünstigsten Umstände”37 des Exils, die Orabuena mehrfach erwähnt, aber nicht schildert, in die Entstehung des Romans ein, sie werden wie die “Weltgeschichte” jedoch nicht Teil der Biographie oder im Roman gespiegelt. Der Autor ginge des Status des “Dichters” verlustig, würde er sie berücksichtigen. Orabuenas Abwendung von der “Wirklichkeit” angesichts des Exils ist – wollte man moralisieren – erschreckender kaum denkbar. Sie wird zwar biographisch begründet, aber nicht legitimiert, sondern auf die Ebene des “Dichtens” transzendiert, auf der sie wie der “Glauben” zwar angreifbar, aber nicht diskutabel ist. So auch die Begründung der Stoffwahl bei Gross ist Deine Treue: Orabuena führt sie zurück auf seinen Aufenthalt während des Ersten Weltkriegs 1916-1918 in Wilna, wo er als einer assimilierten jüdischen Familie entstammender Kaufmannssohn mit dem Ostjudentum und seiner die gesamte Existenz bedingenden und begründenden Religiosität konfrontiert wurde. Doch erst nahezu zwanzig Jahre später dient diese Erfahrung, die auch bei anderen Autoren wie Döblin oder Arnold Zweig ihren schriftstellerischen Niederschlag fand,38 zunächst zur Legitimation des Kontinuitätsbruchs, um sofort von ihr zu einer in eine fiktionale Vergangenheit projizierten Utopie zu abstrahieren: Orabuenas Wilna ist im Winter 1912/13, also vor der deutschen Okkupation angesiedelt, es werden nur jüdische Figuren geschildert und ausdrücklich keine Auswirkungen des Antisemitismus. Dennoch sind Orabuenas Roman und sein Wilna kein Versuch einer Rettung einer untergegangenen Kultur, sondern die Kreation eines exilierten Autors, der sich auf seine Erfahrungen beruft, von ihnen abstrahiert und eine ideale Gesellschaft entwirft: Im Laufe des ersten Jahres nach meiner endgültigen Auswanderung, schrieb ich einen Roman, dessen Gegenstand die Lage der Emigranten war. Zwar hielt ich mich von allem allzu Zeitgebundenen insoweit fern, als der Roman nicht poli-
35 36 37 38
Zitiert bei Steffensen. A.a.O. S. 586. Zur Geschichte meines Wilna-Romans. A.a.O. S. 59 Ebd. S. 74. Siehe Heinecke. A.a.O. S. 46-84.
182 tisch war; er stellte das Unglück als solches dar; immerhin sah ich damals offenbar noch einen Sinn darin, das Nächstliegende zu erzählen. Im Laufe des zweiten und dritten Jahres, die ich in Kopenhagen verlebte, schrieb ich wenig. Ich ahnte, daß ich mich fortan in meinen Romanen weder mit Deutschland noch dem Geschick der Emigranten oder der Emigration beschäftigen würde. Wenn mir aber auch hieran nicht gelegen war, so mußte ich für mich entdecken, mit welcher Welt andererseits ich hinlänglich vertraut war, um sie zum Hintergrund der Lebensabläufe zu gewinnen, von denen ich berichten mochte.39
Dieses Zitat kennzeichnet – retrospektiv und aus dem Blickwinkel Orabuenas – den Punkt des Bruchs von Sochaczewer zu Orabuena. Von dem erwähnten Exilroman ist keine Zeile publiziert oder erhalten – aus welchen Gründen auch immer. Das “Nächstliegende”, das für Sochaczewers Texte und Arbeit bestimmend war, wird angesichts des Exils ad acta gelegt, und – von Auditionen begleitet – ‘entdeckt’ der Autor Orabuena die Welt, die er zugleich erschaffen und in seinen Texten problematisieren wird. Die Namensänderung selbst wird als Konsequenz dargelegt40 und mit einem “Befehl” des Protagonisten David Orabuena nicht hinterfragbar begründet.41 Der Autor, der trotz aller biographischer Bedingungen eine Konstruktion (wenn nicht Fiktion) des Exilierten ist, und seine Texte werden identisch; die Deklaration der fiktiven Lebensgeschichte des David Orabuena als “Erinnerungen” ist kein Widerspruch oder die Neuauflage einer in der Literaturgeschichte allzu bekannten Finte, weil die Figuren in der Vorstellungswelt des Autors real sind, er sich ihnen als “Verwandter” fühlt und sie dem Autor – aus dessen Berichtsperspektive – wiederum die Lebensweise “befehlen”. Das Thema ‘Die ostjüdische Gemeinde von Wilna’, die dann letztendlich gerade nicht geschildert wird, ist daher auch kein Hinweis darauf, daß Orabuena seine jüdischen Wurzeln wiederentdeckt hätte, vielmehr ist seine Konversion zum Katholizismus 1952 an seinem 60. Geburtstag und noch vor der Publikation des Wilna-Romans von Konsequenz gekennzeichnet: “Ich verließ also durch die Taufe nicht mein Judentum; ich bestätigte es.”42 Und selbst wenn der Holocaust auch angesichts der persönlichen Betroffenheit eine Reaktion von Orabuena gefordert hätte – und dies kann aufgrund der skizzierten Informationslage und Aussagehaltung des Autors nur eine Vermutung sein –, so erfolgt sie im Roman Rauch oder Flamme 39 40 41 42
Zur Geschichte meines Wilna-Romans. A.a.O. S. 30. Siehe die eingangs zitierte Textpassage aus Im Tale Josaphat. A.a.O. S. 185. Ebd. S. 255-256. Zitiert bei Steffensen. A.a.O. S. 587.
183 196043 nach dem selben, bereits im Titel erkennbaren Muster: Gegenstand des Romans ist die Möglichkeit tatsächlicher “Vergebung” anhand der Geschichte eines italienischen Richters, dessen gesamte Familie erschossen wurde. Thema sind jedoch nicht die Verbrechen und ihre politischen Implikationen, sondern abstrakte Probleme, die keinerlei Rückschluß auf die “Wirklichkeit” zulassen. Auch für Hans Sochaczewer hatte es 1932 bereits die Problematik der Dichotomie von Schriftsteller und Dichter gegeben: darf ein sich seiner Rolle bewußter Autor angesichts der Krisen und Probleme der Gegenwart einen im 19. Jahrhundert angesiedelten Roman verfassen: Die Problematik des Stoffes ist für den Schreibenden zweifach wirksam: Einmal, und das ist die äussere Seite, in der Unruhe, in die ihn die Verschiedenheit von Umwelt und innerer Welt werfen kann; zum zweiten, und hier ist die innere Seite, dass er sich abplagt mit der Frage, dass sein Gewissen kämpft um die Frage, ob er in unseren Tagen anderes schreiben dürfe als das, was jeden berührt.44
Der Schriftsteller Hans Sochaczewer hat diese Frage bis zu seinem Ende (?), Ableben (?), Verstummen (?) stets verneint. Im Roman Sonntag und Montag von 1927, der 1923/24 spielt, hatte er seine Weltkriegs-Erfahrungen mit dem Ostjudentum ins Berliner Scheunenviertel transponiert und die Ostjuden als Sündenböcke des Proletariats gezeichnet, stets gefährdet durch Pogrome der von Inflation und Ausweglosigkeit geprägten Arbeiterschaft, die sich nur pro forma politisch organisiert und engagiert – ein politischer und zutiefst zynischer Roman. Zwischen Sochaczewer und Orabuena gibt es keine Verbindung, die Lebensentwürfe und ästhetischen Maßstäbe liegen sich diametral gegenüber. Der Kontinuitätsbruch ist im Exil anzusiedeln und wurde zweifellos durch das Exil ausgelöst. Doch mit diesem Bruch geht sowohl die Identität der Person des Autors verloren als auch die Kontingenz des literaturwissenschaftlichen Gegenstandes; es macht einen fundamentalen Unterschied, von Sochaczewer oder von Orabuena zu sprechen, und welche Perspektive auf den Gegenstand vom Beobachter eingenommen wird. Wie Bernhard Spies von “Stilisierungen” zu sprechen – wie auch ich es eingangs getan habe – hieße aber, die Glaubwürdigkeit eines der beiden Gegenstände Sochaczewer oder Orabuena in Frage zu stellen und damit einer politisch-moralisierenden Betrachtungsweise zu folgen, die Spies zurecht kritisiert: Orabuenas Position als Reaktion auf das Exil ist ebenso 43
Zürich, München, Paderborn, Wien 1960. Hans Sochaczewer: Schriftsteller in dieser Zeit. In: Berliner Tageblatt, 29.07.1932. 44
184 legitim, wie es Sochaczewers Position gewesen wäre, hätte er sie in das Exil hinein- und über das Exil hinausgeführt. Deutlich sollte aber geworden sein, daß literaturwissenschaftliche Argumentationen abhängig sind vom biographisch verorteten Blickwinkel auf ihren Gegenstand und daß diese Verortung bereits eine Wertung impliziert. Schließlich ist an den Beispielen Sochaczewer und Orabuena zu hinterfragen, welchen Selektionsprozessen Literaturgeschichtsschreibung noch heute unterliegt und inwieweit sie weiterhin ein Opfer nationalsozialistischer Vernichtungspolitik ist. Sochaczewer gehörte zu den ersten Autoren, deren Bücher verbrannt wurden. In den zahlreichen Publikationen zur Bücherverbrennung und allgemein zur Exilliteratur findet diese Tatsache jedoch keine Erwähnung. Es ist an dieser Stelle müßig zu spekulieren, ob die Gründe hierfür im Verstummen Sochaczewers während des Exils, im Fehlen explizit politischer Äußerungen zum Nationalsozialismus während und nach dem Exil, der fehlenden Selbstdefinition als Exilautor, im ungewöhnlichen Namenswechsel und Kontinuitätsbruch oder schlicht im Vergessen liegen. Orabuenas Nachkriegsexistenz jedenfalls war von diesem Vergessen geprägt. Wie verzweifelt seine Situation noch in den 50er Jahren war, mag die Tatsache verdeutlichen, daß Orabuena am 13. Januar 1959 Erich Maria Remarque um eine eidesstattliche Erklärung darüber bat, daß José Orabuena mit Hans Sochaczewer, der in der Weimarer Republik als bedeutender Autor gegolten habe, identisch sei.45
45
José Orabuena in Ascona an Erich Maria Remarque. Brief, 13.01.1959. Anlage: Eidesstattliche Erklärung, Entwurf. Remarque-Collection, Fales-Library, New York University, R-C 3B.22/001.
185 Anhang Selbständige Publikationen Sochaczewer/Orabuena Hans Socharczewer „Bürgerung und Bolschewismus”. Revolutions-Flugschriften des Generalsekretariats zum Studium und zur Bekämpfung des Bolschewismus. Heft 3 (1919). Die Grenze. Erzählung. Konstanz 1922. Henri Rousseau. Novelle. Potsdam 1927. José Orabuena. Henri Rousseau. Novelle. Mit einem Nachwort von Walter Nigg. Olten, Freiburg 1984. Sonntag und Montag. Roman. Potsdam 1927. Das Liebespaar. Roman. Berlin, Wien, Leipzig 1928. Menschen nach dem Kriege. Roman. Berlin, Wien, Leipzig 1929. Die Untat. Roman. Berlin 1931. José Orabuena Kindheit in Cordoba. Frankfurt a. M. 1951. Glück und Geheimnis. Lebensgeschichte des Pater Marcellus. Zürich; München, Paderborn, Wien 1957. Gross ist deine Treue. Roman des jüdischen Wilna. Einführung von Walter Nigg. Zürich; München, Paderborn ,Wien 1959. Gross ist deine Treue. Roman des jüdischen Wilna. Einführung von Walter Nigg. Neuausgabe. Freiburg, Basel, Wien 1981. Rauch oder Flamme. Roman. Zürich; München, Paderborn, Wien 1960. Ebenbild•Spiegelbild. Erinnerungen. Zürich; München, Paderborn, Wien 1962. Auch Gram verzaubert. Roman. Zürich; München, Paderborn, Wien 1962. Zur Geschichte meine Wilna-Romans Gross ist deine Treue. Zürich; München, Paderborn, Wien 1963. Im Tale Josaphat. Eigene Lebensgeschichte. Zürich; München, Paderborn, Wien 1964. Im Tale Josaphat. Eigene Lebensgeschichte. Nachwort von Walter Nigg. Neuausgabe. Ostfildern 1984. Das Urlicht. Schicksal des Erzählers Elias. Paderborn 1971. Das Urlicht. Die Erzählungen des weisen Elias. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Walter Nigg. Freiburg, Basel, Wien 1979. Tragische Frucht. Roman. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Walter Nigg. Freiburg, Basel, Wien 1980.
Petra Weckel
“Light from our past” Rückbesinnung auf jüdische Traditionen im amerikanischen Exil am Beispiel der Künstlerin Lulu Kayser-Darmstädter The painter Lulu Kayser-Darmstädter (1894-1983) has been almost forgotten, and only a few testimonies about her life can be found in the estate of art historian Wilhelm Fraenger. This article traces the painter’s development from her beginnings as the daughter of a well-to-do, assimilated Jewish family to her return to her Jewish roots in exile, where she created twelve large windows for the Har Zion Temple in Philadelphia. The windows recreate the history of the Jewish people and conclude with the depiction of a Paradise on Earth without national or social boundaries.
Luise Kayser-Darmstädter wurde von allen Lulu genannt und trug diesen Namen mit einer gewissen Berechtigung, denn sie war drei Mal verheiratet. Zunächst mit dem Maler Karl Stohner, mit dem sie einen Sohn hatte, dann mit Max Wolf, ebenfalls Maler, und schließlich mit dem Kunsthistoriker Stefan Kayser. Lulu wurde am 26. April 1894 in Mannheim geboren. Mit ihren zwei Geschwistern, der älteren Schwester Maria und dem jüngeren Bruder Franz, wuchs sie in der wohlhabenden Mannheimer Kaufmannsfamilie Darmstädter auf. Ihr Vater Rudolf (1853-1936) leitete seit 1890 die väterliche Getreideagentur “Darmstädter & Co.” und war einer der führenden Mannheimer Kaufleute, Vorstandsmitglied und langjähriger Vorsitzender der Börse, Handelsrichter beim Landgericht Mannheim und Inhaber vieler Ehrenämter. Er hatte während eines 19-jährigen Aufenthalts in den USA die amerikanische Staatsbürgerschaft erworben, später aber wieder aufgegeben. Als seinen Kindern in ihrem 21. Lebensjahr die Option für das Bürgerrecht der USA freistand, machten sie von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch.1 Die Mutter Berta, geb. May, (1869-1936), stammte ebenfalls aus einer bekannten Mannheimer Getreidegroßhändlerfamilie (“S. May & Co.”).2 Die Erziehung der Darmstädter-Kinder − sie wurden zum jüdischen
1
Vgl.: Maria Krehbiel-Darmstädter, Briefe aus Gurs und Limonest 1940-1943. Hrsg. v. Walter Schmitthenner. Heidelberg 1970. S. 13f. 2 Ebd.
188 Religionsunterricht geschickt – war der Ausübung gegenüber ausgesprochen offen.3 Es handelte sich um eine vollkommen assimilierte, typisch bürgerliche Familie, die fest in das städtische, insbesondere das künstlerische Leben Mannheims eingebunden war. Lulus ältere, mit dem Maler Emil Krehbiel verheiratete Schwester, Maria Krehbiel-Darmstädter (22.6.1892-1943) entwickelte sehr früh tiefreligiöse Züge. 1921, mit 29 Jahren, ließ sie sich evangelisch taufen und trat der von Rudolf Steiner geprägten Christengemeinschaft bei. Lulu studierte auf Wunsch ihres Vaters zunächst Ökonomie und erst anschließend, in München, Bildende Kunst.4 1922 gewann sie den Kunstpreis der Münchener Akademie. Einige Jahre unterrichtete sie eine eigene Klasse in Komposition und Portrait.5 Eines dieser Bilder befindet sich in der Mannheimer Kunsthalle: Ein Mann mit Monokel sitzt mit verschränkten Armen auf einem Stuhl. Er ist mit einem blauen Anzug bekleidet. Das Bild zeigt exemplarisch die vorwiegend genutzte Farbkombination Lulus: Blau, Braun und Schwarz. Leider ist nicht bekannt, um wen es sich bei dem Dargestellten handelt (siehe Abb. 1). Lulus beliebtestes Modell war ihre Schwester Maria. Emil Krehbiel berichtet: “Ihre Schwester Lulu habe mehrere Bilder von ihr gemalt und zwar, obwohl sie sonst von Marias Wesen nicht viel kapiert, gute. Höchstens ein wenig zu morbid”6 (siehe Abb. 2). Über dieses Bild schreibt Lulu: Ich erinnere mich sehr wohl an das Bild, das ich von Maria malte, zu einer Zeit, wo sie in schweren inneren Conflicte [sic!] gelebt hatte. Sie fühlte sich gesundheitlich wenig wohl und hatte eine ihrer schweren Kopfschmerzenattacken zu überwinden. Also dieses Bild steht mir klar vor den Augen und Ihre Beschreibung macht mir die Einzelheiten noch deutlicher. Über den späteren Aufenthalt des Bildes wollen [wir] jetzt nicht endgültige Entscheidungen treffen. Zunächst lebt es mit Ihnen, der mehr als irgend ein anderer Mensch seelisch so innig verbunden war und ist.”7
3
Maria Krehbiel-Darmstädter: Lebenslauf. In: Maria Krehbiel-Darmstädter, Briefe. A.a.O. S. 28. 4 Vgl. Louise Kayser-Darmstädter: Light From Our Past. New York 1958. o.p. 5 Vgl. dies., Ebd. sowie Who Is Who In American Art. 1953. 6 Protokoll von Walter Schmitthenner über Besuch bei Karl Krehbiel, Kuppenheim, 15.11.1947. Mannheimer Stadtarchiv, Zugang 17/1987. 7 Brief von Louise Kayser-Darmstädter an Walter Schmitthenner, 13.12.1970, Mannheimer Stadtarchiv, Zugang 17/1987.
189
Abb. 1: Herrenbildnis, 1928, Aquarell über Kohle auf Karton; 57,5 x 98,5 (davon 8 cm umgeknickt), Mannheimer Kunsthalle.
190
Abb. 2: “Maria Darmstädter” von Lulu Stohner, Öl auf Karton, 50 x 60 cm; Kunsthalle Mannheim, Sign. SO Inv. 65. Dauerleihgabe von Prof. Walter Schmitthenner.
191 Erste Ausstellungen konnte Lulu im Mannheimer Kunstverein mitgestalten.8 In der Mannheimer Kunsthalle ließen sich sechs ihrer Bilder nachweisen. 1930 heiratete Lulu den Kunsthistoriker Stefan/Stephen S. Kayser, der bis 1933 Redakteur der “Neuen Mannheimer Zeitung” war. Eine besondere Freundschaft verbindet sie mit dem Kunsthistoriker und damaligen Leiter der Mannheimer Schloßbibliothek, Wilhelm Fraenger. Emil Krehbiel, der Schwager Lulus, bezeichnet Fraenger sogar als ihren “besten Freund.”9 Obgleich Protestant, ist er der erste, der Lulu einen bleibenden Eindruck ihres Glaubens vermittelt: Wie unvergessen bleibt mir die Vorstellung der alten Synagoge von Worms, die Du mir zum ersten Mal zeigtest – und wie wir die Treppe zum Bad hinunterstiegen – Du hast die Stufe mit Deinen Lippen berührt und Deinen Mund benetzt mit dem Wasser, das dunkel und trübe unser Spiegelbild zurückwarf. Du sagtest: Wie stolz bin ich, dass Deine Ahnen hier sich reinigten – wie stolz dass Du von so weither zu mir gekommen bist von einem alten Geschlecht – Tausende von Jahren hat es sich erhalten und wird weiterleben.10
Stefan Kayser schrieb 1930 in der Neuen Mannheimer Zeitung einen Artikel über Fraenger, und Lulu ergänzte diesen mit einer Portraitzeichung (1.11.1930)11 (siehe Abb. 3). In seinem Nachlaß, dem Wilhelm-Fraenger-Archiv, Potsdam, hängt ein Ölbild von Lulu Kaiser-Darmstädter, ein Selbstportrait, daß sie ihrem Freunde Fraenger schenkte (siehe Abb. 4). Lulu trägt hier eine blaue Matrosenbluse. Als Attribut ihrer Arbeit hält sie einen Pinsel in der Hand. Sie steht vor ihrer Staffelei. Dieses Bild wird durch ihre Lieblingsfarben dominiert: Blau, Braun und Schwarz. Fraenger gründete in Mannheim die Mannheimer Bibliophile Gesellschaft, die Jahresgaben herausgab. Das letzte Werk vor dem Verbot der Gesellschaft im Jahre 1933 trägt den Titel Eurydike. Beschworene Schat-
8
Vgl. Listenbestand Kunstverein Mannheim. Mannheimer Stadtarchiv. Protokoll von Walter Schmitthenner über Besuch bei Karl Krehbiel, Kuppenheim, 15.11.1947. Mannheimer Stadtarchiv, Zugang 17/1987. 10 Louise Kayser-Darmstädter an Wilhelm Fraenger, 1.8.1948. Wilhelm-FraengerArchiv, Potsdam. 11 W. Fraenger wollte ihr den von seiner Mannheimer Bibliophilen Gesellschaft herausgegebenen Band Eurydike. Beschworene Schatten abgeschiedener Frauen widmen, was jedoch wegen des Verbots der Gesellschaft 1933 nicht mehr zustande kam. Vgl. Aufzeichnungen von Ingeborg Baier-Fraenger. Wilhelm-FraengerArchiv, Potsdam. 9
192
Abb. 3: Portrait-Zeichnung W. Fraenger, 60 x 75 cm, Neue Mannheimer Zeitung, 1.11.1930.
193
Abb. 4: Lulu Selbstportrait, 1931, Öl auf Leinwand, 60 x 75 cm, Wilhelm-Fraenger-Archiv, Potsdam.
194 ten abgeschiedener Frauen. Eine Anthologie aus sechs Jahrhunderten. Fraenger wollte es, als hätte er ihr Schicksal vorausgeahnt, Lulu widmen. 1933 hielt er einen Vortrag “Synagoge und Orient”12 über Rembrandts Einflüsse aus dem Judentum. Das handschriftliche Manuskript schenkte er Lulu: Ich habe ihn [den Vortrag, P.W.] gehabt als Manuscript in Handschrift – aber er ging verloren mit all unseren Sachen – alle Briefe von Wilhelm und die schönen Kapitel vom “tausendjährigen Reich”, [d.i. eine Hieronymus Bosch-Monographie, P.W.] die er mir persönlich gewidmet hatte. Alles ging in einem großen Lift hier in Amerika uns verloren! Über all diese traurigen Dinge kann ich jetzt nicht schreiben. Aber Dir eines Tages erzählen. Die Sache passierte im Jahre 1938, als wir von [sic!] Tschechoslowakei nach Amerika auswanderten.13
1933, lange bevor die großen Deportationen in Mannheim stattfinden,14 flüchteten Lulu und Stefan Kayser in die Tschechoslowakei, von wo aus sie 1938 in die Vereinigten Staaten emigrierten. Der Bruder Franz führte seit 1923 eine Bank. Nach den Novemberpogromen 1938 entkam er mit Frau und Schwägerin, Töchtern von Karl Herweck, dem Besitzer des früher in Mannheim wohlbekannten Rheinbades, in die Schweiz. Seit 1949 arbeitete er als Kunsthistoriker am Jewish Theological Seminary in New York.15 Maria blieb “in dem von schwerer Krankheit der Mutter heimgesuchten Elternhaus[...], bis zum finanziellen Niedergang des väterlichen Geschäfts, dem Tod beider Eltern und der Zwangsversteigerung des Hauses (1937).”16 Die Eltern starben, beide schwer erkrankt, im Abstand von 2 Monaten des Jahres 1936. Sie selbst wurde 1940 nach Gurs deportiert. Nach einem vergeblichen Fluchtversuch wurde sie nach Auschwitz gebracht, das sie nicht überlebte.17 Sieben Jahre lebten Lulu und Stephen in Berkeley, Kalifornien. Dort begann Lulu mit 44 Jahren ein Ingenieurstudium:
12
Veröffentlicht in: Wilhelm Fraenger: Von Bosch bis Beckmann. Amsterdam 1996. S. 124-151. 13 Louise Kayser-Darmstädter an Gustel Fraenger, 1.11.1970. Wilhelm-FraengerArchiv, Potsdam. 14 Vgl. Auf einmal da waren sie weg. Hrsg. v. Stadtjugendamt Mannheim. Mannheim 1995. S. 84 ff. 15 Vgl. Maria Krehbiel-Darmstädter, Briefe… A.a.O. S. 13f. 16 Maria Krehbiel-Darmstädter: Lebenslauf. In: Maria Krehbiel-Darmstädter, Briefe... A.a.O. S. 28. 17 Ein Teil ihres Briefnachlasses befindet sich im Mannheimer Stadtarchiv.
195 Ich studierte Schiffsbau, Ingenieurszeichnen, industrial design (wie mir jetzt die deutschen Ausdrücke fehlen, wenn man diese Dinge nur in english studiert hat) an der Berkeley University, um dann einen Job zu haben im Engineerings office bei Henry Kaiser, der großen Shipyard in Richmond Californien. Meine Hauptarbeit war die neue Konstruktion des Rettungsbootes. Meine Arbeitsstunden waren von 4.30 Uhr p.m. bis 12.30 Uhr a.m. [sic!] Ich hatte mich nach einigen Wochen so gut eingearbeitet, dass ich nicht nur jede Aufgabe ausrechnen und darstellen konnte, sondern sehr gerne in diesem Fach tätig war [...]. Da ich nur von hier sprechen will, wo wir nun gelandet sind, muß ich sagen, dass alle meine Fähigkeiten und Kenntnisse gebraucht werden und noch mehr dazu!18
Ihr Mann, Stephen Kayser, hielt Vorlesungen an der University of California, Berkeley: Musch begins his lecture-course next week at the University on art-connoisseurship, that is the classification and dating of paintings. He will also deliver a series of lectures at the de Young Museum of San Francisco. I am still continuing working in my own line which gives me most satisfaction. One of my paintings could again been sold at Oakland.”19
Lulu Kayser gab ihre Kunst also nicht auf. 1943 hatte sie eine Solo-Ausstellung in der Art-Galerie in Oakland und beteiligte sich mit dem Selbstportrait “Artist in War Time” (Tusche auf Pappe, 30 x 40 Zoll) an der Großen Jahresausstellung “Meet the Artist” des De Young Memorial Museums in San Francisco: “This picture is done in watercolor, a technique which I developed for this kind of work in portraying children. It is a product of speed not unlike the ships I am drawing now, though not turned out on any assembly line”20 (siehe Abb. 5). 1946 stellte sie am San Jose State College aus.21 1944 wurde Stephen Kayser zum Kurator des neuen Museum of the Jewish Theological Seminary in New York berufen, welches das Haus Felix M. Warburgs bezog.
18
Louise Kayser-Darmstädter an Wilhelm Fraenger, 1.8.1948. Wilhelm-FraengerArchiv, Potsdam. 19 Louise Kayser-Darmstädter an Maria Krehbiel-Darmstädter, 30.9.1942. Mannheimer Stadtarchiv. 20 Louise Kayser-Darmstädter. In: Meet the Artist. Ausstellungskatalog. Hrsg. vom De Young Memorial Museum. San Francisco 1943. 21 Vgl. Who is Who in American Art. A.a.O. 1953. Die dort aufgeführte SoloAusstellung im De Young Museum hat nach Auskunft der dortigen Kuratorin nicht stattgefunden.
196
Abb. 5: Portrait-Foto Louise Kayser-Darmstädter, Fotograf unbekannt.
197 Mit der 1944 erfolgten Schenkung des Warburg-Hauses an der Fifth-Avenue und 92. Straße und der Wiedereröffnung des Museums im neuen Domizil 1947 erweiterten sich die Möglichkeiten für Ausstellungen und Veranstaltungen entscheidend. Den Umzug und die Neueinrichtung der Sammlung hatte der Konservator Stephen Kayser geleitet. Von 1945 bis zu seinem Ausscheiden 1962 war Kayser für mehr als 80 Ausstellungen verantwortlich, für den Erwerb von rund 6000 Objekten, für die wissenschaftliche Bearbeitung der Bestände und ein eindrucksvolles Programm von Wanderausstellungen. Kaysers Leistung hat für viele Jahre Maßstäbe für jüdische Museen gesetzt.22
Die Kaysers lebten im Museum, inmitten der sakralen Objekte. Lulu, die dort ein eigenes Atelier erhielt, entwarf etliche Interieurs des Museums, wie sie an Fraenger schrieb: Mein besonderes Glück ist das grosse Studio auf dem VI. Stock, in dem ich meine absolute Abgeschlossenheit habe, die ich für meine eigne Arbeit benötige. [...] In diesem Atelier liegen ein paar gerettete Kleinodien. Das Kreuz von der Liebfrauenkirche mit dem Datum 22.5.32, Francis Jammes Gedichte mit Einzeichnungen (Gebete der Demut), Deine Aufnahme von [Hans] Jüdell, die ich noch immer sehr liebe.23
Das Kreuz aus der Liebfrauenkirche bedeutet Lulu sehr viel, sie schreibt ihm eine gewisse magische Wirkung zu: Ja, dieser Talisman hat mich all diese Jahre begleitet; manchmal lag es auf meinem Herzen, wenn ich gar nicht mehr wußte, wie soll das Leben weitergehen. Wenn wir in andere Städte zogen, um neu anzufangen, neu zu hoffen, umzustudieren, aber nicht zu verzweifeln, dann nahm ich das eiserne Kreuz, gedachte der unvergänglichen Werte, der Liebe und Treue, die Du mir geschenkt hast und sie wirkten Wunder. Der Glaube an das Geistige, das stärker ist als wir wissen, hat mich geführt. [...] Ich glaube auch an eine Verbundenheit über weite Meere und Länder hinweg, die ausstrahlt vom Mensch zum Menschen. Liebe erzeugt starke Kräfte, wie lange habe ich Dich gesucht in meinen Gedanken. Oftmals bei Menschen angefragt. Niemand konnte mir über Dich etwas aussagen; bis
22
Vivian B. Mann/Emily D. Bilski: Das jüdische Museum New York. New York/ München 1996. S. 16f. Vgl. Stephen Kayser: Inaugural Exhibition.The Giving of The Law and The Ten Commandments. New York, o.D. 23 Louise Kayser-Darmstädter an Wilhelm Fraenger, 30.5.1948. Wilhelm-FraengerArchiv, Potsdam.
198 Fritz Wichert ganz plötzlich schrieb und er wüsste, daß Du irgendwo in der Nähe Berlins lebst.24
Erst hier, in New York, entwickelte sich Lulus religiöses Interesse, wie sie 1948, im Alter von 52 Jahren an Fraenger schrieb: “Ich habe mir auch ein bestimmtes Wissen über die jüdische Religion angeeignet, über die Gebräuche und Feste, über die Ceremonials und ihre Heiligkeit.”25 Die Beschäftigung mit dem Museum und seinen Kunstgegenständen prägte Lulus Malerei: Mein letztes Bild ist der Blick in eine alte Bauernsynagoge. Da wir einen sehr schönen Altar hier im Museum aufgebaut haben, der von Weilheim stammt aus dem Jahre 1720 und ich alle anderen Stücke wie die grosse Lesekanzel dazu anfertigen liess und selbst malte und überhaupt diesen ganzen Raum, eine kleine Schule, selbst entwarf und ausschmückte, in ein Gemälde einzufangen. Die Wände sind starkes blau – die Decke lichtgrün – die Säulen und Fensterrahmen ein warmes ockergelb, Altar und Kanzel (Binna) grau mit bunter Malerei. Kleine Vorhänge in Nischen in starken roten Farben, davor stehen die alten Kultgegenstände. Die Einheitlichkeit dieses Raumes ist durch die schönen Farben, wo die Leuchter aus Danzig, das Waschgefäss von einem anderen Ort in Europa stammt, das ewige Licht wieder von einer unbekannten Synagoge kommt und der prächtige Teppich aus Polen mitgebracht wurde. Alle diese heiligen Dinge haben hier eine Zuflucht gefunden.26
1947 erhielt Lulu Kayser den Auftrag, zwölf Glasfenster für den im Februar 1947 durch Feuer zerstörten Har Zion Temple in Philadelphia zu entwerfen, die noch heute dort zu betrachten sind (siehe Abb. 6): Seit letztem November bin ich mit einer großen, sehr schönen Aufgabe betraut. Für eine wiederaufgebaute Synagoge in Philadelphia, die ziemlich durch Feuer zerstört war und nun in einfachen, geraden Formen sehr eindrucksvoll und ernst wirkt, die großen Fenster zu entwerfen. Es sind im Ganzen zwölf Fenster, sechs auf jeder Seite und haben etwa diese Form [hier folgt eine kleine Zeichnung, P.W.]; der Inhalt ist: Die jüdische Geschichte, beginnend die früheste Zeit in der Wildnis, wo die Juden ihr Allerheiligstes durch die Wüste trugen [...] – bis zur 24
Louise Kayser-Darmstädter an Wilhelm Fraenger, 1.8.1948. Wilhelm-FraengerArchiv, Potsdam. Fritz Wichert war von 1909 bis 1923 der Direktor der Mannheimer Kunsthalle. 25 Louise Kayser-Darmstädter an Wilhelm Fraenger, 1.8.1948. Wilhelm-FraengerArchiv, Potsdam. 26 Louise Kayser-Darmstädter an Wilhelm Fraenger, 11.8.1948. Wilhelm-Fraenger-Archiv, Potsdam. In einem Nachruf auf Stephen Kayser ist dieser vor dem Bilde, das Lulu hier beschreibt, abgebildet. In: Jewish Art. Vol. 15/1989. S. 120.
199
Abb. 6: Glasfenster 1: The Torah
200 modernen Zeit. Das erste Fenster ist schon in Glas ausgeführt und wird im September eingesetzt und zu den Hohen Feiertagen eingeweiht. Bis Dezember soll das zweite Fenster fertig sein. Bis jetzt habe ich die ersten sechs im Design fertig und sie wurden akzeptiert. Es ist zu schwer, Dir die Fenster zu beschreiben, weil ich nur über das Inhaltliche sprechen könnte, wenn ich aber ein Foto bekomme oder ein farbiges Lichtbild, werde ich es Dir senden, mit einer detaillierten Erklärung.27
Den Mittelpunkt des ersten Bildes bildet der Torah-Schrein. Gekrönt wird er von einem traditionellen siebenarmigen Kandelaber, der Menorah. Die Gestaltung des Schreins entspricht den Funden in frühen Synagogen und sie verweist auf die historischen Tabernakel, den Tempel und die Synagoge der vergangenen Jahrhunderte. Im geöffneten Schrein sieht man die Replik einer Brustplatte, wie sie vom Hohepriester getragen wurde. Die zwölf Steine symbolisieren die zwölf Stämme und ihre Einheit vor Gott.28 Die Synagoge, in der sich die Fenster befinden, ist inzwischen an eine Baptistengemeinde gegangen und in den Kirchenraum wurde eine Empore eingezogen, die das sechste und siebente Fenster dem Blick entzieht. Die Pinn Memorial Baptist Church, 2251 North 54 Street, steht kurz vor der Renovierung und es ist keineswegs sicher, das die gerade fünfzig Jahre zählenden Fenster die Umbauarbeiten überstehen werden. Jedes Fenster stellt eine eigenständige Einheit dar und zusammen erzählen sie in die Geschichte des jüdischen Volkes. Die Fenster wurden nach den Entwürfen Lulu Kayser-Darmstädters von den Firmen Balano (1 Fenster) und H.J. Smith and Son (11 Fenster) hergestellt.29 Sie sind typischerweise jeweils in drei Teile gegliedert. Der Mittelteil stellt die Hauptszene dar, die Seiten meist illustrative Beigaben. Die architektonischen Einzelheiten und Beigaben entsprechen der jeweils dargestellten Epoche (siehe Abb. 7). Das elfte Fenster zeigt die Wiederbesiedlung Israels, die landwirtschaftliche Bestellung der Felder, die durchaus auch moderne Maschinen nutzt. So ist beispielsweise am linken Rand des Mittelteils ein Traktor zu sehen. Drei Figuren dominieren den Vordergrund: ein Vater, ein kleines Kind, und seine Mutter, die es in die Höhe hält. Das Kind greift nach einem Zweig. 27
Louise Kayser-Darmstädter an Wilhelm Fraenger, 11.8.1948. Wilhelm-FraengerArchiv, Potsdam. 28 Vgl. die ausführliche Dokumentation der Fenster durch Rose B. Goldstein. In: Light From Our Past. New York 1958. o.p. 29 Vgl. Light From Our Past. A.a.O.; sowie Bettina Scheeder: Künstlerinnenportraits. In: Stadt ohne Frauen. Hrsg. v. der Frauenbeauftragten der Stadt Mannheim und den Autorinnen. Mannheim 1993.
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Abb. 7 : Glasfenster XI: Israel. The State of Israel.
202 Es verweist auf den jungen Staat wie auf die junge Generation der hier geborenen Israelis. Hinsichtlich Lulus künstlerischer Ausdrucksmittel stellten die Fenster eine völlig neue Erfahrung dar. Die konstruktiven und materialbezogenen Fähigkeiten, die sie durch ihr Ingenieurstudium erworben hatte, bildeten das Fundament, mit dem sie sich überhaupt an die Aufgabe der Glasfensterentwürfe wagte: I found that I could utilize all my previous experience as portraitist, stage designer, draftsman of blue-prints and architectural drawings, for this big project which involved the use and mastery of a new medium, and five years of intensive study, contemplation, discussion and experiment.”30
Aber vor allem in Bezug auf die dargestellten Inhalte wandelte sich die Kunst Lulus. Wie viele andere Künstler und auch Schriftsteller wandte sie sich in der Ausnahmesituation des Exils ihrem alten Glauben zu und empfand das Bedürfnis, sich intensiver mit der Geschichte ihres Volkes auseinanderzusetzen. Die Glasfenster entwarf sie mit permanenter Unterstützung und unter der religiösen Anleitung von Professor Louis Ginzberg: “Unforgetable are the many hours we spent with the late Professor Louis Ginzberg discussing the contents of the various windows. His wisdom and profound learning became a main source of inspiration.”31 Während Lulu in Mannheim vorwiegend Portraits und Kompositionen angefertigt hatte, also künstlerisch eher eine Kleinform bevorzugte, so wagte sie sich mit den Fenstern an eine ganz neue Perspektive. Das Individuell-Persönliche rückte zugunsten des historischen-religiösen Kollektivs in den Hintergrund: Seltsam, wie mehr und mehr ich von der Darstellung der menschlichen Figur abrücke. Nicht, dass auf den stainedglass-windows keine Figuren sind. Nein, bald auf jedem Entwurf ist die Figur mehr oder weniger dominierend dargestellt. Aber wenn es möglich war, nur wenig vom Gesicht zu sehen. 32
Diese Abwendung von der Beschäftigung mit dem direkten Gegenüber, mit einer konkreten Person, ist auch Ausdruck der exilbedingten Entfremdung. Sie hatte ihre Freunde in Europa zurückgelassen und nahm sie nur als geistige Begleiter mit sich. Die Verlagerung des künstlerischen Interesses ins Symbolische läßt sich auch aus dem Figurenprogramm der Fenster 30
L. Kayser-Darmstädter. In: Light From Our Past. A.a.O. o.p. Ebd. 32 L. Kayser-Darmstädter an W. Fraenger, 11.8.1948. Wilhelm-Fraenger-Archiv, Potsdam. 31
203 ablesen. In den meisten Darstellungen erscheinen Personen als symbolische Stellvertreter, z.B. das israelische Baby in diesem Fenster als Stellvertreter für den jungen israelischen Staat. Deutlich wird dies auch im letzten Fenster (siehe Abb. 8). Die Hauptszene, ein paradiesischer Garten, wird von einem Globus beschirmt. Seine zwei Hälften reichen sich die Hände und darüber, im sternbeglänzten Himmel wölbt sich ein Regenbogen. Nicht nur soziale und nationale Feindschaften sind verschwunden, sondern auch physikalische Gegensätze werden in diesem utopischen Geviert vereint. Der Globus ruht auf drei Säulen, deren Kapitelle die hebräischen Inschriften tragen: “Wahrheit”, “Recht” und “Frieden.”33 In diesem XII. Fenster, das sozusagen die Vollendung im irdischen Paradies darstellt, werden die symbolischen Funktionen an die Tiere übergeben: Der am Brunnen trinkende Hirsch als Bild für die Verfolgung, die Pfauen als Symbol der Unsterblichkeit und schließlich die Taube als universelle Friedensträgerin. Lulu wagte sich lange vor Marc Chagall, dem sie in New York des öfteren begegnete, an den Entwurf von Glasfenstern.34 Gestern habe ich eine kurze Begegnung mit Marc Chagall gehabt. Er besucht mich hin und wieder, geht nach Europa für zwei Monate und ist dann wieder hier. Er wird Murals im Museum malen, ein Raum, der ganz seiner Kunst gewidmet sein soll. Wird für mich eine sehr anregende Zeit werden. Ich will ihm mein Studio zur Verfügung lassen.35
Sie lernten sich spätestens im Zusammenhang mit den Vorbereitungen zur Eröffnungsausstellung des Jewish Museum kennen, in der neben traditionellen religiösen Gegenständen auch moderne jüdische Kunst präsentiert wurde. Ausgestellte Künstler waren Marc Chagall, Jacques Lipchitz und auch Lulu.36
33
Vgl. Rose B. Goldstein. In: Light From Our Past. A.a.O. o.p. Chagall begann erst 1958, sich mit Glasfenstern zu beschäftigen: “1958 lernte Chagall Charles Marq kennen, diesen unvergleichlichen Glasmaler und Erben einer jahrhundertealten Tradition.” In: Charles Sorlier: Marc Chagall. München 1991. S. 206f. 35 Louise Kayser-Darmstädter an Wilhelm Fraenger, 11.8.1948. Wilhelm-Fraenger-Archiv, Potsdam. 36 Vgl. Ausstellungskatalog, Inaugural Exhibition. The Giving of The Law and The Ten Commandments. Hrsg. v. Jewish Museum. New York 1944. 34
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Abb. 8: Glasfenster XII: One World in Brotherhood
205 1964 zogen die Kaysers wieder an die Westküste nach Santa Monica.37 Stephen hielt an der University of California kunsthistorische Vorlesungen. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters von 76 Jahren griff Lulu immerwieder zum künstlerischen Handwerkszeug: Meine Arbeit ist zur Hauptsache die Häuslichkeit und ich tue alles allein, die Küche, die Wäsche etc. und wir haben oft Gäste zum Abendessen. Es ist ein gutes, vernünftiges Leben und ich mache alles gerne. Bis vor etwa vier Jahren habe ich mich noch mit meinen Entwürfen für Fenster, Vorhänge etc. beschäftigt, aber nachdem wir nach Californien gezogen sind, wollte ich es aufgeben. Ich war müde mich mit den Boardmitgliedern herumzudisputieren, die das Geld geben und damit das Recht haben, ihre Wünsche zu äußern und zum großen Teil erfüllt zu haben. Aber gegenwärtig hat mich das besonders ausdrucksvolle Gesicht einer bekannten Dame sehr angeregt eine Skizze zu machen und versuche damit in 4 Tuschfarben hellbraun, dunkelbraun noch dunkler braun und blau ein Portrait zu malen. Es erscheint mir als würde es gelingen.38
Nachdem sich Lulu über zwanzig Jahre, bedingt durch ihre Arbeit im Jewish Museum und den Glasfensterauftrag, vorwiegend mit jüdischer Kunst und Innenarchitektur beschäftigt hatte, kehrte sie wieder in ihren alten Duktus zurück. Sie malte Portraits. Obwohl sie das Malen schon längst aufgeben wollte, wurde sie von einem Gesicht so fasziniert, daß sie nicht widerstehen konnte, dieses auf die Leinwand zu bannen. Sie beschreibt in dem Brief die Farben: braun, blau, alles sehr dunkel. Erinnern wir uns noch einmal an das Herrenbildnis (Abb.1) und das Selbstportrait (Abb. 4), so sehen wir, wie sehr Lulu zu ihrem ursprünglichen Duktus zurückkehrt. Auch hier dominieren dunkle Töne, überwiegen braun und blau. Und auch die kalifornischen Landschaften inspirieren sie zu weiteren Werken: Dort sind herrliche Spaziergänge durch hohe Tannenwälder sog. “Redwoods”, die zum Teil 3000 Jahre alt sind, das älteste “lebende” aus so früher Zeit. Ich war so beeindruckt, daß ich später zuhause eine einzigartige Composition gemalt habe, wie ein solcher Riese auf der Erde lag und Du in sein Inneres schau-
37
“Wir leben jetzt in California, 401 Washington Ave, Santa Monica”, Louise Kayser-Darmstädter an Gustel Fraenger, 18.3.1964. Wilhelm-Fraenger-Archiv, Potsdam. Seit 1973 wohnten sie 220 San Vicente Blvd, Santa Monica, California, 90402 (Louise Kayser-Darmstädter an Gustel Fraenger, 13.2.1973. Wilhelm Fraenger-Archiv, Potsdam). 38 Louise Kayser-Darmstädter an Gustel Fraenger, 10.2.1970. Wilhelm-FraengerArchiv, Potsdam.
206 en konntest. Die Wurzeln hatten seltsame Formen u. Verschlingungen angenommen, die ich wie Lebewesen erkannte und auch als solche darstellte.39
Im Alter von 80 Jahren gab sie Kunst jedoch weitgehend auf: “Meine Kunst habe ich ziemlich aufgegeben. Sie lebt in mir und in Betrachtung. All das Schöne hier malen meine Augen, ständig und meine Hände ‘schweigen’.”40 Besonders die Freundschaft zu Wilhelm Fraenger war für Lulu ihr Leben lang von großer Bedeutung. Auch nach seinem Tod hielt sie den brieflichen Kontakt zu seiner Familie aufrecht. Sie schrieb an Fraengers Witwe Gustel: “Ich habe sehr oft an Euch gedacht, war doch diese Begegnung vielleicht die Bedeutsamste in meinem Leben. Wilhelm war ein ungewöhnlicher Mensch, den ich nie vergessen kann.”41 In den Briefen an die Witwe und Tochter Fraengers lebt sie in ihren Erinnerungen, die Realität wird gebrochen durch Gedanken an den Tod und auch hier ist es Wilhelm Fraenger, der sie zu sich ruft: Und welche Vorahnung auf den Tod, der mir immer als ein Freund und ewige Ruhe erscheint. Ich habe dieser Art alles schriftlich gemacht, verbrannt zu werden und die Asche ins Meer versenkt. Ich sehe jeden Tag den Pacific Ocean vor meinen Augen – ein wunderbares Gefühl, daß ich dort für immer ruhen werde. Letzte Nacht, das erste Mal, habe ich so deutlich von Wilhelm geträumt. Ich sehe ihn wie früher auf der Straße stehen und auf beiden Seiten standen je ein Mann ganz schwarz gekleidet mit hohem dunklem Hut auf. Und ich war vielleicht 6 Meter entfernt und schaute ihn an. Sein Gesicht erschien jung und frisch es war zu mir gekehrt, aber die Männer nicht – seh nur ihr Profil – aber sie sprachen zu ihm und ich hörte es – keine Telefonate – keine Begegnungen mehr, das muß zu ende sein – oder! Danach erwachte ich in Schrecken und der Eindruck war tief und besinnlich und beherrschte den ganzen Tag während draußen wilde Stürme um das Haus fegten bei strahlendem Sonnenschein. 42
Als Lulu 1976 Fraengers Bosch-Monographie erhielt, die Gustel und Ingeborg Baier-Fraenger posthum herausgegeben hatten, arrangierte sie ein mehrtägiges Zeremoniell, um sie gebührend in Empfang zu nehmen:
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Louise Kayser-Darmstädter an Gustel Fraenger, 15.12.1970. Wilhelm-FraengerArchiv, Potsdam. 40 Louise Kayser-Darmstädter an Gustel Fraenger und Ingeborg Baier-Fraenger, 24.2.1974. Wilhelm-Fraenger-Archiv, Potsdam. 41 Louise Kayser-Darmstädter an Gustel Fraenger, 18.3.1964. Wilhelm-FraengerArchiv, Potsdam. 42 Louise Kayser-Darmstädter an Gustel Fraenger und Ingeborg Baier-Fraenger, 8.1.1975. Wilhelm-Fraenger-Archiv, Potsdam.
207 Das Buch hatte einen festlichen Empfang. Das Paket war voll von Stempeln und Notizen von verschiedenen Stationen, wo es immer wieder von einer Bahn zur anderen geschoben wurde und dann die große Schiffsreise unternahm über den Ozean und endlich nach Californien zu mir. Das erste war, es auf dem großen alten Tisch von England (1630 datiert) niederzulegen und ausruhen zu lassen. Ungeöffnet für 3 Tage umhüllte ich es mit einer sehr feinen handgearbeiteten Spitzendecke aus dem Warburgischen Besitz – und nach dem Eröffnen blieb es am gleichen Platz bedeckt und behütet wie ein Kleinod aus der Ferne und von einer anderen Welt. Jetzt liegt es vor mir geöffnet und ich lese wieder auf Seite 37 die “Symbole der Tiere” sind tiefgründig für mich ergreifend. [...] Die Tiefgründigkeit der Gedanken herauszuschälen und in Worte und Sätze zu verarbeiten ist einmalig bei Wilhelm. Er ist sowohl ein Seher als ein Erkenner und dazu die ganz ungewöhnliche Wortsetzung und geradezu Musik-Gesang ertönt in mir wenn ich es laut mir vorlesen kann. Ich höre ihn aus jedem Wort und verehre ihn für immer. Er ist ein ganz “Großer” und es wird eine Zeit kommen, wo die Menschen ihn wirklich verstehen können und den “Bosch” lesen wie die Heilige Schrift der Kunst. Ein Meister des Wortes und Gedanken.43
Der letzte Brief von Lulu an die Familie Fraenger ist vom März 1980. Die Neunzigjährige hat ihre künstlerischen Fähigkeiten mehr und mehr ins Spirituelle verlagert: “denn ich male mehr mit dem Herzen und der Seele [...], die Hände wollen nicht mehr.”44 Louise Kayser-Darmstädter starb im September 1983.45
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Louise Kayser-Darmstädter an Gustel Fraenger und Ingeborg Baier-Fraenger, 23.3.1967. Wilhelm-Fraenger-Archiv, Potsdam. 44 Louise Kayser-Darmstädter an Ingeborg Baier-Fraenger, 20.3.1980. WilhelmFraenger-Archiv, Potsdam. 45 Das genaue Datum ist bisher nicht bekannt. Den Hinweis verdanke ich Ralph Hirsch, Philadelphia.
Wulf Koepke
Hölderlin in einer gottverlassenen Zeit The study focuses on poems of exile with high pathos, especially those that can be termed “elegies”. The poems of this genre show not only the signs of the tradition of Greek antiquity, but also marked features of the psalms, and biblical language in general, going back to Klopstock, and especially Hölderlin whose poetry had an enormous impact on the generation of the German exiles of 1933. Besides claiming to represent the true fatherland in their poetry, some, especially Jewish writers, expressed their desire to return to their origins, a new Jewish community. As the poets were aware, most painfully after the experience of the persecutors, their poems include visions of a new language and a new language community often couched in religious terms. This visionary poetry of high pathos has so far been underestimated as a vital element of the German-language exile after 1933.
Die folgenden Überlegungen stoßen auf mehrere Hindernisse im Verständnis und Selbstverständnis unserer Wissenschaft, die ich vorweg benennen muß, um meinen Ansatz zu klären. Die übermächtige Wirkung der Muster der pathetischen Lyrik der griechischen Antike – der Ode, Elegie und Hymne – und ihren Umformungen in der lateinischen Dichtung hat mit dazu beigetragen, die Dichtung nach Klopstock als Beitrag zur “Säkularisierung” anzusehen, als Befreiung der Dichtung aus dem Dienst für den Gottesdienst der Kirchen. Die Dichtung für den Gottesdienst bestand zwar unter anderem aus Hymnen, bezog jedoch ihre Inspiration primär aus der Bibel, und zwar aus den Psalmen, die nach langer ungebrochener lateinischer Tradition Grundlage der muttersprachlichen Liturgie wurden und die Gesänge des christlichen wie auch des jüdischen Gottesdienstes bilden. Martin Luther formte sie in Kirchenlieder um und integrierte ihre Worte damit in die volkstümliche Tradition. Die Psalmen bildeten Kernpunkte der Predigten und häuslichen Bibellektüre, doch sie blieben immer Teil der Kirchenmusik, wie an Johann Sebastian Bachs Kantaten zu sehen ist. Es ist bezeichnend für den Gebrauch der Psalmen, den wohl wirkungsvollsten Teil der Bibel, daß sie als Gesänge empfunden wurden, als Gemeindegesänge, und jedes Zeitalter dazu inspirierten, sie in ihr gemäße Formen umzubilden. Es ist undenkbar, daß diese mächtige Wirkung der Psalmen im 18. Jahrhundert plötzlich aufgehört haben soll, und daß die mit der Lutherbibel genährten Autoren der Aufklärung, Klassik und Romantik nicht daraus Anregungen erhielten und sie kreativ beantworteten, sei es auch in der Form der
210 Parodie. Unsere Wissenschaft hat diese Frage bis jetzt für unwichtig gehalten. Die Psalmentradition, soweit sie über den Gottesdienst und das Kirchenlied hinausgeht, ist kein Thema unserer Disziplin, wie das Reallexikon am besten belegt.1 Daher sind Moses Mendelssohns Übersetzung der Bibel und ihre Folgen oder Johann Gottfried Herders Über den Geist der Ebräischen Poesie mit seinen Übersetzungen und Erläuterungen von Psalmen außerhalb unseres Gesichtskreises geblieben, wie wir überhaupt konzeptionell einen Trennungsstrich zwischen Literatur und Religion gezogen haben, der praktisch, wie wir wissen, unmöglich ist. Die Folge ist gleichfalls, daß, während bei Klopstock unübersehbar ist, daß seine Sprache von biblischer Poesie durchtränkt ist, auch bei antiken Strophen- und Versformen, die nicht-so-dominante Tradition der Bibel, speziell der Psalmen, nur im Einzelfall bemerkt worden ist, nicht aber als durchgehendes Merkmal – trotz der allgemeinen Erkenntnis von der Bedeutung der Lutherbibel und ihrer Sprache. Ebenfalls besteht die feste Vorstellung, daß die griechisch-antike und die “hebräische” Traditionslinie als getrennt, sogar als einander ausschließend anzusehen sind, so wie nur entweder die hebräische oder die indogermanische Sprache des Sanskrit die “Ursprache” sein konnten. Goethe konnte sich jedoch Spinoza zusammen mit Plotin aneignen, MacPhersons Ossian verarbeitete die Bibel und Homer, Goethes Werther trägt seinen Homer in der Tasche und zitiert die Bibel. Selbst der dem Griechischen verhaftete Hölderlin war im “griechischen” Johannesevangelium zu Hause – und auch in den Psalmen. Wir haben damit die Frage der Gattung angeschnitten. Gattungsbestimmung und -forschung wird zur Zeit als nebensächlich betrachtet, möglicherweise, weil etliche traditionelle, “konventionelle” Gattungen und Unterarten während des 20. Jahrhunderts radikal umgeformt, abgelehnt worden oder gar verschwunden sind. Andere jedoch haben ein zähes Leben, wie das Sonett, während etwa die Elegie sich weitgehend von dem antiken Versbau abgelöst hat, wobei das “elegische Gedicht” seine unbestrittene Bedeutung behält.2 Die Frage der Gattung scheint mir für die Exillyrik eine besondere 1
Vgl. Artikel Psalmendichtung. In: Reallexikon. 2. Aufl. Bd. 3. Berlin 1977. S. 283289. Bearbeiter Arthur Hübner und Erich Trunz (für die neuere Zeit); die Kürze des Artikels sticht gegen vorhergehende Artikel wie “Prolog”, “Politische Dichtung”, und den nachfolgenden Artikel “Puppentheater” deutlich ab. Trunz beschränkt sich im wesentlichen auf Psalmen-Übersetzungen, im 20. Jahrhundert etwa die von BuberRosenzweig, 1925, und die katholische von Romano Guardini, 1950. Vgl. dazu den Anhang zu Psalmen vom Expressionismus bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Paul Konrad Kurz. Freiburg, Basel, Wien 1978. S. 298-316, bes. 307f. 2 Es scheint mir sehr wichtig, pragmatisch, also ohne System- und Theoriezwang, aber doch präzise der Geschichte einer Gattung zu folgen, wie es Theodore Ziolkowski mit der Elegie tut: The Classical German Elegy 1795-1950. Princeton,
211 Bedeutung zu haben, die ich so erläutern kann: Das Jahr 1945, der “Kahlschlag”, hat in der deutschen kulturellen Tradition eine Art Anti-Pathos-Ideologie mit sich gebracht, der allerdings die literarischen Texte und die Rhetorik nicht entsprechen und nie entsprochen haben. Dieses Vorurteil gegen Pathos als “falsch” per se hat zu den gängigen und bekannten Werturteilen geführt, und darüber hinaus zu bestimmten Bildern von den Autoren. Das beste Beispiel ist Bertolt Brecht, der als lakonischer Epigrammatiker, Spruchdichter, Dichter des Verstummens und Verschweigens rezipiert und gelobt worden ist. Sein bekanntestes Exilgedicht “An die Nachgeborenen” sollte unmittelbar klarstellen, daß mit diesem Urteil etwas nicht stimmt. Um die Exillyrik unbefangener aufzunehmen und zu beurteilen ist eine Einteilung von Nutzen, die von der Frage ausgehen kann, wer der Adressat dieser Texte ist. Lyrik ist ja keineswegs nur die ungehörte Klage des Exilanten über die Einsamkeit und Fremdheit des Exils. So wie oft die Lyrik des Lagers an die Lagergemeinschaft gerichtet ist, so ist die Lyrik des Exils für eine Gruppe bestimmt: die Mitbetroffenen, die Mitkämpfer, die anderen, die mitkämpfen sollten, die unmittelbare Umgebung: Familie, Partner, Kind(er), und dann das Volk, das deutsche, das jüdische, die Menschheit und nicht zuletzt für Gott, oder das Göttliche, das Schicksal oder die Macht der Geschichte. Während die Vision der Geschichte den Mitleidenden und -streitenden zugedacht ist, als Trost und Hoffnung, ist ein Gedicht an Gott ein Gebet, das auch ein Vorwurf an den abwesenden oder unverständlichen Gott sein kann, wie es bereits in den Psalmen steht. Die Mehrzahl solcher Texte für bestimmbare Gruppen sind Gesänge. Es gibt Lagerlieder, Kampflieder der Internationalen Brigaden, in der Gruppe vorzutragende Kampfballaden, Kabarettlieder, und es gibt religiös gestimmte Gesänge. Das können Texte für die Toten, für einen Gottesdienst oder einfach Gebete zu Festtagen sein. Natürlich kennt das Exil und die Lagerlyrik satirische Parodien und andere Verspottungen der Gegner und Verfolger, aber sehr wenige Haßgesänge, allerdings nicht wenige Texte der Warnung, daß die Abrechnung für die Untaten und den Völkermord kommen wird. Die häufige Rede vom “Singen” in diesen Texten sollte nicht als gängige Metapher oder gar Klischee abgewertet werden. Die befreiende und selbstbefreiende Wirkung des Gedichts ist an die Musik gebunden, und das bedeutet ihre mündliche Äußerung, ihren Vortrag, ihr gemeinsames Singen. Das sieht man deutlich an der Negation, wo die Sprache sich selbst aufhebt. So beschreibt es Hans Sahl in seinem kurzen Gedicht:
NJ 1980.
212 Es ist so gar nichts mehr dazu zu sagen. Der Staub verweht. Ich habe meinen Kragen hochgeschlagen. Es ist schon spät. Die Winde kreischt. Sie haben ihn begraben. Es ist so gar nichts mehr dazu zu sagen. Zu spät.
Daß mehr als das Begräbnis eines Freundes gemeint ist, zeigt der auf den ersten Blick überraschende Titel des Gedichts: “Exil”. Nach den Reden und Gebeten, die das “Ich” angehört haben muß, ist nichts mehr dazu zu sagen, nicht einmal ein Kaddisch, ein Gedächtnis des Toten. Das Gedicht nennt keinen Namen, keinen Ort, keine Zeit, es nennt die Leere um den Toten und um den Zurückbleibenden und hinterläßt die Frage, wofür es zu spät ist. Es ist die Negation der Ballade zum Gedächtnis der vorbildlichen Toten,3 die Negation eines Totengedichts und die Negation einer Elegie. Brechts “Besuch bei den verbannten Dichtern” endet mit der folgenden Angstvision: ... da, aus der dunkelsten Ecke, Kam der Ruf: “Du, wissen sie auch Deine Verse auswendig? Und die sie wissen Werden sie der Verfolgung entrinnen?” – “Das Sind die Vergessenen”, sagte Dante leise “Ihnen wurden nicht nur die Körper, auch die Werke vernichtet.” Das Gelächter brach ab. Keiner wagte hinüberzublicken. Der Ankömmling War erblaßt.
Solange die Verse unter den Menschen leben, leben die Dichter; aber nur solange. Es ist also wichtig, die Verse richtig zu schreiben, und der Vorwurf von Dante ist zu bedenken: “Deine Verse / Wimmeln von Fehlern, Freund, bedenk doch, / Wer alles gegen dich ist!” Dante ist eine oft erscheinende Gestalt des Exils, er führt den Ankömmling durch das Totenreich, wie Vergil in Dantes Gedicht den 3
Außer Balladen auf die Großen der sozialistischen Bewegung und die gefallenen Widerstandskämpfer in Deutschland war ein besonders lockendes Thema die Ermordung des spanischen Dichters Federico Garcia Lorca, die beispielsweise Erich Arendt im Stil einer Ballade Lorcas besungen hat, wobei “singen” und “Gitarren” neben den Schüssen die Hauptmotive sind. Lorcas Tod wird gesehen wie das Erschießungsbild von Goya; vgl. die Gedichte “Garcia Lorca” von Arendt und Alfred Gong. In: Lyrik des Exils. Hrsg. v. Wolfgang Emmerich und Susanne Heil. Stuttgart 1985. S. 129131.
213 Dichter durch Hölle und Fegefeuer geleitet hatte. Der Ankömmling ist also in der Gruppe, unter seinesgleichen, und er spricht in Langversen, die sich der Feierlichkeit von Dantes Terzinen nähern. Aber gerade indem sie sich annähern, wird deutlich, daß es unregelmäßige, freie Verse ohne Reime sind, und daß der Ankömmling die Autorität Dantes, seiner Verse, seiner Feierlichkeit und seines festen und hierarchischen Weltbilds in Frage stellt. Umso dringender stellt sich die Frage, ob seine Verse bewahrenswert sind; denn keine Schrift kann sie aufbewahren, nur das Gedächtnis der Menschen. Lyrik existiert nur, wenn sie in einer Gruppe lebendig ist, wenn sie nicht einzelnes, einsames Schreiben, sondern auf das Gegenüber bezogenes Sprechen und gemeinsames Singen ist. Daher sind Gattungen gefragt, die Verbindungen herstellen und Kommunikation erzeugen. Es wäre natürlich unsinnig zu behaupten, daß nicht auch die Inschrift und Aufschrift, das Epigramm, der Spruch, und das ubiquitäre Sonett der Verständigung und der Verbindung der Menschen untereinander dienen. Sie klären die Lage und die eigene Befindlichkeit, und sie stützen das Gedächtnis. Da dies bis jetzt der Hauptpunkt der Untersuchungen war,4 möchte ich hier in eine andere Richtung gehen, nämlich die des pathetischen Sprechens. Der Inbegriff des feierlichen gehobenen Sprechens, die Hymne, hat sich im 20. Jahrhundert ungehindert in neuen Formen fortgesetzt. Es gab dafür neue oder neuentdeckte Vorbilder, die die Autoren des Expressionismus inspirierten. Dazu gehörte außer Nietzsche vor allem Hölderlin, dessen späte Lyrik gerade von Norbert von Hellingrath zum ersten Mal ediert wurde.5 4
Es ist allerdings auffallend und sehr bedauerlich, daß die bahnbrechende Studie von Theodore Ziolkowski am Beginn der amerikanischen Exilforschung so wenig Nachfolge gefunden hat: Form als Protest: Das Sonett in der Literatur des Exils und der Inneren Emigration. In: Exil und Innere Emigration. Hrsg. v. Reinhold Grimm und Jost Her-mand. Frankfurt a.M. 1972. S. 153-172; Ziolkowski selbst hat in seinem Buch über die Elegie, The Classical German Elegy 1795-1950. auf die zentrale Bedeutung von zwei Elegien in der Inneren Emigration hingewiesen, nämlich “Mohn” von Friedrich Georg Jünger und Hans Carossas “Abendländische Elegie”, A.a.O. S. 266-273. 5 Hölderlins Werke, historisch-kritische Ausgabe. Bd. 4. Hrsg. v. Hellingrath. Berlin 1914, enthält die späte Lyrik, vor allem die Hymnen, über die Hellingrath im Vorwort sagt: “Dieser Band enthält Herz, Kern und Gipfel des Hölderlinischen Werkes, das eigentliche Vermächtnis. Die grossen Hymnen darin empfand der Dichter selbst als das Wort Gottes, nicht nur in dem Sinne wie er die Kunst der Griechen als ‘heilige Schicklichkeit’ ansah, ‘womit sie in göttlichen Dingen verfahren mußten’, sondern ganz so als ‘vom guten Geist des Vaterlands’ gesprochen wie die Propheten der Juden ihre Worte als vom Herrn geredet verstanden.” (Zit. nach: Hölderlin. Eine Chronik in Text und Bild. Hrsg. v. Adolf Beck und Paul Raabe. Schriften der Hölderlin-Gesellschaft Bd. 6/7. Frankfurt a.M. 1970. S. 467.). Zur Rezeption Hölderlins im George-Kreis gibt es mehr als genügend Dokumentationen und
214 Andere Vorbilder wurden Rimbaud und Walt Whitman, und für die sozialistische Linke kam dann in den dreißiger Jahren die spanisch-lateinamerikanische Dichtung hinzu, besonders Neruda, Guillén und Lorca. Hölderlin wiederum, wie ihn Hellingrath präsentierte, wies auf Pindar zurück und dessen “harte Fügung.”6 Die Hymnentexte, eingebunden in die archaische Einheit von Musik, Tanz und Poesie, erschienen in der deutschen Übersetzung als freie Rhythmen und boten Klopstock die geeignete Form für seine religiösen Dichtungen, Goethe für den Ausdruck seines rastlosen jugendlichen Lebensgefühls. In der Tradition der christlichen Liturgie gehören Hymnen zum außerbiblischen Text und wurden verschiedenen zeitgemäßen Formen angepaßt. Die Säkularisierung dieser rituellen Formen wird besonders in der Gebrauchsform der Nationalhymne sichtbar, in der eine Nation ihre festliche Identität feiert, zuweilen, wie in der “Marseillaise”, als Erinnerung an die revolutionäre Selbstbestimmung des Volkes. Heimat, Freiheit, Gott und die Liebe zum Fürsten sind dabei wiederkehrende Schlüsselwörter. Während die Hymne in ihrem Schwung und Aufschwung zur gemeinsamen Feier einstimmt, ist die Elegie durch Distanz gekennzeichnet. Eine Untersuchung der Elegie stößt allerdings auf das Problem, daß es eine mit der lateinischen Dichtung beginnende Tradition der Elegie gibt, wobei “Elegie” das formale Element des Distichons und die Länge des Gedichts meinte, nicht aber durch inhaltliche oder stimmungsmäßige Bestimmungen festgelegt war. Hingegen hat das moderne Verständnis, wie es beispielhaft bei Schiller zu finden ist, das “Elegische” mit dem der Vergangenheit zugewandten Klagegedicht gleichgesetzt, es dem Wehmütigen, Sentimentalen zugeordnet und so beispielsweise Goethes Römische Elegien in andere Zusammenhänge als die der Elegie verwiesen. Die im Selbstverständnis der Dichter als “Elegien” bezeichneten Texte des frühen 20. Jahrhunderts, Elegien von Trakl und Rilkes Duineser Elegien vor allem, sind lange meditative Gedichte bzw. Zyklen, die durch Gegensätze des Einst und Jetzt, durch Einsamkeit des Ich und eine visionäre Schau gekennzeichnet sind, oft auch durch die Vision eines leitenden Engels. Sie sind, was die deutsche Tradition betrifft, zwei Mustern verpflichtet: Schillers “Der Darstellungen; zum Expressionismus vgl. Kurt Bartsch: Die Hölderlin-Rezeption im deutschen Expressionismus. Frankfurt a.M. 1974; allgemein Alessandro Pellegrini: Friedrich Hölderlin. Sein Bild in der For-schung. Berlin 1965, und die Hinweise bei Stephan Wackwitz: Friedrich Hölderlin. Sammlung Metzler. Bd. 215. 2. Aufl. Bearb. v. Lioba Waleczek. Stuttgart 1997. S. 172-198. 6 Norbert von Hellingrath: Pindarübertragungen von Hölderlin. Prolegomena zu einer Erstausgabe. Jena 1911. Hellingraths Dissertation brachte durch das Konzept der “harten Fügung” ein neues Verständnis der späten Hymnen von Hölderlin in Gang.
215 Spaziergang” und Hölderlins Elegien, “Menons Klagen um Diotima”, “Archipelagos” und vor allem “Brot und Wein.”7 Wenn auch in der Anthologie Menschheitsdämmerung, wie Ziolkowski festgestellt hat, weder das Wort “Elegie” noch Distichen vorkommen, so bedeutet das keineswegs, daß das elegische Gedicht verschwunden war. Zu den am meisten rezipierten und zitierten Gedichten Hölderlins gehörten “Hälfte des Lebens”, “Hyperions Schicksalslied” und “Brot und Wein”. Aber Hölderlins Wirkung ging weit über das Elegische hinaus. Während “Patmos” die am meisten zitierte Hymne blieb, hatten unter den Oden “Heidelberg” und “Der Neckar” den größten Widerhall. Und natürlich trugen die Soldaten des Ersten Weltkriegs, angefangen mit Norbert von Hellingrath (der als Offizier im Kriege fiel), ihren Hölderlin im Tornister, und das waren außer Hyperion die “Vaterlandsgedichte” wie “Gesang des Deutschen” und “Der Tod fürs Vaterland”. Hölderlin, und mithin seine Elegien, repräsentierte also den Bereich der religiös inspirierten Vaterlandsliebe und vor allem die Sehnsucht nach und Erwartung der Wiederherstellung einer alten besseren Welt in einer neuen Form. Hölderlin war der Dichter der Dichter, er dichtete vom Dichten, und er war selbst als der verklärte Dichterjüngling zum Mythos geworden. Darüber hinaus dichtete er “hymnische Elegien”, und man möchte hinzufügen, “elegische Hymnen,”8 seine Dichtung des Andenkens war zugleich prophetisch. Er sprach Gottes Wort in einer gottfernen Zeit wie ein Prophet oder ein Psalmist der Bibel. Der Knabe und spätere König, Held und Psalmensänger David, Herders Inbegriff des Psalmisten in Vom Geiste der Ebräischen Poesie, ist solch ein Mittler zwischen dem Göttlichen, und daher ist Friedrich Torbergs Übersetzung des Sonetts “David” aufschlußreich, das damit beginnt: “Das denke aus: die Schleuder hat versagt”, mit der David gegen Goliath den Philister antrat. Nun schildert es, wie Goliath David besiegt und tötet, “indessen 7
Zur Herkunft und Tradition der Elegie vgl. außer Ziolkowski den Artikel “Elegie” von Dirk Kemper im Reallexikon. Neubearbeitung. Bd. I. Berlin 1997. S. 429-432, der sich vor allem an die formale Gattungstradition hält und daher feststellt: “Im 20. Jahrhundert steht die Elegie unter dem Zeichen eines Traditionsbruchs.” (S. 431) Und: “Seit dem 2. Weltkrieg ist die klassische Elegie nicht mehr als thematische oder metrische Bindung präsent, sondern nur als Zitat im Titel ‘Elegie ...’ “ (S. 431); eine Auseinandersetzung mit Formen der modernen Elegie, vor allem Brecht, bietet Daniel Frey: Bissige Tränen. Eine Untersuchung über Elegie und Epigramm von den Anfängen bis zu Bert Brecht und Peter Huchel. Würzburg 1995. Zur Wirkung Hölderlins auf Trakl vgl. Bartsch, A.a.O. S. 92-124; zu Rilke vgl. Ziolkowski, A.a.O. S. 240 u.a., der sich auf Herbert Singer: Rilke und Hölderlin. Köln 1957. stützt. 8 “Hymnischen Elegien begegnet man vor allem bei Schiller und Hölderlin. Hier wird die Verseinheit durch häufige Enjambements gesprengt.” Daniel Frey: Bissige Tränen, A.a.O. S. 150.
216 Gottes Volk aus starrem Schrecken / ein Mal noch aufschreit und zum Himmel klagt.” “Man denke aus”, was dann alles geschieht: “Geborsten der Altar. Die Harfe reißt.” Denn nun kommt der die Folgen aussprechende Zweizeiler: “Man denke aus: das Wehe einer Welt, / in der kein Psalm ertönt, denn David ward gefällt.”9 Nicht die verlorene Schlacht gegen die Philister wird beklagt, sondern der Tod des Psalmensängers, das Fehlen der Psalmen, die die Verbindung zu Gott herstellen und erhalten. Das Exil der Dichter hat ihre Verbundenheit mit der Gruppe, in der sie produzierten, ihre Verbindung mit ihrem Publikum, ihre Geborgenheit in einem Raum: Heimat, Volk, Vaterland, die Selbstverständlichkeit der Sprachgemeinschaft und des spontanen Sprechens abgebrochen oder mindestens existentiell in Frage gestellt. Das Exil als solches lebt aus dem Gegensatz von Früher und Heute und der Erwartung eines ungewissen Morgen, das das Gestern wiederherstellen soll, aber je länger das Exil dauert, desto weniger dazu imstande sein wird. Dieser Zwischenbereich, dieses Abseits gibt den Impetus zur elegischen Weltsicht (und Gedichtform) genauso wie den zur Wiederherstellung (oder Herstellung) der Gemeinsamkeit – und, wo die Gemeinschaft fehlt oder in Gefahr ist, das Bedürfnis, sich wieder an Gott zu wenden. Nur das Wort des Dichters und 9
“David”, “nach einem englischen Motiv der Maria Syrkin”, schreibt Torberg, eigent-lich eine Übersetzung. Zit. nach: An den Wind geschrieben. Lyrik der Freiheit 1933-1945. Hrsg. v. Manfred Schlösser, 2. Aufl. Darmstadt 1961. S. 157; vgl. dazu jetzt Clatra Sajak: Erst mit dem letzten Juden wird unsere Hoffnung erlöschen. Zu Friedrich Torbergs Hebräischen Melodien. In: Deutschsprachige Exillyrik von 1933 bis zur Nachkriegszeit. Hrsg. v. Jörg Thunecke, Amsterdam-Atlanta 1998. S. 157169, zu “David” S. 168. Wichtig scheint mir der von Clatra Sajak nachgezeichnete Versuch, sich im und mit dem Gedicht, in den “Melodien”, den jüdischen Festen und Bräuchen (Kaddisch) wieder anzunähern, und damit wieder Zugang zu der Gemeinschaft zu haben. Marie Syrkins Gedicht ‘David’ ist in ihrer Gedichtsammlung Gleanings. A Diary in Verse. Santa Barbara 1979. S. 70, als Anfangsgedicht des Zyklus “Israel: 1948” in einen historischen Kontext gestellt, nämlich Israels zuerst unmöglich scheinenden Widerstand gegen die arabischen Angreifer, verglichen mit David gegen Goliath. Torbergs Version ist viel emphatischer. Man sieht das an dem Vergleich von Torbergs “Dies denke aus” mit Marie Syrkins zurückhaltendem “Suppose”, das auch nicht so bedeutend wiederholt wird. Dazu kommt der Schluß: “das Wehe einer Welt, / in der kein Psalm ertönt, denn David ward gefällt.” Die letzten drei Zeilen Syrkins lauten: “Defeat will compass every heart aware / How black the ramparts of a world wherein / The psalm is stilled, and David does not win.” Syrkins Einteilung in nur zwei Strophen verwischt etwas die Form des Sonetts. Syrkin ist am meisten bekannt durch ihre Biographie von Golda Meir und ihr Buch über jüdischen Widerstand gegen die Nationalsozialisten. In An den Wind geschrieben wird Torbergs Übersetzung auf “1940-1946” datiert.
217 die daraus hervorgehende gruppenbildende Musik kann dahin führen – so lasen es bereits die Georgianer und Expressionisten bei Hölderlin. Ohne das Singen, also ohne den Sänger, entsteht keine Gemeinschaft, kein Volk. Es scheint mir wichtig hervorzuheben, daß dieses Muster auch und gerade für die sozialistische Linke gilt. Ausgerechnet Thomas Mann brachte nach dem Ersten Weltkrieg die Formulierung in Umlauf, daß Karl Marx Hölderlin lesen solle.10 Im Exil wurde Hölderlin der erste Klassiker, den die Linke dem deutschen Nationalismus abkämpfen und als ihr Erbe beanspruchen wollte. Statt der Inanspruchnahme für unmenschliche Opfer und Ziele11 sollte ein anderer Hölderlin erscheinen. Das ist die politische Bedeutung von Georg Lukács’ Hyperion-Aufsatz von 1935.12 Dieser neue Hölderlin war ein deutscher Jakobiner, die deutsche Klassik und die Französische Revolution wurden von nun an immer zusammengedacht, in der Nachfolge von Marx, der das Äquivalent der Revolution in der Philosophie von Kant bis Hegel gesehen hatte. Die Wirkung von Lukács’ Aufsatz war enorm, wie beispielsweise Stephan Hermlin bezeugt, der gleichzeitig feststellen mußte, als Lyriker und Hölderlin-Enthusiast, daß Lukács mit keinem Wort die Gedichte Hölderlins erwähnt hatte.13 Das tat umso nachdrücklicher Johannes R. Becher, Hölderlin-Begeisterter der ersten Stunde, der an Hölderlin und durch Hölderlin das Poetische in den Debatten des Exils und in der DDR zu verteidigen versuchte.14 Bechers vielleicht zu naiver Patriotismus, der den Spott Bertolt Brechts herausforderte15, entzündete sich am Vaterland Hölderlins. Bechers Drama der deutschen Seele im Zweiten Weltkrieg, Winterschlacht, zeigt den deutschen Menschen Johannes Hörder, der im Spott “Hölderle” gerufen wird, auf 10
In “Goethe und Tolstoi”, 1921. Thomas Mann meinte von Anfang an, daß die Kennt-nisnahme gegenseitig sein müsse. Vgl. Helen Fehervary: Hölderlin and the Left. The Search for a Dialectic of Art and Life. Heidelberg 1977. S. 51-55. 11 Vgl. die Dokumentation Klassiker in finsteren Zeiten 1933-1945. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs Marbach 1983. Katalog Bd. 2, bes. S. 169 u. 300-335. 12 Vgl. Fehervary. A.a.O. S. 45 und 59-65. 13 Vgl. dazu meinen Beitrag: Hölderlin im Gepäck bei der Rückkehr aus dem Exil. Stephan Hermlins und Erich Arendts Appell an zukünftige Leser. In: Deutschsprachige Exillyrik von 1933 bis zur Nachkriegszeit. A.a.O. S. 83-100, bes. S. 85f. 14 Vgl. Bartsch, A.a.O. S. 135-146 und Fevervary. A.a.O. S. 66-79. Paul Konrad Kurz hat in Psalmen vom Expressionismus bis zur Gegenwart den frühen Psalm (?) “An Gott” aufgenommen, der den Wunsch nach Gottnähe, nach einer idyllischharmonischen Welt der dörflichen Gemeinschaft und die Vision eines Weltendes ausspricht. 15 Klaus Schuhmann: Im Zeichen der Polarität. Umrisse einer Poetik des Exilgedichts bei Bertolt Brecht und Johannes R. Becher. In: Deutschsprachige Exillyrik von 1933 bis zur Nachkriegszeit. A.a.O. S. 39-48.
218 seinem tragischen Weg vom falschen Glauben zur zu späten Erkenntnis. Der Dichter Hölderlin verkörpert in Bechers Leben und Lehre die Macht der Poesie. Hölderlin hatte ihn zum Dichter gemacht: “Dir folgte ich. Dort ging ich auf dich zu [...] Dort rief mich deine Hymne, Hölderlin, / Sie rief mich auf zu einem neuen Leben − / Und machte mich gewiß, daß ich berufen / Zum Dichter sei”. “Und so bin ich / Dir nachgefolgt. / Dem Großen wahrhaft folgend.”16 “Der Dichter soll dem Volke vorangehen, heißt es,” sagt Becher in Macht der Poesie.17 Hölderlins “heilige Nüchternheit” war ihm das Vorbild seiner eigenen “trunkenen Nüchternheit” (32), Dichten ist “eine Art Fremdsprache in der eigenen Sprache,” (113, Verteidigung der Poesie), und man muß bedenken, daß “im wahrhaft Volkstümlichen nicht nur das Heute, sondern auch das Morgen enthalten ist” (18). “Literatur ist für das Volk eine Frage auf Leben und Tod.” 1941, unter dem Titel Standhaftigkeit, ruft Becher sich und anderen zu: “Befreiende Worte sind es, die von uns erwartet werden, Worte, denen höchste Glaubwürdigkeit und ‘heilige Nüchternheit’ innewohnen.”(361) Und dafür zitiert er dann “Hölderlins prophetische und auch uns als Mahnruf begleitende Worte”: Meinest du, Es solle gehen Wie damals? Nämlich sie wollten stiften Ein Reich der Kunst. Dabei ward aber Das Vaterländische von ihnen Versäumet, und erbärmlich ging Das Griechenland, das schönste, zugrunde.” (365)18
In Von der Größe unserer Literatur erinnert Becher 1956 noch einmal an diese Verse und zugleich an sein Credo: “Das Reale und Romantische ergeben eine neue sozialistische Realität. Der Dichter erinnert sich an die Verse Hölderlins” (aus der Ode “Der Tod fürs Vaterland”): Denn die Gerechten schlagen, wie Zauberer, 16
Johannes R. Becher. Werke in drei Bänden. Bd. 1: Gedichte. Berlin 1970. ‘Nachfolge’. S. 240 u. 243. 17 Werke in drei Bänden. Bd. 3: Bemühungen, Reden, Aufsätze. S. 193. Die folgenden Zitate sind aus diesem Band. 18 Anfang eines Fragments aus der Homburger Zeit, die Handschrift sagt “zu Grunde”. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 1: Gedichte. Hrsg. v. Jochen Schmidt, Frankfurt a.M. 1992. S. 399, dazu Stellenkommentar 1076f., der darauf hinweist, daß “Kunst” in Hölderlins Sinn (und dem vieler Autoren seiner Zeit) nicht das Ästhetische meint, sondern das Gesetzmäßig-Künstliche, die von Menschen der Natur und Geschichte aufgezwungene formal-starre legalistische Ordnung. Daß Becher “Kunst” in völlig anderem Sinn versteht, ist evident.
219 Und ihre Vaterlandsgesänge Lähmen die Kniee der Ehrelosen. (464)
In allen Äußerungen Bechers über das Dichterische und die Macht der Poesie kehrt der Name Hölderlin wieder, und es häufen sich die Ausdrücke, die dem Dichter als Propheten eine höhere Wahrheit und eine weitere Sicht zuschreiben, die also vom Dichter wahrhaft erlösende Worte verlangen, die die Menschen emporheben und vereinigen. Diese hymnische und religiöse Gestimmtheit mißfiel Brecht, doch findet sich etwas davon auch bei anderen sozialistischen Dichtern, wie z. B. Stephan Hermlin.19 Es ist also die Nötigung, aus der Dunkelheit des Exils das befreiende und lichtbringende Wort zu sagen, die den hymnischen Ton und die Verbindung mit dem Volk und seinem Bund mit Gott suchen läßt. Dabei ist die Gefahr zu beachten, die Bechers Hölderlin-Zitat benennt: ein bloßes “Reich der Kunst” rettet nicht das Vaterland, sondern läßt es erbärmlich zugrundegehen. Das Mißtrauen des Exils gegen Ästhetizismus, gegen bloße Kunst und Schönheit ist nur durch den höheren Zweck und Auftrag zu überwinden. Nach der Schoah spitzt sich dieses Mißtrauen zu, und Adorno hat es bekanntermaßen durch die mißverständliche Formel legitimiert, nach Auschwitz sei es barbarisch ein Gedicht zu schreiben. Hans Sahl formulierte in einer der vielen Antworten darauf: Wir glauben, daß Gedichte überhaupt erst jetzt wieder möglich geworden sind, insofern nämlich als nur im Gedicht sich sagen läßt, was sonst jeder Beschreibung spottet.
Das mag vereinfacht klingen oder auch sein; aber es deutet auf den Kernpunkt des “Auftrags”: Gedichte zu schreiben, die nicht barbarisch sind, sondern auch das Unnennbare richtig benennen.20 Daß dies in der Sprache der 19
Vgl. Heinrich Detering: “Die Stimme im Dornbusch”. Jüdische Motive und Traditionen in den Exilgedichten Stephan Hermlins. In: Deutsch-jüdische Exil- und Emigra-tionsliteratur im 20. Jahrhundert. Hrsg. v. Ita Shedletzky und Hans Otto Horch. (Conditio Judaica Bd. 5). Tübingen 1993. S. 253-269, bes. S. 269. 20 Hierzu hat Wolfgang Emmerich bereits Wichtiges gesagt: Exillyrik nach 1945. In: Deutschsprachige Exillyrik von 1933 bis zur Nachkriegszeit. S. 357-379; zu Adorno und Sahl vgl. S. 364f. mit Hinweisen auf die Literatur. Adorno hat bekanntlich seinen Satz später korrigiert. Vgl. Theodor W. Adorno: “Ob nach Auschwitz noch sich leben lasse”. Ein philosophisches Lesebuch. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt 1997. Darin: Erziehung nach Auschwitz. (S. 48-63, von 1966) und auch der fragliche Essay: Kul-turkritik und Gesellschaft (S. 187-205). Es lohnt sich übrigens, einmal
220 Verfolger geschehen mußte, fügt dem Auftrag noch eine weitere Dimension hinzu, die 1945 das Bedürfnis nach einer “neuen Sprache” auslöste, eine Dimension, die immer noch weiteres Nachdenken verdient. Ein besonders einprägsames Beispiel für dieses Dichten ist Karl Wolfskehl. Bei seiner geistigen Herkunft von George und dessen Hölderlin-Bild war für ihn das Jahr 1933 eine vollständige Katastrophe, zumal er sich vollkommen deutsch eingewurzelt fühlte. Er war von der Familienüberlieferung überzeugt, daß seine Familie zur Zeit Karls des Großen von Lucca nach Mainz eingewandert sei. Diese Familie war dann spätestens im 18. Jahrhundert vom Dorf Wolfskehlen nach Darmstadt gekommen. Herausgefallen aus seinen Bindungen suchte Wolfskehl den Weg zu seinem jüdischen Volk zurück, zu den Festen Israels, die die Geschichte bewahren, zur Zwiesprache mit Gott. Der Zyklus Die Stimme spricht, 1934 in der SchockenBücherei in Berlin (einem der jüdischen Verlage nur für Juden) veröffentlicht, mehrfach aufgelegt, in Palästina und nach 1945 in den USA zweisprachig wieder veröffentlicht, ist in seiner Intensität nicht nur vielen Verfolgten eine Hilfe geworden, sondern auch in Palästina in deutschen Synagogen Teil des Gesangs geworden. Es ist ergreifend zu sehen, wie Wolfskehls psalmodierende Sprache voll von Anaphern, Anrufen, Wiederholungen, Parallelismen und einprägsamen Refrainzeilen der Sehnsucht nach der Rückkehr zum Ursprung entsprach, nach der Ursprache, der archaischen Gebundenheit, die Adorno, in vehementer Polemik gegen Heidegger und die Heideggerei, in der “Parataxis” und harten Fügung von Hölderlin gefunden hatte.21 Als Wolfskehls Dichtungen ins Hebräische übersetzt wurden, schienen sie, wie Leo Baeck sich zu überzeugen versuchte, ihre eigentliche Urform gefunden zu haben. Eine etwas distanziertere Betrachtung mußte dann erkennen, daß die Übersetzung eine bedeutende philologische Leistung sei, aber eine Kunstform, eine künstliche Form und Sprache, keine Urform, sondern romantische Kunst der Kunst aus Sehnsucht nach dem Ursprung.22 Adornos ganzen Satz zu zitieren: “Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.” (205) 21 Theodor Adorno: Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins (zuerst als Vortrag bei der Jahrestagung der Hölderlin-Gesellschaft 1963). In: Noten zur Literatur III, Frankfurt a.M. 1973. S. 156-209. Vgl. vor allem nach der vorhergehenden Heidegger-Polemik S. 184ff., den Hinweis auf “musikalische” Strukturen und die Diskussion der “Symbiose des Christlichen und Griechischen” (203), mit Bezug auf “Patmos”, vor allem aber die “parataktischen” Strukturen, die (nach Adorno) Hölderlins Überwindung des Idealismus anzeigen. 22 Vgl. dazu Karl Wolfskehls Briefwechsel aus Neuseeland 1938-1948. Hrsg. v.
221 Der Nachdruck und die Wiederholungen betreffen vor allem Gottes Wort, dazu die Rückkehr zum jüdischen Volk, die Annahme der jüdischen Existenz und die Wiederaneignung der jüdischen Feste. Es ist der Prozeß dieser individuellen Aneignung von Worten in der Zwiesprache mit Gott, der andere Menschen damals so sehr ergriffen hat. “Herr! Ich will zurück zu Deinem Wort.[...] Ich bin allein.”(129)23 Und: “Herr, lasse mich nicht fallen, / Ich kam aus dem Geheg –” (133) Es ist der Mensch, der sich Gott verweigert hat, obwohl Gott ihn sucht: “Herr, Du suchst mich wieder und wieder. / Wo ich mich auch unterducke, / Fährt Dein Strahl durch jede Lucke, / Und ich weiss, dann willst Du mich.” (146) Die Menschen haben sich verweigert, sie waren der Stimme des Herrn nicht wert: “Es hat so kommen müssen” (169). Jetzt möchte der Dichter das, was er erkannt, was er gesehen hat, was “Die Stimme” zu ihm gesprochen hat, seinem Volke weitergeben können: “O dürft ich Stimme sein, das Volk zu rütteln, / Das Samkorn, tief in jede Brust versenkt, / Der Arm, die Schläfrigsten noch wach zu schütteln, / Wegnadel sein, die unser Steuer lenkt: / Wär ich als Anruf, Vorbild, Opfer gross [...]” (164). Am meisten beeindruckt haben des Dichters Aufrufe zum “Weiterziehn”: “Fragt nicht wohin? / Wir ziehn. / Wir ziehn, so ward uns aufgetragen / Seit Ur-Urvätertagen” (160), das Durchhaltepathos: “Von je vertrieben, immer vom Sturm erfasst [...] Und dennoch sind wir da!” (148) und vor allem anderen das Gedicht zum Seder: “Immer wieder, wenn vom Wanderstabe [...]” (137) mit der Antwort der “Stimme”: “Bindet bindet euch ans Wort! / Findet endlich euer Wort!” (138) Wolfskehls Bild in der Exilforschung ist das des einsamen blinden Dichters “auf Erdballs letztem Inselriff”, “so einsam, so allein, so ganz verlassen.”24 Er selbst hat sich in Neuseeland so gefühlt, doch selbst wenn er sich aus dem “Mittelmeerischen” ausgestoßen fühlte, in dem Arnold Zweig in seiner Bilanz der deutschen Judenheit die Heimat der Juden gesehen hatte,25 Cornelia Blasberg (Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dich-tung Darmstadt. Bd. 61) Darmstadt 1988. Bd. I. S. 480-485, 545. Bd. 2. S. 776, 778, 787, 872 u.a. Interessant ist Leo Baecks Formulierung, “[...] als seien sie von Anfang an in dieser Sprache gesungen worden, als seien sie in dieser Sprache ‘präexistent’ gewesen – Ich mußte unwillkürlich an diesen alten griechischen und jüdischen Begriff denken.” (Bd. 2. S. 872, Leo Baeck an Wolfskehl, 10. 7. 1946) 23 Zitate nach Karl Wolfskehl. Gesammelte Werke. Bd. I: Dichtungen, dramatische Dichtungen. Hrsg. v. Margot Ruben und Claus Victor Bock. Hamburg 1960; Die Stim-me spricht. S. 128-172. 24 Die Anthologie Lyrik des Exils hat außer diesen beiden immer wieder zitierten Gedichten auch “Albatros”, “Weh Hiob” und “Wir ziehn” ausgewählt, das allerdings aus dem Zyklus herausgenommen eine sehr säkulare Bedeutung bekommt. 25 Arnold Zweig: Bilanz der deutschen Judenheit. Ein Versuch, Erstausgabe Amster-
222 so blieb die Gemeinschaft des Judentums für ihn doch geistig intakt.26 Hingegen nötigten ihn die Nachrichten von der Schoah, dem “ ‘Lebenslied’ – An die Deutschen” einen “Abgesang”, eine letzte schmerzliche Trennung hinzuzufügen. Das “Lied” selbst, Walther von der Vogelweide elegisch nachempfunden, bekräftigt in der Gegenüberstellung von “war” und “ist” noch einmal die Gemeinsamkeit: “Euer Wandel war der meine” (216). Es gehört in den Zusammenhang des poetischen Fazits nach 1933, der Drei Welten.27 Es wird gleich zweimal mit George-Zitaten vorbereitet. Man kann es auch eine Elegie auf Georges Tod nennen und den Ausdruck seines wahren Vermächtnisses für die Deutschen – das die Nationalsozialisten nach seinem Tod Ende 1933 an sich reißen wollten. In der beschwörenden Wiederholung der Gemeinsamkeit mit den Deutschen in jeder Strophe ertönt der letzte Versuch, sich an das wahre Deutschland zu halten: “Euer Wandel war der meine” – “Eure Kaiser sind auch meine” – “Eure Dichter sind auch meine” – “Eure Mär ist auch die meine” – “Eure Sprache ist auch meine”: In dieser Sprache, Einverleibt zur Gottesstunde Sann ich, sang ich, sing ich heut, Deut und höre frühste Kunde, Hüte mit in heiliger Runde Deine, meine Seele, Teut. (218)
“Denn dein Traum ist auch der meine / Vom geheimen deutschen Fug”, denn mich, “den Immertreuen”, hat “Stefan, Flammenhort vom Rheine”, zu seiner Sendung mit gekürt, mit auserwählt, und: “Wo ich bin ist Deutscher Geist.” Doch kann sich dieser Geist 1945 mit dem abfinden, was die Deutschen getan haben? Er kann es nicht, und Wolfskehl sprach es aus, was Robert Boehringer sogar empörte. Doch auch noch dieser “Abgesang” steht unter dem Zeichen Georges: “Nur aus dem fernsten her kommt die erneuung.” (219) Dennoch: “Dein Weg ist nicht mehr der meine, / Teut”. “Losgebrochen! Losgebrochen! / Alle meine Pulse pochen / von dem Rufe: auf und dam 1934; Neudruck Leipzig 1991, bes. S. 95ff. 26 Eine genauere Untersuchung von Die Stimme spricht liegt jetzt von Friedrich Voit vor: ‘Nun das ewige Schicksal mich, mich anspringt’. Zu Karl Wolfskehls Gedichtfolge Die Stimme spricht (1934-1947). In: Deutschsprachige Exillyrik von 1933 bis zur Nachkriegszeit. A.a.O. S. 181-198. 27 Zur Übersicht vgl. Paul Hoffmann: ‘...jüdisch, römisch, deutsch zugleich.’ Karl Wolfskehl. In: Im Zeichen Hiobs. Jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur im 20. Jahrhundert. Hrsg. v. Gunter E. Grimm und Hans-Peter Bayerdörfer. Königstein/Ts. 1985. S. 98-123, bes. S. 115-120; am Ende rückt Hoffmann Wolfskehl an Celan heran, wo mir eine Verwandtschaft mit Nelly Sachs allerdings einleuchtender wäre.
223 fort!” Jedoch eine Vision stellt sich ihm entgegen: Weit aus heilig weissem Feuer Reckt die Hand und heischt der Meister: Überdaure! Bleib am Steuer! [....]
Wo du bist, du Freier, Freister, Du der wahrt und wagt und preist − Wo du bist, ist Deutscher Geist! (219)
Die Lösung vom deutschen Geist ist unmöglich; es ist der Dichter, der ihn verkörpert und verkündet, wo er auch sei, so sehr er auch “Teut” verfluchen mag. Zugleich bringt das George-Motto und die letzte Alliteration “wahrt und wagt” die Wendung der Elegie zur Zukunft, zur “Erneuung” – auch Wolfskehl hatte sich diese Form des Wortes angeeignet, entsprechend seiner Mischung des Altertümlichen im Wortschatz mit Neologismen. Auf die Problematik der Erneuerung aus dem Geist, und aus diesem Geist, kann hier nicht eingegangen werden: deutlich ist das Amt des Dichters als Bewahrers des Wahren und als Seher der Erneuerung, der Wandlung. Wolfskehl hat zwar 1946 geschrieben: “‘Was bleibet aber stiften die Dichter’ – sagt Hölderlin. Bleibt aber etwas substanzlos.”28 Doch wer sonst stiftet es? Oder dachte Wolfskehl an Gott, wie der derselben Freundin einige Monate später drastisch schrieb: “Geschehen ist geschehen, unwiderruflich, und den lieben Gott gibt’s auch noch, gefälligst!”29 Es ist einer genauen Untersuchung wert, daß gerade Dichtung von Frauen sich in der Verfolgung und der Trauer über das Nur-Persönliche erhebt, ohne daß der Ton der persönlichen Betroffenheit an Intensität verlöre, im Psalm und in der Elegie bzw. in Psalmenelegien. Die Beispiele gehen von Else Lasker-Schüler zu Nelly Sachs, Gertrud Kolmar, Rose Ausländer, Ilse Blumenthal-Weiss bis zu Mascha Kalékos “Kaddisch.”30 Ich möchte hier kurz auf das sogenannte “Fragment 1938” von Paula Ludwig eingehen, aber in der längeren Fassung und nicht als “Fragment.”31 Das Gedicht geht aus 28
Karl Wolfskehls Briefwechsel aus Neuseeland 1938-1948, Bd. 2, S. 754, Juli 1946 an Margarethe Pohl-Collin. 29 Ebd. S. 757, Brief vom 11. Oktober 1946. 30 In den Psalmen vom Expressionismus bis zur Gegenwart erscheinen “nur” Psalmen von Else Lasker-Schüler, Gertrud Kolmar, Nelly Sachs und Hilde Domin; aber das ist eine willkürliche Auswahl des am besten Bekannten. 31 Der Titel erscheint in An den Wind geschrieben. S. 294f, die dortige Fassung mit dem Titel auch in Lyrik des Exils. A.a.O. S. 334-337. Paula Ludwig: Gedichte. Gesamtausgabe. Hrsg. v. Kistian Wachinger und Christiane Peter, Ebenhausen b.
224 von der Verfolgung und Vertreibung: Wohin – wenn von Todesgeschossen verfinstert die Sonne uns nicht mehr erscheint wohin fliehen die Friedliebenden – Unerfahrnen der Feindschaft –
und erhebt sich zur Vision des dadurch bewirkten Chaos der angsterfüllten Welt, in der keine Säule mehr fest steht und kein Schlupfwinkel zu finden ist. Es sind die Mütter und ihre Kinder, die die eigentlich Bedrohten sind. Das Reich des Todes, das das Jahrhundert errichtet, wird aus Knochen der Toten zusammengefügt: Aus altem und neuem Gebein baut sich Gegenwart auf gestaltet aus Knochengerüst ragt schon der Dom unsres Jahrhunderts verziert mit den Fratzen seiner monströsen Begründer des Hasses gigantisches Denkmal
In der Vision der Zerstörung taucht das Thema des Kriegsopfers auf: Brüder – beordert zum Schlachtfeld – grüßen uns noch mit klarblickenden Augen – darinnen wir trübe uns spiegeln
Und nun wieder die Hinwendung zu den Mitverfolgten: Dieses wähnet ihr nicht – ihr Rosenliebenden die ihr aufwuchset unter dem sanften Fittich des Lichts daß ihr umirren würdet im schaurigen Nachtraum Schlafstatt suchen zwischen den leeren ausgebrannten Gewölben des Lebens Schattenhaft hungrig – wie die Eule sich umtreibt erschreckend am eigenen Aufschrei − München 1986, druckt diese Fassung ohne Titel (S. 169-173) und eine andere Fassung aus dem Nachlaß (offenbar existieren mehrere). S. 250-254; das Gedicht ist wahrscheinlich von 1938 und nicht von 1943, wie man nach An den Wind geschrieben denken könnte; vgl. Anm. der Herausgeber in Gedichte. S. 307 und 309. Die Fassung im Nachlaß wirkt offensichtlich unfertig, ist viel länger, und vor allem endet sie nicht mit dem so dramatisch wirkenden toten Christus. Ich beziehe mich auf sie, weil sie zwar vorläufig und unfertig ist, aber weit weniger “Fragment”. Das “Fragment” ist ästhetisch weit befriedigender und daher wert, in Anthologien aufgenommen zu werden; aber es ist möglicherweise ein Gedicht mit einer nachträglich hergestellten Struktur und einem anderen Sinn.
225 In der geschändeten Kirche der Kindheit hält einsam ein Christus sich selber das Hochamt immer aufs Neue zum alten Opfer bereit
Es ist die Kirche der Kindheit, der Unschuld, des Friedens im Licht, die hier geschändet, vergewaltigt ist, das Vertrauen: der Opferwillige erlöst durch sein Opfer nichts, nicht einmal sich selbst. Die Vision geht jedoch weiter, vor allem mit der Ahnung des Krieges: “Hingemäht auf den Feldern die unreife Saat der Jünglinge”, sie “erschüttern mit ihrem / stetigen Taktschritt die Brücke zum Jenseits.” Es sind Kinder der angesprochenen Mütter: “Mit kaum vollendeten Händen tasten fallende Söhne / nach dem verbindenden Nabel −” Die Vision des Untergangs ist nicht zu ertragen, noch weniger auszusprechen: “Wohltätig fast zwingt Notdurft zum Schweigen”. Nur eine unscheinbare Hoffnung des Überlebens zeichnet sich ab, die aus dem Leiden kommt: Wo auf frierendem Freiplatz die kalten Triumphbögen stehn stapft tapfer hindurch in sternloser Nacht ein verheimlichtes Menschtum Vielleicht heftet sich Hoffnung an seine armselige Ferse rettet Zukunft sich in die einfachen Hände der Güte
Das ist kaum Glaube an das Überleben zu nennen, eher eine verzagte Hoffnung. Ein vielleicht hierher gehöriges Manuskript malt eine friedliche Zeit nach der Katastrophe aus: Fester schließt in durchlittene Arme die Mutter den geretteten Sohn An der Klagemauer versunken einschläft erschöpfter Gram Ja: Zurück in die versöhnten Ufer deiner Hände kehrt der beleidigte Strom deines Lebens
Immer deutlicher wird dabei, daß das angesprochene Du Gott ist, ein Gott des Friedens, von dem das Ich sagen kann: “und tiefer nur wohnst du in meiner erschütterten Brust”. Gott ist versöhnt, und das Ich trägt den versöhnten Gott in sich. Man möchte fast an Klopstocks “Frühlingsfeier” denken, wobei sofort klar ist, welche Zerstörungen im Menschen und um den Menschen das 20. Jahrhundert angerichtet hat. Ich will nicht behaupten, daß der sich sinnlos opfernde Christus in das harmonische Bild am Ende paßt, und daß das Leid der Verfolgten den Frieden herbeibringen wird und nicht
226 stattdessen ein Widerstand gegen den Krieg (aber welcher?). Paula Ludwig sieht nicht die Menschenvernichtung in Lagern, sondern den Krieg vor sich, und das ersehnte Überleben der Mütter und ihrer Kinder, also die Wiederherstellung der “Kindheit”. Immer deutlicher wird die Wendung zu dem Gott, der allein die Versöhnung bringen kann, den Frieden, zu dem die Menschen nicht imstande sind. Die Intensität wird durch die Alliterationen und die dadurch entstehenden Formeln verstärkt, während die Feierlichkeit durch die getragenen Langzeilen gehalten wird, die sich mit Daktylen antiken Versen wie dem Hexameter nähern, unterbrochen von den Kurzzeilen des Erschreckens und der Angst. Der Rhythmus drückt die Angst der fliehenden Mütter aus, die ihre Kinder durch die Bomben und fallenden Trümmer zu retten versuchen. Ein anderer, ein steigender, aber auch von der Flucht diktierter Rhythmus bestimmt die lange “intime” Elegie von Erich Arendt “Über Asche und Zeit [...].”32 Ausgehend von “Hyperions Schicksalslied”: “[...]uns ist gegeben, / auf keiner Stätte zu ruhn [...].” sucht das Ich Halt im Wir der Liebenden; die “Brücken des Lebens über den Flüssen der Zeit”, von Hölderlins Brücke in Heidelberg, zur Arno-Brücke in Florenz, François Villons Seine-Brücke in Paris und zur Brücke am Ebro, bleiben hinter ihnen, als sie über das Meer fliehen=fliegen, dem oft beschworenen Albatros verwandt, zur Vision des Amazonas und seiner Zuflüsse und Wälder und zum Kreuz des Südens. Der Verlust des Heimatbodens, der hier dokumentiert wird, bleibt endgültig, auch nach Arendts Rückkehr nach Deutschland. Nur ein Hölderlin nachempfundenes Griechenland wird in den Flug-Oden zur poetischen Landschaft, in Deutschland, wie die "Elegie IV" von 1955, dem Andenken Albert Einsteins gewidmet, erkennt, zeigt eine Landschaft wie Buchenwald “ungeschlossene Wunden”: “Noch deine Bäume, Deutschland, / wissen zu viel.” Das ist eine der vielen poetischen Antworten auf Brechts Gespräch über Bäume. Paul Celans Antwort von 1970 betont das Gespräch und nicht so sehr die Bäume: "Was sind das für Zeiten, / wo ein Gespräch / beinah ein Verbrechen ist, / weil es soviel gesagtes / miteinschließt?" Die Rückgewinnung einer Sprache und eines Gesprächs, die kein Verbrechen sind, ist das Thema von Günther Anders großer "Sprachelegie" von 1944, der er in der Buchausgabe seiner Gedicht den Ehrenplatz des Schlußgedichts gegeben hat. Günther Anders hatte einschneidende Trennungserlebnisse hinter sich: von der bürgerlichen Welt seines Vaters, des einstmals berühmten Psycholo32
Erich Arendt: Über Asche und Zeit... Berlin 1957 (Buchreihe: Antwortet uns! Bd. 9). S. 6-21. Zu den anderen Gedichten in diesem Band gehört “Der Albatros”. Vgl. zu Über Asche und Zeit... meinen Beitrag: Hölderlin im Gepäck bei der Rückkehr aus dem Exil. In: Deutschssprachige Exillyrik von 1933 bis zur Nachkriegszeit. A.a.O. bes. S. 95-98.
227 gen William Stern, von der zu deutschen Philosophie Heideggers und von dem Vertrauen zu Deutschland als Heimat. Doch mit einem Blick in die Zukunft sagte er sich von seiner Welt von gestern los, in einem Gedicht “Vor dem Spiegel”, das zugleich als Elegie zum Andenken seines Vaters gelten kann, der nach der höchst unwilligen Emigration 1938 im ungeliebten Durham, North Carolina gestorben war, wo er an der Duke University lehrte. So ähnlich, Vater, sahst du aus. Man trug dich mit Musik heraus.33
Diesen Vater bewunderte er wegen seines Lebens voll von Erfolgen und Publikationen, ihm verdankt er so vieles für seine Entwicklung und seine Einsichten in die deutsche Kultur. Jedoch: der Liebe hast du zwar genügt, jedoch der Wahrheit kaum.
Der Grund, daß er sich vom Vater betrogen fühlt: Du trautest blindlings der Kultur. Im Übel sahst du Irrtum nur, Der Fortschritt war gewiß.
Auch sieht er die Grenzen des bürgerlichen Denkens, nicht nur des deutschjüdischen Vertrauens zur Kultur: Was du nicht wünschtest, kannt’st du nicht, Des Elends Grund verstand’st du nicht.
Als dann die Katastrophe kam, 1933, “zerschlug der erste Schlag dein Dach” – Stern durfte nicht mehr sein eigenes Institut in Hamburg betreten34 – doch es fiel dem Vater zu schwer zuzugeben: “ich diente der falschen Welt.” Jetzt sieht sich der Sohn im Spiegel des Vaters und beschließt: Ja, Vater, das ist ausgeträumt. Solch Leben hab ich nun versäumt. 33
Tagebücher und Gedichte. S. 282f. Vgl. Werner Deutsch: Im Mittelpunkt die Person. Der Psychologe und Philosoph Willliam Stern (1871-1938). In: Der Exodus aus Nazideutschland und die Folgen. Jüdische Wissenschaftler im Exil. Hrsg. v. Marianne Hassler und Jürgen Wertheimer, Tübingen 1997. S. 73-90; dort ebenfalls Konrad Paul Liessmann: Die Diskrepanz zwi-schen Vorstellen und Herstellen. Der Sozialphilosoph Günther Anders. S. 142156.
34
228 Mein Vierzigstes begann. Doch denke nicht, daß ich bereu. Auch ich blieb meiner Sache treu: und die fängt morgen erst an.
Der Bruch des Metrums in der letzten Zeile bekräftigt den Willen zum neuen Leben und Denken. Kein blindes Vertrauen mehr haben, sich nicht mehr täuschen lassen, auch wenn die Lehre und das Ideal noch so verlockend scheinen, gehören zu diesem Leben. Das feststehende Ideal bleibt dabei der Friede, für den Günther Anders dann in seinen Feldzügen gegen die Atombombengefahr kämpfte. Die Voraussetzung für einen Frieden ist allerdings die Verständigung, daß das Wort, daß die Wahrheit den Menschen offenbart wird – Wahrheit als das Gegenteil von Dogma und Ideologie, nämlich etwas, was die Menschheit miteinander teilt. Und dafür sah Anders einen beispielhaften Vorgang in der Vergangenheit, auf den die “Sprachelegie” hinzielt. So setzt die erste Strophe der Elegie ein: Übermorgen werden mit Wörterbüchern unsere Enkel über unseren Worten sitzen. Fluchend, daß eigensinnig jeder von uns seine eigene Sprache sprach.
Dieses Übermorgen aber ist zugleich ein Heute, einem Gestern gegenübergestellt, in dem es eine gemeinsame Sprache gab. Diese Sprache hatte sich “zusammengebraut” aus “tausend Zufällen” und der dauernden “Arbeit des Sprechens”, aus Geschichten, Anleihen von anderen Sprachen, bis sie da war, die Sprache, und siehe, sie war gut. −
Doch diese Sprache werden die Enkel nicht mehr empfinden können, “wir” selbst, wir sind “vertrieben aus den Schutztälern unserer Sprache”, wir sind schutzlos dem Sprachenwirrwarr ausgesetzt, und “die Mühle des Mischwerks mahlt weiter”. In diesem Mischwerk der schnellen und verkürzten Verständigungsversuche geht die eigene Sprache verloren: Niemand spricht die eigne Sprache. Jeder stammelt jede. Die Sätze schrumpfen. Jeder muß im Nu den Anderen verstehen. Keine Mundart entsinnt sich, welcher Mund sie einst geformt.
229 Ein “Handgemenge” der Sprachen wird daraus, ein zerstörender Krieg. Verwüstet liegt das gute Land der Sprache. Und Sätze ragen, kahl und abgelaubt, das Nichts in ihren Ästen. Redensarten stehn schräg im Raum, die Wurzeln in der Luft.
Wenig bleibt übrig nach der Verwüstung dieses Krieges: Und nur ein kleiner Trupp von völlig nackten und stämmigen Vokabeln kehrt zuletzt nach Haus zurück. Und hinter ihrem Schritt steigt hoch der Staub und löscht die Landschaft aus.
Man mag den Krieg und die Landschaft der Sprache(n) allegorisch nennen, doch ist er nicht weniger zerstörerisch als alle “wirklichen” Ereignisse. Übrigens geht das Gedicht nach dem hymnenartigen eher dramatischen Einsatz in recht regelmäßigen Blankversen weiter, eine (bis auf den Schluß) eher distanziert episch wirken sollende Erzählung. Dann hinter der schreckenerregenden heutigen Zukunft, dem Verlust der Sprache, erscheint die Vision der Friedensfeier und Wiederherstellung der Sprache: Doch eines Tages, nach den wüsten Jahren des Interregnums wird im Sprachenglase die erste neue reine Farbe stehn: Das erste Wort, nicht nur im Ohr verständlich. Und wie’s beschrieben steht in der Apostel – Geschichte zwei: Da werden Menschen staunend aus aller Herren Länder und betroffen einander Fragen: Wie geschah mir nur, daß Jeder plötzlich meine Mundart spricht? Und diesmal wird’s bedeuten, daß sie endlich doch noch erschien, die Sprache unsrer Enkel, die Zunge aller Herzen dieser Welt.
Dann dürfen sie die Wörterbücher und “tausend Sprachen unsrer Wanderzeit” vergraben wie Speisereste, deren man nicht mehr bedarf. Die Apostelgeschichte Zwei erzählt das Pfingstwunder, genannt die Ausgießung des heiligen Geistes, und sagt an der entscheidenden Stelle: Und als der Tag der Pfingesten erfüllet war, waren sie alle einmüthig beieinander. Und es geschah schnell ein Brausen vom Himmel, als eines gewaltigen Windes,
230 und erfüllete das Haus, da sie saßen. Und man sahe an ihnen die Zungen zertheilet, als wären sie feurig. Und er satzte sich auf einen jeglichen unter ihnen; Und wurden alle voll des heiligen Geistes, und fingen an zu predigen mit andern Zungen, nachdem der Geist ihnen gab auszusprechen.
Die Umstehenden sind bestürzt und fragen: “Wie hören wir denn ein jeglicher seine Sprache, darinnen wir geboren sind?” Das Pfingstfest steht also für das Ende der Sprachverwirrung und für die Verkündung der einen Sprache, die die eigene Sprache ist, so daß durch sie Wahrheit ausgesprochen werden kann. Bei Anders ist nicht von Gottes Wort die Rede, aber von dem Geist, der den Menschen die Sprache des Friedens eingibt. Der Dichter der Psalmen, der in die Zwiesprache mit Gott eintritt, verlangt die Antwort der “Stimme”. Er stellt Fragen des bitteren Zweifels, wie im “Sterbepsalm” 22: “Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich heule, aber meine Hülfe ist ferne.” Und im Vers 12 fleht der Psalmist David: “Sey nicht ferne von mir, denn Angst ist nahe; denn es ist hier kein Helfer.” Ja, er erwägt sogar im Psalm 14 (und 53): “Die Thoren sprechen in ihrem Herzen: Es ist kein Gott.” Und er bittet in Psalm 83: “Gott, schweige doch nicht also, und sey doch nicht so still; Gott, halte doch nicht so inne.” Dagegen die Zuversicht, da der Herr da ist und hilft, so wie in Psalm 1455, Vers 18: “Der Herr ist nahe allen die ihn anrufen, allen, die ihn mit Ernst anrufen. Er thut, was die Gottesfürchtigen begehren, und höret ihr Schreien, und hilft ihnen.” Schon Hölderlin hat die Nähe des Gottes als ein Paradox erlebt. Daher beginnt seine Hymne “Patmos” mit den bekannten Versen: Nah ist Und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch.35
Wenn Hölderlin die Gegensätze als einander aufhebende erlebt und die Überwindung der Trennung von Griechenland und (johanneischem) Christentum erhofft und erschaut, so geht Paul Celan in “Tenebrae” auf den Psalm zurück, indem er die Sicht umkehrt und dadurch mit Gott rechtet: Nah sind wir, Herr, nahe und greifbar.
35
Friedrich Hölderlin: Gedichte. S. 350; dazu Kommentar von Jochen Schmidt S. 969-978 und Stellenkommentar S. 978, ohne Bezug auf den Psalm.
231 Ja, der Herr müßte uns sozusagen am eigenen Leibe spüren: Gegriffen schon, Herr, ineinander verkrallt, als wär der Leib eines jeden von uns dein Leib, Herr.
Außer der Umkehrung vom christlichen Opfer Jesu tönt der Psalm 22 dabei mit: “Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich (uns) verlassen?” Wenn er sagt: Bete, Herr, bete zu uns, wir sind nah.
so muß der Satz nicht so blasphemisch sein, wie er zunächst klingt, wenn man beispielsweise “bete” durch “sprich” ersetzen würde. Dennoch halte ich diesen Anti-Psalm für radikaler als den “Psalm” der Niemandsrose, dessen Anfang Gott als Niemand erklärt: Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm, niemand bespricht unsern Staub. Niemand.
Ohne mich weiter auf die Celan-Exegese einzulassen, wollte ich auf die Nähe und zugleich radikale Ferne von den Psalmen hinweisen, mit denen Celans Werk durchtränkt ist.36 36
Arnold Stadler: Das Buch der Psalmen und die deutschsprachige Lyrik des 20. Jahrhunderts. Zu den Psalmen im Werk Bertolt Brechts und Paul Celans (Kölner Germanistische Studien Bd. 26), Köln/Wien 1989. Zu Celan S. 103ff, hat die Bezüge im einzelnen sorgfältig herausgearbeitet, ausgehend von der Erkenntnis: “Bei Celan ist die Größe und Unbedingtheit des prophetischen Auftrags bewahrt.” (108) Ohne daß der Prophet Gott finden kann. Das wird durch das Wort “Theodizeeproblem” (145) nur sehr schwach angedeutet. Zum vorliegenden Zusammenhang ist der Aufsatz von Klaus Reichert: Hebräische Züge in der Sprache Paul Celans. In: Paul Celan. Hrsg. v. Klaus Hamacher und Winfried Mennighaus. Frankfurt 1988. S. 156169, besonders instruktiv. Reichert denkt, daß “auch das ‘hölderlinische’ Moment der Sprache Celans vielleicht zurückgeht auf einen ihm und dem Tübinger Theologiestudenten gleichermaßen vertrauten Grund.” (157) Er bespricht die “harte Fügung” (158), betont, daß Celans emphatischer Ton “sozusagen ‘normaler’ Bibelton”(159) ist und definiert Celans Eigenart und Hauptproblem vom Hebräischen her: “Im Hebräischen bilden nämlich Wort und Ding, Wort und Sache eine Einheit.”(164) Das macht Celans Brief an Nelly Sachs vom 1. Juli 1960 verständlich:
232 Worauf es mir ankommt ist zu zeigen, daß “das Wort” aufgehoben, gerettet werden sollte. Das war im Exil bis 1945 sehr viel leichter als nachher. Alle hier besprochenen Hymnen und Elegien des Exils, andere, wie Brechts “An die Nachgeborenen” eingeschlossen, sehen das Pfingstfest einer besseren Zeit, in der das Wort neue Kraft und Mächtigkeit erhält, vor sich. Die Texte der Überlebenden jedoch sind von Gedächtnis, Trauer und der Schuld des Überlebthabens bestimmt, und die Erwartung der Zukunft, die die Leiden geschichtlich rechtfertigen kann, ist bestenfalls die Erinnerung einer Hoffnung. Nicht bei allen führt der Weg wie bei Celan “vom Sprechen zum Verstummen”37, doch bei allen ist zu bedenken, was Jean Améry am Ende seiner Auschwitz-Schilderung “An den Grenzen des Geistes” den Verkündern des besseren Deutschlands ins Stammbuch schrieb: “Wenn ich noch einmal zitieren darf, und diesmal wieder einen Österreicher, dann möchte ich ein Wort von Karl Kraus nennen, das er in den ersten Jahres des Dritten Reiches aussprach: ‘Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.’ Er hat das freilich als Verteidiger dieses metaphysischen “Wortes” gesagt, während wir Ex-Lagerhäftlinge ihm diese Sentenz aus dem Munde nehmen und sie mit Skepsis gegen dieses “Wort” nachsprechen. Das Wort entschläft überall dort, wo eine Wirklichkeit totalen Anspruch stellt. Uns ist es längst entschlafen. Und nicht einmal das Gefühl blieb zurück, daß wir sein Hinscheiden bedauern müssen.”38 Nicht nur Karl Kraus war ein Verteidiger des “Wortes”, das durch seine Verkündung den Frieden bringen soll und eine die Toten versöhnende Erinnerung; ein Verteidiger der Wortes, das eine bessere Welt für die Menschheit herbeiführt. Das Wort mag tot sein; aber das Exil lebte aus der Erinnerung an seine Kraft und Wirkung. Ohne den Glauben an das “Wort” ist es, scheint mir, nicht zu verstehen. Hans Sahl, einer der “Letzten”, hat nicht nur das bis “Es gehört zum Schwersten dieser Zeit, daß so viele vom Wort abfallen – vom eigenen wie von dem ihnen zugesprochenen.” (15) Zu Celans “psalmodierender” Art, seine Gedichte zu lesen, vgl. S. 311, 315 u.a. Ferner zu meinem Problemkreis die Feststellung von Klaus Hamacher: “Insofern sprechen Celans Gedichte – transzendentalistisch wie nur noch die Hölderlins und, in geringerem Maße, Rilkes – von den Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit.” (94, “Die Sekunde der Inversion. Bewegungen einer Figur durch Celans Gedichte.”) 37 Arnold Stadler: Das Buch der Psalmen. A.a.O. S. 106 38 Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. 2. Aufl. München 1966. S. 39f. Kraus’ Gedicht ‘Man frage nicht, was all die Zeit ich machte’, s. Lyrik des Exils. S. 357, dazu Brechts Antwort S. 358f. und die Einleitung S. 56f. An Amérys Argumenten mißt Michael Moll die Gefängnis- und Lagerlyrik: Lyrik in einer entmenschlichten Welt. Interpretationsversuche zu deutschsprachigen Gedichten aus nationalsozialistischen Gefängnissen, Ghettos und KZ’s. Frankfurt a.M. 1988, darin auch über ‘Sprachlosigkeit’.
233 zum Überdruß zitierte Gedicht “Die Letzten” hinterlassen, sondern auch “Gedichte schreiben – oder was davon noch übrig blieb”(1970). Das ist eine Elegie des Dichters auf das (eigene) Dichten, am Rande des “Heine-Tons”, deren letzte Strophen sagen: Keats, Yeats, Baudelaire? Wird bewundert. Aber keine Zeit für Filigran. Mallarmé? Zur Kenntnis genommen. Brecht? Letzter Versuch einer Synthese von Hölderlin, Luther, Lenin. Lyrik in unserer Zeit kann nur ephemer sein. Kommunikation mit Bewährungsfrist. Ich mache mich selbst zum Gedicht. Ich bin eine Begebenheit. Ich finde statt. Ich passiere.39
Hölderlin und Marx (Lenin) und Hölderlin und die Psalmen (Luther): von dieser Erbschaft will unser anti-utopisches Zeitalter wenig wissen, und bei aller Brecht-Jüngerschaft ist davon wenig übriggeblieben. Doch um dem Exil Verständnis abzugewinnen, muß man sich auf diese unmöglich erscheinenden Synthesen einlassen, ebenso wie auf den Glauben an das “Wort” und seinen fragwürdigen Mittler, den Dichter.
39
Hans Sahl: Wir sind die Letzten. Gedichte. Heidelberg 1976. S. 74-76, letztes Gedicht des Bandes.
Hiltrud Häntzschel
Macht und Ohnmacht der Wörter. Die Innenansicht des nationalsozialistischen Alltags im Exilroman Nach Mitternacht von Irmgard Keun The focus of Irmgard Keun’s novel about life in Nazi-Germany is on linguistic changes and deformation, the fatal misuse of words, the reversal of truth and lies/falsehood. An analysis of the text reveals subtext created by Keun’s subtle and unique use of ambiguous language. This allows the author to combine an inside description of Nazi-Germany with a critical view from the outside, from exile. The contradiction and inhumanity of the regime reveal themselves seemingly on their own. While the means to create such an effect seem minimal, they are more effective than blatant satire.
Nach einer letzten vergeblichen Auseinandersetzung um Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer und Publikationserlaubnis verließ die Autorin Irmgard Keun Anfang Mai 1936 Deutschland und emigrierte nach Ostende.1 Aus der Erfolgsschriftstellerin von 1932 war schlagartig eine unerwünschte Autorin geworden. Nur wenige Magazingeschichten konnte sie seit 1933 noch in Zeitungen unterbringen. Sie arbeitete und schrieb wie besessen und hatte dennoch plötzlich keinerlei Einnahmen mehr. Drei Jahre lang lebte sie mitten im neubewegten Deutschland, beobachtete es scharf und klug, berichtete davon ihrem bereits emigrierten jüdischen Freund Arnold Strauss, der in den USA auf sie wartete. Sie wollte nicht emigrieren, sie sah ihre Chancen als Schriftstellerin nur in Deutschland, sie wollte Geld verdienen und wieder unabhängig sein. Schließlich war sie noch verheiratet und hatte also keinen eigenen Paß. Für die Schublade schrieb sie kleine freche Kindermund-Geschichten, die der doppelten Moral der Erwachsenen auf die Schliche kamen. Sie erschienen als ihr erstes Exilbuch bei Allert de Lange in Amsterdam 1936: Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften. Bereits am 25. Oktober 1936 begann die Pariser Tageszeitung mit dem Vorabdruck von Nach Mitternacht, der mit der 38. Fortsetzung noch vor dem Romanende abbrach. Am 25. Februar 1937 kündigte sie ihrem Freund das Erscheinen des Romans an und staunte selbst über seine Qualität: 1
Ausführlich zu diesen Vorgängen, auch zum biographischen Hintergrund der Entstehung des Romans vgl. Hiltrud Häntzschel: Irmgard Keun. Reinbek 2000 (Rowohlts Monographien).
236 “Mein Buch bekommst Du in den nächsten Tagen. Gott verzeih mir die Sünde – aber ich kann wirklich schreiben.”2 Diese Einschätzung wurde von den zeitgenössischen Kritikern in der Exilpresse überwiegend geteilt.Vor allem auf die englische Übersetzung, die im März 1938 zugleich in London bei Secker und Warburg und in New York bei Knopf erschien,3 erfolgte ein ungewöhnlich stimmenreiches, gelegentlich kontroverses Presseecho in zahlreichen führenden Besprechungsorganen in England und den USA. Wie die folgenden Presseurteile zeigen, wurde allerdings die doppelbödige Erzählweise Irmgard Keuns häufig nicht durchschaut, und die scheinbare Naivität der Erzählerin mit Seichtigkeit verwechselt: “A brilliant piece of social satire, as disingenuous as Gentlemen Prefer Blondes, but serious, moving and tragic, too;”4 “One will do well to remember Miss Keun’s calm, quiet voice amid the angry roar of the newspaper headlines of today and tomorrow;”5 “After Midnight is brief and fragmentary, and it leaves all the fear and the greed and the hate unexplained; but it paints a few pictures of German life today whose implications are strong enough to sicken and terrify;”6 “The results are often comic but always overshadowed by tragedy, and it is a relief when Sanna and her lover finally escape from the nightmare that is Germany. A bitter satire that strikes at the inner weaknesses of a totalitarian state;”7 “There are in it suicide and the murder by the victim of denunciation of the man who had denounced him, but it ends with the escape from Germany of two lovers and makes all reasonably possible use of humour, even if that humour in the nature of the case is sometimes macabre.”8 Seit der Wiederentdeckung des Werkes Ende der 70er Jahre wird die Wertschätzung dieses Exilromans auch von der Literaturwissenschaft geteilt. Ernst Bloch hat 1938 in seinem Essay Der Nazi und das Unsägliche9 über die Schwierigkeiten reflektiert, die noch nie dagewesene Dimension des Bösen, verbunden mit dem Kleinen, Schäbigen, Muffigen der Nazis zu beschreiben. Weder Pathos noch Satire, die längst historisch besetzt sind, scheinen ihm tauglich. Mehr Vertrauen hat er in die “deskriptive Darstellung” und denkt besonders an Brechts Furcht und Elend des Dritten Rei2
Literatur in Köln. Archiv, Stadtbibliothek. Nachlaß Arnold Strauss. After Midnight. Englische Übersetzung von James Cleugh. New York, London 1938. 4 The New Statesman and Nation. London, 19.3.1938. 5 The New York Times. 27.3.1938. 6 Nation. 21.5.1938. 7 The London Mercury and Bookman. April 1938. 8 The Manchester Guardian. 15.3.1938. 9 Ernst Bloch: Der Nazi und das Unsägliche. In: Ders.: Vom Hasard zur Katastrophe. Politische Aufsätze aus den Jahren 1934-1939. Frankfurt a.M. 1972. S. 382-389; zuerst in: Das Wort 1938. H. 9. S. 110-114. 3
237 ches: “Sie greift hinein ins volle Nazileben, mit der Feuerzange, wie es sich hier gehört.” Bloß welche Sprache steht denn zur Verfügung, die sich noch mit den Phänomenen deckt, das vertraute Deutsch oder der Nazijargon, und welche ist die Feuerzange? In seiner Rezension von Neuerscheinungen von Emigrantenromanen Fünf Blicke auf Deutschland10 sieht Ludwig Marcuse einen ernst zu nehmenden Einwand gegen die Exilliteratur durch Irmgard Keuns Roman am gelungensten widerlegt, den Einwand nämlich, die erzwungene Distanz zu Deutschland zeitige nur noch böse plakative Klischees von diesem NaziDeutschland. Irmgard Keun, konstatiert Marcuse, “sieht schärfer, als alle die tausend Reporter, die am liebsten ihre Augen auf das Objekt legen.” Exiltexte, die den Alltag im nationalsozialistisch gewendeten Deutschland thematisieren, bedienen sich sehr unterschiedlicher Schreibweisen: Klaus Mann in Mephisto der Karikatur, Erika Mann in School for Barbarians der Reportage, Anna Seghers in Das siebte Kreuz der Perspektive der Opfer. Irmgard Keuns Roman läßt einen Reigen von Durchschnittsmenschen im sogenannten Dritten Deutschen Reich Revue passieren, erzählt von ihren Veränderungen und Verformungen. Der eigentliche Inhalt des Romans aber ist die Sprache, in der Wortprägung Victor Klemperers die LTI, die Lingua Tertii Imperii,11 sind ihre Veränderungen und Verformungen, der tödliche Mißbrauch der Wörter, die Verkehrung von Wahrheit und Lüge. Die Begriffe Wahrheit und Lüge gebrauche ich hier nicht in einem streng erkenntnistheoretischen Verständnis, sondern im Sinne einer außerhalb des Nationalsozialismus geltenden allgemeinen Übereinkunft. Ich werde im folgenden keine Interpretation des Romans geben,12 ich muß das in seiner Geltungssucht schonungslos dekuvrierte Personal außer acht lassen und möchte mich ganz auf die Sprache als Medium der Erzählung und als ihr Thema selbst konzentrieren. Wie setzt Irmgard Keun die Wahrnehmungen ihres “Teufelsblicks”13 in Literatur, also ästhetisch um? Welche sprachlichen und narrativen Strategien sind es, mit deren Hilfe die Sprache des Dritten Reiches und damit die
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Ludwig Marcuse: Fünf Blicke auf Deutschland. In: Das Wort 2 (1937). H. 7. S. 81-89. 11 Victor Klemperer: LTI. Ich verweise auf die Interpretationen Notizbuch eines Philologen. Berlin 1947. 12 von Gert Sautermeister: Irmgard Keuns Exilroman Nach Mitternacht. Zuerst in: Faschismuskritik und Deutschlandbild im Exilroman. Hrsg. v. Christian Fritsch und Lutz Winckler. Berlin 1981 (Argument-Sonderband AS 76). S. 15-35; EvaMaria Siegel: Jugend, Frauen, Drittes Reich. Autorinnen im Exil 1933-1945. Pfaffenweiler 1993, bes. S. 53-79; Karl Kröhnke: Vor Mitternacht ein Glanz: Die “Asphaltliteratin” Irmgard Keun. Essay. In: Irmgard Keun: Nach Mitternacht. Frankfurt a.M. 1998. S. 171-224. 13 Ludwig Marcuse: Fünf Blicke. A.a.O. S. 84.
238 Ideologie selbst der Lüge überführt wird? An zwei ganz unterschiedlichen Sprechhaltungen läßt sich Keuns Praxis einer Ästhetik des doppelten Bodens vorführen, an der Sprechweise der politisch unerfahrenen Erzählerin und zugleich der des hochreflektierten Intellektuellen. 1. Die Erfindung der Erzählerin Irmgard Keuns Coup ist die Vermittlung ihrer Geschichte durch eine Erzählerin, die nur in der zweiten Hälfte des Romans passagenlang unterbrochen wird durch die direkte Rede einer zweiten Hauptfigur, nach Mentalität und Intellektualität eine Art Korrektiv zur Erzählerin. Susanne Moder, 19 Jahre alt, am liebsten Sanna genannt, ist die beobachtende, handelnde, leidende, reflektierende, assoziierende Instanz der Geschichte. Sie stammt aus dem ländlichen Kleinbürgertum, sie ist weder einfältig noch naiv. Irmgard Keun stattet sie mit pragmatischem Verstand, mit wacher Beobachtungsfähigkeit, mit dem Bedürfnis nach Anlehnung und Liebe und einer gesunden Portion Ehrgeiz um Aufstieg und Unabhängigkeit aus, ganz ähnlich den Protagonistinnen Gilgi und Doris ihrer früheren Romane. Sonderlich weich gebettet war sie nie, eher ein bißchen herumgeschubst. Mit der älteren Generation hat sie keine guten Erfahrungen gemacht, am wenigsten mit der kratzigen Tant Adelheid, die sich bald begeistert – und von allen gefürchtet – den Hauswartposten ergattert. Sanna lebte in einem Dorf an der Mosel, dann in Köln, zum Zeitpunkt der Erzählung in Frankfurt. Daß es das Deutschland der Nationalsozialisten ist, hat sie sich nicht ausgesucht, aber sie ist keine Widerständlerin. Von den anderen Jungen und Mädchen, die den schüchternen und linkischen Franz, die integerste Figur des Romans und am Ende ihre Liebe, böse auslachten, sagte sie: “Ich wollte zu ihnen gehören aus Angst, denn sie sind immer alle gegen einen.”14 Die “Bewegung” Neudeutschlands erfaßt sie, wie man in einen Wind gerät. Und sie verhält sich entsprechend. Der Wind umweht sie mit neuen Verhaltensvorschriften, zuallererst aber mit neuen Wörtern und neuen Inhalten alter Wörter. Sie nimmt sie auf, probiert sie aus, versucht, sie mit ihrem ursprünglichen Sinn in Deckung zu bringen. Über die Sanna zugehörige, mal plappernde, mal nachdenkliche Alltagssprache legt Keun äußerst raffiniert eine zweite Schicht, die Propagandasprache des Dritten Reiches, die gerade auf dem Wege ist, zur neuen Alltagssprache zu werden. Dabei tritt scheinbar wie von selbst eine Inkongruenz zutage, kommt der Widersinn – und weniger harmlos – das
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Irmgard Keun: Nach Mitternacht. S. 46. Ich zitiere der leichteren Auffindbarkeit wegen nicht nach der selteneren Originalausgabe, sondern nach der Ausgabe des Deutschen Taschenbuch Verlags. München 1989.
239 Menschenverachtende grell zum Vorschein. Die Mittel sind zumeist minimal, aber die Wirkung übertrifft die der lauten Satire.15 Manche Wörter gehen Sanna schon ganz glatt und selbstverständlich von den Lippen: “Kurt Pielmann ist heute extra von Würzburg nach Frankfurt gefahren, um die Gerti wiederzusehen und den Führer.”16 Daß der Führer fraglos ein Objekt der Liebe ist und gleichzusetzen neben das Mädchen, das Kurt Pielmann erobern will, haben die Sannas schon verinnerlicht. Indem Keun die Gerti und den Führer auf die gleiche Stufe stellt, wird der Führerkult lächerlich. So harmlos schleichen sich die Wörter und die Ideologie in den Text ein. Dann verheddert sich Sannas gesunder Verstand im Netz der neudeutschen Schlagwörter: “Weltanschauung” und “Volksempfinden”, “Aufbauwille” und “staatsfeindlich”, “Rassegesetze” und “Mischling”. Je leerer die Begriffe Sannas sind und je weniger in ihrem Vorstellungshorizont unterzubringen, um so affirmativer läßt Keun sie davon reden, immer begleitet von jenen verlogenen Partikeln “ja” oder “doch” oder “natürlich”, die über unser Vorwissen und Einverständnis verfügen: “Man darf so etwas ja nicht sagen heutzutage wegen der Weltanschauung und der Regierung.”17 Die keckere Freundin Gerti will von Kurt Pielmann die nationalsozialistische Weltanschauung, die ihr noch Verstehensschwierigkeiten macht, erklärt haben: “Natürlich, sagt Kurt Pielmann, wenn Gerti das nicht längst begriffen habe, könne man es ihr nicht erklären.”18 “Jedenfalls darf die Gerti nichts mit ihm [mit Dieter Aaron, dem Halbjuden, in den sie verschossen ist] zu tun haben, weil doch Rassegesetze sind.”19 15
Manche sonst zustimmenden zeitgenössischen Rezensenten haben den narrativen ‘Trick’ durch die Einführung Sannas als Erzählerin nicht durchschaut: Ludwig Marcuse: “Auf die einsame Sanna mitsamt ihrem Franz, einem etwas schlappen Christus, der einen Mord begeht, hätte man auch ganz gut verzichten können.” (A.a.O. S. 84) U. Huber Noodt, der Kritiker der niederländischen Zeitschrift De Stem, meint: “Das Werk, das ergreifend in seiner Kürze und Schlichtheit ist (obgleich diese Einfachheit keineswegs so spontan ist, wie der oberflächliche Leser vielleicht denkt), hat einen Fehler. Es führt nämlich Sanna als Erzählerin ein und stattet sie mit einer Naivität aus, die benutzt wird, um die gegenwärtigen Zustände östlich unserer Grenzen anzuprangern. Insbesondere in der ersten Hälfte des Romans entsteht auf diese Weise eine Art Imitation von Thomas ‘Lausbubengeschichten’ aus den heiteren ersten Jahren des Simplizissimus, die einen zwar säuerlich lächeln läßt, aber nicht überzeugt”. Ders.: Voor de vlucht naar Holland. In: De Stem 17 (1932). S. 1201-1203, hier S. 1202. (Für den Hinweis auf die Rezension und die Übersetzung aus dem Niederländischen danke ich Marianne Kröger.) 16 Irmgard Keun: Nach Mitternacht. A.a.O. S. 5. 17 Ebd. S. 9. 18 Ebd. S. 28. 19 Ebd. S. 17.
240 Die Rassegesetze gehen nur schwer in Sannas vernünftigen Kopf: “Der [Dieter Aaron] ist nämlich so etwas wie ein Mischling erster oder dritter Klasse – ich kann nicht klug aus diesen Benennungen werden.”20 Irmgard Keun läßt ihre Erzählerin scheinbar dümmer sein als die Leserinnen und Leser. Aber auch wieder gescheiter, indem sich ihr Verstand auf derlei Kategorien gar nicht einläßt. Sannas ‘Verwechslung’ von Grad und Klasse und die durcheinandergeratene Qualitätsskala genügen als winzige Sprachmanipulation, um den Nonsens der Rassentheorie lächerlich zu machen. Am 23. September 1935 hatte Irmgard Keun dem Brief an ihren jüdischen Freund einen Ausschnitt aus der Frankfurter Zeitung beilegt, der die Beschlüsse des Nürnberger Parteitags im Wortlaut wiedergibt, das soeben erlassene “Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre” mit der Festlegung der Mischlingsgrade. Dazu schreibt sie ihm camouflierend: “Unser Führer hat neue Gesetze erlassen. Ich schicke sie mit. Immer besser lerne ich die Bewegung verstehen, und immer mehr muß ich den Führer bewundern. Lese nur mit Verständnis – Du mußt mir recht geben.”21 Zweimal gebraucht sie – bissig in ihr Gegenteil verkehrt – Begriffe aus dem Wortfeld “verstehen”. Nichts gibt es bei dieser blanken Unlogik zu verstehen. Und durch Sanna läßt sie den Un-Sinn vorführen. Nur noch drei Cafés stehen den Juden in Frankfurt offen und Sanna kommentiert: “Es sind die schönsten Cafés, und es ist traurig für die Arier, daß sie Angst haben müssen, auch dort zu verkehren.”22 Oder das schöne Café Esplanade: “Draußen blühen im Sommer Stiefmütterchen, innen verkehren fast nur Juden.”23 Sanna hat dunkel begriffen, daß die Rassegesetze irgendwie jemandem zum Schaden gereichen. Keuns Hohn über diese aberwitzigen Gesetze entfaltet sich aus Sannas fast korrektem Nachplappern der öffentlichen Meinung, die sie mit Nichtdazugehörigem vermischt. Die Wirkung dieser Gesetze fokussiert sie in einer einzigen Beobachtung Sannas: Gerti und ich saßen im Esplanade, um uns wurde es leerer, immer leerer, ganz leer. Alle Juden gingen fort. Aus dem Lautsprecher rasten Reden wie ein Gewitter. Voll war das Café von diesen Reden über den Führer, der kommen werde, über das freie Deutschland, über die Begeisterung der Menge. Zwei ältere Damen kamen herein, dünn und sauber sahen sie aus, unverheiratet und nach beschränkten Mitteln, wie reisende Lehrerinnen aus einer kleinen Stadt. Sie be-
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Ebd. S. 17. Irmgard Keun: Ich lebe in einem wilden Wirbel. Briefe an Arnold Strauss 1933 bis 1947. Hrsg. v. Gabriele Kreis und Marjory S. Strauss. München 1990. S. 130f. Die in dieser Auswahl nicht veröffentlichten Briefpassagen zitiere ich nach den Handschriften: Literatur in Köln. Archiv, Nachlaß Arnold Strauss. 22 Irmgard Keun: Nach Mitternacht. A.a.O. S. 16. 23 Ebd. S. 22. 21
241 stellten Kaffee und Apfeltorte mit Sahne. Als sie anfangen wollten zu essen, wurde im Radio das Horst-Wessel-Lied gespielt, die alten Fräuleins ließen ihre Löffel fallen, standen auf, reckten die Arme. Das muß man, weil man nie weiß, wer einen beobachtet und anzeigt. Vielleicht hatten sie voreinander Angst. Gerti und ich standen auch auf. 24
“Alle Juden gingen fort”, alles Leben, alles Menschliche ist aus Deutschland vertrieben, es füllt sich mit dem Schwall der verlogenen Rede, die vom freien Deutschland dröhnt und das Gefängnis bedeutet. Diese kleine Szene leitet die große Inszenierung des Führerbesuchs ein: “Natürlich, der Führer kam! Daß ich das auch vergessen konnte.”25 Wieder das affirmative “natürlich”, das der Größe des Ereignisses in Sannas Gedächtnis gerade Hohn spricht. Aufschlußreich ist eine Parallellektüre mit einem zeitgenössischen Bericht dieser Veranstaltung. Der junge Franzose Denis de Rougemont unterrichtete 1936 als Lektor an der Frankfurter Universität und hat im Tagebuch seinen Eindruck vom Besuch des Führers vor dem Opernhaus festgehalten, erschreckt und fasziniert.26 Verblüffend sind die Parallelen zu Keuns Beobachtungen, signifikant aber auch die Unterschiede in ihrer sprachlichen Wiedergabe: die ohnmächtigen Damen, die beängstigend anschwellenden Heil-Rufe, die grenzenlose Geduld der stundenlang vor nichts ausharrenden Menge, (“niemand scherzt”27), die Lichtinszenierung, und er resümiert: “Ich hatte gedacht an einer Massenveranstaltung teilzu nehmen, an einer politischen Kundgebung. Aber sie zelebrieren ihren Kult! Und dabei wird eine Liturgie abgehalten, die große sakrale Zeremonie einer Religion, der ich nicht angehöre. [...] Ich bin allein, und sie sind eine Gemeinschaft.”28 Rougemonts Text in seiner Gänze verhehlt nicht, daß er nicht ungeblendet ist von diesem Schauspiel. Sanna und Gerti fühlen sich nicht dazugehörig, vielmehr “als hätten wir Freikarten für einen Theaterplatz, auf den wir eigentlich nicht gehören.”29 Sie frösteln inmitten der aufgeheizten Menge. Sanna beschreibt genau, was sie sieht und nur, was sie sieht, in der ihr zur Verfügung stehenden und schon kontaminierten Sprache. Das, was zwischen dem Geschehen und Sannas bzw. Keuns Beschreibung ungedeckt bleibt, offenbart die kollektive Obsession, als die große Sprechblase der Propaganda.
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Ebd. S. 23. Ebd. S. 20. 26 Denis de Rougemont: Journal aus Deutschland 1935-1936. Mit einem Nachwort von Jürg Altwegg. Aus dem Französischen von Tobias Scheffel. Wien 1998. S. 61-66. 27 Ebd. S. 64. 28 Ebd. S. 66. 29 Irmgard Keun: Nach Mitternacht. A.a.O. S. 23. 25
242 Rechts auf der Seite vom Opernplatz, wo es so parkartig ist, hatte sich ein schwarzes Meer von Menschen gebildet, die bewegten sich auf und ab in langsamen Wellen. Über ihnen schwamm müdes Licht. Auf dem freigelassenen Platz sprangen und rasten erregt einige SS-Leute herum und schwenkten in wilder Aufregung ihre Arme. Danach geschah eigentlich nichts. Manchmal wurden aus dem Meer von Menschen ohnmächtige Frauen von SSMännern fortgetragen, dadurch wurde den Leuten in den Logenbalkons das Warten nicht zu langweilig. Dann glitten auf einmal Autos über die Straße – so weich und eilig wie fliegende Daunenfedern. Und so schön. Nie in meinem Leben habe ich so wunderbare Autos gesehen. Und so viele Autos kamen, so viele! Alle Gauleiter und dazugehörigen hohen Parteimänner fuhren in solchen Autos, es war herrlich.30
Wie gesagt, Sanna beschreibt nur, was sie sieht von ihrem hohen Balkonplatz aus. Und so gelten nun die verordneten Begeisterungsausbrüche “es war herrlich” den Autos anstelle der Insassen und machen diese zu schön chauffierten Popanzen. Es machte mir Freude, die schönen Autos zu sehen, wie wunderbare blanke rasende Käfer sahen sie von oben aus. Und unten die vielen Leute, die wohl längst schon halb tot vom Warten waren, hatten nun auch Freude, daß ihnen endlich was geboten wurde, allerdings konnten ja nur die Vornstehenden was sehen. Von weitem schwollen Rufe an: Heil Hitler, näher kam der Mengen Ruf herangewellt, immer näher – nun stieg er zu unserem Balkon empor – breit, heiser und etwas müde. 31
Gleich wird der Führer kommen, da muß es sie irgendwie erheben, das weiß Sanna. Entsprechend erhebt sie ihre Sprechlage zum hohen Ton des Botenberichts im antiken Drama und gerät damit in grotesken Stilbruch mit dem, was sie erst hört, dann sieht: Und langsam fuhr ein Auto vorbei, darin stand der Führer wie der Prinz Karneval im Karnevalszug. Aber er war nicht so lustig und fröhlich wie der Prinz Karneval und warf auch keine Bonbons und Sträußchen, sondern hob nur eine leere Hand.32
Weit weg vom landläufigen Sprechen ist Irmgard Keun mit der KarnevalAssoziation keineswegs. An einem Vergleich mit dem Tagebuch eines begeisterten BDM-Mädchens, der 16jährigen Lore Walb, die es 1996 mit ihrem kritischen Kommentar von heute veröffentlicht hat, wird die mini-
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Ebd. S. 24. Ebd. Ebd.
243 male Verschiebung deutlich, durch die Keun die Sprache des Dritten Reiches immer wieder einbrechen läßt: Wieder haben wir einen Tag erlebt, dessen geschichtliche Bedeutung wir vielleicht gar nicht erfassen können. Leider habe ich den Truppeneinzug in Mainz nicht gesehen. [...]. Der Jubel der rheinischen Bevölkerung muß unbeschreiblich gewesen sein. In Mainz soll ein größerer Betrieb als an Fasnacht gewesen sein.33
Für eine lebenslustige junge Frau, die lange in Köln gelebt hat, ist der Prinz Karneval vorübergehend der Höchste, eine ernstzunehmende Person, der wenigstens auf Zeit alle Sympathie gehört. Zugleich assoziiert Karneval Flitter, Pappmaschee, Talmi, geborgte Würde und gesteigertes Vergnügen. Der Hitler-Auftritt als Karnevalsveranstaltung ohne Spaß (“niemand scherzte”, s.o.) markiert in mehrfachem Sinn das Pervertierte dieser Inszenierung. Mit äußerster Präzision karikiert Keun mit der Geste von der leeren Hand die leeren Versprechungen Hitlers, die ihn weit unter die Glaubwürdigkeit eines Prinz Karneval herabsetzen. Wenn Sanna weiter über die Arbeitsüberlastung und die Opferfreudigkeit des Führers sinniert, trifft Keun die Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Propaganda, diesmal nicht in der Sprache, sondern in der öffentlichen Präsentation, präzise: Der Führer gibt schon allein fast sein ganzes Leben hin, für sein Volk fotografiert zu werden. Man stelle sich nur so eine ungeheure Leistung vor: ununterbrochen sich fotografieren zu lassen mit Kindern und Lieblingshunden, im Freien und in Zimmern – immerzu.34
Zugleich verzerrt sie die hochpropagierten Tugenden wie ‘hingeben’ und ‘opfern’ ins Groteske. Sannas Kopf hat übermäßig viel zu tun, den Schwall der neuen Wörter aufzunehmen und ihren Sinn an der Wirklichkeit zu erproben, Wahrheit und Lüge auseinanderzuhalten, wie sie es bislang zu tun pflegte: “Das schlimmste ist, daß ich gar nicht weiß, was eigentlich los ist, ich habe jetzt nur allmählich raus, wo man sich in acht zu nehmen hat. [...] ich weiß bis heute nicht, worum es geht und was gemeint ist.”35 “Kurz und gut, ich weiß heute auch nicht mehr, aber ich bin klüger, als ich damals war.”36 Sannas Resistenz (der Begriff Widerstand ist vielleicht schon zu vollmundig) erwächst aus ihrem Bestehen auf der klaren Unterscheidung von Wahrheit und Lüge. Das macht sie bitter einsam und 33
Lore Walb: Ich, die Alte – ich, die Junge. Konfrontation mit meinen Tagebüchern 1933-1945. Berlin 1997. S. 73. 34 Irmgard Keun: Nach Mitternacht. A.a.O. S. 25. 35 Ebd. S. 56. 36 Ebd. S. 57.
244 bringt sie gelegentlich der Kapitulation nahe: “Ich wußte nicht mehr was gut war – ich wußte nicht mehr was böse war”37 “Und nun möchte ich weinen, denn ich verstehe wirklich nichts, [...] mein Herz ist ein Klumpen Trauer”38 und gibt doch in ihrer Resignation zu verstehen, daß sie alles genau durchschaut hat. Als die Bekannten nachts ihren Kneipenbummel nach dem erbärmlichen Tod der kleinen Bertchen Silias fortsetzen wollten, entschied sie: “Ich bin nicht mitgegangen. Ich wollte nicht so allein sein, wie ich mit denen gewesen wäre [...] Ich habe Angst [...] Angst kriecht an mir hoch wie steigendes Wasser.”39 Keun zeigt an der jungen, fröhlichen Sanna, wie der Zwang zu solch schizoidem Verhalten einerseits eine aggressive Sprache zeitigt (etwa gegen die faschistische Dummheit der kleinen Mitläuferinnen), vor allem aber eine tief depressive Grundstimmung, die Sanna immer wieder zu überschwemmen droht. Dieser Depression kann mit Anstand niemand entkommen. In den meisten Rezensionen und Analysen dieses Werkes freilich bleibt sie gegenüber dem frechen Witz und der bissigen Satire unbeachtet. 2. Die Sprechweise des Intellektuellen Heini, so nennt Keun merkwürdiger- und ein wenig lächerlicherweise den bedingungslos ehrlichen und deshalb an der Verlogenheit des Faschismus gescheiterten Kritiker. Er handelt konsequent und schafft sich selber ab: “Ein vollkommenes Land braucht keine Schriftsteller.”40 Sanna stellt ihn uns vor: “Der Heini ist vierzig Jahre alt und war ein bekannter Journalist. Jetzt schreibt er kaum noch, und das hat auch wieder politische Gründe.”41 “Politische Gründe”: Brav sagt sie das mit der schützenden Floskel. Heini selbst dagegen führt die neudeutsche Sprache gnadenlos vor, klopft sie ab auf ihre Verlogenheit, er zersetzt sie, um dann für immer zu schweigen. Auch die Emigration ist für ihn keine Lösung: Was ich glaubte, sagen zu müssen, habe ich gesagt, in meiner Art und Sprache. Was ich noch zu sagen hätte, sagen genug andere für mich. In dieser Zeit der allgemeinen Wortinflation ist es nicht schade, wenn einer sich besinnt und zu schweigen beginnt. Ich war ein geistreicher und witziger Journalist. Man kann
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Ebd. S. 62. Ebd. S. 91. 39 Ebd. S. 40. 40 Ebd. S. 85. 41 Ebd. S. 67. 38
245 weder hier noch im Ausland ein geistreicher und witziger Journalist sein, wenn einem ewig die Schreie aus den deutschen Konzentrationslagern in den Ohren gellen.42
Die neudeutschen Ideologeme “Rassenschande”, “Verbrecher”, “Blut”, “Volksgemeinschaft”, “Bewegung” zerplatzen unter seinem zersetzendscharfsinnigen Witz ebenso, wie die rührende Dummheit des Juden Breslauer und der niederträchtige Verrat Frau Aarons an ihrem Mann grell ans Licht kommen. Er hat zwei Spielarten des Sprechens: Entweder er sagt den Leuten die Wahrheit ins Gesicht oder sein Text lügt ‘wie gedruckt’. Aber er liefert die “Lügensignale” mit, die nach Harald Weinrichs Linguistik der Lüge notwendig zur literarischen Lüge gehören.43 Sie durchlöchern den doppelten Boden und legen die bittere Wahrheit als die Umkehrung der ideologischen Parole offen. Ich verstehe übrigens nicht, was sie immer gegen die Rassengesetze haben, Breslauer. Unerhört human sind diese Gesetze. Stellen Sie sich mal vor, die Juden würden gesetzlich gezwungen, wöchentlich dreimal mit Mitgliedern der NS-Frauenschaft zu schlafen.44
Die sarkastische Destruktion der falschen Wahrheit offenbart auch deren Unsittlichkeit. Wir leben nun mal in der Zeit der großen deutschen Denunziantenbewegung. Jeder hat jeden zu bewachen, jeder hat Macht über jeden. Jeder kann jeden einsperren lassen. Der Versuchung, diese Macht auszuüben, können nur wenige widerstehen. Die edelsten Instinkte des deutschen Volkes sind geweckt und werden sorgsam gepflegt.45
Irmgard Keun läßt Heini immer in direkter Rede sprechen, nicht durch Sannas Mund. In Heinis Reden würde sie dem Bösen des Systems schutzlos preisgegeben. Es macht ihm “oft Freude, Haß und Unlust zu erwecken.” Sie wehrt sich gegen den Haß so lange sie kann. Als Heini tot ist, bricht die Fassung zusammen: “Ich möchte lachen vor Haß. Ich bin verrückt geworden, das ist es. [...] Hilf mir doch, lieber Gott, hilf mir doch, Franz.”46 Franz, das Gegenbild zum faschistischen Männerideal, redet nicht, “Franz schweigt.”47 In einer seltsamen Erzähloperation läßt Irmgard Keun Sanna ihm seinen langen Bericht von Denunziation, Gefängnis und 42
Ebd. S. 122f. Harald Weinrich: Linguistik der Lüge. 4. Aufl. Heidelberg 1970. S. 68. 44 Irmgard Keun: Nach Mitternacht. A.a.O. S. 74. 45 Ebd. S. 87. 46. Ebd. S. 125. 47 Ebd. S. 113. 43
246 Mord aus dem Mund nehmen, als ob er sich nicht mit den häßlichen Wörtern verunreinigen dürfte. Franz, der Mörder, ist die reine, nicht infizierbare, unbefleckte Figur. Er rettet Sanna und sie rettet ihn. Gegen Ende des Romans und in dem Maß, wie ein ‘unschuldiges’ Arrangement mit diesem System sich für eine Person nach der anderen als unlebbar erweist, verschwinden die satirische Zweistimmigkeit, der ideologiekonforme Hypertext mehr und mehr.48 Es sind jene Schlußpassagen, die die Leser des Vorabdrucks in der “Pariser Tageszeitung” nie zu sehen bekamen. Dort bricht der Roman ab mit: “Drei Tage vor der großen Eröffnung wurden Franz und Paul verhaftet. Um sechs Uhr morgens.”49 Die folgenden Passagen, die Erzählung von Franz Mordtat, von der Straßenbahnfahrt vorbei an den Schreien aus dem Gefängnis, von Heinis Selbstmord, von der gemeinsamen Flucht ins Exil sind in einer unverstellten Diktion der Trauer, der Verzweiflung und am Ende der Hoffnung wiedergegeben.50 3. Macht und Ohnmacht der Wörter im nationalsozialistischen Alltag Nach Mitternacht handelt vom Leben und Lieben, vom Anpassen, Widerstehen und Leiden in den ersten Jahren des Dritten Reiches. Es erzählt vom obszönen Konkurrenzkampf der Zukurzgekommenen um ein Zipfelchen Teilhabe an der neuen Macht – um jeden Preis. Medium und Werk-
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Möglicherweise ist diese Veränderung in der Sprechhaltung beeinflußt von den für Irmgard Keun dramatischen Ereignissen um die Veröffentlichung des Romans, die zu einem Eklat mit ihrem Verlag Allert de Lange in Amsterdam und zum Wechsel zu Querido geführt haben; vgl. ihren Brief vom 23.11.1936 an Arnold Strauss. A.a.O. S. 195-202 und Kerstin Schoor: Verlagsarbeit im Exil. Untersuchungen zur Geschichte der deutschen Abteilung des Amsterdamer Allert de Lange Verlages 1933-1940. Amsterdam 1992. S. 162-166. 49 Irmgard Keun: Nach Mitternacht. A.a.O. S. 112. 50 In einem “Brief an die Verfasserin”, der die Rüge in eine höchst wohlwollende Rezension übergehen läßt, berichtet der verantwortliche Redakteur der Zeitung, Carl Misch, nach Erscheinen des Buches von der Enttäuschung über die ausgebliebenen Fortsetzungen: “Schliesslich – darf man es sagen? – depeschierten Sie uns, Sie hätten das Restmanuskript abgesandt, aber nie kam es an, und so mussten wir sang- und klanglos Liska und die ganze Gesellschaft stehen lassen. (Aus Respekt für Sie, verehrte Autorin, klaglos! Denn schliesslich ist diese ganze traurige Geschichte ja ein Kapitel Literaturgeschichte aus der Emigration, und wenn Sie auch uns und unsere Leser schlecht behandelt haben, so wollten doch wir unter keinen Umständen einer Dichterin in ihrer Emigrationsnot neues Leid antun.)” Pariser Tageszeitung 2(1937). Nr. 293. 31.3.1937. S. 4.
247 zeug der Mächtigen ist längst auch die physische Gewalt, aber im alltäglichen Leben und viel unauffälliger ist es in erster Linie die Sprache: Verordnen, Befehlen, Verbieten, Verraten, Denunzieren, Lügen, Singen, Dichten, “die Todesstricke aus den Wörtern” sind gleichermaßen Thema des Romans. Auf kein Wort ist mehr Verlaß, aber nie war ein Wort so mächtig: “Der Führer riskiert alles. Durch ein Wort kann er Krieg machen morgen und uns alle tot. Wir alle ruhen in des Führers Hand”51 beteuert ein SS-Mann und verdreht das Predigtzitat von Gottes Schutz in sein lebensgefährliches Gegenteil. Das einfache, zutreffende Wort ist ein Verbrechen und bringt einen ins Gefängnis, die vaterländische gute Tat ist die Denunziation. Wie ein Spinnennetz legt sich über das gesamte Leben die Denunziation als Mißbrauch der Rede, als Waffe gegen den Feind, aktiv verstanden als große nationalsozialistische Tat, passiv erlitten als lebensgefährliche Falle. Unaufhörlich kommen Leute, die jemanden anzuzeigen haben [...]. Und immer mehr Menschen strömen herbei, das Gestapo-Zimmer scheint die reinste Wallfahrtstätte. Mütter zeigen ihre Schwiegertöchter an, Töchter ihre Schwiegerväter, Brüder ihre Schwestern, Schwestern ihre Brüder, Freunde ihre Freunde, Stammtischgenossen ihre Stammtischgenossen, Nachbarn ihre Nachbarn. Und die Schreibmaschinen klappern, klappern, klappern, alles wird zu Protokoll genommen. Alle Anzeigenden wurden gut und freundlich behandelt.52
Die neue Volksgemeinschaft, das heißt, die angeblich eng Verbundenen werden durch das denunzierende Wort jeder eines jeden Feind. Alle Personen des Romans handeln und leiden unter dem Verrat am Wort und dem Mißbrauch durch die Sprache: Sanna wird von Tant Adelheid denunziert und von der Gestapo verhört, Tant Adelheid triumphiert in ihrer neuen Macht, Franz wird von Willi Schliemann denunziert: “Er wollte eine Tat begehen, die ihn bei den Nazis wieder geachtet und beliebt machte, und er wollte den Zigarrenladen von Franz und Paul kaputtmachen.”53 Betty Raff ist die Inkarnation der giftigen Doppelzüngigkeit, Liska ist worthörig auf Kosten ihres eigenen Selbst. Sannas Stiefbruder Algin Moder, der einstige Erfolgsschriftsteller, schreibt nicht mehr zeitgemäß. Aber er wird die Literatur verraten und sich anpassen. Für Heini schließlich, den Keun nach Sprechhaltung, Habitus und Handlungsweise Kurt Tucholsky täuschend ähnlich gezeichnet hat, bedeutet der Nationalsozialismus das Ende jeder Glaubwürdigkeit, auch der eigenen.
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Irmgard Keun: Nach Mitternacht. A.a.O. S. 29. Ebd. S. 60f. Ebd. S. 115.
248 Du bist überflüssig, durch die Diktatur ist Deutschland ein vollkommenes Land geworden. Ein vollkommenes Land braucht keine Schriftsteller. Im Paradies gibt es keine Literatur. [...] Wo keine Kritik mehr möglich ist, hast du zu schweigen. Was willst du im Paradies über Gott schreiben?54
Irmgard Keun schweigt nicht, noch paßt sie sich an. Vielmehr läßt sich ihr Schreiben auf den Faschismus ein. Im doppelten Boden dieses Schreibens ist die Wahrheit versteckt. Immer, wenn die Sprache aus dem ‘Wörterbuch des Unmenschen’ an ihren Lügen einbricht, kommt die Wahrheit zum Vorschein. Einmal blitzt die Erinnerung auf an das Glück des freien Wortes: “Nie werde ich vergessen, wie er [hier ist es Franz] erzählte von Ländern, in denen man reden könne, was man wolle, in denen man keine Angst zu haben brauche.”55 Sanna und Franz retten sich ins Exil, wie auch Irmgard Keun. Am 31.12.1935 berichtet Irmgard Keun nach Amerika von ihrem neuen Romanprojekt: “Meins – mein Geliebtes, so wild in Arbeit wie noch nie. Roman ist im Gange. Unberufen: Ich glaube, es wird, es wird, es wird. Endlich mal wieder was Richtiges.”56 Man vermutet, daß dies der Beginn der Arbeit an Nach Mitternacht ist57, oder doch einer Vorstufe.58 Zu diesem Zeitpunkt hatte sie noch immer die Absicht, in Deutschland zu bleiben. Wie mag sie sich den Roman vorgestellt haben in Deutschland? Hat sie sich zugetraut, das Subversive in ihrer Sprache, die “Lügensignale” so raffiniert zu verstecken, daß die Doppelbödigkeit nur den Nichtkonformen durchschaubar wird? Und erst nach der Flucht hat sie dann mit allen Registern und mit Heinis Stimme ihre Sprache aus der Deckung genommen? Eine Vermutung nur. Immerhin hat sie selbst praktiziert, wie sich mit einem einzigen Buchstaben die Zustimmung zum verordneten Denken und Handeln verweigern läßt: In einem Brief an eine Gastwirtschaft in Köln verlangt sie Schadenersatz für ihren am 27.12.1933 vom haus-
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Ebd. S. 85f. In “Bilder aus der Emigration” gedenkt Irmgard Keun der Schriftstellerfreunde, die aufgegeben haben, Ernst Tollers, den sie zuletzt noch in New York getroffen hatte, und Kurt Tucholskys: “Ich weiß noch, wie Kisch und ich in Ostende darüber sprachen in Gedanken an Kurt Tucholsky, den tapferen, klugen, wahrheitsliebenden Journalisten, der als erster nach 1933 in Schweden Selbstmord beging.” Irmgard Keun: Wenn wir alle gut wären. Hrsg. und mit einem Nachwort von Wilhelm Unger. Köln 1983. S. 157. 55 Irmgard Keun: Nach Mitternacht. A.a.O. S. 62. 56 Irmgard Keun: Ich lebe in einem wilden Wirbel. A.a.O. S. 144. 57 Eva Siegel: Jugend. A.a.O. S. 134. Anm. 148. 58 In: Irmgard Keun: Ich lebe in einem wilden Wirbel. A.a.O. S. 146.
249 eigenen Dackel angeknabberten Pelzmantel und unterschreibt – fast – ordnungsgemäß: “Mit deutschem Gruß und Heil Hittler.”59 Hittler mit zwei t, vernichtender läßt sich die Resistenz gegenüber der Hitlerei, der Zwang zu dieser Floskel und der Abscheu über den bellenden Diktator kaum ausdrücken.
59.
Literatur in Köln. Archiv, Nachlaß Arnold Strauss.
Karl Kröhnke
Wurde Lion Feuchtwanger durch das Exil zum Trivialautor? This article attempts to reconsider the commonly held view that Feuchtwanger’s prolonged exile in the United States and his separation from his native language were responsible for the qualitative decline of his later work. An analysis of the language, the formal structure, and the ideas of Feuchtwanger’s historical novels indicate that this assumption is only partly correct. Rather, the exile experience gave Feuchtwanger the opportunity to write works of his preferred genre, the historical novel. The article concludes that exile from Germany facilitated the commercialization of Feuchtwanger’s literary output, but did not cause it.
Um den Autor Lion Feuchtwanger ist es ruhig geworden in Forschung und Feuilleton. Vor eineinhalb Jahrzehnten, zu seinem 100. Geburtstag, hatten ihn die Verlage und Leser auch in Westdeutschland wiederentdeckt, es wurde eine Vielzahl von Arbeiten über ihn geschrieben, und unter den historisch orientierten Literaturwissenschaftlern, ganz besonders in der Exilforschung, wurde mancher Strauß gefochten um Feuchtwangers sehr eigene politische Position wie auch um die politische Intention seiner Belletristik. Sein Werk scheint das Pro und Kontra unbeschadet überdauert zu haben. Der historische Roman erlebt derzeit weltweit und auch in Deutschland einen großen Boom, und unter den in unseren modernen Buchkaufhäusern neben die Kassen gestellten Bestsellern sieht man auch Goya, Jefta, Die Jüdin von Toledo und alle die anderen. Feuchtwanger müßte sich da bestätigt fühlen, hat er doch immer seiner Zuversicht Ausdruck gegeben, von den Wirren einer Epoche werde am Ende die historische Dichtung bleiben, sicherer noch als die akademische Geschichtsschreibung. Man muß sich jedoch fragen, ob die heutigen Käufer nach vollzogener Lektüre jene gesellschaftspolitische Orientierung auf Gegenwart und Zukunft dechiffriert, ja überhaupt bemerkt haben, die der Autor als den Kern seiner künstlerischen Bemühungen verstanden hat und an deren Erreichbarkeit mittels solcher Bücher die marxistischen Feuchtwangerianer glaubten. Seit einiger Zeit ist nun der Zusammenhang von Exilerfahrung und ästhetischer Praxis ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, und die Frage nach exilbestimmter Kommerzialisierung der Künste wurde jetzt zur Anre-
252 gung, einige Überlegungen anzustellen zu der ehedem virulenten, zuletzt aber still versickerten Debatte, ob es nicht das Exil gewesen sei, das aus Lion Feuchtwanger einen Trivialautor gemacht hat. Eine Wiederbegegnung nach den politischen Kontroversen verspricht zudem, ein gerechteres Urteil über den Autor im ganzen zu gewinnen. In seiner Erörterung der “Folgen des Exils” kam Hans Mayer zu folgender Einschätzung: “Feuchtwanger blieb bis zuletzt der sorgfältig komponierende, seiner Mittel bewußte Erzähler. Aber der Geist der Sprache hatte ihn verlassen.”1 Indem er nicht mehr aus dem amerikanischen Exil zurückkehrte, “begab er sich selbst der Möglichkeit, seine sprachlichen Mittel mit der sprachlichen Wirklichkeit des heutigen Deutschland zu konfrontieren.”2 Mayer berief sich auf Feuchtwangers eigenen Vortrag über “Die Arbeitsprobleme des Schriftstellers im Exil”, in dem er beklagt hatte, von der Entwicklung der deutschen Sprache abgespalten zu sein: “In den zehn oder elf Jahren unseres Exils ist das Leben sehr schnell weitergegangen, es hat für tausend neue Erscheinungen tausend neue Worte und Klänge verlangt.”3 Diese Bemerkung ist oft zitiert worden. Bei erneuter Lektüre fällt jedoch auf, daß im Jahr 1943, als der Vortrag gehalten wurde, die tausend neuen Erscheinungen, von denen die Emigration abgeschnitten war, die Erscheinungen des Tausendjährigen Reichs waren. Im Hinblick auf dessen Realität und mystisch-ideologische Verkleisterung der Sprache hatte der (in der Diktion als Text Feuchtwangers erkennbare) Leitartikel der Zeitschrift Das Wort 1936 festgestellt: “Sie [die Nazis] verdarben das deutsche Wort”, optimistisch aber angekündigt: “Es wird, wenn die Verderber weggefegt sind, dem deutschen Volk rein und klar zurückgegeben werden können, ein wohlbehütetes Erbe.”4 Hans Mayer zufolge habe Feuchtwanger in Kalifornien aber eben Literatur in einer Sprache geschrieben, “die aufgehört hatte, lebendiges Deutsch zu sein.” Auch Joachim Kaiser hat ein ähnliches Urteil abgegeben: “Er mußte in Amerika bleiben, und er mußte sein Deutsch verdorren, unlebendig werden lassen, vielleicht ohne es selbst zu bemerken.” Er sei in diesem “nicht weniger schmerzlichen Sinne ein Opfer des Faschismus geworden.”5 Feuchtwanger hat von 1933 bis zu seinem Tod 1958 genau fünfundzwanzig Jahre außerhalb des deutschen Sprachraums gelebt, aber bedeu1
Lion Feuchtwanger oder Die Folgen des Exils. In: Neue Rundschau 76 (1965). S. 120-129, hier S. 127. 2 Ebd. 3 Zitiert nach dem Neudruck unter dem Titel “Der Schriftsteller im Exil”. In: Lion Feuchtwanger: Ein Buch nur für meine Freunde. Frankfurt a.M. 1984. S. 533-538, hier S. 535. 4 Vorwort zu Das Wort 1 (1936). 5 Stuttgarter Zeitung. 23.12.1958.
253 tet eine solche Zeitspanne physischer Abwesenheit tatsächlich, sich einer Sprache zu entfremden? Schon ein flüchtiger Blick auf den Werdegang von Virtuosen der Sprache, die sich im Exil literarisch verbesserten, statt zu verkümmern, muß die Dinge zurechtrücken. Nabokov eignet sich hier als Zeuge weniger, da er die amerikanische Sprache annahm und meisterte, wohl aber Joyce, wohl aber Hermann Broch und wie viele der lateinamerikanischen Dichter in langjährigen Verbannungen! Diese wenigen Beispiele von Literaten im Exil stellen die Zwangsläufigkeit sprachlichen Niedergangs in der Fremde in Frage. Was andererseits die Anwesenheit von Lokal-, Milieu- und Tagessprache in Feuchtwangers Dichtung angeht, so ist sie von Anfang an eine zu vernachlässigende Größe; selbst Erfolg, ein Roman, der bayerische Mentalität getreu abbilden mag, ist in seinem Thesaurus kein Werk, das von der Ausdruckskraft der Region her das literarische Deutsche markant bereichert hätte. In den Geschwistern Oppermann stößt man auf da und dort eingestreute Saloppheiten von Berliner Schnauze, wie man sie vom späten Fontane und besonders von Feuchtwangers Freund Arnold Zweig kennt, von welchem sie ihm zugewachsen sein mögen: von “ollen Kammellen” ist die Rede, etwas kostet “sieben bis acht Märker;” und über jemanden wird geurteilt: “eigentlich eine dolle Artischocke, der Junge.”6 Sogar in Gymnasiastensprache versucht sich der Autor, wo der Junior der Oppermanns in die Handlung tritt – aber das bleibt marginal und wenig gelungen, und wenn man derlei im Spätwerk nicht findet, so ist es kein Mangel. Wenn überdies in frühen Werken Feuchtwangers die Diktion Vitalität und Originalität erlangte, handelte es sich gerade nicht um ein Kraftschöpfen aus der Berührung heimatlicher Erde (wie im antik-mythischen Bild vom Riesen Antaios, das für diesen Sachverhalt gern herangezogen wird), sondern es sind Amerikanismen, die Theatertexte wie Die Petroleuminseln (1927) aufrauhten. Im Zusammenhang mit dem Stichwort “Aufrauhen” der Sprache: Es blieb der Forschung etwas undeutlich, wie der Wortlaut von Brechts und Feuchtwangers gemeinsamer Marlowe-Nachdichtung Leben Eduards II. von England zustande gekommen ist; etwas einsam steht die Notiz aus Marieluise Fleißers Erinnerungen,7 es sei Feuchtwanger gewesen, der ständig darauf bestanden habe, die allzu glatten Verse müßten “aufgerauht” werden; besser paßte diese Rolle an sich zu Brecht, dem sie die meisten, die darüber gearbeitet haben, denn auch zusprechen. Im kalifornischen Vortrag zu den “Arbeitsproblemen des Schriftstellers im Exil” postulierte Feuchtwanger auch (was aber seltener zitiert wird), daß 6
Lion Feuchtwanger: Die Geschwister Oppermann. München, Wien 1981. S. 98. Marieluise Fleißer: Aus der Augustenstraße. [1969] In: Gesammelte Werke. Frankfurt a.M. 1972. Bd. II. S. 309-314, hier S. 313. 7
254 “der erzwungene ständige Kontakt mit der fremden Sprache” letztlich eine “Bereicherung” mit sich bringe.8 In seinem Fall ist aber ein spürbarer Einfluß der amerikanischen Literatur- oder Alltagssprache im späteren Werk nicht festzustellen, kein Anknüpfen an das in seiner “neusachlichen” Phase vorhandene und nicht uninteressante amerikanische Element. Ein hinsichtlich der Sprache auffallendes Spätwerk ist der Roman Jefta und seine Tochter, Feuchtwangers letztes zu Lebzeiten veröffentlichtes Buch. Das Buch war ein in vieler Hinsicht fragwürdiges Projekt, zum einen im Anspruch, sich in die Seelen bronzezeitlicher Menschen einzufühlen, zum anderen darin, daß es nach Thomas Manns Joseph-Romanen ein vergleichbares Unterfangen darstellt, aber um vieles naiver und banaler. Andererseits war Feuchtwangers Jefta eine späte freundliche Geste in Richtung Israels, die nicht selbstverständlich war und zu würdigen ist. In sprachlicher Hinsicht beobachten wir darin den Versuch, die Worte zu gebrauchen, als sei es zum erstenmal. Joachim Kaiser hat das, in ironisiertem Pathos, in einer Rezension so kommentiert: “Feuchtwanger hat mit dem Engel der Sprache gerungen [...]. Er hat den Engel zwar nicht gelassen, aber sein Alterswerk lahmt nun an der Hüfte, ungesegnet.”9 Man kann Feuchtwangers spätes Experiment, archaisch zu erzählen, in diesem Zusammenhang ohne Kommentar stehen lassen, hinreichend ist die Feststellung, daß es gewiß nicht die Entfernung vom muttersprachlichen Boden und dessen neuen und neuesten Hervorbringungen war, was ihn dazu bestimmte, für das gewählte Sujet einen biblischen Ton anzustreben. Als ein Motiv des Autors, seine Sprache eingängig zu halten, wird immer wieder auf deren leichtere Übersetzbarkeit hingewiesen – ein Aspekt, der tatsächlich das Exil als wichtigen Faktor der Simplifizierung erweisen könnte, da ja das zügige Bereitstellen der literarischen Ware auf dem fremdsprachigen Markt unzweifelhaft für den Exilanten eine Sache von existentieller Wichtigkeit ist. Eine anekdotische Passage aus Ludwig Marcuses Autobiographie wird zu diesem Thema gern zitiert, obwohl sich – wenn man genau hinsieht – ihre satirische Spitze mehr gegen die Chimäre des Formalismus in der kommunistischen Ästhetikideologie richtet: “Eine Übersetzerin der Anna Seghers beschwerte sich bei mir, daß ihr Stil ‘formalistisch’ sei; Feuchtwanger hingegen könne man Wort für Wort übertragen.”10 Bei der Lektüre von Feuchtwanger stößt man jedoch auf seine selbstgeschaffenen und gar nicht schönen Komposita. In dem Roman Exil, an beliebiger Stelle aufgeschlagen, findet sich auf wenigen 8
Lion Feuchtwanger: Der Schriftsteller im Exil. A.a.O. S. 537. Stuttgarter Zeitung. 23.12.1958. 10 Ludwig Marcuse: Mein 20. Jahrhundert. Auf dem Weg zu einer Autobiographie. München 1960. S. 236. 9
255 Seiten unter anderem: Ein Zimmer ist “überstopft”, eine Person ist “vergrübelt”, eine andere “zerbrannt” von Erwartung und hat darum eine “überrötete” Haut. “Rechenhaft”, was gleich ein paarmal vorkommt, ist ein Lieblingswort des Autors; es bedeutet: berechnend. “Betrachtsam” mag er und “angefremdet”. “Wohlhäbig” aber, was einem auf zehn Seiten gleich dreimal begegnet, bedeutet, was der Schriftsteller zuzeiten selber war: wohlhabend. Wie im Zeitroman, werden auch in den historischen Werken erfundene Wörter benutzt. Im Falschen Nero findet man, nur beim Blättern, Ausdrücke wie “erlustiert,” “eratmet,” “angeschauert” und “umschweifig”. Dieser Sprachgebrauch beschränkt sich nicht auf den innovativen Einsatz von Präfixen. Wenn sich jemand “sänftlich” verhält und Augen “schleiern,” muß man an jenen Helden – aus eben seinem Falschen Nero – denken, von dem der Erzähler mitteilt, daß er “mit sicherem Instinkt immer das häßlichere Wort wählt.”11 Einige wenige Fundstücke mögen Bavarismen sein: daß sich einer “zerquält”, daß jemand “angehaßt” wird. Doch wie auch immer, der Hauptbestand dessen, was Lion Feuchtwangers dichterische Sprache auffällig macht, gehörte vor 1933 nicht zum in Deutschland Üblichen und ähnliche Wortschöpfungen waren ihm gewiß auch nach 1933 noch möglich. Die erwähnten Manieriertheiten sind denn auch in seiner Jüdin von Toledo, dem vorletzten Buch, eher noch gehäuft. Wird man noch allgemeiner in der Abweisung des Arguments, Feuchtwangers Werke hätten an Niveau verloren, weil ihre Sprache exilbedingt nicht mehr auf der Höhe war, so muß man eingestehen, daß es in keiner Phase seines schriftstellerischen Werdegangs die sprachliche Gestalt der Texte, Anmut oder Präzision des Stils war, die Feuchtwangers Arbeiten auszeichnete. Mir jedenfalls ist keine zeitgenössische Stimme bekannt, die ihn in dieser Hinsicht rühmte. Seine frühen Dichtungen, namentlich sein Jud Süß und Die häßliche Herzogin, werden gelegentlich als expressiv, wenn nicht gar expressionistisch, bezeichnet; Wulf Koepke hat darauf hingewiesen, daß die Raffung und Verknappung des Ausdrucks dort zum Teil das Vorbild des frühen Heinrich Mann verrät;12 Werner Fuld jedoch fand die Sprache “statt eindringlich [...] aufdringlich.”13 Anstelle einer Bewertung soll hier jedoch gefragt werden, was die Expressivität jener Prosa ausmacht. Die erwähnten, selbst kreierten Komposita sind es eher nicht, sie wirken weniger expressiv als altmodisch, oder genauer: umständlich. Auch zahlreiche Stilfiguren, die Feuchtwanger bevorzugte, waren schon in seinem Frühwerk antiquiert und wollten sicher nicht 11
Lion Feuchtwanger: Der falsche Nero. Berlin, Weimar. 3. Aufl. 1980. S. 98. Wulf Koepke: Lion Feuchtwanger. München 1983. S. 62. 13 Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt. 8.7.1984. 12
256 lebendige Alltagssprache sein: wie er das “nun” als Konjunktion benutzte, oder die charakteristischen Absolutus-Konstruktionen – “Martin gegangen,” ist zum Beispiel ein solcher vollständiger Temporalsatz. Auch andere syntaktische Figuren (etwa: “Ein anderes ist ein allgemeiner Bericht, ein anderes die leibhafte Anschauung”14) dokumentieren seine humanistische Ausbildung, nicht aber, daß er dem Volk aufs Maul schaute und also den Austausch mit ihm brauchte. Expressiv, wenn überhaupt, sind – besonders im Jud Süß – die Stakkato-Sätze, die zum Teil nur aus einem Verb bestehen, sowie kürzeste Phrasen, die einen ganzen Absatz für sich bekommen, wie: “Er ging zum König” oder: “Sie beschied ihn zu sich”, und die oft nach einem grüblerischen inneren Monolog einen abrupten Entschluß markieren. Dieser Duktus verrät Feuchtwangers Prägung und Herkunft vom Theater. Beim historischen Drama, insbesondere Schillers, ist er in mehr als nur dieser Hinsicht mit lebenslanger Wirkung in die Schule gegangen. Als konventionell, ja trivial wurden in Kritik und Philologie vor allem die Personencharakterisierungen in Feuchtwangers Epik qualifiziert: Seine handelnden Figuren sind letztlich Träger abstraktester Ideen, Repräsentanten von Prinzipien wie Machtwillen, nationalem Fanatismus, besonnener Aufklärung. Freilich sind ihre durchaus leidenschaftlichen Naturen auf einige wenige hippokratische Temperamente zurückzuführen und mit einiger Vulgärpsychologie schon erklärt. Ihre physiognomische Typologie, die sich immer direkt in die Art ihres privaten wie politischen Handelns umsetzen läßt, greift die Klischees sogenannter Völkermentalitäten auf. So versammeln sich in der Häßlichen Herzogin “der leichtsinnige, unernste Luxemburger,” “der schwerfällige, langsame Bayer, der zähe, bittere Habsburger,” genauer: “Ludwig, der große, langnäsige Wittelsbacher mit dem massigen Nacken und den riesigen blauen Augen, Albrecht der Lahme mit den verkniffenen Lippen.”15 Sergej Tretjakow hat überdies angemerkt, daß es bei derartigen Charakterisierungen durch die Handlung eines dicken Buchs hindurch “keine Bewegung” gebe: “Wenn er eine Frau “alte Ziege” genannt hat, so wird er immer diese Definition wiederholen, als ob er Angst hätte, der Leser wird das vergessen.”16 Natürlich läßt das an Thomas Manns im Anschluß an Richard Wagner praktizierte Leitmotivtechnik denken, wo jede Figur pars pro toto durch “ihre” Auffälligkeit oder Schrulle aufgerufen wird; aber 14
Lion Feuchtwanger: Exil. München, Wien 1981. S. 356. Lion Feuchtwanger: Die häßliche Herzogin Margarete Maultasch. Frankfurt a.M. 1976. S. 48. 16 In einem Brief an Oskar Maria Graf. Zitiert nach: Graf: Reise in die Sowjetunion 1934. Hrsg. von Hans-Albert Walter. Darmstadt 1974. S. 166. 15
257 wenn Thomas Mann seinen jungen Joseph immerzu “hübsch und schön” nennt, so hat das etwas Scherzendes, Verspieltes – ein Zug, der den stets hochdramatisch um epochale Gewissensentscheidungen kreisenden Texten Feuchtwangers fehlt. Auch unabhängig von den stereotypen Personenbeschreibungen (die übrigens wieder ans Theater denken lassen: an das Verzeichnis “dramatis personae”) verwendet Feuchtwanger Textbausteine, die er im Einzelwerk starr, im Gesamtwerk mit einer gewissen Beliebigkeit einsetzt. So findet sich z.B. in einer Vielzahl seiner Bücher die wiederkehrende Phrase, daß eine Figur “die Innenfläche der einen Hand mit den Knöcheln der anderen reibt.” Problematischer noch ist die wahllose Verfügbarkeit gewisser Ideen und Ideale – am krassesten vielleicht, daß die Umtriebe des falschen Nero von dessen Drahtzieher im Roman in Gang gebracht wurden, um den Osten und den Westen zivilisatorisch zu vereinen – ein Ziel, das sonst bei Feuchtwanger positiv gesehen und namentlich den Juden als ihre historische Mission zugesprochen wird. Was mir aber für eine Typologie des Trivialen bei Feuchtwanger wichtiger zu sein scheint: wir begegnen bei ihm mehreren thematischen Versatzstücken, die er wieder und wieder zum Ziel melodramatischer Wirkung bemüht – gründlich bewährten, damit aber eben für ernsthaft künstlerische Arbeit verbrauchten Mustern. Um ein Beispiel zu geben: ein ehrgeiziger Mann hat sich auf das Ränkespiel mit und unter den Mächtigen eingelassen, aber er hat eine verwundbare Stelle: seine schöne, exotische Tochter, die er in einem Schlößchen verbirgt und die er doch auf schreckliche Weise verlieren muß. Man hat zur Erklärung der hartnäckigen Präsenz dieses Motivs “biographistisch” auf den Verlust einer neugeborenen Tochter im Leben Feuchtwangers hingewiesen, aber natürlich hat das Motiv seine literarische Tradition und seine berühmtesten Gestaltungen in Verdis Rigoletto und Conrad Ferdinand Meyers Heiligem. Marcel Reich-Ranicki hat Feuchtwangers gesammelte Werke eine “Literatur mit Pauken und Trompeten” genannt, mit “Fahnen und Standarten”, die nicht an Unterstreichungen spare.17 Den Autor selber bezeichnete er nicht unfreundlich als einen “Publikumsschriftsteller”.18 Sonst hat die Literaturgeschichtsschreibung, die über kurz oder lang mit allen Autoren ins Reine kommt und ihren literarischen Rang einschätzt, bei Feuchtwanger vor einem ästhetischen Urteil oft zurückgeschreckt. In einem Aufsatz von Jan Hans und Lutz Winckler heißt es freilich über seinen Roman Exil apodiktisch, die “Disqualifizierung” des Buches als melodramatische 17
Marcel Reich-Ranicki: Lion Feuchtwanger oder Der Weltruhm des Emigranten. In: Die deutsche Exilliteratur 1933-1945. Hrsg. von Manfred Durzak. Stuttgart 1973. S. 443-456, hier S. 450. 18 Ebd. S. 443.
258 Kolportage “verbiete sich.”19 Gerade dies aber scheint mir die richtige Klassifizierung.20 Denn es ist doch bei aller Subjektivität des Geschmacks nicht so, daß die Literaturkritik keine Maßstäbe oder Kriterien hätte und einen Künstler nicht von einem Könner zu scheiden vermöchte. Nüchtern sei darum einmal konstatiert: Lion Feuchtwanger ist einer guten Absichten verschriebenen, Bildungsgüter berücksichtigenden, überhaupt intelligent gearbeiteten, wenn man so will: gehobenen Unterhaltungsliteratur zuzusprechen. Seine Zeit- und Gesinnungsgenossen waren in den Jahren von Opposition, Verfolgung, Exil dankbar, einen erfolgreichen, auch im Ausland gelesenen Schriftsteller in ihren Reihen zu wissen und verhielten sich wohlwollend. Bestaunenswert höflich formuliert ist zum Beispiel Thomas Manns Geburtstagsgruß, der aber – kennt man Thomas Manns Art und Wertekanon – in der Sache vernichtend ist: “solid und unterhaltend, seriös und das, was die Engländer readable nennen, das ist: zugänglich, genießbar, spannend, unschwerfällig bei aller Gediegenheit der historischen Fundamentierung.”21 Die nachgeborene, wiederentdeckende Generation fühlte sich nicht berechtigt, schöngeistig zu urteilen über Menschen, denen in den “finsteren Zeiten” so viel zugemutet wurde. Da etliche der auf unserem Gebiet engagierten Forscher nach 1968 überdies von der Politik herkamen, schien die Dechiffrierung des politisch Gemeinten in dieser Belletristik vorrangig. Genuin ästhetische Fragen lagen vielen von ihnen zunächst fern. Was bei der ersten Annäherung seinerzeit mit Genugtuung gefunden und gelobt wurde, ist jedoch eine zu schwere Last dieser Texte: ihre phrasenhaft-allgemeine Didaktik und im Fall der historischen Romane: die Zwiespältigkeit, mit der sie auch auf die Gegenwart zielen. Nun könnte eingewandt werden, Feuchtwangers historische Romane seien keine und hätten nie diesen Anspruch erhoben. In seiner Pariser Rede “Vom Sinn und Unsinn des historischen Romans”, 1935, erklärte der Autor: “Ich habe nie daran gedacht, Geschichte um ihrer selbst willen zu gestalten, ich habe im Kostüm, in der historischen Einkleidung, immer nur ein Stilisierungsmittel gesehen.”22 Stets wolle er nur sein Weltbild geben. Der Cambridger Germanist David Midgley hat diese Ansprache mit 19
Jan Hans/Lutz Winckler: Von der Selbstverständigung des Künstlers in Krisenzeiten. In: text + kritik 79/80: Lion Feuchtwanger. München 1983. S. 28-48, hier S. 48. 20 So auch schon Gert Ueding in Frankfurter Allgemeine Zeitung. 30.4.1981. 21 Thomas Mann: Freund Feuchtwanger. [1954] In: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Frankfurt a.M. 1974. S. 533-537, hier S. 534. 22 Lion Feuchtwanger: Vom Sinn und Unsinn des historischen Romans. In: Ein Buch nur für meine Freunde. A.a.O. S. 494-501, hier S. 496.
259 der Bemerkung kommentiert, Feuchtwanger neige zur “burschikosen Trivialisierung romantheoretischer Fragen.”23 Burschikose Trivialisierung war es gewiß, wenn Feuchtwanger damals sagte: “Vom Autor eines historischen Romans historische Belehrung zu fordern, heißt vom Komponisten einer Melodie Aufschlüsse über die Technik der Radioübertragung verlangen.”24 Nun kann man aber von seinen Romanen sehr wohl auch historische Belehrung erhalten – sogar vom Falschen Nero, der als verkappte Zeitsatire eine Sonderstellung einnimmt. Da der Schriftsteller ganze Spezialbibliotheken zu Rate zog, vermittelt sich dem Leser der Eindruck von Authentizität – und das über weite Strecken ganz zu Recht. Bemerkenswerterweise erweckt noch der Klappentext der Aufbau-Ausgabe von 1980 die Vorstellung, es handle sich beim Falschen Nero um ein Buch mit historisch beglaubigtem Gegenstand. Nicht wenige Philologen haben sich eng an die Pariser Rede angeschlossen und Feuchtwangers in vergangenen Zeiten angesiedelten Erzählwerke ganz oder vorrangig wie Schlüsselromane und Camouflage gelesen; so auch Hans-Albert Walter in seiner anregenden Interpretation von Waffen für Amerika als pseudohistorisches Buch über die Anti-HitlerKoalition und die Lend-and-Lease-Politik der USA ab 1941.25 Aber zieht man dazu Feuchtwangers damalige Korrespondenz mit Zweig zu Rate, kann man nicht zweifeln, der Romancier hat diese Arbeit zum mindesten auch als eine Gestaltung der Epoche des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs aufgefaßt. Hochwillkommen waren ihm stets Elemente, die sowohl in Vergangenheit als auch in der Gegenwart Sinn ergaben; manchmal erzwang er das. Das krasseste Beispiel einer solchen Forcierung ist eine Stelle im Josephus-Roman, wo die Losung “Hiersolyma est perdita” mit ihren Anfangsbuchstaben das “Hep” des antisemitischen Mobs ergeben – zur Flavierzeit im alten Rom.26 Die Abbildung des Jetzt im Damals schien sich aus seiner Vorliebe für den biblischen Prediger Salomo und seine Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen herzuleiten. Tatsächlich attestierte man dem in seiner Generation exponiertesten Vertreter der Geschichtsdichtung eine ahis-
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David Midgley: Zwischen Monumentalität und Aktualität. Zu den Exilromanen Arnold Zweigs und Lion Feuchtwangers. In: EXIL Sonderband 1: Realismuskonzeptionen der Exilliteratur zwischen 1935 und 1940/41. Hrsg. von Edita Koch und Frithjof Trapp. Maintal 1987. S. 84-93, hier S.84. 24 Feuchtwanger: Vom Sinn und Unsinn des historischen Romans. A.a.O. S. 498. 25 Hans-Albert Walter: Der falsche Franklin oder Ein echter Feuchtwanger. Kritische Anmerkungen zu einem Bestsellerroman der Exilliteratur. [Nachwort zu:] Lion Feuchtwanger: Waffen für Amerika. Frankfurt a.M. 1986. Bd. II. S. 355-432. 26 Lion Feuchtwanger: Die Söhne. Amsterdam 1935. S. 51.
260 torische Weltsicht.27 Er war aber zugleich, wie er nicht selten niederschrieb, Parteigänger des Fortschritts. Diese vordergründig kontradiktorischen Grundpositionen lassen sich in einem Spiralmodell vermitteln. Die “immer gleichen” Probleme und Konstellationen kehren dann auf höherer Stufenleiter des historischen Prozesses wieder. In diesem Sinn benutzt Feuchtwanger das geschichtliche Material eben nicht nur als Theaterfundus, um Gegenwärtiges einzukleiden, sondern es interessiert ihn auch per se. Benjamin Franklins Werben um Waffen für Amerika ist nicht nur ein Gleichnis, in welchem auf entsprechende Bestrebungen der Sowjetunion in Feuchtwangers Tagen angespielt wird. In seinem Verständnis war der Geist der Vernunft in beiden Situationen am Werk. Daher ist keine Seite der Spiegelung nur Bild. Die Hinweise, was im historischen Stoff für die Gegenwart lehrreich sei, kommen jedoch nicht über schlichte Gedanken hinaus und lassen sich so zusammenfassen: Vernunft und Fortschritt sind gut; es war damals richtig, für sie einzutreten, man sollte es auch in Zukunft tun. Feuchtwanger hat Theodor Lessings nietzscheanisch gegen den Historismus formulierte Spitze: “Geschichte ist Sinngebung des Sinnlosen”28 gern zitiert, und auch seine literarischen Gestalten scheinen das Wort zu kennen, aber nicht als Zynismus. Seine Romanfiguren sind ständig mit der historischen Sinngebung ihrer Handlungen befaßt. Arnold Zweig wandte einmal ein, daß dadurch “Ideen eine Wichtigkeit erhalten, die ihnen nur nachträglich vom konstruktiven Analytiker zugebilligt werden kann.”29 Bei Hegel setzt sich die Vernunft listig hinter den Rücken der für ihre Leidenschaften Agierenden durch. Feuchtwangers Figuren mögen – um im Bild zu bleiben – durchaus auch mit dem Rücken zur Vernunft stehen, doch linsen sie ständig über die Schulter und debattieren, wer sie am besten sähe. Mit einem Wort: Sie machen immerzu Geschichte. Die in die historischen Stoffe eingestreuten Hinweise auf aktuelle Brisanz und progressive Parteinahme wurden von verschiedenen Freunden begrüßt, auf deren politisches Urteil Feuchtwanger Wert legte; und so schienen ihm durch diese “Schicht” seine Werke legitimiert. Sein Schwerpunkt lag darin, historisch-dramatische Unterhaltungsromane von einer bestimmten Traditionslinie und Machart zu verfassen, die ihm Freude machte, wiewohl sie im Ruf stand, überholt und nicht sehr anspruchsvoll zu sein. Die positive Begutachtung seines literarischen Verfahrens namentlich durch Zweig und Brecht sind zur Erklärung seiner Entwicklung 27
So z.B. Ludwig Marcuse in Mein zwanzigstes Jahrhundert. A.a.O. S. 280. Theodor Lessing: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen. München 1916. 29 Lion Feuchtwanger und Arnold Zweig: Briefwechsel. Berlin, Weimar 1984. Bd. I. S.143. 28
261 nicht unwichtiger als der kommerzielle Erfolg, den Marcel Reich-Ranicki etwas einseitig betont hat. Was Reich-Ranicki in jenem älteren Aufsatz schrieb, gehört zum Besten und Treffendsten, was über Feuchtwanger gesagt wurde. Er unterschätzt Feuchtwanger aber, wenn er mutmaßt, er sei “vom leichten Ruhm korrumpiert”30 worden. “Die außerordentlich hohen Auflagen [...] in vielen Ländern,” so Reich-Ranicki, hätten “seine künstlerische Selbstkontrolle auf fatale Weise reduziert.”31 Leicht war der Ruhm jedoch nicht, und wenn man den pekuniären Ertrag seiner Lebensleistung untersucht, sollte man auch der langen Jahre in Dürftigkeit Erwähnung tun, in welchen Feuchtwanger mit weniger marktgängigen Dichtungen kein Auskommen finden konnte. Der Wortlaut der Buch- und Theaterkritiken, die er vor allem in seinen Anfängen schrieb, zeigen ihn als einen Mann von einiger Klarheit, was den Komplex von Kunst, Konvention und Kitsch angeht. Die folgende Formulierung aus einem programmatischen Aufsatz von 1927 legt nahe, daß sich der Schriftsteller bewußt für das Schreiben von Büchern entschieden hatte, die sich verkaufen ließen. Döblin und Brecht, hieß es da, schlügen sich in eigenbrötlerischer Bastelei mit “Formproblemen” herum, “die für das übrige Europa keine Probleme sind.” Deshalb hätten sie Schwierigkeit, Weltgeltung zu erlangen.32 – Auch in Feuchtwangers Dissertation über Heinrich Heines Rabbi von Bacherach33 finden sich kritische Anmerkungen zum Typus des zeitsatirisch gewendeten historischen Romans, die sich wie die Karikierung seines eigenen Konzepts in späteren Jahren lesen und belegen, daß er keineswegs zu naiv war, das Problematische dieses Konzepts zu erkennen. Als eine Persiflage des Eigenen nimmt sich folgende Assoziationskette zur Typologie des historischen Romans aus: “Man denkt an Ben Hur, an den Grafen von Monte Christo, an gewisse historische Filme, man hat die Vorstellung: Abenteuer, Intrigen, Kostüm, dicke, bunte Farben, pathetisches Gerede, Vermengung von Politik und Liebe [...].”34 Zum Zweck der Abgrenzung führt er mit Ben Hur und Monte Christo nur Paradigmen schlechtester Reputation auf. Für ihn selber war Conrad Ferdinand Meyer von großer Wichtigkeit. Eine Untersuchung der Einflüsse von Meyers 30
Marcel Reich-Ranicki: Lion Feuchtwanger oder Der Weltruhm des Emigranten. A.a.O. S. 454. 31 Ebd. 32 Lion Feuchtwanger: Die Konstellation der Literatur. In: Ein Buch...; A.a.O. S. 408-410, hier S. 409. 33 Lion Feuchtwanger: Heinrich Heines “Der Rabbi von Bacherach“. Eine kritische Studie. [Phil. Diss. München 1907]. Frankfurt a.M. 1985. 34 Lion Feuchtwanger: Vom Sinn und Unsinn des historischen Romans. A.a.O. S. 494.
262 Werk auf Feuchtwanger steht noch aus, wäre aber von großem Interesse. Selbstverständlich gehört auch Walter Scott zu den Anregern Feuchtwangers. “Ich für mein Teil”, betonte Feuchtwanger in Paris in einem Satz so schlicht, daß man sein Gewicht unterschätzen mag, “gestehe, daß ich den historischen Roman leidenschaftlich liebe.”35 Im Alter, im Desdemona Frag ment verriet er, daß er als Kind Serienromanheftchen wie etwa Der Adjutant der Kaiserin “bäuchlings auf einer Wiese liegend” verschlungen habe.36 Zu dieser Liebe kehrte er immer entschiedener zurück. Man sollte Darlegungen Feuchtwangers wie die, daß er den Weg eines Mannes vom Tun zum Nichttun erst an Walter Rathenau habe zeigen wollen, gescheitert sei, und dann erst in die Geschichte gegriffen habe und auf den Juden Süß verfallen sei, nicht überbewerten. Ihm lagen diese Stoffe, vor allen anderen die aus dem antiken Rom, dem Spanien der Maurenzeit und der Aufklärungsepoche. Ihm lag der historische Roman, er liebte ihn, und auch die Leser ziehen ihn vor. So ist denn der Weg Feuchtwangers von München nach Berlin, nach Frankreich und ohne Rückkehr an die kalifornische Westküste komplizierterweise dreisträngig. Es ist der Weg des Exils, der Flucht vor den Nazis. Es ist aber auch der Weg zu einer immer moderneren Berufsübung als Autor. Klaus Modick porträtierte ihn in verschiedenen Veröffentlichungen als entauratisierten Poeten, als Produzenten und erfahrenen Agenten in eigener Sache.37 Obwohl man die Fremdbestimmung und die Zumutungen des Exils scharf im Auge behalten muß, hat das Bild des in kalifornischer Villa mit zeitgemäßen Methoden arbeitenden Bestseller-Autors, der sich auf dem Weltmarkt bewährt, für die heute jungen Schreibenden große Attraktivität. Es war aber drittens und gleichzeitig auch der Weg in die Exterritorialität, in die Zurückgezogenheit und den trotzigen Umgang mit seinen immer wieder beargwöhnten historischen Vorlieben. Wulf Koepke hat auf den Verlust der “kulturellen Atmosphäre Berlins mit ihrer Wechselwirkung von Autor und Kritik” hingewiesen, um die abschüssige Entwicklung von Feuchtwangers Werk zu erklären.38 Man kann es auch umgekehrt sagen: Mit seiner an sich unfreiwilligen, von Terror, Enteignung und Lebensgefahr erzwungenen Ansiedlung an der Côte d'Azur und erst recht in Pacific Palisades war er denkbar fern von allen den lästigen Anfragen, 35
Ebd. Lion Feuchtwanger: Das Haus der Desdemona oder Größe und Grenzen der historischen Dichtung. München, Wien 1984. S. 25. 37 Vgl. besonders: L.F. als Produzent. Über die kuriosen, eigentümlichen, ja wunderlichen Methoden des Dr. Feuchtwanger. In: text + kritik 79/80. A.a.O. S. 5-18. 38 Wulf Koepke: Lion Freuchtwanger. A.a.O. S. 60. 36
263 Rundbriefen und hartnäckigen Besuchern, die ihn an seiner eigentlichen Arbeit hinderten und über die seine Korrespondenz Klage führte. In Der Teufel in Frankreich besingt Feuchtwanger sein südfranzösisches Heim, zu dem er stets gerne von gelegentlichen ungeliebten Treffen in Paris zurückkehrte, als ein Idyll zwischen Weinbergen, in welchem er in der ruhigen Gesellschaft von Katzen sein belletristisches Werk lebte.39 Einmal in jenen Jahren, erinnert sich Ludwig Marcuse, als die politische Gerüchteküche wieder besonders hochkochte, kam die Exilantenszene in Sanary abends hektisch zusammen, doch Feuchtwanger lag um neun im Bett und las Plutarchs Philosophen und Regenten.40 So muß die Spekulation erlaubt sein, ob Lion Feuchtwanger, wäre das Naziregime früher und anders geendet und hätte ihn der Krieg nicht noch weiter vertrieben, nicht schon aus Frankreich nicht mehr zurückgekehrt wäre. Wie verträgt sich seine Selbststilisierung, in deren Zusammenhang Feuchtwanger gelegentlich sogar niederschrieb, er sei an Politik durchaus nicht interessiert, mit dem Bild des politischen Schriftstellers, der er auch war? Der berühmte Dreischritt, der seine Künstlergestalten auf dem “argen Weg der Erkenntnis” regelmäßig führt: ästhetizistisches Frühwerk; sodann Dilettieren in der Politik; zuletzt: sinnvolle Erfüllung in der Synthese, durch die Kunst und nur durch sie politisch-aufklärerisch zu wirken, ist seinem Selbstverständnis nach auch sein Entwicklungsroman. Problematisch stellt sich daran einzig das für seine späten Jahre so charakteristische Schweigen zu politischen Mißentwicklungen dar, deren Anfänge in der Sovietunioner Mitte der dreißiger Jahre so deutlich unterstützt hatte. Daß er dem unerfreulichen “Kram,”41 den Zweig ihm aus dem geteilten Berlin berichtete, fernzubleiben vorzog, ist allerdings verständlich. So ist Kurt Hillers Eskapismus-Vorwurf 42 und Hans Mayers Idee, das Exil erkläre sein ungesegnetes Spätwerk, zuletzt doch berechtigt. Nur floh er nicht “feige”43 in die Produktion gängiger historischer Romane, sondern sie waren sein Eigentliches, worauf er für sein letztes Lebensdrittel bestand und für das ihm – merkwürdig genug – die Exterritorialität seines Exils zustatten kam.
39
Lion Feuchtwanger: Der Teufel in Frankreich. Erlebnisse. Tagebuch 1940. Briefe. Berlin, Weimar. 2. erw. Aufl. 1992. S. 13, 17f. und passim. 40 Ludwig Marcuse: Mein zwanzigstes Jahrhundert. A.a.O. S. 184. 41 Vgl. im ganzen meinen Aufsatz: Der Weltbürger als Staatenloser. Über die Aporien des späten Feuchtwanger. In: Neophilologus (Amsterdam) 78 (1994). S. 289-300. 42 Kurt Hiller: Profile. Prosa aus einem Jahrzehnt. Paris 1938. S. 236f. 43 Ebd.
Jörg Thunecke
Der große Einschnitt: Drei Exil-Gedichte Erich Frieds aus den frühen 40er Jahren This article analyzes three of Erich Fried’s exile poems written in the early forties:‘Das Verstehen’ [May 1942], ‘Aufruf’ [October/November 1943], and‘Dichter in Deutschland’ [January 1944], in order to demonstrate the relationship between the thematic and aesthetic potential of the young poet in British Exile. The analysis concludes that these poems do not give evidence of a distinctive aesthetic of exile at the formal level − at least not before a traumatic personal experience in mid-October of 1943 (Hans Schmeier’s suicide) which led to the artist’s breaking with the communist exile organizations in London. However, the poems are characterized by an ambitious thematic structure and a highly individualistic and distinctive treatment of common exile themes. Heul mit den Woelfen, sonst wirst du zum Opferlamm.1
Im Nachlaß Erich Frieds (1921-1988) befindet sich ein im Mai 1942 entstandenes, sowohl inhaltlich als auch ästhetisch interessantes Gedicht, das der Autor – erstaunlicherweise – weder vor noch nach 1943 in eine seiner Gedichtsammlungen aufgenommen hat, obwohl es dort – insbesondere in dem 1986 erschienenen Band Frühe Gedichte – sicher einen würdigen Platz gefunden hätte: 2 Das Verstehen Sein tiefstes Gesetz schreibt sich jeder allein, zieht die Summe der Zeit und der Welt. Er bestimmt seinen Platz und er reiht sich ein. Am Ende entscheidet ein jeder allein in welche Front er sich stellt. So suchte ich lang meinen Weg in die Zeit, so fand ich Genossen und Pflicht zum Kämpfen und Arbeiten war ich bereit, ich begriff, es geht um das Glück unsrer Zeit, − 1
Erich Fried: ‘Aus der Weisheit des Antichrist’ vom 1.1.45 (unveröffentlicht/ ÖLA). 2 Erich Fried: Frühe Gedichte. Düsseldorf 1986.
266 ich verstand, doch ich fühlte noch nicht. Tief in sich spürt jeder nur, was er erlebt, Begriffe machen oft müd. Ich war für das Leben zu kämpfen bestrebt, für Freude und Liebe, die ich nicht erlebt, − und mein Wort hat drum selten geglüht. Mein Wille war gut, doch mein Blick war zu eng, und mein Vers blieb oft trocken und leer. Die Richtung war richtig, der Vorsatz zu streng − Theorie, Theorie! Denn mein Blick war zu eng, nicht mild, wie die Früchte und schwer. Denn nur aus dem Vollen wächst Wort und Verstehn, aus dem Kuss, aus dem Kampf, aus dem Wind. Ich sah wohl die Menschen voruebergehn, ich konnte die Menschen im Leid verstehn, − Aber nicht, wenn sie glücklich sind. Ich wusste das niemals, bevor ich dich traf, ich hätte es auch nicht geglaubt. Ich tat meine Pflicht und mein Schreiben schien brav, und nun erst, nun erst, seitdem ich dich traf, seh ich: Vieles war matt und verstaubt. Denn das Glück kann beschreiben nur der, der es kennt, und die Hoffnung nur der, der sie fühlt. Denn das Lied lässt uns kalt, dessen Sänger nicht brennt, der den Preis seines Liedes, der das Leben nicht kennt, und den Kuss, der die Stirne ihm kühlt. Wir stehn an der Schwelle, wir gehen in den Tag in den Kampf und ins Leben hinein, der Schleier zerriss, der so schwer auf uns lag, wir sehen euch heller am leuchtenden Tag, und erst jetzt sind wir nicht mehr allein. Denn Glück macht nicht einsam. Es gibt für die Zeit und, Genossen, für euch uns mehr Mut. Zwei stärkere Herzen sind euch jetzt geweiht, denn der Kampf um ihr Glück wird zum Kampf um die Zeit, − und Genossen! – wer so kämpft, kämpft gut!3
3
Im Fried-Nachlaß im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (= ÖLA) mit dem Entstehungsdatum Mai 1942; Dr. Volker Kaukoreit (Wien) sei an dieser Stelle gedankt für die Hilfe bei der Bereitstellung von Materialien im ÖLA, Dr. Kurt Gronewold (Hamburg), Erich Frieds Nachlaß-Verwalter in juristischen Angelegenheiten, für die Genehmigung zum Abdruck dieser Materialien.
267 Dieses fünfstrophige Gedicht gewährt nicht nur einen guten Einblick in Frieds ästhetische Position im englischen Exil zu Beginn der 40er Jahre, sondern spiegelt zugleich seine politische Entwicklung während dieses Zeitabschnitts wider, vom Engagement, als ein kommunistischen Exilorganisationen in Großbritannien affiliierter Dichter,4 zum allmählichen Degagement im literarischen Bereich.5 In der ersten Strophe dieses Gedichts sucht das lyrische Ich – daß zweifelsohne dem des Autors gleichzusetzen ist – zunächst gleichgesinnte Genossen, reiht sich, nachdem es sie gefunden hat, in deren Bewegung ein und bemüht sich ernsthaft – obwohl mehr verstandes- als gefühlsmäßig – um die Schaffung einer besseren Zukunft. Aber bereits in der zweiten Strophe – die in diesem Zusammenhang besonders wichtig ist – verleiht es seiner Frustration über die Leere der politischen Dogmen Ausdruck, die verhindern, daß poetische Tiefen ausgelotet werden können (I, 6-9). Der Durchbruch, ausgelöst durch eine Liebesaffäre, erfolgt dann in der dritten Strophe, bedingt durch die Erkenntnis, daß viele seiner früheren lyrischen Erzeugnisse wertlos sind (III,10). Bloße politische Theorien (II,9) lassen die Menschen nämlich kalt, und lediglich echte Gefühle – wie Glück, Hoffnung, Liebe – können die Grundlage wahrer Dichtung sein: “Denn das Lied lässt uns kalt, dessen Sänger nicht brennt” (IV,3). Daraus wird in der letzten Halbstrophe die Schlußfolgerung gezogen, zwei liebende Herzen seien eine erfolgversprechendere Basis für den Kampf um eine bessere Zukunft als einsame, auf sich allein gestellte Streiter (V,4-5).6 Das heißt, es werden im Rahmen eines politischen Liebesgedichtes7 – einer eher ungewöhnliche Ausformung des Genres Liebeslyrik (vgl. dazu 4
D.h. die zunehmende Einbindung von Frieds Lyrik in das ‘Austrian Centre’ und den FDKB (vgl. Volker Kaukoreit: “Vater tot, Mutter im Kerker, und ich im nebligen England” oder “Das ist des Emigranten Lied”. Resümierende Betrachtungen und ausgewählte Nachträge zu den literarischen Anfängen Erich Frieds bis 1945. In: Deutschsprachige Exillyrik von 1933 bis zur Nachkriegszeit. Hrsg. v. Jörg Thunecke. Amsterdam-Atlanta 1998. S. 259-274, hier S. 268.). 5 Vgl. Hanjo Kesting: Anläufe und Anfechtungen. Gespräch mit Erich Fried. In: Ders.: Dichter ohne Vaterland. Gespräche und Aufsätze zur Literatur. Berlin, Bonn 1982. S. 29. 6 Vgl. dazu auch die vier letzten – bedeutsamen – Zeilen der abschließenden Strophe des zweiten Teils eines unbetitelten, dreiteiligen Gedichts vom 7.6.1942 (unveröffentlicht/ÖLA): Einsame Menschen erstarren leicht in der Arbeit, Fröstelnd flieht das Leben aus ihren Begriffen, Und sie werden stumpf, und arm, und wirken nichts Gutes: Nur wer das Leben versteht, kann unsre Arbeit verstehn. 7 Laut Tagebuch (S. 8) heiratete Erich Fried Maria Marburg am 15.1.1944, ihr gemeinsamer Sohn Hans wurde allerdings bereits am 1.5.1944 geboren, d.h. Mitzi
268 Frieds Sammlung Liebesdichtung aus den späten 70er Jahren)8 – in unzweideutiger Sprache (und bereits relativ früh) all jene Aspekte zur Sprache gebracht, die anderthalb Jahre später zu seinem Bruch mit den kommunistischen Exilorganisationen in England führen sollten: Ideologieversessenheit und übertriebene Begrifflichkeit basierend auf den Theorien des dialektischen Materialismus, wie sie von den marxistisch-stalinistisch orientierten Kadern der deutschen und österreichischen Exilkommunisten in London praktiziert wurden, unter völliger Hintanstellung persönlicher Belange und Probleme.9 Mit anderen Worten, Erich Frieds Einwände in ‘Das Verstehen’ gegen das bei ‘Young Austria’ – und innerhalb des ‘Free Austrian Movement’ (FAM) generell – praktizierte System politischer Gängelei waren grundlegender Natur; und weil diese Widersprüche bereits lange vor Herbst 1943 ziemlich weit gediehen waren, hätten sie bestimmt dazu beitragen können, den Freitod seines Freundes Hans Schmeier (1925-1943) – der mit ähnlichen Problemen kämpfte – zu verhindern, wenn Fried sich diesem offenbart hätte. Da er dies jedoch scheinbar nicht getan hat, wurde er indirekt mitschuldig an dessen Selbstmord Mitte Oktober 1943, der dann bei ihm selbst die große Krise auslöste.10 Der Bruch mit den kommunistischen Exilorganisationen im Spätherbst 1943 verlief – wie eigentlich nicht anders zu erwarten – parallel mit einer generellen Richtungsänderung im lyrischen Schaffen Erich Frieds, ein Einschnitt,11 der sich inhaltlich in etlichen Gedichten ab Ende 1943 aufzeigen läßt, ästhetisch jedoch keine großen Konsequenzen zeitigte. Zwar stand der Autor der antifaschistischen Bewegung auch weiterhin nahe, wie zahlreiche Gedichte in zwei 1944/46 veröffentlichten Sammelbänden
war bereits seit Ende Juli/Anfang August 1943 schwanger; es ist daher anzunehmen, daß das Gedicht ‘Das Verstehen’ die Anfänge der Liebesbeziehung zwischen Fried und Marburg widerspiegelt; vgl dazu auch das in Anm. 20 erwähnte ‘Liebesgedicht in den ersten Reihen’ von März 1943. 8 Erich Fried: Liebesdichtung. Berlin 1979. 9 Vgl. dazu Volker Kaukoreit: Frühe Stationen des Lyrikers Erich Fried. Darmstadt 1991. S. 69-160, sowie Jörg Thunecke: “Sein tiefstes Gesetz schreibt sich jeder allein”: Erich Frieds Exillyrik vor und nach dem 13. Oktober 1943. In: Exil 9 (1999). H. 1. S. 102-24; einige Passagen aus diesem Beitrag sind hier stark gekürzt und überarbeitet übernommen worden. 10 Laut Kaukoreit, Frühe Stationen. A.a.O. S. 56 waren “[d]er Freitod Hans Schmeiers, die strenge und dogmatische Funktionärsleitung […] und das Vorbild eines FDKB-Mitglieds [d.h. Hans Flesch-Brunning/JT]” die konkreten Anlässe für Frieds Handlungsweise. 11 Steven W. Lawrie (Erich Fried. A Writer Without a Country. New York 1996. S. 39.) spricht von einem ‘turning point’ im lyrischen Schaffen Frieds.
269 beweisen,12 ging aber nach den einschneidenden Erlebnissen von Mitte Oktober 1943 künstlerisch zunehmend seine eigenen Wege. Formal zeichnet sich ‘Das Verstehen’ – eingedenk des im Genre ‘politische Liebeslyrik’ verankerten doppelten Ansatzes – durch eine Zweiteilung aus, wobei die ersten beiden Strophen auf Positionssuche (Stellungnahme zu und Abrechnung mit den Parteigenossen) ausgerichtet sind, die beiden folgenden hingegen auf Neuorientierung (Liebesglück gekoppelt mit Wandel der politischen Einstellung). Dabei werden in diesem Friedschen Gedicht – mit Ausnahme der abschließenden Halbstrophe – jeweils zwei fünfzeilige Strophen zu einer zehnzeiligen verklammert, wofür ein für derartige Verse traditionelles Reimmuster (abaab/cdccd) mit wechselnden 3- bzw. 4-hebigen Anapästen adoptiert wurde, bei durchgehend männlichem Zeilenausgang. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß der junge Fried in keine der zahlreichen Fallen tappte, die – laut Wolfgang Kayser13 – bei diesem Verstypus auf den unbedachten Dichter lauern: denn weder fehlt hier in der jeweils dritten Zeile ein Ritardando, d.h. eine Verzögerung, das der abschließenden fünften Zeile zusätzliches Gewicht verleiht, noch wird – mit einer entschuldbaren Ausnahme (I,3) – der Fehler begangen, mit einem lähmenden Satzschluß in der dritten Zeile den retardierenden ‘Trugschluß’, der ansonsten in der anschließenden fünften Zeile aufgehoben wird, zu verhindern; ferner wird die durchgehende Variierung der Zeilenlänge (4-3-4-4-3) im Rhythmus des obengenannten Reimmusters beibehalten, und lediglich der Wechsel von männlichen und weiblichen Zeilenausgängen fehlt ganz. Obwohl Fried somit dem Gedicht ‘Das Verstehen’ ein ziemlich ungewöhnliches Genre zugrunde legte, waren seine ästhetischen Mittel – trotz formvollendeter Ausbildung – eher traditioneller Art. Nicht eine spezifische Exilästhetik – wenn es die denn überhaupt gegeben hat – lenken also das kritische Interesse auf dieses Gedicht, wohl aber dessen inhaltliche Aspekte, die – wie bereits oben angedeutet – auf eine ideologische Auseinandersetzung im literarischen Bereich mit der kommunistischen Führung von ‘Young Austria’ hindeuten. Nun ist zwar geläufig, daß sich Fried relativ schnell marxistisch-leninistischen Organisationen in London anschloß (I,7)14 und anfänglich sogar an der politischen Arbeit für diese 12
Vgl. dazu z.B. ‘Den Erben der Gerechten.’ In: Deutschland. London 1944. S. 24 bzw. ‘Wiegenlied fuer jene die guten Willens sind.’ In: Oesterreich. Zürich 1946. S. 11, das im Konzept bezeichnenderweise ‘Wiegenlied fuer junge Kommunisten’ hieß (ÖLA). 13 Vgl. Wolfgang Kayser: Kleine deutsche Versschule. 6. Aufl. München 1958. S. 44-46. 14 Steven W. Lawrie: Erich Fried. A.a.O. S. 26 ist der Meinung, daß “Fried’s work at this stage [was] heavily influenced by the ideological necessities of the day”;
270 Verbände eine gewisse Befriedigung fand (I,8);15 wenig bekannt war jedoch bisher, wie früh er die ideologischen Richtlinien seiner Kaderleitung als Zwangsjacke empfand (“Begriffe machen oft müde” [II,2])16 und wie stark er durch den Konflikt zwischen politischer und literarischer Loyalität, der ja den gesamten ‘sozialistischen Realismus’ jahrzehntelang in Mitleidenschaft zog, geprägt wurde (“und mein Vers blieb oft trocken und leer” [II,7]). Denn diese, seit dem 1. Sowjetischen Schriftstellerkongreß 1934 geführte Debatte konzentrierte sich ja nicht eigentlich auf ästhetische Theorien, sondern war eher eine Zweckbestimmung der Literatur als politisch-ideologisches Beeinflussungsmittel, ein Mittel zur Festlegung auf den Klassen- und Parteistandpunkt und die Einschränkung der Freiheit und Vielfalt künstlerischer Aussagemöglichkeiten und Ausdrucksformen.17 Äußerst gekonnt, gleichwohl wenig innovativ, war daher die Art der ästhetischen Umsetzung inhaltlicher Schwerpunkte: So wird im ersten Teil dieses Gedichts – abgesehen von der einführenden Halbstrophe, wo noch absolute Gewißheit vorherrscht und daher kein Trugschluß möglich war (“Er bestimmt seinen Platz und er reiht sich ein” [I,3]) – mittels Ritardando eine Retardierung in der jeweiligen dritten Zeile erzielt, die dann zwei Zeilen später ihre Auflösung erfährt, wie etwa in der Koppelung von den Zeilen I,8 und I,10: “zum Kämpfen und Arbeiten war ich bereit / […] ich verstand, doch ich fühlte noch nicht [Hervorh. JT].” Ganz allgemein gesprochen – dies wird in der zweiten Hälfte der zweiten Strophe gleich doppelt betont (“mein Blick war zu eng” [II,6 & II,9]) – erhob Fried durch eine derartige Gegenüberstellung von Verstand und vgl. ferner Kaukoreit: Frühe Stationen. A.a.O. S. 50-51. 15 Laut Lawrie (Erich Fried. A.a.O. S. 15.) war Fried “a very enthusiastic member of both Young Austria and the KJV”, wobei er jedoch “[b]ei allem Enthusiasmus für die kämpferische Sache [...] unter der Dogmatik und den einengenden Disziplinvorschriften der Verbandsfunktionäre nachhaltig gelitten [hat]” (Kaukoreit: “Vater tot, Mutter im Kerker,.. ” A.a.O. S. 270.) u. die Kulturarbeit im KJVÖ letztendlich als Instrument psychologischer Kriegsführung verstanden werden muß (vgl. Kaukoreit: Frühe Stationen. A.a.O. S. 49.). 16 Vgl. dazu auch Helene Maimann: Politik im Wartesaal. Österreichische Exilpolitik in Grossbritannien 1938 bis 1945. Wien, Köln, Graz 1975. S. 78, die betont, daß die ideologischen Grundfragen innerhalb der von Engstirnigkeit und Oberflächlichkeit bestimmten Kader oktroyiert wurden. 17 Vgl. Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. 7. Aufl. Stuttgart 1989. S. 870: “Die Gefahren des s[ozialistischen] R[ealismus], die z.T. von seinen Trägern selbst erkannt w[u]rden, liegen im Schematismus, der Eintönigkeit der Lit[eratur] durch Ausschaltung aller anderen Richtungen und Techniken, der Konfliktlosigkeit [...], in stereotyper Schwarz-Weiß-Zeichnung, Neigung zur ideolog[ischen] Sentimentalität und reportagehaft oberflächlicher, photog[raphischer] Wirklichkeitswiedergabe.”
271 Gefühl schwerwiegende Vorwürfe gegen die einseitige politische Ausrichtung der kommunistischen Funktionäre von ‘Young Austria’, die in der zweiten Hälfte des Gedichts mittels dezidierter Kontrastierung unfruchtbarer theoretischer Erörterungen einerseits und Lebensbejahung andererseits zusätzlich betont werden: “Denn nur aus dem Vollem wächst Wort und Verstehen” (III,1). Anlaß für diesen Umschwung in Frieds Einstellung war – wie bereits erwähnt – eine Liebesbeziehung, die den Dichter erkennen ließ: “erst […] seitdem ich dich traf, / seh ich: Vieles war matt und verstaubt” (III,9-10); “[d]enn das Glück kann beschreiben nur der, der es kennt,/ und die Hoffnung nur der, der sie fühlt.” (IV,1-2) Allerdings werden die ideologischen Zweifel in der das Gedicht abschließenden Halbstrophe teilweise – wahrscheinlich aus rein pragmatischen Gründen18 – wieder zurückgenommen: denn immer noch steht der Kampf um die Zukunft, d.h. der Kampf gegen den Faschismus, im Vordergrund. Lediglich andere Ausprägungen hat dieser Kampf angenommen, der nun nicht mehr so sehr vom gemeinsamen politischen Endziel, sondern vielmehr von persönlichen Zielsetzungen geprägt ist: “denn der Kampf um ihr Glück wird zum Kampf um die Zeit” (IV,4). Hierin manifestiert sich in der Tat – ob durch tatsächliche oder nur fiktive Umstände bedingt, sei dahingestellt (vgl. Anm. 7) – eine wesentliche Änderung in der politischen Einstellung des jungen Erich Fried, die nicht länger von objektiven, sondern von subjektiven Gesichtspunkten gekennzeichnet ist:19 gekämpft wird zwar weiterhin – und härter und besser denn je, so zumindest die neue Devise −, aber in erster Instanz für das eigene Glück, und erst in zweiter für das Gemeinwohl. Und die Begründung für diese veränderte Einstellung wird in der das Gedicht abschließenden Zeile auch gleich mitgeliefert, wo es dann voller Optimismus heißt: “wer so kämpft, kämpft gut!” (V,5)20 18
Dies träfe zu, falls Fried dieses Gedicht damals zur Veröffentlichung vorgesehen hatte; denn laut Lawrie: Erich Fried. A.a.O. S. 28: “[he was] complying with ideological directives for the sake both of finding a public and of retaining the substitute for home he had found within the exile organisations in London”; außerdem gilt, daß Parteiaustritt zu Denunzierungen – sowohl innerhalb der Bewegung (vgl. Kaukoreit: Frühe Stationen. A.a.O. S. 56.) als auch bei den englischen Behörden (vgl. Lawrie: Erich Fried. A.a.O. S. 16.) – geführt hätte (vgl. dazu z.B. die negativen Erfahrungen des Lyrikers Jesse Thoor. In: Jesse Thoor: Das Werk. Sonnette. Lieder. Erzählungen. Hrsg. v. Michael Hamburger. Frankfurt a.M. 1966. S. 27.). 19 Laut Lawrie (Erich Fried. A.a.O. S. 15.) galt bereits zu diesem Zeitpunkt, daß für Erich Fried ‘people not ideas’ ausschlaggebend waren. 20 Vgl. dazu auch das ebenfalls unveröffentlichte Gedicht ‘Liebeslied in den ersten Reihen’ vom 9.3.1943 (ÖLA), wobei hier ‘Heer’ nicht unbedingt wörtlich zu verstehen ist:
272 Wird also bereits in dem aus der ersten Jahreshälfte 1942 stammenden Gedicht die Änderung in der politische Einstellung des jungen Erich Fried deutlich sichtbar, welche dann anderthalb Jahre später – als Konsequenz der einschneidenden Ereignisse vom Herbst 1943 – ihren vorläufigen Höhepunkt erreichen sollte, so fand diese Entwicklung kaum ein Echo im ästhetischen Bereich. Denn obwohl Fried es sich mit seiner Entscheidung, in Zukunft eigene künstlerische Wege, ohne Bevormundung durch kommunistische Funktionäre wie Fritz Walter,21 zu gehen, keineswegs leicht machte, fand diese Selbständigkeit hauptsächlich Ausdruck im inhaltlichen Bereich und führte – trotz allem handwerklichem Können (wie ja das obige Gedicht beweist) – kaum je zu innovativen künstlerischen Formen. Diese Tatsache wird besonders gut ersichtlich in einem Schlüsselgedicht aus dem Zeitraum kurz nach dem 13. Oktober 1943, das sich – bei aller ästhetischen Abgedroschenheit – durch einen selbstquälerischen, ja verzweifelten Ton, auszeichnet, den es bisher bei Fried so nicht gegeben hatte: Aufruf Du hast mich wachgeküsst, Schwester im Heer. Wenn ich jetzt sterben müsst, wär es mir schwer. [...] Sonst hats vor jedem Tag Fast mir gegraut; Jetzt, wenn ich ‘Leben’ sag, klingt es mir laut. Was es an Opfern gibt, lern ich verstehn: Weil man das Leben liebt, sterben zu gehn. Oft, wenn dein Blick mich misst, denk ich ans Heer. Weil du mir sehr viel bist, sei es mir mir! […] Du hast mich wachgeküsst, Schwester im Heer. Wenn ich jetzt sterben müsst, wär es mir schwer. 21 Vgl. dazu Volker Kaukoreit: “Vater tot, Mutter im Kerker,... ” A.a. O. S. 272273, sowie Jörg Thunecke: “Sein tiefstes Gesetz... ” A.a. O. S. 102- 124.
273 Ueberall die gleichen Luegen, Zwangssystem auf allen Seiten! Bruder, darfst dich doch nicht fuegen, Bruder, musst zur Abwehr schreiten. Keine fernen Theorien, − Sieh, es gilt dein eignes Leben; Musst die rechte Antwort geben, musst die rechten Schluesse ziehen. Sieh, wie sie im Anschlag liegen, wie sie unsre Welt verheeren! Bruder, wenn wir jetzt nicht siegen kann es wieder Jahre waehren, − Bruder, lass dich nicht bekehren, Bruder, lass dich nicht vertroesten. Sieh das Heer der Unerloesten, hoer die Sklavenketten klirren! Guten, allerneusten Stahl den sie gegen d i c h jetzt schmieden. − Frondienst – Freiheit, Weltkrieg – Frieden, Tod und Leben! – Dein die Wahl! Bruder, alles sonst ist nichtig! Bruder, bist doch bei Verstand, hast doch Waffen. – Brauch sie richtig, Nimm dein Schicksal in die Hand.22
Rein formal findet die Abgedroschenheit dieses Gedichts ästhetisch Ausdruck in sogenannten Volksliedstrophen,23 einem Versmuster, das den Deutschen zwar seit der Romantik besonders vertraut ist – und im Trend zum neuromantischen Traditionalismus, dem auch Fried in seiner frühen Lyrik huldigte, seine Fortsetzung fand24 −, jedoch aus eben diesem Grunde meist jedwede Ursprünglichkeit eingebüßt hat.25 Sechs sich aus jeweils vier 22
ÖLA (leider nicht eindeutig datierbar). Wolfgang Kaiser: Versschule. A.a.O. S. 40. 24 Hanjo Kesting: Anläufe und Anfechtungen. A.a.O. S. 43. 25 Fried hat sich in diesem Fall nicht – wie in ‘Jugend’ zweieinhalb Jahre früher – der sogen. ‘Chevy-Chase’-Form bedient, die – der angelsächsischen Tradition verpflichtet – wesentlich innovativer ist. Vgl. Gerhard Lampe: “Ich will mich erinnern an alles was man vergißt.” Erich Fried – Biographie und Werk eines ‘deutschen Dichters’. Überarb. Neuausgabe. Frankfurt a.M. 1998. S. 69. 23
274 Volksliedzeilen zusammensetzende Strophen, zur einen Hälfte traditionellen Kreuzreim (abab), zur anderen umarmenden Reim (abba) verwendend, schließen sich zu einem Muster der Form xyxyyx zusammen, wobei durchgehend vierfüßige Jamben und weibliche Zeilenausgänge zur Anwendung kommen. Dieses Versmuster, das – wie Kayser betont – keine großen Aufgipfelungen und keine starke Erregtheit erlaubt, sondern lediglich liedhafte Gefühlsäußerungen wiedergibt, steht in eklatantem Widerspruch zum Inhalt des Gedichts, das auf äußerst komprimierte Weise und rein verstandesgemäß Erich Frieds damaligen politischen Standpunkt zusammenfaßt und Direktiven für künftige Verhaltensweisen erteilt. Wie im Falle der vierten Strophe des im Mai 1941 im Zeitspiegel (London) veröffentlichten Gedichts ‘Wir lieben das Leben…’,26 verschanzte sich Erich Fried in seiner frühen Lyrik des öfteren – wohl meist aus pragmatischen Gründen – hinter einer gewissen Zweideutigkeit, was den schottischen Kritiker Steven Lawrie zu dem Kommentar veranlaßte: “It is altogether possible to interpret ‘jene’ as the National Socialists in Germany and Austria. It is equally possible to insert a different variable and interpret the enemy from the point of view of the Communists as the enemies of democracy and socialism everywhere (...).”27 Trotz – bzw. wegen – einer derartigen Doppeldeutigkeit sah Fried daher Mitte/Ende 1941 scheinbar keinen Anlaß, dieses Gedicht unveröffentlicht zu lassen,28 welches – laut Lampe – eine ‘bizarre Nachgeschichte’ hatte. Weil diese Strophen nämlich so liedhaft und abstrakt geraten waren, “eignete[n] [sie] sich auch für andere Zwecke als damit das Selbstverständnis des Antifaschismus im Exil kundzutun” und fanden dann in verschiedenen Liederbüchern der Freien Deutschen Jugend der DDR Eingang, in der Vertonung von Frieds Freund André Asriel.29 Aus ähnlichem Grunde brauchen deshalb auch die einführenden Zeilen (“Ueberall die gleichen Luegen, / Zwangssystem auf allen Seiten!” (I,1-2), sowie die dritte Strophe von Frieds über zwei Jahre später entstandenem Gedicht ‘Aufruf’ keines26
Wir lieben die Menschen! – Doch jene nicht, die andre nicht frei leben lassen. Wir kämpfen, daß ihre Herrschaft zerbricht. Weil wir lieben, müssen wir hassen! [Hervorh. JT] (Werbeblatt des Jungen Österreich. In: Der Zeitspiegel 3 [11.5.41]. Nr. 18). 27 Steven W. Lawrie: Erich Fried. A.a.O. S. 23. 28 Dieses Gedicht wurde später umbenannt in ‘Jugend’ (vgl. Die Vertriebenen. Dichtung der Emigration. Hrsg. v. Albert Fuchs. London 1941. S. 35); die Manuskript-Version (im ÖLA) aus dem Frühjahr 1941 trägt allerdings bereits den Titel ‘Jugendlied’. 29 Gerhard Lampe: “Ich will mich erinnern .. ”. A.a.O. S. 71.
275 wegs ausschließlich als Aufruf gegen den Faschismus verstanden zu werden, sondern man kann sie als beißende Kritik an kommunistischen Indoktrinationsversuchen auslegen. Wie dem auch sei, die in der abschließenden Strophe enthaltene Aufforderung: “Nimm dein Schicksal in die Hand” (VI,4; Hervorh./JT) – ganz abgesehen von anderen thematischen Anklängen – ist auf jeden Fall als deutliche Fortsetzung der in ‘Das Verstehen’ vorformulierten Botschaft zu werten, selbstbestimmt zu leben, statt allzeit in der Gemeinschaft aufzugehen (vgl. IV,6-10 u. V,1-5). Daß allerdings auch der junge Erich Fried schon damals ästhetisch wertvolle Lyrik schreiben konnte, beweist das Gedicht ‘Dichter in Deutschland’ aus dem Jahre 1944:30 Dichter in Deutschland Ihre Tat begann mit ihrem Schweigen und mit einer grossen Flucht nach innen. Und nun ist ihr Anfang ein Besinnen auf ein weltenfernes Dorf. Sie zeigen gute alte Leute in Idyllen. Sanftmut lehren sie und können lieben und den Kriegslärm sehr weit von sich schieben, und sein Heldentum. Das sind die Stillen. Andre aber sind im Schritt gegangen durch die Reden, Länder, Schlachten, Jahre. Und sie kennen längst noch nicht das Wahre, aber irgendwo wächst Zweifel, Bangen, denn das Schiff fährt nie ans bessre Ufer, und die Ruderknechte sind schon mager, und wozu die Fahrt? Das sind die Frager, und sie fragen laut und werden Rufer. Andre stiess die Trommel immer wieder schon von Kindheit an. Die Melodie ihres hartgewordnen Schritts schweigt nie, und sie stürmen und sie stürzen nieder, und sie wissen noch im Tod nicht, wie. 30
Vgl. dazu Jörg Thunecke: “Und auch diese waren manchmal Dichter”. Erich Frieds frühe Auseinandersetzung mit der Literatur unter dem Hakenkreuz. In: Interpretationen. Gedichte von Erich Fried. Hrsg. v. Volker Kaukoreit. Stuttgart 1999. S. 77-94; aus diesem Beitrag wurden Teilabschnitte gekürzt bzw. leicht verändert übernommen.
276 Und mit ihnen sterben ihre Lieder, schreibt doch keiner auf, was einer schrie. Und im Schlamm verlöschen die Gesichter. Und auch diese waren manchmal Dichter. Und vielleicht, wenn alles Blut und Grauen irgendeinen nicht gefressen hat, wenn er heiser wird und sterbensmatt und sich sehnt – nach Frieden und nach Frauen und vielleicht nach seiner Heimatstadt, dann hebt eines Tags ihm an das Schauen; ihm, der niemals noch gesehen hat! Der lässt sich das Wort nicht wieder stören, – und sein Volk wird diesen Dichter hören.31
‘Dichter in Deutschland’ wurde – Seite an Seite mit dem Gedicht ‘Dichter im Exil’ – in Frieds erster selbständiger Publikation im englischen Exil veröffentlicht. Das schmale Bändchen mit dem Titel Deutschland enthielt lediglich 37 Gedichte und erschien 1944 beim ‘Austrian PEN’. Die Entstehungszeit der in dem Bändchen enthaltenen Gedichte fiel – laut ‘Vorwort’ des Verfassers – in die Zeit von September 1943 bis Juli 1944, wobei einige der Verse bereits vor der Buchveröffentlichung in verschiedenen englischen Exilzeitschriften erschienen waren. Vorliegendes Gedicht, das sich inhaltlich mit der schriftstellerischen Tätigkeit deutschsprachiger Autoren aller Schattierungen im nationalsozialistischen Machtbereich seit 1933 beschäftigt, dokumentiert in formaler Hinsicht einerseits Frieds Bindung an die literarische Konvention, die er mit vielen anderen Exilanten teilte. Dieses fand u.a. Ausdruck in fünffüßigen Trochäen, mit regelmäßigem zweisilbigen Endreim,32 zeichnete sich aber andererseits auch durch neue Formelemente aus: denn ‘Dichter in Deutschland’ besteht zwar zur einen Hälfte aus traditionellen QuartettBlöcken vom Versmuster abba/cddc, zur anderen jedoch aus Quintett/ Quartett-Blöcken des Versmusters abbab/abcc, an denen sich Frieds Mut zur strophischen Innovation ablesen läßt.33 Trochäische Verse zeichnen sich bekanntlich durch ihren schnellen, eilenden Gang, ihre Lebhaftigkeit und Beweglichkeit aus und haben aus die31
Erich Fried: Deutschland. A.a.O. S. 18-19; laut Typoskript im Fried-Nachlaß (ÖLA) entstand dieses Gedicht am 29. Januar 1944. 32 Vgl. Volker Kaukoreit: Frühe Stationen. A.a.O. S. 75. 33 Daß diese Blöcke jeweils zusammengehören, macht das Druckbild des Originaltextes deutlich; leider ist diese Zugehörigkeit im Abdruck des Gedichts in Erich Fried: Gesammelte Werke. Bd. 1: Gedichte. Berlin 1993. S. 24-25 verloren gegangen.
277 sem Grunde oft etwas Vorläufiges, Ephemeres,34 was z.B. die ersten beiden Strophen von Josef Weinhebers Gedicht ‘Der Trochäus’ besonders gut illustrieren.35 Normalerweise jambischen Versen ästhetisch unterlegen, können trochäische Verse nämlich – als Bausteine fünfzeiliger Strophen – gelegentlich durchaus den Rang ‘verkannter Schönheiten’ (Kayser) erreichen,36 was ein Vergleich der beiden Hälften von ‘Dichter in Deutschland’ nur zu deutlich macht. In den Quartetten des ersten Teils handhabt Fried die Trochäen noch ziemlich konventionell: fünf Versfüße enden jeweils in einem weiblichen Reim, und lediglich der kunstvolle Gebrauch von Zäsur (I,4) sowie Enjambement (III,12/IV,1) belebt ein ansonsten stereotypes Versschema. Dagegen durchbricht die das Gedicht abschließende Strophen-Kombination die etablierte Reimverteilung: denn weder das gewöhnliche Format des Quintetts (aabab, aabba bzw. abaab), noch das fürs Quartett (aabb bzw. abba) wird hier eingehalten.37 Stattdessen führte Fried für das Quintett ein eigenes Reimschema (abbab) ein und raubte zugleich dem jeweils folgenden Quartett – das zu einer Art von Anhängsel reduziert wird – die strophische Unabhängigkeit; denn sein Reim (abcc) wird – übergreifend – an den des vorhergehenden Quintetts angekoppelt, eine ästhetische Innovation, die in Kombination mit alternierendem männlichem und weiblichem Endreim auf den Inhalt des Gedichtes bedeutsame Rückwirkungen haben sollte, wovon später noch zu sprechen sein wird. Prinzipiell unterscheidet Fried zwischen drei Dichter-Kategorien: den Stillen, soweit sich diese auf völlig unpolitische Bereiche zurückgezogen hatten; den Fragern und Rufern, d.h. den Mitläufern bzw. ehemaligen Anhängern des NS-Regimes, soweit sich bei diesen zwischenzeitlich nagende Zweifel an der Recht- und Zweckmäßigkeit des Nazi-Staates gemeldet hatten; und letztendlich den getreuen, unbeirrbaren Verfechtern des Hitler-Regimes, die bereit waren, bis zum letzten Atemzug für das Dritte Reich zu kämpfen. In Ermangelung konkreter Angaben lassen sich im Nachhinein lediglich Vermutungen darüber anstellen, an welche Schriftsteller Fried im Kontext dieser Typologie effektiv gedacht haben mag.38 Da er jedoch bereits Anfang August 1938 nach England emigriert war, wo in Deutschland publizierte Bücher – insbesondere nach Kriegsbeginn – nur schwer, wenn überhaupt, zugänglich waren, dürfte es sich meistenteils um Autoren 34
Vgl. Wolfgang Kayser: Versschule. A.a.O. S. 27. Josef Weinheber: Sämtliche Werke. Bd. 2: Die Hauptwerke. 3. Aufl. Salzburg 1972. S. 589. 36 Kayser: Versschule: A.a.O. S. 44. 37 Ebd. S. 40 bzw. S. 44. 38 Volker Kaukoreit: Frühe Stationen. A.a.O. S. 148. 35
278 handeln, deren Werke vor dem September 1939 erschienen waren. Soviel steht allerdings fest: bei den Vertretern der ersten beiden Gruppen handelt es sich eindeutig um sogenannte ‘innere Emigranten’, die sich entweder direkt nach der nationalsozialistischen Machtergreifung Anfang 1933 oder im Laufe der 30er Jahre völlig zurückgezogen bzw. eine oppositionelle Stellung eingenommen hatten; und lediglich Autoren der dritten Kategorie können – mit Einschränkungen – als alteingefleischte Regime-Anhänger eingestuft werden. Innerhalb der literarischen ‘inneren Emigration’ im Dritten Reich gab es prinzipiell vier Optionen nicht-nationalsozialistischer ‘legaler’ Literatur, von denen die drei letztgenannten (s.u.) in Frieds Gedicht zum Tragen gekommen sind:39 1. ein grundsätzlicher Verzicht auf jedwede Publikationen; 2. eine Literatur ohne irgendeinen intendierten Gegenwartsbezug; 3. die literarische Darstellung eines historischen oder überzeitlichen Idealzustandes; 4. camouflierte Systemkritik. Bei Vertretern der ersten Gruppe von Frieds Schriftsteller-Typologie, d.h. denjenigen, die sich infolge der nationalsozialistischen Machtübernahme – nach einer Pause des Schweigens – auf die literarische Darstellung dörflicher Idylle ohne allen Gegenwartsbezug bzw. auf Naturbeschreibungen beschränkten, mag dem Autor das dichterische Werk Willhelm Lehmanns (1882-1968) vorgeschwebt haben, der 1935 einen Gedichtband mit dem beziehungsreichen Titel Antwort des Schweigens veröffentlichte, in welchem das Schweigen der Innerlichkeit als Antwort auf die politische Realität gefeiert wird, bzw. die Naturlyrik (Der Silberdistelwald [1934] und Der Wald der Welt [1936]) eines Oskar Loerke (18841941), eventuell auch die Lyrik des melancholischen Idyllikers Friedo Lampe (1899-1945) (Am Rande der Nacht [1934]).40 Denn das lyrische Werk dieser Dichter aus den 30er Jahren, das Fried mit ziemlicher Sicherheit gekannt haben dürfte, zeichnet sich durch die von ihm in seinem Gedicht heraufbeschworene “grosse Flucht nach innen” (I,2) aus;41 oder, wie ein Kritiker diesen Zusammenhang sehr treffend charakterisiert hat: “Natur, bestimmt als Ort der Entrückung, gibt der Sehnsucht nach Zuflucht einen Raum, in dem die ‘Barbarei’ der geschichtlichen Wirklichkeit keine Existenzmöglichkeit besitzt.”42 39
Vgl. Michael Philipp: Distanz und Anpassung. Sozialgeschichtliche Aspekte der Inneren Emigration. In: Exilforschung. Ein Internationales Jahrbuch 12 (1994). S. 11-30, hier S. 18. 40 Vgl. Am Rande der Nacht. Moderne Klassik im Dritten Reich. Hrsg. v. Hans Dieter Schäfer. Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1984. S. 12. 41 Vgl. dazu Axel Goodbody: Landschaften und Naturmetaphorik in der Lyrik von Exil und innerer Emigration. In: Exillyrik. A.a.O. S. 55-57. 42 Ralf Schnell: Literarische Innere Emigration. Stuttgart 1976. S. 74.
279 Vieles spricht für Kaukoreits Behauptung, daß Erich Fried den Schriftsteller Ernst Jünger (1895-1998) innerhalb der zweiten Gruppe seiner Schriftsteller-Typologie für repräsentantiv hielt. Er hatte dessen Werk – und insbesondere dessen Roman Auf den Marmor-Klippen (1939) – nachweislich gelesen und als verschlüsselten Protestroman empfunden,43 d.h. als Beispiel eines Werkes eines NS-Sympathisanten,44 dem im Laufe der 30er Jahre Zweifel am Hitler-Regime gekommen waren und der seine hervorragende Stellung innerhalb des NS-Schrifttums zum camouflierten Protest nutzte.45 Erwähnt werden sollte in diesem Zusammenhang auch, daß Fried dem ersten Teil von ‘Dichter in Deutschland’, der den Dichtern der ‘inneren Emigration’ gewidmet ist, ausgesprochen traditionelle Reim- und Strophenmuster zugrundelegte, die innovativeren stilistischen Aspekte hingegen für die zweite Hälfte des Gedichts, die sich mit den eigentlichen NSDichtern beschäftigt, aufsparte. Mit anderen Worten: gerade “die mehr traditionell und konservativ ausgerichteten Autoren, die sich oft erst im weiteren Verlauf des Dritten Reiches aus humanitären, religiösen oder ästhetischen Gründen von dessen literarischem Betrieb distanzierten”46 – Fried nennt sie in seinem Gedicht die ‘Stillen’, die ‘Frager’ und ‘Rufer’ – 43
Erich Fried: Bemerkungen zu einem Kult. In: Streit-Zeit-Schrift (München) 6 (September 1968). S. 2. 44 Die Erwähnung von ‘Schlachten’ könnte ein intertextueller Verweis auf Jüngers Veröffentlichungen zu Beginn der zwanziger Jahre sein (in Stahlgewittern (1920); Der Kampf als inneres Erlebnis (1922)), die den tiefgreifenden, während der 30er Jahre eingetretenen ‘Wandel’ bei diesem Autor bezeugen; es sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß Fried in einem Gespräch mit Heiner Müller im Oktober 1987 ausführte, daß Ernst Jünger “zweifellos ein faschistischer Denker war und dann ebenso zweifellos mit beträchtlicher Tapferkeit gegen die Nazis gekämpft hat.” In: Erich Fried – Heiner Müller: Ein Gespräch. Hrsg. v. Alexander Wewerka. Berlin 1989. S. 18, und bereits 20 Jahre früher (Bemerkungen zu einem Kult. A.a.O.S. 65) geschrieben hatte, daß Jünger “ein Schriftsteller der Rechten war, ein faschistischer Denker [...], [der] sich vom offiziellen Naziliteraturbetrieb nicht integrieren lassen wollte und sich tatsächlich nicht ganz integrieren ließ [...].” Vgl. auch Die Muse hat Kanten. Aufsätze und Reden zur Literatur. Hrsg. v. Volker Kaukoreit. Berlin 1995. S. 148. 45 Vgl. J. M. Ritchie: German Literature under National Socialism. London, Canberra 1983. S. 126; Günter Scholdt: “Gescheitert an den Marmorklippen”. Zur Kritik an Ernst Jüngers Widerstandsroman. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 98 (1979). S. 548-53; Gerhard Loose: Ernst Jünger. Boston 1974. S. 61; sowie die im kommenden Jahr bei Piper in München erscheinende Jünger-Biographie von Heimo Schwilk. 46 Eberhard Frey: Stiltendenzen der Lyrik des Dritten Reiches. In: Deutsche Exilliteratur – Literatur im Dritten Reich. Hrsg. v. Wolfgang Elfe et al. Bern, Frankfurt a.M., Las Vegas 1979. S. 167.
280 werden formal mit konservativen Mitteln vorgeführt. Es handelt sich hierbei jedoch nur scheinbar um einen Widerspruch: denn immerhin hatten diese Autoren dem NS-Regime passiven, teils sogar aktiven Widerstand geleistet, befanden sich also durch ihre ‘Verweigerung’ in politischer und moralischer Hinsicht sozusagen auf dem Wege der ‘Gesundung’. Somit bestand kein Anlaß, auf diese Situation – die mit herkömmlichen stilistischen Mitteln vollkommen adäquat wiedergegeben werden konnte – mit ungewöhnlichen formalen Mitteln hinzuweisen. Anders dagegen die Situation all derjenigen Autoren, die literarisch etwas ‘Krankhaftes’ repräsentierten, weil sie sich dem Hitler-Staat entweder von Anbeginn mit ganzem Herzen verschrieben bzw. diesem ihre Feder vorübergehend geliehen hatten, oder aber von den Machthabern im Schrifttumsbereich für ihre Zwecke ausgenutzt worden waren. Deren literarische Position war aussichtslos: denn entweder fraß die nationalsozialistische Revolution im Zweiten Weltkrieg ihre Kinder und zerstörte – durch den Tod an der Front – auch ihr dichterisches Potential, oder sie mußten – wie im Falle all derjenigen Dichter, die sich lediglich ‘im Dunstkreis des Nationalsozialismus’ bewegt hatten47 – jede Hoffnung auf Anerkennung auf die Zeit nach Ende des Dritten Reiches verschieben. Aus diesem Grunde hat Fried es scheinbar für nötig gehalten, das Dilemma und die Ausweglosigkeit dieser ‘NS-Dichter’ mit formal unkonventionellen Mitteln darzustellen, die relativ gefestigte Situation der ‘inneren Emigranten’ dagegen mit herkömmlichen, entsprechend der Formel: traditionelle, konservative Stilmuster für die ‘inneren Emigranten’, neumodische, unkonventionelle für die NS-Barden und Sympathisanten. Denn letztere waren – trotz ihrer Verstrickung in einem Unrechtssystem – laut Fried auch manchmal Dichter gewesen (VI,4), und einige wirklich berühmte Autoren durften zu einem späteren Zeitpunkt sogar mit ihrer Rehabilitierung rechnen (VIII,4). Obwohl Fried in einem Beitrag für den Zeitspiegel (London) aus dem Jahre 1941 NS-Barden wie Seiler, Jenssen und Blunck (*1888) angegriffen hatte,48 ist weit eher anzunehmen, daß der Autor mit dieser Kategorie von Autoren auf Parteidichter wie Heinrich Anacker (*1901), Hans Baumann (*1914), Herbert Böhme (*1904), Gerhard Schumann (*1911) und Baldur von Schirach (*1907) hinweisen wollte,49 insbesondere da der oben erwähnte Artikel eine Erklärung bietet für die verblüffende Behauptung in der letzten Zeile der sechsten Strophe von ‘Dichter in Deutschland’: “Und 47
Karl-Heinz Joachim Schoeps: Literatur im Dritten Reich. Bern 1992. S. 141. Erich Fried: Todesstimmung in der Nazilyrik. In: Zeitspiegel Nr. 34 (24.8.1941). S. 8. 49 Uwe-K. Ketelsen: Nationalsozialismus und Drittes Reich. In: Geschichte der politischen Lyrik in Deutschland. Hrsg. v. Walter Hinderer. Stuttgart 1978. S. 291314, hier S. 300. 48
281 auch diese waren manchmal Dichter”.50 Denn Erich Fried hat – im Gegensatz etwa zu Albrecht Schöne Mitte der 60er Jahre51 – gewisse Aspekte der während des Krieges in Deutschland entstandenen Lyrik positiv beurteilt. Bereits im Januar 1944 hieß es in dem bisher unveröffentlichten, dreistrophigen Gedicht ‘Einigen unter den Gefallenen’: Jene aber, die zwischen den Fronten starben, ohne Zögern zaehlt zu den Feinden sie nicht. Denn es kennt keiner von uns ihre wirklichen Farben, und ein Toter traegt keine Antwort in seinem Gesicht [...] Denn das ist Krieg: Es trifft auch Freunde, die wir erwarben. Ohne Zoegern zaehlt zu den Feinden sie nicht. Still begrabt, die zwischen den Fronten starben. Viele fanden die Nacht bei den ersten Schritten ins Licht.52
Anfang 1945 läßt sich ferner in Frieds Tagebuch eine kurze Notiz nachweisen, wo es heißt: “Wer an eine falsche Sache (Hitler) ehrlich glaubt, kann noch ein subjektiv schönes Gedicht machen, z.B. Gerhard Schumann. Wer aber eine gute Sache nur 90% glaubt, und die andern 10% durch Disziplin ersetzen will, kann nur Dreck schreiben;”53 und ungefähr aus dem gleichen Zeitabschnitt gibt es ein Brieffragment im Fried-Nachlaß (das höchstwahrscheinlich an seine Ehefrau Maria Marburg gerichtet war), worin es abschließend heißt: “Nun schließe ich mit unzaehligen Kuessen an Dich, Bieles, und Hansl. Nur zwei Sonette von Gerhard Schumann schreib ich dir noch ab, dessen Buch: Die Lieder vom Krieg in Frankreich entstanden sind (In Frankreich sangen wir Lieder ... schrieb er spaeter darueber). Nochmals Kuesse Dein Erich.”54 Auch später noch, z.B. 1955, schrieb Fried: “Solche Gedichte wurden keineswegs nur von unpatriotischen oder rebellischen Einzelgängern geschrieben. Sogar der junge SS-Mann Gerhard Schumann hat neben vielen Versen auf den 50
Volker Kaukoreit: Frühe Stationen. A.a.O. S. 149. Anm. 153. Vgl. inbes. den im Anhang bei Schöne abgedruckten Briefwechsel zwischen Schöne und Schumann. In: Albrecht Schöne: Über politische Lyrik. Göttingen. 2. Aufl. 1972. S. 83-88. 52 ÖLA vom 27.1.44. 53 ‘Tagebuch aus den Jahren 1942 und 1943’ (realiter bis 1945). S. 28b. 54 Es folgen die getippten Gedichte: ‘Abschied’ ( Incipt: “Der Marschschritt trommelt...”] und ‘Die Heimatlosen’ (Incipt: “Ein Unheilszug, gepeitscht ...”). Darunter noch der handschriftliche Vermerk: “Die Gedichte heb, bitte, auf.” Es handelt sich hierbei um zwei Gedichte aus Gerhard Schumanns Die Lieder vom Krieg. München 1941. S. 40 bzw. S. 43. 51
282 Führer, die heute grotesk anmuten, einige wirklich erschütterte und erschütternde Kriegsgedichte geschrieben.”55 Und eingedenk seiner – im Gegensatz etwa zu Thomas Manns berühmter Anklage vom Herbst 1945 – vergleichsweise differenzierteren Abrechnung mit dem NS-Schrifttum, die bereits vor Kriegsende eingesetzt hatte, betonte er noch 1978, “dass man sich auch in Andersdenkende, ja auch in Figuren, die einem als Figuren hassenswerter Unholde angeboten werden, einfühlen können muss. – Es ist sehr gefährlich, wenn schon das Verstehenwollen von Gegnern, das Verständnis ihrer Entwicklung, als verdächtig gilt. Ich meine, ein Schriftsteller oder Dichter kann sich an solche Tabus nicht halten.”56 Auch bei dem das Gedicht abschließenden vierten Strophen-Block von ‘Dichter in Deutschland’ sind wir wiederum auf Vermutungen angewiesen, welchen Schriftsteller Fried mit der Zeile “und sein Volk wird diesen Dichter hören” (VIII,4) gemeint haben könnte. Wie die Untersuchung der fünften und sechsten Strophe nahe legt, besteht auch in diesem Fall Grund zur Annahme, Fried könnte einen ganz bestimmten Autor, nämlich seinen Wiener Landsmann Josef Weinheber (*1892), im Auge gehabt haben, der im April 1945 Selbstmord begangen hatte. Denn bereits zur Entstehungszeit seiner Erstlingswerke hatte sich bei Fried eine partielle Verteidigung Weinhebers artikuliert, dessen letzte Verse den Exilanten angeblich sehr erschüttert hatten.57 Und da Fried – wie oben ausgeführt – selbst im Exil nicht bereit war, die im Dritten Reich entstandene Literatur pauschal zu verurteilen,58 sei auf Weinhebers Gedicht ‘Leichnam’ hingewiesen, das – ganz abgesehen davon, daß es den Rhythmus des hier zur Diskussion stehenden ‘Trochaeus (pseudodramaticus)’, in seiner vierfüßigen Form, adoptierte – die prekäre Situation eines Lyrikers im Dritten Reich zum lyrischen Gegenstand macht.59 Josef Weinheber war Hauptvertreter formalästhetischer Tendenzen in der Lyrik der 30er und 40er Jahre.60 Bei ihm handelte es sich um einen 55
Erich Fried: Stimme ohne Haß. In: Hier spricht London Nr. 375 (15.4.1955). S. 2. 56 Erich Fried: Gedichte über das Dichten. In: Basler Magazin Nr. 29 (22.7.1978). S. 6; vgl dazu auch den Abschnitt “Von Herkunft, Leben und Schaffen” in Gerhard Schumanns Rechtfertigungsschrift Besinnung von Kunst und Leben (Bodmann 1974. S. 79-233, inbes. S. 105-72.), sowie den bei Schöne im Anhang abgedruck-ten Brief Schumanns vom 7. Juli 1966 (S. 87) und Hermanns Pongs Erklärung aus dem Zeitraum um 1970 (S. 92). 57 Volker Kaukoreit: Frühe Stationen. A.a.O. S. 150. 58 Ebd. 59 Josef Weinheber: Sämtliche Werke. A.a.O. S. 594-96. 60 Josef Weinheber: Adel und Untergang ( 1934); Späte Krone ( 1936); Zwischen Göttern und Dämonen ( 1938); Kammermusik ( 1939); Hier ist das Wort ( 1947).
283 Künstler, der in der Beherrschung der Sprache den Grund seiner Existenz sah und damit die Zeit zu überragen glaubte, d.h. um einen Autor, der in der Dichtung selbst die Botschaft der Dichtung zu finden hoffte. Dieses Prinzip wird von ihm, insbesondere in seiner letzten, posthum veröffentlichten Gedichtsammlung, demonstrativ zum Buchtitel erhoben: Hier ist das Wort (1944/1947); denn “[g]egen die Ängste vor den Erschütterungen seiner Zeit formulierte Weinheber noch einmal den Mythos vom sinnsetzenden, sehenden Sänger.”61 In diesem Zusammenhang ist deshalb auch – mit einiger Berechtigung – der Einwand erhoben worden, daß des Autors Verbindung zum organisierten Nationalsozialismus bei diesem Prozeß “keine entscheidende Rolle [spielte,] und die subjektive Ehrlichkeit von Weinhebers Versuch, dieser Bindung endlich zu entkommen, gar nicht in Zweifel gezogen zu werden [braucht].”62 Allerdings gilt zu bedenken – da besonders Weinhebers Oden von den Zeitgenossen am meisten beachtet wurden und den bemerkenswertesten Teil seines Werkes ausmachen −, daß gerade die Gedichte dieser Sammlung zeigen, “wie sich Tradition und Neudeutung im völkischen Gedicht verknüpfen,”63 “wie ein lyrisches Sprechen [...] in einem spezifischen historischen Beziehungsfeld seine Selbständigkeit aufgibt und in einen politischen Handlungsraum eintritt,”64 woran der Dichter ja dann letztendlich auch zerbrochen ist. Denn “literarische Verhaltensweisen wie Reproduktivität, ‘dichterischer’ Gestus und Traditionalität werden im außerliterarischen Kontext zu politischen Handlungen.”65 Letztendlich sollte man jedoch Schriftstellern wie Weinheber – aber auch Benn, Miegel und Seidel – nicht beckmesserisch ihre NS-Vergangenheit vorhalten, selbst wenn eindeutig feststeht, daß sie sich in den Netzen des Nationalsozialismus verstrickt hatten und ihre den Nationalsozialismus unterstützenden Werke “durch den Status ihrer Verfasser oder die künstlerische Qualität der Texte möglicherweise wirkungsvoller gewesen [sind] als das primitive Gereime [von] NS-Dichter[n].”66 Es ist sicher in diesem Sinne, daß Erich Fried die letzte Zeile seines Gedichtes ‘Dichter in Deutschland’: “und sein Volk wird diesen Dichter hören” (VIII,4), verstanden haben wollte. Und es war bestimmt – um abschließend noch einmal auf die neuartigen formalen Aspekte der zweiten Gedichthälfte von ‘Dichter in Deutschland’ zurückzukommen, insbesondere im Vergleich zu den eingangs abgehan61
Uwe-K. Ketelsen: Literatur und Drittes Reich. Schernfeld 1992. S. 371. Ebd. 63 Alexander von Bormann: Stählerne Romantik. In: Politische Lyrik. Hrsg. v. In Heinz Arnold Ludwig. München: 1973 ( = text +kritik 9/9a). S. 101. 64 Uwe-K. Ketelsen: Literatur und Drittes Reich. A.a.O. S. 372. 65 Ebd. 66 Karl-Heinz Schoeps: Literatur im Dritten Reich. A.a.O. S. 153. 62
284 delten Gedichten aus den Jahren 1942/43 – die besondere Betonung des Paarreims der beiden letzten Zeilen der Quartette VI & VIII, nachdem jeweils in den beiden vorhergehenden Quintetten der ‘retardierende Trugschluß’ (Kayser)67 eines potentiellen Ritardandos erfolgreich vermieden worden war, welche die Bedeutung dieser Verse ausmacht. Denn es war die doppelte Erschütterung der beiden letzten Zeilen in Strophe VI und VIII von ‘Dichter in Deutschland’, auf welche Frieds Gedicht die ganze Zeit zusteuerte: auf die im Schlamm der Schützengräben verlöschenden Gesichter von Schriftstellern, von denen einige, obwohl ihre Lieder mit ihnen starben, nichtsdestoweniger Dichter waren;68 bzw. auf diejenigen Autoren – man denke etwa an Gottfried Benn (1886-1956) – welche, nachdem sie Blut und Grauen des Krieges überlebt hatten, nach dem Ende der NS-Zeit, trotz ihrer faschistischen Vergangenheit, von deutschem Volk als wahre Künstler gefeiert wurden. Alles in allem ist ‘Dichter in Deutschland’ also – sowohl in formal-ästhetischer als auch inhaltlicher Hinsicht – ein besonders gutes Beispiel dafür, wie ein im Exil lebender, deutschsprachiger Lyriker vom Kaliber Erich Frieds Anfang 1944 auf die literarische Situation im Dritten Reich reagierte, während er sich noch kurz zuvor – zumindest stilistisch – in ziemlich traditionellen und ausgefahrenen Bahnen bewegt hatte. Und daß ein Gedicht wie dieses als durchaus repräsentativ gelten darf, läßt sich der Tatsache entnehmen, daß kein Geringerer als Thomas Mann dem jungen Autor, direkt nach Kriegsende, schrieb: “Ich bekomme jetzt manchmal Briefe aus Deutschland, von jungen Leute, die es knirschend durchgestanden haben. Ich glaube, ein Gedicht wie ‘Dichter in Deutschland’ würde ihnen gut gefallen.” (Brief vom 27. Juli 1945)69 Erich Fried, jung und unfertig wie er zum Zeitpunkt der Entstehung von ‘Dichter in Deutschland’ war – und trotz zahlreicher ideologisch und ästhetisch schwacher dichterischer Schöpfungen vor und während dieses Zeitabschnittes (vgl. Mut [1943], Deutschland [1944] u. Österreich [1945])70 – hat mit diesem 67
Wolfgang Kayer: Versschule. A.a.O. S. 46. Man sollte in diesem Kontext auch Frieds 1943 in London in dem Bändchen Mut erschienenes Gedicht ‘Zwei Tote’ in Betracht ziehen (London 1943), S. 22 u. Jörg Thunecke: “Doch wer den Mut verliert ist besser tot”. Young Austria and the Problem of Political Poetry. In: Austrian Exodus. Hrsg. Edwards Timms and Ritchie Robertson. Edinburgh 1994 (= Austrian Studies 6). S. 41-58, hier S. 47, sowie das in Anm. 52 zitierte Gedicht ‘Einigen unter den Gefallenen’. 69 Vgl. Archiv-Bibliothek-Literaturwissenschaft. In: Jahrbuch des Österreichischen Literaturarchivs 1 (1998). S. 97. 70 Volker Kaukoreit: “Vater tot, Mutter im Kerker,…” S. 283 hat noch jüngst wieder betont, daß Fried – trotz Experimenten mit expressionistischer Lyrik – “[z]u wirklich ‘moderner Dichtung’ [...] in diesen Sammlungen noch nicht 68
285 Gedicht etwas geschaffen, was inhaltlich den Nerv der Zeit genau getroffen hat, ohne formal ins Zweitklassige abzugleiten, eine nicht zu unterschätzende Leistungssteigerung innerhalb eines relativ kurzen Zeitraumes, wohl auch bedingt durch den ‘Einschnitt’ gegen Ende 1943. Gerade diese doppelte Wertschätzung aber läßt das Poem auch heute noch lesenswert erscheinen.
vorgedrungen [ist]”.
Heike A. Doane
Die wiedergewonnene Identität: Zur Funktion der Erinnerung in Anna Seghers Erzählung “Der Ausflug der toten Mädchen” Anna Seghers’ “Der Ausflug der toten Mädchen”, written in Mexico during a period of personal hardship and pivotal decisions, depicts the girls’ physical and emotional resurrection as a paradigm for the renaissance Seghers sought for her devastated homeland. This paper focused on narrative techniques − including the incorporation of impressions and autobiographical details, political overtones of the narrator’s memory and the juxtaposition of realistic and visionary elements. Seghers’ text is interpreted as a breakthrough to a feminine perspective and as the realization of her storytelling ideal, one that combines her personal engagement with the rich colors of a fairytale.
In seinem Aufsatz “Exil als Lebensform” kam Egbert Krispyn zu dem Schluß, daß diese Lebensform eine Literaturvariante erzeugt habe, in der “das unstillbare Verlangen zur Rückkehr in den paradiesischen Zustand der Unschuld, die philogenetisch mit der adamischen Ursprache und persönlich mit den Lauten und Worten der ersten Kindheit zusammenhängt,” zum Ausdruck komme.1 Mit ihrer Erzählung “Der Ausflug der toten Mädchen”2 scheint Anna Seghers dieses Kriterium zu bestätigen, denn es geht ihr in dieser Geschichte in erster Linie um die Wiederherstellung der ungetrübten Kindheitswelt, obwohl ihre Erinnerungen an Heimat und Jugend deutlich von politischen Faktoren überschattet werden. Sie beschreibt zwar Schicksale, die fast ausnahmslos in Zerstörung enden, aber ihr Entwurf der Kindheit enthält das, was den politischen Umbruch überdauern wird: Die Beständigkeit der Landschaft und den Lebensrhythmus im Einklang mit ihr, das Verlangen nach menschlicher Verbundenheit und die Unverbrüchlichkeit der Voraussetzungen, die für diese Verbundenheit grundlegend sind. Selbst wenn die Idylle der politischen Wirklichkeit nicht standhält, so überwiegt doch im Leser, wie offenbar auch in der Er1
Egbert Krispyn: Exil als Lebensform. In: Exil und innere Emigration II: Internationale Tagung in St. Louis. Hrsg. v. Peter Uwe Hohendahl und Egon Schwarz. Frankfurt a.M. 1973. S. 101-118, hier S. 118. 2 Hier zitiert aus Anna Seghers: Gesammelte Werke in Einzelausgaben: Erzählungen 1926-1944. Bd. IX. Berlin und Weimar 1977. Alle Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe.
288 zählerin, eine Vision der Vergangenheit, die angesichts der folgenden Zerstörung ihre absolute Gültigkeit bewahrt. Erst am paradiesischen Zustand der Kindheit läßt sich das wahre Ausmaß dieser Zerstörung, deren Ursachen und der Entwurf einer besseren Zukunft ablesen. Wenn sich Seghers um die Beschwörung eines bürgerlichen Milieus bemüht, dem sie selbst schon seit ihrer Studienzeit den Rücken gekehrt hatte, dann will sie damit den politischen Frevel beschreiben, der die Mädchen aus einer ihnen angemessenen Existenz herausriß, um sie in physische und moralische Abgründe zu stürzen. Aber dieser Sturz bedingt gleichzeitig auch die Relevanz der erinnerten Zeit für die zukünftige Zeit. Seghers Rückblick auf Jugend und Heimat ist in fast allen Aspekten von dieser Dualität der Erzählintention geprägt. Gerade im Umfeld von Romanen wie Das siebte Kreuz und Transit, die sich streng an Zeitgemäßes halten, nimmt die Geschichte von den toten Mädchen deshalb eine Sonderstellung ein. Obwohl auch hier dieselben Themenkreise anklingen – etwa die Liebe zur Heimat, das Verhalten der Menschen im Dritten Reich – bemüht sich Seghers in ihren Erinnerungen an die Kindheit um stilistische Ausdrucksmöglichkeiten, die dieser Dualität zwischen subjektiver und einer faktischeren Wiedergabe der Wirklichkeit gerecht werden sollen. Dies ist wohl einer der Gründe, warum sie die Erzählung in einem Brief an Wieland Herzfelde “halb-real” genannt hat.3 Es handelt sich bei der Erzählung bekanntlich um den einzigen autobiographischen Text einer Schriftstellerin, die sonst ihre Person gern hinter ihren Figuren verbirgt.4 Nur hier tritt Seghers aus der “künstlerischen Namenlosigkeit”5 hervor, um, wenn auch literarisch verdichtet, aus dem eigenen Leben zu erzählen: von den Folgen eines fast tödlich verlaufenen Unfalls,6 vom Tod der Mutter, den Jahren in der Fremde und dem Entschluß zur Heimkehr. All diese persönlichen Katastrophen und Entscheidungen, zusammen mit ihrem ideologischen Einsatz für eine Erneu3
Anna Seghers, Wieland Herzfelde: Gewöhnliches und gefährliches Leben: ein Briefwechsel aus der Zeit des Exils 1939-1946. Hrsg. v. Ursula Emmerich u. Erika Pick. Darmstadt u. Neuwied 1986. S. 63. 4 Siehe hierzu Christa Wolf: Die Dimension des Autors: Essays und Aufsätze, Reden und Gespräche 1959-1985. Darmstadt und Neuwied 1987. S. 358 und Kurt Batt: Anna Seghers: Versuch über Entwickung und Werke. Leipzig 1980. S. 13. 5 Hans Mayer: Anmerkungen zu einer Erzählung von Anna Seghers. In: Sinn und Form 1 (1962). S. 117-125, hier S. 120. 6 Am 24. Juni 1943 war Seghers von einem Unbekannten in Mexico City angefahren worden. Sie wurde erst nach Stunden bewußtlos aufgefunden und schwebte lange Zeit in Lebensgefahr. Anhaltende Sehstörungen und Kopfschmerzen, die auch in der Erzählung eine Rolle spielen, waren eine Folge des Unfalls (Seghers/ Herzfelde: Gewöhnliches und gefährliches Leben. A.a.O. S. 195-196; Alexander Stephan: Anna Seghers im Exil: Essays, Texte, Dokumente. Bonn 1993. S. 150.).
289 rung Deutschlands, erklären den Gebrauch stilistischer Ausdrucksmittel, die die Hoffnung auf ihr eigenes Genesen und die Hoffnung auf die politische Wiederherstellung der Heimat festschreiben sollten. Ein Jahr vor der Niederschrift der Erzählung (1942) hat Seghers im Rückblick auf ihre Schulzeit das Goethe-Wort vom “Originaleindruck” gebraucht und es als “den ersten und darum unnachahmlich tiefen Eindruck von allen Gebieten des Lebens [...], an dem wir unbewußt und für immer vergleichen und messen”7 gedeutet” Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland (1951) beschreibt sie den Begriff als “das erste, unverfälschte und darum unüberbietbare Gefühl, das ein Kind von einer Sache oder einer Idee empfängt [...].”8 Als Fünfundsiebzigjährige kommt sie noch einmal auf diesen Ausdruck zurück,9 der seitdem häufig zur Bedeutung von Heimat und Herkunft in Seghers’ Werken zitiert wird.10 Die Kindheitsidylle im “Ausflug der toten Mädchen” kann als der Versuch gelten, diesen ersten unnachahmlichen Eindruck, der das Maß aller Dinge werden soll, literarisch zu gestalten. Das Gefühl des harmonischen Einklangs von Ich und Welt, von dem die Autorin spricht, mag unumstößlich und unvergeßlich sein, seine Darstellung jedoch ist auf die Wiedergabe erinnerter Einzelheiten angewiesen. Es braucht hier nicht diskutiert zu werden, daß das Erinnern kein Beweis für die Authentizität – schon gar kein Abbild – des Gewesenen ist, und daß der Erinnernde allenfalls vorgeben kann, objektiv zu sein; auch nicht, daß alles Erinnern Gefahr läuft, von der Gegenwart eingefärbt zu werden, oft sogar einer gegenwärtigen Absicht unterworfen ist. Anna Seghers Erinnerungen sind keine Ausnahme, obwohl es für die Wirkung der Erzählabsicht wichtig ist, daß die Erinnerung unfehlbar erscheint. Körperliche Erschöpfung wird deshalb als Ursache eines unkontrollierten Einbruchs der Vergangenheit dargestellt, und der eigentliche Name der Autorin fungiert als Schlüssel zur zeitlichen Rückkehr in diese Vergangenheit. Die Kindheit besteht so zwar als unabänderliches Ganzes, aber die Erzählerin im Text bemerkt auch, daß diese Ganzheit auf ihr Gedächtnis angewiesen ist. Sie betrachtet es darum als ihre Pflicht, sich selbst an die “winzigsten Einzelheiten” (340) zu erinnern, während sie jede Art der Gedächtnismanipulation an ihren Figuren bemängelt (339, 344). Da aber 7
Anna Seghers: Gesammelte Werke in Einzelausgaben: Aufsätze, Ansprachen, Essays 1927-1953. Bd. XII. Berlin und Weimar 1980. S. 120. 8 Ebd. S. 362. 9 Vgl. Klaus Sauer: Anna Seghers. München 1978. S. 19. 10 Vgl. Kurt Batt: Anna Seghers. A.a.O. S. 16; Anthony Waine: Images of Women in Anna Seghers’ “Der Ausflug der toten Mädchen”. In: New German Studies 1 (1985). S. 1-20, hier S.1; Kathleen J. LaBahn: Anna Seghers’ Exile Literatur: The Mexican Years (1941-1947). New York 1986. S. 49f.
290 bei näherem Lesen deutlich wird, daß die Erzählerin nicht mehr mit der Autorin identisch ist,11 können die starken autobiographischen Züge, auf die der Text immer wieder verweist (Unfall in Mexiko, folgende Krankheit, Tod der Mutter, Entschluß zur Heimkehr), nicht verhindern, daß das erzählende Ich zum Produkt des Erzählens wird, und damit die Prämisse von der Unantastbarkeit der Erinnerung gestört wird.12 Wie Robert Cohen darstellte, wird dieses Ich innerhalb des Textes von einer subtilen Vielschichtigkeit bestimmt,13 die wiederum der Erzählabsicht der Autorin unterworfen ist, nämlich die von ihr oft betonte gesellschaftliche Verantwortung der Schriftsteller gegenüber der Heimat einzulösen. Anna Seghers gibt “eigene Lebenstatsachen preis”14 aber diese Lebensdetails, obwohl authentisch, und die Identität des erzählenden Ichs sind inzwischen – wie das Erinnern selbst – zu Momenten der “epischen Gestaltung” geworden.15 Wir können davon ausgehen, daß Seghers sich der Probleme des autobiographischen Schreibens bewußt war. In einem vom FBI abgefangenen Brief schreibt sie im August 1944 an eine Freundin (den Text hatte sie im Januar 1944 fertiggestellt),16 daß die gleichzeitige Beschreibung von dem, “was früher war und was aus all den Mädchen geworden ist,” ein Problem sei, das sie, vom künstlerischen Standpunkt her, immer noch sehr beschäftige.17 An anderer Stelle erwähnt sie, daß sie ein “kleines Buch von der wahren Geschichte von jungen Mädchen” plane und sie dieses Thema für wichtig halte, da es endlich mit der “Mutter des Volkes” zu tun habe.18 11
Mayer: Anmerkungen zu einer Erzählung. A.a.O. S. 121. Es muß hinzugefügt werden, daß dieser Störfaktor nicht in die Kindheitserinnerungen eindringt, sondern sich nur in den Bereichen manifestiert, die sich mit Exil und Krieg befassen. Nur dort kann man zwischen den möglichen Erfahrungen der Erzählerin und einem allwissenden Erzählbewußtsein unterscheiden. 13 Vgl. Robert Cohen: Die befohlene Aufgabe machen: Anna Seghers’ Erzählung “Der Ausflug der toten Mädchen”. In: Monatshefte 2 (1987). S. 186-198, hier S. 189f. 14 Mayer : Anmerkungen zu einer Erzählung. A.a.O. S. 121. 15 Ebd. 16 Die Entstehungsgeschichte ergibt sich aus dem Briefwechsel Seghers/ Herzfelde und aus Stephans Dokumentation. Am 3. Juni spricht Seghers von einer geplanten Geschichte mit dem Titel “Die Toten bleiben jung,” am 17. Dezember hat sie diesen zu “Der Ausflug der toten Mädchen” geändert und am 27. März 1944 schickt sie das Manuskript an Herzfelde, den Verleger des deutschsprachigen Aurora Verlags in New York, wo es dann im Sommer 1946 erscheint (Seghers/ Herzfelde: Gewöhnliches und gefährliches Leben. A.a.O. S. 52, 58, 60; Stephan: Anna Seghers im Exil. A.a.O. S. 145.). 17 Stephan: Anna Seghers im Exil. A.a.O. S. 155. 18 Stephan: Anna Seghers im Exil. A.a.O. S. 160. 12
291 In den beiden Essays “Deutschland und wir” (1941) und “Volk und Schriftsteller” (1942) ist nachzulesen, daß Seghers diese und andere von der Nazipropaganda entwerteten Wörter wieder ihrer üblichen Bedeutung zuführen wollte. Daß “der echte Begriff ‘Mutter’” nicht ausgelöscht werden kann,19 daß das Wort “Volk [...] nicht als ein Naturphänomen, sondern als ein gesellschaftliches” zu verstehen ist,20 das will sie auch mit dem “Ausflug der toten Mädchen” sichtbar machen, indem sie Figuren vorführt, deren Fühlen und Handeln frei von jeder Ideologie sind. Nicht etwa weil sie aufgrund ihrer Jugend vor einer solchen Beschlagnahmung gefeit seien, sondern weil ihre Jugend Sinnbild der Erneuerung ist: Wie der Umgang zwischen Mutter und Kind das Wort “Mutter” immer wieder belebt, so bestätigt die Gemeinschaft zwischen Lehrerinnen und Schülerinnen die regenerativen Kräfte, die auch für die Volksgemeinschaft ausschlaggebend sind.21 Die Wortkombination “Mutter des Volkes” enthält verkürzt das, was Seghers dazu bewogen haben mag, sich mit dem Schicksal der ehemaligen Mädchenklasse zu befassen: die Absicht der literarischen Beweisführung, daß mit der Regeneration der elementarsten menschlichen Beziehungen die Regenerationsmöglichkeit der sozialen und politischen Strukturen einhergeht, und die Absicht, den Beitrag der Frauen an dieser Erneuerung darzustellen. Alexander Stephan hat inzwischen nachgewiesen, daß es sich bei der Erzählung um den vierten einer im Exil entstandenen Serie von Frauentexten handelt,22 und obwohl der fünfte, das geplante Buch nicht entstand, scheint damit Seghers Bemühen um eine weibliche Perspektive der Weltereignisse ausreichend dokumentiert. Die Erzählung vom “Ausflug der toten Mädchen” bleibt jedoch, wenn nicht
19
Seghers: Glauben an Irdisches: Essays aus vier Jahrzehnten. Leipzig 1969. S. 24. 20 Ebd. S. 26. 21 Es liegt deshalb nahe, die Erzählung als ein didaktisches Bemühen um die Nach-folgegeneration zu interpretieren, als ein “Beitrag der Literatur zur Entfaschisie-rung und Umerziehung der deutschen Jugend.” (Gertraud Gutzmann: Anna Seg-hers’ “Ausflug der toten Mädchen” als ein Beitrag der Literatur zur Neugestaltung Deutschlands. In: Das Exilerlebnis: Verhandlungen des vierten Symposiums über deutsche und österreichische Exilliteratur. Hrsg. v. Donald Daviau u. Ludwig Fi-scher. Columbia 1982. S. 476-485, hier S. 476.). 22 Es handelt sich um “Frauen in der Emigration” (in: Seghers/ Herzfelde: Gewöhn-liches und gefährliches Leben. A.a.O. S. 128-145; Entstehungszeit noch umstrit-ten), das Hörspiel “Der Prozeß der Jeanne d’Arc zu Rouen 1431” (Erstsendung 1937; abgedruckt in: Frühe sozialistische Hörspiele. Hrsg. v. Stefan Bodo Würf-fel. Frankfurt 1982) und die fragmentarische Geschichte “Der sogenannte Rendel” (1940; Text und Textgeschichte bei Stephan: Anna Seghers im Exil. A.a.O. S. 56- 124.).
292 das einzige, so doch das beste Beispiel23 für die bewußte Hinwendung zum Weiblichen in jenen Jahren des Exils. Die Darstellung der Weltereignisse aus weiblicher Sicht verändert die bisherigen epischen Erzählmuster. Schienen Seghers frühere Werke nach den “Prinzipien des episch-objektiven Berichts”24 angelegt, so sind im “Ausflug der toten Mädchen” nur noch die Teile, die die Nazizeit beschreiben, dem an Kleist geschulten objektivierenden Schreibstil vorbehalten.25 Und wenn der Leser bisher kaum Anhaltspunkte fand, um über das epische Subjekt zu spekulieren, so durchbricht der Text diesmal die gewohnte Erzählanonymität. Hatte es bisher – zumindest für ihre Kritiker – den Anschein gehabt, daß Seghers als Erzählerin sich nur mit Männerfiguren identifiziere,26 so gibt sich die Autorin jetzt, auf dem Umweg über die Erzählerrolle, als Frau zu erkennen. Da Seghers, soweit es die außergewöhnlichen Umstände der Zeit erlaubten, das Leben einer emanzipierten Frau lebte, an der Seite von Männern die Vorbereitung auf politischen Widerstand betrieb,27 und als Autorin sich um eine unsentimentale Beschreibung der sozialen Verhältnisse der dreißiger und vierziger Jahre bemühte, kann man die Konzentration auf Frauenfiguren und das Einfügen des eigenen Schicksals in das Los der Mädchen als bewußte Besinnung auf eine weniger intellektualisierte Anschauung der Welt begreifen. Es 23
Die Existenz der genannten Texte wird kaum den Stellenwert der Erzählung beeinträchtigen, da die vorhergehenden Texte nichts Vergleichbares an emotionaler Teilnahme und künstlerischer Gestaltungs- und Überzeugungskraft aufweisen können. 24 Hans Mayer : Anmerkungen zu einer Erzählung. A.a.O. S. 118. 25 Es wäre hinzuzufügen, daß Seghers den Alltag im Kriegsdeutschland nur aus Berichten anderer Emigranten kannte, der objektivere oder faktischere Teil der Beschreibung also nicht auf eigenen Erfahrungen beruht. (Vgl. LaBahn: Anna Seghers’ Exile Literature. A.a.O. S. 126; Ute Brandes: Anna Seghers. Berlin 1992. S. 52.). 26 Vgl. Wolf: Die Dimension des Autors. A.a.O. S. 355; Stephan: Anna Seghers im Exile. A.a.O. S. 42f. Dieser Eindruck war seit dem Erfolg von Die Fischer von St. Barbara nicht mehr aus der Welt zu schaffen (Irene Lorisaka z.B. referiert in ihrem Beitrag über einen “harten oder gar männlichen Erzählstil” [Frauendarstellungen bei Irmgard Keun und Anna Seghers. Frankfurt/M. 1985. S. 26.]) und war bei einer Schriftstellerin, die einerseits eine akkurate Wiedergabe der sozialen Ver-hältnisse anstrebte, und andererseits die politische Verantwortung nicht allein den Männern überlassen wollte, vielleicht gar nicht zu umgehen. 27 Marianne O. de Bopp berichtet über die Exilanten in Mexiko folgendes: “Man verteilte damals bereits die zukünftigen Ministerportfeuilles eines sozialistischen Deutschland unter sich: Ludwig Renn sollte [...] Kriegsminister werden, Anna Seghers Kulturminister [...] (Die Exilsituation in Mexiko. In: Die deutsche Exilliteratur 1933-1945. Hrsg. v. Manfred Durzak. Stuttgart 1973. S. 175-182, hier S. 178.).
293 entsteht ja keine sachlich realistische Chronik der Kinderjahre, sondern eine Vision von Vergangenem und Zukünftigem, von Märchen und Legendenhaftem, von Lebensfreude und Trauer, die, mit Hilfe der “unüberbietbaren” Gefühle von einst, das akute Zeitgeschehen in geschichtliche Dimensionen rücken soll. Aus der zum Teil zerstückelten Korrespondenz des Jahres 1944 geht hervor, welche Art der Jugenderinnerungen für Seghers das Kindheitsmuster von Ich und Welt wiederauferstehen lassen. Immer wieder erwähnt sie Details, die für sie und ihre Briefpartnerinnen das Wesen einer Person, die altvertraute Gegend und Zeit erfassen sollen. Da ist von “ein[em] klein[en] Gesicht eingerahmt in herrliches schwarzes Haar mit einer wundervollen Schleife” die Rede, von “Apfelmost und Streuselkuchen,” die alles wieder deutlich machen, von vorstehenden Zähnen und dem Verdacht von Läusen.28 Der Anblick einer Handschrift ruft ein Zimmer samt dazugehörendem Garten, eine Gouvernante und eine auf der Kasteller Brücke stehengebliebene Reisetasche hervor.29 Hier wie in ihrem Text baut die Autorin auf den Erkennungswert der Dinge und auf die Assoziationskette, die sie hervorrufen. In der Erzählung werden solche Erkennungszeichen auf behutsame Weise erweitert und stofflich verdichtet, damit sie dann auch für den Leser, der ja nicht die Biographie der Autorin teilt, quasi als Erinnertes wahrgenommen werden können. Einmal entsteht ein direkter Bezug. Im Brief wird knapp eine Lehrerin erwähnt, die sich “mit Gas vergiftete [...], als ihr Mann eine Hakenkreuzfahne heraushängte.”30 In der Erzählung wird daraus “mit viel Erfindungen und Verbindungen,” wie Seghers es nennt,31 die Endstation eines zur Hilfsbereitschaft und Menschenliebe bestimmten Lebens: “Niemand war da, um sie rechtzeitig zu beruhigen, als sie, vom Markt heimlaufend, die schauerlich geflaggte Wohnung erblickte, voll Scham und Verzweiflung hinaufstürzte und den Gashahn aufdrehte. Niemand stand ihr bei. Sie blieb in dieser Stunde hoffnungslos allein, wie vielen sie selbst auch beigestanden hatte” (343). Merkmale, die zunächst als Gegensätze konzipiert scheinen, wie etwa Mariannes regelmäßige Schönheit vis à vis Lenis glattem, blankem Apfelgesicht mit angestrengter Stirnfalte, werden durch den Hinweis auf Mariannes verwaschenen Kittel und Lenis ererbte Schuhe auf den Nenner des Gemeinsamen gebracht. Gemeinsam ist allen Mädchen und ihren Lehrerinnen eine sie jeweils auszeichnende Haartracht, von Mozart- bis zu Kringelzöpfen, von ondulierten bis zu Naturlocken, die als abschließende 28
Stephan: Anna Seghers im Exil. A.a.O. S. 153, 150, 156. Ebd. S. 156. 30 Ebd. S. 155. 31 Ebd. 29
294 Krönung die aus Einzelheiten zusammengesetzten Erscheinungen vollenden und an der sich später in vielen Fällen der Niedergang abzeichnet (340, 341, 349, 352). Wie ihre reiferen Lehrerinnen scheinen die Mädchen bereits in ihrer Identität gefestigt. Sei es Lenis Entschlossenheit in schwierigen Situationen, Mariannes Heiterkeit und Anhäng lichkeit, die Tatfreudigkeit der stupsnäsigen Nora, Lores und Idas frühreifes Interesse an jungen Männern oder Elses Häuslichkeit, durch ihre Eigenschaften zeichnen sie sich aus, und diese Eigenschaften bestimmen als positive oder negative Entsprechungen in den folgenden Jahren ihren Werdegang. “Es geht also nicht um die einzelnen Details in ihrer Zufälligkeit, sondern um ihre Bedeutsamkeit für spätere Veränderungen.”32 Im Stadium der unverschuldeten Jugend jedoch sind gemeinsame Tugenden ausschlaggebend: die Fähigkeit zur Freundschaft, Hilfsbereitschaft, das Gefühl der Zusammengehörigkeit und der unbeschwerten Lebensfreude. Diese Begabung für Gemeinsames wird auf der Ebene des Erinnerns zum motivierenden Element der Handlung, indem die Erzählerin sie sorgfältig in glaubwürdige Kontexte einbettet. Wie in vielen von Seghers’ Texten handelt es sich auch hier um “eine Fülle kleiner, aber genaugenommener und deshalb symptomatischer Ereignisse,”33 die, im Gegensatz zu den Ereignissen des späteren Erwachsenendaseins, als unmittelbare Wirklichkeit gestaltet werden.34 Während das Vergangene die Qualität des Gegenwärtigen annimmt, können die Ereignisse der Jugendzeit die Dualität von verklärter Erinnerung und dem wahrscheinlich Vorgefallenen widerspruchslos in sich vereinen. Individualität und Gemeinsames werden durch Vergleiche aus der Pflanzen- und Tierwelt untermalt. Natürlich und bunt differenziert wie die Feldblumen sind die Mädchen, sie verständigen sich untereinander mit der angeborenen Einsinnigkeit der Bienen, und der leicht watschelnden Lehrerin Folgen sie wie Küken der Ente. Die Erzählerin selbst gibt ihre Absicht der Idealisierung und Harmonisierung kund, indem sie sagt: “Vielleicht gab es unter den Schulmädchen auch mürrische und schmierige: In ihren bunten Sommerkleidern, mit ihren hüpfenden Zöpfen und lustigen Kringeln sahen sie alle frisch und festlich aus” (339). Sie suspendiert also bewußt die Gesetze der Wahrscheinlichkeit, zugunsten der Idylle. Besonders angesichts der wirklicheren Wirklichkeit der Nazizeit gelten die durch die Jungen und Mädchen verkörperten Tugenden als unum32
Vgl. Gutzmann: Anna Seghers’ “Ausflug der toten Mädchen”. A.a.O. S. 480. Hans Albert Walter: Eine deutsche Chronik. Das Romanwerk von Anna Seghers aus den Jahren des Exils. In: Anna Seghers aus Mainz. Hrsg. v. Walter Heist. Mainz 1973. S. 15. 34 Zum Gebrauch der entsprechenden Zeitformen siehe LaBahn: Anna Seghers’ Exilile Literature. A.a.O. S. 78f. 33
295 stößlich. “Wäre es allein nach Leni gegangen [...],” heißt es, dann hätten Otto und Marianne geheiratet und “[er] hätte wahrscheinlich dem zarten schönen Gesicht seiner Frau Marianne nach und nach einen solchen Zug von Rechtlichkeit, von gemeinsam geachteter Menschenwürde eingeprägt, der sie dann verhindert hätte, ihre Schulfreundin zu verleugnen” (345). Die “fast biologisch anmutende Verbundenheit”35 unter den Mädchen und ihren Lehrerinnen wird durch ihr natürliches Hineingepaßtsein in eine teils realistische, teils romantisierte, teils märchenhaft überhöhte Rheinlandschaft weiter hervorgehoben. Kurt Batt betont, daß für Seghers Landschaft “mehr als Natur, vornehmlich Geschichte und Kultur” bedeute.36 In der Beschreibung der Erzählerin, die offenbar den an Kunstgeschichte geschulten Blick ihrer Erfinderin teilt, spiegeln sich wie in einem Gemälde “Dörfer und Hügel [...] mit ihren Äckern und Wäldern [...] in einem Netz von Sonnenkringeln,” auf einem Dampfer “umtanzt ein Hündchen” die Schiffersfrau und im Abglanz der Sonne reflektieren sich beide Ufer des Flusses (338). Das Typische der Landschaft, seien es Obstbäume oder Dörfer, verliert durch diesen Blick den Anstrich des Alltäglichen: Die Nachmittagssonne “auf den Hügeln und Weinbergen plusterte da und dort die weißen und rosa Obstblütenbäume” (353), das späte Licht streift “bald [...] eine Eisenbahnspur, bald [...] eine entlegene Kapelle” (354), Häuser erscheinen wie aus Hexenmärchen (354), und Buben und Mädchen betragen sich wie Kobolde und Elfen (350). Und wie in ein Märchen war die Erzählerin auch in diese Welt hineingeraten. Aus der kahl und tot anmutenden Landschaft Mexikos, aus dem Nichts ihrer gegenwärtigen Erwartungen, von einer langwierigen Krankheit gezeichnet, geht sie an einem alten Wappen vorbei, durch ein Tor, das nur für sie bestimmt scheint, und laufend, schon zum Kind verjüngt, erreicht sie einen Garten, wo sie sofort von den gleichaltrigen Freundinnen beim Namen gerufen wird. Ihre Transformation ist das Produkt eines Erzählbewußtseins, das “das Bedürfnis, die eine einzige Welt [...] in Begriffe wie ‘Wirklichkeit’ und ‘Phantasie’ zu pressen”, nicht kannte.37 Im Gegensatz zu der Wiederbelebung ihrer Freundinnen wird die Verjüngung der Erzählerin jedoch nicht als märchenhafte Verwandlung gezeichnet, sondern als die Manifestation der regenerativen Kräfte, die die zwischenmenschlichen Beziehungen erneuern und durch die enge Verbundenheit zur Landschaft noch einmal den elementaren Zusammenhang zwischen den Menschen und der Natur belegen. Der Anblick und Geruch des üppigen Grüns signalisieren für die Erzählerin die Heimkehr, und beim 35
Waine: Images of Women. A.a.O. S. 4. (Im englischen Original heißt es: “The al-most biological bonds which unite the girls [...]”.) 36 Batt: Anna Seghers. A.a.O. S. 18. 37 Wolf: Die Dimension des Autors. A.a.O. S. 353.
296 Klang ihres ersten Namens fühlt sie sich sofort in die Gemeinschaft aufgenommen, die ihr einst als Inbegriff der Geborgenheit galt. Aber erst die Besinnung auf die intuitive Daseinsweise der Jugendlichen kann die Versprechen und Hoffnungen wieder beleben, die der Name Netty auf ihrem bisherigen Lebensweg verheißen hatte. Während die toten Mädchen wieder zu Kindern werden, verbindet sich in ihr die kindliche Unbeschwertheit mit den Erfahrungen der Exilantin. Weil sich in ihrem Bewußtsein die Erinnerung an das Land der Kindheit mit dem kritischen Blick auf die bedrohlich gewordene Heimat vereint, das Jugendidyll mit der Zerstörungssucht des Hitlerregimes, scheint ihr jetzt die Genesung von langwierigen körperlichen und psychischen Verletzungen wieder möglich. Sie kann in diesem Zustand der gleichzeitigen Erfahrungsweise die heilende Wirkung der Landschaft am eigenen Leib ablesen: “Bei dem bloßen Anblick des weichen, hügeligen Landes gedieh die Lebensfreude und Heiterkeit statt der Schwermut aus dem Blut selbst, wie ein bestimmtes Korn aus einer bestimmten Luft und Erde” (338). Schwäche und Müdigkeit, die vor dem Einbruch der Erinnerung als Dunst und Nebelfetzen ihren Blick trübten (332, 333), weichen beim Anblick der “gewohnten vertrauten Welt” (343). Trotz “kranker Augen” haftet jetzt den Dingen “eine durch nichts verlorene, und durch nichts verlierbare Klarheit an, die durch nichts auf der Welt zu trüben war” (343). In dieser neuen, klareren Perspektive der Erinnerung scheint die Erfahrung langer Jahre, in denen sie als Vertriebene von Land zu Land gezogen war und als Feindin Deutschlands galt, zu Kinderträumen zu verblassen. Auch die Zweifel über ihren weiteren Lebensweg verblassen: Die “fragwürdige” und “ungewisse” Zuflucht in Mexiko (331) schwindet vor der geplanten Heimfahrt in das unverschuldete, verschuldete Deutschland, wo die Wiederherstellung des zertrümmerten Landes, zerstörter Selbstwertgefühle und alter Ideale als wichtigste Aufgabe bevorsteht. Nicht nur auf dem “inneren Weg in der Rahmenerzählung” beschreibt die Erzählerin also den Prozeß der “Identitätsfindung”,38 sondern auch auf einem äußeren, gesellschaftlichen, für den sie mit ihren Erinnerungen an das frühere Dasein der Mädchen einen Ausgangspunkt schafft. Indem sie die Ideologie ihrer Autorin abstreift, aber nicht deren politische Erfahrungen, stellt sie den Prozeß des eigenen Bewußtwerdens dem intuitiven Selbstgefühl der Mädchen gegenüber und schreibt mit Hilfe dieses Vergleichs der heimischen Landschaft die Quelle der Beständigkeit zu, die als ausschlaggebend zur Identitätsgründung erscheint. Das Rheinland mit seinen erinnerten Gerüchen und Geräuschen, 38
Sonja Hilzinger: Im Spannungsfeld zwischen Exil und Heimkehr: Funktionen des Schreibens in der Novelle “Der Ausflug der toten Mädchen”. In: Weimarer Bei-träge 36 (1990). S. 1572-1592, hier S. 1574.
297 wo wie in “längst untergegangenen Orte in Märchen und Liedern” (355) alles noch lebendig ist, ist deshalb im absoluten Sinne “wirklichkeitstreu” (352). Dort rückt das überwältigende Zeitgeschehen in historische Perspektiven, “alle die guten und bösen Namen” (334) der Erzählerin weichen da vor dem Namen, der das ungeteilte Selbstgefühl der Kindheit zurückbringt, und die Selbstentfaltung der Mädchen vollzieht sich noch einmal mit unreflektierter Natürlichkeit. Angesichts dieses Wirklichkeitsgrades, der aus der Erde selbst zu fließen scheint, erweist sich die Hitlerzeit, trotz aller Vernichtung, als eine der vielen Katastrophen der Geschichte, die Land und Leben nur auf Zeit verwüsten können. Die erinnerte Wasserfahrt kann daher die Heimkehr in eine unversehrte Vaterstadt “verbürgen” (352). Obwohl die Erzählerin inzwischen weiß, daß dort kaum mehr ein Stein auf dem anderen steht, betritt sie die erinnerte Stadt als wirkliche Stadt. Sie spricht vom “Willkomm einer neuen Welt” (352), durch den die historische Folge einziehender und ausziehender Soldaten wenn nicht ungeschehen, so doch als überwindbar erscheint. Auch den Nationalsozialismus weist sie quasi in historische Schranken zurück, indem sie Vergangenes als lebendige Gegenwart erzählt und auf diese Art von der Zukunft spricht. Trotz der verhängnisvoll verlaufenen politischen Ereignisse, durch die die Schulkameradinnen ihr Leben verlieren, trotz der Verkehrung ihrer ehemaligen Unbescholtenheit in Schuld und Gleichgültigkeit, bleibt das unbeschwerte Dasein der Jugendlichen in einer Landschaft, in der seit alters her Geschichte in Sagen und Legenden bewältigt wird, für die Erzählerin das ausschlaggebende Maß. Die gemeinsame Fahrt auf dem Strom und die Freundschaft der Mädchen werden zum Sinnbild “einer Verbundenheit, die einfach zu der großen Verbundenheit alles Irdischen unter der Sonne gehörte” (354). Trotz aller Bemühungen um die Kindheitsidylle bewahrt die Erzählerin ihre Beschreibung nicht ganz vor dem Eindringen realistischer Einzelheiten. Selbst in besten Zeiten, also vor Hitler, werden ja zwei der Mädchen mit ähnlichen Veranlagungen aufgrund ihrer Herkunft unterschiedlich beurteilt (341), junge Männer fallen im Krieg und Leni und Marianne werden durch Glück und Leid des Erwachsenseins “auf die gewöhnliche menschliche Weise entfremdet” (346). Realistisch wirken auch psychologische Motivierungen, die die Entwicklung der Mädchen teilweise rechtfertigen. Marianne, “lange Zeit von einer schwarzen Wolke [der Trauer] umhüllt [...]” (346), überträgt Treue und Liebe von einem Toten auf einen Lebendigen, der sich später zu einem Sturmbannführer entwickelt; die hingebungsvolle Bewunderung, die Nora ihrer Lehrerin entgegenbringt,
298 schlägt in Haß um, als die Bewunderte nicht mehr makellos erscheint.39 Aber nicht der Einbruch des Alltäglichen zerstört die Idylle, sondern der Einbruch der Nazizeit. Erst durch den massiven Druck des Regimes kann “unverbrüchliche Freundschaft” (353), gegenseitige Fürsorge und Liebe, “wie [sie] die Natur selbst geplant und zusammengefügt hat” (345), in Verrat, Haß und Grausamkeit umschlagen. Indem Seghers keines der Mädchen überleben läßt, ganz gleich ob es sich zum Helfershelfer, Mitläufer oder Gegner des Regimes entwickelt,40 belegt sie die grobe, mörderische Gleichgültigkeit dieses Systems und dessen grundsätzliche Feindseligkeit gegenüber jeder eigenständigen Selbstentfaltung. Alle Versuche, die eigene Person vor der Beschlagnahmung der Gewalt zu retten, scheitern daher, sei es, daß man wie Marianne versucht, den Ansprüchen der Gewalt zu genügen, sie wie Fräulein Mees ignoriert, oder daß man sich wie Leni widersetzt. Überleben kann nur, wer wie Otto zu früh stirbt oder wie Herbert Becker und die Erzählerin in andern Ländern Zuflucht findet. Aufgrund dieser konsequenten Relation zwischen Identität und Gewalt entsteht zuweilen der Eindruck einer verkehrten Welt: Schüler sterben vor den Lehrern (350), Schneewittchenhaar verwandelt sich in Greisinnenhaar (352), eine junge Frau nimmt sich das Leben, weil ihr Mann, um die Familie zu retten, gemeinsame Ideale verrät. Auch der Anschein, als werfe die Erzählerin den einzelnen Figuren zuweilen mangelnde Standhaftigkeit vor, wird durch die Unerbittlichkeit dieser Relation aufgehoben, so daß diese Vorwürfe gegenüber ihren Figuren allenfalls als epischer Anstoß zu Überlegungen über Schuld und Unschuld gelten können (348, 359).41 Die stilistischen Mittel, die die Erzählerin wählt, um das Zerstörerische des Faschismus darzustellen, stehen im offensichtlichen Kontrast zu denen, womit sie die unbekümmerte Jugend und die unverwüstbare Landschaft evoziert. Indem sie ihre malerische Skizze von Fluß, Schiffen, Sommerkleidern und blauweißem Kaffeeservice entwirft, beschreibt sie gleichzeitig eine realistisch anmutende Welt, eine Welt, in der Details von Verhaftungen (337), Selbstmorden (341, 343), Lazaretten (342), Deportationen (352), Konzentrationslagern (356) und Bombenangriffen (349, 351, 356, 357, 358) überwiegen. Der “ungeheure Riß,” von dem Cohen spricht,42 markiert von vorneherein jede Szene des harmonischen 39
Seghers verzichtet also nicht ganz auf psychologische Motivierung, wie z. B. Robert Cohen (Die befohlene Aufgabe machen. A.a.O. S. 191.) behauptet. 40 Vgl. Waine: Images of Women. A.a.O. S. 7. 41 Walter Grossmann sagt zu dem Phänomen der unverschuldeten Schuld folgendes: “Mit einem Verstehen des wie aber ist hier keine moralische Absolution gegeben”. In: Die Zeit in Anna Seghers “Ausflug der toten Mädchen”. Sinn und Form 1 (1962). S. 126-131, hier S. 129. 42 Cohen: Die befohlene Aufgabe machen. A.a. O. S. 191.
299 Zusammenlebens; er dringt in Sätze ein und setzt zeitlich Getrenntes gleich. “Während die Else, fest und rund wie ein Knödelchen, durch nichts anderes zu zersplittern als durch eine Bombe, in ihre Mädchenreihe hineinsprang [...].” (349), so fängt einer dieser Sätze an. Die Erzählerin selbst verkörpert gewissermaßen die anachronistische Gleichzeitigkeit, indem sie übergangslos als jugendliche Netty, als einzige und allwissende Überlebende und offenbar als die Exilantin Anna Seghers berichtet. “Wie jung sie doch aussah, die Mutter, viel jünger als ich. Wie dunkel ihr glattes Haar war, mit meinem verglichen [...] Sie stand vergnügt und aufrecht da, bestimmt zu arbeitsreichem Familienleben [...], nicht zu einem qualvollen, grausamen Ende in einem abgelegenen Dorf, wohin sie von Hitler verbannt worden war” (360). Die Gegenüberstellung von zeitlich Getrenntem, von Freundschaft und späterem Verrat, von jugendlicher Anmut und späteren Anzeichen des Alterns, bringt den Werdegang der Mädchen auf einen Punkt, der ihr menschliches Potential und ihren Niedergang dialektisch in sich vereint. Durch diese Vereinigung von Widersprüchlichem haftet allen Figuren eine Komponente des verständlichen Versagens an. Alle waren mit Eigenschaften ausgestattet, auf die es nach Seghers ankommt. Die meisten begannen ihr Erwachsenenleben mit den besten Absichten (Marianne, Else, Lehrer Neeb), nur wenige handelten aus Eigensucht oder gar Niedertracht. Wichtiger als das, was aus den Jugendlichen geworden ist, ist das, was sie einmal waren, denn es beschreibt, was aus ihnen hätte werden sollen. Die Identität der Halbwüchsigen ist der Prüfstein, an dem beides, die Schrecken des Faschismus sowie die Möglichkeiten für die Zukunft bemessen werden. Deshalb hat die Zerstörung ihrer Identität und ihrer Leben nichts mit dem landläufigen Verlust der Unschuld zu tun, der die Welt des Kindes von der der Erwachsenen trennt, und alles mit dem politischen Zwang des Naziregimes. Es handelt sich auch nicht um eine Art existentieller Katastrophe, die lediglich politische Züge trägt. “Ihre Protagonisten unterliegen einem Sog; sie gehen durch eine unsichtbare und unheimliche Realität hindurch, die sie auf unsägliche Art verwandelt,” stellt Cohen fest,43 aber die Ursachen dieser Katastrophe sind nach Seghers bekannt und intellektuell erfaßbar.44 Im Text spricht die Erzählerin zwar immer wieder von ihrer Fassungslosigkeit, ihrem Nichtverstehenkönnen, aber diese Fassungslosigkeit ist Rückblick auf unvermitteltes Er43
Ebd. S. 192. “Der Riß, der durch die Zeit geht” (Cohen: Ebd. S. 190), die Mädchen später ent-zweit und die Idylle in “die Hölle des ‘Dritten Reiches’” (Batt: Anna Seghers. A.a.O. S. 157.) verkehrt, ist als Erzählmittel zwar immer präsent, aber er hebt nicht – genauso wenig wie der unkonventionelle Gebrauch der Zeitformen – die kausale Sequenz der Ereignisse auf.
44
300 leben, also epische Verhaltung. Sie steht, wie alle Erzählelemente, im Dienst der politischen Anklage und der Frage nach politischen Erneuerungsmöglichkeiten. Durch ihre Erinnerungen an den glücklichen Zustand der Kindheit betont Seghers Eigenschaften in Land und Menschen, die diese Erneuerung und damit eine positive Wende in der Geschichte ihres Heimatlandes ermöglichen könnten. Das Wiederaufleben der Mädchen in ihrem “paradiesischen Zustand der Unschuld” beschwört emotionale und ethische Inhalte, die Seghers als Schwerpunkte der menschlichen Identität und des menschlichen Zusammenlebens betrachtet. Während sie am Beispiel ihrer Erzählerin zeigt, daß die Idylle selbst im Zustand der Zerstörung weiterwirkt, daß in der Erinnerung lebt, was in Wirklichkeit verloren scheint, und daß geschichtliches Bewußtsein innere und äußere Trostlosigkeit in Zuversicht verwandeln kann, können diese Inhalte überzeugend wirken. Stilistisch gelingt der Autorin dabei, was ihr seit Beginn ihrer Schreibkarriere vorschwebte: “Erzählen, was mich heute erregt, und die Farbigkeit von Märchen. Das hätte ich am liebsten vereint und wußte nicht, wie.”45 Aus dem Gemisch von Subjektivem und Allgemeingültigem, von längst Vergangenem und jüngst Vergangenem entsteht so eine Vision, durch die die Möglichkeiten eines harmonischen Daseins in die politische Wirklichkeit hinübergerettet werden sollen. Auf diesem “seherischen Zug”46 basieren der Anspruch auf Wahrhaftigkeit der Kindheitserinnerung als auch das politische Potential der im Text ausgesparten Zukunft. In diesem Sinne will die Kindheitsidylle “wirklichkeitstreu” sein, also realistisch.
45
Seghers: Glauben an Irdisches. A.a.O. S. 372. Konrad Faber beschreibt den ersten Eindruck der Erzählung als den Zusammenklang von widersprüchlich erscheinenden Erzählmomenten: “Wiederum befanden wir uns im Banne Deiner Traum-Nüchternheit...dieser Sprache, die dunkel und hell, warm und kühl zu tönen vermag, die fraulich ist und männlich zugleich [...].” (in: Seghers/Herzfelde: Gewöhnliches und gefährliches Leben. A.a.O. S. 28.). 46 M[ax] Schröder in einer Rezension vom 15. August 1946; zitiert in: Seghers/ Herzfelde: Gewöhnliches und gefährliches Leben. A.a.O. S. 120.
Jochen Vogt
Damnatio memoriae und “Werke von langer Dauer” Zwei ästhetische Grenzwerte in Brechts Exillyrik The essay investigates Brecht’s shift from an earlier modernist conception of memory in favor of a pre-modern comprehension of memoria in the sense of collective memory. This change can be interpreted as a reaction to the exile experience as well as to Nazi attempts to destroy cultural heritage both of which Brecht understood as a threat to memory. In his poems, Brecht develops literary strategies which allow a more communicative and thus lasting reception of his work. AN DIE DÄNISCHE ZUFLUCHTSSTÄTTE Sag, Haus, das zwischen Sund und Birnbaum steht: Hat, den der Flüchtling einst dir eingemauert Der alte Satz DIE WAHRHEIT IST KONKRET Der Bombenpläne Anfall überdauert? Steffinsche Sammlung, 1940
Brechts Werk ist bisher noch kaum unter der thematischen und methodischen Perspektive von ‘Erinnern’ und ‘Vergessen’ behandelt worden. Ein wenig erstaunlich ist dies schon, wenn man die aktuelle Konjunktur der Forschungen zum “kulturellen Gedächtnis”, auch und gerade in der deutschen Literaturwissenschaft, bedenkt. Wenn ich recht sehe, hat bisher nur Gerhard Neumann der memoria in einigen Liebesgedichten Brechts nachgeforscht und Sigrid Thielking dessen “Inschriften im Kontext von Denkmalsdiskurs und Erinnerungspolitik” diskutiert.1 Mit den folgenden Über1 Gerhard Neumann: “L’inspiration qui se retire” – Musenanruf, Erinnern und Vergessen in der Poetologie der Moderne. In: Memoria. Erinnern und Vergessen. Hrsg. v. Anselm Haverkamp und Renate Lachmann. München 1993. S. 433-455; Sigrid Thielking: “L’homme statue”? Brechts Inschriften im Kontext von Denkmalsdiskurs und Erinnerungspolitik. Erscheint in: The Brecht Yearbook 24 (1999). S. 54-67. − Verspätet habe ich zur Kenntnis genommen: Daniel Müller-Niebala: Vergessen und Erinnern im Text. Noch einmal Bert Brechts “Erinnerung an die Marie A.”. In: Poetica 29 (1997). H.1/2. S. 234-254. – Brechts Gedichte zitiere ich im Text nach der Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe unter Angabe von Band- und Seitenzahl.
302 legungen, die ich als vorläufige Problemskizze verstehe und gelegentlich weiter ausführen möchte, knüpfe ich dankbar an beide Studien an. Und fragst du mich, was mit der Liebe sei? So sag ich dir: ich kann mich nicht erinnern Und doch, gewiß, ich weiß schon, was du meinst Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer Ich weiß nur mehr: Ich küßte es dereinst.
Eines von Brechts schönsten Gedichten konstituiert Erinnerung, indem es ihre Unmöglichkeit, also das Vergessen eingesteht: Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer... Ich weiß nur mehr: Ich küßte es dereinst.
Identität und Individualität der Geliebten bleiben schemenhaft, ein blanc, eine Unbestimmtheitsstelle. Erinnert wird das Faktum des Kusses nur mit Hilfe der ‘wolkigen’ Aura – Und auch der Kuß, ich hätt ihn längst vergessen Wenn nicht die Wolke dagewesen wär Die weiß ich noch und werd ich immer wissen Sie war sehr weiß und kam von oben her. (GBA 11,92)
Die Brechtforscher haben versucht, die Spannung des Textes in einen säkularisierten Marienkult aufzulösen (so Albrecht Schöne), oder in die kleinbürgerliche Normalität mit sieben Kindern (Klaus Schuhmann), oder in die epochale Erfahrung vom “Menschenverschleiß” (Jan Knopf).2 Meinerseits möchte ich nur den Hinweis anfügen, daß das Vergessen beim frühen Brecht eine Chiffre ist, die – nicht ganz so prominent wie die Kälte – doch in ähnliche Richtung weist. Sie markiert die leere Transzendenz – Als ihr bleicher Leib im Wasser verfaulet war, Geschah es (sehr langsam), daß Gott sie allmählich vergaß (GBA 11, 109)
− aber auch die Entfremdung im menschlichen Miteinander, nicht zuletzt in der Beziehung zur “stillen, bleichen Liebe” Marie A. Die historischen Erfahrungen, oder besser: den dramatischen Erfahrungsverlust der Generation von 1918, der da hineinspielt, hat ein Freund Brechts später sehr prägnant beschrieben: 2
Jan Knopf: Gelegentlich: Poesie. Ein Essay über die Lyrik Bertolt Brechts. Frankfurt a.M. 1996. S. 71. – Dort auch Diskussion der Deutungen von Schöne und Schuhmann.
303 Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper.3
Die Wolke figuriert in Brechts Gedicht als simulacrum des menschlichen Gesichts. Erinnerung ist nicht substantiell, sondern ephemer, zufällig; sie symbolisiert le transitoire, le fugitif – und ist damit, nach Baudelaire, spezifisches Emblem der modernité. Es geht bei Brecht, in den Worten von Gerhard Neumann gesagt, um “Erinnerung, die als Vergessen inszeniert wird”4 – und damit zugleich, paradoxerweise, den poetischen Text als Erinnerungsraum5 öffnet: Brechts ertrunkenes Mädchen ist eben auch die Ophelia Shakespeares und Rimbauds oder der deutschen Expressionisten; hinter dem ausgelöschten Antlitz der Marie A. zeichnen sich die archetypischen Züge einer Laura oder Beatrice ab. Mit dieser dialektischen Bewegung aber rückt der junge Brecht neben einige ältere Zeitgenossen, die seit der Jahrhundertwende auf ihre Weise das Nicht-mehr-Mögliche thematisieren und eben damit neue ästhetische Möglichkeiten eröffnen (denken wir nur an Hofmannsthals Lord Chandos-Brief oder an Rilkes MalteRoman). Und während Brecht sein Liebesgedicht niederschreibt, am 22. Februar 1920, abends gegen 7 Uhr im Schnellzug München-Berlin,6 dürfte ein Pariser Kollege seinerseits über den Druckfahnen eines Werkes gesessen haben, das man eine monumentale “Poetik der Erinnerung aus der Tiefe des Vergessens” nennen darf. Wenn ich diese Formulierung von Harald Weinrich,7 die natürlich Marcel Proust gilt, versuchsweise auf Brecht und Erinnerung an die Marie A. übertrage, dann will ich damit seine (zumindest punktuelle) Teilhabe an der Erinnerungsproblematik und seine Nähe zu den ästhetischen Erinnerungsprojekten der klassischen Moderne markieren. Individuelle Erinnerung wird ja mit der Entwicklung der technischen Speichermedien zunächst einmal zunehmend von der Aufgabe entlastet, kulturelle Überlieferung zu sichern, sie wird zum “Vehikel reiner Subjektivität”, wie Gotthard Wunberg das beschrieben hat:
3
Walter Benjamin: Der Erzähler. In: Ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Frankfurt a.M. 1961. S. 410. 4 Neumann: “L’inspiration qui se retire”. A.a.O. S. 447. 5 Vgl. Renate Lachmann: Kultursemiotischer Prospekt. In: Memoria. Erinnern und Vergessen. A.a.O. S. XVII-XXVII; vgl. auch: Dies.: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt a.M. 1990. 6 Knopf: Gelegentlich: Poesie. A.a.O. S. 73. 7 Harald Weinrich: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens. München 1997. S. 192.
304 Was ich selbst erinnere, muß ich selbst gewußt, aber vergessen haben. So wie ich es dem Vergessen entreiße und zu mir zurückrufe, teile ich es mit niemandem. Erinnerung teilt das Subjekt mit niemandem, es sei denn, es verständigt sich mit anderen Subjekten darüber. Die Konsequenz daraus ist [...], daß ästhetische Wahrnehmung und Wertung in der Moderne Verständigung über vereinzelte Erinnerung ist, die dadurch zur gemeinsamen wird.8
Vor diesem Problemhintergrund möchte ich nun etwas ausführlicher darlegen, daß, wie und warum der Lyriker Brecht im Exil von dieser modernistischen Position abgeht, ja zurückweicht auf eine alternative, medienund mentalitätsgeschichtlich ältere, eine tendenziell vormoderne Position: die memoria als kollektives Gedächtnis. Dabei gilt sein besonderes Augenmerk der Schrift, und zwar der öffentlich zugänglichen, mehr oder weniger dauerhaften Inschrift oder auch der Niederschrift von Wissen, sowie der oralen Überlieferung, als traditionellen Formen und Medien des kollektiven Gedächtnisses (deutlich geringer ist übrigens sein Interesse am Bild). Prinzipiell sichert das Zusammenspiel von Speicherung in der Schrift und kommunikativem Gebrauch des Geschriebenen die Überlieferung des Wissens – kulturelles und politisches Orientierungswissen – und seine potentielle Wirksamkeit. Brecht thematisiert nun, gehäuft im skandinavischen Exil, anhand verschiedener Modellsituationen und in diversen historischen Kontexten, das erhoffte Gelingen oder eben die Gefährdungen und die Zerstörung der kollektiven Gedächtnisarbeit. Besonders die Exilsituation – dies ist meine naheliegende These – wird als prinzipielle und potentiell finale Bedrohung der memoria erfahren und thematisiert. Dafür nun drei oder vier (sehr bekannte) Beispiele aus den Svendborger Gedichten. AUF DER MAUER STAND MIT KREIDE: Sie wollen den Krieg. Der es geschrieben hat Ist schon gefallen. (GBA 12, 12)
Wir befinden uns, wie der Zwischentitel Deutsche Kriegsfibel anzeigt, in Nazi-Deutschland. Daß es sich bei diesem graffito um Nazipropaganda gegen Frankreich und England handelt, wie Jan Knopf meint,9 scheint mir weniger plausibel als die gängige Lesart: eine antifaschistische Widerstandsparole, etwa im Sinne der vielfach bezeugten kolloquialen Wendung: “Hitler bedeutet Krieg”. Jedenfalls spielt Brecht hier mit den Mo8
Gotthard Wunberg: Mnemosyne. Literatur unter den Bedingungen der Moderne: ihre technik- und sozialgeschichtliche Begründung. In: Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Hrsg. v. Aleida Assmann und Dietrich Harth. Frankfurt a.M. 1991. S. 87f. 9 Knopf: Gelegentlich: Poesie. A.a.O. S. 210.
305 tiven von Dauer und Vergänglichkeit: Die flüchtige Aufschrift ist, wie das Präteritum andeutet, wieder getilgt worden, ihre historische Wahrheit beweist sich tragisch im gewaltsamen Tod des Schreibers. Ob sie jemals Leser fand, die sie ‘gebrauchen’ konnten, bleibt mehr als ungewiß aber sie wird im Textgedächtnis gespeichert: das Gedicht selbst nimmt den Duktus einer Wandinschrift an. Es ist spruchartig, “kurz, also memorierbar”; es konstituiert memoria. Walter Benjamin hat als erster den ästhetisch produktiven “Widerspruch” von schwacher Materialität und prophetischer Aussage, von medium und message benannt: in Worten, denen, ihrer poetischen Form nach, zugemutet wird, den kommenden Weltuntergang zu überdauern, ist die Gebärde der Aufschrift auf einem Bretterzaun festgehalten, die der Verfolgte hinwirft. [...] Der Dichter belehnt mit dem horazischen aere perennius das, was, dem Regen und den Agenten der Gestapo preisgegeben, ein Proletarier mit Kreide an ein Mauer warf.10
Um ein graffito – und um diese Dialektik von Dauer und Auslöschung – geht es auch in einem anderen Gedicht, das jedoch fast humoristisch gewendet wird. In einem italienischen Gefängnis hat ein gefangener Soldat die Parole Hoch Lenin! oben in die Zellenwand geritzt. (Die historische Episode, die Brecht verarbeitet, spielt übrigens 1917 im Gefängnis San Carlo in Torino.11) Dieser Schriftzug gewinnt nun paradoxerweise mit jedem Versuch der Auslöschung durch die Machthaber an Prägnanz, ja an materieller Kraft. Da schickten die Wärter einen Maurer mit einem Messer gegen die Inschrift vor Und er kratzte Buchstabe für Buchstabe aus, eine Stunde lang Und als er fertig war, stand oben in der Zelle, nun farblos Aber tief in die Mauer geritzt die unbesiegliche Inschrift: Hoch Lenin! Jetzt entfernt die Mauer! sagte der Soldat. (GBA 12, 39f.)
Erst durch die Versuche der Tilgung wird die Aufschrift zur Inschrift, gräbt sich geradezu ein und scheint schließlich die magische Qualität archaischer Inschriften zu gewinnen;12 fast könnte man sich vorstellen, daß “sie mit der Zeit den harten Stein besiegt”, wie es in einem berühmten anderen Gedicht dieses Zyklus heißt.
10
Walter Benjamin: Kommentare zu Gedichten von Brecht. In: Ders.: Angelus Novus. Ausgewählte Schriften 2. Frankfurt a.M. 1966. S. 539. 11 Vgl. zur Quelle den Kommentar von Jan Knopf: Gedichte 2. S. 370f. 12 Vgl. Willem Vlusser: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? 4. Aufl. Göttingen 1977. S. 14ff.
306 Die Unbesiegliche Inschrift steht in der dritten Abteilung der Svendborger Gedichte. Daß Brecht für sie den Titel Chroniken wählt bzw. aus der Hauspostille übernimmt, zeigt die Abwendung vom epigrammatisch-“lapidaren” Stil (Benjamin) der Deutschen Kriegsfibel an. Unverkennbar ist nun der narrative Grundzug, Brecht selbst hat charakterisierend von “erzählenden Gedichten” gesprochen.13 Das Eingangsgedicht Fragen eines lesenden Arbeiters macht darüber hinaus den Rekurs auf eine anekdotische Historik als traditionelle Form des kollektiven Gedächtnisses programmatisch. In kultursemiotischer Sicht könnte man nicht nur dieses Gedicht, sondern die Chroniken insgesamt als eine Intervention verstehen, wie sie – nach Renate Lachmanns Ausführungen – typisch ist für zugespitzte historisch-kulturelle Krisen und Konflikte: Wenn die Diskrepanz zwischen institutionalisiertem Gedächtnis und ausgegrenzter Geschichte [...], die das inoffizielle Gedächtnis bewahrt, unerträglich wird und die Kultur in eine Aporie treibt, werden Modi der Rekonstruktion durchgesetzt, die Fälschungen aufdecken, Lücken schließen, globale Reinterpretationen [...] versuchen.
In Lachmanns Typologie wären die Chroniken wohl als eine literarisch reflektierte Spielform der “diegetischen Genres” anzusehen, in denen sich “Mythisches und Historisches wechselseitig affizieren” und das “produktive kollektive Gedächtnis einer Kultur zur Artikulation” drängt.14 Für uns aber sollte von besonderem Interesse sein, daß Brecht in mehreren Episoden seiner Gegen-Chronik ebensolche Prozesse, nämlich die Genese von diegetischen Inschriften oder Niederschriften thematisiert bzw. erzählt sowie ihre Geltung und deren Gefährdung erkundet. In einem dieser Gedichte, Die Teppichweber von Kujan Bulak ehren Lenin, werden Erzählung und Inschrift, bzw. die epische, die epigrammatische und die appellative Funktion miteinander verschränkt. Die Episode von der ungewöhnlichen Totenehrung, bereits 1929 entstanden, ist zunächst einmal ein marxistisch-optimistisches Theorie-Praxis-Exempel (auch wenn der Personenkult von Lenins Nachfolger es für uns auf makabre Art in Frage stellt). Wenn die fiebergeschüttelten Teppichweber unter Anleitung des Rotarmisten eben nicht die “gipserne Büste” aufstellen, sondern mit “dem Geld für die Büste Petroleum” kaufen und also das Fieber [...] bekämpfen in Kujan-Bulak, und zwar Zu Ehren des gestorbenen, aber Nicht zu vergessenden Genossen Lenin 13 14
Vgl. den Kommentar von Jan Knopf: Gedichte 2. S. 365. Lachmann: Kultursemiotischer Prospekt. A.a.O. S. XXVf .
307 dann erweisen sie sich als das lernfähige Kollektiv, das der “Aufbau des Sozialismus in einem Land” erfordert. Im Kontrast zu leeren Monumentalität, zum “gipsernen” Denkmal, erweist sich die nützliche Tat als wahre Ehrung, als Tathandlung, die das Gedenken nicht ersetzt, sondern dialektisch in sich aufhebt: So nützten sie sich, indem sie Lenin ehrten und Ehrten ihn, indem sie sich nützten und hatten ihn Also verstanden.
Um ein exemplum im Sinne sozialistischer memoria zu werden, muß aber auch und gerade eine solche Aktion überliefert werden. Erst die “Tafel”, also die Inschrift (und implizit deren Lektüre) machen den Bericht und damit die vorbildliche Tat dauerhaft, kommunizier- und wiederholbar. Der kollektive Lernprozeß aber zeigt sich darin, daß der pädagogische Rotarmist, also die Lehrerfigur, sich nun überflüssig gemacht hat (wie Brecht gern formuliert). Es ist ein namenloser “Mann in der Versammlung”, der dieses Blatt der sozialistischen Chronik aufschlägt. Und Brecht instrumentiert diese Schlußpointe mit einer sehr hübschen rhythmischen Antiklimax15 Und sie machten auch das noch Und setzten die Tafel. (GBA 12, 37ff.)
Der kollektive Lernprozeß kann gelingen, weil er in einem relativ unbedrohten Innenraum der gesellschaftlichen Kommunikation stattfindet. Das muß natürlich als poetische Stilisierung, ja Idealisierung angesehen werden, wenn man es mit dem realhistorischen und konfliktreichen Denkmalsdiskurs in der frühen Sowjetunion kontrastiert, über den Hubertus Gaßner anschaulich informiert.16 Nach Lenins Tod 1924 ist eine flächendeckende Massenproduktion von “gipsernen Büsten” festzustellen, die auch von energischen Warnungen gegen eben diese Form der Ehrung nicht aufgehalten wird. Sie werden dezidiert von avantgardistischen Künstlern und Intellektuellen wie Majakowski und den Mitgliedern der LEFGruppe vorgebracht. Für Brechts Teppichweber könnte jedoch die Argumentationslinie von Lenins Witwe Nadeshda Krupskaja (bereits 1924) noch wichtiger gewesen sein : 15
Was nicht bedeutet, daß er in den Svendborger Gedichten insgesamt auf das pathetische Register, bisweilen hart an der Grenze zum Politkitsch (oder jenseits davon), verzichten würde; man denke an Texte wie ‘Kohlen für Mike’, ‘Inbesitznahme der großen Metro’ oder ‘Der große Oktober’. 16 Hubertus Gaßner: Sowjetische Denkmäler im Aufbau. In: Mo(nu)mente. Formen und Funktionen ephemerer Denkmäler. Hrsg. v. Michael Diers. Berlin 1993. S. 153-178. Zitiert nach Gaßner: Sowjetische Denkmäler. A.a.O. S. 153f.
308 Lassen Sie es nicht zu, daß sich Ihre Trauer über Iljitsch in äußerlicher Verehrung seiner Persönlichkeit ausdrückt. Schaffen Sie ihm keine Denkmäler, keine Paläste mit seinem Namen, organisieren Sie keine pompösen Zeremonien zu seiner Erinnerung usw. Zu seinen Lebzeiten hatte er sehr wenig Interesse für so etwas. Es bedrückte ihn. Erinnern Sie sich daran, wieviel Elend und Unordnung es noch in unserem Land gibt. Wenn Sie den Namen Wladmir Iljitschs ehren wollen, dann schaffen Sie Kinderkrippen, Kindergärten, Häuser, Schulen, Bibliotheken, Krankenwagen, Hospitäler, Asyle usw., und vor allem verwirklichen Sie seine Lehre im Leben.17
Auch Brechts ‘Lehrer’ Sergej Tretjakow argumentiert 1928 im gleichen, gebrauchswertorientierten Sinn gegen sozialistische Denkmäler – und lobt 1936 ausdrücklich Brechts Teppichweber-Gedicht.18 Die Durchsetzung des bekannten Lenin-Kultes, von der “gipsernen Büste” bis zum Mausoleum auf dem Roten Platz, die dann nahtlos in Stalins monumentale Selbstverherrlichung übergeführt werden kann, haben jene kritischen Argumente bekanntlich nicht verhindern können. Die gewaltsame Behinderung und Unterdrückung der gesellschaftlichen Kommunikation, und damit die Gefährdung des kollektiven Gedächtnisses schlechthin, wird in einem noch berühmteren Gedicht von Brecht ausdrücklich, wenn auch in historischer Verfremdung angesprochen: Die Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration. Die “Weisheit des Laotse” ist nicht nur, wie wiederum Benjamin kommentiert, “im Begriff, ihm das Exil einzutragen”,19 sie steht selbst in Gefahr, unwiederbringlich verloren zu gehen. Insofern ist es nicht zufällig, daß der Zöllner, der Hüter der Grenze, sich um ihre Sicherung sorgt. Diese Weisheit hat den ursprünglichen Charakter mündlich überlieferten Wissens; doch nur als Niederschrift kann sie, angesichts der Hinfälligkeit des Weisen und der Gefahren des unbekannten Draußen, gesichert werden: Schreib mir’s auf! Diktier es diesem Kinde! Sowas nimmt man doch nicht mit sich fort. Da gibt’s doch Papier bei uns und Tinte 17
Zitiert nach Gaßner: Sowjetische Denkmäler. A.a.O. S. 153f. In vollem Umfang abgedruckt sind die ‘Teppichweber’ in der erweiterten Fassung des Brechts-Porträts von Sergej Tretjakow, die in seinem Band Menschen eines Scheiterhaufens. Moskau 1936, enhalten ist (vgl. Sergej Tretjakow: Lyrik, Dramatik, Prosa. Hrsg. v. Fritz Mierau. Frankfurt a.M. 1972. S. 320-357, bes. S. 352ff.) – In der Erstfassung des Porträts von 1934 ist dieses Zitat noch nicht enthalten (vgl. S.T.: Die Arbeit des Schriftstellers. Aufsätze, Reportagen, Porträts. Hrsg. v. Heiner Boehncke. Reinbek 1972. S. 146-158.). 19 Benjamin: Kommentare zu Gedichten von Brecht. A.a.O. S. 535. 18
309 Erst die Schrift sichert die Fortdauer des Wissens, seine Übertragbarkeit und die Reproduzierbarkeit – die wiederum Voraussetzung seiner “Verwendbarkeit” sind. Ihre Botschaft ist epigrammatisch verdichtet, einundachtzig Sprüche, über die wir im Gedicht nichts Näheres erfahren. Man darf freilich annehmen, daß der mündlich mitgeteilte unter ihnen ist: Daß das weiche Wasser in Bewegung Mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt (GBA 12, 32ff.)
− ein Grundsatz der Naturdialektik, dessen Übertragung auf historische Prozesse und soziale Konflikte fast allzunahe liegt. “Der materialistische Dialektiker, schreibt Benjamin, “wird dabei an die Sache der Unterdrückten denken.”20 Kehrseite der Erinnerung ist das Vergessen; Kehrseite des kulturellen Gedächtnisses ist das Vergessenwerden, die Zerstörung der memoria. Brecht artikuliert die Angst davor im innersten Zentrum der Chroniken, in dem auf die Taoteking-Legende unmittelbar folgenden Text. Daß er auch in ihm den aktuellen Zeitbezug und seine persönliche Betroffenheit verhüllt, kommt der poetischen Wirkung nur zugute, wie leicht zu sehen ist. Aus dem Jahr 1934 stammt nämlich eine Vorform, ein ungedrucktes Gedicht, das wir erst durch die Brecht-Ausgabe von 1972 kennengelernt haben. Es ist, knapp gesagt, der selbstbewußte Versuch einer Selbstkanonisierung im Kontext eines “Exils aller Zeiten.”21 DIE AUSWANDERUNG DER DICHTER Homer hatte kein Heim Und Dante mußte das seine verlassen. Li-Po und Tu-Fu irrten durch Bürgerkriege Die 30 Millionen verschlangen Dem Euripides drohte man mit Prozessen Und dem sterbenden Shakespeare hielt man den Mund zu. Den Francois Villon suchte nicht nur die Muse Sondern auch die Polizei “Der Geliebte” genannt Ging Lukrez in die Verbannung So Heine und so auch floh Brecht unter das dänische Strohdach. (GBA 14, 256)
20
Ebd. S. 537. Vgl. Sigrid Thielking: Warten – Erzählen – Überleben. Vom Exil aller Zeiten in Anna Seghers’ Roman Transit. In: Argonautenschiff. Jahrbuch der Anna-SeghersGesellschaft 4 (1995). S. 127-138.
21
310 Die Formel vom “dänischen Strohdach” wandert fünf Jahre später ins Motto- und Widmungsgedicht (GB 12, 7) der Svendborger Gedichte, das ja sehr explizit von der Bedrohung des kollektiven Gedächtnisses – und damit auch der Wirksamkeit des politischen Dichters spricht. Und für den Dichterkatalog, zuerst noch ganz auf die persönliche und eher ‘schwache’ Schlußpointe ausgerichtet, findet Brecht in der Neufassung von 1938 eine tragfähige narrative Idee, eine einprägsame Szenerie, einen unverwechselbaren Sprachduktus und eine Schlußwendung, die einen ganz neuen, bedrückenden Problemhorizont öffnet. Und er findet all dies in der größten literarischen “Kathedrale des Gedächtnisses”, wie Harald Weinrich22 wiederum ein wenig emphatisch schreibt, oder schlichter gesagt, im Ersten Kreis der danteschen Hölle. Den fünften Gesang der Divina Commedia hatte Brecht ja schon zehn Jahre vorher für sein Gedicht Die Liebende intertextuell geplündert;23 jetzt greift er auf die markante Episode des vierten Gesangs zurück, in der die Jenseitswanderer Dante und Vergil von den antiken Dichtern begrüßt werden, die als Heiden nicht auf den Gnadenweg gelangen können, ihrer literarischen Verdienste wegen aber auch nicht ins Inferno verstoßen werden dürfen.24 “Das Ereignis jener ersten jenseitigen Begegnung” – schreibt Hugo Friedrich – “war die Aufnahme des Wandernden in den Kreis der großen Dichter: Homer, Horaz, Ovid, Lucan und Vergil, – ein Akt der Selbstkrönung Dantes, der sein Maß kennend, ans Portal seines Gedichts nicht nur die Demut vor Schöpfer und Gnade stellt, sondern auch seinen Stolz, der unter menschlicher Größe sich zu seinesgleichen findet.”25 Brecht schließt sich hier ohne (falsche?) Bescheidenheit an. Eine peinliche Wirkung dieser “Selbstkrönung” verhindert er durch die Anonymisierung seiner Person wie auch durch den Kunstgriff, die ganze Szene nicht, wie Dante, unter das Zeichen des Ruhms (l’onrata nominanza), sondern von dessen Gefährdung zu stellen. Die Episode oszilliert zwischen “Traum” und Realismus mit satirischen Untertönen; der namenlose “Besucher” hat Dante als maestro zur Seite (so wie Dante seinen Vergil); und auch der appellative Duktus, die Zurufe der toten Dichter bzw. einer anonymen “Stimme” an den lebenden Besucher, sind danteskes Erbe. 22
Harald Weinrich: Gedächtniskultur – Kulturgedächtnis. In: Merkur 45 (1991). S. 573. 23 Vgl. Knopf: Gelegentlich: Poesie. A.a.O.S. 105-129; sowie Carl Pietzcker: “Terzinen über die Liebe”. In: Gedichte von Bertolt Brecht. Hrsg. v. Jan Knopf. Stuttgart 1995. S. 68-84. 24 Inferno IV, 64-105; vgl. Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Italienisch und deutsch, übersetzt und kommentiert von Hermann Gmelin. Bd. I. München 1988. S. 51-55. 25 Hugo Friedrich: Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie. Frankfurt a.M. 1942. S. 16.
311 [...] Das Gelächter Dauerte noch, da, aus der dunkelsten Ecke Kam ein Ruf: “Du, wissen sie auch Deine Verse auswendig? Und die sie wissen Werden sie der Verfolgung entrinnen?” “Das sind die Vergessenen”, sagte der Dante leise “Ihnen wurden nicht nur die Körper, auch die Werke vernichtet.” Das Gelächter brach ab. Keiner wagte hinüberzublicken. Der Ankömmling War erblaßt. (GBA 12, 35f.)
Dantes limbo, die Vorhölle, das heilsgeschichtliche Zwischenlager, wird bei Brecht zum topos des Exils schlechthin. Von Ovid bis Heine ertragen die Dichter ihre Expatriierung im Bewußtsein des exegi monumentum, der gesicherten Fortdauer ihrer Werke. Aus diesem Grunde kommen ihnen auch Namen, Körper und Temperamente zu. Nur noch anonyme Stimme sind die Vergessenen. Sie sind der damnatio memoriae anheimgefallen, der geplanten und gewaltsamen Auslöschung ihrer Worte und Werke. Es handelt sich dabei realgeschichtlich um eine Zensur-, Straf- und Vernichtungspraxis, die bereits im Perikleischen Zeitalter bekannt war, in Rom häufiger praktiziert und spätestens unter Augustus als “eine etablierte legale Form der Bestrafung”26 kodifiziert wurde. Sie konnte posthum auch gegen despotische Herrscher verhängt werden; in erster Linie traf sie jedoch mißliebige Autoren und ihre philosophischen, religiösen oder dichterischen Werke. Praktisch war die Vernichtung von Manuskripten oder Büchern, vorzugsweise durch Feuer, zumeist mit Strafen an Leib und Leben verbunden: Hinrichtung, Inhaftierung, mindestens Exilierung und Berufsverbot. Sieht man von allgemeinen Effekten wie Machtdemonstration und Abschreckung ab, so zielten Bücherverbrennungen im engeren, mediengeschichtlichen Sinn darauf ab, sowohl die aktuelle Verbreitung wie auch die Überlieferung und Nachwirkung der inkriminierten Schriften zu verhindern bzw. einzuschränken. Über zweitausend Jahre hinweg bleibt dieses Ziel gleich: die möglichst vollständige und nicht revidierbare Löschung im kulturellen Gedächtnis, eben die damnatio memoriae. Alle Inschriften und Bildnisse des unbeliebten Kaisers Domitian (seinerseits ein notorischer Bücherverbrenner), so berichtet uns Sueton, habe man nach dessen Tod getilgt, um “jegliches Gedenken an die verhaßte Person aus der Welt zu schaffen” – abolendam omnem memoriam.27 “Thomas Mann” – 26
Fredrick H. Cramer, zitiert nach Hermann Rafetseder: Bücherverbrennungen. Die öffentliche Hinrichtung von Schriften im historischen Wandel. Wien, Köln, Graz 1988. S. 134. 27 C. Suetonius Tranqillus: Die Kaiserviten/De vita caesarum. Lateinisch-deutsch. Hrsg. und übersetzt von Hans Martinet. Düsseldorf/Zürich 1997. S. 926f.
312 heißt es in einer Presseanweisung der Reichsschrifttumskammer aus dem Jahr 1937, – “soll ausgelöscht werden aus dem Gedächtnis aller Deutschen [...].”28 Brecht greift also einen topos auf, aber er hat natürlich auch die mehr oder weniger spektakulären Maßnahmen der Nazis vor Augen und reflektiert die befürchteten oder bereits erfahrenen Schwierigkeiten, besonders den Verlust der für ihn so wichtigen Arbeitszusammenhänge. Bei den ominösen Verbrennungssprüchen der Deutschen Studentenschaften vom 10. Mai 1933 hatte man ihn ja unrühmlicherweise übergangen, aber auf den Schwarzen Listen für die “Säuberung” der Bibliotheken war er prominent vertreten.29 Zu denken wäre dann besonders an die schwierige Druckgeschichte der Svendborger Gedichte, vor allem die Zerstörung des sogenannten Prager Satzes im Malik Verlag im Januar 1939.30 Dieser bislang massivste Angriff auf das eigene Werk geht als konkrete Erfahrung jedenfalls ins Widmungsgedicht von 1939 ein; aber schon die erwähnten Gedichte von 1938 arbeiten die grundsätzliche Problematik heraus31 und 28
Anweisung Nr. 137 [der Reichsschrifttumskammer an die Presse] vom 26.1. 1937, dokumentiert in: Faschismus. Renzo Vespignani. Hrsg. v. Neue Gesellschaft für bildende Kunst. 4. Aufl. Berlin (West) 1977. S. 78. 29 Vgl. den von der Deutschen Studentenschaft vorgeschlagenen und örtlich variierten “Basistext” der sog. Feuersprüche in: Die Bücherverbrennung. Zum 10. Mai 1933. Hrsg. v. Gerhard Sauder. München 1983. S. 77f., sowie die erste “Schwarze Liste” für die Schöne Literatur mit dem Namen “Brecht, Bert”, ebd., S. 122f. – Eine vergleichsweise differenzierte Einschätzung Brechts aus der Sicht nationalsozialistischer Literaturpolitik findet sich in einer kritischen Abrechnung mit dem “gestürzten Olymp”, den “falschen Göttern”, also den nun geächteten Autoren der Weimarer Republik, die das Literaturblatt der Berliner Börsenzeitung am 25. Juni 1933 publizierte (Nr. 26). In einem Beitrag von Frank Maraun heißt es dort u.a.: “Die Dichtungen Brechts, von denen gemäß seiner einseitig lyrisch-balladesken Begabung die in der Hauspostille gesammelten Balladen den stärksten Eindruck vermitteln, sind das aufrichtigste und radikalste Abbild jener ideenlosen Epoche, in der das körperliche Behagen als höchster, ja als einziger diskutabler Lebenswert galt. Er hat das Menschenbild dieser Epoche am sichersten erfaßt und es jeder Maskierung durch die gebräuchlichen Scheinideale beraubt. Er führte in uns den Menschen vor, der das Resultat der herrschenden Gesinnung war; den Menschen der liberalen Epoche, der, keiner sittlichen Macht, keiner Gemeinschaft und keiner Idee mehr verbunden, außerhalb jeder geistigen und moralischen Ordnung, die den Menschen vor dem Menschen verpflichtet, nicht mehr lebte, sondern nur noch vegetierte. Er ist der einzige wirkliche Dichter des Marxismus in Deutschland geblieben.” – Für den Hinweis auf diesen Text danke ich Helmut Peitsch. 30 Vgl. den Kommentar von Jan Knopf: Gedichte 2. S. 352f. 31 Nicht zu unterschätzen scheint mir auch Brechts mehr oder weniger deutliche Ahnung, daß selbst im eigenen Lager, konkret: im Herrschaftsbereich von KPdSU und Komintern, die Pflege und Fortdauer seiner Werke nicht ohne weiteres als gesichert gelten durfte.
313 lassen erkennen, daß Brecht sich gezwungen und berufen fühlt, in die kanonische Reihe – la bella scuola – der “verbannten Dichter” einzutreten. Nun könnte man einwenden, daß die vollständige und finale Tilgung eines Werkes im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, gar bei einem halbwegs populären Autor, nicht realisierbar ist. Dies räumt faktisch auch der Reichspropagandaminister ein, immerhin ein studierter Germanist, wenn er die Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz als “eine starke, große und symbolische Handlung” preist, “die vor aller Welt dokumentieren soll, hier sinkt die geistige Grundlage der Novemberrepublik zu Boden.”32 Tatsächlich ist der Zweifel an der Wirkung der Schriftenvernichtung fast so alt wie diese Praxis selbst. Tacitus spottet über die Beschränktheit derer, “die da glauben, eine Gewalt der Gegenwart vermöge auch die Erinnerung der Folgezeit auszulöschen; denn im Gegenteil: durch die Bestrafung von Geisteswerken wächst deren Ansehen (punitis ingeniis gliscit auctoritas); und [...] die, welche dergleichen Raserei geübt, haben nicht anderes bewirkt als ihre eigene Schande und den Ruhm jener Werke.”33 Zumindest in seinem Inferno-Gedicht vermeidet Brecht, dem solche Gedanken nicht fremd sind, aber jede rationalistische Relativierung; das ironische Gedicht Die Bücherverbrennung, das auf Oskar Maria Graf zurückgeht, erscheint konsequenterweise nicht hier, sondern unter den Deutsche Satiren (GBA 12, 61).34 Daß die aktuelle Problematik enthistorisiert wird, hat auch mit der Geschichtskonstruktion der Chroniken zu tun, deren telos eben der Große Oktober ist, womit für Faschismus und Exil hier kein Raum bleibt; die einschlägigen Zeit-Gedichte finden sich wie bekannt im fünften und sechsten Teil. Aber unmittelbar nach der Taoteking-Legende steht das Verbannungsgedicht mit sehr gutem Grund, weil es dessen Sicht auf das kulturelle Gedächtnis und seine Bedrohung komplementär ergänzt oder auch radikalisiert: Dort muß das Wissen entäußert, vom bedrohten Körper getrennt werden und findet sein vorläufiges Exil in der Schrift; hier ist die Auslöschung der Schriften reale Gefahr und die kulturell überwundene Stufe der Oralität, das Auswendiglernen und Weitersagen, letztes und seinerseits höchst prekäres Residuum der memoria.35 32
Vgl. Sauder (Hg.): Die Bücherverbrennung. A.a.O. S. 181. Tacitus in Five Volumes. Vol. IV: The Annals, Books IV-VI, XI-XII, with an English translation by John Jackson. London/Cambridge, Mass. 1970. S. 62. – Vgl. Rafetseder: Bücherverbrennungen. A.a.O. S. 20. 34 Oskar Maria Grafs klassischer Protest “Verbrennt mich”, zuerst in der Wiener Arbeiterzeitung vom 12. Mai 1933, dann vielfach nachgedruckt, ist dokumentiert bei Sauder (Hg.): Die Bücherverbrennung. A.a.O. S. 285f. 35 Im Kontext der stalinistischen Vernichtungspolitik darf man etwa an die protektive Auslöschung des eigenen Werkes (und die Strategien seiner Bewahrung) denken, wie sie von Anna Achmatowa bezeugt sind – zu eben der Zeit, als Brecht die Svendborger Gedichte schreibt: “In jenen Tagen steckte auch Anna Achmatowa ihr 33
314 Von zwei Seiten her berührt Brecht also einen Zusammenhang, den der Kulturwissenschaftler Jan Assmann wie folgt beschrieben hat: “die Schrift ist ein Ensemble von Zeichen, das immer Gefahr läuft, ins Außen des gelebten und kommunizierten Sinns zu geraten. Diesen Innenraum nennen wir die Kommunikationssituation. Sie läßt sich mithilfe der Schrift dehnen, über räumliche und zeitliche Distanzen hinweg, aber sie läßt sich niemals in die Schrift verlegen. [...] Die zerdehnte Situation bedarf der Schrift, das ist gar keine Frage. Ohne die Schrift (oder entsprechende Notationssysteme) läßt sich Kommunikation nicht in Raum und Zeit ausdehnen. Aber das ist nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung. Noch viel weniger bringt die Schrift aus sich selbst heraus eine solche Zerdehnung und Permanenz in Gang. Die Schrift kann den Sinn und das Wissen nicht auf Dauer stellen. Sowie dieses Wissen zerfällt, verwandelt sich die Schrift in jene undeterminierte Zeichenmasse, die wir oben beschrieben haben. Die Lesbarkeit der Schrift ist nicht Sache der Schrift, sondern derer, die mit ihr umgehen.”36 Brecht bemüht sich, angesichts einer extrem krisenhaften Zerdehnung der Kommunikationssituation, die Lesbarkeit der Schrift, und das heißt eben auch: seiner Schriften zu sichern. Deshalb erkundet er thematisch die Bedrohungen, die der Überlieferung von alters her und nun in aktueller Zuspitzung entgegenstehen. Und deshalb versucht er auch, genrespezifische Modelle und Redeweisen zu entwickeln, die das kommunikative gesamtes Archiv und ihre Manuskripte in den Ofen. Zweifellos war die Vernichtung der Familienarchive eine Tragödie – ein Auslöschen des Familiegedächtnisses, aus dem sich schließlich die Geschichte zusammensetzt. Die Vernichtung der Literaturarchive jedoch bedeutete einen Vernichtungsangriff gegen die Kultur. – Gedichte aber besitzen einen ganz eigenen Vorzug. Ein verbrannter Roman läßt sich nicht noch einmal wiederholen und neu schreiben. Die Rekonstruktion wäre ein neuer Roman, ein ganz anderer. Gedichte dagegen können im Gedächtnis der Menschen weiterleben. So wie die Gedichte des “Requiems” über zwanzig Jahre hinweg im Gedächtnis von Anna Achmatowa und ihren engsten Freunden weitergelebt haben. Sie hat sie nicht niedergeschrieben, sondern lediglich notiert, um sie auswendig zu lernen oder auswendig lernen zu lassen und anschließend zu verbrennen [...]. Die fünfziger Jahre sind für Achmatowa durch eine weitere Rückkehr gekennzeichnet – ihre eigenen Gedichte, die sie in den dreißiger und vierziger Jahren verbrannt oder aufzuschreiben sich gefürchtet hatte, kehrten ins Leben zurück. Sie klaubte sie Zeile um Zeile aus dem Gedächtnis zusammen oder buchstäblich Wort für Wort aus der Erinnerung jener Menschen, deren Gedächtnis sie ihre Gedichte in jenen schrecklichen Jahren anvertraut hatte.” (Jelena Kusmina: Anna Achmatowa. Ein Leben im Unbehausten. Reinbek 1995. S. 159ff., 283ff.) – Für diesen Hinweis danke ich Ursula Bessen. 36 Jan Assmann: Kulturelles Gedächtnis als normative Erinnerung. Das Prinzip ‘Kanon’ in der Erinnerungskultur Ägyptens und Israels. In: Memoria als Kultur. Hrsg. v. Otto Gerhard Oexle. Göttingen 1995. S. 100f.
315 Geschehen erleichtern, verstetigen und stimulieren können – beispielsweise seine epigrammatischen und chronikalischen Gedichte. Eine solche literaturstrategische Entscheidung liegt umso näher, als Brecht damit an langfristige Konstanten seiner literarischen Produktion und Reflexion anschließen kann. Ich will zwei – nur auf den ersten Blick widersprüchliche – Anschlußstellen markieren: Brecht hat einerseits von seinen literarischen Anfängen an einen antiklassischen Gestus gepflegt, sich gegen Literaturkonzepte des 19. Jahrhunderts abgegrenzt und literarische Gebrauchsformen benutzt, die an der Schnittstelle von Schriftkultur und mündlichem Gebrauch stehen: Kirchenlied, Psalm, Choral, Ballade, Bänkelsang, Fibel und Lesebuch. Das dient ihm in der Hauspostille überwiegend noch zur Abgrenzung und parodistischen Umkehrung von neoklassischen, völkischen oder auch ästhetizistischen Literaturkonzepten. Und sogar die Erinnerung an die Marie A. geht, wie Jan Knopf gezeigt hat, auf einen populären Schlager zurück.37 Hier kann Brecht nun, unter Tilgung der grotesken und ästhetizistischen Elemente (und unter Umfunktionierung der satirischen), wieder anschließen und unter den Bedingungen des Exils und des Kampfes gegen den Faschismus neue, möglichst dauerhafte Modelle erproben. Aus dem Jahr 1922 stammt, andererseits, Brechts Selbstdiagnose: “Ich beobachte, daß ich anfange, ein Klassiker zu werden.”38 Für einen jungen Autor, der noch kein Buch publiziert und kein Stück auf eine Bühne gebracht hat, ist dies ziemlich keß. Aber Brecht entwickelt tatsächlich einen eigenen Begriff von Klassizität, der sich vom Klassikerkult im Sinne der “gipsernen Büste” scharf abgrenzt und um das Motiv der “langen Dauer” zentriert ist. Marxens berühmte Frage, warum uns die Kunstwerke der Antike “noch Kunstgenuß gewähren”,39 wendet er produktions-ästhetisch zur Frage nach den strukturellen und kommunikativen Bedingungen langdauernder Wirkung und entfaltet schließlich eine knappe, aber durchaus differenzierten Kunsttheorie (zugleich eine heimliche Gesellschaftstheorie). Das geschieht im Zuge seiner Marxismus-Rezeption Ende der zwanziger Jahre, in zeitlicher Nähe zu den Lehrstück-Projekten und deutlich vor der Exilzeit. Als herausragendes Dokument dieser Reflexion sehe ich das Gedicht Über die Bauart langdauernder Werke, das wir in zwei Fassungen 37
Knopf: Gelegentlich: Poesie. A.a.O. S. 77ff. Bertolt Brecht: Tagebücher 1920-1922. Autobiographische Aufzeichnungen 1920-1954. Frankfurt a.M. 1978. S. 138. – Auf die poetologische Relevanz der Notiz, die diesen Satz enthält, hat als erster Franz Norbert Mennemeier in einer bis heute anregenden Studie zu Brechts Lyrik und ihren theoretischen Implikationen hingewiesen (Bertolt Brechts Lyrik. Aspekte, Tendenzen. Düsseldorf 1982. vgl. S. 18ff.). 39 Karl Marx: Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie. In: K.M./Friedrich Engels: Werke. Bd.13. Berlin 1974. S. 641. 38
316 von 1929 und 1931 besitzen (GBA 14, 14 und 34f.) Ich zitiere aus dem textidentischen ersten Teil: Wie lange Dauern die Werke? So lange Als bis sie fertig sind. Solange sie nämlich Mühe machen Verfallen sie nicht. Einladend zur Mühe Belohnend die Beteiligung Ist ihr Wesen von Dauer, solange Sie einladen und belohnen. Die nützlichen Verlangen Menschen Die kunstvollen verlangen Kunst Die weisen Verlangen Weisheit Die zur Vollständigkeit bestimmten Weisen Lücken auf Die langdauernden Sind ständig am Einfallen Die wirklich groß geplanten Sind unfertig. (GBA 14, 34f.)
Zu erkennen sind hier die Umrisse einer Produktions-, Werk- und Wirkungsästhetik, die mit vielem übereinstimmt, was dann in den siebziger Jahren eher umständlich unter Begriffen wie Rezeptionsästhetik und Wirkungsgeschichte entwickelt wurde. Ein umgreifender, historisch-materialistisch inspirierter Arbeits- und Produktionsbegriff (“Mühe”) umfaßt auch die Mitwirkung der Rezipienten am Prozeß der Bedeutungskonstitution (“Beteiligung”). Als zentrales Strukturelement werden dabei die “Lücken”, die Leerstellen des Werkes bestimmt. Die Dauer der künstlerischen Produktion wird mit der Dauer der Wirkung verknüpft; künstlerische und gesellschaftliche Projekte im Begriff der “Werke” parallelisiert. Arbeit und Genuß, Nutzen und Kunst werden aufeinander bezogen, grundlegende Antinomien der bürgerlich-idealistischen Ästhetik damit suspendiert. Natürlich muß das wirkungsgeschichtliche Konzept der “langen Dauer” differenziert werden; Brecht selbst relativiert es ja schon im dritten Teil des zitierten Gedichts: Der Wunsch, Werke von langer Dauer zu machen Ist nicht immer zu begrüßen. Wer sich an die Ungeborenen wendet Tut oft nichts für die Geburt.
317 Er kämpft nicht und will doch den Sieg. Er sieht keinen Feind Außer dem Vergessen. (GBA 14, 38)
Das, wohlgemerkt, sind Reflexionen aus dem Jahr 1929. Die Strategie der “langen Dauer” wird dialektisch diskutiert, was in etwa auch der historischen Situation, der aktuellen und noch unentschiedenen Konfrontation mit dem deutschen Faschismus entspricht. Die zitierten Zeilen könnte man als indirektes Plädoyer für operative, auf kurzfristige Wirkung zielende Formen lesen (wie Brecht sie ja mit seinen sozialistischen Kampfliedern praktiziert). Sechs Jahre später, zur Zeit von Brechts skandinavischem Exil, scheint der politische Kampf vorerst entschieden – und damit, auf absehbare Zeit, auch die Frage der poetischen Strategie: GEDICHTE IM EXIL Nur was sie zu ihrem Unterhalt brauchen Nehmen sie von der fremden Umgebung. Sparsam Geben sie die Erinnerung aus. Sie werden nicht angerufen. Sie werden nicht angehalten. Niemand schilt sie und niemand lobt sie. Da sie keine Gegenwart haben Suchen sie sich Dauer zu verleihen. Nur um an ihr Ziel zu kommen Das weit entfernt ist Suchen sie sich zu verbessern. Achtlos fischt der Beschäftigte Nach einem Bissen Essen. Der Schlaflose Braucht keine Lagerstatt. Mit ihren Vorfahren Haben Sie mehr Verbindung als mit ihren Zeitgenossen Und am gierigsten blicken sie Die ohne Gegenwart scheinen Auf ihre Nachkommen. Was sie sagen, sagen sie aus dem Gedächtnis Sie bewegen sich ohne Paß und Ausweis. (GBA 14, 311f.)
Hannes Krauss
Reise-Erinnerungen – die nachgetragenen Exilerfahrungen Fred Wanders This article deals with the novels and short prose of Fred Wander which, although written later, reflect the author’s exile experiences. The works (in particular, the story “Ein Zimmer in Paris”) show the exile situation at least partially in an idyllic light, and link the political escape to childhood attempts at escaping the depressing daily life of Jewish proletarian Vienna through books and imaginary travel. Wander’s prose belongs to the tradition of travel literature, a genre focusing on the literary depiction of the “foreign” as compared to the deficiencies of one’s own existence and articulating a longing for a better world.
Vorbemerkung Viele werden beim Namen des Autors, von dem hier die Rede ist, zunächst einmal an die Bücher seiner Ehefrau Maxie denken. Nun hat Fred Wander sich in der Tat nach deren frühem Tod große Verdienste erworben um die Edierung ihrer Briefe und Tagebücher.1 Er hat aber auch ein gutes Dutzend eigener Bücher verfaßt. Keines davon zwar im Exil – dort war er bestenfalls Leser, meist blieb ihm nur die Rolle des Beobachters. Dennoch zentrieren sich seine wichtigsten Bücher in einer Art und Weise um das Thema Exil (und seine verschärfte Variante, das Konzentrationslager), daß eine genreprägende, ästhetische Kraft dieses Zustandes durchaus angenommen werden darf. Im Kontext der folgenden Überlegungen rechtfertigt sich dann hoffentlich ihr Titel: “Reise-Erinnerungen”. Das schlimme, gute Leben des Fred Wander An die Fähigkeit, besser: an die Möglichkeit, so von seinen Exilerfahrungen zu schreiben, wie er es schließlich getan hat, mußte Wander sich in einem jahrzehntelangen mühseligen und schmerzhaften Prozeß buchstäblich erst wieder heranleben. Um das zu verstehen, ist ein Blick auf seine Biographie hilfreich. Fred Wander wurde 1917 in Wien geboren und wuchs dort auch auf – als Sohn eines nicht besonders erfolgreichen Handelsvertreters für Da1
Maxie Wander: Tagebücher und Briefe. Berlin 1979. M.W.: Ein Leben ist nicht genug. Tagebuchaufzeichnungen und Briefe. Frankfurt a.M. 1990.
320 menhüte und einer Mutter, die die Familie mit privaten Näharbeiten ernährte. Seine jüdischen Eltern waren in den neunziger Jahren des vorangegangenen Jahrhunderts aus der Ukraine nach Galizien und von dort 1911 weiter nach Wien gezogen. Zu Wanders prägenden Kindheitserinnerungen gehören: Erstens Demütigungen, “die ich als jüdisches Kind in Wien erfahren hatte.”2 Zweitens Bücher: Vom nach Amerika ausgewanderten Onkel Joseph hatte er einen Bericht über die französische Fremdenlegion und Schopenhauers “Aphorismen zur Lebensweisheit” geerbt.3 Der Vater – “ein leidenschaftlicher Bücherleser”4 – brachte aus der Städtischen Leihbücherei vor allem “die Russen” nach Hause. Sein Sohn erinnert sich: “Ich habe Dostojewskij, Tolstoi, Turgenjew – ohne Übertreibung – begonnen, mit zehn Jahren zu lesen”; Anna Karenina zwar vor allem in der Hoffnung, “erotische Stellen zu finden”, “aber dabei hat man das Buch gelesen.”5 Und drittens Träume von einem anderen Leben an anderen Orten: “Ich war noch nicht acht Jahre alt, als ich öfter den weiten Weg zum Westbahnhof antrat, um dort stundenlang im Rauch auf einer Brücke zu stehen und unter mir die Züge ausfahren zu sehen, nach Paris, nach Amsterdam und nach Hamburg, wo die großen Schiffe nach Amerika ablegten.”6 In der Volksschule glänzte Wander durch gute Deutschaufsätze (Geschichten meist, die er vor der Klasse vorlesen durfte). Eine Lehrstelle verlor er nach kurzer Probezeit, weil er nach exzessiver nächtlicher Lektüre (“Ich war süchtig nach Büchern”7) bei der Arbeit eingeschlafen war. Ein paar Jahre schlug er sich in Wien als Gelegenheitsarbeiter in der Kleiderund Möbelbranche durch, 1937 arbeitete er ein paar Monate lang als Plakatmaler in Amsterdam. Nach dem ‘Anschluß’ Österreichs wurde das Fernweh zur bitteren Überlebens-Notwendigkeit. 1938 gelangte Wander über die Schweiz und ein französisches Gefängnis (in dem er einen Schnellkurs in Gassensprache und Menschenkenntnis absolvierte) nach Paris. Weitere Stationen der Flucht respektive Reise führten ihn über Lyon, wo sein Bruder als Schuster arbeitete, nach Südfrankreich. Nach wiederholten Internierungen und einem von den Schweizer Behörden unterbundenen Rückkehrversuch ins neutrale Nachbarland wurde er schließlich 1942 von Drancy aus an Nazi-Deutschland ausgeliefert. Im Gegensatz zu den meisten seiner Schicksalsgenossen überlebte er Auschwitz und Buchenwald. Nach seiner Befreiung wurde er in Wien Fotograf 2
Fred Wander: Das gute Leben. Erinnerungen. München, Wien 1996. S. 17. Vgl. Ebd. S. 34f. 4 Ebd. S. 37. 5 Hannes Krauss: Gespräch mit Fred Wander am 17.4.1992 (unveröffentlicht). 6 Wander: Das gute Leben. A.a.O. S. 34. 7 Ebd. S. 38. 3
321 und Journalist und schloß sich den Kommunisten an. Durch deren Vermittlung erhielt er 1955 eine Einladung zum ersten Kurs des neugegründeten Leipziger Literaturinstituts. Weil ihn die DDR als Schriftsteller ernst nahm und weil zudem die dortigen gesellschaftlichen Verhältnisse eine Nicht-Wiederholung des Er- und Überlebten zu garantieren versprachen, entschloß er sich 1958, mit seiner zweiten Frau, der jungen Österreicherin Maxie, in der DDR zu bleiben. In den 1996 erschienenen Erinnerungen8 spielen die DDR-Jahre eine wichtige Rolle. Ohne sich nachträglich von diesen zweieinhalb Jahrzehnten zu distanzieren, zeichnet Wander ein zwiespältiges Bild. Gegen die Erfahrung intensiver Freundschaften und eines Lebens ohne materielle Not und ohne Antisemitismus steht die Einsicht, daß er als Schriftsteller, ausländischer Kommunist und überlebender KZ-Häftling immer landesunübliche Privilegien genossen hatte, vor allem, was das Reisen betraf. Geprägt waren diese Jahre auch durch die Vitalität und Neugier der Lebensgefährtin Maxie. Der Versuch, nach ihrem Tod auf eigene Faust in der DDR weiterzuleben, scheiterte. So war es nur konsequent, daß Wander 1983 nach Wien zurückkehrte. Da fand er zwar keine Heimat, aber – mit Unterstützung seiner dritten Frau – ein Stückchen von jener Ordnung, nach der er sich vermutlich immer gesehnt hat und die er als alter Mann nun vielleicht ertragen kann. Als Autor ist er dort allerdings nur einer kleinen Minderheit bekannt. Das mag daran liegen, daß zurückgekehrte Emigranten und Juden auch in Österreich nicht zu den Künstlern gehören, auf die man besonders stolz ist. Die Distanz ist gegenseitig, und Fred Wander betont: “[...] ich fühle mich nicht als Österreicher. Es ist keine Ansässigkeit, nur ein Stützpunkt.”9 Leben und Schreiben Vor dem biographischen Hintergrund wird es einfacher, Wanders Werke zu verstehen. Zunächst verfaßte er politische Abenteuerromane,10 Theaterstücke zu Gegenwartsfragen11 und Reisebücher.12 In der literarischen Öffentlichkeit (auch in der sogenannten Literaturgesellschaft der DDR) fiel er damit nicht besonders auf, hatte aber doch ein einigermaßen erträgliches Einkommen – und einen klaren Rangplatz in der Familie. Während Maxie immer wieder von schriftstellerischen Selbstzweifeln geplagt wurde, zele8
Vgl. Anm. 2. Wolfgang Trampe: Gedenken, Erzählen, Leben. Gespräch mit Fred Wander. In: Argonautenschiff (Jahrbuch der Anna-Seghers-Gesellschaft) Nr. 6. 1997. S. 16. 10 Taifun über den Inseln. Berlin 1958; Bandidos. Berlin 1963. 11 Josua läßt grüßen. Der Bungalow. Zwei Stücke. Berlin 1979. 12 Korsika – noch nicht entdeckt. Berlin 1958; Doppeltes Antlitz – Pariser Impressionen. Berlin 1966; Holland auf den ersten Blick. Leipzig 1972. 9
322 brierte Fred diese Rolle mitunter fast patriarchalisch – einschließlich inszenierter Boheme im Kleinmachnower Reihenhaus. Bei Geldknappheit war er sich allerdings nicht zu schade, ein paar Monate als Portier in Wien zu arbeiten. Einige Reportagen haben Fred und Maxie gemeinsam geschrieben.13 Themen wie jüdische Kindheit in Wien, Emigration, Flucht, Verfolgung und Lagerhaft sucht man in Wanders Büchern der fünfziger und sechziger Jahre vergeblich. Erst das Leid eines anderen Menschen und die Trauer darüber (der schreckliche Unfalltod seiner geliebten elfjährigen Tochter Kitty) löste offenbar Verhärtungen und Verdrängungen und ermöglichte es ihm, die Erfahrungen des Lagers aufschreiben und zu veröffentlichen.14 Seine 1971 erschienene Erzählung Der siebente Brunnen (der selbstbewußte – gleichwohl berechtigte – Bezug auf Anna Seghers ist unverkennbar) gehört zu den eindrucksvollsten Beispielen einer literarischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Wie andere Lager-Literatur auch, erinnert sie an die Ermordeten: “Es ist ein Buch über die jungen Männer, die dort geblieben sind. Man kann über fünf Millionen Tote nichts sagen. Aber man kann über fünf oder sechs Menschen, die man gekannt hat, die man leben gesehen hat und sterben gesehen hat, über die kann man etwas sagen!”15 Zugleich aber demonstriert die Erzählung, wie im Schatten des Unfaßbaren Poesie gedeihen konnte. In einer einzigartigen Mischung aus Magie und Rationalität werden Erzähltraditionen beerbt, die eng mit der jahrhundertelangen Verfolgung eines Volkes zusammenhängen, dem oft nur das Wort als Besitz geblieben war.16 In auswegloser Lage wird die Erzählkunst zum Ort der Utopie. Selbstverständlich geht es dabei immer um Leben und Tod – und um Möglichkeiten des Weiterlebens. Wander rückblickend: Das Leben im Konzentrationslager war sozusagen in die Enge und auf die Spitze getriebenes Leben. Nur so konnte man bestehen, wenn man noch neugierig war und nicht aufgegeben hat. Aufgeben war der Tod. Einer, der nicht 13
z.B. Provenzalische Reise. In: Das Magazin 1979. H. 7. S. 24-30. Wander war, als Kitty verunglückte, gerade in Wien. Auf einen Zusammenhang zwischen Unfalltod der Tochter (sie wurde in einer ungesicherten Baugrube verschüttet; vgl. Maxie Wander: Ein Leben ist nicht genug. S. 199ff.) und Niederschrift der Erzählung Der siebente Brunnen verweist die Widmung (“Dem Andenken meiner Tochter Kitty”), aber auch eine Episode im Text (Tod des Kindes Jossl im Konzentrationslager; vgl. Fred Wander: Der siebente Brunnen. Berlin 1974. S. 14.). 15 Trampe: Gespräch mit Fred Wander. A.a.O. S. 17. 16 Vgl. Yaffa Eliach: Träume vom Überleben. Chassidische Geschichten des 20. Jahrhunderts. Freiburg, Basel, Wien 1985. S. 11-19. 14
323 mehr gesprochen hat, die Welt nicht mehr gesehen, die Menschen nicht mehr beobachtet hat, ist gestorben. Sterben war ganz leicht. Man brauchte nur eine Stunde oder einen Tag lang aufzugeben – dann war das der Untergang!17
Der Beobachtende ist am Leben geblieben, und das Darüber-Schreiben, das Erzählen, hat dem Überlebenden das Weiterleben erleichtert; ein tendenziell allerdings immer gefährdetes Weiterleben. Wanders früherer Lektor Wolfgang Trampe erinnert sich an lange Spaziergänge, in denen er aus seinem Leben erzählte und von den Augenblicken, die ich in den Büchern wiederfand. Später begriff ich, daß das seine behutsamen Schritte waren, um sich im eigenen Erleben zu behaupten, von dem wir (auch von Jorge Semprun und anderen) wissen, daß es in vielen Jahren danach lebensbedrohlich war und vielleicht für immer lebensbedrohlich ist.18
Die Erfahrung von Hunger, Gefängnis und Konzentrationslager mündet bei Wander nicht in Haß. Den hat er zwar 1945, bei der Rückkehr nach Österreich, immer noch bei den anderen entdeckt: Der Haß in ihren Augen. Ich hatte es vergessen. Es war der uralte Haß, der die Herzen sehr vieler Menschen vergiftete. Der Haß, der meine Kindheit begleitet hatte. Ich war wieder da, im Lande des Hasses! – Der Tod von Hitler und Goebbels, das Ende des Vernichtungswahns, die Kapitulation der Deutschen, der Einmarsch der Alliierten, auch die Veränderungen im Straßenbild – nirgends mehr eine Hakenkreuzfahne, nirgends mehr eine Naziuniform – hatte das alles nichts bewirkt?19
Trotzdem empfindet er für sich schlimmstenfalls “Gleichmut, eine tiefe Resignation” – und den Wunsch, wider alle Vernunft weiterzuleben: “Was ich im siebenten Brunnen versucht habe zu beschreiben, wie die Menschen doch noch gelebt haben, doch noch miteinander geredet haben, wie sich menschliche Beziehungen entwickelt haben und so weiter”.20 Exil als Wunschort? Es ist, als ob die Niederschrift des siebenten Brunnen Erinnerungsfenster geöffnet hätte. Wanders folgende Bücher wenden sich – mit unterschiedlicher Akzentuierung und in unterschiedlichen Konstellationen – der Zeit 17
Trampe: Gespräch mit Fred Wander. A.a.O. S. 15. Wolfgang Trampe: Begegnung nach Jahren. Vorbemerkung zum Gespräch mit Fred Wander. In: Argonautenschiff. Nr. 6. 1997. S. 11. 19 Wander: Das gute Leben. A.a.O. S. 96. 20 Krauss: Gespräch mit Fred Wander. (s. Anm. 5). 18
324 davor zu: den Jahren 1938 bis 1942 und den Orten, an denen er sie verbracht hat, namentlich Paris und Marseille. Das gilt vor allem für die Erzählung Ein Zimmer in Paris21 und den Roman Hôtel Baalbek,22 aber noch in der Autobiographie23 nehmen – neben der DDR-Zeit und zahllosen Reflexionen und Lesefrüchten – die Jahre in Frankreich breiten Raum ein. Auffällig demgegenüber die seltsame Kargheit und Zurückhaltung der Bilder vom Lager in diesem Buch. Zwischen Ein Zimmer in Paris und Hôtel Baalbek liegen sechzehn, zwischen den dort geschilderten Ereignissen fast dreißig Jahre, aber Protagonisten und Milieus der beiden Texte sind nahezu identisch. Sie handeln vom Leben der – meist jüdischen – Emigranten in französischen Hotels. Wie, das soll an Ein Zimmer in Paris ein bißchen ausführlicher gezeigt werden. Vier ehemalige Emigranten, ein Jude aus den USA, zwei andere aus Wien (darunter der Ich-Erzähler) und der Franzose Baptiste treffen sich nach dem Krieg wieder im Pariser Hotel Babylon, das ihnen einst Zuflucht geboten hatte. In Streifzügen durch Straßen und Bistros, in nächtelangen Gesprächen, auf einer Reise nach Marseille und in die Provence, wo Baptiste – vom Ich-Erzähler begleitet – seine Tochter sucht, und in zahllosen Rückblenden werden die Jahre der Emigration noch einmal lebendig. Vieles hat sich verändert; geblieben sind Gerüche, Getränke, Figuren, vornehmlich Außenseiter wie Huren, Clochards, Schwarzafrikaner, Müllmänner. Geblieben ist vor allem auch die Freundschaft der vier. Im Mittelpunkt der Erzählung stehen Menschen, die auf der Kehrseite der Gesellschaft leben und dort trotzdem immer wieder kleine Genüsse, ein kleines Glück und verläßliche Freunde finden. In der Erinnerung werden die Einsamkeit, die Armut und die Not in der Emigration nicht ausgespart. Sie sind aber immer durchsetzt vom Glück, in Frankreich zu sein. Dort konnte man sich an der “Idylle der Pariser Dächer” erfreuen: Zinkblechkatzenweiden mit Teerpappe geflickt, seltsame Anordnung von Schrägen und Geraden, von alten, übertünchten Ornamenten und neuen Verzierungen in Stuck, Eisen, Blech, Glas und Farbe, Utrillo hat aus diesem Fundus sein Lebenswerk geschöpft, seine alten Häuser haben Gesichter, Augen, Ohren und seelenvolle Traurigkeit. Manchmal endet eine Linie in einem winzigen improvisierten Garten auf einem Dachvorsprung oder einem Balkon, mit sechzehn Töpfen Geranien und seltsamen Schlinggewächsen, ein von der Sonne ausgebleichter Baldachin, das Hemd und die Unterhose des Pensionisten an der Leine zum Trocknen oder die Dessous einer verspäteten Schönen. Die 21
Fred Wander: Ein Zimmer in Paris. Erzählung. Berlin 1975. Fred Wander: Hôtel Baalbek. Roman. Berlin 1991. 23 Fred Wander: Das gute Leben. A.a.O. 22
325 abenteuerlichen Schächte der Höfe und die wie im Töpferladen aufgereihten Rauchfänge der Wohnungen, oben am First Arabesken von Wunden im Gemäuer, bröckelnder Kalk, Wucherungen von Mauerfraß, Runzeln in einem zerstörten Gesicht, das wir gern haben.24
Oder man konnte die Landschaft der Provence genießen: Alles ist stachlig, rauh und wild, nur die Luft schmeichelt verführerisch und betäubt dich mit dem Parfüm von Harz, Rosmarin und Lavendel. Heiße Luftwellen von den Hängen, die in der Sonne glühen, streichen über deine Wangen, trocknen den Schweiß an den Schläfen, und wiederum umhüllen dich atemberaubende Stöße von aromatisch riechenden Kräutern.25
Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Wander idyllisiert die Situation seiner Figuren nirgendwo. Sie sind und bleiben Außenseiter, die sich eher schlecht als recht durchs Leben schlagen und schwer an der Vergangenheit zu tragen haben. Grünberg ist psychisch krank, den IchErzähler Jossl quält der “nie endende Alptraum meines Lebens”, der sich “meist kurz vor dem Erwachen” wiederholt: Ich sitze im Bett, kalter Schweiß auf der Stirn, stiere mit glasigen Augen um mich, sehe das Zimmer, die schäbigen Möbel, das Fenster, den grauen Himmel draußen, weiß aber nicht, wo ich bin. Angst würgt mich, ist das noch Buchenwald? Haben sie uns dabehalten, so viele Jahre nach dem Krieg; oder ist das ein Polizeiarrest in Marseille, ein Hotelzimmer in Paris, irgendeine schäbige Dachkammer in Amsterdam oder Wien? Was immer es sein mag, ich werde das Gefühl nie los, gefangen zu sein.26
Ein Zimmer in Paris ist ein durchaus realistisches Buch über die erbärmlichen Umstände, unter denen man in der Emigration gelebt hat. Ein Buch von den Ängsten, die einen auch nach dreißig Jahren noch umtreiben, und ein Buch vom Tod. Es sterben unter anderem ein Selbstmörder, ein amerikanischer Pensionär und die Enkelin Baptistes, die er nie lebend gesehen hat. Und trotzdem evoziert dieses Buch in den Wahrnehmungen und Erinnerungen seiner Figuren immer wieder Momente von Zufriedenheit und Glück. Beim Gang durch die Straßen: [...] diese Stadt bedeutete für mich [...] nur durch die Straßen gehen und gaffen. Wochen und Monate brachte ich untätig zu, ohne Arbeit [...]. Mich faszinierte die Gelassenheit dieser Leute. Männer, die auf der Fahrt zur Arbeit ihre Zeitung 24
Fred Wander: Ein Zimmer in Paris. A.a.O. S. 72. Ebd. S. 168. 26 Ebd. S. 79. 25
326 lasen, Frauen, die in der Metro strickten. Pärchen, die sich küßten inmitten der Menge, als wären sie allein.27
Oder bei der Rückkehr nach Marseille: “Wir haben uns warmgeschwiegen, Bap und ich, haben mit zärtlichen Schritten das Hafengeviert ausgemessen, wie man mit dem Finger über ein geliebtes Foto streicht.”28 Ein Zimmer in Paris ist auch ein Buch über französischen Alltag. Der wird zu einem Wunschort, mit dem sich Möglichkeiten einer anderen Existenz verknüpfen. Nur eine der vier Hauptfiguren, der verrückte Kommunist Grünberg, ist einem realen Vorbild nachempfunden. Die anderen verkörpern mögliche Lebensmuster des davongekommenen Opfers: Gerson, Anarchist, in den dreißiger Jahren auf der Suche nach seinen Vorfahren aus den USA nach Europa gekommener Jude, ist ein notorischer Leser und Erforscher von Todesarten. Der Ich-Erzähler Jossl ist ein melancholischer Beobachter, Flaneur und Voyeur; er liebt Pavese und sammelt Blicke und Geschichten. Sein Dasein in Wien fristet er als erfolgloser Schriftsteller: “Die Verlage und die Theaterintendanten zogen sich mit freundlichen Absagen aus der Affäre. Alle Verwandten und Bekannten grinsten über mich.”29 Baptiste, Franzose und einziger Christ unter den vieren, hatte Gerson und Grünberg einst im Keller des Krankenhauses, in dem er als Heizer arbeitete, vor den Nazis versteckt. Einen “romantischen Goj” nennen ihn die, die ihm ihr Überleben verdanken. Bap ist und bleibt ein Lebenskünstler und Frauenheld. Wander meinte in einem Interview, diese Figur sei “mehr oder weniger ein Selbstporträt.”30 Zum Teil mag das zutreffen, beispielsweise in der Episode mit der toten Enkelin.31 Da andererseits auch der Ich-Erzähler wichtige Eigenschaften des Autors transportiert und u.a. seinen Namen32 trägt und seinen Beruf ausübt, sollte man besser von einem alter ego sprechen. Ein Gegenentwurf mit starker Tendenz zum Wunschbild: der Ungebundene, Freie, keiner Religion oder Ideologie Verpflichtete, einer, der nur der eigenen Moral gehorcht, einfühlsam, hilfsbereit, genügsam ist – ein romantischer Vagabund mit der Maxime: “Was brauchst du zum Frohsein in dieser Welt. Fast nichts, eine
27
Ebd. S. 30. Ebd. S. 158. 29 Ebd. S. 11. 30 Trampe: Gespräch mit Fred Wander. A.a.O. S. 15. 31 Baptiste möchte in der Provence seine Enkelin besuchen und kommt zu spät; wenige Stunden zuvor ist das Kind im Fluß ertrunken (Ein Zimmer in Paris. A.a.O. S.170-173.). – Ein Verweis dieser Episode auf die Umstände des Unfalltodes von Wanders Tochter Kitty ist unverkennbar (vgl. Anm. 14). 32 “Jossl” wird auch Fred Wander von seinen Freunden genannt. 28
327 Hose, zwei Hemden und drei Freunde!”33 Obwohl alle vier gezeichnet sind von Verfolgung und Flucht, sind ihre Erinnerungen (vor allem die Baps und Jossls) immer auch durchsetzt von Sehnsucht und Lust. Die Vergangenheit war nicht nur Not, sondern auch Jugend mit all ihren Möglichkeiten und Unmöglichkeiten. Am Ende sinniert Jossl: “Gerson wird nun wieder in New York sein und Grünberg in Wien. Bap und ich aber, die wir Marseille seit unserer Jugend kennen, gehen auf die Suche nach Spuren, Andenken, Reliquien.” Veränderungen werden mit Bedauern registriert: “ein Teil der malerischen Viertel am Vieux Port” ist verschwunden, “das große Kinotheater an der Rue de Rome, seinerzeit das billigste Stundenhotel der Stadt (Liebesgeflüster in jeder Loge, Einsamkeit im Parkett)” existiert nicht mehr, die “Bouillabaisse” schmeckt enttäuschend.34 Geblieben ist die Ohren- und Augenlust. Im Hotel “hört man schon am Nachmittag in den Zimmern Stöhnen” und “Liebesseufzer”; das unbekannte Mädchen, im Fenster, auf der anderen Seite des Hofes ist “im poetischen Rahmen eines Pariser Fensters im sechsten Stock [...] schön, zauberhaft, unnachahmlich.”35 Am Nachmittag stürzen sich die alternden Flaneure und Voyeure “in den Wirbel, unsere Augen suchen die Frau, das Geschlecht, die unglaubliche Begegnung.”36 Schließlich hocken sie in ihrem Café, vorn, am Eingang zum Cour du Commerce, und trinken heiße Schokolade (eine volle Mahlzeit, Grünberg hat das entdeckt!) und schauen, schnuppern, laden uns auf: englische Mädchen, skandinavische Mädchen, Frauen von überall. Braune, bildschöne Burschen dazwischen, dünkelhaft sicher, mit lasziven, aufreizend trägen Bewegungen, noch ermattet von der letzten Umarmung und schon wieder Ausschau haltend nach festen Schenkeln, prallen Brüsten und jenem bedeutungsvollen halben Lächeln der Mädchen, denen bereits der Namedieser Stadt, der Geruch, der warme Atem der alten Straßen Feuchtigkeit in die Augenwinkel treibt, in jede Öffnung ihres Körpers, der sich auftun möchte, um der Menschheit Einlaß zu gewähren.37
Noch in solchen eher mißglückten Passagen38 blitzt ein Lebensgefühl auf, das die Erotik des Hotels, die Erotik der Großstadt auskostet. Darf man von einer Erotik des Exils sprechen? Von einer Stimmung vielleicht, in der sich die Sensationen des Fremden mit einer trotzigen Zuversicht der 33
Wander: Ein Zimmer in Paris. A.a.O. S. 109. Ebd. S. 153f. 35 Ebd. S. 8f. 36 Ebd. S. 127. 37 Ebd. S. 69f. 38 Das offenkundige Vorbild (Henry Miller: Quiet Days in Clichy. Paris 1956) ist einfach besser. 34
328 Jugend vermengen. So wird die Erzählung Ein Zimmer in Paris zu einer Sammlung von Miniaturen und Milieuskizzen: über das Essen (“wo die Kunst des Essens zelebriert wird, ist die hohe Schule der Erotik gewiß nicht weit entfernt”39), über Clochards (liebevoll “Clodo” genannt), über hastige Sexlität zwischen Marseiller Müllmännern und Freudenmädchen. Sie unterschlägt die Schattenseiten des Exils nicht und liefert doch farbige Porträts von Paris und Marseille und von den Bewohnern dieser Städte. Porträts, die nicht weniger authentisch sind als die Schilderungen von den Entbehrungen des Exils. Ähnliche Stimmungen evoziert auch Hôtel Baalbek. Auf den ersten Blick sind in diesem Roman, der 1942 in einem Marseiller Emigrantenhotel spielt, autobiographische Bezüge weniger offensichtlich. In einem Gespräch betonte Wander: “Der Erzähler und der Autor sind [...] nicht identisch, was den Autor jedoch nicht hindern kann, Erlebtes in die Handlung aufzunehmen.” In entwaffnender Ehrlichkeit fügte er allerdings hinzu: “Übrigens habe ich nachträglich die Trennung Erzähler-Autor durch einige Striche verstärkt!”40 Biographische Parallelen sind dennoch unübersehbar. Das schäbige Emigrantenhotel ist Ort der ersten Liebe und ein Platz, an dem der Ich-Erzähler zum erstenmal fast geordnete Verhältnisse, Normalität und Geborgenheit erfährt. Was die aus den europäischen Metropolen vertriebenen Großbürger als Chaos erleben, gerät dem aus niederdrückenden Verhältnissen Entronnenen partiell zur Attraktion. Das Hotel wird zur Bühne, auf der noch ein letztes Mal die Vielfalt jüdischer Kultur und Lebensformen blüht, bevor sie der millionenfache Tod egalisierte. Weitaus stärker als in Anna Seghers’ Transit klingt hier die Faszination der südlichen Stadt und die Magie des Hotels an. Beides Orte, an denen man neue Menschen (Frauen vor allem) kennenlernen konnte. Das Gefühl von Heimatlosigkeit vermengt sich – mitunter fast bis zur Unkenntlichkeit – mit der Faszination des Anderen, Neuen. Die Fremde ist gleichzeitig Flucht- und Wunschort. Diese Ambivalenz mag damit zusammenhängen, daß für den sich Erinnernden auf die Emigration noch eine weitaus schrecklichere Variante der Aussonderung folgte, das Konzentrationslager. Sie zeigt aber auch, daß sich Wanders Wahrnehmung der Fremde deutlich von der anderer Exilautoren unterscheidet.
Reise-Erinnerungen Wanders Bücher vom Exil – auch die Exilkapitel seiner Autobiographie, 39
Wander: Ein Zimmer in Paris. A.a.O. S. 129. Schreib-Auskunft. Gespräch mit Achim Roscher. In: Neue Deutsche Literatur 1991. H. 7. S. 111. 40
329 auf die hier noch einmal verwiesen sei – zeichnen ein Bild vom Leben des Emigranten in Frankreich, das nichts beschönigt und das doch eine Art Sehnsucht transportiert – zumindest für entsprechend disponierte Leser. Passagenweise lassen sich diese Texte wie Reiseliteratur lesen. Sie fächern alternative Lebensperspektiven auf, exotische Gerüche und Genüsse, und sie suggerieren partiell sogar Geborgenheit in der Fremde. Wenn ihre Protagonisten durch die Straßen streifen, werden sie zu Erben (oder vielleicht besser: armen Verwandten) des in Benjamins Passagenwerk beschriebenen Flaneurs. Sie sind unterwegs und wollen nirgendwo ankommen; sie leben den Luxus ihrer erzwungenen Beschäftigungslosigkeit. Es wird nicht verschwiegen, daß dieser Luxus teuer erkauft ist, aber, im Gegensatz zu vergleichbaren Texten, konfrontieren Wanders Bücher die Kosten des Unterwegs-Seins mit ihrem Ertrag. Emigration wird zum Lebensmuster: Der Mensch ist nicht gemacht, um im Paradies zu leben. Er ist gemacht, auf dem Weg zu sein, in der Mühe, im Kampf, in der Herausforderung aller seiner Kräfte, das ist sein Paradies. Unterwegs hat er das Gefühl, ein Mensch zu sein, noch lebendig, noch gebraucht. Ist er irgendwo angekommen, bricht seine innere Welt zusammen, versiegen die Quellen.41
Nicht zufällig hat der, der solche Sätze schreibt, 1945 seinen stigmatisierenden Geburtsnamen “Rosenblatt” durch “Wander” ersetzt. Sicher ohne zu ahnen, daß er sich damit auch in literarische Traditionen begab. Karl Philipp Moritz berichtet von “eine[r] sonderbare[n] Begierde zum Reisen”, die seinen Anton Reiser mit neunzehn befiel und konstatiert: “von der Zeit fing er eigentlich an, seinen Namen mit der Tat zu führen.”42 Bei Wander klingt das so: Jeder Mensch braucht eine Idee, einen Traum, einen Antrieb. Gib ihm eine Fahrkarte in die Hand, und du machst ihn glücklich. Wohin? Egal. Nur weg. Manche Verrückte werden ganz ruhig im Zug. Nur wenn ihnen vier Räder die Eigenbewegung abnehmen, kommen sie zur Besinnung, können aufatmen und sich sammeln.43
Ernst Bloch definierte Reisen so: “Jede Reise muß freiwillig sein [...]. Ist Reisen erzwungen oder Beruf, also nicht abbrechend-glücklich, so ist es keines. [...] Geschäftsreisende, Matrosen und Emigranten sind nicht auf
41
Wander: Ein Zimmer in Paris. A.a.O. S. 169. Karl Philipp Moritz: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman [1785]. Stuttgart 1972. S. 330f. 43 Wander: Ein Zimmer in Paris. A.a.O. S. 153. 42
330 Reise, letztere trotz der möglichen Befreiung nicht.”44 Trotzdem kommt in Wanders Büchern auch jenes ‘Abbrechend-Glückliche’ zum Vorschein, das wirkliches Reisen kennzeichnet. Vielleicht, weil ihre Protagonisten aus Lebensumständen ausgebrochen sind, von denen sie sich schon distanzieren wollten, bevor sie lebensbedrohlich wurden. Nach Demütigungen durch den gewöhnlichen Antisemitismus (lange vor dem ‘Anschluß’) und der Enge des Elternhauses, der der Verfasser allenfalls provisorisch in den Geschichten des Großvaters und eigener Lektüre entfliehen konnte, eröffnete ihm der reale Aufbruch durchaus utopische Dimensionen. Eine neue, andere Welt, eine Welt der Solidarität schien vorstellbar: In Paris sollte die zweite Etappe meines Daseins beginnen, [...] und wenn ich heute [...] daran zurückdenke, war es unter den verschiedenen Stationen meines Lebens eine der schönsten. Du kommst in Paris an, hast [...] kein Gepäck, kein Geld, kennst die Sprache nicht, kennst keinen einzigen Menschen. Aber was macht das aus, wenn schon auf der Fahrt dorthin einer seine Knackwurst mit dir teilt.45 [...] Die Szenerie betrachtend fühlte ich mich zum erstenmal mit allen Menschen eins, das war das große Erlebnis von Paris. Ich war ein Ausgestoßener, ein Paria, aber ich gehörte dazu.46
Auch Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser war ärmlichen Verhältnissen durch eine Ortsveränderung entflohen. Wanders Bücher handeln allerdings nicht von den Seelennöten deutscher Kleinbürger im 18. Jahrhundert. Sie formieren sich zum stilisierten Porträt eines europäischen Juden. Obgleich von den Eltern nicht religiös erzogen (“sie wollten uns Kinder vom Judentum fernhalten, wollten uns retten”47), hat Wander mit fortschreitendem Alter dieses Judentum angenommen: “Je älter ich werde, um so jüdischer komme ich mir vor.”48 Nicht aus religiösen Gründen, sondern weil es offenbar keine Alternative zu einer kollektiven Biographie gibt, in die schließlich auch er sich fügen muß: “Wie kann ein Jude in dieser Welt überleben? Oder ein Armenier? Oder ein Kurde? Wie kann man überleben, wenn man in einer Welt lebt, wo der Fremde ausgegrenzt und gehaßt wird?”49 Im Grunde handeln alle Bücher Wanders – auch schon die frühen Abenteuergeschichten – von diesem Thema. Die autobiographischen Romane und Erzählungen thematisieren die Schattenseiten des Fremdseins, die 44
Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt a.M. 1977. S. 430. Wander: Das gute Leben. A.a.O. S. 7. 46 Ebd. S. 11. 47 Ebd. S. 303. 48 Ebd. 49 Krauss: Gespräch mit Fred Wander. (Anm. 5). 45
331 Ausgrenzung – als jüdisches Kind in Wien, als Exilant in Frankreich, als Gefangener in Auschwitz −, aber diese Erfahrung verhärtet sich nie zum Zynismus, sondern produziert immer noch Hoffnung und Neugier. Wander versteht sich nicht als Kämpfer. Er bewundert jene, die gekämpft haben, entschied sich selbst aber – “unbewußt” wie er meint – “für eine passive Gangart”: “Eine in langer Verfolgung entstandene Haltung sehr vieler Juden: Ausweichen! Die Kräfte sammeln, die Sinne schärfen und den Feind – der allgegenwärtig war – durchschauen.”50 Damit ist aber nicht Opportunismus gemeint, sondern der “orthodoxe [...] Glauben an die Würde des Menschen.”51 Obgleich kein Intellektueller, reiht Fred Wander sich so ein in die Tradition jener Fundamentalisten der Vernunft, die – wie Voltaire oder Lessing – das Schreckliche nicht einfach hinnehmen wollen. In der Literatur und auf zahlreichen Reisen hat er seine halsstarrigen Hoffnungen gepflegt. Für ihn symbolisiert das Exil gleichermaßen freiwillig-unfreiwillige Heimatlosigkeit wie Lebensplan des Ruhelosen: Ja, das war ein Hunger nach Leben, aber es war auch, was Jean Améry die jüdische Unruhe nennt. Es war etwas, das ja wirklich in allen Juden steckt, etwas, das sie hinaustreibt. Das, was das jüdische Volk Jahrtausende am Leben erhalten hat, ist die Unruhe. Wären sie nicht davongelaufen, hätte man sie zuhause erschlagen. Immer, wenn ein Pogrom war, waren einige nicht zuhause. Die haben’s überlebt. Ich glaube, daß das etwas Genetisches ist.52
Vielleicht hängt mit dieser undogmatischen Lebensphilosophie zusammen, daß Wander vom Kultur- und Wissenschaftsbetrieb meist übersehen wird.1967 hat er den Fontane-Preis bekommen und 1972 den Heinrich-Mann-Preis, beide in der DDR. Seither ist es still um ihn geworden. An der Qualität seiner Bücher kann das nicht liegen. Der siebente Brunnen taugte zum Schulklassiker, doch leider ist das Buch so gut wie unbekannt. Daß ihn dies nicht kalt läßt, räumt der Autor ein: Manchmal fehlt mir der Mut, weil ich merke, daß das niemand will, daß es niemand lesen will. Mir fehlt natürlich die Animation des Erfolgs. Ich habe mit meinen Büchern keinen Erfolg, und ich frage mich, für wen mach ich das, und wozu mach ich das.53
Seit fünfzehn Jahren lebt er wieder in seinem Geburtsland Österreich. Er lebt dort fast wie im Exil – nur einsamer und isolierter als seinerzeit in 50
Wander: Das gute Leben. A.a.O. S. 40. Ebd. S. 198f. 52 Krauss: Gespräch mit Fred Wander. (Anm. 5). 53 Ebd. 51
332 Frankreich. Das mag mit dem Alter zusammenhängen und rückt doch die Lebenslust, die aus seinen Geschichten vom ‘richtigen’ Exil spricht, in ein noch grelleres Licht.
Ursula Seeber
Der unheimliche Dichter Zur deutschsprachigen Rezeption von Jakov Lind1 The essay analyzes German speaking reception of Jakov Lind’s writing from his early work “Seele aus Holz” to the autobiographical “Selbstportrait” and “Nahaufnahme” and discusses the critical approaches as well as their implications. The strong rejection of the work and its author on one side and the attempt to fit both into certain categories and identities are evidence of the difficulties literary criticism has experienced in classifying Lind’s writing. As a result, the biography of the author, and not aesthetic criteria, dominate the evaluation of Lind’s literary work.
Den Erzähler, Krimi- und Filmautor und späteren Sexualforscher Ernest Borneman und Jakov Lind verbindet nicht nur lebensgeschichtlich, daß beide von den Nationalsozialisten vertrieben wurden, sondern auch, daß beide Jakov Lind nicht zur Exilliteratur zählen und gerade mit dieser Abgrenzung ihr Lebenswerk angemessen gedeutet wissen wollen. Lind, der 1938 nach Holland flüchten konnte und die Kriegsjahre mit falschen Papieren überlebte, der 1945 nach Palästina ging und 1950 nach Europa, aber nie endgültig nach Wien zurückkehrte, Jakov Lind hat in einer Periode, als das offizielle Österreich seine ehemals abgewiesenen Bürger wieder für sich entdeckte und unter dem Etikett “Exilliteratur” eine Eingemeindung versuchte, diese für sich strikt abgelehnt, sich “nie zu dieser Emigration”2 bekannt, oder, wie er in seiner Autobiografie Gegenwind schreibt: Aber ich war weder Deutscher, noch war ich aus dem Exil heimgekehrt. Ich lebte in London, weil es mir dort gefiel. Außenseiter war ich ohnehin und überall: in London, in Wien, in Tel Aviv, in Paris und im Amsterdam.3
1
Dieser Text basiert auf einem 1997 beim Symposium “Changing Tongues: Jakov Lind and Cross-Cultural Creativity” in London gehaltenen Referat. Es wurde für diese Publikation überarbeitet. 2 Michael Cerha: Ich bin fremd hier, ich vertrete kein Land. (Interview mit JL). In: Der Standard. 4.7.1990. 3 Jakov Lind: Im Gegenwind. Übers. Jacqueline Csuss. Wien 1997. S. 166.
334 Ernest Borneman hingegen schränkt die Zuschreibung Exilautor zu einem Zeitpunkt, als selbst die Alten Meister der Exilforschung wie Walter Berendsohn oder Ernst Loewy ihre Prämissen neu überdachten und von der “Lebenskraft und dauernden Bedeutung”4 der nach 1945 entstandenen Literatur des Exils zu sprechen begannen, auf jene Gruppe ein, die ihre Hauptwerke zwischen 1933 und 1945 publiziert hatte und der er selbst angehörte. Nach der Rückkehr aus dem Exil in Großbritannien 1970 möglicherweise unter starkem Selbstbehauptungsdruck stehend, nimmt der 1915 geborene Borneman eine streng auf das aktiv antifaschistische Element beschränkte Position ein und kritisiert, daß manche Autoren, die ihre besten Werke erst nach der NS-Zeit verfaßt haben, sich nachträglich das nun nicht mehr schandhafte, sondern mittlerweile schon wieder schmückende Etikett des ‘Emigranten’ umhängen ließen und daurch der Nachwelt ein irriges Bild dessen lieferten, was tatsächlich während der NS-Zeit und unter dem Druck der Ereignisse von 1933 geschrieben worden war. [...] Zur Zeit der Machtergreifung Adolf Hitlers war der ‘Exilautor’ Jakov Lind ganze sechs Jahre alt.5
Unter das Verdikt der Jugendlichkeit fallen bei ihm auch Erich Fried, Elisabeth Freundlich oder Peter Weiss. Wie ist nun im Rahmen einer Überlegung über die Ästhetiken des Exils ein Autor unterzubringen, der angeblich nicht dazugehört? Möglicherweise ergeben die hier ausgewählten Dokumente zur deutschsprachigen Rezeption Jakov Linds Hinweise, im Kontext welcher Erwartungen und Verwertungen diese ‘draußen’ entstandene Literatur gelesen wurde und heute gelesen wird. Unter den literarischen Solisten der Gruppe 47 zu Berlin anno 1962 gab es nahrhafte Kost. Der neue Grass, das letzte von Weiss, die Blüten von Böll, Perlen von Bachmann und, soweit ich mich entsinnen kann, auch das erste von Jandl [...]. Eine fast heile Welt deutscher und deutschschreibender Anti-HitlerLiterati, die sich über die Vergangenheit, über jüngste deutsche Vergangenheit entweder Sorgen oder lustig machten. Deutschschreibende Ausländer, die sich weder für die Verbrechen von Buchenwald noch der Wehrmacht zu entschuldigen brauchten, gab es anno 62 nur drei. Der Berliner Schwede Weiss, der ju4
Walter A. Berendsohn: Die Massenflucht aus dem Dritten Reich und die künftige Forschung. In: Österreicher im Exil 1934 bis 1945. Protokoll des Internationalen Symposiums zur Erforschung des österreichischen Exils von 1934 bis 1945. Hrsg. v. der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes. Wien 1975. S.VI-VIII, hier S.VII. 5 Ernest Borneman: Deutschlands Emigranten schrieben nicht nur deutsch. In: Frankfurter Rundschau. 9. 8.1977.
335 goslawische Wiener Milo Dor und meine Person. Ein israelisch-holländischer Wiener, wohnhaft in London.6
In dieser Würdigung seines Kollegen Milo Dor erinnert Jakov Lind an sein eigenes literarisches Debüt in Deutschland und entwirft ein Selbstbild, das nur unzureichend mit dem Klischee vom Kosmopoliten zu beschreiben wäre. Linds Bonmot gilt nicht nur im geografischen Sinn. Was Marcel Reich-Ranicki einmal von Erich Fried und anderen deutschsprachigen Autoren der jüngeren Generation, die Verfolgung und Vertreibung überlebten, sagte, trifft mit allen Konnotationen auch auf Lind zu: Immer schon waren die Dichter ohne Heimat unheimliche Dichter. Aber diese scheinen mir doppelt unheimlich zu sein: die noch Halbwüchsige waren, als sie vertrieben und deportiert wurden, und die erst im Exil – oft zunächst in einer fremden Sprache – zu schreiben begonnen haben. Den für sie bestimmten, den – mit Nelly Sachs zu sprechen – von Deutschen ‘sinnvoll erdachten Wohnungen des Todes’ konnten sie zwar entgehen, doch wollte es ihnen nicht mehr gelingen, sich vom deutschen Wort zu befreien. Dichten können sie nur in der Sprache ihrer Kindheit und ihrer Jugend [...]. Denn was sie schreiben, befremdet und muß wohl auch befremden.7
Als unzugehörig erscheint Jakov Lind zunächst in Deutschland und Österreich tatsächlich, als einer, der zwar von hier ist, aber nicht hier lebt, der deutsch schreibt, dennoch bei keiner Nationalliteratur untergebracht werden kann. 1969, als er mit dem Erscheinen seiner ersten autobiografischen Schrift Counting my Steps ins Englische als Literatursprache wechselt, geht dann die Eindeutigkeit einer Sprachheimat verloren. Unheimlich wirkt Lind in der literarischen Szene der frühen sechziger Jahre auch durch die einzelgängerische Art, wie er als Schriftsteller auf die moralische und menschliche Vernichtungsarbeit reagiert, die der Nationalsozialismus vollbracht hat. Ohne Pathos, aber mit den Mitteln der Übertreibung und Satire, mit einem “grausigen brutalen Humor”, der “hierzulande unstatthaft wirkt”,8 und mit einer “hartnäckigen Inkonsequenz”9 in 6
Jakov Lind: A Man of Quality. In der Klarheit und Sachlichkeit einer fremden Sprache. (Über Milo Dor). In: Literaturlandschaft Österreich. Wie sie einander sehen, wie die Kritik sie sieht. 39 prominente Autoren. Hrsg. v. Michael Cerha. Wien 1995. S. 101f., hier S. 101. 7 Marcel Reich-Ranicki: Außenseiter und Provokateure. In: Ders.: Über Ruhestörer. Juden in der deutschen Literatur. Erweiterte Neuausgabe. Stuttgart 1989. S. 15-37, hier S. 34f. 8 Jürgen Wallmann: Jakov Lind: Der Erfinder. Rezension. In: Neue deutsche Hefte 36. Heft 1 1989. S. 163-165, hier S. 163.
336 Sprache und Stil stürze Lind den Leser “mitten in die Ortlosigkeit hinein. Hier sind wir vor den Worten durch nichts geschützt.”10 “Einzelgänger und Exzentriker,”11 “Berufs-Chaotiker,”12 “Vagabund,”13 “Schelm,”14 “Nomade,”15 “Vagant”16 und ähnlich lauten bis heute die Zuschreibungen der Kritik zur Person des Autors, mit denen auch die Ratlosigkeit gegenüber seinen Texten gerechtfertigt wird. Es sind Bilder massiver Ausgrenzung und zugleich Versuche, ihn in bestimmte Ordnungen einzubauen, “Identitätszumutungen, auf die Lind von Anfang an mit einer – um das Paradox zu riskieren – abweisenden Koketterie reagiert”17 hat. Tatsächlich wird durch die deutschsprachige Kritik ein Image rückgekoppelt, dem gegenüber sich Lind selbst gleichgültig gezeigt hat oder das er provokativ und selbstironisch als Spielmaterial benützt. Lind meditiert nach eigener Aussage “aus der Perspektive eines Outsiders,”18 befindet sich als “Ausländer”, der “obendrein Jude ist”, im “deutsch-jüdischen Krieg,”19 reizt die politische Korrekten, indem er jenes Vorurteil anspricht, das bei nicht wenigen seiner Kritiker als unaussprechliches Ressentiment in den Topoi vom Außenseiter wiederkehrt: “Juden sind anders.”20 Desgleichen widersetzt er sich stets den Vereinnahmungen durch eben diese Kritik und die Literaturwissenschaft, die ihn im System einer Nationalliteratur oder einer literaturgeschichtlichen Kategorie wie eben der Exilliteratur untergebracht wissen will. 9
Dieter E. Zimmer: Das schwierige Geschäft des Überlebens. (Rezension zu Eine Seele aus Holz). In: Die Zeit. 30.11.1962. 10 Karl August Horst [K.A.H.]: Das unmögliche Thema. Brief über neue Romane. (Rezension zu SH). In: Merkur 16, 1992. Nr. 12. S. 1190-93, hier 1191. 11 Jürgen Wallmann: Der Erfinder. A.a.O. 12 Günter Blöcker: Das große Ha-Ha-Lachen (Rezension zu Eine bessere Welt). In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 25.2.1967. 13 Otto F. Beer [O.F.B.]: Ein Vagabund schreibt sich durchs Chaos (Rezension zu Nahaufnahme). In: Die Presse. 21.4.1973. 14 Vgl. Marcel Reich-Ranicki: Haß, Sex und Humor (Rezension zu Selbstporträt) In: Die Zeit. 23.10.1970. 15 Michael Braun: Der Nomade, der daran denkt, sich selbst zu entwurzeln (Rezension zu Selbstporträt und Nahaufnahme). In: Basler Zeitung. 14. 2.1997. 16 Michael Braun: Der ewige Vagant (Jakov Lind zum 70. Geburtstag). In: Freitag. 21.2.1997. 17 Wendelin Schmidt-Dengler: Jakov Lind zum Siebzigsten. In: Wespennest. Nr. 107 [1997]. S. 89-97, hier S. 94. 18 Jakov Lind: Meditationen aus der Perspektive eines Outsiders. In: Ich lebe nicht in der Bundesrepublik. Hrsg. v. Hermann Kesten. München 1964. S. 98 -101. 19 Jakov Lind: Über Deutsch gesprochen. In: Deutsche Bücher. Jg. 1975. S. 83-87, hier S. 83. 20 Heinz Nußbaumer und Hans Rauscher: Juden sind anders (Interview mit Jakov Lind). In: Kurier. 18.6.1981.
337 Ein unheimlicher Dichter wurde Jakov Lind nicht zuletzt in seinem marktstrategisch ungünstigen Verhalten zu Verlagen. Er hat die Rechte an seinen Texten stets möglichst eingeschränkt vergeben, wurde nie wirklich Haus-Autor eines Verlags. Die Autobiografie Selbstporträt etwa kam, nachdem sich der Autor mit Luchterhand und Wagenbach nicht längerfristig einigen konnte,21 1970 bei S. Fischer heraus, wo auch 1973 deren zweiter Teil Nahaufnahme folgte, für die zweite Auflage von Selbstporträt wechselte Lind zurück zu Wagenbach. Seine zwölf Titel auf dem deutschsprachigen Markt sind in zehn verschiedenen Verlagen herausgekommen, darunter an österreichischen Verlagen Residenz und Medusa, erst jüngst scheinen sich Hanser (mit Zsolnay) und Picus, Verlage mit Sitz in Österreich, als Lind-Verlagshäuser zu etablieren. Jakov Linds Debütwerk, der Erzählband Eine Seele aus Holz, zählte zu den meistbesprochenen Neuerscheinungen der Frankfurter Buchmesse 1962 und ist mit über hundert deutschsprachigen Pressemeldungen dokumentiert.22 Innerhalb kurzer Zeit in zehn Sprachen übersetzt, begründete das Buch Anfang der sechziger Jahre Linds Ruf als “eine Stimme, die unter den nachgewordenen Erzählern nicht zu überhören ist.”23 Eine Seele aus Holz und die Romane Landschaft in Beton (1963) und Eine bessere Welt (1966) sind hier angesprochene Werke, deren deutschsprachige Rezeption von interessierter Irritation, mehr aber von Ressentiments und Feindseligkeit gegenüber dem deutschschreibenden Jungautor mit Wohnsitz London und New York gekennzeichnet ist. Mit seinen Autobiografien 1970 bis 1973 kehrt Lind – wieder ambivalent aufgenommen – als übersetzter englischsprachiger Autor mit ‘abenteuerlicher’ Lebensgeschichte im Kontext des Nationalsozialismus in die deutschen Medien zurück, in einer dritten Phase, von 1995 bis zum 70. Geburtstag 1997, konsolidiert sich das Bild vom “Exilschriftsteller am Rand der österreichischen Litera-
21
Vgl. den Hinweis auf die Verlagsgeschichte in Unter Ratten (Rezension zu Selbstporträt). In: Der Spiegel. 9. November 1970. 22 Folgende Pressearchive wurden benützt: Zeitungsausschnittsammlung der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur im Literaturhaus, Wien; Sammlung Desider Stern im Literaturhaus, Wien; Innsbrucker Zeitungsarchiv, Universität Innsbruck. Vgl. neuerdings die Bibliografie bei Silke Hassler: Umwege zum Ehrenkreuz. Zur Rezeption von Jakov Lind im deutsch- und englischsprachigen Raum. Diplomarbeit. Universität Wien 1998. Silke Hassler hat ihre internationale Zeitungsausschnittsammlung zu Jakov Lind 1998 der Österreichischen Exilbibliothek überlassen. 23 Otto Breicha: Jakov Lind: Selbstporträt (Rezension). In: Wort in der Zeit. Jg. 9. Nr. 5, 1963. S. 59.
338 turszene.”24 Und auch in dieser jüngsten Phase Rezeption gilt, daß die ästhetischen Bewertungen oft vom biografischen Diskurs überholt werden, daß sich die Kritik mehr mit der Person Jakov Linds beschäftigt als mit seinen Texten.25 Jakov Lind gilt heute für seine ehemaligen Landsleute als österreichischer Autor. Er ist etwa in beiden anläßlich des Österreich-Schwerpunkts bei der Frankfurter Buchmesse 1995 erschienenen programmatischen Publikationen vertreten,26 weiter in der zu diesem Anlaß entstandenen Anthologie Literaturlandschaft Österreich, die 39 ‘prominente österreichische’ Autoren der Gegenwart vorstellt (darunter H.C. Artmann, Christoph Ransmayr, Gerhard Roth und Peter Turrini). Lind ist seit den siebziger Jahren Beiträger kanonbildender Sammelwerke wie Österreich zum Beispiel, einer Bestandsaufnahme österreichischer Kunst und Literatur nach 1968 von Otto Breicha.27 Der Kunstpublizist und Kritiker Breicha war auch einer der ersten österreichischen Rezensenten von Eine Seele aus Holz. Seine Besprechung und andere aus österreichischen Tageszeitungen sowie die Rezensionen aus größeren deutschen Blättern seien hier paradigmatisch für die Rezeptionsvarianten des Lindschen Frühwerks in den beiden Ländern vorgeführt; und sie spiegeln zugleich die Möglichkeiten, wie im jeweiligen kulturpolitischen Ambiente zu diesem Zeitpunkt ein solches “Buch des Schreckens”, das “man nicht nur mäßig bewegt” aus der Hand lege,28 wie also Linds groteske, “grausame, zuweilen lähmende Prosa”29 über Ju-
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Anna Mitgutsch: ...weil ich leben wollte (Rezension zu Selbstporträt und Nahaufnahme). In: Der Standard. 7.2.1997. 25 Barbara Petsch: Der Mimen verlorene Liebesmüh (Rezension zu Ergo). In: Die Furche. 24.4.1997. 26 Vgl. den Artikel zu Lind in: Katalog-Lexikon zur österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts. 4 Bde. Hrsg. v. Gerhard Ruiss. Wien 1995; und die Anthologie zur gleichnamigen Buchmessen-Ausstellung: Der sechste Sinn oder die Spur der Dinge. Eine Anthologie der österreichischen Literatur. Hrsg. v. Cathrin Pichler und Johannes Schlebrügge. Wien 1996. 27 Vgl. Silke Hassler: Das Dämonisch-Miserable im Menschen. Die Chronik der Auswanderung Jakov Linds aus Österreich und seiner Literaturgeschichte. In: Literaturlandschaft Österreich. A.a.O. S. 99f. ; Jakov Lind: A Man of Quality. Ebd. S. 101f.; Peter Turrini: Ein Urenkel von Nestroy. Ein Jakov Nepomuk Lind. Ebd. S. 98f.; Jakov Lind: Muttersprache. In: Österreich zum Beispiel. Literature, Bildende Kunst, Film und Musik seit 1968. Hrsg. v. Otto Breicha und Reinhard Urbach. Salzburg, Wien 1982. S. 83. 28 Dieter E. Zimmer: Das schwierige Geschäft des Überlebens. A.a.O. 29 Horst Bienek: Prosa der Grausamkeit. (Rezension zu Eine Seele aus Holz). In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 2.2.1963.
339 den und Nazis, Täter und Opfer, Menschenfresser und Mörder diskutierbar war. An Eine Seele aus Holz schreibend, versuchte Lind, den “schmerzlichen und zugleich peinlichen Moment zu verdrängen, an dem ich mich nolens volens als deutscher Schriftsteller der Öffentlichkeit stellen würde,”30 obwohl ihm das Ambiente nicht vertraut war: “Ich las viel, aber selten Romane, und vom umjubelten Bestsellerautor Günter Grass hatte ich zwar gehört, aber nichts gelesen. Heinrich Böll und Peter Weiss waren mir ein Begriff, ihre Bücher kannte ich nicht.”31 Mit ihnen wurde Lind allerdings von der deutschen Kritik auch nicht verglichen. Die Versuche, seine frühen Texte literaturgeschichtlich einzuordnen, beziehen sich fast alle auf schwarze Vorbilder aus dem Englischen wie Edgar Allan Poe, Ambrose Bierce, Alfred Hitchcock und die “Nachahmer von Hitchcock,”32 vom deutschen Kanon sind es Vertreter des Surrealen wie Kafka und Kubin,33 und “von fern”34 Döblin und vor allem das Märchen, und sei es in der Variante Schauermärchen.35 Innerhalb der aktuellen Schreibstile in der deutschen Gegenwartsprosa wird Lind als Einzelgänger gehandelt: Seine Texte seien weder ein genügsames Verweilen in den Schrebergärten der Gesellschaftskritik, noch ein Ausweichen in sterile Beschreibungsmanie und inhaltsarme, ja die Inhalte förmlich aufzehrende Perfektion, in jene Schongebiete also, wo sich ein großer Teil unserer jüngsten Literatur angesiedelt hat, sondern der verzweifelte Versuch, Grauenvolles durch die Bilder einer unbarmherzigen Phantasie noch zu überbieten, um sich so – und sei es auf Kosten der Literatur – von der unerträglich gewordenen Wirklichkeit zu befreien.36
Immerhin: Günther Rühle würdigt Linds bereits in den fünfziger Jahren auf englisch geschriebenes, in der Übersetzung von Erich Fried 1964 in Braunschweig uraufgeführtes Drama Heiden, ohne es explizit so zu nennen, als Beitrag zur Gattung Dokumentarstück (“Symptom-Drama”), des30
Jakov Lind: Im Gegenwind. A.a.O. S. 131. Ebd. 32 Dieter E. Zimmer: Das schwierige Geschäft des Überlebens. A.a.O. 33 Lena Dur: Eine Stimme aus Wien, in London entdeckt (Rezension zu Eine Seele aus Holz). In: Die Presse. 17.11.1962. 34 Karl Riha: (Rezension zu Landschaft aus Beton) In: Neue deutsche Hefte 96. S. 116-118, hier S. 117. 35 Vgl. Dieter E. Zimmer: Das schwierige Geschäft des Überlebens. A.a.O.; Horst Bienek: Prosa der Grasuamkeit. A.a.O.; Jürgen Wallmann: Würgen und winseln (Rezension zu Die Heiden). In: Der Spiegel. 16.12.1964. 36 Günter Blöcker: Das große Ha-Ha-Lachen. A.a.O. 31
340 sen Autoren, “von den Schocks bedrängt, die durch die Aufdeckung der Nazi-Verbrechen auch das Bild unserer Gegenwart verdüstern”, “Symptome dieser Wirklichkeit sammeln, um sie durch Darstellung sichtbar zu machen.”37 Mindestens soviel Interesse wie dem Debüt-Text wurde von der Kritik dem Debütanten selbst entgegengebracht, angeheizt durch eine salopp stilisierte Biografie Jakov Linds, die der Luchterhand Verlag in der Werbung für Eine Seele aus Holz verwendet hatte: Nacheinander war ich Schiffer auf einem Schlepper, Assistent eines Spions, Angestellter in einem Amt für Lebensmittelrationierung, Fischer im Mittelmeer, Straßenarbeiter in Jerusalem, Strandfotograf in Tel Aviv, Apfelsinenpflücker in Nathanya, Flugzeugkontrolleur bei der israelischen Luftwaffe, Verfasser von Kurzgeschichten, Herausgeber einer kleinen Wiener Zeitung, Privatdedektiv, Filmagent in London, Reisender in Skandinavien, Frankreich und Italien [...].38
In den bundesdeutschen Rezensionen wird diese Liste von Linds kuriosen illiteraten Berufen gern eingebaut, allerdings verschweigt man die relevanten Details (jüdisches Elternhaus, das Exil) aus dem Leben des Autors nicht. Das schelmische Epitheton von der “bunte[n]” Biografie39 gerät aber im Kontext der österreichischen Rezeption zum Zynismus: Lena Dur schreibt in der Presse vom Werk des “fünfunddreißigjährigen Exwieners, den 1938 seine Heimat vertrieb und der nach bunten Umwegen jetzt in London lebt.”40 Otto Breicha geht in seiner Besprechung auf biografisch Einschlägiges gar nicht ein und erwähnt nur die “überaus bewegte Vergangenheit”41 Linds. Überhaupt ist in den österreichischen Besprechungen der Ton indirekter. Er läßt auch die Urteile über Linds Sprache und Stil dezent ausfallen: “Was für diese Erzählungen einnimmt, ist gerade der Umstand, daß die Weltläufigkeit und glatte Eleganz der epischen Routine fehlen”, so Otto Breicha.42 “Die Leidenschaft des Erzählers verführt ihn ab und zu auf Irrwege, einiges wirkt gekünstelt und verkrampft”, schreibt Lena Dur.43 Zugleich wird aber der Eindruck vermittelt, daß über den Nationalsozialismus nur verhalten gesprochen werden könne. Dies hängt mit der Selbstdefinition Österreichs als erstem Opfer der Hitlerschen Ag37
Günther Rühle: Die Faschistenprobe (Rezension zu Die Heiden). In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 14.12.1964. 38 Klappentext zu Eine Seele aus Holz. 39 Dieter E. Zimmer: Das schwierige Geschäft des Überlebens. A.a.O. 40 Lena Dur: Eine Stimme aus Wien, in London entdeckt. A.a.O. 41 Otto Breicha: Jakov Lind: Selbstporträt. A.a.O. 42 Ebd. 43 Lena Dur: Eine Stimme aus Wien, in London entdeckt. A.a.O.
341 gressionspolitik und dem daraus entstehenden politischen Ambiente zusammen, in dem Themen wie Exil und Verfolgung bis in die achtziger Jahre keine publizistische Öffentlichkeit hatten und nur tabuisierend oder aggressiv diskutiert wurden. Während ein aufgeschlossener bundesdeutscher Kritiker – Horst Bienek – herausarbeitet, daß Lind die von den Nazis Verfolgten nicht als Opfer stilisiere, sondern “Schwächen und Niedrigkeiten” geradezu demonstriere,44 ist in den heimischen Besprechungen nicht einmal expressis verbis vom Nationalsozialimus, sondern von “gespenstische[r] Wirklichkeit aus der jüngsten Vergangenheit”45 die Rede, davon, daß “Lind die politische Vergangenheit der Kriegsjahre aus einfühlsamem Miterleben und Miterleiden”46 angehe. Folgerichtig wird etwa Linds verfremdender Einsatz österreichischer Regionalsprache als Tätersprache mit ihren “bissigen, boshaften, verschnörkelten, gemeinen, scheinheiligen Redewendungen”47 gerade in der titelgebenden Erzählung nicht wahrgenommen oder zumindest nicht kommentiert, ebenso nicht Linds Ironie. Während zwei deutsche Kritiker48 die Erzählung Die Auferstehung über zwei in einem holländischen Wandversteck quasi eingesargte, miteinander in einem absurden Dialog über die Schuld an ihrem Schicksal philosophierende, schließlich entdeckte und deportierte Juden als die beste und konzentrierteste bewerten und die Ironie der banalen Abschiedsszene am Zug (der allerdings nach Auschwitz geht) besonders erwähnen, liest der österreichische Rezensent den Text scheinbar unter dem Eindruck einer ‘Wiedergutmachungsphantasie’,49 einer typischen Spielart im sozial-psychologischen Umgang der Deutschen und Österreicher mit dem Nationalsozialismus nach 1945. Das konkrekte Erinnerungsbild an Verfolgung und Deportation wird mythisch umgedeutet und ersetzt: Lind, so Otto Breicha, löse den “Gegensatz von Christen- und Judentum in den versöhnten Ausklang gemeinsamer Hinopferung.”50 “Ich war hingerissen, wobei ich nicht ausschließen kann, daß auch die Schuldgefühle, die bei mir durch die Vita des jüdischen Autors ausgelöst wurden, ins Gewicht fielen”, schreibt ein Leser der ersten Stunde in 44
Horst Bienek: Prosa der Grausamkeit. A.a.O. Lena Dur: Eine Stimme aus Wien, in London entdeckt. A.a.O. 46 Otto Breicha: Jakov Lind: Selbstporträt. A.a.O. 47 Jakov Lind: Über Deutsch gesprochen. A.a.O. S. 84. 48 Vgl. Karl August Horst: Das unmögliche Thema. A.a.O.; Horst Bienek: Prosa der Grausamkeit. A.a.O. 49 Vgl. Frank Stern: Von der Bühne auf die Straße. Der schwierige Umgang mit dem deutschen Antisemitismus in der politischen Kultur von 1945 bis 1990. Eine Skizze. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 1, 1992. S. 42-76, hier S. 65. 50 Otto Breicha: Jakov Lind: Selbstporträt. A.a.O. 45
342 einem jüngst erschienenen Gedenkartikel.51 Nicht nur Gegner von Seele aus Holz, auch affirmative Rezensenten messen das Buch oft nicht an ästhetischen Kriterien, sondern lesen es im biografischen Kontext. Die ‘schwierige’ Biografie des Verfassers wird ihm zum Handicap, ein Verriß seines Textes zum moralischen Tabu. Jost Nolte etwa schreibt, daß “es uns schlecht anstehe, einem Juden, der als Elfjähriger [...] emigrieren mußte, die moralische Rechnung aufzumachen.”52 Am anderen Ende des Spektrums stehen jene Kritiker, die im Rechtfertigungsdiskurs53 gegen das Buch das antisemtische Vorurteil ohne Hemmung aussprechen. Es handelt sich vor allem um regionale Blätter, deren Buchbesprechungen nicht das deutsche Feuilleton repräsentieren, die aber dennoch nicht unerwähnt bleiben sollen. Der Rezensent der Oberösterreichischen Nachrichten etwa, der suggeriert, das “v” im Namen Jakov sei ein “buchgeschäftliches Victory”, findet ungeniert zum Bild des “ewig wandernden Juden”, dessen Vokabular “heimatlich” klinge, aber “der sich in einen Jakov verwandelnde Jakob ist ein Beispiel dafür, daß man, wenn man lange genug fort ist, auch seine Muttersprache verlernen kann.”54 “Verblüffendes Talent bot sich dar, eigenartig dilettantische Beigaben verminderten den Wert”, faßt der Kritiker der Welt55 den Gesamteindruck der relevanten bundesdeutschen Kritik von Jakov Lind als einem Fall für den “harten” Leser56 zusammen. Und als ob Logik, Ökonomie und Regelhaftigkeit ein Kriterium poetischer Sprache wären, ist der am häufigsten wiederkehrende Einwand der gegen das scheinbar inkompetent verwendete Deutsch dieses deutschsprachigen Autors – und Dieter E. Zimmer von der Zeit profiliert sich als besonders strenger Sprachpolizisten: Auch schlampig ist es, in gewisser Hinsicht, das sei vorweg gesagt. Daß man ihm diesen Vorwurf nicht ersparen kann, liegt nicht an der an manchen Stellen offenbaren sprachlichen Unsicherheit – die nimmt bei einem Mann, der den 51
K.H. Kramberg: Geständnisse einer Seele aus Holz (Rezension zu G.). In: Süddeutsche Zeitung. 3.1.1998. 52 Zitiert in: Silke Hassler: Umwege zum Ehrenkreuz. A.a.O. S. 26. 53 Vgl. Ruth Wodak: ‘Ich habe viele jüdische Freunde, aber...’ Antisemistismus als Rechtfertigungsdiskurs. In: Die Macht der Bilder. Antisemitische Vorurteile und Stereotypen. Hrsg. v. Jüdischen Museum der Stadt Wien. Wien 1995. S. 374-381, hier S. 378f. 54 Ferdinand Freinberg: Österreichische Erzählungen aus England (Rezension zu Eine Seele aus Holz). In: Oberösterreichische Nachrichten. 6.10.1962. 55 Jost Nolte: Fürchterliches Gericht wird gehalten. Zweimal junge deutsche schwarze Literatur: Jakov Lind und Thomas Bernhard (Rezension zu Landschaft aus Beton). In: Die Welt. 8.6.1963. 56 Vgl. Karl August Horst: Das unmögliche Thema. A.a.O.
343 größten Teil seines Lebens außerhalb des deutschen Sprachgebiets verbracht hat, wenig wunder, noch müßte sie von vornherein ein Nachteil sein – schließlich ist es denkbar, daß die Mittel der Muttersprache aus der Ferne umso kritischer durchschaut werden. Auch daß das Buch von Hunderten von Fehlern strotzt [...], obwohl sie in ihrer hartnäckigen Inkonsequenz am Ende auch den fuchsen können, der von Hause aus kein Schulfuchs ist, ist höchstens ein Indiz. Der Duden ist die Bibel der Korrektoren, nicht der Dichter, und das wüste Manuskript kann ebensogut von einem Trottel wie von einem Genie stammen. Aber wo dann Sätze herauskommen wie “Außer Franz’ asketischer Gestalt, die auf Yvonne die Wirkung eines Aphrodisias (sic) hatte, war ihr dieses Gesprächsthema im Grunde völlig egal”, da steht nicht mehr nur eine belanglose Äußerlichkeit, sondern die Disziplin des Denkens selbst in Frage.57
Jakov Lind selbst hat Eine Seele aus Holz, den Roman Landschaft in Beton um einen deutschen Soldaten mit Gehorsamsneurose und den surrealistischen Text Eine bessere Welt als “Rechentafel mit der deutsch-jüdischen Bilanz” bezeichnet, “nur hat das Ende der Geschichte den Leuten nicht so gut wie der Anfang gefallen.”58 Tatsächlich reagierten die Kritiker auf die beiden Folgewerke, die jeweils eine von Ideologien, besser: eine vom Nationalsozialismus unwohnlich gemachte Welt beschreiben, zunehmend gereizt. Und wieder sind die Bilder, mit denen die Kritiker arbeiten, solche der Negation, Bilder, die Unordnung, Unkenntlichkeit, Abweichung, Strukturlosigkeit signalisieren und der Dekonstruktion des Autors dienen, darunter auffällig die Speise- und Ekelmetaphern. Hans Magnus Enzensberger spricht etwa von “Linds blutigem und banalem Grießbrei”,59 eine der wenigen Kritikerinnen von unverdaulicher “kühne[r] Knetmasse”,60 andere von einem Brechmittel und anderen blutrünstigen Unappetitlichkeiten. Hans Magnus Enzensberger unterstellt im Spiegel Lind Koketterie mit der modisch gewordenen Literatur der ‘negativen’ Weltentwürfe (Genet, Dürrenmatt) anstatt Engagement und verreißt Landschaft in Beton als Pappmaché-Realismus mit visionärem Dilettantentum, plattfüßige Satire mit verquollener Metaphysik. An seinem Buch stimmt buchstäblich nichts: weder
57
Dieter E. Zimmer: Das schwierige Geschäft des Überlebens. A.a.O. Jakov Lind: Über Deutsch gesprochen. A.a.O. S. 85. 59 Hans Magnus Enzensberger: Jakov Lind: Landschaft in Beton (Rezension). In: Der Spiegel. 8.5.1963. 60 Inge Meidinger Geise: Wüsterei und Wüstenei (Rezension zu Landschaft in Beton). In: Die Tat. 23.8.1963. 58
344 die Parabel noch ihre Nutzanwendung; weder die Figuren, noch der Jargon, den sie reden; weder die Atmosphäre noch das Detail.61
Hellmuth Karasek tut in der Süddeutschen Zeitung die Bessere Welt als “unsägliche Mischung aus verschwommenem Weltekel, nicht zu kontrollierendem Wahnsinnsprotokoll, bis zur Unkenntlichkeit verschleierter Gesellschaftskritik und harter Gottessuche”62 ab. Dieter E. Zimmer reagiert in der Zeit wieder auf den sprachlichen Zustand des Textes: “[...] daß dieses Buch von einem hingeschludert wurde, der mit der Sprache in ganz besonderem Maße auf Kriegsfuß steht.”63 Stammrezensent und Lind-Fan Günter Blöcker äußert seine Bedenken über den Text wenigstens mit Humor: “Wir wissen, ein Künstler kann mit anderen Körperteilen denken als dem Kopf – aber man darf es dem Resultat nicht anmerken, daß es unter vorsätzlicher Ausschaltung jeder intellektuellen Disziplin zustande gekommen ist.”64 Neben Franz Schonauer, einem frühen Förderer Linds, ist Blöcker der einzige, der Linds Sprachwitz in der Besseren Welt würdigt und ihn “um des Schusses Nestroy willen, der auch zu ihm gehört und der nicht einmal in diesem Buch ganz fehlt,”65 zum Weitermachen ermutigen möchte. “Nicht am Negativen ist Lind gescheitert, sondern daran, daß er keine Sprache hat.” Auf Enzensbergers Urteil66 reagierten mehrere Spiegel-Leser, darunter auch der Germanist Reinhard Döhl, eine der seltenen Stimmen, die zu bedenken gibt, daß Linds deviantes, triviales Deutsch, die “Sprache des Pabel-Heftes,”67 auch eine Methode sein könne, um eine Ausdrucksform für das unsagbare Erscheinende der nationalsozialistischen Erfahrung zu finden. Jakov Lind selbst hat diese Arbeit des Schreibens als “Alternativen finden. Das Unerträgliche erträglich denken”68 bezeichnet und immer wieder – etwa im Gedicht Muttersprache – das DeutschSchreiben thematisiert:
61
Hans Magnus Enzensberger: Jakov Lind: Landschaft in Beton. A.a.O. Hellmuth Karasek: Rätselvolles von Wacholder und Würz (Rezension zu Eine bessere Welt). In: Süddeutsche Zeitung. 22.9.1966. 63 Dieter E. Zimmer: Der Mensch ist ein Rohr (Rezension zu Eine bessere Welt). In: Die Zeit. 23.9.1966. 64 Günter Blöcker: Das große Ha-Ha-Lachen. A.a.O. 65 Ebd. 66 Hans Magnus Enzensberger: Jakov Lind: Landschaft in Beton. A.a.O. 67 Vgl. Reinhard Döhl: Sprachlehrer (Leserbrief). In: Der Spiegel. 29.5.1963. 68 Judith Veichtlbauer und Stephan Steiner: Imaginäres Interview von Jakov Lind. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. 49. Aufl. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. München 1995. 62
345 [...] Wer meine Muttersprache sieht, weiche ihr aus oder bringe sie um, oder übersetze sie in normale Sprache noch ehe man sie ausspricht.69
Wer den Autor ebenfalls vor seinen Kritikern in Schutz nimmt und früh darauf hinweist, daß die schiefen Bilder, die Kalauer und sprachlichen Trivialitäten, die wilde Syntax und Zeichensetzung bei Lind nicht Versagen, sondern wissentlich erzeugte Defizite seien, zum Teil geglückte, zum Teil ganz mißratenen Versuche, eine ungeheuerliche Erfahrung in Vision und erzählerische Erfindung umzusetzen, ist der Rezensent der Züricher Weltwoche: Lind ist in meinen Augen weit davon entfernt, das Handwerk des Schreibens zu beherrschen, und es scheint mir fraglich, ob er zu solcher Beherrschung je kommen wird. Lind krankt daran, in der Sprache, in der er schreibt, nicht zu Hause zu sein. Er ist in keiner Sprache zu Hause.70
Dennoch: Was in der Besseren Welt an Bruchstücken sich findet, an Halb- und Nahezufertigem, an rohen Einfällen auch, reichte hin für ein bedeutendes erzählendes Werk. Zwischen diesen Bruchstücken und Ansätzen dehnt sich ein immenses Trümmerfeld.71
Ohne das Wort zu verwenden, beschreibt Schonauer den Text Linds erstmals als ein Werk der Exilliteratur, und zwar in dem Sinn, in dem sie Guy Stern beschrieben hat: [...] weder dem Schrifttum des Geburtslandes noch dem des Gastlandes eindeutig zuzurechnen, weder vom Geist des einen noch vom Geist des anderen klar geprägt [...]. Nicht geographisch, aber literarisch trägt dieser Zwittertyp das Mal des Kain: unstet und flüchtig zu sein und nirgends hinzugehören.72
69
Jakov Lind: Muttersprache. In: Österreich zum Beispiel. A.a.O. S. 83. Franz Schonauer: Ansätze zu einem Roman (Rezension zu Eine bessere Welt). In: Die Weltwoche. 9.12.1966. 71 Ebd. 72 Guy Stern: Hertha Pauli (1989). In: Ders. (Hrsg.): Literatur im Exil. Gesammelte Aufsätze 1959-1989. Ismaning 1981. S. 282-302, hier S. 289. 70
346 Schonauer ist es auch, der ausführlich auf den Zusammenhang von regionalem Jargon und thematischer Österreich-Implikation des Buches hinweist, auf die faschistoide Doppelgestalt Pedant/Querulant Würz/Wacholder als monströse Inkarnation des “Wearners” und auf den wütenden Ton in der Kritik Linds am “Austriazismus”, “jene Form verdorbener Folklore, die keinen Trick, keinen ‘Schmäh’ [...] auslässt, wenn es um ein Alibi vor der Weltgeschichte geht.”73 Enzensbergers Bild vom Grießbrei paraphrasierend, vergleicht Horst Kricheldorff Linds literarische Karriere mit “dem Durchfressen durch einen Berg und als könne dieser Autor doch einmal eines Tages, gleichsam in einem anderen Land, mit ganz neuen Werken ans Licht kommen.”74 Geradezu märchenhaft läßt sich Linds zweites Entrée in den deutschen Literaturbetrieb vier Jahre später tatsächlich an. Es tritt die paradoxe Situation ein, daß mit Vorlage seiner ursprünglich englisch geschriebenen Autobiografie Selbstporträt Bekenntnisse zu einem “höchst originellen deutschen Schriftsteller” in “sorgfältiger und von Lind ausdrücklich befürworteter Übersetzung” kommen: “So geht der heimliche Wunsch jener in Erfüllung, die seine Prosa lesen wollten, ohne sein Deutsch in Kauf nehmen zu müssen.”75 Die aberwitzige Geschichte seines Überlebens mit falscher Identität wird in Deutschland als Linds “eigentliches, sein entscheidendes”76 Buch uneingeschränkt begrüßt. Was die professionellen Leser besonders einnimmt, darunter auch den Exilautor Hans Sahl, ist die
Absurdität eines Schicksals, das sich der literarischen Darstellung zu widersetzen scheint, und die Kraft der Erzählung, der es trotzdem gelingt, diese stumme, dehumanisierte Heimatlosigkeit “sprechen” zu lassen, sie in Sprache umzusetzen.77
73
Franz Schonauer: Ansätze zu einem Roman. A.a.O. Hans Kricheldorff: Jakov Lind: Eine bessere Welt. In: Neue deutsche Hefte 14, 1967. H. 2. S. 156-158, hier S. 158. 75 Marcel Reich-Ranicki: Haß, Sex und Humor. A.a.O. 76 Ernst Johann: Ich bin in meinen Haß verliebt (Rezension zu Selbstporträt). In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 24.11.1970. 77 Hans Sahl: Trauer um das Wort (Rezension zu Counting my Steps). In: Die Welt der Literatur. Jg. 7, 1970. Heft 1. S. 4. 74
347 Was dem “Gewalttäter von einem Schriftststeller”78 bei seinen fiktionalen Vorgängerwerken als ungefüge Darstellung, übermäßige Phantasie, vermeintliche Artistik und stilistischer Wildwuchs an Punkten abgezogen worden war, legitimiert sich nun – obwohl de facto Thema mit Variationen – durch die im sogenannten autobiografischen Pakt besiegelte “Wahrheitsprobe,”79 durch seine “exorbitante Faktizität.”80 Dazu kommt, daß Lind seine Lebensgeschichte “nicht aus der Perspektive des leidenden Opfers oder nüchternen Chronisten, sondern aus der des scheinbar gutgelaunten und fast übermütigen Schelms” erzählt,81 was dem Leser einen angstfreien Zugang zum belasteten Terrain Nationalsozialismus ermöglicht: Linds Text sei “rigoros, ohne Selbstmitleid,”82 “voll wohltuender Selbstironie,”83 der Text “ein einziger Distanzierungs- und Klärungsversuch.”84 “In seinen Romanen war Lind, wahrhaftig, nicht ganz bei Troste. In seiner aufrichtigen, witzigen, spannenden und kühl distanzierten Autobiographie jedoch hat er seinen Verstand wiedergefunden.”85 Zwei österreichische Stimmen zu Selbstporträt referieren weniger über den Text als über dessen biografisches Basismaterial: ein Insider wie Otto F. Beer von der Presse86 äußert sich etwa skeptisch bezüglich der erinnerten Dostojewski-Lektüre eines Zehnjährigen im Wiener Gemeindebau, die Publizistin Stella Klein-Löw versucht sich als seine ehemalige Lehrerin am Chajes-Gymnasium an die reale Figur Jakov Linds zu erinnern: “Jedes seiner furchtbaren Erlebnisse tat weh.”87 Eine wirkungsgeschichtliche Österreich-Variante läßt sich dann auch in der Rezeption des autobiografischen Nachfolgebuchs Nahaufnahme feststellen. Zunächst trifft dieses Buch über Linds Israel-Jahre, das Leben in Nachkriegswien und die Wanderjahre in Nachkriegeuropa der Fluch der Doublette, von Marcel Reich-Ranicki in der Zeit auf die Formel gebracht: 78
Ernst Johann: Ich bin in meinen Haß verliebt. A.a.O. Philipp Lejeune: Der autobiographische Pakt. Frankfurt a.M. 1994. S. 39. 80 Günter Blöcker: Erhoffte Erleuchtung aus einer großen Konfusion (Rezension zu Nahaufnahme). In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 14.4.1973. 81 Marcel Reich-Ranicki: Haß, Sex und Humor. A.a.O. 82 Franz Schonauer: Ansätze zu einem Roman. A.a.O. 83 Erwin Leiser: Ein Mann ohne Identität (Rezension zu Selbstporträt). In: Die Weltwoche. 30.10.1970. 84 Hellmuth Karasek: Außenseiter unter Außenseitern (Rezension zu Selbstporträt). In: Süddeutsche Zeitung. 10./11.10. 1970. 85 Unter Ratten. A.a.O. 86 Otto F. Beer: Blick zurück mit 43 (Rezension zu Selbstporträt). In: Die Presse. 6.3.1971. 87 Stella Klein-Löw: Jakov Lind: Selbstporträt (Rezension). In: Illustrierte Neue Welt. Dezember 1981. 79
348 “Der Erfolg steigert die Selbstsicherheit; diese indes reduziert die Selbstkontrolle.”88 Wo Lind nicht mehr auf die für sich sprechende Gewalt der Fakten vertrauen könne, beschreibe er seine Versuche, zur Normalität zurückzukommen, als Folge von erotischen Beziehungen und “meist beziehungslos”89 montierten Anekdoten, reflexiven und diskursiven Passagen: “Mit ihren zahlreichen Platitüden, Stilblüten und verkitschten Metaphern präsentiert sich Linds exhibitionistische Autobiographie eher in drittklassiger Feuilleton-Schreibe.”90 Beachtet wurden jedoch Details wie die gelungene “Kortner-Miniatur”91 des Wien-Kapitels. Anders die österreichische Kritik, die Nahaufnahme weniger als literarischen Text denn als Viennensie rezipiert – sogar die konservative Kronen Zeitung92 berichtete über das Buch und druckte daraus eine Collage von Zitaten über Wien. Dennoch ist in den sprachlichen Mikrostrategien eine eigenwillige Ferne und Empfindlichkeit im bezug auf den Verfasser zu bemerken, sind Attitüden der Ausgrenzung, z. B. in den Gegensatzpaaren gesund/krank, außen/innen, durch abwertende Verwendung des Personalpronomens in der Konstellation wir/er (wie um eine Schicksalsgemeinschaft der Hiergebliebenen zu insinuieren), ist die für den antisemitischen Rechtfertigungsdiskurs typische Umdrehung der Täter-OpferKonstellation unübersehbar: “Jakov Lind, ein Autor, der sagt, daß er selbst einer von diesen kranken Wienern ist, löst sich von dem, was ihn anzieht, betrachtet es (und uns) von außen. Ist es nicht das, was uns fehlt? – Distanz”, schreibt der Kurier.93 Daß in Nahaufnahme die Topographie von Wien (etwa Straßennamen) nicht stimmt, erscheint als “äußeres Symptom für die Verzerrung, mit der er die sich langsam konsolidierende Welt rund um 1950 abbildet;”94 ein zweites Mal wird der Umstand, daß der Text den Stadtplan von Wien nicht korrekt wiedergibt, so mißverständlich beschrieben, daß nur mehr ein xenophobisches Ressentiment stehen bleibt:
88
Marcel Reich-Ranicki: Kalter Kaffee und viele Mädchen (Rezension zu Nahaufnahme). In: Die Zeit. 13.4.1973. 89 Günther Schloz: Von Angst und Liebe (Rezension zu Nahaufnahme). In: Deutsche Zeitung Christ und Welt. 11.5.1973. 90 Lehrreiche Horizontale (Rezension zu Nahaufnahme). In: Der Spiegel. 16.4. 1973. 91 Marcel Reich-Ranicki: Kalter Kaffee und viele Mädchen. A.a.O. 92 Heinrich Stöberer: Rückkehr nach Wien (Rezension zu Nahaufnahme). In: Neue Kronen Zeitung. 31.3.1973. 93 Kurt Kahl: Die Wienerstadt ist eine Abreise wert (Rezension zu Nahaufnahme). In: Kurier. 21.5.1973. 94 Otto F. Beer: Ein Vagabund schreibt sich durchs Chaos. A.a.O.
349 Uns bewegt der Versuch eines abgewiesenen Wieners, die Stadt seiner Kindheit zurückzuerobern. Es wird nichts daraus. Er gehört hierher, aber will nicht hierher gehören. Man merkt das daran, wie er, der sich so gut auskennt in Wien, auf einmal alles verwechselt, die Straßenbahnen und die Gassen. Er will das offenbar durcheinanderbringen, er will es abschütteln von seinem Kosmopolitismus. Er bildet sich ein, ein Zuhörer zu sein und kann immerfort nur von sich selbst reden. Unentwegt auf der Flucht und verfolgt. Er muß ständig die Wunden schlecken, die noch nicht vernarbt sind.95
Seit dem Ende der achtziger Jahre ist die österreichische Rezeption Jakov Linds im Ensemble von Wiedergutmachungsangeboten an die Vertriebenen durch Politiker und im Kontext einer von jüngeren Publizisten und Wissenschaftlern bestimmten Exilforschung zu sehen. Zunächst ein Ungewollter und Nichtgelesener, wird auch Jakov Lind seit 1990 affirmativ als österreichischer Exilschriftsteller rezipiert und eingeladen, eine literarische und geografische Beziehung zu Österreich aufzunehmen.96 Daß sich eine Verbindung über “Gemüt, Witz und Sprache,”97 über Linds gesprochenes österreichisches Deutsch erhalten habe, ist von ihm selbst stets mit “bitterem Charme”98 konzediert worden: Vor allem in der Wiener Stadtzeitung Falter und in der Tageszeitung Der Standard erscheinen seither gelegentlich kurze Prosatexte Linds in deutscher Sprache, meist autobiografischen Inhalts.99 Ein weiterer Verortungsvorgang waren 1995 die medial stark wahrgenommenen Lind-Veranstaltungen in der Alten Schmiede in Wien, bei der Peter Turrini und die Burgschauspielerin Kirsten Dene eine von Silke Hassler zusammengestellte Werkcollage vortrugen, und eine LindLesung an der Universität in Wien:100 “Das ist angewandte Germanistik: 95
Hans Heinz Hahnl: Die mißlungene Heimkehr (Rezension zu N.). In: Kärntner Tageszeitung. 10.3.1973. 96 Vgl. Silke Hassler: Was der Magen verträgt. In: Die Presse. 7.1.1995; Dies.: Chronologie des Wahnsinns. In: Wiener Zeitung. 13.1.1995; Stephan Steiner: Die Welt nach Auschwitz. In: Falter. 12.1.1995. S. 54f. 97 Michael Cerha: Ich bin fremd hier, ich vertrete kein Land. A.a.O. 98 Karl-Markus Gauß: In den Hinterhöfen der Angst. In: Neue Zürcher Zeitung. 10.2.1997. 99 Vgl. die folgenden Veröffentlichungen von Jakov Lind: Ernst, vorsichtig, etwas besorgt. In: Der Standard. 4.7.1990; ders.: Der Strick wie die Kugel. In: Die Presse. 2.7.1994; ders.: Was ich lese. In: Die Presse. 27.8.1994; ders.: Erinnerungen an Wien. Unter der Kärntner Straße. In: Falter. 12.1.1995; ders.: A Man of Quality. A.a.O. 100 Vgl. Karin Kathrein: Vor einer langsamen Heimkehr? In: Kurier. 13.1.1995; Ro-nald Pohl: Heimkehr in die Verwerfungen der Schrift. In: Der Standard. 6.1.1995.
350 wo die Kulturpolitiker versagen, dürfen wir immerhin auf Studenten hoffen [...].”101 Peter Turrini vermittelte auch den Kontakt zum Wiener Volkstheater, wo 1997 Ergo nach der Vorlage von Eine bessere Welt als deutschsprachige Erstaufführung inszeniert wurde. Lind schildert in dieser Szenenfolge Nachkriegswien als “wüsten Alptraum, in dem ein Pandämonium Ewiggestriger und neue Saubermänner ihr Unwesen treiben [!].”102 Sowohl der querulantische, sexbesessene Altpapierhändler Wacholder als auch der Kriegsgewinnler und Sauberkeitsneurotiker Würz üben sich in der Schwerarbeit des Verdrängens, unfähig, ihr Schicksal im Kontinuum der Geschichte und der menschlichen Erfahrung zu begreifen. Wie Laurence L. Langer über Linds Figuren schreibt, habe der Holocaust jene Kontinuität unterbrochen, und in das entstandene Vakuum dränge sich die abstoßende Lächerlichkeit ihrer Existenz: sie können die Ursache ihres Leidens nicht erkennen, haben keine Beziehung zueinander und keine Perspektive. Das mache sie auf schmerzhafte Weise komisch.103 Auch für die Rezeption des im wesentlichen mit “Achselzucken”104 aufgenommenen Stückes gilt wieder, was über die Tendenz der Lesarten seiner früheren Werke anzumerken war: Biografie geht vor Text: “Das Anliegen des Autors – Warnung von nationalsozialistischen Tendenzen – wirkt in dieser Form verniedlichend und banal, seine Biographie beeindruckt mehr als das ganze Stück.”105 Wo der Text mit ästhetischen Kriterien gemessen wurde, kam das 1968 erstmals aufgeführte Stück wegen seiner als veraltet beurteilten Konzeption als Absurdes Theater zur Sprache106 oder wurde in die österreichische Dramentradition eingeordnet: “Sein Dialog fußt auf der Tradition des Wiener Volksstücks, einer Kontinuität von Nestroy bis Canettis Hochzeit.”107 Was zunächst wie ein freundliches Asyl wirkt, kann aber jederzeit als Argument gegen den Autor verwendet werden. Mit Ergo erweise sich Lind weniger als Dokumentar des Holocaust denn als – um nicht zu sagen Nestbeschmutzer – Österreich-Kritiker: “Ein bißchen Canetti, ein bißchen Turrini, ein bißchen Bernhard, viel Haß, Gift und Galle,
101
Thomas Rothschild: Das Leben ein Roman. In: Stuttgarter Zeitung. 2.5. 1997. Karin Kathrein: Mit Alpträumen ist schlecht spaßen (Rezension zu Ergo). In: Kurier. 18.4.1997. 103 Lawrence L. Langer: The Holocaust and the Literary Imagination. New Haven, London 1977. S. 249. 104 Klaus Colberg: (Fast) alle Fragen offen (Rezension zu Ergo). In: Main-Echo. 26.4.1997. 105 Heiner Boberski: Der Mimen verlorene Liebesmüh. A.a.O. 106 Ebd.; sowie Karin Cerny: Ergo (Rezension). In: Falter. 25.4.1997. 107 Paul Kruntorad: Größenwahn der Unverbesserlichen (Rezension zu Ergo). In: Welt am Sonntag. 20.4.1997. 102
351 zusammengerührt zu einer Grottenbahn der österreichischen Seele.”108 Ergo wurde nach wenigen Aufführungen vom Spielplan des Volkstheaters genommen. Vielversprechender ließ sich die Vermarktung des Erzählers als Österreicher an. Zum 70. Geburtstag von Jakov Lind 1997 kamen sowohl Der Erfinder als auch Landschaft in Beton neu auf den Markt.109 Die Neuauflagen seiner Autobiografien Selbstporträt und Nahaufnahme in einem österreichischen Verlag110 wurden zusammen mit dem Autor bearbeitet und bekamen, so eine Kritikerin, “einen authentisch österreichischen Tonfall.”111 Für die deutschsprachige Erstübersetzung von Crossing, erschienen unter dem Titel Im Gegenwind,112 bearbeitete Jakov Lind den Text zusammen mit einer österreichischen Übersetzerin stark − auch eine Verortung. “Ich habe beschlossen, 50 Jahre nach dem Krieg, endlich meinen Friedensvertrag mit den Wienern zu machen, es ist Zeit”, sagt Jakov Lind.113 Die Frage, ob der unheimliche Dichter jetzt ein einheimischer ist, bleibt offen: So sehr die Re-Integration des Exils und seiner Leistungen in das deutsche Kultur- und Geistesleben erwünscht, ja erforderlich ist, so wenig würde ihm eine bloße Vereinnahmung gerecht werden. Man wird sich vor allem des Abgrunds bewußt bleiben müssen, in den ein Volk gerät, das sich aktiv und passiv einer Gewalt überläßt, die jeder Rationalität entbehren zu können glaubt, jedem freien Gedanken abschwört und nur ein Bestreben kennt, alles im Verhältnis zu seinem nationalistischen und rassistischen Mythos ‘Andere’ und ‘Andersartige’ zu vernichten. Das Ende des Exils wird in einem tieferen Sinne erst dann erreicht sein, wenn diese Botschaft gehört wird und wenigstens die Nachgeborenen sie angenommen haben.114
108
Renate Wagner: Grottenbahn der österreichischen Seele (Rezension zu Ergo). In: Vorarlberger Nachrichten. 19.4.1997. 109 Jakov Lind: Der Erfinder. Ein Roman in Briefen. München 1997. Ders.: Landschaft in Beton. Roman. Wien 1997. 110 Jakov Lind: Nahaufnahme. Übers. Jakov Lind und Günther Danehl. Wien 1997. Ders.: Selbstporträt. Übers. Jakov Lind und Günther Danehl. Wien 1997. 111 Anna Mitgutsch: ...weil ich leben wollte. A.a.O. 112 Jakov Lind: Im Gegenwind. A.a.O. 113 Silke Hassler: Was der Magen verträgt. A.a.O. 114 Ernst Loewy: Von der Dauer des Exils. In: Eine schwierige Heimkehr. Österreichische Literatur im Exil 1938-1945. Hrsg. v. Johann Holzner, Sigurd P. Scheichl und Wolfgang Wiesmüller. Innsbruck 1991. S. 35-50, hier S. 50.
Dieter Sevin
Hilde Domin: Rückkehr aus dem Exil als Ursprung und Voraussetzung ihrer Poetologie This essay analyses the role that the experience of exile and the subsequent return to Germany played in Hilde Domin's poetry and prose, but especially in her extensive and influential theoretical treatises. Domin's theoretical writings are characterized by her emphasis on the essential role of her mother tongue as a life sustaining element in exile, and in writing her poetry, by her accentuation on the reader. Domin emphasizes the necessity of communication between reader and artist, without which a poem remains incomplete, as well as political engagement. Her work is characterized by her unshakable belief in the importance of lyric poetry in our time, which can provide moments of freedom and relief from the enslavement of modern life. Das Leben ist ein Exil. Das Exil ist die Modellsituation unseres Menschseins. – Hilde Domin1
Hans-Georg Gadamer bezeichnete Hilde Domin in seiner kleinen Abhandlung aus dem Jahre 1971 als “Dichterin der Rückkehr,”2 und Guy Stern hat diese Thematik dann in seinem Aufsatz “In Quest of a Regained Paradise. The Theme of Return in the Works of Hilde Domin”3 noch sehr viel ausführlicher und überzeugend dargestellt, indem er auch die Spuren des Exils in Domins Roman Das zweite Paradies (1968) verfolgt hat. Seitdem ist die Bedeutung des Rückkehrmotivs in einer Reihe von Abhandlungen,4 besonders auch in Dissertationen, immer wieder betont worden. 1
Hilde Domin: Das Gedicht als Augenblick der Freiheit. Frankfurter PoetikVorlesungen. München 1988. S. 91. 2 Hans-Georg Gadamer: Hilde Domin, Dichterin der Rückkehr. In: Heimkehr ins Wort. Materialien zu Hilde Domin. Hrsg. von Bettina von Wangeheim. Frankfurt a.M. 1982. S. 28-34. 3 Guy Stern: In Quest of a Regained Paradise. The Theme of Return in the Works of Hilde Domin. In: Germanic Review 62 (1987) 3. S. 136-142. 4 Siehe: Michael Braun: Exil und Engagement. Untersuchungen zur Lyrik und Poetik Hilde Domins. Frankfurt a.M. 1993; sowie Irmgard Hammers: Hilde Domin: Dichtungstheoretische Reflexion und künstlerische Verwirklichung. Dissertation: Universität Köln 1984; Dagmar C. Stern: Hilde Domin. From Exile to
354 Es soll also nicht unsere Aufgabe sein, die Bedeutung des Rückkehrmotivs für Domins lyrisches Werk noch einmal neu zusammenzufassen oder zu ergründen. Ziel dieses Beitrags ist es vielmehr, dem Rahmenthema dieses Bandes entsprechend, aufzuzeigen, wie sehr auch Hilde Domins theoretische Ausführungen zur modernen Lyrik durch ihre Exilerfahrungen und das Erlebnis der Heimkehr geprägt worden sind, wobei allerdings die Wechselwirkungen von Biographie, Lyriktheorie und den Gedichten auch nicht zu verkennen sind. Sie selber hat es in einem Interview einmal wie folgt formuliert: “Die Erfahrung von Exil, und Rückkehr aus dem Exil, ist in meiner Lyrik ebenso da wie in der Prosa.”5 Und, könnte man hinzufügen, gleichermaßen in ihrem theoretisch-essayistischen Werk. Bezeichnend ist der wirkungsästhetische Ansatz – d. h., Domin betont, daß Lyrik sich eben nur dem aktiven Rezipienten erschließt und ein Text erst im Lesevorgang realisiert werden kann, eine Sichtweise, die auch von Literaturwissenschaftlern jener Zeit immer wieder hervorgehoben wurde, wie besonders in den Theorien von Wolfgang Iser.6 Ein entscheidender Unterschied ist allerdings, daß Domins Ausführungen primär autobiographischen Ursprungs sind; das gilt für ihr lyrisches Werk als auch für ihre Lyriktheorien. Exil und Rückkehr stellen für Domin intensive Selbsterfahrungen dar – Domin spricht von Urerlebnissen –, die sich in ihrer Lyrik als archetypische, exemplarische Erfahrungen manifestieren und objektivieren, an denen der Leser teilhaben soll. Nach Domin besitzt der Lyriker die Gabe, archetypische Erfahrungen zu einem für die Menschheit exemplarischen Kunstwerk zu objektivieren. Jedoch erst, indem der Leser die eigene, individuelle Erfahrungswelt einbringt, kann das Potential eines Gedichts aus Domins Sicht vervollständigt werden, ist es möglich, daß echte Kommunikation stattfindet. Dabei ist ein Kunstwerk jedoch nie eindeutig, denn die Reserve an Ungesagtem bleibt unerschöpflich. Domin betont dabei immer wieder die Notwendigkeit der Kommunikation zwischen Künstler und Leser; und es ist diese Dimension, die die Bedeutung der Exilerfahrung zu einem solch zentralen Thema nicht nur für ihre Lyrik macht, sondern eben auch für ihre theoretischen Ausführungen, durch die diese bedeutende deutsche Lyrikerin bekannt geworden ist. Die theoretischen Abhandlungen Domins, besonders in dem Band Wozu Lyrik
Ideal. Bern/Frankfurt a.M. 1979; Birgit Lermen/Michael Braun: Hilde Domin “Hand in Hand mit der Sprache”. Bonn 1997; Elfe Vallaster, “Ein Zimmer in der Luft”: Liebe, Exil, Rückkehr, und Wort-Vertrauen. Hilde Domins lyrischer Entwicklungsweg und Interpretationszugänge. New York 1994. 5 R. A. Bauer interviewt Hilde Domin 1972 in Heidelberg. In: Heimkehr ins Wort. A.a.O. S. 207. 6 Weitere Ausführungen zu Iser sind im Text zu Anmerkung 28 zu finden.
355 heute. Dichtung und Leser in der gesteuerten Gesellschaft (1968)7 und auch in ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen Das Gedicht als Augenblick der Freiheit (1988) haben große Beachtung gefunden. Schon der Titel Wozu Lyrik heute – ohne das zu erwartende Fragezeichen – deutet darauf hin, daß es sich hier eigentlich nicht so sehr um eine Fragestellung handelt, sondern daß diese poetologischen Reflektionen mehr als eine Art Manifest8 angesehen werden sollten. Mit diesem Werk und auch ihren späteren Essays, worin sie sich Rechenschaft über ihr literarisches Schaffen abgelegt hat, gehört Hilde Domin ohne Frage zu den führenden, reflektierenden Lyrikern des 20. Jahrhunderts. Im Gegensatz zu Gottfried Benn etwa, dessen pessimistische Einstellung es ihm nicht erlaubte, an eine verändernde Wirkung von Lyrik zu glauben, oder andererseits zu Bertolt Brecht, der auf der gesellschaftlich verändernden Kraft der Literatur bestand, steht Domin in der Mitte dieser beiden sich gegenüberstehenden Positionen. Positiver als Benn, mit dessen Lyriktheorie Domin viel gemeinsam hat,9 wie zu zeigen sein wird, und weniger optimistisch als Brecht, glaubt sie an eine Wirkung beim einzelnen Leser: Das Kunstwerk hilft zu erkennen und zu erleben, wie die Dinge wirklich sind, wie man selbst ist, wie die konkrete Wirklichkeit ist, in der man sich bewegt, und wie sie sich zur Wirklichkeit aller Zeiten verhält und wie sie sein sollte, im Idealfall, und was man mit der Wirklichkeit für Erfahrungen machen kann. Es geht um die Wahrheit und das, worauf es ankommt.10
Wie also hat Hilde Domin nun selbst Exil und Rückkehr nach Deutschland in ihrem essayistischen Werk beurteilt, und welche Bedeutung ist dieser autobiographischen Dimension in ihren theoretischen Ausführungen beizumessen? Bezeichnend ist die große Rolle, welche Domin der Sprache, d.h. der Muttersprache beimißt, was für sie natürlich die deutsche Sprache ist, wie sie betont: “Für mich ist die Sprache das Unverlier7
Hilde Domin: Wozu Lyrik heute. Dichtung und Leser in der gesteuerten Gesellschaft. München 1968. 8 Vgl. Irmgard Hammers: Hilde Domin: Dichtungstheortische Reflexion und künstlerische Verwirklichung. Dissertation. Universität Köln, 1984. S. 37. 9 Hilde Domin hat auch auf den Einfluß anderer Autoren für ihr Werk verwiesen, besonders den des bekannten amerikanischen Lyrikers Robert Frost, der viele Jahre in einem der hübschen Bergtäler Vermonts gelebt und gewirkt hat. Obwohl eine Untersuchung zu diesem Aspekt des Dominschen Werkes den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, halte ich Frost doch für erwähnenswert, denn Frost stellt eine direkte Verbindung zu dem Tagungsort im schönen Vermont dar, wo diese Arbeit zuerst vorgetragen wurde. 10 Hilde Domin: Wozu Lyrik heute. A.a.O. S. 62.
356 bare, nachdem alles andere sich als verlierbar erwiesen hatte. Das letzte, unabnehmbare Zuhause”, schreibt sie 1982 in ihrer Essaysammlung Aber die Hoffnung. Autobiographisches aus und über Deutschland.11 Und sie fährt fort: “Nur das Aufhören der Person (der Gehirntod) kann sie mir wegnehmen [...]. Die deutsche Sprache war der Halt, ihr verdanken wir, daß wir die Identität mit uns bewahren konnten.” Durch den Gebrauch der Muttersprache – darüber scheint für Domin kein Zweifel zu bestehen – konnten sie und ihr Lebenspartner, der Kunsthistoriker Erwin Palmer, sich ihre Identität im Exil bewahren: “In Santo Domingo mußten wir uns entscheiden [...]. Wir entschieden uns für Deutsch, natürlich.”12 Warum natürlich? Um der immer drohenden Identitätskrise, hervorgerufen durch die “Paradoxien des Exils,”13 begegnen zu können, war ihre Antwort. Natürlich muß die Rolle, die die deutsche Sprache im Exil schlechthin – und bei Domin im besonderen – gespielt hat als äußerst komplex gewertet werden. Vor allem darf die Frage nicht ausgeklammert werden, inwieweit es sich bei den aus der Nachkriegszeit stammenden Aussagen der Autorin – auch in bezug auf die zu diskutierende Einstellung zur Bundesrepublik – um einen gewissen Willensakt handelte oder auch um einen bewußten oder unbewußten Rationalisierungsprozeß. Domins Aussagen über die deutsche Sprache im Exil sollten also nicht einfach als gegeben gewertet werden; der Möglichkeit einer kritisch skeptischen Auslegung muß stets Rechnung getragen werden. Domin selber hat darauf verwiesen, daß es sich auch um die Sprache der Verfolger handelte,14 die für ihre Vertreibung und ihr Exil verantwortlich waren, was ihre positiven Aussagen also einer gewissen Mehrdeutigkeit unterwerfen. Trotzdem kann sich jedenfalls dieser Leser nicht der Überzeugungskraft einer grundsätzlich positiven Wertung entziehen, die die deutsche Sprache im Exil nach eigener Aussage für sie als Mensch und Lyrikerin, für ihre Identitätserhaltung hatte. Als weiteres Indiz für diese Auffassung wäre anzuführen, daß Domin ja durchaus das Erlernen- und Benutzenmüssen von fremden Sprachen, bedingt durch die Exilumstände, als ungemein bereichernd empfand, ja, für ihre Entwicklung als Lyrikerin sogar als essentiell ansah: “Wir mußten im Laufe der Jahre unseren Unterhalt in vier verschiedenen Sprachen verdienen. Das erwies sich, nachträglich, für mich als Vorbereitung auf das Leben als Hilde Domin. Ich war keine Anfängerin. Ich hatte mit Worten gearbeitet.”15 In einer weiteren Ausführung fügt sie noch einen Kom11
Hilde Domin: Aber die Hoffnung. Autobiographisches aus und über Deutschland. München 1982. S. 12. 12 Hilde Domin: Aber die Hoffnung.. A.a.O. S. 29. 13 Hilde Domin: Das Gedicht als Augenblick der Freiheit. Frankfurter Poetik-Vorlesungen. München 1988. S. 91. 14 Vgl. Hilde Domin: Wozu Lyrik heute. A.a.O. S. 194. 15 Hilde Domin: Das Gedicht als Augenblick der Freiheit. A.a.O. S. 41- 42.
357 mentar hinzu, welcher gerade auch für diejenigen, die sich kritisch mit Literatur auseinandersetzen, bestätigend wirken dürfte: “Weswegen es für Dichter, aber auch für Leser, für jeden, der sich mit Literatur beschäftigt, keine bessere Spracherziehung gibt, als aufmerksame und kritische Arbeit in fremden Sprachen.” Und trotzdem weiß sie: in anderen Sprachen, die sie spricht, ist sie nur zu Gast. “Gern und dankbar zu Gast” wie sie zwar sagt, aber eben nicht zu Hause wie in der Muttersprache. In einem Gedicht “Nur eine Rose als Stütze” aus ihrem ersten Lyrikband mit gleichem Titel, hat sie ihre tiefe Überzeugung intuitiv gestaltet. Walter Jens schrieb damals (1959), beim Erscheinen des Bandes, in einer Rezension in der Zeit, mit dieser “Rose” habe Domin die deutsche Sprache gemeint. Die Lyrikerin hat dies später dann als richtig bestätigt, gleichzeitig aber auch betont, daß sie sich dieser Bedeutung beim Schreiben des Gedichts nicht bewußt gewesen sei.16 Im Exil, in Santo Domingo – daher ihr Künstlername Domin – hat Hilde Domin sich als Lyrikerin entdeckt. Dieser Beginn des Schreibens im November 1951, also drei Jahre vor der Rückkehr nach Deutschland kam plötzlich, wie sie betont: “1951 also stieß es mir zu: in einer äußersten Krise [...]. Warum ich schreibe? Das war nicht vorgesehen. Ich hatte mir nichts vorgenommen, es passierte, wie wenn einer überfahren wird. Oder bei Liebe. Man handelt nicht. Es passiert.”17 Was dabei passiert, wenn ein Gedicht entsteht, und welche Bedeutung dem schöpferischen Prozeß beizumessen ist, darüber hat Domin sich in ihren vielen theoretischen Abhandlungen sehr ausführlich geäußert. Hilde Domins prinzipielle Sicht über die Entstehung eines Gedichts ist der von Gottfried Benn durchaus ähnlich. Wenn Benn davon spricht, wie das Irrationale in ihm tief aus dem Unterbewußtsein noch relativ ungeformt etwas hervorbringt, was er dann unter das Mikroskop legt und rational formt,18 so spricht Domin von “Emotion und Verstand”,19 von “Erregung und Bewußtsein, aufs äußerste geschärftes Bewußtsein”20 und bezeichnet den Prozeß des Schreibens als schizoid: “Der Autor teilt sich in einen Heissen und Kalten: in den Anlieferer, dessen Erregung die Worte bringt, und in den Kontrolleur, den strikten Handwerker, der die Worte durchläßt oder streicht.”21 Dieser Aspekt ist natürlich weder für Benn noch Domin neu und knüpft an Nietzsches Konzept des Dionysischen und 16
Hilde Domin: Das Gedicht als Augenblick der Freiheit. A.a.O. S. 39. Ebd. S. 42- 43. 18 Vgl. Gottfried Benn: Probleme der Lyrik. In: Ders.: Gesammelte Werke in vier Bänden. Hrsg. v. Dieter Wellerhoff. Wiesbaden 1959. S. 507. 19 Hilde Domin: Interview mit Schülern der Arbeitsgemeinschaft Literatur am Weidig-Gymnasium Butzbach. In: Heimkehr ins Wort. A.a.O. S. 212. 20 Hilde Domin: Das Gedicht als Augenblick der Freiheit. A.a.O. S. 58. 21 Hilde Domin: Das Gedicht als Augenblick der Freiheit. A.a.O. S. 74. 17
358 Apollinischen22 an. In der Tat ist diese Dimension nur Ausgangspunkt der Dominschen Poetologie; denn mit der positiven Einschätzung der Sprache, der Muttersprache, für den kreativen Prozeß und der Betonung der Rolle des Lesers erweitert sie entschieden die Perspektive. Auch auf die Erfahrungen des Exils zurückgehend ist die Tatsache, daß bei Domin kaum jene für die Moderne so bezeichnende Sprachskepsis zu entdecken ist. Sie selbst erklärt ihre positive Einstellung zur Sprache damit, daß sie das Land früh genug verlassen hat und so den Sprachmißbrauch – “das Mißtrauen in die so verfälschbare Sprache”23 nicht nur während der Hitler-Diktatur, sondern auch nach dem Krieg – nicht persönlich erlebt hat. Im Gegenteil, die Muttersprache nahm im Exil, wie gesagt, eine geradezu zentrale Bedeutung an, eine Dimension, die Domin auch als Lyrikerin beibehalten hat. In dem als Beigabe und Schluß zu Wozu Lyrik heute angefügten aufschlußreichen “Offenen Brief an Nelly Sachs” hat sie diese Sicht überzeugend dargestellt: Da wird einer verstoßen und verfolgt, ausgeschlossen aus der Gemeinschaft, und in der Verzweiflung ergreift er das Wort und erneuert es, macht das Wort lebendig, das Wort, das zugleich das seine ist und das der Verfolger. Der vor dem Rassenhaß Flüchtende ist nur der Unglücklichste, der am meisten Verneinte unter den Exildichtern überhaupt. Und während er noch flieht und verfolgt wird, vielleicht sogar umgebracht, rüstet sich sein Wort schon für den Rückweg, um einzuziehen in das Lebenszentrum der Verfolger, ihre Sprache. Und so erwirbt er ein unverlierbareres Bürgerrecht, als wenn er friedlich hätte zu Hause bleiben dürfen und vielleicht sein Wort nicht diese Kraft einer äußeren Erfahrung hätte, die es so stark macht (oder auch gar nicht erst entstanden wäre). Und er kann nicht anders als die Sprache lieben, durch die er lebt und die ihm Leben gibt.24
Die Muttersprache als Leben gebendes und erhaltendes Element im Exil wird also auch hier wieder als die Grundlage für die überragende Bedeutung hingestellt, die Domin der deutschen Sprache beimißt. Das Exil stellt für sie jedoch nicht nur eine spezifische Situation dar, die einzelnen widerfährt, sondern hat darüber hinaus gleichnishaftexemplarische Bedeutung. Es exemplifziert für Domin darüber hinaus die allgemein menschliche “Identitätskrise par excellence”, eine Grenzsituation des Lebens. In einem prägnanten Satz hat Domin dies in Das Gedicht als Augenblick der Freiheit formuliert: “Das Leben ist ein Exil. Das Exil
22
Vgl. Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Bd. I. Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Stuttgart 1964. 23 Hilde Domin: Das Gedicht als Augenblick der Freiheit. A.a.O. S. 93. 24 Hilde Domin: Wozu Lyrik heute. A.a.O. S. 194.
359 ist die Modellsituation unseres Menschseins.”25 Das Exil, wozu für Domin auch die Rückkehr gehört, beinhaltet für sie ein großes Erfahrungsmuster, eines jener “Urmodelle”26 des Menschseins, welches sie in ihrer Lyrik zu erfassen und darzustellen sucht und was Lyrik aus ihrer Sicht schlechthin beinhalten sollte. Wie dies besonders im Gedicht zu erreichen sei, umschreibt sie mit dem Terminus “Unspezifische Genauigkeit”, eine Genauigkeit, die den Kern im Sonderfall sucht, auf das Zentrum zielt, das Wahre und Essenzielle will: “Daher wird diese ‘unspezifische Genauigkeit’ um so genauer, um so treffender sein müssen, je weiter sie sich entfernt vom Zufälligen, je unspezifischer sie ist.”27 Der Lyriker sollte nach Domin nicht alles erklären und beschreiben, was schon im Wort inhärent ist, denn je mehr er freiläßt für den “Schwingungkreis des Wortes” – seinen “Atemspielraum”, wie sie es bezeichnet – je weniger er sich festlegt und das Wort einengt, desto größer die “Virulenz” eines Gedichts. Hier ist sicherlich nicht nur eine gewisse Parallele zu Isers Konzept der “Leerstelle” erkennbar, sondern vor allem auch zu der Rolle, die jener dem Leser beimißt. Dabei ist zu betonen, daß Wozu Lyrik heute 1968 erschienen ist, also vor den Hauptwerken Isers. Nicht zu verkennen ist natürlich, daß Isers Theorien sich primär auf Prosatexte beziehen; und darin liegt sicherlich ein wichtiger Unterschied zu Domins poetologischen Aussagen. Bezeichnend für beide ist jedoch die Bedeutung der Unbestimmtheit in einem literarischen Text, durch die die Wirkung auf den Leser und dessen eigene geistige Aktivität, seine Vorstellungwelt, gesteigert werden soll.28 Nach Iser formuliert ein literarischer Text seine Intention nicht aus, d.h., das Wichtigste bleibt ungesagt. In bezug auf ein Gedicht formulierte es Domin einmal so: “Je mehr man wegläßt, je größer ist die Reserve an Ungesagtem.”29 Beide, Domin und Iser, glauben, die Erfahrungswelt des Lesers durch Unbestimmtheiten im Text mobilisieren zu können. Während Iser dabei die größere Komplexität in Prosatexten betont, die durch den Unbestimmtheitsgrad, durch das Nichtgesagte, hervorgerufen wird, ist es bei Domin umgekehrt eine resultierende Einfachheit des Gedichts: “Mit feinsten Methoden eliminieren wir die Spuren des Eindeutigen, des Festlegbaren, um des Irisierenden und des Schwebenden willen, gelangen auf diesem Umweg zu einer zweiten – höchst komplexen – Einfachheit.”30 25
Hilde Domin: Das Gedicht als Augenblick der Feiheit. A.a.O. S.91. Vgl. Hilde Domin: Wozu Lyrik heute. A.a.O. S. 143. 27 Vgl. Hilde Domin: Wozu Lyrik heute. A.a.O. S. 141. 28 Vgl. Wolfgang Iser: Die Apellstruktur der Texte. In: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. Hrsg. v. Rainer Warning. München 1975. S. 240. 29 In: Hilde Domin. Heimkehr ins Wort. Dichterporträt in Selbstaussagen. Hrsg. v. Beate Dedenbach. Bonn 1988. S. 21. 30 Vgl. Hilde Domin: Wozu Lyrik heute. A.a.O. S. 143. 26
360 Auch dieses scheinbare Oxymoron – komplexe Einfachheit – reflektiert Domins Überzeugung der Aussagekraft der Sprache, der inhärenten Kraft des Wortes, eine Überzeugung, die wie gesagt auf die Exilerfahrungen zurückgeht. Domins Glaube an die Notwendigkeit des Gedichts in unserer Zeit ist unerschütterlich. In ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen hat sie sich daher auch resolut distanziert von Adornos berühmter Aussage aus dem Jahre 1949, daß nach Auschwitz keine Gedichte mehr geschrieben werden könnten, und meint dazu: “Ein Satz, so beeindruckend wie verkehrt – kaum totzukriegen [...]. Nein, nicht trotz, sondern wegen Auschwitz waren Gedichte nötig, nötiger denn je.”31 Dabei schätzt sie die Wirkungsmöglichkeiten von Lyrik im allgemeinen und auch ihrer eigenen Gedichte durchaus realistisch ein. Sie ist sich bewußt, daß sie nur eine kleine Minderheit erreichen kann, denn, wie sie meint, “Menschen, die Meinung und Lebensstil bilden, sind so viele sowieso nicht.”32 Auch hier ist sie überzeugt, Leser zu erreichen, die sich mit ihren Gedichten identifizieren können, weil die Erfahrungen des zweiundzwanzigjährigen Exils und des damit verbundenen Zugehörigkeitsverlusts prinzipiell in ihrem Werk reflektiert sind.33 Beinahe vierzigjährig, also relativ spät im Leben, hat Hilde Domin sich 1951 als Lyrikerin gefunden, fast drei Jahre vor ihrer Rückkehr. Sie nannte es eine “Wiedergeburt” und einen “Befreiungsakt.”34 Obgleich der direkte Anlaß der Tod ihrer Mutter war, scheint es kein Zufall zu sein, daß dies stattfand, nachdem eine Rückkehr nach Deutschland wieder möglich war. In einem erstaunlichen Satz gibt sie ihren Gefühlen diesbezüglich Ausdruck: “Die Rückkehr aus dem Exil ist vielleicht noch aufregender als das Verstossenwerden.”35 Mehrmals betonte sie, daß die Bundesrepublik für sie “zwar nicht das bestdenkbare, aber das gutartigste und reformfreudigste Deutschland”36 und “sicher der demokratischste Staat ist, der seit Hermann dem Cherusker je auf diesem Territorium ausprobiert wurde.”37 Daß trotz dieser äußerst positiven Einstellung gegenüber dem neuen deutschen Staat die Rückkehr schwer belastet war, hat sie in ihrem Roman Das zweite Paradies fiktional gestaltet:
31
Hilde Domin: Das Gedicht als Augenblick der Freiheit. A.a.O. S. 23. Hilde Domin: Heimkehr ins Wort. A.a.O. S. 214. 33 Ebd. S. 214. 34 Ebd. S. 207. 35 Hilde Domin: Wohnen nach der Rückkehr. In: Dies.: Aber die Hoffnung… A.a.O. S. 46. 36 Hilde Domin interviewt Heinrich Heine 1972 in Heidelberg. In: Von der Natur nicht vorgesehen. Autobiographisches. München 1974. S. 127. 37 Hilde Domin: Heimkehr ins Wort. A.a.O. S. 217. 32
361 Und waren fortgefahren aus dem fremden Land, zurück in das Land ihrer Geburt. Mutterland? Die Mütter waren tot. Vaterland? Die Väter waren tot. Niemand wartete zuhause. Wieso zuhause? Auch die Toten warteten nirgends [...]. Das Zuhause sind wir.38
Die Schattenseite der Rückkehr ist also nicht zu verkennen, trotz der stets äußerst positiven Äußerungen gegenüber der Bundesrepublik, in die Domin zurückgekehrt war, wo sie als Lyrikerin erfolgreich war und gefeiert wurde. Dabei kann sich der kritische Leser der Einschätzung nicht verschließen, daß es sich bei Domins Sichtweise einerseits tatsächlich um echte Überzeugung handelt, anderseits jedoch auch um einen bewußt oder unbewußt motivierten Selbstüberzeugungsprozeß, einen Willensakt, durch den sie sich ihre Rückkehrentscheidung als richtig bestätigt. Gleichzeitig wird die schwere Belastung der deutschen Vergangenheit zwar nicht einfach ignoriert, jedoch größtenteils aus ihrer Gegenwartsanalyse ausklammert. Es scheint also kein Zufall zu sein, daß sie die Problematisierung dieses Komplexes in ihre Gedichte und in ihren Roman verlegt, jedoch kaum in ihren expositorischen Texten behandelt hat. Nichtsdestotrotz, der Ursprung einer entscheidenden Komponente von Domins Poetologie, geboren aus der Erfahrungswelt des Exils, muß in der Bedeutung, die sie der Leserschaft ihres Werkes beimißt, gesucht werden. Wenn Domin betont “das Zuhause sind wir”, könnte man in ihrem Sinne hinzufügen: das Zuhause ist die Sprache, ist das Wort, das Gedicht und so das Land, wo diese Muttersprache nicht nur gesprochen, sondern auch verstanden wird. Gesprochen hatte Domin ihre Muttersprache auch im Exil. Hier hatte sie sich als Dichterin gefunden. Doch im Exil gab es keine Leserschaft; und ohne Leser ist eine entscheidende Funktion des Gedichts für Domin nicht erfüllt, wie sie es 1984 einmal formuliert hat: “Das Gedicht gehört nicht mehr dem Autor, wenn er damit fertig ist, es gehört dem Leser, der unterwegs ist zur Autorschaft, es zu seinem Gedicht macht (wenn es überhaupt etwas taugt).”39 Sprache und Leser sind also als Rückkehrmotivation und gleichzeitig entscheidende Komponente ihrer Lyrikauffassung zu werten. Was vermag diese Lyrik nach Domin nun für den Leser zu leisten? Oder: Wozu Lyrik heute? Ihre Antwort ist bekanntlich vielfältig, wie beispielsweise: “Um uns freizumachen aus der Verdinglichung, der Verapperatung, diesem Fluch der Industriegesellschaft [...]. Um uns die eigene Identität zu stärken, ohne die wir weder uns selbst noch anderen helfen können. Um uns frei zu machen für die eigene Verantwortung.”40 So und 38
Hilde Domin: Das zweite Paradies. München 1968. S. 147. Hilde Domin: Gesammelte Essays. Heimat als Sprache. München 1992. S. 299. 40 Ebd. S. 298-99. 39
362 ähnlich hat sie es umschrieben. Der Aspekt der Identitätsfindung und -erhaltung des modernen Menschen scheint mir dabei besonders bedeutsam und auf der Exilerfahrung zu basieren, die sie, wie schon hervorgehoben, als “Identitätskrise par excellence” bezeichnet hat. Wenn sie also von einer “Art Exil in der Gesellschaft”41 spricht, bezieht sie sich auf die Identitätskrise des Menschen in der Industriegesellschaft, der – wenigstens momentan – aus der “Verdinglichung” und “Verapperatung” seiner Situation zu entfliehen sucht. Gedichte können und sollen Augenblicke hoher Identität auslösen – Domin nennt sie “Punktuelle Ekstasen”42 – die Befreiung aus der externen Manipulierbarkeit des modernen Menschen bedeuten und somit einen Augenblick des Innehaltens, der Befreiung und Freiheit bewirken können: “Denn jedes Gedicht ist ein Aufruf gegen Verfügbarkeit, gegen Mitfunktionieren. Also gegen die Verwandlung des Menschen in den Apparat. Was dasselbe ist oder schlimmer als die Verwandlung in den Unmenschen.”43 Nach Domins Überzeugung ist es die stets größer werdende Schematisierung des modernen Daseins, die eine “immer größere Verzweiflung generiert.”44 Durch ein Gedicht werden Augenblicke des Heraustretens aus der Zeit und Aktivität möglich, die den Traumbereich einer “Wirklichkeit erreichen können, die sich dem modernen Menschen immer mehr entziehen. Dieser sich erweiternde Riß zwischen Realität und Möglichkeit erzeugt einen Sprung und Vorstoß, das sich Nicht-Abfinden, sich Nicht-Einpassen.”45 In diesem Spannungsfeld glaubt Domin, Kommunikation erzeugen zu können, und zwar durch das Gedicht, durch das Wort, für das keiner “eine feinere Waage” hat als der Lyriker. Dabei meint sie, daß es nicht zufällig ist, daß heutzutage relativ viele Frauen Lyrik schreiben: “Frauen haben vielleicht ein größere Chance, ihre Menschlichkeit in der heutigen Welt zu bewahren als Männer. Frauen sind als Menschen immer ganz da. Der Widerstand gegen Verdinglichung mag bei Frauen größer sein und ist ganz sicherlich bei denen stärker, die schweres Leid erfahren haben [...].”46 Auch diese vorsichtig formulierte Darstellung ihrer feministischen Einstellung scheint durch die Exilerfahrung mitgeprägt, besonders da sie die Leidenserfahrung im Zusammenhang mit der Bewahrung von der Menschlichkeit hervorhebt. Während Domin durchaus glaubt, daß Frauen – bei denen die emotionale Seite offenbar nicht so rasch verkümmert wie bei Männern – einen besonderen Beitrag durch Lyrik leisten können, 41
Ebd. S. 299. Hilde Domin: Nachkrieg und Unfrieden. Frankfurt a.M. 1995. S. 252. 43 Ebd. S. 256. 44 Hilde Domin “Interview . . Butzbach." In: Heimkehr ins Wort. A.a.O. S. 213 45 Hilde Domin: Nachkrieg und Unfrieden. A.a.O. S. 253. 46 Hilde Domin: “Interview . . Butzbach." In: Heimkehr ins Wort. A.a.O. S. 213. 42
363 bezweifelt sie allerdings, daß es berechtigt ist, von “weiblicher Lyrik” als eigenständiger Kategorie zu sprechen,47 denn Lyrik soll immer alle Menschen, d.h. Mann und Frau, ansprechen können. Das wird auch dadurch klar, daß viele ihrer Vorbilder, nach eigenen Aussagen durchaus nicht nur Lyrikerinnen, wie beispielsweise Ingeborg Bachmann waren, sondern auch Lyriker wie Paul Celan oder der Amerikaner Robert Frost.48 Intensiv engagiert, bezeichnet sich Domin als “politischer Mensch von Scheitel bis zur Sohle” und “Rufer.”49 Überzeugt davon, daß Kommunikation möglich ist, zitiert sie Sartre: “Das Versagen der Kommunikation ist der Anfang aller Gewalttätigkeit [...]. Wo Mitteilung aufhört, da bleibt nichts als Prügeln, Verbrennen, Aufhängen.”50 Auch diese politisch engagierte Dimension ihrer Persönlichkeit wurde sicherlich durch die Exilerfahrungen intensiviert und durch das Bewußtsein, daß Kommunikation für sie nur möglich ist, wenn sie als Lyrikerin den Verlust der Zugehörigkeit überwindet, wenn sie als Exilierte zurückkehrt in das Land, wo die Sprache, in der sie schreibt, gesprochen und gelesen wird: Zuhausesein, Hinzugehörendürfen, ist eben keine Frage der Kulisse. Oder des Wohlergehens. Es bedeutet mitverantwortlich zu sein. Nicht nur Fremder sein. Sich einmischen können, nötigenfalls. Ein Mitspracherecht haben, das mitgeboren ist.51
Dieses Mitspracherecht hat Domin sich im höchsten Maße nach ihrer Rückkehr erworben, indem sie jenen “Riß”, das Exil des modernen Menschen in der Gesellschaft, künstlerisch gestaltet hat. Die unvernarbten Verwundungen durch den Verlust der Zugehörigkeit während des Exils stellen dabei die Voraussetzung, die archetypischen Erfahrungsmuster, die Urerlebnisse und Grenzsituationen für ihren Schaffensprozeß dar, wie sie es gegen Ende ihrer Poetik-Vorlesungen formuliert hat: Das Exil ist die Extremerfahrung der conditio humana. Der politische Flüchtling, der Exilant, ist der [dem Tod] Entronnene, wie Sisyphus: der Bestrafte, der den Stein schleppen muß. Sein Stein ist die Heimat [...]. Sein Stein ist die Sprache. Die Widersprüche seiner Existenz sind für jeden geradezu aufdringlich sichtbar.52
47
Vgl. Hilde Domin: Das Gedicht als Augenblick der Freiheit. A.a.O. S. 52. Ebd. S. 35. 49 Hilde Domin: Heimkehr ins Wort. A.a.O. S. 210. 50 Hilde Domin: Nachkrieg und Unfrieden. A.a.O. S. 255. 51 Hilde Domin: Aber die Hoffnung.. A.a.O. S. 13. 52 Hilde Domin: Das Gedicht als Augenblick der Freiheit. A.a.O. S. 118. 48
364 Domin hat diese Widersprüche in ihren Gedichten gestaltet und glaubt, durch sie eine Steigerung des Bewußtseins, Augenblicke höchster Identität und Objektivierung und somit Befreiung und Freiheit bei ihren Lesern hervorrufen zu können, die dann auch etwas Permanentes hinterlassen – eine Art Residuum, wie sie es bezeichnet – “was den Menschen in seinem Menschsein rettet, ihn befreit von den Zugriffen, gleichgültig in welcher Gesellschaftsform er zu leben haben wird”. Der Begrenzung von Wirkungs- und Ausstrahlungsmöglichkeiten von Lyrik voll bewußt fügt sie noch hinzu: “Wenig, wie es ist, gehört es zu dem Besten, was wir haben.”53
53
Hilde Domin: Nachkrieg und Unfrieden. A.a.O. S. 253.
Leonard Olschner
Poetiksplitter des nicht abgelegten Exils Paul Celans Bremer Rede (1958) Paul Celan’s Bremen speech reveals the author’s intellectual journey and discusses the development of language through the time of fascism and the possibility of German poetry after 1945. The shortness of the speech matches its complexity and some of its “signals” can only be understood from the exile perspective. For Celan, exile had a different meaning than the expulsion between 1933-45, since he only went into exile in 1945. The experience of Celan’s work shows that “exile” does not necessarily happen during a fixed time frame, but rather that the term “exile aesthetics” gains importance when we try to define the poetics, the poetological self view and the writing of a poet so irreversibly exiled. im Exil stand weiß eine Wolke menschlichen Adels 1 − Paul Celan
Paul Celans Werk rechnen wir meist fest, und mit triftigen Gründen, zur Nachkriegslyrik der Bundesrepublik, wo es ab 1952 erschien und wo die Resonanz am intensivsten ausfiel, weniger zur Lyrik Österreichs (wohin es aus gewissen anderen, enger umgrenzten Gründen gehören mag), der Schweiz oder gar Rumäniens. Eine Verlegenheit kommt dennoch in der Gestalt eines Paradoxons auf, daß manche Autoren, die wie Celan aus der Bukowina stammen, erst nach der Verfolgung durch die Deutschen und dem Ende der Nazi-Herrschaft ins Exil gingen.2 Celan ging 1945 aus der ukrainisch-sowjetisch gewordenen Heimatstadt Czernowitz zunächst nach Bukarest, von dort zwei Jahre später über Wien, zu dem er “eine seltsame Treue” hielt, “wie zu einer Heimat, die er verloren hatte und die er wiedergewinnen wollte,”3 wo er jedoch nicht Fuß fassen konnte, zum 1
Paul Celan: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Hrsg. v. Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher. Frankfurt a.M. 1983. Bd I. S. 270. Diese Ausgabe wird fortan in der Form GW I 270 zitiert. 2 Wolfgang Emmerich: Exillyrik nach 1945. In: Deutschsprachige Exillyrik von 1933 bis zur Nachkriegszeit. Hrsg. v. Jörg Thunecke. Amsterdam/Atlanta 1998. S. 357-379, hier S. 360. 3 Milo Dor: Paul Celan. In: Über Paul Celan. Hrsg. v. Dietlind Meinecke. Frank-
366 endgültigen Wohnsitz Paris. Die Not des Exils dauerte durch die historischen Folgen einer Ausgrenzung an, die sich nicht ohne weiteres aufheben ließ. Die Bibliographie Deutsche Exilliteratur 1933-1945 nimmt den 1970 gestorbenen Celan noch immer nicht auf, als gehörte er zu einer besonderen, nicht leicht einzustufenden Kategorie von Autoren.4 Wer aber sonst ‘freiwillig’ außer Landes geht, schreibt von dem Datum an unter veränderten Bedingungen: Rainer Maria Rilke, Rudolf Borchardt, von dem Wolfgang Emmerich in der Anthologie Lyrik des Exils das Schmähgedicht “Nomina Odiosa” abdruckt,5 und Hermann Hesse, später Ingeborg Bachmann befanden sich in keinem strengen Sinn im Exil, aber Strenge in diesem Sinn entpuppt sich als eine letztlich weitgehend formale Kategorie literarischer Periodisierung. Bachmann, die ab 1953 mit Unterbrechungen viele Jahre bis hin zu ihrem Tod in Italien lebte, belegt eindringlich diesen veränderten Zustand, diesen Ausgangspunkt des Schreibens in ihrem 1957 veröffentlichten Gedicht “Exil.”6 Es wird im folgenden deutlich, in welcher furt a.M. 1970. S. 281-285, hier S. 283. 4 Wilhelm Sternfeld/Eva Tiedemann: Deutsche Exilliteratur 1933-1945. Eine BioBibliographie. Vorw. Hanns W. Eppelsheimer. 2. Ausgabe. Heidelberg 1970. Auch Michael Winkler (Deutsche Literatur im Exil 1933-1945. Texte und Dokumente. Stuttgart 1977) und Ernst Loewy (Exil. Literarische und politische Texte aus dem deutschen Exil 1933-1945. Stuttgart 1979) lassen den erfaßten Zeitraum mit der Nazi-Zeit zusammenfallen und klammern Celan ebenfalls aus. Loewy bekam später Bedenken über die zeitliche Einschränkung (Ernst Loewy: Von der Dauer des Exils. In: Eine schwierige Heimkehr. Österreichische Literatur im Exil 1938-1945. Hrsg. v. Johann Holzner, Sigurd Paul Scheichl und Wolfgang Wiesmüller. Innsbruck 1991. S. 35-50, hier 37f.). 5 Lyrik des Exils. Hrsg. v. Wolfgang Emmerich und Susanne Heil. Stuttgart 1985. S. 122-124. 6 In: Ingeborg Bachmann: Werke. Bd. 1: Gedichte, Hörspiele, Libretti, Übersetzungen. Hrsg. v. Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster. München, Zürich 1982. S. 153. Exil Ein Toter bin ich der wandelt gemeldet nirgends mehr unbekannt im Reich des Präfekten überzählig in den goldenen Städten und im grünenden Land abgetan lange schon und mit nichts bedacht Nur mit Wind mit Zeit und mit Klang
367 Weise Celan, nach Claude David “le plus grand poète français de langue allemande”7 – diese zunächst sinnwidrig klingende Bezeichnung enthält viel Wahres −, sich bis zuletzt in einem Zustand des Exils befand und wie die intertextuellen Bezüge seiner 1958 in Bremen gehaltenen Rede ein kräftiges Spannungsfeld zwischen dem Werk des außenstehenden Dauerexilanten und den Literaturinstitutionen der Bundesrepublik erzeugten. Diese Lektüre strebt nicht erst eine Gesamtdeutung der Rede an, sondern setzt Akzente, wo das Exil nicht als solches thematisiert wird, wohl aber seine Auswirkung zeitigt. Dorothee Kohler-Luginbühl hat die Exilsituation als Voraussetzung und Ausgangspunkt für die Bremer Rede gedeutet, und darauf ist hinzuweisen, auch wenn die Interpretation des Exils zu sehr am Allgemeinen haften bleibt.8 Nicht zuletzt Celans Lektüre und Übersetzung der russischen Lyriker markierte ein Gefühl der Gemeinschaft Ausgestoßener. “Ferne und Fremde war nur von Frankreich aus spürbar”, schreibt Christine Ivanović, “ein Leben in einem deutschsprachigen Land hätte die unbestreitbare Tatsache des Exils für Celan nur verwischt.”9
der ich unter Menschen nicht leben kann Ich mit der deutschen Sprache dieser Wolke um mich die ich halte als Haus treibe durch alle Sprachen O wie sie sich verfinstert die dunklen die Regentöne nur die wenigen fallen In hellere Zonen trägt dann sie den Toten hinaus Peter Huchels Gedicht “Exil” (1968), entstanden aus einer ganz unterschiedlichen Situation heraus, gehört zwar zu anderen Überlegungen, es wäre jedoch voreilig, es aus formalen Gründen grundsätzlich von der Hand zu weisen: “Exilerfahrung” bezieht sich natürlich nicht nur auf die Nazi-Jahre, und aus solcher Erfahrung gewonnene Er-kenntnisse können manches zu unserem Verständis der einschlägigen Exilliteratur bei-tragen. (Vgl. P. Huchel: Gesammelte Werke in zwei Bänden. Bd. 1: Die Gedichte. Hrsg. v. Axel Vieregg. Frankfurt a.M. 1984. S. 178.) 7 Claude David: Préambule. In: Études Germaniques 25 (1970). Nr. 3 (Hommage à Paul Celan). S. 239. 8 Dorothee Kohler-Luginbühl: Poetik im Lichte der Utopie. Paul Celans poetologische Texte. Bern/Frankfurt a.M., New York 1986. Bes. S. 47f., 49, 65, 121f. 9 Christine Ivanović: Das Gedicht im Geheimnis der Begegnung. Dichtung und
368 Wortkarg sind er und sein Werk gewesen, wenn es um poetologische Ergründungen seiner Dichtung ging, ausgesprochen wortkarg. Alles, was an Poetik vorliegt, die er selbst in den Druck gab, im Gegensatz zu Notizen, Entwürfen, Gesprächsäußerungen und Erinnerungen anderer, stammt von Anlässen wie Preisverleihungen, bei denen eine Rede erwartet wurde, oder Bitten an den Autor, sich doch zur Lage der damals zeitgenössischen Lyrik zu äußern. Diese poetologischen Texte, die knappe vierundzwanzig gedruckte Seiten in den Gesammelten Werken ausmachen, entstanden fast ausschließlich in der Zeit lediglich zwischen 1958 und 1960, wobei allerdings viele Blätter mit Vorarbeiten in verschlossenen Konvoluten lagern. Kladden, Tagebücher und Briefe aus früheren und späteren Jahren, soweit sie je zur Veröffentlichung gelangen werden, werden eines Tages ergänzende, vielleicht auch wesentliche Details preisgeben.10 Die Bezeichnung “Poetiksplitter” bezieht sich auf den Entwurfcharakter dessen, was den Autor zum Ausdruck nötigt; der Ausdruck, jedoch nicht dessen Substanz besitzt bei Celan Vorläufigkeit. “Poetik des Exils” bedeutet hier nicht eine allgemeine Theorie der Exilliteratur. Die Funktion einer Poetik, die Celans Werk gilt, betrifft die Beschreibung erstens der besonderen Voraussetzungen und der aktuellen Bedingungen des Schreibens, zweitens der Funktion der Gedichttexte in der zeitgenössischen literarischen Kultur und drittens – am wichtigsten – der ‘Gesetze’ und Ursachen, die seinem Werk zugrunde liegen. Als Celan am 26. Januar 1958 seine kurze, in siebeneinhalb Minuten gesprochene, auf zwei Seiten gedruckte Ansprache in Bremen hielt – “Ansprache anläßlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen,”11 so der volle Titel –, nahm er diese Gelegenheit zum Anlaß, sich einer poetologischen Formulierung zu nähern, die für sein Werk Gültigkeit besitzen sollte, wohl nicht zuletzt weil er, auf der Schwelle zu einer sich ankündigenden neuen Entwicklungsphase, vorläufig Bilanz ziehen wollte oder konnte. Mit dieser Rede beginnt eine ungewöhnlich intensive und fruchtbare Schaffensperiode mit weiteren poetologischen Texten, den Gedichtbänden Sprachgitter (1959) und Die Niemandsrose (1963) und den großen Übertragungen von Shakespeare, Blok, Rimbaud, Mandel’štam, Valéry und Esenin. Der Bremer Rede unmittelbar vorausgehend und diese ergänzend erschien Celans Antwort auf eine “enquête de la Librairie Flinker” (Paris) in Poetik Celans im Kontext seiner russischen Lektüren. Tübingen 1996. S. 75. 10 Siehe in diesem Kontext die kürzlich erschienen Ausgabe von Paul Celan: Der Meridian. Endfassung -Entwürfe- Materialien. Hrsg. v. Bernhard Böschenstein und Heino Schmull, unter Mitarbeit v. Michael Schwarzkopf und Christiane Wittkop. Frankfurt a.M. 1999. 11 GW III 185f.
369 deren Almanach 1958, wo er Stellung nimmt zu seinen Arbeiten und den Problemen, die ihn beschäftigen. Dort geht er deutlicher zur Sache als kurz danach in Bremen, indem er eine andere, eine ‘grauere’ lyrische Sprache nach dem Faschismus fordert und diese für das Schreiben von Gedichten voraussetzt. Mittelbar, aber nicht weniger deutlich spricht er die noch mancherorts hartnäckig bestehende Erwartung einer Lyrik in ununterbrochener Tradition seitens unbelehrbarer Leserkreise selbst nach dem Faschismus an. Solche Rezipienten, Vertreter eines vorgeblich noch erhaltenen Kultur- und Bildungsbestandes, standen einem notwendig veränderten Kunstverständnis kräftig im Wege. In diesem kurzen Text schreibt Celan unter anderem: Düsterstes im Gedächtnis, Fragwürdigstes um sich her, kann sie [die deutsche Lyrik], bei aller Vergegenwärtigung der Tradition, in der sie steht, nicht mehr die Sprache sprechen, die manches geneigte Ohr immer noch von ihr zu erwarten scheint. Ihre Sprache ist nüchterner, faktischer geworden, sie mißtraut dem “Schönen”, sie versucht, wahr zu sein. Es ist also, wenn ich, das Polychrome des scheinbar Aktuellen im Auge behaltend, im Bereich des Visuellen nach einem Wort suchen darf, eine “grauere” Sprache, eine Sprache, die unter anderem auch ihre “Musikalität” an einem Ort angesiedelt wissen will, wo sie nichts mehr mit jenem “Wohlklang” gemein hat, der noch mit und neben dem Furchtbarsten mehr oder minder unbekümmert einhertönte. Dieser Sprache geht es, bei aller unabdingbaren Vielstelligkeit des Ausdrucks, um Präzision. Sie verklärt nicht, “poetisiert” nicht, sie nennt und setzt, sie versucht, den Bereich des Gegebenen und des Möglichen auszumessen. Freilich ist hier niemals die Sprache selbst, die Sprache schlechthin am Werk, sondern immer nur ein unter dem besonderen Neigungswinkel seiner Existenz sprechendes Ich, dem es um Kontur und Orientierung geht. Wirklichkeit ist nicht, Wirklichkeit will gesucht und gewonnen sein.12
Folgenreich an dieser Selbstaussage ist die feststellbare Ferne zu soviel Lyrik dieser Zeit. Celan beschreibt vorgeblich einen allgemeingültigen IstZustand der Lyrik oder jedenfalls seiner eigenen Dichtung oder vielmehr: was seine Dichtung zu verkörpern oder zu realisieren sucht. Ort dieses gewandelten Lyrikverständnisses konnte, wie Emmerich feststellt, “nur das Exil” sein.13 Indessen ist nicht einfach zu erraten, wessen Lyrik außer der eigenen sonst in Frage käme – nicht die des ihm suspekten Benn, nicht die ‘konkrete Poesie’; sicherlich Bachmanns, vielleicht Sachs’ oder Eichs, wohl nicht Enzensbergers oder Bobrowskis; denkbar Huchels. Die Rede nimmt behutsam und meist implizit im Sinn eines Subtexts eine kritische Auseinandersetzung mit einigen herrschenden Erwartungen 12 13
GW III 167f. Emmerich: Exillyrik nach 1945. A.a.O. S. 367.
370 in der Bundesrepublik auf, vornehmlich mit restaurativen Haltungen. (Dagegen spielt die DDR-Rezeption hier keine Rolle: Die erste Gedichtveröffentlichung brachte wohl Huchel im Abschiedsheft von Sinn und Form, die nächsten meines Wissens – eigene Gedichte und Übertragungen von Bloks Die Zwölf, von Esenin und Mandel’štam – erst in den 70er und 80er Jahren.) Der Zusammenhang und der rhetorische Aufbau der Rede sind, bei diesem doch durchaus verhältnismäßig zugänglichen poetologischen Text, komplex genug, sie werden noch komplexer, je genauer wir uns auf sie einlassen. Scheinbare Widersprüche treten auf als irritierende Momente. Die Rede geht ein auf Celans Herkunft und seine Beziehung zu Bremen (soweit man überhaupt davon reden kann), auf die Bedeutung der Sprache nach der Shoah und mithin für Celans Werk sowie auf das Wesen des Gedichts, wobei Celan versucht, von sich paradigmatisch, wie bei der Flinker-Antwort, auf die Gegenwartslyrik zu schließen. Häufig lesen Interpreten diesen Text folgerichtig als emphatisch auf den Primat von Sprache, auf Sprache und auf poetische Sprache nach der Shoah, nach Auschwitz bezogen. Bereits in seiner Prosaarbeit “Edgar Jené und der Traum von Traum” (1948) näherte sich Celan dieser Problematik als einer nicht nur sprachphilosophischen sondern einer historischen: Ich war mir klar geworden, daß der Mensch nicht nur in den Ketten des äußeren Lebens schmachtete, sondern auch geknebelt war und nicht sprechen durfte – und wenn ich von der Sprache rede, so ist damit die ganze Sphäre menschlicher Ausdrucksmittel gemeint – weil seine Worte (Gebärden und Bewegungen) unter der tausendjährigen Last falscher und entstellter Aufrichtigkeit stöhnten – was war unaufrichtiger als die Behauptung, diese Worte seien irgendwo im Grunde noch dieselben! So mußte ich auch erkennen, daß sich zu dem, was zutiefst in seinem Innern seit unvordenklichen Zeiten nach Ausdruck rang, auch noch die Asche ausgebrannter Sinngebung gesellt hatte und nicht nur diese! 14
Es verbinden sich untrennbar Sprachskepsis und Geschichtserfahrung,15 daher wäre es verkehrt, diese Textstelle rein ‘geistesgeschichtlich’ etwa auf Hofmannsthals Chandos-Brief anstatt vordergründig auf die Folgen der jüngsten Geschichte zu beziehen. In diesem Sinn nehmen die Kritiker meist eine apriorische Haltung insofern ein, als Celan die Sprache aus der Verhunzung und dem Schmutz des Faschismus zu befreien sucht oder, in den Worten George Steiners: “It becomes a ‘meta-German’ cleansed of historical-political dirt and thus, alone, usable by a profoundly Jewish
14 15
GW III 157. Kohler-Luginbühl: Poetik im Lichte der Utopie. A.a.O. S. 20.
371 voice after the holocaust.”16 Es erfolgt eine Errettung, eine Wiedergewinnung von Sprache, wobei “Sprache” stets “deutsche Sprache” meint, es entsteht dadurch die folgenschwere, umfassende und existentielle Gleichsetzung von deutscher Sprache und ‘Sprache überhaupt’. Den Bogen von der Sprache zum Exil schlägt Georg-Michael Schulz dadurch, daß er die Spannung zwischen “reale[r], unversöhnte[r] menschliche[r] Existenz” und dem Utopischen versteht als die zwischen Heimat und Exil. “Solange Versöhnung aussteht”, so Schulz, “ist das Exil als reale menschliche Situation Prüfstein für die Sprache und deren Wahrheit und bestimmt sich vom Exil her, was Heimat wäre.”17 Die Rede setzt in dieser Weise an: Denken und Danken sind in unserer Sprache Worte ein und desselben Ursprungs. Wer ihrem Sinn folgt, begibt sich in den Bedeutungsbereich von: “gedenken”, “eingedenk sein”, “Andenken”, “Andacht”. Erlauben Sie mir, Ihnen von hier aus zu danken.18
Den Eingangssatz hat man mit Heidegger in Beziehung gesetzt,19 den Celan von den frühen 50er Jahren an bis zum Lebensende las – übrigens auch Heidegger Celan – und von dessen Werk er einmal meinte, Heidegger habe der Sprache ihre “limpidité” zurückgewonnen.20 Natürlich ließ er Heideggers unwiderrufene politische Gesinnung in den frühen NaziJahren zu keinem Zeitpunkt außer acht. Zu wessen ‘Unklarheit’ er Heidegger im Gegensatz gesehen haben kann, bleibt der Spekulation vorbehalten. Ferner: was die Heidegger-Rezeption Celans ideologie-kritisch bedeuten mag, ist ebenfalls nicht ganz klar. In Heideggers 1951/52 gehaltenen Freiburger Vorlesungen Was heißt Denken? heißt es: “[…] dann verweist uns das Wort ‘Denken’ in den Wesensbereich von Gedächtnis, Andacht und Dank.”21 Die intertextuelle Anlehnung an Heidegger ist zwar 16
George Steiner: After Babel. Aspects of Language and Translation. London/ Oxford/New York 1975. S. 389. 17 Georg-Michael Schulz: Negativität in der Dichtung Paul Celans. Tübingen 1977. S. 149. 18 In der gesprochenen Fassung standen die Anfangsworte als “Danken und Denken”, was die Steigerung danken – denken – gedenken geradliniger erscheinen läßt. 19 So Christopher Fynsk: The Realities at Stake in a Poem: Celan’s Bremen and Darmstadt Addresses. In: Word Traces. Readings of Paul Celan. Hrsg. v. Aris Fioretos. Baltimore/London 1994. S. 159-161. 20 Clemen Podewils: Namen/Ein Vermächtnis Paul Celans. In: Ensemble 2 (1970). S. 67-70, hier S. 70. 21 Martin Heidegger: Was heißt Denken? Tübingen. 2. Aufl. 1961 [zuerst 1954]. S. 102. Im Übergang von der vierten zur fünften Vorlesung schreibt Heidegger:
372 nicht zu überhören, aber Celans Ergänzung zielt auf konkrete und historische Bezüge: “‘gedenken’, ‘eingedenk sein’” – als erstes Zeichen der Tendenz der Rede, die bereits eingangs die Zuhörer fordert und zweifelsohne teils überfordert. Diese Tendenz versetzt das Publikum unversehens in die “Jahre des Unheils”22 und konfrontiert es mit der für Celan unaussetzbaren Gegenwart dieser Jahre. Um Sprachlichkeit geht es hier gewiß auch, doch durch die subtile Ironie – “sind in unserer Sprache” – greift ein subversiver, ja dezentrierender rhetorischer Gestus nach dem sprachlichen und literarischen Selbstverständnis der anwesenden Bildungsvertreter.23 Denn mit “unserer Sprache” ermahnt Celan die Zuhörer, daß er seine Sprache mit ihnen teilt, ja vor allem sie die ihrige mit ihm. Der Preisverleihung, die zugleich den 80. Geburtstag Rudolf Alexander Schröders feiern sollte, gingen kontroverse Überlegungen voraus, nämlich Schröders Ablehnung des gewählten Celan, der vier Jahre lang in der Jury als möglicher Preisträger im Gespräch war. Schröder schrieb an Erhart Kästner (20.12.1955) über seine doch grundsätzlichen Vorbehalte: Wer Gedichte schreibt, wie Celan, verzichtet im Grunde auf das Soziale der dichterischen Funktion. […] Nun glaube ich schon, zu gewahren, daß dieser Paul Celan zu seiner “poésie pure” aus Nötigungen gekommen ist, die wieder ihren sehr dringenden, bitteren und zwingenden Anlaß hinter sich haben. Aber das einseitige Losungswort führt in einen impasse. Die Flucht aus der geschichtlichen Gemeinsamkeit führt in einen Substanzverlust, der auf keine Weise wettzumachen ist.24 Heute ist in Freiburg die Ausstellung “Kriegsgefangene reden” eröffnet worden. Ich bitte Sie, hinzugehen, um diese lautlose Stimme zu hören und nicht mehr aus dem inneren Ohr zu verlieren. Denken ist Andenken. Aber Andenken ist anderes als die flüchtige Vergegenwärtigung von Vergangenem. Andenken bedenkt, was uns angeht. Wir sind noch nicht in dem gemäßen Raum, um über Freiheit nachzudenken und auch nur davon zu reden, solange wir auch gegenüber dieser Vernichtung der Freiheit den Blick verschließen. (S. 159) Äußerste ‘Bedenken’ hätten Celan bei der Lektüre dieser Überleitung, die wie eine Verhöhnung seiner Lage anmutet, befallen müssen. 22 Oskar Loerke: Tagebücher 1903-1939. Hrsg. v. Hermann Kasack. Frankfurt a.M. 1986. S. 275. 23 Schon Jerry Glenn sah hierin eine Ironie (siehe J. G.: Dein aschenes Haar. In: Die Pestsäule. H. 1/1972. S. 16), wohingegen John Felstiner “a finely tuned sarcasm” annimmt (J.F.: Paul Celan. Poet, Survivor, Jew. New Haven/London 1995. S. 113). Mir scheint die Ironie weiter zu reichen, vor allem eine tiefgründigere Wirksamkeit zu besitzen. 24 Der Bremer Literaturpreis 1954-1987. Eine Dokumentation. Hrsg. v. Wolfgang Emmerich. Bremerhaven 1988. S. 12.
373 Schröders Einschätzung von Celans Ausgangslage (dem “dringenden, bitteren und zwingenden Anlaß”, nämlich Judenverfolgung und Shoah) mag nicht falsch sein, wenngleich seine Schlußfolgerung mehr den kulturellen Generationsunterschied preisgibt als ein der Gegenwart entsprechendes und notwendiges kritisches Urteil formuliert. Erhart Kästner, der die Laudatio auf Celan hielt, nimmt genau auf diese Situation Bezug mit der Anekdote über den alten Theodor Fontane und den jungen Gerhart Hauptmann: wie nämlich Fontane Hauptmanns Vor Sonnenaufgang zwar anerkennt, aber insgesamt Bedenken über die kommende Literaturepoche bekommt.25 Schröder scheint Celan eine gewisse eskapistische Redeweise zuschreiben zu wollen, sonst hätte er nicht von “poésie pure” und von einer “Flucht aus der geschichtlichen Gemeinschaft” sprechen können. Kästner, als wollte er noch darauf erwidern und als Vermittler zwischen Schröder und Celan auftreten, ortet Celans Gedichte im Bereich der ‘Wirklichkeit’, aber nicht irgendeiner: Gedicht, das ist Kampf um eine Wirklichkeit, um die Gewinnung von Wirklichkeit: jedes Bild eine Breite gewonnener Heimat, jedes Gedicht eine Hufe zurückgewonnenen Lands, jeder Satz, der diesen Namen verdient, eine erschlossene, wiedererschlossene Fremde.26
Damit nimmt er einen wichtigen Gedankengang vorweg, der Celan in seiner Rede noch beschäftigen wird – sei es, daß Kästner den Text der Rede bereits kannte, sei es, daß er sich als besonders einfühlsamer und aufmerksamer Leser von Celans Lyrik erwies. Celan wußte indessen nichts von den Bremer Querelen und schrieb, mit der geradezu überschwenglichen Höflichkeit desjenigen, der (endlich) Anerkennung erfährt, am 17. 12. 1957 an den Regierungsdirektor Dr. Lutze nach Bremen: Soeben erreicht mich [...] Ihr so beglückender Brief. Daß ich am achtzigsten Geburtstag Rudolf Alexander Schröders den Preis der Freien Hansestadt Bremen empfangen soll: Diese Nachricht gehört für mich zu den schönsten, die mich je erreicht haben! Und so muß ich mir, da solches mir zuteil wird, auch die Frage stellen: Hast du’s auch verdient? Und mir sagen: du mußt es dir ver-
25
Erhart Kästner: Rede für Paul Celan bei Verleihung des Bremer Literaturpreises. In: Über Paul Celan. Hrsg. v. Dietlind Meinecke. Frankfurt a.M. 1970. S. 35-42, hier S. 35. 26 Ebd. S. 41. Schulz hat den für Celans Poetik äußerst wichtigen WirklichkeitsBegriff konzeptionell präzis erfaßt (Negativität in der Dichtung Paul Celans. A.a.O. S. 204-214.).
374 dienen, morgen und später.27
Celan empfand den Literaturpreis deutlich als hohe Auszeichnung für einen jungen, in Paris lebenden Lyriker, der also immer noch und unwiderruflich im Exil und abseits des einheimischen westdeutschen Literaturbetriebs lebte und von dem die literarische Öffentlichkeit bis zur Preisverleihung im Januar 1958 nur die beiden ersten Gedichtbände Mohn und Gedächtnis (1952) und Von Schwelle zu Schwelle (1955) wahrgenommen hat sowie die Vorabdrucke von einem Dutzend Gedichte, die bald in Sprachgitter (1959) erscheinen würden.28 Man empfand Celan jedoch nicht als Exillyriker, konnte auch kaum wissen, daß Celan bereits vor 1945 gedichtet hatte und eine nicht unerhebliche Zahl Gedichte in Mohn und Gedächtnis aufnahm, die er zwischen 1945 und 1948 in Bukarest und Wien geschrieben hatte.29 Sonst wäre Celans Oeuvre und mit ihm dessen Anspruch auf Rezeption ins Fahrwasser der oft unterschwellig von der Kritik geführten Debatte über Exilliteratur/ Literatur der ‘inneren Emigration’ geraten. Nicht zuletzt bei Preisverleihungen hatten Exilautoren häufig das Nachsehen.30 Daß Celans Dankbarkeit für den Preis genuin erscheint, unterstreicht seine Wahl von einigen Gedichttexten Schröders für eine Festgabe zum 80. Geburtstag, die ebenfalls 1958 erschien und an der in ähnlicher Weise andere jüngere Lyriker beteiligt waren.31 Zwei Sonette, beide durchaus barock im Duktus und somit in einem Celan nahestehenden Idiom,32 enthalten Verse, die Celan, gemäß seiner Lesegewohnheit, erkennbar auf sich beziehen konnte. Es sind hier vor allem die Schlußverse beider Sonette: Bleibt ihr in euren abgetrennten Zonen, 27
Der Bremer Literaturpreis 1954-1987. A.a.O. S. 72. Für die Datierung s. Paul Celan: Sprachgitter. Vorstufen – Textgenese – Endfassung. Bearbeitet v. Heino Schmull unter Mitarbeit v. Michael Schwarzkopf. Frankfurt a.M. 1996. S. 142. 29 Siehe Paul Celan: Das Frühwerk. Hrsg. v. Barbara Wiedemann. Frankfurt a.M. 1989. S. 153ff. 30 Hannes Schwenger: Buchmarkt und literarische Öffentlichkeit. In: Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967. (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd 10.) Hrsg. v. Ludwig Fischer. München 1986. S. 99-124, hier S. 120. 31 Rudolf Borchardt/Alfred Walter Heyme /Rudolf Alexander Schröder. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum. Marbach a.N. 1978. S. 549f. 32 Siehe Leonard Olschner: ‘Stehen’ und Constantia. Eine Spur des Barock bei Paul Celan. In : “Atemwende”. Materialien. Hrsg. v. Gerhard Buhr und Roland Reuß. Würzburg 1991. S. 201-217. 28
375 In eurer Ruhe heiterem Gefild, Ihr Seligen, nach dem Gesetze wohnen Und zeigt nicht dem Verlangen euer Bild. Wir wohnen hier in einer niedern Sphäre Und bücken uns und mühn uns ohne Sinn Und sind schon glücklich, fällt auf unsre Schwere Kein unbarmherzig Licht von oben hin. Was wollt ihr uns? Wir sind dem Tod gegeben, Sind der Vergängnis wandelbare Schar, Und sind so fern von eurem Götterleben Als Meer der Flamme oder Wurm dem Aar. Was wollt ihr uns? Ihr seid nicht unsresgleichen, Und unsern Abgrund könnt ihr nicht erreichen.33 * Um deinen Mantel webt ein seltsam Licht, Unirdisch Grauen weißer Einsamkeit, Als wär’s ein Zauber, der dich ewig feit, Durch den kein Haß und keine Liebe bricht. Von deinen Mienen geht ein starrer Schein, Als blicktest du, wie die Gorgone blickt, Als wäre jener tiefste Schrecken dein, Vor dem der Tod im Tode selbst erschrickt. Ich weiß, euch beiden ist die Stunde nah, Die, Schaudernde, dich über dich erhebt. – Unmütterlichen Schwunges wirfst du da Den Sohn, der schon aus deinen Armen strebt, Wirfst ihn ins Leere, daß er sinkend schreite Durch vaterlos- und mutterlose Weite.34
Trotz solcher befremdlich anmutenden Bewandtnisse – nämlich der scheinbaren Huldigung einer konservativen Dichtungstradition in der ‘inneren Emigration’ −, und ohne diese unmittelbar zu leugnen, auch trotz der Möglichkeit, daß Celan seinen Begriff des Dankens einem anderen entgegensetzt, den Schröders 1935 im Inneren Reich erschienener 33 34
Rudolf Alexander Schröder: Die Gedichte. Berlin/Frankfurt a.M. 1952. S. 231. Ebd. S. 232.
376 Gedichtzyklus “Frühlingsanfang”35 als poetologische Kategorie bemüht (“Und Gesang wird Loben und Danken”), hat Celan eine Konfrontation mit seinen Zuhörern im Auge, mit denen jedenfalls, die wirklich zuzuhören bereit waren. Dieser Tradition setzt er andere entgegen, er ergänzt sie um weitere mögliche, z.B. um eine osteuropäische aus dem Ostjudentum. Die Ansprache setzt sich fort mit einer knappen Skizze der Herkunft und des Weges, der Celan nach Bremen führte: Die Landschaft, aus der ich – auf welchen Umwegen! aber gibt es das denn: Umwege? −, die Landschaft, aus der ich zu Ihnen komme, dürfte den meisten von Ihnen unbekannt sein. Es ist die Landschaft, in der ein nicht unbeträchtlicher Teil jener chassidischen Geschichten zu Hause war, die Martin Buber uns allen auf deutsch wiedererzählt hat.
Wie präsent oder bekannt Bubers Erzählungen der Chassidim den Zuhörern gewesen sein mögen, ist schwer zu bestimmen, sie galten den nichtjüdischen ebenso sehr wie den jüdischen Lesern. Celan rückt die “chassidischen Geschichten [...], die Martin Buber uns allen auf deutsch wiedererzählt hat”, entschieden in die Sphäre eines gemeinsamen ‘Bildungsgutes’. Daß diese erstmals wieder seit den 20er Jahren 1949 im Verlag der Manesse in Zürich erschienenen Erzählungen36 aus dem Bildungskanon verdrängt worden waren und eine fremdgewordene, kaum noch bekannte Geisteswelt wurden, soweit sie überhaupt ins Bildungsbewußtsein eingingen und nicht nur in die Wissenschaft des Judentums, daß die Erzählungen aber zu diesem Kanon gehören sollten, bildet eine weitere Anmahnung an die anwesenden Zuhörer, die immerhin wohl noch die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Buber 1953 wahrgenommen haben werden. Celan selbst, der Buber verehrte, kannte “Die chassidischen Bücher” neben anderen Schriften Bubers seit spätestens den frühen 40er Jahren.37 Aber Buber, der knapp zwei Wochen nach 35
Das Innere Reich 2 (Juni 1935), H. 3. S. 257. Die dritte Strophe des ersten Teils lautet: Im Wandern die Weiden und Wiesen entlang Begleiten mich holde Gedanken, Die Wiesen entlang Und werden Gesang; Und Gesang wird Loben und Danken. 36 Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim. Zürich 1949. 37 Israel Chalfen: Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend. Frankfurt a.M. 1979. S. 140. Felstiner faßt einige weitere Berührungen Celans mit Buber zusammen (Felstiner, Paul Celan. A.a.O. S. 161). Für eine eingehende Analyse der Breitenwirkung von Bubers Arbeiten zum Chassidismus, allerdings im
377 der Rede (wie Schröder) ebenfalls achtzig Jahre alt wurde, war Teil eines größeren Zusammenhangs. Es war, wenn ich diese topographische Skizze noch um einiges ergänzen darf, das mir, von sehr weit her, jetzt vor Augen tritt, – es war eine Gegend, in der Menschen und Bücher lebten. Dort, in dieser nun der Geschichtslosigkeit anheimgefallenen ehemaligen Provinz der Habsburgermonarchie, kam zum erstenmal der Name Rudolf Alexander Schröders auf mich zu: beim Lesen von Rudolf Borchardts “Ode mit dem Granatapfel”. Und dort gewann Bremen auch so Umriß für mich: in der Gestalt der Veröffentlichungen der Bremer Presse. Aber Bremen, nähergebracht durch Bücher und die Namen derer, die Bücher schrieben und Bücher herausgaben, behielt den Klang des Unerreichbaren.
Celan wurde der Heimatboden entzogen. Den Geburtsort Czernowitz – gegenüber Rose Ausländer bezeichnete er die Stadt und Umgebung als die “versunkene Heimat”38 – sah er nie wieder, und es fragt sich, trotz einiger Andeutungen an seinen Jugendfreund Peter Solomon, ob er ernsthaft dorthin zurück wollte. Denn wohin und zu was überhaupt sollte er zurückund heimkehren, zu dieser, wie er mehrdeutig sagte, “nun der Geschichtslosigkeit anheimgefallenen ehemaligen Provinz der Habsburgermonarchie.”39 Nicht die Geschichte überhaupt, der er im Grunde sein ganzes Denken und alle sprachlichen Deutungsmuster verdankt, sondern die Geschichte als seine eigene und ihn bildende Geschichte hatte dort aufgehört zu sein, sie ging für ihn nicht weiter. Schon dieses “anheimgefallen”, mit dem innewohnenden “heim” und der alten Bedeutung “zu Hause”, siedelt sich im Bereich des gewandelten Heimkehr-Gedankens an: die ehemalige Provinz wurde, als Opfer, zu Hause in der Geschichtslosigkeit, der Vergessenheit.40 Als weiteres Irritationsmoment fällt der Name Rudolf Borchardts, des halbjüdischen deutschnationalen und “ultra-restaurativen”41 Kulturextremisten, dessen freiwilliger Aufenthalt in Italien zum erzwungenen und beinahe tödlichen Exil wurde. Borchardt hatte bereits Anfang des Jahrhunderts seinen Wohnsitz weitgehend nach Italien verlegt. Werner Vordtriede, während der Hitler-Jahre selbst Exilant, hebt 1968 sogar hervor: wissenschaftlichen Kontext, s. Gershom Scholem: Martins Bubers Deutung des Chassidismus. In: Ders: Judaica. Frankfurt a.M. 1963. S. 165-206. 38 “Fremde Nähe”. Celan als Übersetzer. Ausstellung und Katalog: Axel Gellhaus und Rolf Bücher, Saria Filali, Peter Goßens, Ute Harbusch, Thomas Heck, Christine Ivanović, Andreas Lohr, Barbara Wiedemann unter Mitarbeit von Petra Plättner. 2. Ausgabe. Marbach a.N. 1997. S. 55. 39 GW III 185. 40 Vgl. “anheim” ,“anheimfallen” in: Grimms Deutsches Wörterbuch I. Sp. 372f. 41 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt a.M. 1997. S. 37.
378 Borchardt “macht sich in seinem großen Haßgedicht, den ‘Jamben’, zum Verwalter der Dichtung: ‘Wer den Gesang erobert, hat das Vaterland.’ Aus dem Lande ‘Illiteratien’ ist die Dichtung exiliert, er bewahrt sie als höchster Sachwalter.”42 “Es war doch wohl ein dunkler richtiger Instinkt,” schrieb Borchardt 1934 seiner Mutter über seinen Daueraufenthalt in Italien, “dass ich seit 1903, mit geringen Unterbrechungen, und den Krieg abgerechnet, hier lebe und dadurch deutsch bleibe dass ich dreissig Jahr lang keine der dortigen Dummheiten habe mitmachen wollen – dabei soll es bleiben.”43 In der erhaltenen Bibliothek Celans finden sich sechzehn Titel von Borchardt, davon einige, allerdings undatiert erworbene, von der gediegenen Bremer Presse.44 Einige Titel waren Geschenke mit der Widmung “Für Paul 1958”, also im Jahr der Bremer Rede. Den 1920 veröffentlichten Rowohlt-Band mit Jugendgedichten und Prosa Borchardts erwarb Celan einen Monat vor der Preisverleihung Ende Dezember 1957 (“Paul Celan/ Paris, 27.XII.1957”). Inliegend fand man einen Briefumschlag mit den Titeln, in Celans Handschrift, von drei Gedichten Borchardts: “Schlechter Tag”, “Lust und Schauder”, “Verglichner Streit”. Es sind Gedichte, die Borchardt im Lauf einer Liebesbeziehung schrieb.45 Eine genaue Lektüre dieser Gedichte läßt mögliche Anzeichen für ein Interesse Celans feststellen, aber namentlich ihre Ausdeutung reicht jedoch über plausible Erklärungsmuster nicht hinaus. Die “Ode mit dem Granatapfel”, Schröder gewidmet, wird Celan nicht als grundlose, unverbindliche und konsequenzlose Anspielung vor dem anwesenden Jubilar hervorgehoben haben; die Zufälligkeit der Verbindung entsteht dadurch, daß Celan ja Borchardt las, nicht Schröder und dies verdeutlicht auf taktvolle aber entschiedene Weise die Distanz zu Schröder. Eine gewisse Diplomatie mag bei der Nennung dieses Gedichts im Sinn einer Lesereminiszenz zwar auch im Spiel sein, aber Celan sucht ohnehin stets nach allerlei Verbindungen und Vermittlungen, nach ‘Meridianen’, die Geflechte von Bezugspunkten bestätigen: Erkenntnismomente, die hin und wieder als Ideen oder Motive oder Bilder ins eigene 42
Werner Vordtriede: Vorläufige Gedanken zu einer Typologie der Exilliteratur. In: Akzente 15 (1968). S. 556-575, hier S. 573. Das Zitat aus Borchardts “Jamben” steht in Rudolf Borchardt: Gedichte II / Übertragungen II. Hrsg. v. Marie Luise Borchardt und Ulrich Ott unter Beratung von Ernst Zinn. Stuttgart 1985. S. 20. 43 Borchardt / Heymel / Schröder. A.a.O. S. 483. 44 Zur Bremer Presse s. Borchardt / Heymel / Schröder. A.a.O. S. 326-344. 45 Rudolf Borchardt: Gedichte. Hrsg. v. Marie Luise Borchardt und Herbert Steiner. Mit einem Gedenkwort von Rudolf Alexander Schröder. Stuttgart 1957. S. 50, 90, 94. Zum Kontext dieser Gedichte s. Rudolf Borchardt: Vivian. Briefe, Gedichte, Entwürfe 1901-1920. Hrsg. v. Friedhelm Kemp und Gerhard Schuster. Marbach a.N. 1985.
379 Werk eingehen können, oder aber – feststellbar anhand von Lektürespuren – als Bestätigung gleichsam für die ‘Richtigkeit’ oder ‘Genauigkeit’ eines früher entstandenen Textes. “Borchardt lebt im Dunkel und strebt ins Helle”, schrieb Werner Kraft46 – eine Erfahrung, die Celan nicht fremd war: “Licht war. Rettung.”47 Der Granatapfel, der mythologischen Geschichte von Hades und Persephone folgend, wird Sinnbild für “das Band zwischen Lebenden und Toten”48 und somit eine Konkretisierung des Gedenkens, das, wie wir wissen, die Rede – so diskret und mittelbar auch immer – vergegenwärtigen will. Die “Ode mit dem Granatapfel” besitzt an mehreren Stellen einen Sprachduktus, der Celan ‘entgegen’-kommt: “der alten Totenklage gedenkend” (V. 6) und besonders “Alle, die wir wurden und da sind, wohnen / An der Grenze. Jede Sekunde stößt an / Reifes Jenseits, draus keine Hand mehr Händen Wirkliches abnimmt” (V. 19-21). Es ist unter anderem ein ‘dunkles’ Gedicht, sehr suggestiv, der Sprachlichkeit Celans durchaus nahe. ODE MIT DEM GRANATAPFEL (An Schröder) Diese Frucht der Persephoneia, Gastfreund, Schont ich dir und mir in Gedanken herbstlang – Dir und mir vor Nacht, da das erstemal Orion im Osten Groß mit Hunden hinter dem Jahr heraufkommt, Brach ich heut die zeitige Last: nicht klagend, Wohl nicht klagend; aber der alten Totenklage gedenkend. Wenn das Fest ist, dies, da man Ihrer andenkt, Ihnen nichts als alternde Blumen, nichts als Bettlerlicht auf Knieen ins unbekränzte Dunkel hinabreicht, Dann nicht ohn ein reiferes Zeichen sollst du, Ohn ein Opfer, das dir gemäßer sei, nicht Stehn und suchen: Nimm den geheimnisvollen Apfel des Hades. Denn die Schale, wo sie schon aufbricht, wer sie Längshin durchreißt, Nester der Purpurkerne Schöpfend schenkt, wie sollt es ihn reun, ob berstend einer zerblute,
46
Werner Kraft: Rudolf Borchardt. Welt aus Poesie und Geschichte. Hamburg 1961. S. 301. 47 GW II 107. 48 Kraft: Rudolf Borchardt. A.a.O. S. 302. Eine Reminiszenz daran in einem späten Gedicht Celans aus Fadensonnen dürfen wir wohl kaum annehmen: “Angewintertes Windfeld: hier / mußt du leben, körnig, granatapfelgleich” (GW II 222).
380 Da nach Keim sie unten verhungern, dein Blut Nicht bis hin langt? Sühne das Nichts und Fast-Nichts Gleichnishaft und scheide: Du hast nur Bilder, Mensch, deiner Gottheit! Alle, die wir wurden und da sind, wohnen An der Grenze. Jede Sekunde stößt an Reifes Jenseits, draus keine Hand mehr Händen Wirkliches abnimmt. Dennoch, Bruder, nimm du sie dennoch, Ernte Gib sie dennoch, die ich der Herbstglut preisgab, Weiter – halb gab: Denn in der Baumnacht, taulos, haftete jahrlang Stets licht-abseits stille die kalte Halbfrucht, Grün und fremd, dem emsigen Vielfuß kundig, Spinngeweben heimlich, und trank von Glut noch Regen bis heut nicht. Besser so. Es muß für die Reinsten etwas Keusch, ein Ei sein, das in der eignen Hut wächst, Kühl, ein Herz, das, vielen genehm, dem Einen Einsamer anhangt. Uns auch bräunt am Leben die Wange, Gastfreund, Unsres Herbsttags, Kern über Kern entfaltend, Lautlos wachsend, warten auch wir nach ganz vernichteter Jugend: Was untröstlich gegen den Stamm blickt, standhaft Abgewandt von Sonnen, die Heutges bunter Sehn als gestern, dies zu entdecken wehrt mir, außer der Andacht, Auch dies Zwielicht, da mir mit Tau ins Nachtbeet Weit im Bogen fahrende Gäste kehren – Faltern gleich, doch eben um ein unsagbar Deutliches anders, Ob sie gleich, wie jene, bei Tag wer weiß wo, Nachts, wer weiß woher, mit dem Seglerlaut des Flugs angeisternd, vor dem nur heute noch schönen Munde sich stillen.49
Die Nähe der Sprache Celans zu der Borchardts wirkt bisweilen frappierend: Borchardts Zeilen “da das erstemal Orion im Osten // Groß mit Hunden hinter dem Jahr heraufkommt” (V. 3-4) evozieren mühelos die gleichen Sternbilder in Celans Gedicht “Und mit dem Buch aus Tarussa:”50 “Vom / Sternbild des Hundes, vom / Hellstern darin” (V. 1-3) und “Auge, das er / den drei / Gürtelsternen Orions – Jakobs − / stab, du, / 49 50
Borchardt: Gedichte. A.a.O. S. 174-176 (aus “Vermischte Gedichte”, 1906-1916). GW I 287-289.
381 abermals kommst du gegangen! – // zuführt auf der / Himmelskarte, die sich ihm aufschlug” (V. 64-70). Hinzu kommen die Verse aus “Es ist alles anders:”51 “wie heißt es, dein Land / hinterm Berg, hinterm Jahr?” (V. 3940).52 Letztlich ging es Celan bei der Nennung von Borchardts “Ode mit dem Granatapfel” um Borchardt selbst, nicht um Schröder, und um das unaufhörliche Zusammenspiel von Leben und Tod. Daß der Marxist Celan der Czernowitzer Tage, Mitglied einer kommunistischen Zelle,53 der während der Nazi-Besetzung verfolgte Jude sich einer restaurativen Position genähert haben soll, scheint ebenso abwegig, wie wenn wir ihn einen Heideggerianer, geschweige denn einen leidenschaftlichen nennen wollten. Die Dinge sind etwas vertrackt und nicht durch schlichte Modelle zu erklären. Unweit dieses Komplexes, wenngleich ein Jahrzehnt später, liegt ja auch Adornos Borchardt-Auswahl, die auf den ersten Blick ähnlich befremden mag, und seine Zusage an Marie Luise Borchardt (9.6.1969), dem Vorstand der Borchardt-Gesellschaft anzugehören. Er kommentierte seine Entscheidung mit den Worten: “Das Wutgeheul, das bei manchen Leuten meine Zugehörigkeit zu diesem Gremium auslösen wird, ist mir dafür eine recht angenehme Begleitmusik.”54 Aber zugleich ganz nah an der Bremer Rede steht Celans Übertragung eines Gedichts von Osip Mandel’štam, die er ein halbes Jahr nach der Bremer Rede, am 4. Juli 1958, schrieb und die ebenfalls Persephone thematisiert: AUS MEINEN HÄNDEN, dich zu freuen, nimm ein wenig Sonne und ein wenig Honig: dies ist, was Persephoneias Bienen uns zu tun geheißen. Nicht loszumachen ist das unvertäute Boot, des Schattens Schuh und Schritt – nicht zu erlauschen, die Angst im Lebensdickicht hier – nicht zu bezwingen. Uns bleibt nur dies: die bienengleichen Küsse, die kleinen Immen, haarig, in den Stöcken – 51
GW I 284-286. Siehe den Kommentar zu Paul Celans “Die Niemandsrose”. Hrsg. v. Jürgen Lehmann unter Mitarbeit von Christine Ivanović. 2. Ausgabe. Heidelberg 1998. S. 340-367. 53 Edith Silbermann: Erinnerung an Paul Celan. In: Dies.: Begegnung mit Paul Celan. Erinnerung und Interpretation. Aachen 1993. S. 54-57. 54 Rudolf Borchardt: Ausgewählte Gedichte. Auswahl und Einleitung von Theodor W. Adorno. Frankfurt a.M. 1968. Die Einleitung erschien 1974 unter dem Titel “Die beschworene Sprache” in: Noten zur Literatur IV. Adornos Brief an Marie Luise Borchardt steht in: Borchardt / Heymel / Schröder. A.a.O. S. 523f. 52
382 ihr Flug ins Freie ist ihr Todesflug. Der Hain der Nacht, wie Glas: der Raum, den sie durchschwärmen. Der dichte Wald auf dem Taygetos: die Heimat und die Herkunft. Die Nahrung dies: Zeit, Honigblume, Minze. So nimm dies Waldgeschenk, nimms, dich zu freuen: das Halsband, unscheinbar, aus toten Bienen – sie woben Honig, woben ihn zu Sonne.55
In den Wochen unmittelbar nach der Bremer Rede widmete sich Celan der Übersetzung von Esenins Gedichten, bald darauf der von Mandel’štams Gedichten.56 Esenin wurde eine Art Heimkehr, da durch den Akt des Übersetzens Celan sich in die prägende Zeit in jungen Jahren versetzte, als er Esenin las und übersetzte und dabei Affinität und Ausdruck fand für seine eigene Gefühlswelt.57 Nun bewegte er sich auf der Ebene der Erinnerung, wieder einmal. Es mag sonderbar klingen, aber diese Übersetzungen haben nicht ‘Fluchtcharakter’, er gab seine Identität nicht an den anderen Poeten ab. “Fremde Nähe” nannte er dies.58 Nicht Wehleidigkeit kennzeichnet den Sprachduktus seiner eigenen Gedichte, sondern Melancholie; und die Melancholie entsteht nach Verlust. Celan setzt immer wieder an zum nochmaligen Versuch einer Beschwörung, die immer wieder beinahe gelingt: “Du hättest / beinah / gelebt” (“Stumme Herbstgerüche”59). Die These ist nicht zynisch oder abwegig einzustufen, daß Celan letztlich das Exil, zu dem freilich keine Alternative bestand, implizit oder unbewußt bejahte, ja es durchaus brauchte, um dann aber schließlich an dessen Ursachen zugrunde zu gehen. Der Redner gelangt zu dem Gedanken, der ihn am stärksten leitet: die Sprache nämlich, die er nicht ablegte, sondern beibehielt, trotz der Verwüstungen an Menschen, an Kultur und eben an der Sprache selbst. “Erreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der Verluste dies eine: die Sprache”, schrieb Celan, und damit wiederholte er, was er neun Monate zuvor Max Rychner geschrieben hatte: “Sie haben mir, als Sie vor zehn Jahren jenen Brief an Alfred Sperber schrieben, geholfen, die Ent55
1920; GW V 117. Vgl. die Chronologie der Entstehungsdaten dieser Übertragungen im Verhältnis zu den ‘eigenen’ Gedichten in Christine Ivanović: Das Gedicht im Geheimnis der Begegnung. A.a.O. S. 142f. (Esenin) und 234f. (Mandel’štam). 57 Siehe Ivanović: Das Gedicht im Geheimnis der Begegnung. A.a.O. S. 149, 151, 153. 58 “Fremde Nähe”. A.a.O. S. 389. 59 GW I 223. Siehe den Kommentar zu Paul Celans “Die Niemandsrose”, S. 104107. 56
383 scheidung zu treffen, der ich es verdanke, daß mir meine Heimat erhalten blieb: meine Sprache” (6.4.1957).60 Die Sprache blieb als letzte Möglichkeit, Leben zu bewältigen. “Sprache” meint deutsche Sprache (nicht ‘die’ deutsche Sprache), zugleich und in gesteigertem Maß Sprache an sich: nicht im Sinn einer Mystifikation, also einer metaphysischen Überhöhung, sondern in dem der Eigenschaft, wenigstens subjektiv Weltverständnis zu konstruieren. Die Sprache wird für Celan Vehikel – Mittel und wohl noch Zweck –, sich zu orientieren. Es sind topographische Erkundungen in einem offenen Gelände – in der Gegenwart unternommen, auf die Zukunft gerichtet. Die “topographische Skizze”, wie er es nennt, erhebt Anspruch auf zuverlässig deutbare Realien und trägt Züge einer Allegorese: denn das, was war, verlangt nach der Bestimmung durch Erinnerung, durch Sprache – es bleibt ja nichts anderes. Die Fremde, in der er schreibt – absurd, von einer ‘Wahlheimat’ zu sprechen –, wird das Fremde und somit fester Begriff und Bestandteil der Poetik. Sucht er dabei, sich “Wirklichkeit zu entwerfen”, so dürfen wir “entwerfen” als die Wirklichkeit in ihren Merkmalen erkennen und festlegen, oder als ein Bild – das also zwangsläufig ein Vermitteltes ist – verstehen, aber auch vom Wortsinn herlesen als “etwas vor-sich-hinauswerfen”, also als etwas, dem man nachleben kann oder soll. Die Zeit wird dabei zum entscheidenden Faktor: Denn das Gedicht ist nicht zeitlos. Gewiß, es erhebt einen Unendlichkeitsanspruch, es sucht, durch die Zeit hindurchzugreifen – durch sie hindurch, nicht über sie hinweg.
Ein Zustand der “Geschichtslosigkeit” – die merkwürdige, auf das alte Czernowitz bezogene Formulierung – kann den Rahmen von Dichtung heute, 1958, nicht hergeben, zumal “Geschichtslosigkeit” genau betrachtet Gedächtnisschwund meint.61 Celan weist damit ein weithin angenommenes Charakeristikum jener Nachkriegsjahre weit von sich, nämlich das Element der Zeitenthobenheit in der Lyrik. Wenn wir (mit Hegel) die Lyrik als die subjektivste Gattung sehen dürfen, das Ich der Lyrik jedoch als ein – zu schwer bestimmbaren Teilen – konstruiertes ist, dann bringt das Individuum Geschichte mit sich, die eigene und die allgemein gesellschaftliche. Was heute für die meisten ein selbstverständliches Deutungsmuster geworden ist, war dies noch in den späten 50er Jahren, als man ‘Ewiges’ zu suchen sich bemühte, keineswegs. Hierin dürfen wir bei Celan ohne Zweifel nicht nur eine genaue und vorausweisende Beob60
“Fremde Nähe”. A.a.O. S. 65. Vgl. die Beispiele zu “geschichtslos” in: Grimms Deutsches Wörterbuch V. Sp. 3869.
61
384 achtung erblicken, sondern eine poetologische Stellungnahme und Markierung, die kraft der wachsenden Autorität seiner Dichtung nicht mehr zu ignorieren war. Das Problem bleibt ein existentielles: Gedichte seien “die Bemühungen dessen, der, überflogen von Sternen, die Menschenwerk sind, der, zeltlos auch in diesem bisher ungeahnten Sinne und damit auf das unheimlichste im Freien, mit seinem Dasein zur Sprache geht, wirklichkeitswund und Wirklichkeit suchend”. Wohl um die gleiche Zeit, Mitte Januar 1958, und durchaus als Variante dieses Gedankens schrieb Celan an Nelly Sachs: “Falsche Sterne überfliegen uns – gewiß; aber das Staubkorn, durchschmerzt von Ihrer Stimme, beschreibt die unendliche Bahn.”62 Als Sinnbild von Schutz, Refugium, Behausung der Nomaden, Himmelsgewölbe und Prototyp des Tempels wird das Zelt im “zeltlos” aufgehoben. (Nicht zufällig also sagt Celan von sich: “ich heillos sedentärer Nomade.”63) Nochmals befinden wir uns im Wortfeld von “Heim” angelangt wie vorhin bei “anheimgefallen”, wie: Heim – Heimat – heimisch – heimlich – unheimlich: d.h. fremd. “Heimat und Abgrund”64 bezeichnet eine Landschaft der Erinnerung und des Gedenkens, Anfang und Ende, wo der Ort des Lebens unausgesetzt das Exil ist. Im Gedicht “Und mit dem Buch aus Tarussa”65 aus dem Band Die Niemandsrose findet sich die überaus komplexe, dreifach metaphorische Setzung, bei der “Heimat−/ waage Exil” in einem schroffen Enjambement auseinandergerissen wird: Sprachwaage, Wortwaage, Heimat – waage Exil.
Sprache – Wort – Heimat ist keine beliebige Reihe von Gleichsetzungen, sondern eine Verschachtelung von Konzepten, wobei jedes das nächste freigibt: die Sprache das Wort, das Wort die Heimat, oder vielleicht besser: jeweils ein Wort, eine mögliche Heimat. Die Apposition dazu bleibt: das Exil. Zusammen genommen bestimmen die Worte je und je die wechselnde Beschaffenheit des Exils zu jedem erneuten Zeitpunkt des Schreibens.66 Zunächst stand an dieser Stelle “− wiege” statt “− waage”: 62
Paul Celan/Nelly Sachs: Briefwechsel. Hrsg. v. Barbara Wiedemann. Frankfurt a.M. 1993. S. 15. 63 Paul Celan/Franz Wurm: Briefwechsel. Hrsg. v. Barbara Wiedemann. Frankfurt a.M. 1995. S. 114. Brief vom 22.11.1967 an Wurm. 64 GW I 223. 65 GW I 288. 66 Siehe Ivanovićs Interpretation des Gedichts, bei der sie auch auf das Bild der Waage u.a. als Anspielung auf Lev Šestovs Auf Hiobs Waage eingeht, das für
385 Sprachwiege, Wortwiege, Heimat – und Herzwiege Exil.67
Die Auffassung hinter dieser Textvorstufe besagt wohl, daß Sprache, Dichtung (“Wort”) und Heimat bereits im Ursprung, der den Namen “Exil” trug, geformt wurden. Celan verwarf solche in der Vergangenheit wurzelnde Vorherbestimmung zugunsten des in der Gegenwart zu wiederholenden Schritts, mit Hilfe des Exil-Moments “Wirklichkeit zu entwerfen”. Daß Celan dabei die Herz-Metapher, die in zahlreichen einfachen Setzungen und neuen Komposita überall im Werk vorkommt, aufgibt, bedeutet weniger eine Verschiebung zu zerebralem Sprechen hin als vielmehr eine Verdichtung, eine Präzisierung von engverwandten Begriffen. Das Werk Paul Celans, der gewöhnlich nicht den vielleicht einengenden Beinamen “Exilautor” bekommt oder verdient, bleibt dem ‘Exil’ verpflichtet, es schreibt sich von der Shoah wie – untrennbar davon – vom Exil her. Eng verbunden damit ist das, was ich an anderer Stelle eine “Poetik der Heimkehr” genannt habe:68 das ist das Bestreben, durch Sprache, Sprechen, Schreiben Möglichkeiten des Lebens zu finden, zu konstruieren, von Außen her wieder einer Mitte zuzustreben, mit Texten sich auf utopische Entwürfe hinzuarbeiten, prozessual, unerbittlich. Ist man ‘draußen’, abgeschnitten, so bleibt man unwiederbringlich im Exil. Man hat dies bislang meist anders bezeichnet und wohl noch anders verstanden. Die Versuche zurückzukehren, können nur Annäherungen, Tendenzen, Vorhaben sein, Bewegungen auf eine Rückkehr ohne Ende, ohne in Illusion oder Transzendenz hängen zu bleiben. Es ist die bittere und nicht zu verdrängende Gleichzeitigkeit des Media in vita in morte sumus.
Celan eine große Rolle gespielt hat (Das Gedicht im Geheimnis der Begegnung, A.a.O. S. 98-106.). 67 Paul Celan: Die Niemandsrose. Vorstufen – Textgenese – Endfassung. Bearbeitet von Heino Schmull unter Mitarbeit v. Michael Schwarzkopf. Frankfurt a.M. 1996. S. 141. 68 Vortrag und in Arbeit befindlicher Aufsatz.
Guy Stern
The Impact of Rescued Artists on European and American Culture As the magisterial exhibit “Exiles and Emigrés. The Flight of European Artists from Hitler” of 1997 at the Los Angeles County Museum strikingly − and belatedly − demonstrated, the exile artists left an“indelible imprint on the development to twentieth-century art.” By exploring the rescue missions of three widely divergent altruistic groups, Varian Fry and his Emergency Rescue Committee, the private initiative of Hermann Matthias Goergen, a devout Catholic and pacifist, and the joint efforts of educators and the official Turkish government, the articles adduces the astounding impact of men and women from all fields of the arts and music on the culture of their countries of asylum. Even little known or unknown exiled practitioners, bearing out postmodern theories, had a noticeable impact. While the motivation of the rescuers varied in several respects, they all shared an adherence to an ‘aesthetics and ethics’ of rescue.
When the magisterial exhibit “Exiles and Émigrés: The Flight of European Artists from Hitler” opened in February of 1997 at the Los Angeles County Museum of Art, and subsequently traveled to Montreal and Berlin, it was all but unanimously greeted with deserved admiration and surprising surprise. Echoing the words from an introductory essay in the exhibition catalogue by Stephanie Barron, the organizer and spiritus rector of the showing, art critics would vary Barron’s summary: What emerges clearly from an examination of the works produced during this period, however, is the indelible imprint of exile on the development of twentieth-century art. The issues central to “exile” art in all its myriad forms − the relationship of art and politics; displacement, assimilation, and cultural identity; and the exploration of memory and loss − remain as relevant today as they were half a century ago.1
Hilton Kramer, writing in the New Criterion, concurred with this sentiment:
1
See Stephanie Barron: European Artists in Exile: A Reading Between the Lines. In: Exiles and Émigrés. The Flight of European Artists from Hitler. Eds. S. Barron and Sabine Eckmann. Los Angeles 1997. pp. 11-29, here p. 25.
388 In both the exhibition and the ambitious catalogue we are thus recalled to a period that effected one of the greatest transformations in the life of art in this country − including its public life in the museums, the schools, and the media − in our entire history. There is a sense in which it can be truly said that it wasn’t until the age of the émigrés in the Thirties and Forties that American cultural life was brought into alignment with the imperatives of the kind of intellectual modernity that had dominated the high culture of Europe since the turn of the century.2
And Amei Wallach, reviewing the exhibit for Art Journal, concluded: The extraordinary exodus of modernist artists, architects, photographers, scholars, writers, musicians, and film makers [...] exported their ideas and practice to London, Amsterdam, Rio de Janeiro, New York, and Los Angeles.3
Similar responses came from the mass media. The prominent art critic for Time Magazine, Robert Hughes, entitled his review of the exhibit, “A Cultural Gift from Hitler; Exiled by Nazism, Europeans immensely en riched American Art.” His colleague at Newsweek, Peter Plagens, remarked: “When the Nazis forced Europe’s greatest artists into exile, they started an American renaissance.” Or Muriel Julius, reviewing the catalogue, found that “the arrival of so many Europeans painters, scholars, and intellectuals − no fewer than two hundred and fifty art historians and museum directors among them − expanded significantly the intellectual horizons of many Americans.”4 This recognition of the impact of the rescued artists at so late a date is difficult to fathom. The late Cynthia Jaffee McCabe had launched a similar, if smaller exhibit more than twenty years earlier at the prestigious Hirschhorn Museum in Washington D.C.5 and in New England the Addison Gallery of American Art in Andover, Massachusetts, presented an exhibit “European Artists Teaching in America” as early as 1941, i.e., at a time when the persecuted artists were still drifting into America.6
2
See Hilton Kramer: The Age of the Émigrés. In: The New Criterion 15 (17-20 Apr. 1997). pp. 17-21, here p. 18. 3 See Amei Wallach: Sometimes the Book is Better than the Movie. In: Art Journal 57 (Summer 1998). pp. 122-125, here p. 123. 4 See Robert Hughes: A Cultural Gift from Hitler. In: Time (24 March 1997). p. 92-93; Muriel Julius: Exiles and Émigrés [Book Review]. In: Contemporary Reviews (3 September 1997). p. 162-163. 5 See Cynthia Jaffee McCabe: The Golden Door: Artist-Immigrants of America, 1876-1976. Washington, D.C. 1976. 6 The exhibition at the Addison Gallery is briefly described in Barron and Eckmann. Op. cit. p. 396.
389 These and similar exhibits, e.g. the showcasing of “‘Degenerate Art.’ The Fate of the Avant Guard in Germany” were, of course, highly meritorious.7 Yet they were only partially able to demonstrate the impact of the exiled artists, given the limitations of even large museums, and then only in certain fields of artistic endeavor, say for art and architecture, or for photography or music. It is the purpose of this paper to illustrate, by one or two examples, the pervasiveness of this impact in all art forms and not to confine it to the spectacular influence of such giants as Oskar Kokoschka or Walter Gropius, but to draw on lesser talents as well. Also, in the nature of our post-modern era, I shall provide at least one example of the exile’s influence, not on sophisticated viewers or listeners of New York’s Broadway or London’s West End, but at the grassroots level of a medium-sized town in Brazil. To begin with the obvious: rescued art and artists needed rescuers. It is fitting to introduce them first, if more briefly than they deserve. They are, of course, memorialized at Yad Vashem. I have selected three greatly divergent rescue efforts, one sponsored by a private citizens’ group, one by a foreign government, and one undertaken by a dedicated German pacifist, himself one of the exiled. Until about five years ago the name of Varian Fry was known at best to a small group of cognoscenti, researchers of exile and the Holocaust and to the rescued, their friends and descendants. But while his name is still not a standard entry in history books of the period − yet that too is changing − his name and his valor have in a variety of ways forced themselves upon our consciousness. His book Surrender upon Demand, long out of print, was translated into German as Auslieferung auf Verlangen, and appeared in 1995 as a pocketbook of the prestigious Fischer Publishing House of Frankfurt and was prominently displayed at a recent Frankfurt International Book Fair. A new 1997 American edition of the book, with a sensitive commentary by the scholar Elisabeth Berman, was published by Johnson Books in Boulder, Colorado.8 Two documentaries, one by the Munich filmmaker Jörg Bundschuh, which ran for months in German movie houses and premiered in America at the Kennedy Center in Washington, and an American documentary, directed by Richard Kaplan, with commentary by
7
See Stephanie Eckmann: Degenerate Art: The Fate of the Avant-Guard in Germany. Los Angeles and New York 1991. 8 See Varian Fry: Surrender Upon Demand. New York 1945, newly ed. with a preface by Warren Christopher and afterword by Elisabeth Kessin Berman, Susan Morgenstein and Anita Kassof. Boulder, CO 1997. Subsequently cited as Surrender (1997). Auslieferung auf Verlangen. Die Rettung deutscher Emigranten in Marseilles, 1940/41. Trans. Jan Hans and Anja Lazarowicz. Ed. Wolfgang Elfe. Frankfurt a.M. 1995.
390 Meryl Streep, are now available on video.9 Fry was post-humously inducted into Yad Vashem and received the Eisenhower Medal from the Holocaust Memorial Museum in Washington. Who was Varian Fry? What did he accomplish? Varian Fry exemplifies the representative of ad hoc citizens’ groups, formed to bring relief to Europe’s beleaguered artists and intellectuals, but who − on his own initiative − took risky actions that utterly transcended the group’s modest aims. Aware that any French intellectual or artist as well as their German refugee colleagues now lived under the Damocles’ sword of being surrendered, the committee drew up a list of potential victims, supplemented by rosters supplied by Thomas Mann, André Malraux, Jan Masaryk, Max Ascoli, Alfred Barr of the New York Metropolitan Museum, Alvin Johnson of the New School for Social Research, and several others. Varian Fry, a rather detached intellectual, Harvard and Columbia University graduate, then a magazine editor, volunteered to go to Marseille as the representative of the Emergency Rescue Committee. He expected to finish his task of distributing money and helping to secure emergency visas at the U.S. Consulate in Marseilles for several hundred exiles in three weeks, and all that in a perfectly legal, above-board and seemly fashion. But the U.S. consular officials cold-shouldered Fry and displayed utter indifference towards the plight of the German refugees and the French Jews, dissidents, and artists. From that moment on, Fry defied the State Department and shelved the instructions of the committee. During his thirteen-months stay in Marseilles, he extricated 1500 German and French refugees of all walks of life out of France, and interviewed and temporarily helped ten times that number. When U.S. visas were delayed, he either marshaled refugees out of France without papers or secured visas from any consular office willing to issue them, for example from China or India, even if that was not to be the holder’s destination. As one of his protégés told me, Fry bribed a minor employee of the Dominican Republic consulate on his behalf. With this visa, my friend added, he could have traveled nearly everywhere − except to the Dominican Republic. Fry even assembled a staff for his headquarters consisting of expatriate Americans, French volunteers, and of gifted exiles. As one of them tells it, he came to Fry’s hotel headquarters and, when interviewed, told Fry that he was a Viennese-born artist. “Can you forge passports?” Fry shot back. The artist became a staff member with a specific task. 9
Jörg Bundschuh: “Villa Air Belle,” Produktion Kick Studios 1986. The premiere in Washington was followed by a panel discussion featuring surviving volunteers on Fry’s staff and the rescued poet Hans Sahl; also see “Assignment Rescue,” a production of Richard Kaplan.
391 Fry’s only recognition during his lifetime was the Order of the Chevalier de la Légion Honeur, bestowed upon him by Charles de Gaulle as a reward for his valor and bravery on behalf of France. He died in obscurity, hounded by the State Department, as a Latin teacher at a small-town high school in Connecticut.10 An equally ingenious rescuer − at least fifty exiles owe him their lives, including the first post-war governor of the Saarland of the Federal Republic − was Hermann Matthias Goergen. Himself an exile, he also succeeded in extricating several artists, musicians, a designer, and a photographer from Germany or from its neighboring countries. Goergen, born in the Saar region, was an expert for intellectual history, a pacifist, an admirer, follower and assistant to Friedrich Wilhelm Foerster. As early as with the book-burning of May 1933 the Nazis had demonstrated their hatred of pacifism; the burning of the books by the American writer Helen Keller, blind and deaf, was an early index.11 In 1935, Goergen had to leave the country. His flight took him to Austria, then to Czechoslovakia, then to Switzerland, where he was briefly arrested. Foerster then asked Goergen to identify a country of asylum for exiles living in Switzerland and facing expulsion, as well as for Goergen himself, and to organize a means of transit. To do so he had to supply passports to a group consisting of pacifists, antifascists, both Jews and Gentiles, and of Jews persecuted because of their religion. The Czech government-in-exile obliged. He also had to find a country of asylum. Defying the anti-Semitic decrees of President Vargas, the Brazilian Ambassador, Milton Cesar de Weguelin Vieira, supplied the group with visas for Brazil. And to obscure the Jewish background of most of his group members, Goergen and his friend Johannes Hoffmann convinced Monsignore Felippe Bernardini, the Papal Nuntius in Berne, and other members of the Catholic clergy in Basel to issue completely fanciful declarations of baptism or records of church membership, together with “proof” of the so-called Aryan background of the refugees. Finally, Goergen worried about the subsistence of the immigrants once they were in Brazil. He thought up the project of opening a factory in an industrial town in the interior of Brazil. Goergen successfully solicited funds from various refugee relief agencies; the most sizable contribution came from the Comité International par le Placement des Intellectuels
10
This summary is based upon Fry’s own descriptions and the helpful commentaries in the posthumously published English and German editions. 11 For Keller’s open letter see “Cablegram to German Students on the Burning of Un-German Books.” New York Times, 10 May 1933. p. 10.
392 Refugiés. The firm, Industrias Técnicas, never thrived, but survived all through the war and was acquired by a Brazilian enterprise in 1954.12 Goergen received several high honors from both Germany and postwar Brazil, e.g., honorary citizenship and honorary doctorates. He served as a member of the German parliament for several legislative periods. In 1993, I nominated him for a Righteousness Award of the Greater Detroit Holocaust Museum, approved by Director Rabbi Rosenzveig.13 He accepted, but then had to decline the trip on doctor’s orders. He died that same year. Let us turn now to the last representative group of rescuers. Their humane work resulted from the collaboration of private initiative and governmental implementation. When in 1933 German universities started on their mass dismissal of Jewish and “politically suspect” professors and staff members, the Swiss professor of education Albert Malche fitted together the need for rescue and the need for staffing a new, or rather reformed, university. The dynamic President of Turkey, Kemal Atatürk, and his Minister of Education, Resit Galip, proceeded to make the University of Istanbul in the years 1933-1945 into the largest exile institution in education history.14 The procedure, as I have summarized it here, sounds deceptively simple, but it was that uncomplicated in only the rarest of cases. Ernst Reuter, consultant for city planning and management and later the first post-war mayor of Berlin, had relatively little difficulty in exchanging his British exile, his temporary home after two incarcerations in concentration camps, for Turkey and a Turkish government post.15 But some of the experts to be 12
This summary of Goergen’s life and times is based on his literary legacy housed in the Deutsche Bibliothek, Frankfurt a.M., the library’s catalogue of the exhibit Exil in Brasilien, Die deutschsprachigen Emigranten 1933-1945. Leipzig, Frankfurt a.M., Berlin 1994. Chapter “Die Gruppe Goergen”. pp. 42-57; and Wie der Vatikan uns rettete. In: Katholische Nachrichtenagentur: Die Reportage. Nr. 1. (4 Jan. 79). Also see entry: Hermann Matthias Goergen. In: Biographisches Handbuch der deutschen Emigration nach 1933. Eds. Werner Roeder and Herbert Strauss. Munich, New York, London and Paris 1980. Vol. 1. p. 228. 13 The invitation is contained in a letter from Rabbi Charles H. Rosenzveig to Goergen of 12 August 1993. 14 See sub-chapter: Turkey Shelters Professionals Dismissed By The Nazis. In: Stanford J. Shaw: Turkey and the Holocaust. Turkey’s Role in Rescuing Turkish and European Jewry from Nazi Prosecution 1933-1945. New York 1993. pp. 414. Also see Fritz Neumark: Zuflucht am Bosporus. Frankfurt 1980 and Phillipp Schwartz: Notgemeinschaft zur Emigration deutscher Wissenschaftler nach 1933 in der Türkei. Marburg 1995. 15 See Willy Brandt and Richard Löwenthal: Ernst Reuter, ein Leben für die Freiheit. Munich 1957. pp. 279 and 287 (Reuter’s arrest and incarceration) and chapters 9 and 10 (pp. 294-339) for his activities in Turkey.
393 hired were still in concentration camps. Hitler, who had designs on Turkey as a potential ally, acceded to Atatürk’s requests and let the brain drain take its course. To illustrate the bureaucratic hurdles to be jumped I have researched the contract signed by Fritz Neumark (a professor of Finance from the University of Frankfurt) and countersigned by the Turkish ambassador in Geneva.16 Yet by the end of 1933 the University of Istanbul numbered 65 full professors, 27 of which were Turks, and 38 from Germany. In addition, about 85 instructors and research assistants had been brought on board. By the end of the war, more than 200 intellectuals owed their freedom, and perhaps their lives, to the “Turkish miracle,” as it came to be known. They, in turn, as Mark Epstein put it, “helped to lay the foundations of Westernstyle life in Turkey.”17 As we now aim for the introduction of the greater or smaller luminaries who were thus saved, I will confine myself to those personages who represent the arts and even so I can provide only one example from all the fields of art as they are categorized in the Dewey Decimal System.18 Hence we can only sample the shelves of an imaginary library or the hangings in a fine gallery. Of course, by proceeding by example, I might be dwarfing the magnitude of the rescue, especially in the case of Varian Fry. Hence I will list here some of his protégés who are discussed below and some who are not. Among the rescued French artists were André Breton, Marc Chagall, Marcel Duchamp and André Masson; the German expatriate Hans Arp received financial help; Max Ernst, the stateless refugee, was speeded via Spain to Lisbon. And I should like to mention one other name, although this distinguished Nobel Prize Winner was a physicist and not an artist. His name was Otto Mayerhoff, and he is the father of Professor Walter Meyerhof, the founder and president of the Varian Fry Foundation. The first Dewey sub-heading leads us to civic and landscape art. And immediately we encounter a remarkable woman who revolutionized the internal architecture of workers’ apartments, the structure of kindergartens and the layouts of kitchens (through the so-called Frankfurt kitchen) for several generations. Born in Vienna in 1897, Margarete Schütte-Lihotzky was the first Austrian woman to be admitted to the study of architecture at the Akademie für angewandte Kunst in Vienna. She studied with the best, 16
For a biography of Neumark, see Röder-Strauss, II. Op.cit. p 858 and Shaw. Op.cit. p. 356 f. 17 Mark Epstein’s speech is quoted in Jarrell C. Jackman: Introduction. In: Jarrell C. Jackman and Carla M. Borden: The Muses Flee Hitler. Cultural Transfer and Adaptation 1930-1945. Washington DC 1983. p. 25. 18 See Manual on the Use of the Dewey Decima Classification. Eds. John P. Comaromi and Margaret J. Warren. 19th ed. Albany, NY 1982.
394 with Oskar Strnad and Heinrich Tessenow, received prizes and medals for her layouts from her native city, was picked for collaborative work by renowned architects such as Adolf Loos, Otto Neurath, and Ernst May, received commissions from the city of Frankfurt and from architectural projects in Luxembourg, Poland, France, the Soviet Union, and China, the latter on direct invitation of Chiang Kai-Chek. All that did not save her from the need to immigrate immediately after the ‘Anschluß’. She had joined, at various times, Socialist and Communist Party groups, propelled in that direction, I suspect, by her involvement in the construction of livable workers’ quarters. She fled first to Paris, then joined that select group to be invited to Turkey. She became professor at the art academy in Istanbul and an important designer of women’s technical schools (Frauenberufsschulen) and of modernized village schools. Unfortunately she did not spend all the war years in productive work in Turkey. She volunteered for illegal work in Austria; the Communist Party sent her in 1941 on a mission to Vienna to write, print and distribute anti-Nazi propaganda. She was arrested, sentenced by the socalled People’s Court to 15 years of penitentiary,19 but survived and was able to return, after several way stations abroad, to Vienna and to remain an architectural writer until her death in her late eighties. The Austrians bestowed a prize upon her, but never again − she surmises for political reasons − commissioned her to take part in a municipal building project. She represents to me one of the many outstanding women in exile, still all too little known. Being rescued by and for one country often could and did mean making ultimately also a cultural ripple in yet another nation. A prominent German architect, Martin Wagner (1885-1957), in fact the former city architect of Berlin, who was rescued from a precarious stay in Switzerland and rushed to Turkey in 1937, came to the United States in 1938 and, through the influence of Walter Gropius, received a professorship at Harvard. He had been the most practical architect of a social-minded group of architects in an aesthetic circle called “Der Ring”. He wanted airy, sunlit settlements for the working population, free of smoke and pollutants. As a standard reference work puts it: Under the Weimar Republic, he was one of the most important advocates of a state architectural policy that would seek to unite socialist ideals with post-war reality. The Lindenhof housing estate, built to his plans in Berlin-Schöneberg (1918-21), anticipates the most important elements of his urban planning 19
Much of the life and work of Margarete Schütte-Lihotzky was culled from her autobiography, Erinnerungen aus dem Widerstand 1938-1945. Berlin (East) 1985. I am indebted to Jacqueline Vansant for alerting me to this book. The verdict of the People’s Court is reproduced on pp. 140-141.
395 of later years: buildings on the periphery that were closed on the street side, broad courtyards, a centre as a meeting place and unified composition of buildings. This was a concept that he subsequently elaborated with Bruno Taut in the large Britz housing estate (‘Hufeisensiedlung’, or ‘Horseshoe estate’) in BerlinNeukölln (1925-30).20
Ostracized by the Nazis, he took his stylistic convictions with him. He became councilor for City Planning and professor for that discipline as well as for communications in Istanbul and Ankara. He also helped in the planning of new dams and factories in various parts of Turkey. In 1938, he emigrated to the U.S. and became an influential proponent of his ideas as professor of regional and city planning at Harvard. On the practical side, he patented a new form, the so-called igloo design, for prefabricated housing.21 As we now follow Mr. Dewey to the section devoted to Plastic Arts and Sculpture, we come upon a giant of modern art. Varian Fry, who rescued Jacques Lipchitz (1891-1973), did so with a sense of personal empathy. He writes: Among the refugees who were caught in France were many writers and artists whose work I had enjoyed: novelists like Franz Werfel and Lion Feuchtwanger; painters like Marc Chagall and Max Ernst; sculptors like Jacques Lipchitz. For some of these men, although I knew them only through their work, I had a deep love; and to them all I owed a heavy debt of gratitude for the pleasure they had given me. Now that they were in danger, I felt obliged to help them, if I could; just as they, without knowing it, had often in the past helped me.22
Fry was able to assist Lipchitz in securing a completely legal exit visa from France and, in the spring of 1941, Lipchitz could cross through Spain to Lisbon and on to New York, where Fry met him once more: “Jacques Lipchitz is delighted with New York and says it is an ideal place to work.”23 It is scarcely necessary to sketch the life and work of Lipchitz from his birth in a small town in Lithuania, his studies at the Ecole des Beaux Arts, or his friendship and exchange of ideas with Diego Rivera, Picasso and Juan Gris. He was one of the great pioneers in Cubism, Surrealism, the return to myths and spontaneous sculpture. Having recently seen the travelling exhibit of the Barnes collection in Munich, I am still gripped by 20
See: Martin Wagner. In: Vittorio Magnano Lampugnani (ed.): 20th Century Architecture. New York 1986. p. 360. 21 Ibid. p. 360. 22 See Varian Fry, “Foreword” in his Surrender, (1997 edition) p. xiii. 23 Ibid. p. 239.
396 those workings of the human figure into schematic ideas and interlocking forms. His myth-making, for example in his famous Prometheus sculpture, celebrated the human triumph over the forces that want to diminish us. This statement of faith rose from his stories in stone − astonishingly enough − in those dark years of 1936-1937. His perhaps greatest triumph came that year, when the Paris World Fair devoted a whole gallery to his oeuvre. The expressiveness of Lipchitz’s New York sculptures has been compared to Bernini’s: “The power of spatial expression,” writes the art historian A.M. Hammacher, is so great in both sculptors [i.e. Bernini and Lipchitz] that forms are seized by a vibrating rhythm that transcends psychological and anatomical formulas and affects forms and contours [...] In Lipchitz’s American work there are analogous instances [to Bernini] where each ultimate point of a form or contour was pierced by a radiating centre of energy which needed light to become sculpture.24
From those master works, now on display in galleries ranging from the Museum of Modern Art to the Guggenheim and the New Harmony Gallery, I should like to lift out two, because they are so close to our theme. He arrived here with very little of his artwork. But among them was that apogee of his art, a philosophy in stone, called “Flight,” soon to be supplemented by the less austere “Arrival.” The catalogue Exiles and Émigrés interprets them most convincingly: One [sculpture] acknowledged directly the experience of exile. Flight (1940), modeled during the Toulouse stopover, depicts a man and a woman on the move, the man’s arms raised in a gesture of protection. The two bodies lean forward, establishing a dramatic silhouette; the prevailing sense of dynamism is underscored by the very strong modeling of the work’s surface. Lipchitz’s free treatment of anatomy only accentuated the impression of emotional urgency. The pair move ahead on three legs, the expressive fusion of two bodies emphasizing the force of their embrace. Although the figures in Flight face an uncertain future, a companion piece entitled Arrival (1941) imagines a happy outcome for them. Here, while the couple continues to strain ever forward, the woman succeeds in lifting a child to safety. Lipchitz conceived Arrival soon after his own landing in the United States.25 24
See A.M. Hammacher: Jacques Lipschitz, 1891-1971: A Concise Survey of his Life and Work. In: Alan G. Wilkinson: The Sculpture of Jacques Lipschitz. London 1996. Vol. I. pp. 7-25, here p. 22. 25 See Marc Affron: Constructing a New Jewish Identity, Marc Chagall, Jacques Lipchitz. In: Barron and Eckman. Op.cit. p. 120.
397 Despite his fame and ultimate integration into the artistic life of his new home, Lipchitz never forgot what he owed to his rescuer. When Fry died in 1967, he wrote a letter of condolence: “I owe Varian Fry my life. I did not want to go away from France. It was his severe and clairvoyant letters which helped me finally to do so.”26 Rescue of culture is sometimes curiously indirect. The Viennese Bill Freier, our example for drawing and decorative and minor arts, the next Dewey category, is curiously missing in the standard reference work on exile. Yet working for Varian Fry he saved dozens of lives through his skills. We have Fry’s word for it that he was “one of the most popular cartoonists in France before the war.” But that is, of course, not the way Fry made use of him. As Fry tells it: He was a very skilled draftsman, and he could imitate a rubber stamp so well that only an expert could have told it had been drawn with a brush. He used to buy blank identity cards at the tobacco shops, fill them in, and then imitate the rubber stamp of the Prefecture which made them official. I think he used to charge us only twenty-five francs − fifty cents − for the finished job. We made extensive use of his services, as did many other people. We also added him and his fiancée to the list of our clients, and cabled New York to ask the committee to get them visas.27
On the strength of these false identity cards, Fry and a Social Democratic ally, the latter also equipped with Freier documents, were able to smuggle dozens of “clients” across the Spanish border. But for Freier himself rescue came too late; he was arrested and shipped to one of the extermination camps in Poland. Fry assumed that “he was one of the many thousands who were sent to Poland to be destroyed.”28 By good luck he was wrong. A terse footnote to the German edition, edited by the exile scholar Wolfgang Elfe, tells us “Freier survived the extermination camp and lives today (i.e., as of 1986) in Paris.”29 And Jörg Bundschuh, who made an outstanding German documentary film about Varian Fry, found him in his Paris studio amidst his drawings and cartoons. Freier had resumed his life as an illustrator for newspapers and magazines; among his most cherished souvenirs were the cartoons of Fry and his protégés.30
26
Martica Sawin: Surrealism in Exile and the Beginnings of the New York School. Cambridge, MA 1995. p. 117. 27 Fry: Surrender (1997). p. 45. 28 Ibid. p. 243. 29 Elfe: Register. In: Auslieferung. Op. cit. p. 337. 30 Shown in film by Jörg Bundschuh. (see footnote 9)
398 Max Ernst − moving on now to painting − arrived in New York in 1941 and was briefly detained at Ellis Island. With the arrival of this famous painter Surrealism became rooted in America. Its impact on American art has not ceased to this day. In a few sentences the art historian Martica Sawin described the arrival of Surrealism, a phenomenon “that left no one that came in contact with it unaffected.”31 This catalytic effect was recognized even as Max Ernst and others were just establishing themselves in the United States. Peyton Boswell, the editor of Art Digest, after reprinting a vituperative attack on Surrealism by Klaus Mann − it sounds like a disease, he had written − did a turn-about in his own commentary: “The surrealists are stimulating Americans to use their eyes less and their minds more, to develop their imagination.”32 Varian Fry had expedited Ernst out of France after he had been repeatedly arrested and interred in French camps; the Nazis had not forgiven him for having turned his back on Germany.33 When he arrived in America, he created for his new countrymen a nightmare vision of Europe. Using a highly developed technique of decalcomania − in which applied paint is also blotted on another sheet and new details filled in − he painted works such as “Europe After the Rain II.” When I saw an Ernst-retrospective, filling every gallery at the Glyptothek in Stockholm, I was close to screaming in horror at the end of my tour through the exhibit. Ernst at that time did on canvas what many of his fellow exiles did on the printed page: he warned against the advance of the Barbarians. And “Barbarians” is indeed the title of one of the canvasses of that period.34 But when “Europe After the Rain II” was shown recently at a California exhibit it bore the following legend: Many of the works just mentioned − above all, Europe after the Rain − allude to the destruction of Europe [...]. [W]e see an androgynous birdman (Ernst) and also a woman, who walks away from us and from the canopy that has collapsed and buried Europa’s bull.35
Perhaps this one picture in and by itself can convey how Max Ernst tried to warn us of the dangers that were still lying in wait for us in 1941. 31
Sawin. Op.cit. p. 31. Klaus Mann: The Surrealist Circus. In: The Art Digest. 15 May 1943. p. 21-27. Peyton Boswell’s commentary appears in his “Comments” column, p. 3. 33 Facts about Max Ernst culled from John Russell: Max Ernst, Life and Works. London 1967, and from Edward Quinn: Max Ernst. Paris 1976. The reference to Goebbel’s personal dislike of Max Ernst is on p. 106. 34 See Sabine Eckmann: Surrealism in Exile: Responses to the European Destruction of Humanism. In: Barron and Eckmann. Op.cit. p. 160. 35 Ibid. p. 159. 32
399 Mr. Dewey would now have us move on to graphic arts, print-making and prints. But I believe the observation of two scholars of library science that the fine arts schedule should be approached with caution should be heeded; “It is usually redundant,” they write.36 We could, of course, single out André Masson, also rescued by Fry,37 who indeed created many prints in addition to the oils he produced. While Masson was teaching at the New School he produced eighteen prints at Atelier 17 during his years in the United States, starting in late 1941 with Emblème, an original print produced for inclusion in the deluxe copies of his Mythology of Being which Wittenborn published in early 1942. The central image − or the emblem − is a skull with additional emblems set within it, defined by the contrasting soft-ground tonalities. The ideas developed at Atelier 17 were to carry over into Masson’s postwar graphic work.38
But, of course, the Surrealist Masson was more than a print maker. And so we hurry on to the category “Photography.” And here we must feature an artist with an eye for the poignant moment. André Gomès left Paris with his wife Henriette for Marseilles, because she, being Jewish, was constantly in danger of arrest in occupied France. The Gomèses became one of that steadily growing group of artists domiciled or hidden at Varian Fry’s Villa Air Belle. If the designation were not so ludicrous, I would say he became the group’s court photographer. One of his rather well known shots is a group photo of the Surrealists at the villa. But the most poignant is the last. It shows the departing Marcel Duchamp, one more of Varian Fry’s group of rescued, waving goodbye to his artist friends Victor Brauner and Jacques Hérold who are barred from the rescuing ship by iron gates. A snapshot here takes on symbolic signifycance.39 But André Gomès did his friends another service. His wife and he, unable to obtain visas, went into hiding in rural Southern France; André joined the underground. But he also preserved some of the art-works of his fellow artists of Villa Air Bel days. As recently as 1995 he was interviewed by an art historian who found him among his photographs and his
36
See Comaroni and Warren. Op.cit. p. 355. See Fry Surrender (1997), p. 188: “In April [1941] still another ship sailed, and among the passengers were twelve of our refugees, including André Masson and his family.” 38 Sawin. Op.cit. p. 154. 39 The photograph is reproduced in Sawin. Op.cit. p. 47. 37
400 art treasures. And Laure Murat entitled her resulting article “At the home of André Gomes, friend of painters.”40 As we follow Mr. Dewey now into the territory of music, we also reenter that remarkable refugium of Turkey. And, here too, we follow giant footsteps, those of Paul Hindemith. His rescue illustrates not only the extent of Atatürk’s defiance of Hitler, but also Turkish generosity after the arrival of the famous composer. As to the former, Hindemith had drawn the personal ire of Joseph Goebbels. The reasons for the attack on him were probably cumulative. He was married to a woman of Jewish descent, supported the employment of Jewish musicians and had written in his finale to “Chambermusic Nr. 3” a hilarious satire of Nazi music, exemplified by a Bavarian military band. But his most serious offense in the eyes of the Nazis was his opera, Mathis der Maler, which depicts the persecution of the heretical painter Mathias Grünewald by an autocratic government, his torture and death at its hand. Clearly, Hindemith posed a threat; Goebbels denounced him as a cultural Bolshevik and successive measures were taken against him − over the protest of several musical leaders, such as Wilhelm Furtwängler. Hindemith was removed from his university post, and Mathis der Maler – later, in his exile years, a rousing success at its Zurich premiere – was forbidden in Germany. It was at this point that the Turkish Ministry of Education stepped in. It requested of Hindemith nothing less than the reorganizing, better said, Westernizing of musical life in Turkey. It was an inspired choice. Beyond his serious, determinedly anti-Romantic symphonies and his great innovations as one of the young Turks in music − pun intended − he believed in a democracy of music lovers, an equality between creator and recipient. “We want to reestablish some of the nearly lost community between performers and listeners,”41 he wrote. And he composed music, for example for the Plöner Musiktag, an all-day town festival, to bridge this gap. He wrote Gebrauchsmusik, (i.e., music for daily use), works for children and schools, and even encouraged the audience to sing along with some pieces. He got his Turkish assignment done. He eventually came to New York. His life and work in the U.S. is recorded in every standard reference work: his association with American universities, the rigor of his requirements when he became chair of the music department at Yale. As one secondary work puts it: “He also attracted some of the best talent in the U.S. and was a powerful influence
40
See Laure Murat: Chez André Gomès, L’ ami des peintres. In: Beaux Arts Magazine. No. 139 (Nov. 1995). pp. 86-91. 41 See Andres Briner: Paul Hindemith. Zurich 1971. p. 26.
401 on American musical life in general.”42 But I should like to make a point here which is more encompassing, but can be made with particular ease with Hindemith. He was flexible enough to profit from American art. Just as some of the émigré painters were enchanted and influenced by the art of the Native Americans, so Hindemith, from his early period onward, introduced jazz idioms into his works. And when he arrived in America, he proved his adaptability by writing a clarinet piece for that king of swing, Benny Goodman.43 Finally Mr. Dewey leads us, after chasing us through reading rooms, displays of architecture and galleries, to recital and concert halls. His last category is performing arts. One is tempted to dip once more into that nearly inexhaustible reservoir of Varian Fry’s protégés and come up with one of the great pianists and harpsichordists of our times, Madame Wanda Landowska, whose triumphs extend from Berlin and Paris to Carnegie Hall, and for whom some of the finest twentieth-century composers have written scores.44 But I have long championed my conviction that in this post-modern age the average-not-so average person should also be recorded in history, personages who contributed in a small but estimable way to the culture of his or her country of asylum. In that group of fifty that set out for the State of Minas Gerais in Brazil, there were only five besides Hermann Matthias Goergen himself who made it into the vaunted pages of the standard bio-bibliography of exiles from German-speaking countries: the novelist Ulrich Becher, Susanne Bach, a well-known translator and an expert in Romance languages, the political leader Johannes Hoffmann, the publicist Walter Kreiser and the clergyman Franz Weber.45 Also one member of the group enjoyed a measure of reflected fame, Georg Wassermann, a musician, but better known as the son of the prestigious German-Jewish novelist and essayist Jakob Wassermann. Others, such as the pianist Elise Becher, the wife of Ulrich, or the conductor Friedrich Schadler, are all but unknown to history. But when I talked to Goergen in order to relay the invitation of the
42
See Ian Kemp: Paul Hindemith. In: Stanley Sadie (ed.): The New Grove Dictionary of Music and Musicians. London and Washington, DC 1980. Vol. VIII. p. 575. Kemp’s article and Horst Seeger: Paul Hindemith. In: Seeger (ed.): Musiklexikon. Leipzig 1966. Vol. I. pp. 391-393, provided background information. 43 For his composition for Benny Goodman see Luther Noss: Paul Hindemith in the United States. Chicago 1989. pp. 126-128. 44 See Fry, Surrender (1997). pp. 236 and 238. Landowska’s career is described in Bernard Gavotny: Wanda Landowska. Geneva 1957. Also see Ralph Kirkpatrick: European Journal. In: High Fidelity (Musical America ed.) 35 (November 1985). p. 33-37, where the author chronicles his experience as a student of Landowska. 45 See Röder-Strauss. Op.cit. Vol. II. p. 65 (Becker); Vol. II. p. 44 (Bach); Vol. I. p. 309f. (Johannes Hoffmann); Vol. I. p. 394 (Kreiser); Vol. I. p. 798 (Weber).
402 Michigan Holocaust Center to become its honoree,46 he told me that after work hours, the three musicians gave public concerts in the town of Juiz de Fóra for the local population. That, too, constitutes to my mind the transplantation of culture, even if it is not to Carnegie Hall. And thus the title of rescuer of culture belongs also to Dr. Goergen. And that observation leads us directly into an inquiry as to motivation. I have deliberately selected, as I said at the outset, three rescuers (or group of rescuers) of significant disparity one from the other. Let us look at each in turn and then try to fathom whether they have any motives in common. Hermann Matthias Goergen was a devout Catholic; after the war he would rise to a leadership position in the ChristianDemocratic Party and for many terms hold a seat in the parliament of the Federal Republic of Germany. He saw in Jesus the apostle of peace − “peace on earth, good will towards men.” His convictions were reinforced by Friedrich Wilhelm Foerster, professor at Leipzig and a leading advocate of pacifism. Goergen became his assistant at Leipzig and followed him into exile in Switzerland and shared Foerster’s view that global wars poisoned human relations. As Foerster put it: “Since [the First World War] peace within our own four walls has been greatly influenced by the example set by hand granades, machine gun bursts and a propaganda of lies.”47 Beyond his outrage at his and his professor’s mistreatment, there was in Goergen an almost messianic belief in Christian redemption and in a conviction that his church shared the belief in a coming global peace. His belief, coupled with his outrage, led him to the rescue mission of those trapped in Switzerland; he could identify with them. It was different with the Turkish officials. Their initial motive was, for want of a better phrase, a kind of noble egotism. The University of Istanbul, given a fresh start, so thought Kemal Atatürk and his Minister of Education, could become one of the best anywhere − and the talent to implement that dream was available. It is the same vision that fosters our ambition to have our university become another Harvard and our high school the equal of a college prep school. But once the officials and the Turkish colleagues met the previously incarcerated and ousted Germans, a genuine commiseration and sympathy sprang up; despite some rivalries, collegiality and friendships developed. Enlightened self-interest became intertwined with altruism.48
46
My telephone conversation with Goergen took place in July 1993. See Friedrich Wilhelm Foerster: Ewiges Licht und menschliche Finsternis. Lucerne 1935. p. 63. 48 The title of one of the relevant studies neatly encompasses the dual aspect of the Turkish rescue. See Horst Widmann: Exil und Bildungshilfe. Die deutschsprachige akademische Emigration in die Türkei nach 1933. Berne and Frankfurt 1973. 47
403 I have lived longest, so to speak, with Varian Fry. I first heard of him through one of my army companions during the Battle of France. Karl Frucht had been one of Fry’s guides taking the exiles across the Pyrenees. During his last mission he rescued his own sister.49 What then drove Varian Fry, the preppie and habitué of the Harvard Square to this altruistic heroism? I think it was his sense that his concept of a whole world, in which he grew up and lived, had been violated. To be sure, he had seen flaws in it and in his essays and editorials he had tried to point them out and to suggest repairs. But now that he saw that whole cosmos threatened, his sense of fairness and decency became outraged. He felt compelled to salvage the world according to Varian Fry. It made for a complex character, one in transition. Are there then common aspects in this turn to altruism? Perhaps there is something like an aesthetics of altruism, if by aesthetics we mean the mental image of a more beautiful, more perfect world. In all three cases of the rescuers they harbored that concept − Immanuel Kant calls it “das unpersönliche Interesse am Wohlgefallen” (un-self-interested pleasure). From that mental image, the rescuers took the next step: to bring about its realization. This aesthetic dimension was tied to an ethical motivation: people with a deep-seated sense of decency can no longer avert their eyes or withhold their deeds in the face of suffering. Finally, men and women steeped in the arts and humanities felt compelled to defend these cultural values. Their examples and exemplary action and most of all their benign efforts can serve us well at a time when the arts, in many parts of the world, are again at bay. A discussion of altruism in the service of cultural values ought always to end with the exhortation “to be continued.”
49
See Karl Frucht: Verlustanzeige: ein Überlebensbericht. Vienna 1992.